HANDBOUND
AT THE
UNIVERSITY OF
TORONTO PRESS
m^
GESCHICHTE
DER
GRIECHISCHEN LITERATUR
BIS AUF
ALEXANDER DEN GROSSEN
VON
D« KARL SITTL.
As
ERSTER
TEIL. — 'T^j^^^^^ \ JJjOI
MÜNCHEN
THEODOR ACKERMANN
KÖNIGLICHER HOFBUCHHaNDLKR
1884.
ii96S03 .
HERRN PROFESSOR
Dr CONRAD BURSIAN
IN DANKBARER VEREHRUNG
DER VERFASSER
10
Inhalts-Uebersicht.
/
Seite
Einleitung 1
1. Kapitel: Lyrische Volksdichtung 8
Indogermanische Dichtung; Wiegen-, Bettel-, Hochzeits- und
Klagelieder, Skolieu , Tan/,- und Kriegsgesänge, Lieder
der Arbeiter, Rätsel — Hymnen an Apollo (Chiyso-
themis, Philammon, Ölen, Melauopos), Artemis, Demeter
(Musaios, Eumolpos, Pamphos), Dionysos, Poseidon (An-
thes) nnd Aphrodite — die thrakischen Säuger Orpheus
und Thamyris — orientalische Klagelieder (Linos, Adonis-
lied u. 8. w.).
2. Kapitel : Epische Dichtung vor Homer . 2«
Si)richvv()rt und Fabel (Äsop) iMärchen — epische Lie-
der — Entwicklung vom Einzelliede zum P^pos —
Ausbildung der Sagen — Vorläufer Homers.
3. Kapitel: Die homerischen Epen .• ^^
Charakteristik der homerischen Dichtung — Homer als
Persönlichkeit (Biographien, Heimat, Zeit, Bild, Name)
— homerische Frage (Wolf und seine Vorgänger, Nie-
derschreibung des Textes, Thätigkeit des Peisistratos,
moderne Theorien) — Methode der Forschung — Ana-
lyse der Ilias — Chorizonten — Analyse der Odyssee —
Aöden und Klyipsoden — Geschichte des Textes —
Geschichte der Homerexegese — Bedeutung Homers für
die Literatur (Centonen, Parodien, Batrachomyomachie)
— Verhältnis zur Kunst.
4. Kapitel: Das nachhomerische Heldenepos 167
Der epische Kyklos — Verhältnis zu den homerischen Epen
— Kyprien — Aithiopis — Iliupersis — kleine Ilias
— Nosten — Telegonie — Thebais und Oidipodeia,
Epigonen und Alkmaionis — Heraklesepeu (Oichalias
Einnahme, Minyas nnd Phokais, Aigimios, Hochzeit
des Keyx, der hesiodische Schild; Kinaithon, Demo-
dokos, Diotimos, Phaidimos, Peisinus und Peisandros)
— Theseis — Argonautika — Antimachos von Teos
— Magnes.
Seite
5. Kapitel: Historisch-genealogische Epen 185
Chersias — Fraueukatalog — Eöen — Naupaktische Ge-
sänge — Eamelos — Phorouis — Danais — Kinaithou
— Hegesinus — Asios.
6. Kapitel: Epische Hymnen und Theogonien 193
Jlomerische Hymnen — Titanomachie — hesioilische Theo-
gonie — Orpheus, Musaios und Epimenides — Melara-
podie — Al)aris und Aristeas.
7. Kapitel: Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 215
Spruclidichtung — Hesiod (Eiga) — Erga niegala — Cheiron
— Pittheus — Periandros — philosophische Gedichte
des Xeuophanes — Orakel — Kerkopen — Margites
— homerische Epigramme — metrische Grabinschriften.
8. Kapitel: Die homerische und hesiodische Schule 241
9. Kapitel: Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung . 244
Ursprung der Elegie — Dialekt, Metrum, Strophenbau —
Einführung in die Literatur — Kallinos — Tyrtaios
— Mimnermos — Solon — Andere der sieben Weisen
— Demodokos — Theognis — Ursprung des Jambos
— Archilochos — Simonides von Amorgos — Hipponax
— Ananios, Diphilos und Herodas — Aristoxenos.
10. Kapitel: Die eigentliche Lyrik (Melik) 285
Nomendichtung- Terpandros, Klonas, Ardalos, Sakadas,
Echembrotos und Polymnestos — Chorisdie Poesie:
Thaletas, Xenodamos, Xenokritos, Alkraan, Stesiehoros,
Xanthos, Ibykos und Tyunichos — Dithyrambos: Arion
— Melik: Alkaios, Sappho, Erinna und Anakreon.
M. Kapitel: Anfänge der Prosa 342
Entstehung der Prosa — Logographen — Kadmos, Eude-
mos, Amelesagoras, Deiochos, Demokies, Eugaion, Heka-
taios — Pherekydes, Anaximandros, Anaximenes, Hera-
klcitos, die Pythagoreer.
12. Kapitel: Schluss 358
Einleitung.
Eine einheitliche Charakteristik der gesammten griechischen
Literatur zu geben, ist eine unmögliche Aufgabe, weil die
griechische Kultur durch grossartige Umwälzungen mehr als
einmal völlig neu gestaltet wurde. Was wir als specifisch griechisch
bewundern, scheidet sich scharf von dem kosmopolitisch ange-
hauchten Hellenismus, der seit Alexanders des Grossen Zeit
herrscht, den modernen Menschen aber gerade durch seinen
modernen Anstrich, weil er ihm nichts neues bietet, abstösst.
Der Reiz der hellenischen Literatur beruht dagegen auf der
ungetrübten Harmonie des Lebens und diese hat wiederum als
Grundpfeiler die festen Stützen des Patriotismus und der Re-,
ligiosität. Begränzt ist der Kreis, in dem sich der Hellene
bewegt und behaglich fühlt. Nationalität, Stamm, Vaterstadt,
Geburt und Vermögen bilden ebenso viele Schranken; die
wichtigste Lebensregel ist Mass zu halten, doch sie unterdrückt
die wunderbare Kraft der Phantasie nicht, sondern lenkt sie
weise und bew^ahrt sie vor verderblichen Uebertreibungen. Das
hat die griechische Kultur gross gemacht, während dem Orientalen
die Schranken der Sitte zur Fessel wurden, in der das geistige
Leben erstickte. Jenes angeborene Masshalten lehrte den Schrift-
steller, nachdem er die Eigenart seiner Begabung wohl erw^ogen,
sich mit richtigem Blicke ein Ziel zu stecken und zu dessen
Erreichung alle seine Kräfte methodisch einzusetzen. Deshalb
tritt jeder echte Grieche als Spezialist auf; eine Gattung hat
er sich auserkoren, damit er es in ihr zur Vollkommenheit
bringe. So werden die einzelnen Arten mit allen Feinheiten
und mit deutlichen Unterschieden ausgebildet, weshalb bei den
Griechen mehr als bei irgend einem anderen Volke die eido-
graphische Darstellung der Literatur zuläs.sig wäre. Aber auch
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 1
2 Eiuleitung.
ein solches unverdrossenes Bearbeiten eines beschränkten Gebietes
würde nicht zu den höchsten Erfolgen führen, wenn jeder seinen
eiorenen Weg gehen wollte: ohne dass von Zünften die Rede
sein könnte, steht doch jeder Schriftsteller auf den Schultern
seines Vorgängers ; an ihm bildet er sich , von ihm lernt er
gleichsam die Griffe. Auch sonst scheut er sich nicht, was ein
Aelterer ersonnen, wiederum, allerdings in selbständiger Weise,
zu benutzen. Da Streben nach falscher Originalität dem Griechen
ferne liegt, finden wir so viele gemeinsame Züge ; deshalb besitzt
auch jede Literaturgattung ihre feste Typik, die sich teilweise
bis auf die Sprachformen erstreckt. Die Entwicklung der Indi-
vidualität lag nach moderner Anschauung damals erst in den
Anfängen; das Städteindividuum stand noch höher als der
einzelne Mensch und ebenso in der Literatur die Art höher als
der einzelne Schriftsteller. Das Publikum war überdies so ver-
ständig und so wenig verwöhnt, dass es mehr auf die vollständige
Beherrschung des Gemeingutes und weniger auf das persönliche
Schafien Gewicht legte. Endlich sei nicht vergessen, dass, wenn
es jedem frei stand, sein Gebiet zu suchen, er natürlich nur
der Art, für die er sich beanlagt fühlte, seine Thätigkeit zu-
wandte und es verschmähte, in thörichter Ehrsucht, wie es jetzt
so häufig vorkommt, mehrere umspannen zu wollen und seine
Kräfte in nutzlosem Ringen aufzureiben. Aus diesem Grund
fehlen sowohl die Künsteleien als der Dilettantismus ; der Brust-
ton der Ueberzeugung, um dieses viel missbrauchte aber doch
bezeichnende Wort anzuwenden, klingt* überall durch und zu-
gleich gilt Boileaus Wort: Rien n'est beau que le vrai. Denn
wiewohl die Griechen Realisten waren, war ihr für das Schöne
empfängliches Auge nicht in krankhafter Phantasie auf das
Hässliciie und Schlechte gerichtet; sie sahen es zwar auch, ab-
strahierten jedoch die schöne Natur davon, wie der Archäologe
die Selnnutzflecken und Risse eines Kunstwerkes vergessen lernt.
Dieser Realisnnis macht aber auf der anderen Seite eine Schwäche
der hellenischen Literatur aus; denn sie blieb zwar nicht bei
der objektiven Auffassung des Epos, dem das Aeusserliche die
Hauptsache war, stehen, aber die Darstellung der Gefühle ist
ebenso einfach wie die altgriechische Tonleiter, während ihre feinere
Analyse und das Auf- und Abwogen der Empfindungen, was
jetzt unerlässlich scheint, die echten Griechen nie gekannt
Einleitung. 3
haben. Es fehlt ihnen daher nicht allein die Sentimentalität.
Auch das Naturgefühl ^) ist dem Hellenen noch fremd, denn er
nimmt die Schönheit der ilm umgebenden Natur als etwas
selbstverständliches, das keine weitere Beachtung verdient, hin.
So stellt sich die hellenische Literatur dem Beschauer dar,
im Grossen und Ganzen eine Einheit, wenn auch im einzelnen
wieder Nuancen hervortreten. Weil die Gattungen einander
ablösend in raschem Wechsel folgen und die Blütezeit der einen
immer mit dem Archaismus der anderen zusammenfällt, kann
man sie nicht in eine archaische und eine klassische Periode
zerlegen. Ein Einteilungsgrund ist daher eher in der Herr-
schaft einer Gattung oder in der eines Landes, was bei den
Griechen ungewöhnlicher Weise zusammenfällt, zu suchen.
Die erste Periode ist die epische und asiatische.
Homer steht an der Spitze und verhilft dem Epos zum Ehren-
platze ; an dieses lehnt sich die Elegie an und auch die Melik
entzieht sich seinem Einflüsse nicht. Als die Lyrik grösseren
Raum zu gewinnen anfängt, dominiert wieder Asien, indem der
Lesbier Terpander die Kunstlyrik begründet. Endlich gehen
ebenso die Anfänge der Prosa von Asien aus. Den Endpunkt
dieser Zeit möchte etwa die Tyrannis der Peisistratiden, welche
Athen zum Beginne seines Siegeslaufes anspornen, bezeichnen,
während die Niederlage der aufständischen Jonier an der Küste
Asiens alle Verhältnisse zerrüttete.
Die zweite Periode ist die rhetorische und at-
tische. Die Sophisten lehren die feine Bildung der Sprache
und begründen die Kunstprosa, welche in dem redegewandten
Athen ihren Mittelpunkt findet. Die Redekunst gelangt in
Demosthenes , die rhetorische Geschichtsschreibung in Thuky-
dides und Xenophon, die philosophische Prosa durch Plato zur
höchsten Blüte. Unter dem Beistande der Redekunst wird das
Drama in Athen geschaffen. Pindar und Simonides vertreten
als Virtuosen die Lyrik. Das abgestorbene Epos gelangt da-
gegen nicht mehr zu einer lebensfrischen Schöpfung.
Der peloponnesische Krieg erschütterte bereits die hellenische
Nation in ihren Grundfesten. Die fortwährenden politischen
1) Zuletzt Alfred Biese die Entwicklung des Naturgefühls bei den
Griechen und Römern I. Kiel 1882.
1*
4 Einleitung.
Kämpfe, die rasch wechselnden Bündnisse, das Feilschen um
die Gunst des Perserkönigs untergruben das strenge National-
gefühl undden Municipalismus; zugleich traten an die Stelle des
naiven Anthropomorphismus nüchterner Rationalismus und.
wundersüchtiger Aberglaube in seltsamem Bunde. Schon Ion
versuchte sich in mehreren Fächern^); Euripides ersetzte das
Ethos durch das Pathos, die kunstvolle Zeichnung der mensch-
üchen Leidenschaften; Jungathen empfand endlich auch für
die Natur ein etwas sentimentales Gefühl. Als nun vollends
die griechischen Freistaaten dem makedonischen Königreiche
erlagen, waren alle Lebensbedingungen des hellenischen Wesens
vernichtet. Wir haben von nun an nicht mehr Hellenen , sondern
den unbegrenzten Hellenismus , der alle , welche die Sprache
des Demosthenes verstehen , umfasst. Zugleich wächst die
Zahl der Schriftsteller ins ungeheuere , wobei leider nur die
Narthexträger sich vermehren , während der ßakchen immer
weniger werden. Es ist allerdings nicht ganz unrichtig, wenn
man diese Periode das Zeitalter der Reproduktion nennt; denn
die Masse der Literatur will nur die alten Vorbilder abspiegeln.
Aber es fehlte bei niedriger gestellten Zielen das selbständige
Schaffen nicht. So gelang manch' hübsches Sittenbild, manch'
artiges Epigramm oder ähnliche Werkchen, ohne dass man
deshalb z. B. behaupten dürfte, die jüngere Komödie gehöre noch
zur attischen Periode.^) Aber wie Sokrates sagt, die Tugend sei
lehrbar , so glaubten die Hellenisten , das poetische und st^■
stische Gefühl seien lehrbar. Zu dem rechten Schriftsteller ge-
hörte also seit Alexander nicht blos Fleiss im allgemeinen,
sondern zuvörderst fleissiges Studium der älteren Autoren. Je
mehr aber von der Schriftsprache sich die Volkssprache ent-
fernte, desto mehr verloren die Gebildeten die Fühlung mit dem
Volke ; ^) das feine Gefühl ihrer Nation hielt sie zwar noch lange
ab in leeren FormaHsmus zu verfallen; als jedoch die Volks-
1) Ion, Chairemou und Timokles waren zugleich Tragiker und Komiker ;
der erste schrieb obendrein Memoiren. Jene Verbindung erschien Meineke
ffragm.com. I. 430. 521fr.) so ungriechisch, dass er die Treue der Nachrichten
verdächtigte.
2) Bergk wann beginnt die alexandrinische Periode der griecbischen
Literatur? Ztsch. f. Alterth. 1853 Nr. 16. 17.
3; Nebenher geht die Entfremdung der Städter und der Landleute, die
zur bukolischen Poesie führt.
Einleitung. 5
spräche erstarkt war und in die Literatur eintrat, begann der
eigentliche verrufene Byzantinismus. In einer Geschichte der
griechischen Literatur hat er nur als letzter Nachhall derselben
anhangsweise Platz. Als Grenzpunkt möchten wir etwa die
Regierung des Konstantinos Porphyrogennetos (911 — 59) setzen;
der Hellenismus schliesst mit grossartigen Unternehmungen
würdig ab, um dann zur Mumie einzutrocknen.
Man macht sich gewöhnlich mit den Abschnitten der
hellenistischen Perioden wenig Mühe. Die Zerstörung Korinths,
der Bau Konstantinopels und die Schliessung der Universität
Athen (527) übten jedoch auf die Literatur einen äusserst ge-
ringen Einfluss. Als Marksteine scheinen vielmehr die Zeit
des Augustus und ungefähr die Mitte des fünften Jahrhunderts
vorzuziehen zu sein. Was aber den Schluss anlangt, so war
es nach jeder Hinsicht höchst gleichgiltig, ob einige Epigonen
der neuplatonischen Mystiker ein Paar Jahre früher gezwungen
oder später freiwillig in Athen zu deklamieren aufhörten; dass
die christlichen . Schriftsteller allmälig die heidnischen ver-
drängten, war ebenso unwichtig , weil in der östlichen Reichs-
hälfte die Religion nichts zur Sache that. Während nämlich
im Abendlande ein Kirchenlatein , das die meisten Theologen
niclit eben vorteilhaft von den Vertretern des Heidentums
unterschied , ausgebildet war , gab es kein Kirchengriechisch,
'sondern die Theologie stellte im Gegenteil mehrere der vor-
züglichsten Prosaisten.
Der erste Abschnitt reicht also von Alexander bis
auf Augustus. Da die Reproduktion der Alten auf wissen-
schaftlichem Wege geschehen sollte, stand die Philologie natür-
lich im A^ordergrunde; auf diesem Gebiete war noch so gut
wie alles zu thun und sie unterzog sich der schweren Aufgalie
mit aller Gewissenhaftigkeit. Textkritik und Literaturgeschichte
machten damals hauptsächlich ihr Gebiet aus. Dagegen stand
es mit der Prosa, vom formalen Gesichtspunkt aus ^) betrachtet
schlimm, da ihren Stil, nachdem die Beredsamkeit aus Mangel
an bedeutenden Stoffen bedenklich gesunken war, teils die
trockene Schreibart der Grammatiker und Antiquare teils die
nicht zierlichere Kanzleisprache der Diadochenhöfe beherrschte ;
1) Bei Polyb steht Form iiud Inhalt unstreitig in starkem Gegensatze.
g Einleitung.
aus letzterer ging die xoivtj , die Sprache der hellenistischen
Literatur hervor. ^) In den Schriften der alexandrinischen Juden
vereinte sich mit dem griechischen Elemente das orientalische.
Zu ansprechenderen Werken gelangte die Poesie: ^) Sie beruhte
freilich auf Gelehrsamkeit, die der Dichtung nicht vorteilhaft
zu sein pflegt ; ^) aber es wäre ungerecht , was Ovid dem Kal-
limachos vorwirft, von ihr zu sagen: Quamvis ingenio non
valet, arte valet. Die Notizen der Grammatiker geben uns
einen schlechteren und weniger deutlichen Begriff davon als
die ihren Geist atmenden Vasen und Wandgemälde. *) Die
Stoffe sind klein, teilweise unbedeutend, wie es viele Vorwürfe
der gleichzeitigen Kunst sind ; aber geistreiche Behandlung und
Phantasie lässt sich keinem Gedichte absprechen , im Gegen-
teil besitzen die Alexandriner in reicherer Phantasie und sorg-
fältigerer Schilderung des Seelenlebens — die Liebesleiden seh aft
ist vor allen anderen beliebt — gewisse Vorzüge, die den
Hellenen mangeln. Wir vergleichen diese Gedichte am passend-
sten mit der lateinischen Literatur der Renaissance.
Der zweite Abschnitt umfasst ungefähr die ersten vier-
hundert fünfzig Jahre unserer Zeitrechnung: Dionysios von
Halikarnass und Cäcilius von Kaieakte muntern zum beson-
deren Studium der attischen Redner auf, woraus das Zeitalter
der jüngeren Sophistik entspringt. Die Beredsamkeit er-
obert sich wieder den ersten Platz und beherrscht die übri-*
gen Literaturgattungen ; auch die Philologie, der jetzt Gram-
matik und Lexikographie besonders am Herzen liegen, tritt
in ihren Dienst. Sie führt überdies zu einem neuen Auf-
schwünge des Epos, indem Nonnos mit seiner Schule die abge-
storbene Poesie durch die Hilfe der Rhetorik künstlich belebt.
Als Historiker ragen Dionysios von Halikarnass und Plutarch,
daneben Diodor und Cassius Dion hervor ; die Philosophie ver-
1) .Jerusalem Wiener Studien 1,32 ff.; veraltet S t u r z de dialecto
Macedonica et Alexandrina. Lpz. 1808.
2) Vgl. die schöne Charakteristik in Roh de der griechische Roman und
seine Vorläufer S. 11 ff.
3) Callim. fr. 442 änäptupov oüSlv äslSw; Philetas bei Stob. flor. 81,1
4) Heibig Untersuchungen über die kampanische Wandmalerei Cap,
20—23.
Einleitung, 7
treten Plutarch und mehrere Neuplatoniker ; unter den Theo-
logen sind Basilius und Gregor von Nazianz bedeutende Sti-
listen. Wir können die ganze Periode am besten und kürzesten
als Renaissance der schönen Prosa bezeichnen.
Der dritte Zeitraum von 450 — 950 weist auf dem Gebiete
der Geschichtsschreibung bedeutende Werke auf; ich nenne nur
die Namen des Agathias und Prokop. Sonst sind die Sammel-
werke hervorzuheben, welche das ungeheuere von den älteren
Gelehrten aufgespeicherte Material praktisch zurichten, z. B. die
grossen Arbeiten des Hesychios von Milet und des Photios ;
die gelehrten Kommentare verdünnen sich zu Schollen, denen
das törichte Gerede der eigentlichen Byzantiner noch ferne steht.
Die Poesie hat ausser versificierten Schriften nur Epigramme
und andere Gedichtchen aufzuweisen. Den Abschluss bilden
etwa die umfassenden und wertvollen Sammlungen, die Kon-
.stantinos Porphyrogennetos veranstaltete.
1, Kapitel»
Lyrische Volksdichtung.
Indogermanische Dichtung; Wiegen-, Bettel-, Liebes-, Hochzeits- und
Klagelieder, Skolien, Tanz- und Kriegsgesänge, Lieder der Arbeiter, Eätsel —
Hymnen an Apollo (Chrysothemis , Philammon, Ölen, Melanopos), Artemis,
Demeter (Musaios , Eumolpos , Pamphos) , Dionysos , Poseidon (Anthes) und
Aphrodite — die thrakischen Sänger Orpheus und Thamyris — orientalische
Klagen (Linos, Adonislied u. s. w.).
Als die Griechen von ihren indügermanischen Brüdern
sich trennten, war ihnen die Dichtkunst längst nicht mehr fremd.
Bei noch wenig entwickelten Völkern, deren feiner musika-
lischer Sinn lange und kurze Silben scharf scheidet, ist es na-
türlich, ich möchte beinahe sagen, notwendig, dass häufig wieder-
holte Sprüche, an deren Wortlaut viel liegt oder die feierlich
klingen sollen, also namentlich Vorschriften und Gebete, einen
gewissen Rhythmus bekommen und endlich in regelrechte Verse
übergehen. Steht ein Volk einmal auf dieser Stufe, dann dehnt
sich das Gebiet der Poesie ungemein rasch aus, da ,,der poe-
tische Gehalt gewaltsam auch das poetische Gewand herbei-
führt." Was die Griechen an Dichtungen aus der proethnischen
Periode übernahmen, wer vermöchte dies anzugeben. Höchstens
weisen ähnliche Beinamen auf eine Gleichartigkeit der vedischen
und altgriechischen Hymnen hin. Eher können wir über ge-
meinsame Dichtungsformen etwas sagen : Trochäischer und jam-
bischer Bau der Verse, dazu die lockereu Bande der Allittera-
tion^) und des Reimes^) sind keinem indogermanischen Volke
1) Schmeller Abh. der bayer. Akad. hißt.-phil. Cl. IV. (1844) 209 und
K. Blind Fräsers Magaz. 1877 Juni, im einzelnen "Williams Indian
wisdom "451 f.; Wölfflin Sitzungsber. der bayer. Akad. hist.-phil. Cl. 1881
n. 1 ff.; Zeuss gramm. Celtica lib. VI. cap. 2; Heinze die AUitteration im
Munde des deutschen Volkes, Lpg. 1882.
2) W. Grimm zur Geschichte des Reims, Berlin 1852.
Lyrische Volksdichtung. 9
fremd und scheinen gleich den einfachsten Dekorationsele-
menten ^) bereits vor der Trennung entwickelt gewesen zu sein ;
freilich traten gerade bei den Griechen Reim und Allitteration
in den Hintergrund ^). Auch der strophischen Gliederung der
von Chören gesungenen Lieder^) und dem damit zusammen-
hängenden Refrain^) dürfte ein nicht minder hohes Alter zu-
kommen.
Den Zeitraum, der zwischen jenen spärlichen Anfängen
und der wunderbaren Erscheinung der homerischen Gedichte
liegt, erleuchten nur wenige dürftige Notizen. Da mit Aus-
nahme der Homer unmittelbar vorhergehenden Zeit die Volks-
dichtung ohne Nebenbuhlerin herrscht, kann sich so, wa?
wir von der Poesie des griechischen A^'olkes im allgemeinen
wissen, in den geschichtlichen Rahmen einfügen ; denn über
die Grenzen der Zeit erhaben ist alles, was das Volk singt und
sagt, und die Fortschritte der Kunstliteratur üben kaum einen
merkhchen Einfluss darauf aus. ^) Bei den Griechen verdunkelte
aber ihr Glanz jene bescheidenen Erzeugnisse des Volksgeistes
so sehr, dass nur sehr geringe Proben uns geblieben sind. ^) Was
sind diese wenigen Reste gegen den Reichtum , den wir
schon im Hinblick auf das heutige Griechenland voraussetzen
dürfen; begleitete doch das Lied den Hellenen getreulich
durch das ganze Leben. Den Kleinen wiegten in den Schlaf
1) Conze zur Geschichte der Anfänge der griech. Kunst, Wien 1870 — 3.
2) Nichtsdestoweniger gibt es zahlreiche Abhandlungen , von denen wir
uur zwei von allgemeinerem Inhalte nennen : Brandes der Reim in der
griechischen Poesie, Lemgo 1867 und Gustaf ssou de vocum in poematis
Graecis con.sonautia (Acta soc. scieut. Fenn. 11, 297 ff.). Interessant ist der
Reim im Spruche des Blas (Gell. 5, 11, 2): £'- v.a'/.YjV, i'^Ji^ v.o-.vyjv, ec S'a-axpav,
B^S'.'Z 7tO'.Vf]V.
3) Westphal Verh. der Breslauer Philologenvers. 1857 S. 51 ff.
4) Christ Metrik ^648 ff.
5) Noch in der Diadochenzeit entstanden Volksgesänge; ich erinnere an
deu Anfang eines Reiterliedes : "\tzkoz \i.B «peps^ ßaatXsuc [j.e xplcpsc (Diogenian.
5, 31, vgl. Hör. ep. 1, 17, 20).
6) Zell Ferienschriften, Freiburg 1826 1, 53 ff.; Kost er de cantilenis
popularibus veterum Graecorum, Berlin 1831; Ch. Benoit des chants pop.
daus la Grcce ant., Nancy 1857; über die Namen: Athen. 14, c. 10. 11 und
Ritschi opuscula 1, 250 ff.; Fragmente in Schueidewius delectus poesis Gr.
und Bergks poetae lyrici Graeci als Anhang.
IQ 1. Kapitel.
die ßaDxa Xr]{iaTa (xataßaoxaXifjastf:) ^), nicht eben tiefsinnig
und gedankenreich, weshalb sie der Arzt Sextus ^) ärgerUch ein
metrisches Gewinsel nannte. Das SpieP) gewann erst durch
das Singen von Verslein die rechte Freudigkeit. Zu bestimmten
Zeiten des Jahres zogen die Kinder herum und sagen Bettel-
lieder ab, wie es wohl in ganz Europa noch jetzt Sitte ist.
Im PXilding führten sie das Bild einer Schwalbe, der von allen
Griechen froh begrüssten Frühlingsbotin, mit sich und tragen,
selbst -/sX'.Sovtatat benannt, das Schwalbenlied ((/sX'.Sov.aixö?) vor"*);
wir kennen noch den schlichten Gesang der rhodischen Knaben
(Bergk Nr. 41.)^) Er verkündet zuerst in Anapästen, dass die
Schwalbe- gekommen sei und Speise und Trank erbitte; dann
drängt der Anführer zum raschen Geben, indem er scherzhafte
Drohungen beifügt. Zur selben Art gehört das Krähenlied
i^xopwvtajia) '') und wahrscheinlich auch das Homer beigelegte
Kramraetsvogellied (Itci/'-^XiSs?). ^) An anderen Orten trugen die
Knaben einen mit heiligem Wollfaden umwundenen Oliven-
oder Lorbeerzweig von Thür zu Thüre^); wer kennt nicht die
hübsche darauf bezügliche Etpeatwvrj, die unter den homerischen
Epigrammen stellt?'-^) Auch die Bettler und unter ihnen be-
1) Oft genannt, Theoer. 24, 7 ff. nachgebildet.
2) adv. math. 6. 32.
3) Bergk Nr. 20. 21. 22 b. Grasberger Erziehnng und Unterricht im
Altertum 1, 132 ff.
4) Eust. in II. p. 1914, 44; die gewöhnlich angewandte Form yE/v'^ovt^jia
ist neugriechisch.
6) Da die Griechen Sitten und Gebräuche an berühmte Namen anzu-
knüpfen liebten, .sollte der weise Kleobulos es eingeführt haben (Theognis bei
Ath. 8, 360 b).
<■)) Jedoch von Männern (-/topüjviaxat Pamphilos bei Ath. 8,360 b; Hci^ych.)
vorgetragen ; der Jambograph Phönix dichtete ein solches (Athen. 9,359 e ff.).
7) Von den Homerbiographen erwähnt, ausserdem Ath. 2,65 a aus
Menaichmos, vgl. 14,639 a.
8) Vgl. Suid. V. Kipsa'ü>v*f). Auf einer attischen Münze (Beule mon-
naies d'Athenes p. 368) und einem Relief (Bot ti eher Philol. 22, 391 f. mit
Tafel) abgebildet; anders beschreibt Sehol. Demosth. im Bull, de corr. Hell.
1, 149, 20 flF. den Brauch und gedenkt des Liedes nicht.
9) II gen KtpEO'.ojvfj Homeri et alia poeseos Graee. mendieae specimina,
Lpg. 1792; Göttling opusc. aead. S. 176 ff. Das Gedichtehen ist künstlieh
umgebildet, wie der erhaltene Anfang eines ähnlichen (Bergk III* 681).
Lyrische Volksdichtung. ^]^
sonders die Blinden suchten bei den öffentlichen Festen singend
die mitleidige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. ^)
War der Knabe zum Jüngling erwachsen, so begeisterte
ihn Aphrodite zum Gesänge^); aber Sappho und Anakreon Hessen
das volkstümliche Liebeslied, dem sie wohl manches ver-
dankten^), in das Dunkel der Vergessenheit sinken. Nur abge-
legene Ländchen, wie Lokris gewährten ihm ein Asyl^) und ent-
wickelten sogar neue Formen, wie das im Mittelalter so behebte
Tagelied '") , während in Attika Anakreon es verdrängte. '^) Die
Hochzeitsfeier war unzertrennlich vom Gesänge. ^) Beim
Hochzeitsschmause sangen die Gäste*), den Zug begleitete der
Hymenäus^), ein Lied von etwas schwermütigem Charakter,
da in den Festjubel die Trauer um das Entschwinden der
Jugend und Jungfräuhchkeit sich mischte. ^^) Den Tag be-
schloss das Epithalamion vor dem Brautgemache ^^) und am
folgenden Morgen fehlte das Weckhed (SuYspnxöv) nicht ^^);
beide Lieder trugen in der Regel Chöre von Jungfrauen vor. ^^)
1) Arist. rhet. 2, 24, 7; später rekrutierten sich die Bänkelsänger aus
den Paphlagouiern (Schol. zu Philostr. vita Apoll, p. 93, 14 Kayser). Vgl.
Bergk Nr. 42.
2) Plutarch (quaest. conv. 1,5) motiviert dies ausführlich.
3) Welcker kleine Schriften 1, 117 ff. Ritschi opusc. 1, 253. „Wenn
ich ein Vöglein war'" hallt noch bei Arist. Av. 1337 f., Eurip. Hippol. 732 f.,
Theoer. 3, 12 nach.
4) Athen. 14, 639a (aus Klearchos). 15, 697b; vgl. auch Proklos bei
Phot. cod. 239 p. 321 a 15. Aristaen. ep. 1, 8.
5) Bergk Nr. 27.
6) Aristoph. Eccl. 882 ff.
7) Härtung Philo]. 3, 238 ff. Gull. Kör her de Graecornm hymenaeis
et epithalamiis , Breslau 1877, ■(a\i.r^\:oc, wl-i] Eu.seb. praep. ev. 3, 2 lemma.
8) Plut. quaest. conv. 4, 3, 2.
9) Arist. Pax 1333 ff. Av, 1720 ff. Eurip. Troad. 308 ff. Schon S 493
und Hes. A. 274 wird er erwähnt. Der Kefrain war TfXYjV u) 'TfjLEvaiE. Vgl.
Bergk Nr. 25.
10) Prell er griech. Mythologie IP 490 f. Wachsmuth das alte
Griechenland im neuen S. 87; Phot. bibl. cod. 239 p. 321, 19 ff. xaxä Tt&^ov
] 1) Ein STttö-aXiifi.tov auf Peleus und Thetis stand bereits in einem
hesiodischen Epos.
12) Aesch. Danaid. fr. 40 D. Apoll. Rh. 4, 1160. Theoer. 18, 57 mit
Schollen, noch jetzt in Griechenland üblich (Wachsmuth das alte Griechen-
land im neuen S. 99).
13) Pind. Pyth. 3, 18. Aesch. Prom. 556. Eur. I. A. 1042. Theoer. 18,
12 1- Kapitel.
Wie der Gesang das Kind begrüsst, so bleibt er dem
Menschen auch an der Bahre treu; denn unter dem Klange
des •9-pf^vo?*) erweisen die Angehörigen dem Toten die letzte
Ehre. Scherz und Ernst, Vergnügen und Arbeit gab das Lied
die Weihe. Beim Mahle reichte einer dem anderen die Lyra
und einen Myrten z weig ^) und forderte ihn damit auf, irgend
ein oxoXtöv genanntes Liedchen, das sich gewöhnlich um eine
triviale Sentenz drehte , vorzutragen. ^) Während zu Homers
Zeit wenigstens die asiatischen Jonier diesen hübschen Brauch
noch nicht kannten, war er zu Athen, als Aristophänes dich-
tete, bereits aus der Mode gekommen *) ; denn selbst die kon-
servativen Bürger sangen lieber Stücke aus Kunstlyrikern ^)
oder lyrische Stücke von Dramen *') , ausser dass die Patrioten
noch gerne das Andenken der Tyrannenmörder in Liedchen ^),
die nach Inhalt und Form äusserst einfach sind, feierten. Nach
Artemon ^) sangen alle Gäste zusammen oder in Wechselchören
oder einzeln ; auf letztere Art kamen die künstlicheren Stücke
zum Vortrag. Auch an eigentlichen Trinkliedern fehlte es
nicht'); Herakles pflegte solche auf der Bühne, nachdem er
anders Proklos bei Phot. cod. 524 und Longos 4, 40 (die ganze Gesellschaft
singt oxXfjpä v.rA änTjvel f^ <p<"v-g). Das von CatuU übersetzte Hochzeitslied der
Sappho sangen abwechselnd Jünglinge und Mädchen.
1) Schon bei Homer ii 720 ff. oi 60.
2) TCpöc jVjppivYjv Arist. Vest, 1231 (Nub. 1364). PoUux 6, 108. Suidas
8. V., dargestellt bei Jahn Philol. 26, 225 T. 3, 2. Weniger üblich war ein
Lorbeerzweig (Com. ine. fr. 347. Dicaearch. bei Schol. Arist. Nub. 1367. Said.
1. c. Schol. Plat. p. 158B.)
3) ilv-ö/aa h. e. carmina convivalia Graecorum ed. C. D. Ilgen, .Tena 1798;
Köster comm. de scoliis I. Flensburg 1846; Fr. Ruuck de scoliorum origine
et U8U, Berlin 1876 (Diss. v. Rostock); A. G. Engelbrecht de scoliorum
poesi, Wien 1882. Die Fragmente stehen am besten in Bergks poetae lyr.
Oraeci HI* 643 ff. Im Altertum schrieben Tyrannion (napl xo'j av.oX'.oö jjLjtooa)
und Didymos (3U|j.i:o3'axa) darüber.
4) Teuffei zu Arist. Nub. 1366. Terpander soll die Melodie festgestellt
haben.
6) Arist. Nub. 1356 (Simonides), fr. 208 (Alcäus). Sa'.ta).. fr, (Anakreou
und Alcäus); Eupolis fr. 310 (Stesichoros) ; vgl. Aristoxenos bei Suid. v. oxo/.-.ov.
6) Arist. Nub. 1365 ff. Equ. 529 f., besonders • A o(j.-fiToii 'kÖ'(oz Eupolis
fr. 424. Arist. Ve.sp. 1239. Suid. v. itäpotvoi;. Letzterer erwähnt auch Adfiircuvoc
y-iloz, wofür Schol. Plat. p. 168B Telamon nennt.
7) Bergk Nr. 9—18.
8) Ath. 16, 694 ab.
9) Kapotvia z. B. Arist. Ran. 1301 (vulg. nopvtSüov).
I
Lyrische Volksdichtung. lä
genug gegessen und getrunken hatte, anzustimmen.^) Dem
Vergnügen diente der Gesang beim Tanze^), wobei der
kretische Waffentanz besondere Aufmerksamkeit verdient^); an
letzteren reihen wir das bekannte herausfordernde Lied, das
die Spartaner bei Festparaden in Altersklassen geghedert sangen.^)
Auch im Ernstfalle zogen sie unter dem Schalle des sjxßaT'/jpiov
gegen den Feind. ^) Die Verwundeten sollte am besten eine Art
Zauberlied^) heilen, wie nach dem Volksglauben vor einem
metrischen Spruche'') die Hexen flohen.
Endlich dürfen wir auch die Arbeitslieder im weitesten
Sinne nicht vergessen. ^) Besonders wer ein einförmiges Ge-
werbe trieb, kürzte sich die Zeit gerne mit Singen; so thun
bei Homer Kalypso und Kirke, während sie weben. ^) Die
Wächter brachten die langen Nächte damit zu ^°) , die Hirten
sangen, wenn sie nicht auf der Flöte bUeseu, die ßoo%oXt(a)o[xot^^),
Drescher ^2) und Winzer ^^j, wasserschöpfende Mägde ^"*), selbst
1) Anon. de com. VIII § 27.
2) Ath, 14, 629 e (Bergk Nr. 19). Plut. quaest. Gr. 35 (Nr. 23). DidymoR
bei Ath. 4, 139 e aus Polykrates. Die Epiker dachten sich gerne die Musen
tanzend und singend, während Apollo spielte (A 603 f. u. ö).
3) Ueber eine angebliche Spur eines solchen Liedes bei Homer s. Hentze
Anhang zu H 239. An Khythmen kennen wir den Choriambos (Kretikos !)
Pyrrhichios und Parömiacus (Ivo^Xioc).
4) Plut. Lycurg. 21 (Bergk Nr. 18).
5) Das Gleiche gilt von den Arkadern (Ephoros bei Ath. 14, 626 c).
6) l7tao'.5-fj X 457 u. ö. Ikw^'Öc, Clem. AI. paedag . 2 p. 100 P. vgl. Mart.
Cap. 9, 926. «vtiijloXtcov axo? Aesch. Ag. 17.
7) Bergk Nr. 26.
8) Die Corai tJiv [j.taO'cuxüJv tüjv sc tou? ä'^pobz '.poiTcuvTujv und ßaXavsiouv
Coorj.': (Ath. 14, 619 a) scheinen aus einzelnen Komödienscenen genommen
zu sein.
9) Der Gesang der Weberinen hiess später sK'.voc, (Epicharm. bei Ath.^
14, 618d).
10) Aesch. Agam. 16. Arist. nub. 721. Lucr. 5, 1404 lif.
11) Tryphon bei Ath. 14, 619a. Diod. 4, 84. Eust. in II. p. 1164, 12.
Hesych. Et. M. 208, 9; deshall) verehrten die Hirten neben Pan die Musen
(Schol. Theoer. 1, 6). Nach EiJicharm hiess der erste Hirtensänger Siciliens
Diomos (Ath. a. 0.). Von Eriphanis erzählt Klearchos bei Ath. 14, 619 c.
12) 7ixLoxf/.öy Ath. 14, 619 a, nach Pollux 4, 55 Flötenraelodie.
13) xeXsu(o)fi.a Hieron. in Jes. 5, 10.
14) '.{lalov ji-eXoc Arist. ran. 1324 mit Schollen faus Kallimachos); Hesych,
s. v. u. V. l\i.aoii6z.
14 1- Kapitel.
die unglücklichen Müblsklaven ^) erheiterten sich mit der Gabe
der Musen. Bei den Hirtenliedern handelte es sich häufig um
poetische Wettkämpfe, wie sie noch jetzt in den deutschen
Alpen vorkommen.
Ich brauche kaum zu sagen, dass der Gesang nicht selten
dem Spotte und Hohne diente; eine kleine Probe bietet das
angebliche MtiUerlied auf Pittakos, das schwerlich aus alter
Zeit stammt. ^)
Zum Schlüsse verdienen auch die Rätsel^) eine Er-
wähnung, weil diese Ausflüsse des volkstümUchen Scharfsinnes,
die den Griechen hauptsächlich ein geistreiches Nachtischver-
gnügen *) waren , in der Regel metrische Form hatten ; ihre
literarische Wichtigkeit beruht abgesehen von den kunstreichen
Rätseln des Kleobulos und seiner klugen Tochter Kleobulina
darauf, dass die Rhapsoden in Rätselspielen wetteiferten^) und
später die Komiker dieselben zu scherzhaften Episoden benützten.
Bei einem Rückblicke auf die profane volkstümliche Literatur
tritt der Unterschied der einzelnen Staaten bedeutungsvoll
hervor ; denn in den Gegenden , wo ein gewisser bäuerlicher
Sinn die Masse der Bevölkerung erfüllte, in Sparta ^), in Sicilien
und jedenfalls auch in Arkadien, dem zweiten gelobten Lande
der Hirten, dauerte die VolkstümHchkeit der Literatur viel
länger, weil der Kunstpoesie, die in Athen jene rasch ver-
drängte, weniger Gelegenheit gegeben war, störend einzugreifen.
1) lfi.alo; , dorisch IjAaXic Tryphon bei Ath. 14, 618 d; Arist. Byz. ib.
619 b; Photios p. 107, 21; Suid. Hesych. iKiivjh.oq Eu.st. iu II. p. 1164, 12.
lioXwö-pö-: Eust., an den Dämon Nostos oder Eunostos gerichtet (Steph. Thes.
IV 689 b); vgl. Arist. Nub. 1358. Die elpsoia (Plut. Alcib. 32. Opp. hal.
6, 296) ist blosse Melodie; anders freilich Longos 3, 21.
2) Bergk Nr. 43, zur Erklärung Welcker Rhein. Mus. 10, 407 A. **,
über die metrische Form liergk im Kommentare 1. c.
3) Felix Morawski de Graecorum poesi aenigmatica, Münster 1862;
Jos. Ehlers a'iv'.Y(A* xal ^pi'fo':, Bonn 1867 und de Graecorum aenigmatis
et griphis, Prenzlau 1876; Bergk Nr. 29 — 38. Klearchos schrieb Ktp\ fpirfonv
{Ath, 14, 648 f).
4) Pollux 6, 107 rechnet sie zu den o'j|j.TCOT'.xä.
6) Certamen Homeri et Hcsiodi und Bergk zu Nr. 30 \1II * 666 ft.).
Daraus erklärt sich die Sage von Homers Tod. Vgl. Joh. Schmidt Disa.
phüol. Hai. 2, 200 A. 1.
6) Probus in Verg. buc. praef. p. 2, 18 Keil.
Lyrische Volksdichtung. 15
Plutarch ^) charakterisierte die spartanischen Lieder mit den
Worten: „Die Sprache war schHcht und kräftig (afpsX-rjc xal
ad-poTTTOc), der Inhalt ernst und sittlich erhebend." Wenngleich
die Heloten wenige Rechte besassen, singen durften sie doch
und manche ihrer Lieder verbreiteten sich so weit, dass Ari-
stophanes ^) , wenn die Schollen Recht haben , auf ein solches
anspielt.
Leider kennen wir nur wenige unverfälschte Proben dieser
liebenswürdigen Aeusserungen des Volksgeistes ^), da die Griechen,
selbst als sie für das Hirten- und Bauernleben schwärmten,
sich gleichgiltig dagegen verhielten; vielleicht vermögen wir
aber, wenn wir neugriechische Volksdichtungen heranziehen,
ein deuthcheres Bild au gewinnen. ^) Unter diesen verdienen
wegen des gleichartigen Stoffes Wiegenlieder '") , '/^sXido'jiG^a.za
und ähnliche Bettelgesänge ^), sowie die Totenlieder ^) besondere
Aufmerksamkeit. Nur liegt durch den Druck der langen Fremd-
herrschaft auf den nieisten der neugriechischen Lieder ein
trüber Schleier, den wir für das Altertum durch sonnige Lebens-
freude ersetzen müssen.
Während das profane Volkslied der Kunstproduktion nur
geringe Widerstandskraft entgegensetzen konnte, erhielten sich
die Reste der ältesten Zeit, die mit dem Gottesdienste zusam-
menhingen, gleich den kindhch rohen aber immer wiederholten
Idolen weit dauerhafter. Da Apollo schon früh als Gott der
Musik gedacht wurde, diese Kunst aber bei den Griechen in
engster Verbindung mit dem Gesänge stand , pflegten gerade
seine Verehrer den Hymnus und entwickelten ihn mannigfaltig,
wobei die apoUinischen Festgenossenschaften von Delphi und
Delos sich einflussreich zeigten. Denn von dem Apollokulte
1) Lycurg. 21.
2) Equ. 1230.
3) Die Mahnung, der Leser möge deshalb nicht ein ungünstiges Vorurteil
gegen die hellenische Volkspoesie fassen, scheint mir nicht überflüssig.
4) C. Fauriel chants pop. de la Grece mod. discours prel. p. 102 fl.
Fr. T hier seh über die neugriechische Poesie, München 1828 S. 34 flf.
5) vxvvap'lafiata Passow carm. pop. Graeca 207 — 16.
6) Fauriel a. O. 1, 28. 112 f. Wachsmuth das alte Griechenland im
neuen S. 36 f.
7) Xapa)V£ta und fioipoXÖYia Wachsmuth a. O. Anhang III S. 105 — 25,
vgl. Gennadios Abh. der bayer. Akad. 7, 386 ff.
16 1. Kapitel.
ging der Anstoss aus, die Götter auch ohne besondere Veran-
lassung beim Opfer 7ai besingen, während dies die homerischen
Griechen noch nicht thaten. Die beiden Hauptformen des
apollinischen Liedes sind der Päan^) und der Nomos. Jener,
nach dem Refrain lyj Tuatav iy] ;catäv genannt, drückt immer eine
freudige hoffnungsvolle Stimmung aus; ,, selbst der Jammer
der Thetis um ihren Sohn schweigt und der Niobefels hört zu
weinen auf, wenn der Ruf itj Ttatdcv erschallt."^) Die Achäer
singen den Päan nach Hektors Falle (X 391) und suchen beim
Hekatombenopfer mit einem solchen Preisliede den Gott gnädig
zu stimmen. ^) Dieselbe Absicht verfolgen die Dorier , wenn sie
beim Beginne der Schlacht den Päan anheben, ^) Der delphische
Gott befahl einmal ausdrücklich, wenn der Frühling nahe,
Päane zu singen ; sie sollten also die Freude der Menschen,
dass der Winter vorbei und die Natur wieder erwacht sei, aus-
drücken. ^) Im Winter dagegen schweigt der Päan. *') Später
übertrug man diese Liedform auch auf andere Götter') und
Menschen^), die man als ,, Retter" verehrte. Der Päan hatte zwar
nicht den aufgeregten Ton des Dithyrambus^); aber wegen seiner
Lebhaftigkeit gaben die Griechen bald die Phorminx ^^) auf und
begleiteten ihn lieber mit dem Schalle der Flöten. ") Ernster
1) Seraos von Delos .schrieb über die Päane (Athen. 14, 618 d. 622 a — d).
2) Callim. hymn. 2, 20 ff.
3) A 473, zunächst an Apollon Paion {aKziiv.r/.v.o<;) gerichtet.
4) Teuffei zu Aesch. Pers. 388.
5) Apoll, hist. mirab. 40.
6) Plut. de EI c. 9.
7) Zunächst Asklepios (Sophokles, Bergk carm. pop. [sie] 47 von Makedoi aus
römischer Zeit, eben.so Athen. 6, 250 c) und Hygieia (von Ariphron Athen.
16, 702a); auf Zeus dichtete schon Pindar einen Päan. Bei Poseidon, dem
Gotte der Erdl)eben , erwähnt ihn Xenophon (Hell. 4, 7, 4). Eine Inschrift
von Thasos gibt bei einem Kulte des Hermes und der Nymphen au.sdrücklich
an : ou natuivtCstat (Kohl Inscr. antiq. 379).
8) Ly.siinder Plut. Lys. 18, Titus Flamininus Plut. Flam. 16; das
korinthisrhe Lied auf Agemon, den Vater der Alkyoue, hatte wenig.stens den
päani.schen Refrain (Ath. 15, 696 f). In Athen waren aber die religiösen
Bedenken noch zu Aristoteles' Zeit so stark, dass mau diesen, weil er einen
Päan auf Hermias dichtete, verbannte.
9) Plutarch de E I p. 389 b nennt ihn TetaYixEvfjv xal ctotppova |j.oöaav.
10) Hymn. 2, 337 ff.
11) Enrip. Tro. 126. Plut. Lys. 11.
1
Lyrische Volksdichtung. 27
und ruhiger war der Nomos, über dessen Stellung in Lyrik
und Musik wir noch bei Terpander zu reden haben werden.
Er stammt aus Kreta und kam von hier nach Delphi, wo die
Apollodiener in dieser Form Apollo besonders als Drachentöter
feierten. ^) Weil ihn nicht , wie den Päan , ein Chor , sondern
ein einzelner vortrug, treffen wir hier zuerst die Priestersänger,
welche in Griechenland und Indien ^) die Staffage der mythischen
Zeit bilden, ohne dass der Forscher aus der üeberlieferung die
Thatsachen herauszuschälen vermöchte. An der Urgeschichte
des pythischen Nomos haftet der Name des Kreters Chryso-
themis, der ihn zuerst im Festgewande vorgetragen haben
solP); es ist auch wohl nicht zweifelhaft, dass der Nomos wie
das Orakel selbst von Kretern gestiftet wurde. Auf Chrysothemis
folgte nach der Tradition Philammon. ^)
Die priesterliche Dichtung von Delos verkörpert der an-
geblich aus dem apollinischen Lande der Lykier oder Hyper-
boreer stammende Olen^); dieser Mann verdient, weil schon
Herodot Olenische Hymnen , die in Hexametern gedichtet
waren, kannte^), besondere Beachtung. Die delische Tempelsage
stempelte ihn sogar zum Erfinder des Hexameters, obgleich
dieses Versmass im Apollokulte nicht von Anfang an heimisch
ist. Dagegen geht aus den berühmten Versen des an den
delischen Apollo gerichteten Hymnus (V. 158 ff.) zur Genüge
hervor, dass Delos dem pythischen Heiligtume in der Pflege
der musischen Künste nicht nachstand.
1) An den pythischen Nomos knüpft sich die Sage vom Lokrer Eu n omos
(Ael. hist. an. 5, 9. Antig. mirab. in. Clem. AI. cob. 1, rationalistisch Strabo
6, 260. Anthol. 6, 54. 9, 584.) Lucian nennt ihn ver. hist. 2, 15 unbefangen
neben Arion, Anakreon und Stesichoros.
2) Zimmer altindisches Leben S. 337 ff.
3) Prokl. bei Phot. 320 b 1. Paus. 10, 7, 2 ; vgl. die Abbildung in Müller-
Wieselers Denkmäler der alten Kunst 1, 32, 141a. Die Quelle von Suid. v.
Tep-avSpot: ignoriert ihn.
4) Spätere führten mehrere terpandrische Namen auf ihn zurück (Plut.
mus. 5) ; Herakleides schrieb ihm melische Gedichte auf die Geburt der Leto,
des Apollo und der Artemis zu und nennt ihn den ersten Chordichter (ib. 3,
eben.so Schol. Od. x 432).
5) Der Name braucht nicht barbarisch zu sein, vgl. 'ß),EViov.
6) 4, 35; Pausanias las noch olenische Hymnen und erwähnt sie mehr-
mals; vgl. ausserdem Callim. h. in Del. 304 f. und Boio bei Paus. 10, 5, 7.
.'^ittl, Geschichte der griechischen Literatur. 2
18 ]. Kapitel.
In dem politischen Mittelpunkte der Dorier, in Sparta, bot
das Karneenfest ^) seit alter Zeit eine günstige Gelegenheit für
die Übung in Gesang und Musik ; bei den Hyakinthien ^ sangen
zuerst die Knaben unter Flötenbegleitung hellstimmig zum
Gotte, worauf Chöre von Jünglingen einheimische Lieder vor-
trugen. Zum apollinischen Kreise soll endlich Melanopos
von Kyme gehören ; Hellanikos machte ihn zum Vorfahren
Homers 3) und der vielbelesene Pausanias (5, 7, 8) kannte von
ihm einen Hymnus, der von den Hyperboreerinnen Opis und
Hekaerge erzählte.*)
Den Doriern lag neben Apollo auch die Verherrlichung
seiner Schwester Artemis am Herzen, wenn gleich hier jene
grossen Vororte und Brennpunkte fehlten. Nur die oonq-^oi,
welche der Artemis Upis , der Behüterin gebärender Frauen,
galten, waren bekannter ^) ; doch nennen die Grammatiker über-
dies ländliche Lieder, die in Sicilien und Lakonien ^) Artemis
zu Ehren gesungen wurden.
Für Attika steht der Demeterkult im Vordergrund.
Wir hören nun zwar hier von Musaios^), dem Sohne des
Antiophemos undEumolpos, dem Ahnherrn der Eumolpiden ^),
aber nur F a m p h ö s ist von dem Verdachte , eine blosse Per-
sonifikation zu sein, frei. Obgleich in der Kaiserzeit der Freund
religiöser Literaturinkunabeln einen ganzen Band altattischer
1) Hermann griech. Altertümer II § 53, 29 flf.
2) Polykrates bei Ath. 4, 139 e.
3) Man erinnere sich , dass Lucian (Dem. enc. 9) Homers Mutter Mela-
nope nennt.
4) Das angeblich an Apollo gerichtete Lied fiXr^Kiäq (Athen. 14, 619 b)
ist nicht weiter als der Ruf der Knaben „Komm' hervor liebe Sonne" (Bergk
Nr. 22 A), wenn Wolken die Sonne verdunkeln.
6) Ath. 14, 619 b. PoUux 1, 38. Theodoret. serm. IV p. 640, speciell
in Trözen.
6) Hier hiessen sie ä-tpaßix<i „Karrenlieder" (Probus in Verg. Bucol.
p. 2, 21 Keil); vgl. Proleg. Bucol. Nr, VI (Ahrens II p. 4). Ein dorisches
Fragment teilt Dikäarch bei Athen. 14, 636 d mit. Jedenfalls verehrten auch
die Arkader Artemis Hymnia (Prell er griech. Myth. I^ 243) mit Liedern,
da sie den religiösen Gesang ausserordentlich pflegten (Athen. 14, 626 b).
7) Eberhard de Panipho et Musaeo, Münster 1864.
8) Herakleides dichtete ihm eine Titanomachie an.
Lyrische Volksdichtung. 19
Hymnen kaufen konnte^), befürwortete bei Musaios Pausanias
selbst blos die Echtheit eines Demeterhymnus. ^) Die Familie der
Lykomiden ^) rühmte sich die Dichtungen des Pamphos zu be-
wahren, indes ist ein Eroshymnus zu Athen wenigstens für
die alte Zeit schwer glaublich und die Erwähnung des Oitolinos
in einem anderen Hymnus^) spricht, da das Linoshed mit
Athen nichts zu thun hat, entschieden gegen die Echtheit. Ein
höheres Alter kann nur der lulos oderUlos^) beanspruchen,
der analog dem Päan nach dem Refrain TcXslatov ooXov o\i\ov
ist IodXov ut benannt ist. ^) Das Lied war so populär, dass es
auch oft das Wollekrempeln begleitete^); hie und da galt es
Demeters Tochter. ^)
Weil der Dionysoskult nicht in frühe Zeit zurückreicht,
kann er keine alten Namen aufweisen ^) ; die berühmteste
Gattung der Dionysoshymnen ist der Dithyrambos, über dessen
volkstümliche Anfänge wir nichts erfahren. Daneben spielten
aber sclion früh die das Herumtragen des Phallos begleitenden
Lieder (^aXXoipoptxa) eine nicht unbedeutende Rolle ^^) ; von
diesen stammt der Name des ithyphallischen Metrum. Auch
dem Kelterfeste fehlte ein besonderer Hymnus (iTrtXijvtov [jlsXoc) ^^)
nicht. Endlich sind die Lieder, welche Frauen dem Dionysos
selbst ^^) oder Erigone^^) zu Ehren sangen, nicht zu vergessen.
1) Pollux 10, 162 ev zolc, 'Axtixol? upoic, vgl. Krates bei Ath. 14, 65'ib ;
Orion führt im Etym. M. 293, 46 eine Sammlung peloponnesischer Hymnen
aus Euripidesscholien an.
2) 1, 22, 7, vgl 4, 1, 5.
3) Lob eck Aglaoph. 982 f.; er zieht die Form Auv.ofiYjSa'. vor.
4) Paus. 9, 29, 8; die Verse bei Philostr. heroic. 2, 19 p. 693 sind
parodisch.
5) ouXoc, touXoi; Didymos bei Schol. Ap. Rh. 1, 972 , auch xaKXiouXoc,
oder AY](jL7]TptoüXo<; nach Semos bei Ath. 14, 618 d (Eust. in II. p. 1162, 42)
genannt.
6) Semos bei Ath, 14, 618 e.
7) Athen, a. O. (Semos). d (Tryphon). Eust. in II. p. 1164, 11, doppel-
deutig Eratosth. Mercur. fr. 8 B.
8) Athen. 14, 619 b.
9) lieber Orpheus und seine Genossen s. u.
10) Heraklit. bei Clem. AI. protr. p. 30; Proben bei Ath, 14, 622 b— d
aus Semos (Bergk Nr. 7. 8) 6, 253 c (Nr. 46) und Arist. Acharn. 263 ft.
11) Kallixenos bei Athen. 5, 199 a. Pollux 4, 55; für Athen vgl. Bergk Nr. 5.
12) In Elis Bergk Nr. 6.
13) In Athen (äXYjxtc Athen. 14, 619 e. Pollux 4, 55). '
2*
20 1- Kapitel.
Der Dienst des Poseidon blieb für die Literatur ohne
Bedeutung, wiewohl Herakleides ^) An thes aus dem böotischen
Anthedon zu einem uralten Hymnendichter machte, während
sein Name in Wirklichkeit der Geschichte der Mantik angehört. ^)
Aehnliches gilt auch, Artemis ausgenommen, von den weib-
lichen Gottheiten; indes feierten die Spartaner beim Tanze
Aphrodite^) und von einem Hymnus an dieselbe Göttin teilt
Piutarch ein kleines Fragment mit. ^)
Pausanias, der besteKenner der griechischenKircheninkunabeln,
urteilt über die ihm bekannten ältesten Hymnen, sie ständen
an Schmuck der Sprache hinter den homerischen zurück, über-
träfen sie aber an religiösem Gefühle. °) Im Hinblick auf die
Veden dürfen wir annehmen, dass sie in verhältnismässig ein-
facher Sprache das segensreiche Walten, die Macht und die
Thaten einer Gottheit priesen und am Schlüsse eine Bitte um
Gewährung persönlicher Wünsche, die sich wohl meistens auf
Erhaltung und Mehrung des Besitzes bezogen, enthielten. Um
das Ohr des Gottes sicher auf sich zu lenken , rief man ihn
gerne mit vielen Beiwörtern an; daher heissen die Götter ,,viel-
namig" (TroXuwvofxo?) ^).
Bisher hatten wir immer mit rein nationalen Elementen
zu thun. Ein fremdes Element scheint aber in den PriestedH
Sängern Pieriens hinzuzutreten. Die Anfänge der griechische^^
Dichtung knüpfen sich nämlich teilweise an den Musenkult ^
und dieser wieder an Pierien, das gesegnete Land am No
abhänge des Olympbs, von wo aus er nach dem Helikon vei
pflanzt wurde. ^) Die Tradition des späteren Altertums verset
1) Plut. mus. 3.
2) Die Spartaner bewahrten Orakel auf seiner Haut (Philostephanos bei
Steph, Byz. v. 'Av9-dva).
3) Luc. Salt. 10 (Bergk Nr. 17); von Alkman?
4) quaest. symp. 3, 6, 4 (Bergk Nr. 4).
6) 9, 30, 12 (speciell von den Hymnen der Lykoruideu). Er redet an
derselben Stelle von den orphischen Hymnen, Jiber sie geboren einer jungen
Zeit an. Der angeblich älteste Gewährsmann Plato (leg. 8, 829 e) rodet
offenbar von dem mythischen Gesänge des Orpheus und Thumyris, jedoch
nicht von wirklichen Hymnen.
6) Bergk Jahrb. 81, 408.
7) Deiters die Verehrung der Musen bei den Griechen, Bonn 18ü8.
8) O. Müller Orchomenos S. 379 ff. Die Ortsnamen Pieriens sind
durchaue griechisch (Giseke thrakisch-pelasgische Stämme S. 26).
Lyrische Volksdichtung. 21
hieher, im besonderen in die Städtchen Leibethra und Pimpleia
die Heimat mehrerer frommer Sänger , die Thraker heissen. ^)
Was haben nicht alte und moderne Gelehrte aus diesen ge-
macht! Wie viele geistreiche Kombinationen sind vorzüglich
von 0. Müller aufgestellt und geglaubt worden^) und doch
halten sie alle vor der einzig berechtigten historischen Be-
trachtung nicht Stand. 3) Die hochgebildeten Südthraker zer-
fliessen in nichts, wie die thrakische Herkunft dieser pierischen
Sänger. Orpheus ist überhaupt kein Thraker, sondern ein
indogermanischer Sängerheros ^), das Ideal eines Sängers, wie
es der halb kindlichen Phantasie eines schlichten Volkes vor-
schwebt. Was. er singt, erfahren wir nicht, aber die Macht
seines Gesanges ist so gross, dass er selbst Bäume und Felsen
bezaubert. Somit gehört Orpheus gleich Horand in der Gudrun
und Wannemuine bei der Finnen der Mythologie und nicht
der Literaturgeschichte an. ^) Dem thrakischen Dionysosdienste
stand er noch bei Aschylus feindlich gegenüber, bis die jüngeren
Orphiker seine Mysterien mit den bakchischen Orgien ver-
schmolzen ^) ; damals wurde Orpheus zunächst zu einem Dio-
nysospriester und dann auch zu einem wirkhchen Thraker ''),
eine Umbildung der Sage, zu welcher die Auswanderung der
Pierier gewiss viel beitrug. ^) Von attischen Orphikern ging auch
die Thrakisierung des Eumolpos und Musaios aus. ^) Es kann
nicht zweifelhaft bleiben, dass die Griechen einst in Pierien
1) Viel Material gibt Giseke a. O. S. 26 £f. 117.
2) Prell er Griech. Mythologie I'' 399 erdichtete sogar eine Sängerzunft
dieses Namens; vielleicht verführte ihn die Erinnerung an das delphische
Geschlecht der Thrakiden.
3) Diesen Weg schlug AI. Riese Jahrbh. 115, 225 fi". ein. Schon Androtion
(Ael. V. h. 8, 6) hatte die Unwahrscheinlichkeit der Sagen erkannt.
4) Im Sanskrit ribhüs (Curtius Etym. 437 vergleicht unrichtig op-^v-rj) ;
daher ist der Kult in Pierien uralt und des Orpheus Bild ein hölzernes Idol
(Riese a. O. S. 229 A. 6).
5) Soll etwa die Geschichte der griechischen Musik mit Amphion be-
ginnen ? Herakleides legt diesem (Plut. mus. 3) i-i^v xt^-apüjSix-rjv uro'.Yjaiv bei.
Oder hätte ich auch die Sirenen nicht übergehen sollen?
6) Die erste Spur findet sich Herod. 2, 81.
7) Am frühesten Eurip. Ale. 966 ff., wo auch seine Schriften zuerst
erwähnt werden.
8) Herod. 7, 112. Thuc. 2, 99.
9) Zuerst Eurip. fr. 362, 48 Nauck und Rhesos 946.
22 1- Kapitel.
ßassen, ohne dass wir dadurch das Recht haben, von eigenthch
pierischen Sängern zu sprechen. Der Musenkult war am Fusse
des Olympos heimisch, weil man sich die Göttinen auf seinen
Höhen wohnend dachte und dort die von ihnen geliebten
schön gelegenen Bergquellen fand. Auch wenn der Olymp
zum Götterberge erhoben wurde, haben die Pierier kein Ver-
dienst daran; denn weil die arische Anschauung den Götter-
berg immer ungefähr gegen Sonnenaufgang sucht ^) , entstand
jene Ansicht in Nordthessalien oder Epirus.
Thamyris (bei den Attikern auch Thamyras genannt)^)
repräsentiert dagegen wie Marsyas und seine Landsleute die
feindliche Kultur der Barbaren. Wie Marsyas vor dem hel-
lenischen Apollo unterliegt, so lässt sich Thamyris in einen
Wettkampf mit den Musen ein, der für ihn unglücklich endet.
Mit griechischer Poesie hat er nichts zu thun , wenngleich die
Fremdenführer in Delphi Pausanias ^) erzählten, er sei dort bei
den Pythien aufgetreten ; an Orpheus' Freundeshand wandelt
jedoch der mythische Feind der Griechen in das versöhnende
Dunkel der Mysterien hinüber und erscheint nun als ehrwürdiger
Priestersänger. ^)
Bewegten wir uns also bisher, da nicht einmal von
pelasgischen Sängern irgendwo die Rede ist, durchweg auf
nationalem Boden, so finden wir in den Klageliedern ein
sicher fremdes Element. Es ist eine eigentümliche Erscheinung,
dass bei den Griechen die Klage so sehr zurücktrat ^) ; es liebt©
ja ihr heiteres Gemüt nicht, zu oft und allzu grell an die Ver-
gänglichkeit der Freude und der Schönheit erinnert zu werden.
An der Bahre eines eben Verstorbenen entsprang der Threnos
dem natürUchen Gefühle des Schmerzes; selbst die Musen
klagten, wie man meinte, wenn ein Göttersolxn in der Blüte
1) So war der Demawend für Iran und der Himalaya für die vedischen
Inder, als sie noch im Pendschablande sassen, heilig, vgl. Duncker Gesch.
des Alterthums V* 102.
2) Welcker die griechischen Tragödien 1, 419.
3) 10, 7, 2.
4) Lobon erlog eine Theologie in 3000 Versen (Suid. Bergk I 405. Hill er
Bhein. Mus. 33, 622). Tzetzes spricht von einer Kosmogonie in 6000 Hexa-
metern (chil. 7, 84 ff.)
6) Aach in Kom stammt die nenia dem Namen nach (phrygisch vYiviatov
PoUux 4, 79) aus Kleinasien, vgl. J. Wehr Göttinger Abschiedsschrift für
G. Curtius 1868 8. U ff.
4
Lyrische Volksdichtung. 23
seiner Jahre dahingerafft wurde. ^) Aber die gleichsam geregelte
wilde Klage überliess die Griechin gedungenen fremden Frauen,
meist Karerinen , die zu karischen Flöten ^) ihre ungestümen
Weherufe heulten; die Rhythmen glichen nach Maximos Pla-
nudes ^) den politischen Versen. Anders im Oriente! Mit den
sinnlichen Ausschweifungen paarte sich in den asiatischen Re-
ligionen eine wahre Wollust des Schmerzes. Das frische Grün
schwindet in heissen Ländern , wenn der Hundsstern aufgeht
und die Sonne die ärgste Glut entsendet, dahin; da dichteten
die Orientalen von einem schönen Jünglinge, den Hunde zer-
fleischten oder den sonst ein schwarzes Geschick vor der Zeit
in die Unterwelt sendete. Die Kyprier nannten ihn mit
semitischem Namen Adonis, den ,, Herrn"; daher erklang auf
Kypern besonders das Adonislied, das aus Syrien gekommen
war. ^) Es verbreitete sich rasch nach dem Westen, da es bereits
Sappho benützte. °) Neben Adonis stand auf der Insel der
Aphrodite wahrscheinlich Kinyras; der Name bezeichnet
wenigstens zugleich eine zehnsaitige Harfe. ^) In Bithynien be-
klagten ^die Mariandyner die von den Nymphen geraubten
Knaben B o r m o s ') und H y 1 a s ^) ; jener war, wie der phrygische
1) tu 190, vgl. II 457. 675. *' 9. 5 197. Ein Klagelied in poetischer
Prosa gibt Lucian de luctu 13; es erinnert an die berühmten voceri der
Korsikaner (vgl. auch Vl'^achsmuth das alte Griechenland S. 109 ff.)
2) Plato legg. 7, 800e, nach Athen. 4, 174 f., und Pollux 4, 76 zum
phönikischen Gingras.
3) Bachmanns Anecd. 2, 98. Der sogenannte antispastische Rhythmus
(Christ Metrik '•^70. 467j hiess Kapixöc? was O. Müller Literaturgesch. 1,
176, 5 hieher bezieht. Die Griechen sahen mit Verachtung auf diese ixsXvj
'{lyiftay'zä. (Axionikos bei Athen. 4, 175b).^
4) Movers Phönizier 1, 200 ff. Brugsch die Adonisklage und das
Linoslied, Berlin 1852. Der Refrain war wahrscheinlich : „Wehe um den
Herrn, wehe um seinen Glanz" (Jerem. 22, 18); bei den Syrern hiess Adonis
Tammüz. Flöten begleiteten das Lied, weshalb Y^VTP** zugleich den Adonis
und eine Flötenart bezeichnete (Demokleides bei Ath. 4, 174 f).
5) Eine Adonisklage besitzen wir noch von Biou (id. 1) und Theokrit
(15, 135 ff.). Vielleicht hatte der adonische Vers damit zu thun.
6) phönik. u. hebr. kinnor, vgl. Joseph, ant. 7, 12, 3. 8, 3, 8; Flach
Gesch. der griech. Lyrik 1, 100 f
7) Bcupfioc, Aesch. Pers. 937 T mit Schol. Hesych. s. v. Nymphis bei
Ath. 14, 619 f 620a. Pollux 4, 55; Nauck Piniol. 12, 646, Welcker,
kleine Schriften 1, 10 ff., O. Kämme 1 Heracleotica , Plauen 1869 S. 12 ff.
23 ff., W. Mannhardt die Korndämonen, Berlin 1868 S. 34 f.
8) Sprichwörtlich töv "VXav xpaDyäCst? (vgl. Suid. s. v. mit Bernhardys Note).
24 1- Kapitel.
Lityerses^), eigentlich ein Korndämon, den die Schnitter
während der Arbeit anriefen. Ein anderes Schnitterlied , das
wohl ebenfalls Kleinasien angehört, hiess lalemos.^) Bei den
stammverwandten Thrakern finden wir einen Gesang, der Ha r-
palylie^), die windschnelle Tochter des Boreas, beklagte. Die
grösste Verbreitmig fand aber das Linoslied. Movers*) er-
kannte mit genialem Blicke, dass Linos nur eine Personifikation
des oft wiederholten Klagerufes al'Xivoc sei und dieser dem
semitischen ai le - nu ,,wehe uns" entspreche. Die Griechen aber
fdssten wie immer den Gegenstand der Klage in eine konkrete
Form und betrauerten bei der Weinlese , vielleicht überhaupt
bei den Erntefesten den schönen jungen Linos. ^) Die Sagen
sind in Argos ^), Theben und Chalkis, drei Knotenpunkten des
orientalischen Importes, lokahsiert. Mit Theben hängt wohl
auch das interessante hesiodische Fragment (132) zusammen :
,,Alle beklagen beim Mahle und Reigentanze den Linos und
rufen ihn am Anfang wie am Ende." Die auswandernden
Böoter brachten das Linoslied auch nach Lesbos, wo Sappho
den Oitolinos besang. ^) Da die attischen Hymnen des Pamphos,
wo er gleichfalls vorkam, von sehr zweifelhafter Autorität sind,
scheint das Linoshed auf jene Gegenden beschränkt zu sein ;
dort mag auch die Beschreibung des homerischen Schildes, in
welcher Winzer die Linosklage anstimmen (V. 570), entstanden
sein. Dagegen verbreitete sich der Refrain viel weiter und
trat überhaupt zu KlageHedern. ^) Pollux (1, 38) nennt den Linos
1) Auch AotapoYii;, vgl. Apollod. bei Schol. Theoer. 10, 41 f. Atli. 10,
416b. 14, 619a (aus Semos}. Eustath. in II. p. 1164, 11. Ael. v. h. 1, 27.
Tzetz. Chi). 2, 592 ff. und die Lexikographen; eine.Probe bei Theoer. 10, 42 ff.
2) Apollod. 1. c. Arist. Byz. bei Ath. 14, 619 c. Asklep. bei Schol. Eur.
Rh&i. 892, ausserdem oft bei Dichtern; sprichwörtlich von einem kläglichen
Versemacher Zenob. 4, 39.
3) Aristox. bei Ath. 14, 619e.
4) Phönizier 1, 244 ff.
6) Vgl. ausser der Schrift von Brugsch Jul. Ambrosch de Lino, Berlin
1829, Welcker kleine Schriften 1, 8 ff., zuletzt J. Stamm er de Lino, Bonn
1866. Das erhaltene Linoslied (Bergk e. pop. 2) ist aus einem hexametrischen
Gedichte entlehnt.
6) Die frpTjvot "Ap-ftlo: erwähnt auch Aristides I p. 421.
7) Paus. 9, 29, 8.
8) Z. B. im ersten Stasimon des Agamemnon, vgl. Etyra. M. p. 35, 1.
Nach Herodota Behauptung (1, 79, vgl. Nymphis bei Athen. 14, 620a) war der
I
Lyrische Volksdichtung. 25
und Lityerses l^ereits Gesänge von Taglöhnern und Bauern.
Erst die alexandrinische Zeit verband Linos mit den Thrakern,
so dass er als Dichterphilosoph und Urtheolog erschien. ^) Auch
nach Arkadien gelangte jene orientalische Sitte, da die Tegeaten
bei der Ernte den Skephros^) beklagten.
Soweit geht der Einfluss, den der Orient auf die griechische
Literatur ausübte. ^) Während in der Kunst die Griechen alles
handwerksmässige von den Semiten lernen konnten , war die
Dichtung schon bei dem selbständigen Auftreten der Griechen
ohne Zweifel so entwickelt, dass sie fremder Hilfe nicht mehr
bedurfte, sondern vielmehr den Orient rasch überflügelte. Zu-
nächst geschah dies insoferne, als sie statt einseitiger Ausbildung
der Lyrik auf viel breiterer Basis erwuchs.
ägyptische Maneros (nach Brugsch mää-nehra ,, kehre wieder") von dem Linos-
liede nur dem Namen nach verschieden und hing gleichfalls mit dem Ackerbau
zusammen.
1) Dionysios bei Diod. 3, 67. Diog. L. pro. 3, 4 erwähnt eine erdichtete
Kosmogonie (Mull ach fragm. philos. 1, 155 ff.). Noch Dante (Inf. 4, 139)
nennt ihn unter berühmten Philosophen. Ueber Citate iu den Fragmenten
des Aristobulos Karinsky Journal ministcrva 1877 S. 1 ff.
2) Paus. 8, 53, 2 f. E. Curtius Peloponnes 1, 253. 271. Svi-fpo? ent-
spricht ?Yip6c, bezeichnet also die Dürre. Ueber andere phönikische Spuren
Oberhummer Phönizier in Akarnanien S. 17 ff.
3) Die frommen Kreise Englands denken freilich anders ; Milton fand
noch in den griechischen Dichtern das alte Testament „ill imitated" (Par.
reg. IV). In modernisierter Form lehnt Gladstone die Ilias an die ägyptische
„Ilias" des Pentaur an.
2. Kapitel.
Epische Dichtung vor Homer.
Sprichwort und Fabel (Äsop) — Märchen — epische Lieder — Entwicklung
vom Einzelliede zum Epos — Ausbildung der Sagen — Vorläufer Homers.
Kein Volk lebt blos in der Gegenwart und am wenigsten
begnügt sich die Dichtung mit dem eben geschehenden. Gegen-
wart und Vergangenheit, Lyrik und Epos reichen sich in den
Mischgattungen des Sprichwortes, der Tierfabel und des Märchens
die Hand. Das Sprichwort wendet die Erfahrung früherer
Jahre auf einen vorliegenden Fall an ; die Griechen drückten
dieses Verhältnis, das bei dem jetzt üblichen Präsens leider
verblasst ist, durch den sogenannten geomischen Aorist sehr
glücklich aus. Obgleich der reiche Schatz, den namentlich
späte Sprichwörtersammlungen bieten ^), in kundiger Hand den
schönsten Ertrag zu Hefern verspricht, ist er weder für die
Literaturgeschichte noch für die Erkenntnis des Volksgeistes
recht nutzbar gemacht ■^) ; ebenso notwendig ist eine Vergleichung
mit den neugriechischen Sprüchen. ^) Dem Epos steht die
Fab el^), durch deren Verkürzung viele Sprichwörter entstehen %
bereits um einen Schritt näher; denn hier wird (5ie Sentenz
vor Aller Augen aus einem Ereignisse, das in der Zeit ,,als
1) Corpus paroemiographorum Graecorum edld. E. v. Leutsch et F. G.
Schueidewin, Gott. 1839—51. 2 Bde.; Nachträge Wolff Philol. 27, 741 flf.
28, 360 flF. Finckh PhUol. 30, 427 fif. Graux Revue de philol. n. s.
3, 219 ff.
2) Vorarbeiten in Zell Ferienschriften 1, 91 ff.
8) Wachsmuth das alte Griechenland im neuen S. 46 ff.
4) XÖYOC, aivoc, }Jiü*oc (Keller Jahrbb. Snppl. 4, 310), bei den Römern
Apologus.
5) Wackernagel Poetik S. 118.
^
Epische Dichtung vor Homer. 27
die Tiere poch sprechen konnten" vorfiel, gezogen; diesen
Vorfall entrückt die beliebte Einleitung ,,Asop erzählte einmal" ^)
oder auch ,,Eine Kyprierin erzählte einmal" ^) der Gegenwart
noch mehr. Die Fabel erscheint nicht als indogermanisches
Erbteil, sondern gelangte vielmehr erst in fast historischer Zeit
aus Vorderasien nach Griechenland; denn dorthin weist die
Schilderung verschiedener Verhältnisse. ^) Wo aber die Fabel
zuerst entstand, ist eine nicht zu lösende Frage; Indien hat
jedenfalls gewichtige Ansprüche auf diesen Ruhmestitel. *) Die
Griechen selbst wiesen die Erfindung dem phrygischen^) Sklaven
Aisopos zu und es ist in der That nicht zu bezweifeln, dass
kleinasiatische Diener ihren griechischen Herrn die Fabeln ihrer
Heimat mitteilten. Eine andere Frage aber ist, wie wir über
die Persönlichkeit des Äsop denken sollen. Bereits Herodot
(2, 134) spielt auf die den Griechen geläufige Erzählung an,
welche folgendermassen lautet: Äsop kam im Auftrage des
Krösus^) nach Delphi, um dort zu opfern und Geld zu ver-
teilen; als er aber die Sittenlosigkeit der Delphier sah, unter-
liess er es, worüber jene so erbittert waren, dass sie ihn auf
eine falsche Anklage hin töteten. Nach dem Willen des Apollo
Hessen sie dann ausrufen, der Herr des Äsop solle ein Sühnegeld
holen , worauf sich ein Enkel des Samiers ladmon meldete. ^)
1) Fab. Aes. 60. 106 Halm.
2) Theou prog. 3 (p. 73 Sp.), vgl. v. Leutsch Philol. 33, 417.
3) O. Keller Globus 40, 157.
4) A. Wagener mem. des savants etrangers T. XXV (1852) (vgl. J.
Grimm Gott. Gel. Anz. 1863 S. 1361 ff.), entschieden dagegen A. Weber
indische Studien 3, 327 ff., vermittelnd Benfey in der berühmten Einleitung
zur Ausgabe des Pantschatantra und K e 1 1 e r Jahrbb. Suppl. 4, 332 ff.; über
andere Theorien ders. S. 320 ff.
5) Einen Thraker nennt ihn Heracl. Pont. pol. 10 ; vgl. Eugeiton bei
Suid. s. V.
6) Er gilt daher als Zeitgenosse der sieben Weisen (Ol. 52 Hermippos bei
Diog. L. 1, 7, Ol. 59 Heraclid. pol. 10, Ol. 40 Suid.) vgl. Da üb Jahrbb.
123, 244 f.
7) Aristoph. Vesp. 1446 ff. m. Schol. Heracl. pol. 22. Plut. de sera num-
viud. 12. Ael. v. h. 11, 5. Zenob. 1, 47 u. A. Orientalen und Byzantiner
schmückten die Geschichte noch mehr aus. Der griechische Roman (Eber-
hard fabulae Eomauenses Graece conscriptae I. Lpg. 1872 S. 226 ff.), der
lange vor dem angeblichen Verfasser Maximos Planudes entstand, wurde oft
übersetzt und bereicherte selbst die Volksliteratur (z. B. Finamore tradiz.
pop. abbruzzesi I Nr. 33 le fatte de Jisopre). Die arabischen Sagen von
Lokman hängen ebenfalls davon ab.
28 2. Kapitel.
Welcker^), der zuerst den sagenhaften Gehalt der ^Erzählung
erkannte, nahm an, dass Äsop eine blosse Fiction sei und nichts
anderes als den Äthiopen, also den Orientalen ^) bezeichne. Die
Unfreiheit drücke den versteckten Charakter der Tierfabel aus,
die Hereinziehung des ladmon habe blos die Eitelkeit des
Enkels verschuldet. 0. Keller kehrte dagegen in seinen sorg-
fältigen ,, Untersuchungen zur Geschichte der griechischen Fabel" ^)
auf den konservativen Standpunkt zurück. Wenn ihm auch
zuzugeben ist, dass Welcker den Namen willkürlich deutete,
80 ist es doch höchst wahrscheinlich , dass die Kleinasiaten
einem ihrer reichen mächtigen Herrscher, deren letzter und be-
rühmtester Krösus war, einen drolligen Sklaven als Hofnarren
an die Seite stellten. Die Griechen, zu welchen diese Ge-
schichte mit den Fabeln gelangte , dachten sich letztere bei
einer von Krösus gesendeten Festgesandtschaft nach Griechen-
land gebracht und der Delphi feindliche Volkswitz that das
übrige. Was ladmon anlangt , werden wir uns bei Welckers
Annahme beruhigen müssen; Herodots Bericht zeigt deuthch,
dass das Volk, offenbar hier der beste Gewährsmann, Asop mit
Sa mos nicht verband. Alle Bedenken sind freilich nicht zu
heben, aber das ganze Problem bedeutet wenig, weil die Tier-
fabel den Griechen lange vor Äsop bekannt war. Wir finden ja
noch jetzt eine Fabel bei Hesiod, der sie in den Erga (V. 202 if.)
den ungerechten Richtern vorhält; zum persönlichen Angriffe
beutete diese Gattung dann Archilochos "*) weidlich aus. Auch
der spiessbürgerliche Frauenspiegel des Simonides wäre ohne
sie nicht denkbar. Die Alten lasen sogar schon in einem dem
Homer zugeschriebenen Gedichte eine Fabel. ^) Stesichoros endhch
warnte in einem Gedichte sehie Mitbürger vor Phalaris, indem
er ihnen eine Fabel erzählte.^) Auch in verlorenen Lehrgedichten
scheinen ahoi nicht gefehlt zu haben; so dürfen wir wohl die
1) Kleine Schriften 2, 228 flf.
2) Ebenso Wilisch Jahrbb. 123, 168 f. Preller ausgewählte Aufsätze
S. 440 bringt daher den Negerkopf auf delphischen Münzen mit Äsop in
Verbindung.
Z, Jahrbb. .Suppl. 4 (1862) S. 309 flf., speziell S. 374 flf. ; dazu Dressel
«ur Geschichte der Fabel, Berlin 1876 S. 24 flf.
4) Fr. 86. 89. 118.
6) Theon progymn. p. 73, 15 Sp.
6) Arist. rhet. 2, 20, vgl. Ael. h. a. 17, 37.
^
Epische Dichtung vor Homer. 29
hexametrischen Fragmente ^) deuten. Im übrigen war die
äsopische Fabel vor Sokrates, der zuerst einige in Verse brachte,
durchaus volkstümlich ^) ; besonders die Athener ^) liebten es^
sie ihren Kindern zu erzählen und das Publikum verstand jede
Anspielung. Hier entstand auch die erste Sammlung, über die
wir zugleich mit den wahrscheinlich im attischen Zeitalter ent-
standenen Spielarten später sprechen werden.
Neben den Fabeln hörten auch die Kleinen gerne Märchen,,
die gerade wie bei uns oft mit den Worten ,,Es war einmal"
begannen ; die Ammen erzählten sie ihnen, bald um sie zu er-
freuen, bald um sie schrecken.^) Lamia war damals der griechische
Kinderschreck, wie sie es heute noch ist. ^) Die einzige über-
lieferte Geschichte^) dürfte leider wie das Märchen von Amor
und Psyche nichts anderes als eine von dem Sophisten Dion
erfundene Parabel sein.
Neben dem Märchen stellt sich unmittelbar die epische
Erzähl-ung, die dem historischen Ereignisse näher stehf)
Sobald ein Volk eine Geschichte besitzt, besingt es das, was
ihm besonders denkwürdig erscheint , berühmte Helden (xXsa
avof/wv) grosses Unglück oder schwere Frevel, in kurzen Liedern.*)
Bald findet man an ihrer Einfachheit nicht mehr Genüge und
begehrt grössere Kunstfertigkeit der Erzählung und des Vor-
trags. Da aber solche Gaben nur wenigen verliehen sind, bildet
1) Bergk griech. Literatur in der Allg. Encykl. S. 316 A. 97.
2) Stellen des Aphthoni,)s, Plutarch und Suidas beweisen nicht, das»
Äsops Fabeln früher niedergeschrieben wurden.
3) Plato rep. 2, 377 a; Hesych. Kptoö 5iav.ovia.
4) Julian, or. 7 p. 294, 12 H. u. A., s. Grasberger Erziehung und
Unterricht I 227.
5) Wachsmuth das alte Griechenland im neuen S. 55 flf.
6) Dio Chrys. or. 1, 49 ff. ; er will dieses Heraklesmärchen am Alpheios
gehört haben.
7) lieber die Entstehung eines Epos vgl. Wackerna gel Schweiz.
Museum I 341 ff. II 76 ff. 243 ff., wieder abgedruckt in seiner Poetik, Rhetorik
und Stilistik S. 42 ff.; Haupt Verh. der sächs. Gesellschaft der Wiss. 1848
II 100 ff. Niese Entwicklung der hom. Poesie S. 233 ff. leugnet alle Vor-
stufen der homerischen Poesie ! Vgl. dagegen die trefflichen Bemerkungen
von Kammer Jahrbb. 123, 497 ff. Auch für G. Hermann gab es einst vor Homer
blos didaktische Poesie. Natürlich gehen epische und lyrische Volkspoesie-
neben einander her.
8) Die historischeu Lieder der Neugriecheu zählen in der Regel weuigcr
als hundert Verse.
/
30 2. Kapitel.
sich mit der Zeit ein besonderer Stand von Sängern. Diesen
Zustand schildern uns die homerischen Dichter als achäisch;
an jedem Königshofe befindet sich ein Sänger ohne Nebenbuhler,
der nach der Mahlzeit und bei festlichen Gelegenheiten ein
episches Lied vorträgt, wie es ihm gerade die Muse eingibt.
Er hat in der Regel von einem älteren die Kunst erlernt, weil
Phemios (x 345 ff.) mit Stolz von sich selbst rühmt, er sei
Autodidakt. Das Hauptgewicht ruht noch nicht auf dem
schönen und reichen Ausdrucke, geschweige denn auf der ge-
schickten Anordnung des Stoffes , sondern ausschhessHch auf
der genauen und vollständigen Aufzählung der Ereignisse.
Dies ist es, was Odysseus an Phemios lobt^); darum heisst die
Mutter der Musen ,, Erinnerung" (Mnemosyne) und die Musen
selbst bei den Anwohnern des Helikon Mvfj(nrj (Gedächtnis),
MsXetY] (sorgsames Studium) und 'AotSi] (Gesang). Der Dichter
dagegen trägt noch nicht den Namen , .Schaffer" (TroiYjtigc), son-
dern den allgemeineren eines Sängers (aoiSöc). Trotzdem erleidet
•das epische Lied im Munde eines kunstgeübten Sängers eine
bedeutende innere und äussere Umgestaltung. Zunächst wird
es umfangreicher^) und genauer, woraus wieder zahlreiche Re-
formen entspringen. Für das Volkslied in seiner Schlichtheit
und Knappheit eignet sich nur ein schlichtes rasch vorwärts
strebendes Metrum ; auf die Analogie der indischen, italischen
und germanischen Dichtung gestützt^) dürfen wir uns die
epischen Volkslieder in einem Doppelverse von vorherrschend
jambischen oder auch trochäischem Gange gedichtet vorstellen.
Während auch bei den ältesten epischen Gesängen, wie
wir zum Unterschiede von jenen sagen wollen, dieser Zustand
sich schwerlich geändert haben wird, bringt es doch eine längere
schulmässige Gesangesübung immer mit sich, dass die Technik
nicht blos an Sicherheit und Methode zunimmt, sondern auch
verfeinerter und künstUcher wird. So gingen die griechischen
Sänger — durch welche Mittelstufe, ist unbekannt*) — von
1) » 489 fr.
2) Die parallel stehenden Dichtungen der Slawen steigen oft bis za
tansend Versen.
3) Westphal allg. griech. Metrik S. 254 flf.; K. Bartsch der saturnische
Vers und die altdeutsche Langzeile. Leipzig 186T.
4) Bergk über das älteste Versmass der Griechen, Freiburg 1854 und
Literaturgesch. I S. 283 ff. nimmt als Urform zwei paroemiaci, deren Anfang
I
Epische Dichtung vor Homer. 31
der Langzeile zum Hexameter über, zugleich erfolgte ein voll-
ständiger Bruch mit der früheren Dichtungsvveise. Der Hexa-
meter eignet sich von vornherein nur für längere Gesänge mit
breiter Behandlung der Details; denn in ihm paaren sich die
für die Erzählung notwendige Raschheit und die zu Episoden
und Schilderungen dienende Retardierung auf die glücklichste
Weise. Wer möchte das nicht fühlen, wenn er sich auf der
anderen Seite irgend eine Ballade in Hexametern abgefasst
denkt? Während nun ferner für die Volkslieder strophischer
Bau nicht unwahrscheinlich ist, fügt sich der beinahe unauf-
haltsam dahingleitende Hexameter einer solchen Schranke nicht.
Nur wo er eigentlich nicht an seiner Stelle ist, also wo er
schildert oder aufzählt oder ein in lyrischen Metren gedichtetes
Lied ^) umschreibt, tritt, schon um dem Gedächtnis als Stütze zu
dienen, eine gewisse strophische Gliederung ein. ^) Das breitere
Metrum "passt zur breiteren Anlage, die schon vieles für die
poetische Vervollkommnung gewährt. Die Reden der auf-
tretenden Personen -können einen etwas grösseren Raum ein-
nehmen, während dem Volksliede abgerissene kurze Wechsel-
reden, selbst ohne die Ankündigung ,,der oder der sprach,
antwortete" eigen sind; die einzelnen Helden treten, indem ihr
Bild in schärferen und helleren Umrissen erscheint, deutlicher
aus der Masse hervor.
Wir haben aber vorläufig noch Einzellieder, die irgend
ein wichtiges Ereigniss aus einem Sagenkreise herausgreifen.
Der Leser der Odyssee erfährt, dass z. B. ein Sänger den Sturm,
den die zürnende Athene über die heimkehrenden Achäer ver-
hängte (a 326 f.) oder den Streit des Achilleus und Odysseus
abgefallen sei, au, E. v. Leutsc h Philol. 12, 12 ff. einen daktylischen
Tetrameter und Dimeter; Fr. Allen Ztsch. f. vergl. Sprachf. 24, 556 ff.,
vergleicht ohne Glück indische Maasse. Rösch Korrespondenz blatt f. Gel.-
und Realschulen Würtembergs 1881 S. 208 f. kehrt wieder zur Ansicht zurück,
dass die Cäsur auf einen Doppelvers von je drei Hebungen deute. Ueber die
Fabeln der Alten vgl. Santens Kommentar zu Terentianus Maurus. In den
Apollokult kam der Hexameter erst durch das Epos, nicht umgekehrt; dies
beweist der Dialekt der Orakel und der ganze Charakter des Verses.
1) ii 723 ff., vgl. zuletzt Max Seibel, die Klage um Hektor im letzten
Buche der Ilias, München 1881.
2) Beloc h Rivista di filol. 1875 S. 305—27 will bei Homer auch sonst
Strophen von je zwei oder vier Verse durchführen.
32 2. Kapitel.
(0-74 fF.) oder auch als grösseres Thema die List mit dem
hölzernen Pferde und die daran sich knüpfende Zerstörung
Trojas {d- 499 ff.) zum Gegenstande seines Liedes wählte. Auf
dieses Herausgreifen aus der Sagenmasse bezieht sich der Aus-
druck £v{^ev eXcöv (d- 500).
Durch die eifrige Thätigkeit mehrerer Jahrhunderte ent-
stehen so ganze Reihen oder Cyklen von Liedern, die eine
ziemlich zusammenhängende Kette von Ereignissen darstellen.
Auf dieser Stufe sind die meisten Völker stehen geblieben, ich
nenne nur der massenhaften Produktion wegen die Liedercyklen
der Slawen, der .Finnen^) und der türkisch-tatarischen Stämme.^)
In organischer Entwicklung kann aus solchen Liederreihen nur
ein agglutinierendes Epos^) entstehen, d. h. jene können durch
einen von aussen hineingetragenen Grundgedanken oder die
Personeneinheit zusammengehalten und Unebenheiten ausge-
glichen werden, so dass, wiewohl von eigentlich poetischer Kom-
position keine Rede ist, der blosse Verstand gegen eine solche
chronikartige Erzählungsweise nichts einzuwenden hat. Auf
solche Weise entstanden in Spanien das Poema del Cid und
die Cronica rimada del Cid aus einem älteren Liederbuche, dem
Romancero del Cid. Aehnliches gilt von dem Nibelungenliede
und den Epen des griechischen, keltischen und französischen
Mittelalters, wenn anders wir hier wirklich von Epen sprechen
wollen.
Denn ein wahres Epos mit einheitlicher Handlung entsteht
erst dann, wenn der Dichter es verschmäht, hier einen Helden
von seiner Geburt oder gar von der Hochzeit seiner Eltern an
zu begleiten , dort einen Krieg mit allen seinen Gründen und
Ursachen der Reihe nach zu erzählen Er rauss mit dem
Blicke des Genius den richtigen Moment, in dem sein Held
zur höchsten Bedeutung emporsteigt, erschauen, er muss im
Kriege den entscheidenden Wendepunkt, nach dem der endliche
Ausgang nur mehr eine Frage der Zeit ist, erkennen. Ein
solches Epos entsteht ebenso wenig auf organischem oder
1) Unter dem Namen Kalewala von Lönnrot zusammengefa.sst.
2) W. Radioff die Sprachen der türk. Stämme Südsibiriens und der
dsungarischen Steppe I. Petersb. 1866-73, 4 Thle.; Berge die Dichtungen
transkaukasischer Sän;jer 1868.
3) Der Auadruck rührt von Steiuthal her.
Epische Dichtung vor Homer. 33
mechanischem Wege aus Liederreihen als die Götterideale aus
den Typen, sondern erst das Wunder des Genies stellt einen
scheinbaren Zusammenhang her. Diesen Schritt machte, wenn
wir recht sehen , zuerst der Dichter der Rias , dem wohl der
Name Homer zukommt, indem er durchschaute, dass der Ruhm
Achills positiv in der Erlegung des trojanischen Vorkämpfers,
negativ in der furchtbaren Niederlage der Achäer, als er sie
verlassen hat, gipfelt; gleichzeitig konnte es Homer nicht ent-
gehen, dass mit Hektors Tod, auch wenn Achill später selbst
fiel, der trojanische Krieg eine entscheidende Wendung nahm.
Mögen diesem Epos auch im Einzelnen Mängel ankleben, z. B.
Verletzung der Wahrscheinlichkeit, um die Komposition zu
fördern, sie erscheinen als unvermeidlich , sobald man sich die
Kühnheit des Schrittes vergegenwärtigt. Ein ebenbürtiger
jüngerer Dichter fühlte hier das Geheimnis der epischen Kom-
position erschlossen. Nachdem er aus den Sagen von der Heim-
kehr der achäischen Helden die Odysseusmythen ausgewählt,
begann er nicht mit der Abfahrt von Troja; er hebt vielmehr
mit dem Augenblicke an, wo ihm die Heimkehr durch den
offenkundigen Willen des Zeus unabänderlich sicher steht,
schreitet aber zu vielleicht höherer Kunst als Homer vor, weil
er es verschmähte, die früheren Erlebnisse seines Helden blos
andeutungsweise oder episodisch zu behandeln. Der Sänger
wählte lieber die Mittel der Selbsterzählung, wobei er vielleicht
auf der Gewohnheit seines Vorgängers fusste, irgend eine Moral
an einem früheren Vorgange exempHficieren zu lassen; vielleicht
regte ihn auch die alte Sitte des Orientes an, nach welcher in
den Inschriften die Könige ihre Regierungsthaten selbst er-
zählten. ^)
Indem so ein kleines Kapitel der Sagenwelt ausgesucht
wurde, konnte der Epiker es nach allen Richtungen hin durch-
arbeiten: die Charaktere vertiefen, dem Detail grössere Auf-
merksamkeit zuwenden , die eigene Phantasie gegenüber der
Ueberlieferung walten lassen und so auch zu einer selbständigen
Stellung als wirklicher ,, Schaffer" gelangen. ^)
1) Das mittelirische Epos, welches die Finn (Fingal) • Sagen zusaramen-
fasst, gebraucht denselben Kunstgritf, vgl. Windisch irische Texte S. 150.
2) Nicht wenige glauben freilich, Homer klebe ängstlich au den Nach-
richten der alten Lieder; wie viel Freiheit das Epos der Phantasie gewährte,
iittl, Geschichte der griechischen Literatui'. 3
34 -■ Kapitel.
Den Späteren ging in dem Eifer, Homer äusserlich zu er-
gänzen und seine glanzvolle Technik nachzubilden, jenes Ge-
heimnis der Komposition verloren. Die hochgerühmte Thebais
scheint jedoch, wenn wir aus dem Proömium ^Singe, o Muse,
das durstende Argos, aus dem die Fürsten auszogen" so viel
schliessen dürfen, die Schicksale des Ödipus erst später nach-
geholt zu haben ; auch Arktiuos' Epen dürfen nicht mit den
übrigen Liedercyklen zusammengeworfen werden. Aristoteles
entdeckte mit scharfsinnigem Blicke den fundamentalen Unter-
schied zwischen homerischem und kyklischem Epos wieder und
Horaz sagte es ihm nach ; aber obgleich seine Worte 'in medias
res' und 'ab ovo' zu geflügelten wurden, scheint der Gedanken-
inhalt derselben nicht in gleicher Weise Gemeingut zu sein.
Während die vergleichende Betrachtung anderer Literaturen
eine (wenn auch hypothetisclie) Rekonstruktion der inneren Ent-
wicklung eines Epos ermöglicht, fehlen uns zu einem ähnlichen
Versuche, was die formale Ausbildung anlangt, alle Anhalts-
punkte. Ich beschränke mich daher auf die oben gegebenen
Andeutungen und eine Charakteristik der homerischen Epen,
die unten ihren geeigneten Platz finden wird.
Dagegen ist es unumgänglich notwendig, da bei den Griechen
mehr als sonst irgendwo der Stoff auf die Form einwirkte, den
Ausbau der epischen Sagen, so gut es eben geht, anzudeuten. ^)j
Womit beschäftigen sich also die epischen Lieder der Griechen ?j
Einen bedeutenden Anteil haben wirkliche historische Vorgänge;]
de; in im Liede leben herrliche Heldenthaten, schwere Unglücks-
schläge, grausige Frevel, überhaupt alles, wodurch ein Mensch
die Schranken der gewöhnlichen Verhältnisse durchbriciit, fort ^),
so dass äot5i[i.o? geradezu berühmt und berüchtigt (Z 358) heisst.
In poetischer Verklärung erfüllt die achäische Periode mit ihren
kyklopischen Burgen und wunderbai-en Schatzhäusern, mit ihren
Ruhmesthaten und Greueln den Sinn des epischen Sängers ;
möge die fast gäuzlich wenn auch meist im Anschlüsse an die älteren Epen
erdichtete Äthiopi.s des Arktiuos lehren.
1) Vgl. auch Mülleu hoff deutsche Altertumskunde I S. 8 ff., der eine
wesentlich verschiedene Ansicht vertritt. AUe Mühe wäre umsonst, wenn
Niese die Entwickelung der hom. Poesie, Berlin 1882 Eecht hätte; er be-
trachtet die troische Sage als reine Erfindung der homerischen Dichter, was
dem antiken Geiste ganz zuwider läuft.
2; Vgl. Hom. Y 204. * 580. w 197 ff.
Epische Dichtung vor Homer. 35
■was früher war, ist längst vergessen und verschollen ; die Um-
wälzungen der späteren Zeit aber liegen den Dichtern noch zu
nahe, als dass sie schon der romantische Schimmer der Sage
hätte umwehen können. Darum hören wir immer von den
alten Herrschersitzen, als ob sie fort und fort ständen. Die
Erinnerungen an die achäische Periode sind also der historische
Unterbau, auf dem sich das Epos erhebt. Es unterliegt aber
keinem Zweifel, dass die Griechen aus Asien bereits anders-
geartete Sagen , die weit mehr zu poetischer Gestaltung ein-
luden, in ihre späteren Wohnsitze brachten. Alle indogermanischen
Stämme besitzen als Gemeingut gewisse mythologische Ideen,
deren Niederschlag zur pseudohistorischen Sage wurde und mit
der eigentlichen Geschichte verschmolz. Der Kampf des Lichtes
und der Finsternis, der winterlichen Kälte mit dem Grün des
Frühlings, der dunklen Wolken mit Sonne und Mond erscheint
ihnen als Kampf eines Heldengottes mit einem Drachen oder
anderen Ungetüm. Bei den Indern besiegt Indra, bei den
Deutschen Siegfried die Schlange. In Griechenland dagegen
verzweigt sich die Sage : Bei den Doriern übernimmt Apollo
oder Herakles das Amt, an den Küsten des Peloponnes treffen
wir Perseus und Bellerophon, die über das Meer nach Klein-
asien weisen, und Athen nennt im Hinblick auf Kreta den
Theseus. Am Pehon, wo ostgriechische Seefahrer sitzen ^), geht
das Andenken an den Drachenmord verloren, während der
Name des Drachentöters bleibt; denn Achilleus heisst offenbar
nichts anderes. ^) Ausserdem bewahrt die Pelionsage auch die.
Erinnerung an den überseeischen Zug, der bei jenen drei
anderen Helden der Küstenstämme gleichfalls auftritt. Nimmt
man dazu, dass Helena sicher, wie schon der Name ausdrückt,
eine Lichtgottheit ist ; so liegt die Folgerung nahe , Helenas
Entführung und ihre Wiedererkämpfung, deren Verdienst nach
allen Berichten in erster Linie Achill zusteht, sei nichts anderes
als ein Reflex der alten indogermanischen Sage, welche unter
mannigfachen Gestalten erzählt, wie das Licht (gewöhnhch in
Rindern personificiert) durch den Unhold der Finsternis ent-
führt und vom Sonnenhelden nach hartem Kampfe befreit
1) E. Curtius die Jonier S. 24 f.
2) Es sind jedoch nicht blos Wassermythologeu, die 'Ay.X/.ey^ lieber mit
'AysXwo? und 'A/spwv (deutsch Ache) zusammenstellen.
3*
30 2. Kapitel.
wird. ^) Ohne historische Stütze würde dieser Mythus zum
blossen Märchen herabsinken ; er findet jedoch in allen Ländern
von bedeutender Vergangenheit an dieser einen starken Rück-
halt. In Deutschland verbindet sich die Siegfriedsage mit den
liistorischen Schauerthaten des fünften und sechsten Jahr-
hunderts; die Griechen dachten dagegen, wenn sie hörten, dass
der Götterheld dem Räuber über das Meer nacheilte, am ersten
an die grossartigen Auswandererschaaren, die das ägäischeMeer
durchzogen, um sich an der asiatischen Küste eine neue Heimat
zu suchen. Dort aber lokalisierte man den Wohnsitz des Räubers
in Ilion , teils weil dieser Name am meisten an die ,, Höhle"
des Mythus, wo der Raub versteckt wurde, erinnerte, teils weil
dieser alte Herrschersitz wirkHch von den Flammen vernichtet
worden war. ^) Indem nun ein scheinbar historischer Rachezug
sich ergab, wurde Helena aus einer Lichtgöttin zur Königin
von Sparta, deren Zurückholung vor allem dem berühmten
Geschlechte der Atriden oblag. Mythus und Geschichte ver-
einigten die Griechen so , dass Achilleus' Teilnahme entweder
durch einen Rachebund oder durch die Suzeränität von Mykenä
erklärt wurde. Der Ehrgeiz der Adelsgeschlechter ruhte nun
nicht, bis die zurückholenden Helden fast aus ganz Griechen-
land zusammengekommen zu sein schienen. Bei einem Vereine
achäischer Helden gebührte aber der materiellen Macht nach
die Führung unbestritten Agamemnon , dem Fürsten von My-
kenä. So entwickelt sich, wie bei Herakles und Eurystheus,
ein tragischer Zusammenstoss des idealen Mythus und der
nüchternen Wirklichkeit. Jener rächt sich an dieser, indem die
Sage sehr viele Heldenthaten des Achilleus, jedoch von Aga-
memnon keine einzige zu berichten weiss. ^)
Wo hat sich aber nun die endgiltige Mischung von Ge-
schichte und mythischem Niederschlage vollzogen? In der Regel
entscheidet man sich dahin, dass die Jonier von den Äoliern
bereits den Hauptteil des troischen Sagenkreises ausgebildet
1) Oskar Meyer qnaestiones Homericae, Boon 1867. Forchhammer sieht
bekanntlich im troischen Kriege den Kampf der Gewässer mit dem troischen
Lande.
2) Darch Hchliemanns Verdienst ist allbekannt, dass die zweite (nicht wie
er früher meinte die dritte) seiner Städte durch Feuer unterging.
3) Der Pelide stirlit wie Siegfried und Ko.stem durch Meuchelmord.
Epische Dichtung vor Homer. 37
Überkämen und nur einiges, namentlich die Neieidensagen auf
eigene Hand hinzufügten. Smyrna, der an der Grenze gelegene
Zankapfel beider Stämme, soll dabei die Rolle des Tausch-
marktes gespielt haben. Wenn auch in Schottland, das sicher
den grössten Teil seiner Heldensage von Irland empfing , ein
Beispiel vorliegt ^), ist es doch rätlich, vor einer so bedenklichen
Annahme die Verhältnisse genauer zu untersuchen. Jene Be-
hauptung entspringt besonders aus der Hypothese, dass der
troische Krieg gleichsam eine prähistorische Fatamorgana der
äolischen Wanderung sei^), eine Hypothese, der jeder Halt
fehlt. Die Aolier haben vielmehr mit dem trojanischen Kriege
weit weniger als die Jonier zu thun ; denn die Achäer gehören
nicht zu den äolischen Stämmen % da schon in den hesiodischen
Eöen, die doch in Mittelgriechenland entsprang, der Stammvater
Achaios nicht mit Aiolos zusammensteht, sondern als Bruder
des Ion gilt. Ferner berichten die Alten nirgends, dass Achäer
an der äolischen Kolonisation teilnahmen, womit man die seit
Hellanikos populär gewordene Behauptung, ein Atride habe den
Zug geführt, nicht verwechseln möge; denn wie wir aus den
Sagen von der dorischen Wanderung erkennen, kann der Führer
einem anderen Stamme als seine Schaaren angehören.*) Wahr-
scheinlich ist jedoch jene Erzählung von einem Atriden^) nicht
weniger als die von den Herakliden ein politisches Märchen,
und selbst wenn sie wahr wäre , würde sie nur darauf führen,
dass die Fürsten des asiatischen Äolis ein persönliches Interesse
an Liedern, welche die Thaten der Atriden feierten, hatten.
Duncker*^) will mit Hilfe der rätselhaften Magneten am Sipylos
auch Achilleus hereinbringen, indes, wie mir wenigstens scheint.
1) W indisch irische Texte S. 153 ö.
2) Besonders E. Curtius, griech. Gesch. I'' 118 f.; man nimmt auch
■wohl an, die homerischen Epen hätten den Mut der kämpfenden Äoler be-
geistert. Aber die Phormiux erklingt nur im Frieden, wenn kein Feind zu
fürchten ist; Achilleus' Unthätigkeit wird dadurch am deutlichsten, dass er
spielt und singt. Des Sängers Platz ist vielmehr im Königshause, wenn dem
Frieden keine Gefahr droht.
3) Strabo 8, 513, tler allein die Achäer zu den Äoliern rechnet, ist be-
kanntlich hierin ohne Autorität.
4) Vgl. Paus. 7, 2, 2.
5) Schon über seinen Namen schwanken viele.
ß) Gesch. des Alterthums V^ 166.
38 2. Kapitel.
oline Glück. Der Kern der Bevölkerung stammt vielmehr aus
BOotien^), deshalb hat er mit den trojanischen Sagen nichts
zu thun.
Wie zahlreiche und feste Bande knüpfen dagegen die
Jonier an den troischen Sagenkreis! Die zuvor in Masse den
Norden und Osten des Peloponnes besiedelt hatten, wussten
von ihren einstigen Zwingherrn , von der Macht und deiiL
Reichtume der Atriden^) und von der Heldenhaftigkeit des
Diomedes zu erzählen. Die Minyer ^), einst am Pelion sesshaft^
und die Molosser*), die Achill, dem Ahnen ihrer Könige, gött-
liche Ehren erwiesen, berichteten von der Jugendkraft und dem
frühen Tode ihres Heros. ^) Des alten Nestor wortreiche Weis-
heit und die liebenswürdige Gestalt seines Sohnes fanden durch
ihre Nachkommen , welche die Gewinnung mehrerer jonischen
Städte leiteten^), den gebührenden Ruhm. Die Seeleute von
Salamis, dem alten laonien, werden den Ruhm der Äakiden
nicht untergehen haben lassen. Endlich fehlten auf den Flotten,
die gegen Osten schwammen, gewiss auch die Schiffer des-
jonischen Meeres und die raublustigen Söhne Kretas nicht.
Alle diese lokalen Sagen gruppierten sich um den Mythos von
Helenas Raub. Kleinasiatische Mythen traten in geringer Menge
hinzu, weshalb von den Troern nur der Herrscher selbst und
der ursprüngliche Hauptheld Ihons ^), der ,, Kämpfer" genannt,
der den einheimischen Bogen führt, asiatische Namen tragen.^)
Die Jonier haben sie aus anderen Quellen als die Aoler erhalten.
1) Orion im Et. M. 37, 23 ; über politische Verbindung iu .späterer Zeit
Thac. 3, 2, 2. 7, 57, 5. 8, 5, 2. 100, 3; Hektors Gebeine sollten in Theben
ruhen (Paus. 9, 18, 6). Die Chronographen setzen den Einfall der Böoter
und die äolische Wanderung gleichzeitig (sechzig Jahre nach Trqjas Fall),
dagegen der Zug der Dorer erst zwanzig Jahre später.
2) In Klazomenä genoss Agamemnon Heroenehren (Paus. 7, 5, 11)
ephesische Sagen knüpfen sich an ihn (Guhl Ephesiaca 130 f.).
3) Herod. 1, 146.
4) Herod. 1, 146.
6) Nach Parthenios c. 5. 6 bewohnten Magneten von Pherä auf ihren
Wanderzügen eine Zeit lang Ephesos.
6) Mimn. fr. 9. 10; vgl. Herod. 1, 147. Strb. 14, 633. Pau.s. 7, 2.
7) Die alte Bedeutung des Paris schimmert noch in der Tötung des
Achilleu.s durch.
8) Die gelehrte Genealogie in Y der Ilias ist später zugedichtet; Äneas
tritt wenigstens in den älteren Partien der Ilias nicht so stark hervor, das»
Epische Diclitnng vor Homer. 39
weil sie den Herrscher statt Perramos Priamos ^) nennen. Auch
Hektor scheint nicht von den griechischen Sängern rein er-
funden, da nach Hesychios sein . eranischer Name Dareios „der
Besitzer" war; aber andererseits war seine Geschichte bei den
Epiroten und den ihnen verwandten Messapiern lokaUsiert^), so
dass man fast vermuten möchte, Hektor sei als Gegner des
Achilleus von Nordgriechenland nach Asien gewandert. Auf
jeden Fall bedurfte es zu diesen wenigen Zügen nicht der un-
mittelbaren Nachbarschaft Jlions; der Anblick der hohen Gräber
und des Burgberges mit seinen Ruinen erregte die Phantasie
des jonischen Küstenfahrers ^) und erweckte die Erinnerung an
die alten Kämpfe. Was bedurften da die Jonier ihrer nördlichen
Nachbarn ? Wie hätte der Reiche von dem Armen borgen
sollen? Die Jonier hätten schwerlich fremde Sagen so eifrig
gepflegt und ihre eigenen Herren über denen eines anderen
Stammes vernachlässigt.
Da die Sage zwischen dem troischen Zuge und der Anlage
der hellenischen Kolonien ursprünglich nur wenige Berührungen
zuliess, mussten nach Erreichung ihres Zieles die überlebenden
Helden wieder in ihre Heimat kehren; weit entfernt, sich an
der schlichten Heimkehr genügen zu lassen, benützten die
Griechen oder, wie ich lieber sofort sagen will, die Jonier jene
als historischen Hintergrund für die Schiffererzählungen, die in
ihren Städten aus allen Weltgegenden zusammengeflossen waren.
Die meisten Wunder barg für die älteste Zeit das Mittelmeer,
in das zuerst jonische Schiffer von Phokäa .eindrangen. Wen
hätten sie lieber als ihren Patron haben können als Odysseus,
den Beherrscher der westlichsten Inseln Griechenlands, die jenen
Wunderländern am nächsten lagen, zumal ihn auch seine
echt griechische Schlauheit zu der Rolle befähigte? Mit seiner
Heimkehr verbanden sich also zunächst die geographischen
Märchen, die den sogenannten Nostos ausmachen.*) Auch
man eine Beeinflussung der Sänger durch die Äneaden von Skepsis an-
nehmen dürfte.
1) Diese Form beruht nicht etw^a auf Volksetymologie, da erst ApoUodor
und Hygin eine etymologische Sage angeben.
2) Deecke Rhein. Mus 36, 581.
3) Vgl. die schönen Verse der Ilias H 87 ff.
4) Gerland altgriechische Märchen in der Odyssee, Magdeburg 1869,
Jülg die griechische Heldensage im Wiederscheine bei den Mongolen, Verh.
40 '^- Kapitel.
phönikisches Gut mag darin stecken; aber wer möchte die
Heimat der über die ganze Welt zerstreuten Erzählungen be-
stimmen? Die Blendung des einäugigen Menschenfressers kehrt
beispielsweise unzählige Male auf der ganzen Erde wieder. ^)
Die Jonier knüpften sie, weil sie die unpersönlichen Geschichten
nicht hebten , an die Person des Odysseus. Dazu kam noch
eine wahrscheinlich mythologische Sage ^) , wie der Held , der
lange in der Ferne weilt, heimgekehrt seine Gattin im Begriffe
findet, dem ungestümen Freier nachzugeben; Müllenhoff ver-
gleiciit die deutsche Orendelsage, deren Träger auch wohl
Heinrich der Löwe oder I^rzog Ernst heisst. ^) Die Mischung
dieser drei verschiedenen Bestandteile vollzog sich wahr-
scheinUch schon lange vor unserer Odyssee, da in ihr das
mythologische Element wenigstens für den gewöhnlichen Menschen
kaum bemerkbar ist.
Der trojanische Sagenkreis hat, weil sich das Volk auch
in der Sagengeschichte immer Lieblinge erwählt, die eifrigste
Ausbildung erfahren. Bei den Deutschen war es Siegfried,
während die zwiespältige Natur der Griechen in Achilleus
und Odysseus sich verkörpert fand. Weil sie die Grundzüge
der troischen Sagen als allgemein bekannt voraussetzen, halten
es die homerischen Dichter nicht für notwendig, ihre Zuhörer
über die auftretenden Haupthelden zu orientieren; z. B. heisst
Patroklos das erste Mal einfach der Menoitiade und Achilleus
trägt den Beinamen des Schnellen, worüber uns jetzt erst Pindar
Aufschluss gibt.
der Philologeuvers. in Wfirzburg. 1868 S. 58 ff., auch Fr. Schwartz Ztsch.
f. Gyinn.- Wesen 1863 S. 465 ff.; Kasp. Schnorf der myth. Hintergrund im
Gadrunlied und in der Odyssee, Zürich 1879; Skylla lebt noch iin neu-
griechischen Märchen fort (Passow carm. pop. Graeca 401).
1) am vollständigsten Nyrop sagnet om Odysseus og Polyphem in Nor-
disk Tidskrift for Filologi N. R. V Nr. 13, dazu Liebrecht Literaturblatt
f. gerni. u. rom. Philol. 1882 Nr. 1, Finamore trad. pop. abbruzzesi I
Nr. 38 ; eine ol>erflächliche Aehnlichkeit hat die chiische Sage, wie der Meer-
riese Orion geblendet wird (Prell er griech. Myth. 1=' 369); vgl. auch W.
Grimm die Sage von Polyphem (aus den Abb. der Berliner Ak. 1867).
2) E. W. Osterwald hom. Forschungen I. Hermes- Odysseus, Halle 1853,
Steinthal über Homer und insbesondere die Odyssee, Zeitschr. f. Völker-
Iksych. 7, 1 ff.
8} Bartsch Herzog Krnst S. CXIV ff.
%
Epische Dichtung vor Homer. 41
Daneben spielen aber die homerischen Gesänge oft auf
andere Sagenkreise an^); dies ist auch deshalb von Interesse,
weil wir sehen , dass lokale Sagen in dem vielzersplitterten
Griechenland die Marksteine eines Gemeinwesens oder eines
Stannnes überschritten und in die entferntesten Stätten hel-
lenischer Kultur drangen, sobald die Liedform ihnen eine natio-
nale Bedeutung verheben hatte. Die Argonautensage war
wohl bei den Joniern entstanden ^) ; doch teilt die IHas vorerst
nur mit, dass lason nach Lemnos schiffte (H 467 ff. <I> 41).
Die weitere Ausdehnung der Fahrt, die erst nach dem Muster
der Odyssee erfolgte, wird blos in Interpolationen des zwölften
Gesanges der Odyssee (besonders V. 69 ff.) angedeutet; hier
heisst Argo bereits allbekannt (räat [xlXoooa). Das Fürstenhaus
der Neleiden machte den Joniern die pylischen Sagen geläufig. ^)
In Diomedes hängen Thebens grausige Schicksale mit dem
trojanischen Kriege zusammen. '*) Korinthisches kommt Z 152 ff.
X 592 vor, Ätolisches I 533 ff. und die Aloiden treten E 385 ff.
auf Nach Thessalien weist der Kampf der Lapithen und Ken-
tauren. Von diesem bunten Gemische hebt sich die Gestalt
des Herakles deutlich ab. Sagen von urwelthcher Wildheit ^)
stehen aber neben anderen von milderem Geiste , z. B. bedarf
er e 362 ff. Y Üb der Hilfe freundHcher Götter. Ilions Er-
oberung wird in der Rhodierepisode (E 638 ff.) und E 250 ff.
erwähnt; bei der Versöhnung erzählt Agamemnon, Hera habe
durch List den edelsten Helden einem Feigling unterthan ge-
macht (T 96 fif). Eine feindliche Gesinnung verrät «p 26 tf.,
wo er seinen Gastfreund Eurytos frevelnd erschlägt. An dorischen
Sagen machen sich noch die von dem Dioskurenpaare F 237
X 299 bemerkbar.
Alle diese Lieder sind in den jüngeren Dichtwerken auf-
gegangen, wie überhaupt jede bestimmte Nachricht über die
vorhomerischen Gesänge fehlt. Während bei den Hvmnen von
1) Nitzsch Beiträge zur Geschichte der epischen Poesie S, 147 ft".
2) E. Curtius Jouier S. 22 ff.
3) H 132 ff. A 670 fl'. »l" 630 ff. (). 281 ff.) o 225 ff.
4) A 372 m E 801 ff. K 285 ff. S 113 ff'.
5) E 392 ft'. verwundet er Hera und Hades, 0 18 ff", geisselt Zeus seinet-
wegen Hera, 0 638 ff", getraut sich Eurystheus nicht, von Muud zu Mund
mit ihm zu reden.
42 2- Knpitol.
den Namen der alten Dichter ^) irgend eine Spur auf die Nach-
welt kam, entbehrte die weltliche Poesie auch der Stütze einer
geistUchen Tradition. Für die Griechen war daher die Ge-
schichte des vorhomerischen Epos ein leeres Blatt, obschon sich
einige Grammatiker den Anschein gaben, mehr zu wissen.^)
Selbstverständlich sollten die Sänger, die Homer erwähnt, Demo-
dokos und Phemios, historische Personen sein; Demetrios von
Phaleron^) stellte aber bereits eine ganze Liste vorhomerischer
Epiker, die alle aus dem Peloponnes und Doris stammen, auf;
unter ihnen war Automedes von Mykenä vielleicht in den
Nosten als Vertrauter des Agamemnon genannt. Die anderen
Grammatikerfabeln dürfen wir bilHg übergehen, da nur in
einigen Fällen die Fälschung ins Werk gesetzt wurde. Ich
erinnere an die Troika des Sisyphos von Kos'^), eines angeb-
lichen Genossen des Teukros, und die in lateinischer Sprache
vorhandenen Lügenbücher des Diktys und Dares. Die Ver-
nünftigen stimmten zwar Ciceros Ansicht (Brutus § 71) bei:
Nee dubitari debet quin fuerint ante Homerum poetae, aber
sie resignierten sich mit Sextus Empiricus (adv. math. 1, 202):
,,Am ältesten ist die homerische Poesie; denn es ist keine
ältere Dichtung auf uns gekommen." Die neueren Philologen
haben nicht ganz diese Resignation ; manche glaubten nämlich,
in den Aolismen der homerischen Sprache einen Kest der
äolischen Lieder, aus denen wenigstens die Ilias hervorgegangen
sein sollte, zu finden und demgemäss die Formeln, welche
unjonisches enthielten, davon herleiten zu dürfen. Wir haben
aber bereits oben nachgewiesen, dass an eine Entlehnung des
Stoffes nicht zu denken sei , was ein ungünstiges Vorurteil
gegen jene Aolismen erregt. Die überquellende Menge der-
selben, die aus der alten Grammatik überkommen war, ver-
minderte Hinrichs in der fleissigen Abhandlung de Aeolicae
elocutionis vestigiis Homericis (Jena 1875) sehr bedeutend.^)
1) Vgl. die ve(li.schen Hymnen und die Psalmen.
2) Sengebusch diss. Hom. I p. 91.
3) Schol. Y 267 ; Suidas (v. 0(i|xopi(;) erwähnt zwei Listen vorhonierischer
Epiker.
4) H. Haupt Philol. 40, 107 ff.
6) Brngman lit. Centralblatt 1875 Nr. 45, Giseke Bursians Jahresber.
1874/6 S. 132 ff.) und Ca pelle philol. Anz. 7, 265 f. verringerten die Zahl
noch mehr.
Epische Dichtung vor Homer. 4S-
Aber auch die von ihm nicht angefochtenen Formen kann ein&
Untersuchung, die auf dem jetzigen Stande der griechischen
Sprachwissenschaft fusst, zum grössten Teil als Archaismen,
aber auch manche als sonst weit in Griechenland verbreitet-
nachweisen. Archaismus muss das Losungswort der modernen
homerischen Grammatik sein; sonst gelangt sie wieder auf den
Standpunkt der Alten, die alle möglichen Dialekte Griechenlands
bei Homer in buntem Gemisch friedlich vereint wieder finden
wollten. Was also zwar später dem äolischen Stamme eigen
war, früher aber, teils in homerischer, teils auch in vorhomerischer
Zeit allen Griechen gemeinsam gewesen sein muss, das Aohsmen
zu nennen, haben wir ebenso wenig Recht, als die Alten^
Dorisches, Kyprisches, Rheginisches u. ä. bei Homer zu finden.^)
Unter diesen Gesichtspunkte fallen z. B. die persönlichen Pro-
nomina; denn ajAfjtsc und ojjljasc sind nur die natürlichen Vor-
stufen von Tjixsc und djxsc. ^) Die äohschen Lieder sind also
sachlich und sprachlich eine blosse Hypothese ohne sichere
Stützen ; auch die Vergleichung der bei den Lyrikern erscheinen-
den Aolismen thut nichts zur Sache, da erst nachgewiesen
werden müsste, dass Dichtungen einer niedereren Stufe hoher
ausgebildete eines anderen Stammes so sehr beeinflussen können.
Denn jene äolischen Lieder, deren es freilich ohne Zweifel
einige gab, müssten doch bedeutend unter Homer gestanden
sein, weil nicht einmal die eifrigen Munizipalhistoriker Hel-
lanikos und Ephoros von ihnen eine Spur entdecken konnten.
Die asianischen Aolier beteiligten sich, wie wir später sehen
werden, an der epischen Dichtung in keiner Weise und be-
wiesen nur für die Lyrik Sinn und Talent. Wenn es daher
wirklich äolisierende Formeln gab, dann würde ihre Heimat eher
in Nordjonien zu suchen sein. Dagegen sei es mir gestattet,
auf eine nicht archaische oder äolische Eigentümlichkeit einiger
homerischen Formeln hinzuweisen : Die Verdumpf ung des Thema-
vokals 0 zu o (z. B. im aXXoStc aXXfj) kennen wir sonst blos aus
dem Arkadischen und Pamphylischen ; nun leitet aber schon
1) Monro Journal of philol. 9, 252 flf. 1882 S. 110 ff.
2) 8o ist statt a|j.|jL£?, u[jL}i.E(;, •fut.Bl^, u|X£l(; zu schreiben; letztere beiden
Formen haben bei Homer keine Berechtigung, da unter 79, resp. 44 Stellen
an 75, resp. 40 riiiiz und ojxsc zulässig sind, während an den übrigen *rj}j.eEC
und üfj-EEc den Vorzug verdienen.
44 2. Kapitel.
Kalliiios die Paraphylier von heimkehrenden Achäern ab, die
mit Kolophon in Verbindung gebracht werden. Vielleicht be-
wahren jene Formehi das Andenken an einen Bruchteil des
achäischen Volkes, der später (zu Kolophon?) in die Jonier
aufging. ^)
Jedenfalls liegt vor dem homerischen Epos eine lange Ent-
wicklungszeit; denn die Technik ist dort vollkommen ausge-
bildet und kaum eine Spur von Archaismus haftet der Sprache
und dem Versbau an. In den homerischen Gedichten findet
sich, höchstens die Komposition ausgenommen, nirgends mehr
ein unsicheres Tasten ; alle Striche sind von der sicheren Hand
eines Meisters gezogen.
1) Man kann auch an die epbesischeu Arkadier (Guhl Ephesiaca p. 28
adn. 14) denken. Oder sollten die geheimnisvollen arkadischen „Wohlthäter
Homers" in dem bekannten Läuserätsel im Spiele sein? Vgl. über diese die
phantasievolle Rede Sengebuschs , .Arkadier als W. H.", Berlin 1877.
3. Kapitel.
Die homerischen Epen.
Charakteristik der homerischen Dichtung — Homer als Persönlichkeit
(Biographien, Heimat, Zeit, Bilder, Name) — homerische Frage (Wolf und
seine Vorgänger, Niederschreibung des Textes, Thätigkeit des Peisistratos,
moderne Theorien) — Methode der Forschung — Analyse der Ilias — Chori-
zonten — Analyse der Odyssee — Aöden und Rhapsoden — Geschichte des
Textes — Geschichte der Homerexegese — Bedeutung Homers für die Literatur
(Centonen, Parodien, Batrachomyomachie) — Verhältnis zur Kunst.
An der Spitze der griechischen Literatur stehen die
homerischen Epen als grösstes Problem der allgemeinen Literatur-
geschichte. Es empfiehlt sich, bei dem Wirrsale der subjektiven
Meinungen vorläufig von der Person des Dichters oder der
Dichter zu abstrahieren und rein objektiv ein Bild der Epen
selbst zu entwerfen ^), wobei überdies der Unterschied von der
Volksdichtung hoffentlich in ein helles Licht treten wird.
Rias und Odyssee gehören nicht mehr der Volkspoesie an,
obwohl sie noch durch tausend Fäden mit ihr zusammen-
hängen. ^) Sie sind bereits Kunstdichtungen, wenn auch nicht
in dem Sinne der nach klassischen Periode, wo man mit jenem
Namen in Gedanken gelehrte und mühselige Studien verbindet.
Vielmehr haben sich diese Kunstepen aus der Volksliteratur
soweit organisch entwickelt als überhaupt auf den Gebieten des
geistigen Schaffens, wo wir mit dem Wunder des Genies rechnen
müssen, eine regelrechte stufenweise Entwicklung möglich ist.
Wie die Kunst mit dem Handwerke, so berührt sich Homer
1) Bischoff über hom. Poesie, Erlangen 1875; Hess über die komischen
Elemente im Homer, Bunzlau 1866. Einige Monographien verzeichnet Hüb ner
Grundriss zu Vorl. über die griech. Syntax 1883 S. 98 ft'.
2) Schnorr von Carolsfeld Jahrbb. 91, 805 ff.
46 3- Kapitel.
mit dem Volksliede durch die Benützung der dort fest über-
lieferten Typik. ^) Zu der normierten poetischen Sprache des
Volkes gehören vor allem die stehenden Beiwörter, die
in keinem Lande fehlen, wenngleich die Griechen sie in be-
sonderer Fülle und Mannigfaltigkeit ausgebildet haben. Die
Beiwörter führen bald die Gegenstände mit einem Worte dem
Hörer wesenhaft vor Augen, bald drücken sie die Bewunderung
aus, die der Erzähler für gewisse Personen empfindet, trotzdem
dass das Kunstepos derartigen subjektiven Gefühlen sonst keinen
Platz mehr einräumt. Wir haben also anschauliche und lobende
Epitheta. Wer kann sagen, wie alt viele derselben sein mögen?
Manche Beinamen der Götter und der von ihnen beschützten
Städte reichen gewiss zu sehr alten Hymnen, manche der
ersteren vielleicht selbst in die indogermanische Vorzeit hinauf.^)
Wegen des langen Gebrauches passen schon in den ältesten
Bestandteilen der homerischen Gedichte die Beiwörter nicht
mehr zur augenblicklichen Lage, sondern geben die konven-
tionelle Scheidemünze des Dichters ab, verleihen aber nicht am
wenigsten der Rede jene vielgerühmte Anschaulichkeit. Der
Dichter brauchte seine Kraft nicht mit dem Ersinnen unge-
wöhnlicher Beiwörter zu zersplittern; herrschte doch damals
auch im Leben trotz mancherlei fremden Prunkstückes noch
patriarchalische Einfachheit und Einförmigkeit, die zugleich der
ältesten Kunst ihre regelmässig wiederkehrenden Gruppen ge-
stattete. Da die Epiker deshalb wenig nach Originalität streben,
ergibt sich mindestens für den Laien ein auffallend gleich-
massiger Ton. Zum grossen Teil beruht er auf den Formeln^),
■die immer wieder zu erzählende Nebenumstände auch mit den-
selben Worten bezeichnen. Der Sänger fiuid an ihnen eine
be(iueme Stütze der Erzählung, die ihm den wichtigeren Dingen,
<ia die Zuhörer noch nicht verwöhnt waren, seine volle Auf-
merksamkeit zuzuwenden erlaubte. So oft jene also z. B. die
1) Aehnliche Zustände treten in der Geschichte des Kun.sthandwerkes zu
Tage. Jede einfache Kultur ist zugleich einfönuig und diese Einförmigkeit
erstreckt sich sogar auf die Gesichtszüge (Roh de der griechische Roman
S. 229 A. 3).
2) Z. B. entspricht 5pT7jf>e; eatov dem vedischen datäras vasQnSm.
3) Fr. Am eis .lahrbb. 73, 657 ff. O. Böhmer de formulis Homericis,
Lpg. 1869. Ft. Schnorr v. Carolsfeld Archiv für Literaturgesch. 10, 309 ff.
Jiuch Lentz de versibus apud Homerum perperam iteratis, Bartenstein 1881.
I
Die hoiuerischeu Epen. 47
Worte „wSs 6§ v.c. eiTrsaxs" hörten, wussten alle, dass die fol-
gende Kede die Stimmung der anwesend gedachten Menge
ausdrückte und der Dichter hätte bei einem neuen Ausdrucke
desselben Gedankens wahrscheinlich nicht ebenso das augen-
blickliche Verständnis erzielt. Nur ein so gefälliges Publikum
nahm es hin, dass, wenn ein Bote sich seines Auftrages ent-
ledigt oder irgend jemand etwas zum zweiten Male erzählt, er
dies mit den nämlichen schon vorher gebrauchten Versen thut.
Durch diese häufige Wiederkehr der Formeln wurden aber die
Dichter verleitet , Verse anderer Art von ihren Vorgängern zu
entlehnen.^) Wenn sich jedoch schon die Formeln, je öfter
sie zur Anwendung kommen, immer mehr von ihrem Urbilde
entfernen, tritt dies bei jenen individuell gefassten Versen
natürlich weit mehr ein. Da sie an der einen Stelle nicht
genau ebenso gut wie an der anderen passen können, werden
sie ein wichtiges Hilfsmittel der höheren Kritik. Doch hier
haben wir nur davon zu sprechen, dass kein homerischer
Dichter von dieser unser Gefühl nicht sonderlich angenehm
berührenden Manier frei war, wenn sich auch natürlich der
Begabtere durch die geschicktere Handhabung von dem Stümper
leicht unterschied.
Zu den Formeln gehört noch die Typik der Zahlen^);
wie vieles dauert neun Tage und kommt am zehnten zum Ab-
schlüsse •'*), wie vieles wird dreimal versucht und misslingt dreimal !
Sieben Jahre herrscht Agisthus (y 304) , weilt Odysseus bei
Kalypso (r^ 259) und der Bettler in Ägypten (| 285) u. s. w.
Während das Epos in der gewöhnlichen Breite der Dar-
stellung sich von dem Volksliede abgewendet hat, kehrt es
manchmal zu dessen sprungweiser Darstellung zurück. Beim
ruhigen Verlaufe der Ereignisse ist zwar die eingehende Schil-
derung alier Einzelheiten das gewöhnhche; tritt jedoch ein
beschleunigtes Tempo ein , wechselt der Schauplatz oder treten
neue Personen auf, so neigt der Dichter gerne zu grösserer
1] Materialsammluug : Elleudt drei hom. Abb. Lpzg. 1864 S. 55 fl.
Jahrbb. 95, 194 ff. und Anhang von H. Dun bar a complete concordance to
tbe Odyssey and hynins of Homer, Oxford 1880.
2) Einiges bei Gladstone hom. Studien S. 449 ff.
; 3) La Roche hom. Studien § 6, 2.
48 3. Kiipitel.
Knappheit. Oft werden deshalb Züge übergangen ^), deren
Mangel einem pedantischen Revisor grosses Kopfschütteln ver-
ursacht. Sollte nicht der Verfasser der Teleraachie einen solchen
der Ungewissheit , was aus Athenes im Männersaale stehenden
Speere wurde, entreissen? Manches ist freilich von grösserer
Bedeutung; so passen bei Einschub einer episodischen Scene,
wenn der Dichter das vorhergehende wieder aufnimmt, Ende
und der neue Anfang manchmal nicht genau aneinander. Das
meiste der Art haben schon die Scholiasten aufgestöbert und
eine Figur xara tö atwrwiAevov statuiert. Es verlohnte gewiss
die Mühe, diesen ,, Schwächen" Homers systematisch nachzu-
forschen , schon um dem Missbrauche dieser Erscheinungen
einen festen Riegel vorzuschieben.
Was könnten wir nicht noch alles anführen , das den
Volkston glücklich wiedergibt ! Die bequeme Art der Ausdrucks-
weise, die etwas durch ein Pronomen unbestimmt kennzeichnet
und erst nachher den Hörer darüber orientiert, mit wem er es
zu thun hat, erinnert an die Sitte des täglichen Lebens. Das
Gespräch des Achilleus mit seinen Rossen (T 399 ff.) kehrt in
der neugriechischen Volkspoesie wieder. ^) Ganz besonders mutet
uns aber die sinnliche A nschaulichkeit und Unmittel-
barkeit der homerischen Gedichte volkstümlich an. ^) Bei
einer solchen Betrachtungsweise treten selbstverständlich die
äusseren Dinge besonders hervor und die inneren Vorgänge
spiegeln sich blos in den zu Tage tretenden Folgen. Homer
schildert unübertrefflich alle Dinge, wie sie sich den leiblichen
Augen darbieten. Selbst die seelischen Empfindungen werden
durch Zusätze wie xata ipp^vac, xata ^o[aöv auf ihren körper-
lichen Ausgangspunkt zurückgeführt."*) Die überirdischen Mächte
erscheinen in Gestalt von Göttern, die wenig mehr als die
Unsterblichkeit von den Menschen scheidet, da der homerische
1) Schöniann de retlcentia Horneri 1853 (opascula HI p. 1—26) und
Naber quaestt. Homericae p. 7 ff.
2) Fauriel chants pop. de la Gr^ce II 134, Firmen ich ipafooouj.
'Pü>|ia£y.ä II 21.
3) Adam das Plastische im Homer, München 1869.
4) Fulda Untersuchungen über die Sprache der hom. Gedichte I. Der
pleouastische Gebrauch von ^o\i6r^ '^p-rjv und ähnlichen Ausdrücken, Duis-
burg J865.
^
Die homerischen Epen. 49
Dichter jede Abstraktion scheut. ^) Ja selbst den Schild des
Achilleus beschreibt der Sänger zwar kunstreich und schön,
aber so oberflächlich, dass er bei den Jahreszeiten wenigstens
nicht zu wissen scheint, was er darstellt.
Schiller^) beurteilt also Homer ganz richtig, wenn er
schreibt: ,, Seine Dichtungen haben eine unendliche Fläche,
aber keine solche Tiefe. Was sie an Tiefe haben, das ist ein
Effekt des Ganzen, nicht des Einzelnen; die Natur im ganzen
ist immer unendlich und grundlos." Der homerischen Dichtung
fehlt daher im allgemeinen die Reflexion, obschon sie in den
jüngeren Gesängen, durch eine zur Didaktik neigende Zeit-
strömung angeregt, sich hie und da einzunisten begonnen hat;
auf jenem Mangel beruht gerade der Zauber, den die Epen auf
ein von der übertriebenen und affektierten Subjektivität der
neuen Zeit abgestossenes Gemüt ausüben. Wann wurde in
Deutschland für Homer so sehr geschwärmt als in und nach
der Sturm- und Drangzeit? Während der moderne Dichter
den Gründen der Ereignisse nachstrebt und gerade dem inneren
Seelenleben seine Aufmerksamkeit zuwendet^), erzählen die
griechischen Epiker blos, was sie mit Augen sehen oder sehen
könnten und dies ganz gleichmütig, ohne teilnahmslos zu sein;
es ist ihnen eben alles so selbstverständlich, wie es einem Bauer
die Naturschönheit seiner Gegend ist. Demnach erscheint es
natürlich, dass das Ethische völhg fehlt ^); besonders schön
sucht es M. Carriere in der Ilias und der Odyssee nachzu-
weisen, so schön, dass man nur wünschte, es sei Homer nicht
blos untergelegt. ^) Homer betrachtet vielmehr auch die Tugenden
und Laster als selbstverständlich und, wo keine äusseren Folgen
daraus entspringen, auch als nebensächlich. Sein Ziel ist ja,
1) Dem Epos ist überall ein anthropomorpher Zug eigen ; selbst in dem
christlichen Ludwigsieich von 881 spricht Gott persönlich mit dem Könige.
2) Briefwechsel mit W. von Humboldt S. 379.
3) Der psychologische handlungslose Roman der Neuzeit und das
homerische Epos sind die Extreme, zwischen denen sich die epische Dichtung
der letzten drei Jahrtausende bewegt.
4) Goethe sagt über die wahre Darstellung': „Sie billigt nicht , sie tadelt
nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge
und dadurch erleuchtet und belehrt sie."
5) Kunst im Zusammenhang der Knlturentwicklung 2, 44 ff., ähnlich
Nitzsch und Bäumlein.
Sittl, Geschichte der griechisclien Literatur. 4
50 3. Kiipitel.
wie gesagt, die höchste AiischauHchkeit des Sichtbaren; in
dieser erreicht er aber auch eine so holie Stufe des schönen
Keahsmus, dass sich vielleicht nur Dante an Kraft der Phantasie
mit ihm messen kann. Homer und Dante vermögen den Ge-
schöpfen der Phantasie das Gepräge der Wirklichkeit zu ver-
leihen und das Wunderbarste zur höchsten Wahrscheinlichkeit
und Natürlichkeit zu erheben. Wo die Handlungen selbst
diesem Zwecke nicht dienen, wird zu Beiwörtern und Gleich-
nissen') gegriffen. Von den bereits besprochenen Epithetis
gehören blos die anschaulichen hieher. Die Gleichnisse sind
bis auf sehr wenige durchaus malerisch, während schon in den
ältesten Hymnen der Inder die Abstraktionsfreude dieses Volkes
zu Tage tritt. ^) Homer liebt sie aus dem Leben der Menschen
und der Natur zu entnehmen; bald deutet er den Vergleich
nur an, bald führt er ihn weiter aus. Es ist längst erkannt,
dass die letztere Art namentHch die trockene Einförmigkeit der
Zweikämpfe anmutig beleben soll. Dagegen bedarf die Odyssee
der grösseren Gleichnisse nicht so sehr, weil hier ohnedies Natur
und friedliches ijeben mit der Handlung enge zusammenhängen.
Wenn also den 178 Gleichnissen der Bias in der Odyssee blosj
29 gegenüberstehen , so hat nicht , wie manche sagen , dei
plastische Sinn abgenommen ; vielmehr würde eine gleiche Meng«
der Odyssee einen schwülstigen Charakter geben.
Alle diese Eigenschaften machen die homerischen Epen zuj
volkstümlichen Dichtungen im edelsten Sinne, ohne dass si(
mit der Volkspoesie auf eine Stufe zu stellen wären. Schon
die besprochenen Mittel der letzteren beherrschen die Dichter
der Ilias und Odysse mit einer Sicherheit und Meisterschaft,
dass die schlichteren Volkslieder vor einem solchen Glänze
zurückstehen müssen. Auch was diese nicht verschmähen, um
der Erzählung einen feierlicheren oder belebteren Ton zu ver-
leihen, wird hier zum rhetorischen Kunstmittel, z. B. die
riietorische Frage unmittelbar am Anfange der IHas ti«; t' ap
1) Jahrbb, Supi)!. 3, 786 ff. verzeichnet, vgl. E. H. Fried lande r
Beitr. zur Kenntnis der honi. Gleich nis-se , Berlin 1870—71; J. L. Hoff-
mann die Bildersprache Homers, im Albnm des liter. Vereins, Nürnberg
18C6 u. A.
2) Da« beliebteste abstrakte Gleichnis Homers ist die Schnelligkeit des
Gedankens.
Die homerischen Epen. 51
<5'fw= {>£töv u. s. w., schon in den alten Hymnen beliebt, denn
eine stehende Anrnfungsformel lautet: „Wie soll ich Dich be-
singen ?" Die Apostrophe dient sogar zur Charakteristik der
Helden, da wir den ungewohnten Anteil, den der Dichter an
Menelaos, Patroklos und Eumaios nimmt darin fühlen und so
unsererseits für sie erwärmt werden. ^)
Die homerische Dichtung leistet überhaupt in der Charak-
teristik der Personen mit den einfachsten Mitteln ausser-
ordentliches. Obgleich die Volksdichtung die Persönlichkeit
ihrer Helden nicht ganz übergeht, beschränkt sie sich doch auf
blosse Andeutungen. Wie viele Sänger müssen an dem Ge-
mälde der achäischen Vorkämpfer gearbeitet haben, bis der
Dichter der Ilias alle vereinzelten Züge genial zu einem gross-
artigen Gesammtbilde zusammen fasste und auch seinen Nach-
eiferern ein unverlorenes Beispiel gab, wie durch die blosse
Rede oder ein kleines scheinbar unbedeutendes Motiv ein
Charakter deutlich umrissen M'erden kann. In letzterer Hinsicht
erinnere ich nur an das düstere Lächeln des Aias, als er zum
Zweikampfe schreitet; die Geschicklichkeit, den Personen die
passendsten Worte in den Mund zu legen, reicht an vShakespeares
Talent fast heran.''')
Während Homer in dieser Weise auf die poetische Wahrheit
ungemein bedacht ist, sorgt er sich weniger darum, ob die Per-
sonen in den gegebenen Verhältnissen wirklich so gesprochen
haben können, falls er dadurch seinen Zuhörern auf anmutige
Weise neues mitzuteilen vermag.^) Wäre es manchen Kritikern
wirklich lieber, wenn er statt dessen gewissenhaft, woher es
der Redende wusste, hinzugefügt hätte? Die einzige niclit
unberühmte Ausnahme (^ 389 f.) ist eine handgreifliche Inter-
polation, die entstand, als man an das Epos nicht mehr unbe-
fangen herantrat.^) Ueberhaupt dürfen wir die (von den
1) Liesegang Philol. 6, 564, Nitzsch Philol. 16, 151 ff., Bergk
griech. LG. 1 615 f. 0 865 und X 152 passt sie bei dem Gotte nicht; 0 582
steht in einer jüngeren Einlage, auch T 2 (von Achilleus) könnte später sein.
2) Theon progj'mn. p. 149 W (II 60, 27 Sp.) vgl. 68, 22) : "Ojj.'/jpov sita'.-
voö[X£v OTi olxsiooc Xo^oo? icsp'.ts^etxsv Exdtaxü) to)v 7:po3o>K(uv, vgl. Gell. 6
(7), 14, 7.
3) Z.^B. in den 'AXx-voo tx^oKo-^oi: •. 183 ff. x 103 ff', u. ö.
4) Vgl. eine ähnliche Interpolation im Nibelungenliede nach Str. 506
Bartech, die beginnt : Nu sprichet liht ein tumber „Ez mac wol lüge wesen.''
4 «
52 ,3. Kapitel.
Homerikern leider zu wenig beherzigte) Regel aufstellen, dass,
wenn die prosaische Wahrscheinlichkeit mit einem poetischen
Zwecke in Konflikt gerät, regelmässig letzterer siegt. Denn
dem Jonier, der die ängstliche Gewissenhaftigkeit der Dorier
nicht kennt, ist das Fabulieren Hauptsache. Aber auch die
vortreölichsten Künstler aller Zeiten haben zuweilen absichtlich,
um den Gesammteindruck zu verschönern, gegen die gemeine
Wirklichkeit gefehlt, i)
Kaum mehr Beachtung und Verständnis findet eine andere
Eigentümlichkeit des Epos: Der Dichter führt ein Motiv ein,
um bestimmte Absichten zu erreichen, z. B. wenn er die
Handlung retardieren will; ist nun der Zweck erfüllt, lässt er
das Motiv einfach fallen.^) Die ,, Loser" der homerischen Frage
fragen dann triumphierend , wo es hingeraten sei : Der Zwei-
kampf des Menelaos und Paris lenkt den Gang der Ereignisse
absichtHch von der geraden Linie ab, bis der Schuss des Pan-
daros die früheren Verhältnisse herstellt, nur dass der Kampfesmut
beider Parteien gewachsen ist. Pandaros fällt sogleich bei Be-
ginn der Schlacht an einer ungewöhnlichen Wunde, die gewiss
mit dem Vertragsbruche zusammenhängt; sonst ist für den
Dichter weder Zweikampf noch Schuss später vorhanden. Oft
geben sich die Nachdichter die Mühe, Rückbeziehungen einzu-dH
flechten, aber ihre Arbeit ist ebenso unnütz wie die Verwertung^^
jener Unterlassungen für die auflösenden Tendenzen verkehrt
ist. Ueberdies dürfen wir von dem ersten eigentlichen EposilH
beständige Vor- und Rückbeziehungen keineswegs erwarten.
Einer ähnhchen ungerechten Beurteilung unterliegen aber
ganz besonders die retardierenden Momente. „Eine
Haupteigenschaft des epischen Gedichtes ist, dass es immer vor-
und zurückgeht, daher sind alle retardierende Motive episch."^)
Die Tragödie will Schlag auf Schlag, das Epos schlendert da-
gegen ruhig und gemächhch dahin; freilich steht das jjeitmotiv
von Anfang an gleichsam als dunkle Wolke, die immer mehr
heraufsteigt, am Horizont. Manche machen es jetzt Zeus bei-
1) Aristot. poet. 25 aSuvata nejioifjtai • •rjjiäptYjTat, ftXX' äpfl-üic syji, el
TüYX^" '^'^^ teXoo? to5 ohjtyic u. s. w., 24 extr. tolz difrx^olr: h irotYjr})?
ä^aviCEi •fjSövojv zh ätojcov u. a.
2) So verschwindet auch im Nibelnngenlide Brunhilde ; Sophokles vergisst
im König Odipus die Pest.
8) Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe 8, 71.
Die homerisohen Epen. 53
nahe zum Vorwurfe , dass er nicht unmittelbar nach Thetis'
Bitte an die ErfüUung seines Versprechens gegangen sei ; zum
Glück ist es an jenem Tage schon zu spät! Aber am nächsten
Morgen sollte er sofort die Niederlage der Achäer herbeiführen !
Mit Nichten. „Die Mühlen der (epischen) Götter mahlen langsam
aber fein" sagt ein einsichtiger Kritiker.
Liebt doch das homerische Epos in allem die behagliche
Breite. Auch der Stil ist breit angelegt uud ausführlich, wes-
halb er sich für ein grösseres Gedicht vorzüglich eignet. Wie
dieses ist er retardierend, indem teils Beiwörter, teils andere
Erläuterungen etwas nachschleppen. Auch der Satzbau trägt
keineswegs, wie man oft behauptet, das Gepräge einer be-
sonderen Schlichtheit; für Verse überhaupt und besonders für
so alte Verse ist die Periode kunstreich entwickelt und von der
Einfachheit des Volksliedes und des teilweise gleichalterigen
Rigveda weit entfernt. Zudem verziert der Dichter seine Er-
zählung di^rch Wortspiele^), Tonmalerei^) und ähnliche Mit-
telchen , so dass die Alten von ihm sagen konnten , er habe
allen Künsten der Beredsamkeit den Ursprung und ein Muster
gegeben.^)
Wir können die Mittelstellung Homers zwischen Volks-
poesie und Kunstdichtung (oder richtiger akademischer Dichtung)
nicht besser wiedergeben als es Herder^) mit folgenden Worten
gethan hat: ,, Dieser Sänger Griechenlands trifft, wie mich
dünkt, eben auf den Punkt, der schmal wie ein Haar und
scharf wie die Schärfe des Schwertes ist, wo Natur und Kunst
in der Poesie sich vereinigen."
Vom rein poetischen Standpunkte betrachtet sind die
homerischen Gedichte in ihrer Art unübertroffen. Man ver-
gleiche unser Nibelungenhed nicht mit ihnen; denn beide ge-
winnen bei dem Vergleiche, beide verlieren. Jenes steht durch
die gemütvolle Auffassung ebenso weit über dem griechischen
Epos, als es in Fülle und Schmelz der Farben, in feiner
Komposition und Durchbildung hinter ihm zurückbleibt. Leider
1) z. B. B 758 llpö9-0Dc O-oqc, oj 46-5 Kb-jtO-jj neiö'ovTo.
2) z. B. P 265 •tj'iry/s'z ßoöcuaiv sps'jYojj.Jvr^': äVoq l'^to, durch den Plato
von der Nachahmung Homers abge«chreckt worden sein soll.
3) Quintil. 10, 1, 46: omnibiis eloquentiae partibus exemplum et
ortum dedit.
4) Ursprung der Sprache S. 163.
54 4. Kapitel.
fehlt uns der Massstab, um Homers Stellung innerlialb des
griechischen Epos richtig zu würdigen. Wir sind jetzt be-
sonders darüber im Unklaren, was ein von den Musen nicht
hervorragend begabter Sänger leisten konnte.
So deutlich auch die dichterische Persönlichkeit bei einer
Betrachtung von Ilias und Odyssee hervortiitt, so wenig ver-
raten sie über die äusseren Verhältnisse der Verfasser. Daran
trägt die Objektivität des Epos Schuld. Sie besteht nicht in
der reinen Unparteilichkeit, denn kein Epiker unterdrückt alle
seine Gefühle künstlich^); aber er legt den vollen Ruhm seiner
Dichtung der angerufenen Muse bei. Sonst fehlen jedoch ab-
gesehen von dem wehmütigen Vergleiche der glanzvollen Hel-
denzeit ^) mit der Gegenwart alle persönlichen Beziehungen. ^)
Wir sind daher wie die Alten auf sehr viele Kombinationen
und sehr wenige Traditionen angewiesen ; der Kritiker hat beide
in den alten Quellen sorgfältig zu scheiden.
Die Alten führten Ilias und Odyssee auf den blinden
Sänger Homeros zurück. Darüber waren so ziemlich alle einig,
während über Heimat, Zeit und Lebensschicksale die Meinungen
ausserordentlich abwichen.
Was die alten Homerbiographien anlangt, so gibt der Kirchen-
vater Tatianos in der Rede an die Heiden (c. 48) eine lange
Liste der Gelehrten, die über das Leben Homers schrieben;
sie beginnt mit Theagenes von Rhegion und Stesimbrotos von
Thasos, die beide während der Perserkriege lebten. Auch Pindar
erzählte schon, dass Homer seiner Tochter die Kyprien zur
Aussteuer geschenkt habe. Aber alle älteren Schriften scheinen
sein Leben nur nebenbei behandelt zu haben ; die erste chrono-
logisch gesicherte Monographie rührt von dem smyrnäischen
Arzte Hermogenes unter der Regierung Hadrians her. In die-
selbe Zeit gehört wohl die erhaltene Schrift, welche den Titel
führt 'lipo 5 ÖT 00 i^YjYYjott: Tcepl t-^c tou 'OfiTjpou Y6VS010? xal ßtot'^c.^)
Sie ist in jonischer Mundart abgefasst, masst sich aber Herodots
Namen mit Unrecht an. Die künstHche Anwendung des
1) Am beliebtesteu ist der Ausruf v-rirtto? (B 38 u. ö.)
2) Oioi vüv ßfiotoi eia'.v.
3) Bcrgk 1, 468 ff. nimmt willkürlich Auspielungeu auf Zeitgenossen an.
4) Welcker der ep. Cyklus I 136 f. 178 ff. 456 ff.; Joh. Schmidt
de Herodotea quae fertur vita Homeri (1876) in Diss. philol. Hai. II p. 97 ff.
Die homerischen T->peii. 55
Dialektes^), wie auch einige sprachliche Ersclieinuiigen weisen
auf das zweite Jahrhundert nach Christus'^); indes sind die
Quellen bedeutend älter, z. ß. rühren die äolisierende Tendenz
und die meisten Daten von dem Historiker Ephoros her. J^ie
versifizierten Reden Homers, die unter den Epigrammen die
Nummern 1, 2. 4 — 13 und 16 tragen, stammen wahrscheinlich
aus einer poetischen Biographie, die dem 'HaioSoc des Eratosthenes
parallel stand. ^) Der Wert der Biographie besteht darin , dass
sie viele Sagen vereinigt, bei denen der Verfasser sich redlich
bemüht, sie in Einklang zu bringen. Von Pseudoherodot
hängen ein Teil des Artikels des Suidas *) und eme ungedruckte
Epitome^) ab. Die zweite grössere Biographie heisst nicht
minder unrechtmässig plutarchisch und ist betitelt kö[A zob ßiot>
xal xfjc TTO'.Yjaswc D[x,r|poo. Sie zerfällt in eine Darstellung der
homerischen Khetorik und Stilistik und eine Lobrede auf die
Polymathie Homers (c. 92 — 160), wobei die Mythen eine alle-
gorische Erklärung finden. Diese zweite Hälfte stammt aus
derselben stoischen Quelle, die den Allegorien des Herakht und
den Cv/TTj^iata des Porphyrios zu Grunde liegt.'"') Das Ganze
dürfte um das Jahr 200 abgefasst sein. ^) Die dritte Stelle
nimmt der auf Hes. E. 299 ff., wo ein Sieg des Hesiod be-
richtet wird, aufgebaute 'OjAr^poo xat 'Ho'.öSoo aytov ein.**) Der-
1) Man denke an die jonischen Schriften des Lucian, Arrianos nnd
Aretaios.
2) Beigk I S. 442 ff. setzt die Schrift vor Ol. 111; aber das früheste
sicherste Citat ist erst Steph. B. s. Nsov ztlfnz (nicht Tat. adv. Gr. 31). Joh^
Schmidt p. 218 schreibt sie ohne Wahrscheinlichkeit jenem Hermogenes zu.
3) Bergk führt die „Epigramme" auf Theagenes zurück; Joh. Schmidt
(p. 214), der den Biographen mit Recht von dem Verdacrhte der Fälschung
freispricht, weiss nichts damit anzufangen.
4) 11 1, 1101, 3 ff. Beruh. Vgl. Daub Jahrbb. 1881 S. 241.
5) Von Allatius de patria Homeri p. 122 citiert.
6) Schrader Porph. quaestt. Hom. p. 395 ff.
7) Diels doxographi p. 99. E. Schmidt de Plutarchi quae vulgo fertur
Homeri vita Porphyrio vindicanda, Halle 1850 nennt Porphyrios als Verfasser.
Dem widersprechen die chronologischen Angaben des Porphyrios bei Suidas
(s. "OiA-rjpo':. 'Haioooc), vgl. E. Mehl er Mnemos. 1852 p. 126 ff. und Diels
doxogr. p. 98. Bergk I S. 444 A. 8 denkt an die Schule des Longin. In
einem Ambrosianus steht vor Excerpten aus Pseudoplutarch : Toöxo H ;ia).auov
ävSpujv b nop'fopoYsvvYjTrjc ^uvaiJ-poiaac s^E^wxE (W ach smuth Rhein. Mus. 18,
;36 ff').
8) Benutzt von Tzetzes im Voiworte seiner Allegorien.
5(3 3. Kapitel.
unbekannte Verfasser schildert, nachdem er zuerst die Heimat
inid Genealogie beider Dichter besprochen, ihren Wettkampf in
Chalkis, der zu Gunsten des Hesiod ausschlägt, und schliesst
mit den letzten Schicksalen der Sänger. Aus der Erwähnung
des apotheosierten Hadrian (p. 314, 14) ergibt sich ein sicherer
terminus post quem für das merkwürdige Elaborat. Nietzsche ^),
der es in den Acta societatis philologorum Lipsiensium I p. 1 ff.
zuerst kritisch herausgab^), wollte es zu einem Excerpt aus
dem Museion des Rhetor Alkidamas ^) stempeln. Jedoch be-
weist das Citat bei Stobaios (flor. tit. 120) gar nichts und die
Anführung des Alkidamas (p. 323, 12) gerade dies, dass er
nur eine Quelle abgab. Zu den drei grösseren Schriften kommen
noch kleine Biographien vor der Chrestomathie des Proklos,
bei Suidas und Tzetzes*), endlich neun anonyme, meist von
geringem Umfang und Wert. ^) Wie viel altes Gut in diesen
Denkmälern steckt , können wir nicht erraten. Das Mittelalter
scheint noch manche andere Fabeln gelesen zu haben. ^)
Für eine wissenschaftliche Betrachtung kommen allein die
Nachrichten über Heimat und Zeit in Betracht ''); alles
andere ist reine Erfindung, da man dem Dichter bald götthchen
Ursprung, bald Abstammung von den berühmtesten alten
Sängern beilegte, die Ansprüche der verschiedenen Städte durch
erdichtete Wanderzüge abzufinden suchte und endlich Homer
rationalistisch mit Phemios, Tychios und ähnlichen nicht
heroischen Personen seiner Epen bekannt sein Hess. Viele
Städte und Länder wollten aus Ehrsucht den gefeierten Dichter
geboren haben. Wir werden aber zur Rettung aus dieser
Wirrsal weder mit Apion den Geist Homers von einem Medium
eitleren lassen, noch wie Hadrian ein Orakel befragen, noch
1) Rhein, Mus. 25, 628 ff, 28, 211 ff.; dagegen Leutsch Philol. 30,202 ff.
2) Jetzt steht die Schrift am bequemsten in GÖttling-Flachs Ausgabe des
Hesiod S. 367 ff.
3) O. Friedel diss. phil. Halen.s. I 179 ff.
4) Vgl. dazu das Prooemium seiner homerischen Allegorien.
6) Sechs stehen am Anfang von Westermanns Biograph! Graeci . ein«
siebente teilt St. Blackie Homer and the Hiad I 82 ff. mit.
6) Abulfaragins p. 40 (Fabricius-Harles, bibl. Graeca I 664j,
7) Alles Material ist von M. Sengebusch in den dissert;atione8 Homericae
duae, die vor Dindorfs Homerausgabe stehen, zusannuengetrageri. Vgl. zur
Sichtung Job. Schmidts oben erwähnte Di.ssertation.
Die lionierischen Epen. 57
auch ZU der geistreichen Auskunft Antipaters , die ganze Welt
sei die Heimat des Mäoiiiden, unsere Zuflucht nehmen. Mindert
sich doch dem mutig näher tretenden die Zahl der berechtigten
Orte bedeutend. Man scheide nur die gelehrten Kombinationen
aus , vor allem die Sitze gepriesener homerischer Helden , wie
Argos, Ithaka und Pylos, oder die Heimat der einst Homer
zugeschriebenen Epen, z. B. Kypros, um von reinen Paradoxa^),
wie dass Homer ein Kömer, Syrer oder Ägypter gewesen sei,
ganz zu schweigen. Kyme werden wir dem patriotischen Eifer
des Ephoros zu gute rechnen. Auch Athen hat nur insofern,
als von hier aus Kolonisten nach Smyrna zogen , ein Anrecht
auf Homer; freilich behauptete kein geringerer als Aristarch
selbst, dass Homer ein Athener gewesen sei, aber nicht einmal
die athenischen Kedner, die ihr Vaterland mit allen Ehren
überhäuften , wagten dessen Ruhmeskranze dieses Blatt einzu-
fügen. Kolophon knüpfte sein Anrecht an den Margites , der
in seinen Mauern spielte. Am entschiedensten nahmen aber
Ghios , Smyrna und los den Ruhm in Anspruch. Letzteres
Inselchen barg das Grab Homers ^) und die leten ehrten ihn
durch jährliche Opfer und Weihung eines Monats^); aber Ari-
stoteles gestand ihnen blos zu , dass die Mutter des Dichters
aus los stamme. "*) In Smyrna war ein grosses Heiligtum mit
Statue und Säulenhallen erbaut und in einer dortigen Grotte
sollte er gesessen sein. Bereits Stesimbrotos nannte diese Stadt
Homers Geburtsort. Indes war Smyrna einst eine Stadt mit
äolischer Bevölkerung, die wahrscheinlich im achten Jahr-
hundert dem Anstürme der Jonier weichen musste. ") Viel
bedeutungsvoller als alle Heiligtümer und Opfer , die nur für
die Ehrsucht und Leistungsfähigkeit einer Bürgerschaft sprechen,
ist das chiische Sängergeschlecht der Homeriden, dessen bereits
Hellanikos gedenkt^); da in Smyrna derai'tige Erinnerungen und
1) Parodiert von Lucian. ver. lii.st. 2, 20.
2) Der Holländer Pasch van Krienen wollte es 1771 aufgefunden haben
(Welcker kleine Schriften 3, 284 ff)-
3) '^0|AY|pEwv Ross vermischte Aufsätze 2, 684.
4) Ps. Plut. p. 21. 22.
5) Um 700 war Smyrna bereits jonisch ; O. Müller nahm ohne genügende
Beweise an , dass die Jonier es schon vor den Äoliern besessen hätten , vgl.
dagegen Roh de Rhein. Mus. 36, 391 f.
6) s. u.
5g 3. Kapitel.
andere Anhaltspunkte (wie Beteiligung an der jüngeren Epik)
für die Annahme einer Sängerschule fehlen und überdies die
Alten einstimmig Ilias und Odyssee in Chios gedichtet werden
lassen *). so führt alles darauf hin , dass dieses liebliche Eiland
Homer oder doch der homerischen Poesie das Leben gab.
Sicherlich lebten die homerischen Sänger in Jonien; damit
stimmen die gelegenthchen Hinweise auf bestimmte Lokale,
z. B. die Erwähnung der asiatischen Ebene, des Kaystros mit
den Schaaren der Singschwäne, des Niobebildes am Sipylos,
des Berges Tmolos oder die Angabe, dass der Zephyros mit
Boreas von Thrakien her weht. ^) Jonisch dürfte auch die
Hervorhebung der Wagenkämpfe sein, weil gerade die weiten
fruchtbaren Gefilde an den lydischen Strömen zur Rossezucht
einluden.^) Die drei jonischen Stammesgötter Zeus, Athene
und Apollo werden nicht blos bei der Eidesleistung augerufen,
sondern auch überhaupt mit besonderer Ehrfurcht behandelt,
während die übrigen Olympier die etwas frivole Leichtfertigkeit
der Jonier empfinden müssen. Aus diesen und anderen Zügen'*)
gewann Plato^) den Eindruck, den er in die Worte kleidet:
,, Homer schildert nach jeder Hinsicht weniger das lakonische
als vielmehr das jonische Leben." ^)
Gelangen wir also zu einer verhältnismässig sicheren Be^H
Stimmung des Ortes, so ist derselbe Erfolg bezüglich der Zei^"
nicht zu erzielen. Hier haben wir es einzig und allein mit
Kombinationen der gelehrten Kreise zu thun. Daher ist es ei
1) Mau zeigt noch heute beim alten Bolisos an der Westküste der Insel
die wundervoll gelegene Schule Homers; vgl. Ephoros bei Steph. B. v. IiiuXia6;äH|l
llajtaC'fjf: ToO 'OjXYjpou t^ TiExpa im Ilapvaaaoc 4, 640 ff.; v. Prokesch«^"
Osten Denkw. aus dem Orient 1, 82 ff.
2) 1 4. ^^ 229.
3) Aristot, polit. 6 (4), 3. Mimn. fr. 14, 3. Niese Entw. der hom.
Poesie S. 120.
4) Die Volksversammlung sitzt (^ 16 nach jonischem Brauche; T 403 ff'.
(jedoch wahrscheinlich interpoliert) beziehen sich auf die Panionia; die
Phratrien (B 362) sind ebenfalls jonisch.
6) Legg. 3, 680 d.
6) Zu den zahlreichen ;iapäoo4a 'Oft-rjf-txä gehört, dass M. Klee mann
vocabula Homerica in Graecorum dialectis et in eotidiano semione servata,
Colmar 1876 und, ohne von ihm zu wiasen, Fick die Entstehung des hom.
Dialektes in Bezzenbergers Beiträgen 1882 vS. 139 ff. behaupten, die homerischen
■Gedichte seien in äolischer Mundart abgefasst gewesen.
4
Die houurischen Epen. 59'
arger Fehler, wenn Sengebusch alle chronologischen Angaben
für alte Tradition nahm und arglos zu einer angeblichen Ge-
schichte der homerischen Dichtung verwertete. ^) Die Alten
fixierten Homers Ijebenszeit bald im Verhältnis zum trojanischen
Kriege, bald zur jonischen Wanderung oder sie setzten ihn,
weil Ijykurg seine Dichtungen nach Sparta gebracht haben
sollte, dem grossen Gesetzgeber gleichzeitig; andere Hessen sich
wieder von anderen Gedanken leiten. Aus Pietätsrücksichten
erwähne ich Herodots Annahme, wonach (2, 53) Homer und
Hesiod vierhundert Jahre vor ihm gelebt hätten ; die übrigen
Ansätze, die in ihren Extremen um fast ein halbes Jahrtausend
abweichen, sämmtlich anzuführen, wirft keinen Gewinn ab.
Eben so w^enig kann ich mich entschliessen , auf die Kombi-
nationen der Neueren einzugehen, so erheiternde Episoden auch
eine Musterung derselben ergeben würde. In dieser Hinsicht
empfehle ich die mit beneidenswerter Siegesgewissheit vorge-
tragenen Ansichten von A. Krichenbauer -) und Gladstone, dessen
Buch^), weil er als Staatsmann bessere Erfolge aufzuweisen hat,
auch einen Uebersetzer fand. *) Sämmtliche Anhaltspunkte,
welche man aufspürte , sind hinfällig : Die Griechen nannten
gleich den Hebräern^) die phönikischen Seeleute nach Sidons
Rückgange ebenso gut Sidonier wie vorher. Der Ruhm von
dem (ilanze des hundertthorigen Thebens^) überlebte ihn selbst,
wie man auch, als Krösus schon längst tot war, noch von
seinem ungeheueren Reichtunie hörte, und der fabelhafte
Wohnsitz am Ende der Erde, wo die Kimmerier hausen, ver-
1) Jahrbb. 67, 241 ff. 362 ff'. 609 ff., daun in der diss. II., vgl. Braiidis
de temporum Graec. autiquiss. rationibus, Bonn 1857 S. 1 ff., A. v. Gut-
schmid Jahrbb. 83, 20 ff. Düntzer die hom. Fragen, Lpz. 1874. Senge-
buschs Hypothesen, die zu viel Beilall fanden, zerstörte E. Rohde in einem
nmstergiltigen Aufsatze (Rhein. Mus. 36, 380 ff. 524 ff.) für immer.
2) Ztsch. f. öst. Gymn. 1873 S. 641 ff'.
3) Homeric synchronism, London 1876 = Homer und sein Zeitalter,
Jena 1877.
4) Nach Gladstone fiel Troja zwischen 1316 und 1226; Homer lebte
nicht viel mehr als 50 Jahre später. Er lernte von dem ägyptischen Epikei
Pentaur! Achilleus entspricht Sesostris !
5) Vgl. Jesaias 23, 24. Deut. 3, 9. Ezechiel 32, 30.
6) Unt«r der 22. Dynastie, 934—898 v. Chr. nach A. v. Gutschmid
Beitr. zur Gesch. des alten Orients S. 133.
jQQ 3. Kapitel.
bietet eher die Erinnerung an ilire verhängnisvollen Züge. ^)
Den Gedichten selbst folgend können wir uns die Zeit etwa
so vorstellen : Wenigstens als die Ilias entstand, war die Königs-
li lacht ungebrochen und noch nicht durch Parteiungen unter-
graben, obgleich bereits einzelne (ich erinnere an Thersites)
«ich gegen sie aufzulehnen suchten. Auch die verderblichen
Folgen der Vielherrschaft (ß 204) hatten die Griechen schon
-erprobt. In der Odyssee erscheint die aristokratische Fronde
ausgebildet ; aber noch immer steht der Sänger auf Seite des
Herrscherhauses, ein Beweis, dass er sich im Saale des Königs-
palastes am sichersten fühlte. Ferner entspringt der lebhaftere
Betrieb des epischen Gesanges immer dem behaglichen Gefühle,
das der aus blutigen Kämpfen entsprungene Friede oder das
glückliche Ende grossartiger Unternehmungen gewähren. Seit
■dem ersten Napoleon ^) zweifelt nnemand daran, dass der Dichter
der Ilias alle Schrecken des Krieges geschaut und jedenfalls
«elbst gegen die Barbaren ins Feld gezogen sei , weil er die
Wunden vortretflich zu schildern versteht. Wir kommen also
auf die Zeit, die zwisclien der Konsolidierung der jonischen
Kolonien und dem allmäligen Untergang des Königtums, also
etwa zwischen 900 und 700 liegt. Dieser Spielraum könnte
noch etwas verringert werden, wenn die Ansetzung des Arktinos
auf die erste Dekade der Olympiaden über allen Zweifel erhaben
wäre; denn seine Äthiopis setzt die abgeschlossene Ilias voraus.
Von den Sagen über Homers Lebensschicksale verdienen
nur zwei durch ihr Alter Aufmerksamkeit: Herakleitos ^) erzählt
bereits, dass der Dichter aus Gram, weil er ein Rätsel nicht
lösen konnte, starb ; dagegen erschloss Thukydides (3, 104) die
Blindheit Homers nur aus dem delischen Hymnus, der ihm
homerisch dünkte.
Den Schluss dieses Abschnittes mögen einige Worte über
die bildlichen Darstellungen Homers machen. Begreiflicher
Weise regte sich bald der Wunsch, den geliebten Sänger auch
1) Was Bergk fl 468 ff.) neues bringt, hat noch weniger Gewicht.
2) Uebersicht der Kriege Cäsars, Stuttgart 1836 S. 218.
8) Bei Hippel, adv. haer. 9, 9; das Epigramm findet .sich auch auf
-einem pompejanischen Wandgemälde (Dilthey epigr. Gr. Pomp. rep. Zürich
1876 p. 11 tl. und Ann. d. 1. 1876 S. 300 ff).
Die homerischeu Epen. ()1
mit leiblichen Augen zu schauen^) und den Heroenkult einem
Bilde darzubringen. Daher finden wir sein angebliches Porträt
auf Münzen von Chios^), Smyrna^), los und anderen klein-
asiatischen Städten; auch liebten es seine Verehrer auf Gemmen
zu tragen.^) Smyrna verehrte ihn in einem alten Schnitz-
bilde ^) und der König Ptolemäus Philopator ^) errichtete ihm
eine Statue. Wir besitzen mehrere Idealköpfe, einen farnesischen,
kapitolinischen und einen in Sanssouci ^), ferner das bekannte
Relief des Archelaos aus dem Anfange der Kaiserzeit, die soge-
nannte Apotheose Homers^) und ein herculaneisches Silber-
gefäss mit ähnlicher Darstellung. ^)
Während die Alten demnach Homers leibhaftige Existenz
als unzweifelhaft betrachteten , ging die Skepsis der neueren
Zeit so weit, die Existenz eines Homer überhaupt zu leugnen.
Zunächst sahen die meisten in dem Namen "Oiatj^o? ein
Appellativ, wodurch Homer eine blosse Personifikation schien.
Seit A. W. Schlegel^'') auf Vyäsa, den ,, Sammler", der in der
ältesten Literaturgeschichte Indiens eine grosse Rolle spielt ^^),
hinwies, bedeutet Homer für Unitarier den „Verfasser" und für
Anhänger der Liedertheorie den ,, Zusammenfüger". ^^) Aus
1) Pliu. 35, 2. Das wahrscheinlich älteste Bild ist uns auf einer ietischen
Münze des vierten Jahrhunderts enthalten (Friedländer das kgl. Münz-
kabinet Nr. 166 S. 78*).
2) Poll. 9, 6.
3) Mionnet descr. des med. in 291 ff. suppl. VI 303 ff. u. ö.
4) z. B. Lippert dactyl. II p. 125.
5) Strabo 14, 646.
6) Ael. V. h. 13, 22, vgl. Luc. Dem. enc. 2.
7) Matz Katalog der röm. Bildwerke Nr. 1754 I 487 weist auf eine
Herme hin, die wahrscheinlich Homer darstellt und einen ungewöhnlichen
Typus zeigt.
8) Herausg. v. E. Braun, Leipzig 1849, vgl. Kortegarn de tabula
Archelai, Berlin 1862.
9) Millingen anc. uned. mon. 2, 13. Miliin gall. myth. 149. O ver-
beck Pompeji II* Fig. 330 b.
10) Indische Bibliothek II 221 ; schon Ilgeu (Hymn. Hora. praef. p. XXIII)
dachte an ö[j.oü apcu.
11) Aber hier ist die Etymologie unzweifelhaft. Dann sieht ihn auch
die indische Sage in der Hauptsache als blossen Sammler an ; überdies be-
richtete sie von mehreren Vyäsas, so dass die appellative Eigenschaft des
Namens in keiner Hinsicht zweifelhaft ist.
12) Welcker ep. Cyklus I 125 ff., M üllen ho f f zur Gesch. der Nibelungen.
,Q2 ^- Kapitel.
• den resultatlosen Streitigkeiten geht mit Sicherheit nur hervor,
• dass Homeros keineswegs wie die Heroen der ältesten Kunst-
geschichte einen rein appellativen, also allegorischen Namen
trägt. Ebenso wenig kann Homer als Mensch gewordener Gott
gleich Orpheus betrachtet werden. Wenn endlich die unkritische
Volksmeinung viele Gedichte, die nach seinem Muster ent-
. standen, ihm selbst beilegt^), so könnte einer die Existenz des
Plautus aus demselben Grunde leugnen. Erst die von den
.Sophisten eingeführte Interpretation der Literaturdenkmäler und
■ der Beginn der Literaturgeschichte öffnete die Augen für die
grossen Verschiedenheiten und verschaffte genaueren Traditionen
-über Verfasser und Heimat jener Dichtungen Geltung. So viel
wir wissen, sprach zuerst Herodot dem chiischen Sänger
Dichtungen ab; es waren die Epigonen und die Kyprien (2, 116).
Aber für die jüngeren Attiker und Aristoteles sind blos Ilias,
Odyssee und der Margites echte Werke des Homer. Solche
äussere Gründe reichen also nicht hin, um den Dichter in das
Reich der Fabel zu verweisen ; darüber müssen die Gedichte
selbst Aufschluss geben. Es fragt sich jedoch hier nicht, ob
ein Homer gelebt habe; die homerische Frage besteht
vielmehr darin : Sind Ihas und Odyssee gänzlich oder dem
Kerne nach die Werke von Dichterindividuen oder bestehen
sie aus kleineren selbständigen Gedichten, die erst später zu
einer Einheit zusammentraten?
Die Geschichte der homerischen Frage '^) bildet nicht einei
festgeschlossene Kette; denn gelehrtes Studium, philosophische
^Spekulation und ästhetische Betrachtung gehen leider ziemHch
Not S. 71, Düntzer honi. Fragen (Lpz. 1874); Holtzmann erklärt Homer
als Samäsa. G. Curtins de nomine Horaeri, ind. schol. Kil. hib. 1856/6,
mit coroU. 1856/7 gibt den Homeriden 5|j.Yjpo'. „Gesellen" zum ursprünglichen
Namen; daraus soll erst ein Ahnherr abstrahiert worden sein.
1) Soidas: ava«pEj>5Tct'. 51 sie 'Ji'ixöv xal olKKu x'.va TCOi-fjiJLata • 'A|J.aCovi»x
(= Ai8-.0T:i':), M/.'.a; {ji'.xpa, Nöotoi, 'Kitu'.)^Xi5ec, 'Hö-c£i:av.TOj; (vgl. Bernhardys
Komm.) T|tot '.«nßoi, Mooßatpayojxayia, 'Apayvojxayia, repavoixa/ia, Kepa^iel':,
'AfKptapäo'j j^eXasK; (r= BYjßrxt^, schon nach Kallinos, vgl. Welcker ep.
Cyklns 1, 198 f.), llatYvta (=: Mr/.^j-( izr^i, AT?), Oly!/Ji.\irjLq 5/.W3'.!:, 'KTC'.d'aXei|i'.a,
Küx/.or (!), Tiivot, KoTipta (auch nach Pindar).
2) R. Volk mann Geschichte und Kritik der Wolf sehen Prolegoraena
2U Homer, Lpg. 1874, Nachträge zur G. u. K. d. W. Fr., .lauer 1878; L.
Friedländer die homerische Kritik von Wolf bis Grote, Berlin 1863.
Die homerischen Epen. 63
unvermittelt neben einander her. Daher wurde nirgends so
viel gegen Poesie und Geschmack gesündigt als bei den Ver-
suchen, die homerische Frage zu lösen. Wer eine Anzahl
davon durchgearbeitet hat, dem ward das nil admirari als vor-
züglichste Errungenschaft. ^)
Während im Altertum Niemand an der Existenz Homers
und der im Grossen und Ganzen unversehrten Erhaltung seiner
Gedichte zweifelte, stiegen zuerst Casaubonus ^) und Perizonius^)
wegen einer Stelle des Josephus^) Zweifel an der ursprünglichen
Niederschreibung auf. ßentley wurde durch die unten zu be-
sprechenden Aeusserungen der Alten auf die Vermutung geführt,
Homer habe blos einzelne Gesänge gedichtet und Peisistratos
sie zusammengestellt. Französische Schöngeister und der ita-
lienische Philosoph Vico ^) läugneten dann überhaupt einen
Dichter Homer, jedoch nur von dem damals modischen Skep-
ticismus hingerissen. In die Bahnen der philologischen Forschung
lenkte wieder die Aufsehen erregende Schrift von Wood, on the
original genius of Homer ^), die in Voss' Uebersetzung den
Zweifel an der schriftlichen Abfassung nach Deutschland ver-
breitete. Hier fand Wood einen günstigen Boden in der unge-
lehrten Welt vor, da durch Ossian und die hervorragende
englische Balladensammlung Percys die Vorliebe für Volks-
dichtung Wurzeln geschlagen hatte. Herder betrachtete schon
am Anfange der siebziger Jahre Homer unter diesem Gesichts-
punkte^) und Zoega machte 1788 in einer (erst 1817 unter
1) Lehrs sorgte durch die ergötzliche Rede „De ironia quatenus in historia
studioruni Homericorum eernitur" (Königsberg 1879) dafür, dass man nicht
ob der Vergeudung so vieler Kräfte in eine trübe Stimmung versinke. In
den wunderlichen Hypothesen hat das Heimatland des Spleen den Vorrang ;
Paley behauptet in verschiedenen Schriften (z. B. Journal of philol. 6, 114 ff.),
die homerischen Gedichte seien erst in der Zeit des pelopounesischen Krieges,
vielleicht von Antimachos, mit Benützung älterer Epen zusammengestellt. Die
Philologen englischer Zunge nehmen dieses Problem höchst ernsthaft und der
bekannte A.s.syriologe Sayce trat Paley bei; in partibus infidelium hängt nur
Oberdick der neuen Lehre an.
2) Ad Diog. Laert. 9, 12.
S) Animadv. histor. p. 209 ff. ed. 1771.
4) Contra Apionem 1, 2.
')) Della discoverta del vero Homero in den Opere V 422 ff. (Milano ! 854).
Ü) p. 271 ff", suppl. p. 57 ff. 70.
7) Volkmann S. 79 ff.
ß4 3. Kiipitel.
seinen Abhandlungen gedruckten) Schrift bereits auf die Wider-
sprüche aufmerksam. Als nun F. A. Wolf 1795 mit seinen
Prolegomena ad Homerum ^) hervortrat, war seine Behauptung,
dass die homerischen Gedichte erst von Peisistratos aufgezeichnet
worden seien un<i vorher noch nicht zwei Epen gebildet hätten,
längst nicht mehr neu. Wenn trotzdem die homerische Frage
von den Prolegomena an datiert wird, so liegt dies daran, dass in
seiner Person zuerst ein angesehener Gelehrter mit den Er-
gebnissen langjähriger Studien ausgerüstet scharfsinnig ver-
teidigte, was seine Fachgenossen bisher noch nicht in ernste
Erwägung gezogen hatten; er führte somit einerseits die
homerischen Fragen in die Fachwissenschaft ein und verlieh
den schon ziemlich allgemein geläufigen Resultaten anderer-
seits in den Augen der Schriftsteller durch die gelehrte Unter-
suchung den Schein der Unerschütterlichkeit. In den Ideen
selbst erhob sich' Wolf nicht über seine Zeit, obgleich er mit
seinen Schülern die Gedanken der Prolegomena als etwas neues
hinzustellen liebte. Die nächsten vierzig Jahre bezeichnen für
die homerische Frage keinen Fortschritt; kritiklose Hingebung,
einerseits unverständige andererseits unwürdige Polemik und
wenig erbaulicher Gesinnungswechsel charakterisieren sie. Wolf
trug vielleicht am meisten zu diesen verworrenen Zuständen
bei, es war ihm nicht gegeben, zu positiven Resultaten fortzu-
schreiten und in mühsamer Arbeit seine Theorie weiter zu
führen und zu ergänzen. Er bearbeitete nur die beiden Fragen :
Wann wurden die homerischen Gedichte niedergeschrieben und
welche Stellung haben wir dem athenischen Tyrannen dabei
anzuweisen? Obgleich sie jetzt die ihnen früher beigelegte
Wichtigkeit verloren haben, müssen wir doch des Missbrauches
wegen auf sie eingehen.
Zu Homers Zeit war die Schrift gewiss den Griechen
unbekannt, nicht weil Homer die Schrift nicht erwähnt; thut
dies doch auch Virgil nicht. Hingegen fehlt sie, wo jeder
eine Hindeutung darauf erwartet, nämlich in der bekannten
Stelle II 170 ff. 2); in Z 169 aber wird sie so beschrieben, dass
1) Mit unbedeuteuclen Noten Bekkers mehrinals neu gedruckt, zuletzt
Berlin 1876.
2) Die homerischen Helden gebrauchten , wie die (.iernianen und noch
der von Herod. 6, 8ü erwähnte Mann, Hausmarken.
n
Die homerischen Epen. 65
jeder sieht, der Dichter habe nur durch das (verlieht von einem
orientalischen Geheimmittel, das zunächst wegen seiner Ge-
fährlichkeit auffiel^), erfahren. Fragt man nach den ältesten
Schriftdenkmälern Griechenlands, so dürfen wir von Sakristei-
reliquien, wie den thebanischen Dreifüssen und dem Diskos
des Iphitos, ebenso von den später zurückergänzten Listen der
Olympioniken und Staatsbehörden billig schweigen. Das älteste
echte Denkmal, das den Griechen vorlag, waren die Inschriften
des Kypseloskastens, vielleicht bald nach 700 angefertigt. Daran
schliessen sich die Beischriften der sogenannten korinthischen
Vasen. Längere Schriftstücke kommen in den Gesetzen des
Zaleukos (um 630 bei den epizephyrischen Lokrern), Charondas
(etwas später in den jonischen Städten Siciliens), Drakon (um
520 in Athen) und Solon (494) vor; freilich darf man zweifeln,
ob jene ältesten Gesetse wirklich niedergeschrieben oder gleich
denen des Lykurg mündlich gegeben waren. ^) Dort diente die
Schrift dem Schmucke oder den Zwecken des Staates; für
Privataufzeichnungen verwendet erscheint sie zuerst — wenig-
stens chronologisch bestimmbar — am Koloss von Abusimbel
(zwischen 594 und 589) ^), doch sind die Inschriften von Thera
wahrscheinlich älter. ^) Aber selbst wenn wir die Möglichkeit
nicht leugnen, dass die homerischen Epen etwa um 700, aber
jedenfalls erst ziemlich lange nach ihrer Abfassung niederge-
schrieben wurden , hat es doch mit dem Epos eine besondere
Bewandnis. Das Heldengedicht will gehört, das Lehrgedicht
eher gelesen werden. Zeichnet man jenes auf, so bedeutet dies
nichts anderes als dass man seinen Untergang fürchtet; in
Deutschland verdrängte das Christentum die alten Heldenlieder,
1) Lope de Vega stellt in dem Lustspiele 'El nuevo mundo' lustig dar,
wie ein Brief den Indianern als furchtbarer Zauber erscheint.
2) Von Zaleukos war ersteres freilich die allgemeine Ansicht, doch be-
sassen die Lokrer später jedenfalls die Gesetze nicht mehr, weil Timaios ihre
Existenz leugnete (Cic. ad Att. 6, 1, 18. leg. 2, 6, 15).
3) Ol. 46, 3 — 47, 4 regierte Psammetich II., vgl. Wiedemann Ehein.
Mus. 35, 364 flf. Kirchhoff Studien zur Geschichte des griech. Alph. ^ 34 fif.
setzt die Söldnerinschriften zwischen Ol. 40 und 47.
4) üeber die Steinmetzzeichen der sogenannten servianischen Mauer
Jordan Topogr, der Stadt Rom I 1, 259 ff.; krit. Beiträge zur Gesch. der
lat. Sprache S. 153 f. 358 f.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 5
QQ 3. Kapitel.
aJs sie Karl der Grosse aufzeichnen Hess; in Griechenland be-
anspruchten wahrscheinlich Lyrik, Lehrgedicht und die Anfänge
der Prosa den grösseren Teil des Interesses bei dem Publikum.
Dagegen mögen die Rhapsoden selbst zur Stütze des Gedächt-
nisses, obgleich bei Mangel an Schreibmaterial dasselbe eine
Ulis fast unglaubliche Tragkraft erlangt^), schon verhältnismässig
früh die Gesänge ganz oder teilweise aufgezeichnet haben.
Da aber vor der Aufschliessung Ägyptens ein bequemes Schreib-
material fehlte, ist an eine grössere Zahl von Handschriften
nicht zu denken. ^)
Mehrere Schriftsteller rühmen nun den athenischen
Tyrannen Peisistratos wegen dieses Verdienstes und noch mehr !
sie behaupten zugleich, er habe die homerischen Gedichte, die
früher einzeln gesungen wurden , erst sammeln lassen. ^) Alle
Neueren, welche ihre Einheit leugneten, waren über diese
urkundliche Bestätigung ihrer Hypothesen so erfreut, dass sie
die Festigkeit der Beweismittel zu untersuchen vergassen. Das
älteste Zeugnis bietet Cicero (de or. 3, 34) : Pisistrati qui primus
Homeri libros confusos antea sie disposuisse dicitur'*) ut nunc
habemus. Vorher weiss niemand irgend etwas davon, wie die
alten Schollen ausdrücklich beweisen; denn Aristarch bürdet
zwar die Schuld an manchen Interpolationen den SiaaxeoaoTat
auf, sucht jedoch bei Versen, welche nach den Neueren unter
Peisistratos in den Text gekommen sein sollen , immer nach
anderen Gründen der Athetese. ^) Dann hätten auch die Attiker
den Anteil ihrer Stadt gewiss bedeutend hervorgehoben; im
Gegenteil sagt aber der Sokratiker, welcher den Hipparchos
verfasste, erst dieser Sohn des Peisistratos habe die homerischen
1) W. Müller hom. Vorschule S. 48.
2) Auch iu der attischen Periode lerute das Publikum die Epeu vorzugs-
weise durch die Vorträge der Rhapsoden kennen (vgl. Arist. poet. 26 Auf.);
schriftliche Exemplare besassen in der Regel nur Rhapsoden und Lehrer.
:}) Nitzsch bist. Hom. II fasc. 4 partic. 2; Fr. Ritschi die alex.
Bibliotheken unter den ersten Ptoleniäem und die Sammlung der hom. Ged.
diiich P., Breslau 1838. Bonn M840 = Opusc. 1, 1 — 112, dazu S. 238 ff.;
Diintzer hom. Abh. S. 1—27; Nutzhorn Entstehung der hom. Gesänge
1889 S. 16—66.
4) Wahrscheinlich dachte er an seinen Zeitgenossen Asklepiades vou
Myrleo, dessen grosses Werk ntpl YpoifijJiaT'.xdiv Suidas gerade bei Orpheus von
Kroton citiert; vgl, B. ten Brink Mnemos. 3 (1854) S. 261 ff.
6) Lehrs de Arist. studiis Iloraericis ''447 ff. ^442 ff.
Die homerischen Epen. 67
Oesänge nach Attika gebracht (228 b). Aber rasch bildete sich
«ine Peisistratoslegende von gelehrtem Anstrich; ein anonymer
Grammatiker, der über die Komödie schrieb^), erzählt bereits
genauer: oi Ss Tsaaapai tioi tyjv sttI Hsioigz pAzoo Stöpd-wotv
avaipspouaiv 'Op'f si KpoTWVidn;] , Z(o;tüp(p "^HpaxXswriQ , 'Ovo[JLaxptT({)
'A^Yjvai(}) %al xaYSiclxoYXoXco. Der vierte Name sei anderen zur
Enträtselung überlassen ; die beiden ersteren sind wahrscheinlich
pythagoreische Orphiker, die nicht vor dem perikleischen Zeit-
alter in Athen gelebt haben können. ^) Onomakritos von
Athen ^) dagegen erscheint nur mit orphischen und anderen
frommen Schriften beschäftigt und dies so eifrig, dass ihm für
Homer keine Zeit übrig bleiben konnte. Zudem fehlen orphische
Elemente bei Homer ^) und, wie wir später sehen werden, nicht
minder bei Hesiod. Für viele liegt hingegen ein unverwerf-
liclier Beweis in den sogenannten attischen Interpolationen,
indem sie von der Ansicht auszugehen scheinen, alle und jede
Erwähnung von Athen sei vor dem Tyrannen verpönt ge-
wesen; die uns bekannten Verse ^) sind so unbedeutend und
nichtssagend , dass sie ebenso gut oder fast wahrscheinlicher
wohlwollenden Joniern, denen ja Athen eng verbunden war,
ihre Entstehung verdanken. Wenn späte Schriftsteller das Gegen-
teil behaupten, so stützen sie sich dabei nur auf Vermutungen,
da den Alten ein peisistrateisches Exemplar nicht vorlag. Somit
fehlt der Kommission von drei oder vier Männern eine äussere
1) Bergk Aristoph. I. praef. p. XXXVIII § 22, ausgeschrieben von
Tzetzes in seinem Aristophaneskommentare ; seine Erzählung lernte man 1830
in lateinischer Uebersetzung durch das Scholion Plautinum kennen. Jener
Anonymus weiss schon von der Fabel, die den 70 Dolmetschern parallel lief;
70 Grammatiker, geführt von Aristarch und Zenodot, haben das Geschäft der
Ordnung besorgt. Schol. Dion. Thr. p. 77 f. spinnt dies zu einem hübschen
Komane aus, worin die Interpolationen als Folge von auri sacra fames
erscheinen.
2j Zeller Philosophie der Griechen I'^ 240 If.
3) Ritschi opuscula I 160 ff.
4^ X 604 vermittelt zwischen der homerischen und der dorischen Sage.
5) A 265 (echt nach Paus. 10, 29, 10). B 547 ft". 558. T 144 (schon
Kyklikern bekannt). A 327 f. N 685. y 307. fj 80 f. X 321 ff. 604 ff. 631.
S 551b. Faust hom. Studien, Strassburg 1882 will auch die Einführung
des Peisistratos in der Telemachie dem Onomakritos und seinen Genossen
beilegen. Den verständigen Kern der albernen Erzählung, dass Solon durch
Einschiebung von ß 558 die Megarer übervorteilt habe , gibt Aristoteles
(rhet. 1, 15); 'A^Y]vatot '^0\i.r^^(ü [j,äpxup'. E)(p7]a'zvxo uEpl SaXa(j.Ivo?.
5-*
ßg 3. Kapitel.
Beglaubigung vollständig, wenn wir nicht den späteren Gram-
matikern übernatürliche Intuition eines verhältnismässig so
frühen Ereignisses zutrauen wollen. ^) Wir können auch noch
ziemHch sicher angeben, wie die Legende entstand. Da Peisi-
etratos sich beliebt zu machen und den Glanz seines Hofes zu
heben suchte, förderte er Literatur und Kunst eifrig; er
schmückte die Stadt mit grossartigen Bauten ; auf seine Ein-
ladung kamen berühmte Dichter nach Athen. Die grossen
Nationalfeste erweiterte der kunstsinnige Regent durch musische
Schauspiele ; unter seiner Tyrannis begannen an den Dionysien
Tragödien aufgeführt zu werden und er war es wohl auch, der
an den Panathenäen den Vortrag der ganzen llias und Odyssee
ins Werk setzte. ^) Früher hatten sich die Athener und wahr-
scheinlich in der Regel alle übrigen Griechen mit ausgewählten
Stücken begnügt. Ausserdem soll Peisistratos auch eine BibHo-
thek^), worin die homerischen Gesänge natürlich einen Ehren-
platz^) einnahmen, angelegt haben. Indem man beide Dinge
verband und übertrieb^), entsprang die in der Kaiserzeit gang
und gäbe gewordene Sage. ^) Nur eine kleine Athen feindliche
1) Niemand teilt mit, wer unter Lykurg den Text der Tragiker fest-
stellte, obgleich diese Revision in eine — literarhistorisch betrachtet — sehr
helle Zeit fällt.
2) Dies steht im Zusammenhang mit dem Vortrage 14 oicoßoX-^? oder
üTiöX-fj'^scüi; (G, Hermann opusc. V 300 ft". VII 65 ff. Nitzsch ind. 1. aest.
Kil. 1837, Böckh kl. Sehr. 4, 385 ff. u. A.); vgl. (mo^lr^iriy A 292 und
üt^ßä/.Xstv T 80. Dieuchidas bei Diog. L. 1, 57 übertrug die Maasregel auf
Solon als Gesetzgeber xax' l^o/'H^i ^^^^ hatte dieser wichtigeres zu thun.
Ps. Plato (Hipparch. 228 b, daraus Ael. v. h. 8, 2) teilt auch diese Ehre
seinem allerdings sehr gebildeten Helden zu; man denke nur an die iwetischeu
Grenzsteine, die er setzte. Indes fügt sich die Anordnung bei seinem Vater
besser zu den anderen Nachrichten. Hipparch scheint sich ausserdem, wenn
wir uns an Simonides, Anakreon und LasoS erinnern, für Lyrik am meisten
interessiert zu haben. Lykurg (in Leoer. 102) nennt einfach die Vorfahren.
3) Gell. 7, 17, l; Athen. 1, 3a. Tertull. apol. 18.
4) Man vergesse nicht, dass die Peisistratiden ihr Geschlecht auf Nestor
zurückführten.
5) Auch die Missgunst der Megarer wirkte mit (Plut. Thes. 20).
6) .\el. v. h. 13, 14; Paus. 7, 26, 13; Schol. Harl. \ 604; Schol. Vict.
n. Eust. zn K u. A. Auch das bekannte Epigramm (Bekker An. 768 und in
den meisten vitae), das zu Athen auf einer Statue des Tyrannen stand, niuss
aus einer Zeit, wo das republikanische Gefühl und der Tyranuenhass ganz
erstorben waren, stammen.
%
Die homerischen Epen. 69
Partei verteidigte die Ansprüche des spartanischen Gesetzgebers.
Nachdem nämlich Ephoros den Lykurg mit dem berühmten
Dichter auf Chios liatte zusammenkommen lassen^), dichteten
einige^), Lykurg habe die homerischen Gedichte bei den Nach-
kommen des samischen Rhapsoden Kreophylos kennen gelernt ^)
und eine Abschrift nach Sparta gebracht. Diese schlecht be-
zeugte Nachricht entspringt daraus, dass die Spartaner schon
frühe in ihren musischen Agonen Homer vortragen hörten.
Diese äusseren Zeugnisse sprechen somit durchaus nicht
gegen eine ursprüngliche Einheit der Gedichte, wenn gleich es
noch lange dauern wird, bis jene unhistorische Erzählung keinen
Glauben mehr findet. Die Vereinzelung der Gesänge vor Peisi-
stratos ist aus den unzuverlässigen vagen Nachrichten nicht zu
beweisen; aber auch dass llias und Odyssee vielleicht Jahr-
hunderte hindurch auf mündliche Fortpflanzung angewiesen
waren, hat nichts auffälliges, da wir ähnliche Beweise von Ge-
dächtnisstärke bei anderen Völkern finden.^) Von dieser Seite
haben die Verteidiger der Einheit keine gefährlichen Angrifife
zu erwarten; ihre Gegner müssen wie sie ihre Waffen den
Dichtungen selbst entlehnen.
Da die kunstvolle Komposition der Odyssee eher als die
der llias einleuchtet, müssen bei einer Uebersicht über die
mannigfaltigen Hypothesen beide strenge geschieden werden.
Wir behandeln zunächst das ältere Gedicht von Achilleus'
Zorne, indem wir die verwirrende Fülle der Literatur in drei
grosse Gruppen gliedern. Die Uni tarier^) halten an der
Einheit der llias mit Zähigkeit fest und geben nur wenige
Stücke als Interpolationen preis. Sie verdienen im allgemeinen
die Anerkennung, dass sie ihren Antipoden an poetischem
Gefühle weit überlegen sind, wenn sie auch besonders in der
Darlegung der Komposition zu viel in die Gedichte hinein-
interpretieren und in der Polemik die Winkelzüge der theologischen
1) Strabo 10, 482, vgl. Geiz er Rhein. Mus. 28, 3 f. 8.
2) Herakleides polit. 2, 3. Plut. Lyc. 4. Ael. v. h. 13, 14. Chr. He in ecke
Homer und Lykurgos, Lpz. 1833.
3) An Stelle von Samo.s setzt Die Chrys. (or. II § 45) Kreta, vroher man
die lykurgische Gesetzgebung ableitete, oder Jonien.
4) Grote history of Greece II 199 Anm.
5) Die älteren Vertreter haben nur mehr ein historisches Interesse.
70 3. Kapitel.
Apologeten getreulich nachmachen. Nitzsch war der ange-
sehenste Vertreter dieser Richtung, trotzdem errangen seine
Schriften ^) nur einen Achtungserfolg. Dasselbe Prinzip ver-
teidigten Nägelsbach ^), Bäumlein ^), Gerlach*) und Nutzhorn. ^)
Jetzt hält noch Kiene ^) die Fahne der Unitarier unermüdlich
aufrecht.
In entschiedenem Widerspruch steht damit die Lied er -
theorie mit zwei Nuancen. Die wissenschaftliche hat Lach-
mann begründet.') Da er zu erkennen glaubte, dass manche
Gesänge der Ilias in sich völlig abgeschlossen seien, dehnte er
diesen Grundsatz, ermutigt durch seine Zergliederung des
Nibelungenliedes, auf die ganze Ilias aus und suchte namentlich
durch Beobachtung der Widersprüche und Verschiedenheiten
die ursprünglichen Einzellieder herzustellen. Auf diesem Wege
zerlegte er die Ilias in sechzehn Lieder mit verschiedenen Fort-
setzungen und Füllstücken, wozu noch die beiden letzten jungen
Gesänge traten. Die ersten neun Lieder fallen meistens mit
dem Ende der heutigen Gesänge zusammen; aber die Lieder
Nr. 10 — 14 können nur durch die gewaltthätigsten und willkür-
lichsten Mittel zu Stande kommen. Lachmann scheint instinktiv
gefühlt zu haben, dass hier die schwächste Stelle seiner Analyse
sei; denn hier (S. 356). spricht er am selbstbewusstesten und
1) Die Sagenpoesie der Griechen kritisch dargestellt. Braunschweig 1852
(vgl. Schümann Jahrbb. 69, 1 ff. 129 ff.); Beiträge zur Gesch. der epischea
Poesie der Griechen, Lpg. 1862.
2) Anmerkungen zur Ilias, Nürnberg ^1864.
3) Comm. de compo-sitione Iliados et Odysseae, Maulbronn 1847.
4) in einem schönen Aufsatze Philol. 30, 1 ff.
5) Die Entstehungsweise der honi. Gedichte, Lpg. 1869 (mit feinen
Beobachtungen über die Heroencharaktere).
6) Die Komposition der Ilias, Gott. 1864.
7) Betrachtungen über Homers Ilias mit Zusätzen von M. Haupt, Berlin
1847. ' 1874 (1837 und 1841 in den Akademieschriften veröffentlicht); Au.s-
züge aus seineu Briefen an Lehrs bei Friedländer die hom. Kritik von
Wolf bis Grote, und Kammer die Einheit der Odyssee; Briefwechsel mit
W. Grimm in Zachers Ztsch. f. deutsche Philol. 2, 193 ff. 343 ff. 546 ff.
Gleichzeitig kam Näke ind. prael. aest. Bonn 1838 bezüglich der beiden
ersten Gesänge zu ähnlichen Resultaten. Auch G. Hermann hatte schon
ähnliches geahnt (Opusc. 5, 66 ff. 8, 11 ff,). Lachmann's Schrift möge der
Leser mit der berühmten anonymen Recension in den Blättern für literarische
Unterhaltung 1844 Nr. 126—29 (von Weisse oder Gervinus) zusammenhalten.
I
]j Die homerischen Epen. 71-
'I schleudert ein berühmt gewordenes Dictum gegen die Zweifler.
'I Das fünfzehnte (0 593 ff". IL P) und sechzehnte Lied (S— X)
überschreiten weit den Umfang von Einzelliedern. Unter seinen
Nachfolgern steht Köc hl y obenan, der in sieben Züricher Pro-
grammen, de Iliadis carminibus dissertationes betitelt ^), den Um-
fang der Lieder vielfach eigenartig begrenzte und es sogar wagte, eine
Ausgabe der ursprünglichen Iliaslieder zu veranstalten. "^) Weniger
selbständig war Haupt. ^) In neuerer Zeit sind Jacob ^), der die
Aufspürung von Widersprüchen fast krankhaft betrieb, und
Benicken wegen seiner unverdrossenen Paraphrasierung der
Lachmannischen Theorien zu erwähnen. Aber auch diese
Richtung ist, wenn ich nicht irre, jetzt bei den Meisten in
Misskredit gekommen. Die andere erwähnte Nuance , die
ästhetisch-philosophische^), wurde von Herder eingeleitet, steht
aber für unser Jahrhundert mit Recht in der Ecke, seitdem
durch die vergleichende Literaturgeschichte die verworrenen
Ansichten von Volksdichtung geklärt wurden.
Was die Liedertheorie überhaupt betrifft, so sprechen alle
Zeugnisse dagegen. ^ Lachmann wies zunächst auf die peisi-
strateisclie Kommission hin, die wir als Legende erkannt haben ;
aber auch wenn sie wirklich existiert hätte, durfte er sie nicht
zu seinen Zwecken gebrauchen. Denn nur wenig später
operieren Herodot und selbst der grosse Kritiker Thukydides,
der die Harmodioslegende ihres erborgten Glanzes entkleidet,
so unbefangen mit dem Namen Homers, dass sie von einer
Zusammenflickung durch jene Kommission nichts wissen können.
Wenn man Peisistratos preisgibt und die Sammlung der
Iliaslieder in frühere Zeit setzt, so gewinnt man nichts. Es
ahmen schon die ältesten Lyriker homerische Verse nach oder
spielen darauf an ^) und Kallinos nennt bereits Homer als Ver-
1) Zürich 1850—59, dazu „Hektors Lösung" 1859.
2) Lpg. 1861; vgl. W. Eibbeck Jahrbb. 85.
3) Vgl. die erwähnten „Zusätze" iind Belgers Biographie S. 163 ff.
4) Uebev die Entstehung der Ilias und der Odyssee, Berlin 1856.
5) Minckwitz Vorschule zum Homer, Stuttgart 1863; Steinthal
Ztschr. f. Volke rpsy eh. 7, 1 fl., gut abgefertigt von Kammer Einheit der
Odyssee S. 3 ff.
6) Renner das Formelwesen des griechischen Epos, Lpz. 1872 für die
Elegie; mit T 39. E 774. Y 138. C 245. jx 46 ff. berühren sich Verse des
Alkman.
72 3. Kapitel.
fasser der Thebais. Ja noch mehr! Es kann keinem Zweifel
miterliegen, dass die sogenannten Kykliker die Ilias schon in
der heutigen Gestalt vorfanden^), da die Kyprien genau bis zu
ihrem Anfange reichen und die Ereignisse der Ilias sorgfältig
vorbereiten , während Arktinos wieder genau an den Schluss
anknüpft. Die Gesänge ^ und ß setzen endlich für eine noch
frühere Zeit die Existenz eines grossen Epos, dem sie einen
versöhnenden Abschluss verleihen sollen , voraus. Damit fällt
auch die psychologische Begründung, welche Haupt der Agglo-
meration gab, weg. Doch vielleicht sprechen die inneren Gründe
für die Liedertheorie besser? Wäre es nicht höchst merkwürdig,
dass ein Kunstrichter wie Aristoteles die Komposition der
Ilias hoch über die der Kyprien und der Schwesterdichtungen
stellen konnte, wenn sie wirklich blos von einem Sammler, der
nicht einmal im Kleinen den Zusammenhang durchführte, her-
stammte? Weil die Kyprien sicher eines Dichters Werk waren,
hätten sie an Geschlossenheit die Ilias weit übertreffen müssen.
Aber gerade an der Komposition dieses Meisterwerkes scheitert
Lachmanns Hypothese. Wir halten nicht an dem von den
Unitariern aufgestellten Gebäude fest^), wir wollen auch nicht
betonen , dass an die Ilias nicht derselbe Massstab wie an die
Äneis oder die Gerusalemme liberata angelegt werden darf und
dass das echte Epos überhaupt die Straff/Äigigkeit der Tragödie
vermissen lässt, aber ich sehe mich vergeblich nach einem
Liedercyklus um , der irgend wie im Baue der Bias gliche.
Welches Volks- oder volkstümHche Epos beschränkt sich auf
den Knotenpunkt einer langen Reihe von Ereignissen ^), statt
diese wie an einer Schnur aufzureihen, wobei Anfang und Ende
des Epos mit dem der Handlung sich decken? Die trivialen
Beispiele sind abzuweisen: Was das Nibelungenlied'*) und den
Mahabharata anlangt — grammatici certant. Die finnische
1) A. Kirchhoff quaestt. Homeric. particula, Berlin 1846.
2) Auch Lachmann verkennt die gemeinsamen Grundzüge nicht, weist
sie jedoch der ,, Einheit der Sage" zu, obgleich die Sagenwelt etwas fliessendes
nie ruhendes ist und erst durch das dichterische Genie Konsistenz erlaugt.
3) Schon G, Hermann (op. 6, 1, 82) warf die Frage auf; Lachmann bei
Friedländer S. VIII und Haupt bei Beiger S. 176 f. beantworteten sie nicht.
4) Gegen Lachmann und Haupt (opusc. 1, 246) vgl. Holtz manu Unter-
such, über da.s Nibelungenlied, Stuttgart 1854.
D.e homerischen Epen. " 73
Kalewala hat erst der Herausgeber Lönnrot, der Finnlands
Peisistratos zu werden gedachte, aus Liedern zusammengestellt;
auch die Chanson de Roland ^) ist weder ein Epos noch an-
einandergereihte Einzellieder, sondern gleichsam ein Urkunden-
buch, das für jeden Punkt die verschiedenen Fassungen auf-
zählt. Der ,, Liederjäger" wird also, wenn er in Europa bleiben
will , mit den Romanen des Mittelalters und den altslavischen
Yolksepen -) vorlieb nehmen müssen. Die Oberflächlichkeit
glaubt ja schon genug gethan, wenn sie Griechisches und Fremdes
nebeneiu andersetzt; begegnet uns doch in der Kunstgeschichte
dasselbe, nur dass man dort, durch den Augenschein überführt
nicht leugnet, dass die Griechen über die Orientalen hinaus-
kommen konnten. Da schon in den ältesten Kunstdenkmälern
den Griechen gerade ein wunderbares Kompositionstalent von
seinen Lehrmeistern scheidet, können wir nicht begreifen, warum
nicht dasselbe Talent auch in den ältesten Werken der Literatur-
geschichte sich gezeigt haben sollte. Wäre es dann nicht
wunderbar, wenn die Dichter von EinzeUiedern gerade ein so
schmal begrenztes Stück des troischen Krieges ausgesucht und
die Geschichte der vorhergehenden neun Jahre als beinahe
leeres Blatt liegen gelassen hätten; denn mit der llias steht
der Hörer erst am Anfange des ernsten Krieges. Lachmann
lässt ebenso unerklärt, weshalb die Kykliker gerade den Stoff
dieser EinzelHeder nicht selbst behandelten, obgleich sie doch
sogar untereinander — ich erinnere an Lesches und Arktinos
— diese Rücksicht nicht übten. Er nahm auch die zahlreichen
wechselseitigen Beziehungen der Gesäuge zu leicht, indem er
den ersten Gesang in den Vordergrund stellte ; daran ist so
viel wahr, dass der Dichter bei seinen Zuhörern überhaupt die
Kenntnis der Hauptpersonen und den Grundriss der Sage
voraussetzt^), was die Tragiker nicht minder bei ihrem Publikum
thaten. Endlich darf ich daran erinnern, was ich oben bereits
an einigen Stellen ausgesprochen habe, dass die Technik der
homerischen Gesänge ein Epos , aber nicht EinzeUieder aus-
1) Paul Meyer rech, sur l'epopee fran?. p. 65 ff. Tobler Ztschr. f.
Völkerpsychol. 4, 139 ff.
2) Bi Strom Ztsch. f. Völkerpsych. 5, 180 ff. 6, 132 ff.
3) Vgl. besonders A 7. 69. 307. Ebenso beginnt das Hildebrandslied
sofort: ,,Ich hörte sagen, dass sich Hildebrand und Hadubrand herausforderten."
74 3. Kapitel.
schmücken könne. ^) Der Leser betrachte nur das erste Lied !
Wenn man mit Lachmann die Chryseisepisode ausscheidet,
nehmen die Reden fast zwei Drittel des ganzen Gesanges in
Anspruch, ungerechnet iiire Einführuugs- und Schlussforraeln.
Wer vermöchte ein solches episches Einzellied, in dem die
Reden wirklich Träger der Handlung sind, sonst nachzuweisen?^)
Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Forschung, wenn
sie nicht die Wahrscheinlichkeit als Gefährtin verschmäht, an
der ursprünglichen Einheit der Ilias festzuhalten hat. Lachmann
hat jedoch das unsterbliche Verdienst, mannigfache Ungleich-
heiten in der Dichtung nachgewiesen und die wissenschaftliche
Einzelforschung gegenüber ästhetischen und philosophischen
Spekulationen begründet zu haben. Seit seinen Untersuchungen
ist so viel wenigstens sicher, dass die Ansicht der Unitarier
nicht mehr befriedigen kann. ^) Es handelt sich aber nun darum,
den ursprünglichen Kern zu ermitteln und die verschiedenen
Schichten zu sondern. Wir können diese Theorie, in welcher
sich jetzt die meisten Homeriker zu vereinigen scheinen , die
Kern- oder Kry stallisationstheorie nennen. Aber so
viele Köpfe, so viele Meinungen über den Umfang und Inhalt
der Urilias 1 Doch sondert sich eine Gruppe deutlich ab. Nach
manchen soll nämHch die Ilias aus zwei Epen zasammengeflickt
sein; Düntzer^) nimmt als Inhalt des einen den Groll des
Peliden, seine verderblichen Folgen und die Versöhnung an^);
das zweite Epos bildeten angeblich die Gesänge F — H, in denen
Hektor als Hort der Troer erscheint. Der bekannte Geschichts-
schreiber Grote*') zerlegte die Ilias ähnhch in eine Achilleis
I
1) Die Künstler fanden nur sehr wenige abgeschlossene, also leicht dar-
stellbare Episoden in der Ilias.
2) Diejenigen altnordischen Gedichte , die fast mir aus Wechselreden be-
8t«hen, sind nicht episch.
3) Die „Vermittlungsphilologie", hier durch keine geringereu als Welcker
und Bernhardy, denen iJentley mit einem ähnlichen Vorschlage vorausgegangen
war, vertreten, förderte den Mittelweg zu Tage, Homer habe ältere Lieder
bearbeitet, ohne ihnen ein einheitliches Gepräge verleihen zu können; wir
haben also statt der peisistrateischen Kommission blos einen viel älteren
ebenso ungeschickten Bearbeiter, den man Homer zu nennen beliebt.
4) Zuletzt in der Schrift „die hom. Fragen" Lpg. 1874.
6) Zwischen A und ö vermittelt li 1—47.
6) History of Greece II (1846) eh. 21.
Die homerischen Epen. 75
(A. 0, A — X, fortgesetzt durch W und ü) und eine eigentliche
Ilias (ß — H und K) , eine Ansicht , die an Friedländer ^) einen
warmen Verteidiger fand, obgleich der Sprung von A bis 0 zu
gross ist. Bisher hatten die Achäer und Troer noch nie im
offenen Felde gekämpft und jetzt sollte die Schlacht ohne
weiteres beginnen? Auch diese siamesischen Zwillinge können
nicht befriedigen, da die Schwierigkeiten kaum vermindert
werden. Einer so starken Verkürzung der Kämpfe, welche die
Katastrophe herbeiführen , widerspricht übrigens die Achilleis
selbst.'^) Die Einheit bleibt ja doch gewahrt; denn der Groll
wirft beständig seine Schatten auf die Handlung. Oder setzt
nicht die angebliche Ilias, weil Achilleus fehlt, den Streit not-
wendig voraus?
üeber die Ansichten der anderen referieren wir vorläufig
blos; selbständige Untersuchungen stellten über die ganze Ilias
besonders Bergk , Naber und Niese an. ^) Bergk^) operiert
viel mit der bequemen, aber nur im äussersten Notfalle anzu-
wendenden Annahme der Umarbeitung ^) ; seine Ilias besteht
demnach aus A. «B^ Ende von A. *E^ Z. *H— I. A^ (»N~0?).
*n. (*P?). T. Schluss von T. *<^. X. Er lässt an den Ausbau
mehrere jüngere Dichter Hand anlegen und gibt zum Schlüsse
noch einem Diaskeuasten reichliche Arbeit. Naber^) nimmt
vier Schichten an. Den Kern sollen ausmachen A. A 1 — 596.
0 306—66. 674 bis zum Schlüsse, dann U—T und <I> 526—
X 393 zum grössten Teile ; die erste Fortsetzung bilden B 1 —
483. r 1—14 (etwas später 15—421). A 422—544. E. Z. H 1—
309, die zweite H 310 bis zum Ende. 0. Schluss von A. M — 0
305. 367 — 673; die spätesten Stücke sind ihm l. K. Y — 4> 525.
^\ il. Auch ihm fehlt eine sichere Methode, die allein Ver-
trauen erwecken könnte. Planmässiger, aber viel zu wenig
vorsichtig stellt Niese^) seine Urilias zusammen. Sie soll blos
1) Die hom. Kritik von Wolf bis Grote, Beriin 1853.
2) 11 200 flf. i: 125. 248.
ü) Von W. Christ ist eine Iliasausgabe, die seine Anschauungen dariegen
soll, angekündigt.
4) Griech. L.-G. 1, 552 ff.
5) Wir bezeichnen die angeblich umgearbeiteten Stücke mit *.
6) Quaestiones Homericae, Amsterdam 1877, dagegen W. Ribbeck Rhein.
Mus. 35, 623 ff.
7) Entwickelung der hom. Poesie, Berlin 1882, besonders S. 135.
76 3. Kapitel.
aus A (mit Ausnahme des Schlusses), dem Traumbilde und
Auszuge in IJ, worauf sogleich der Schluss von 0, der Anfang
von 11 und Teile der späteren Gesänge bis X folgten, bestanden
haben ; auch N kann teilweise alt gewesen sein. ^)
AVer sich eine unabhängige und mehr wahrscheinliche
Ansicht bilden will, wird darauf geführt, die bisher ange-
wendeten Mittel einzeln zu prüfen und dann systematisch durch-
zuführen.
Die Ausscheidung unechter Nachdichtungen muss auf
feste Gesetze zurückgeleitet werden; wir finden diese am leich-
testen in den Nachdichtungen des geringsten Umfanges, den
interpolierten Versen. ^) Ihre Massen sondern sich zunächst
in solche, die neues bringen und die, welche das vorhandene
erweitern. Erstere zerfallen wieder je nach den Absichten,
welche die Verfasser verfolgen, in Unterabteilungen: Die
politischen Interpolationen dienen dazu, dem Stolze ein-
zelner Staaten , die sich von Homer nicht erwähnt fanden , zu
schmeicheln. Die gewöhnlich angeführten attischen Einschiebsel
dienen Athens Ruhm viel zu wenig, als dass sie hier in erster
Linie erwähnt werden dürften^); dagegen ist Rhodos unzweifelliaft
mit der stolzen Interpolation des Schiffskatalogs (B 653 — 70 mit
dem Anhängsel 671 — 80) und der Tleptolemosepisode (K 628 ff.)
beteiligt. Redaktionelle Interpolationen dienen ge-
wöhnlich dazu, die Handlung der Ilias oder der troischen Ge-
dichte überhaupt unter sich enger zu verknüpfen, indem die
Rliapsoden Beziehungen auf die Vergangenheit einfügen oder
einen AusbUck auf den weiteren Verlauf eröffnen. Jene finden
sich z. B. E 206 ff. auf die Verwundung des Menelaos,
II 60 ff. auf I 650 fif.; 0 535 ff. und 0 50 ff. bereiten dagegen
die folgenden Ereignisse vor. Den Zusammenhang mit den
Kyklikern'*) stellen namentUch Interpolationen in der Odyssee
1) S. 131 ff. versucht Niese eine Entstehungsgeschichte der Ilias zu gelten.
2) Eine wichtige Parallele bieten die Interpolationen des Nibelungen-
liedes; der Leser findet sie von K. Hoffmann in den Abhandl. der bayer.
Akad. philos.-philol. Cl. Bd. 13, 1, 1 fi'. zusanimoigestellt.
3) Die Partie über Athen, die der Schiftskatalog enthält, ist so sym-
metrisch (1 -j- 3 X 3 -|- 1) nach der sonstigen Art des Kataloges gegliedert, ||
dass ich mich nicht dazu verstehen kann, einen Vers zu streichen.
4) Christ Jahrbb. 123, 433 ff. Man vergleiche die grosse Interpolation
des Nibelungenliedes, wo Hagen von Siegfrieds frühereu Thaten berichtet.
Die homerischen Epen. 77
her. Andererseits dienen manche Verse der Vereinzelung der
Gesänge, wie sie bei dem gewöhnlichen Vortrage stattfanden. ^)
Da die Rhapsoden sie aus dem Zusammenhange des Epos
herausreissen mussten, hatten sie für einen passenden Anfang und
Abschluss zu sorgen. Ersteres Bedürfnis empfanden sie weniger,
da sie mit einem Hymnus anhoben und, wie es z. B. bei der
Theogonie geschah, die Zuhörer dabei geschickt auf das Thema
vorbereiten konnten. Christ (S. 159 f.) will rhapsodische Lieder-
anfange in A, der Teichomachie und 11 erkennen; eher möchte
ich auf M 175 ff. hinweisen. Häufiger fügt der Vortragende
einen oder mehrere Verse am Schlüsse bei, um seinem Liede
die nötige Abrundung zu geben; dies beweisen A 611. Z 311.
X 515 und das Ende von C deutlich.'^)
Neben diesen Arten von Interpolationen haben die übrigen
nur den beschränkten Wert von Ornamenten und Arabesken ;
doch in grösserer Zahl vereinigt hemmen sie gleich Schlingpflanzen
den Weg nicht wenig. Während die homerischen Dichter von
Reflexion und demgemäss zugleich von sententiöser Redeweise
fast völlig frei sind, können sich die Späteren wohl unter dem
Einflüsse der böotischen Spruchdichtung nicht versagen, an
scheinbar passenden Stellen ihre banale Moral zum besten zu
geben, manchmal geradezu mit hesiodischen Versen. ^) Meistens
aber benützen die Rhapsoden ihr Vermögen, einige erträgliche
Hexameter zu verfertigen, indem sie kurze Andeutungen
ausspinnen, z. B. A 515. N 731. H 793—804. ^ 158, wobei
häufig Verse aus anderen Stellen, die ähnliches besagen, ent-
lehnt werden.*) Bekanntlich entsprang sogar die Schilderung
der Alkinoosgärten (yj 103 ff".) einer beiläufigen Aeusserung des
Dichters (C 293), wie auch die Inhaltsübersicht der Odyssee
(t{> 310 ff.) nur eine Erweiterung des alten Berichtes „Odysseus
erzählte seiner Gattin die überstandenen Leiden" darstellt.
Zudem spielte auch die mittelgriechische und peloponnesische
1) Christ Jahrbb. 123, 145 ff.
2) Zweifeln unterliegt die Annahme bei E 418 ff. (Haupt Zusätre S. 106).
506 ff. N 345 ff. 658 f. 5: 356 ff.
3) ii 45 = Hes. E. 316.
4) Z. B. <I> 158 aus ß 850. Ueberhaupt übt die Entlehnung eines
Verses eine eigentümliche Anziehungskraft auf den in der Origiualstelle
folgenden aus.
^Q 3. Kapitel.
Vorliebe für Verzeichnisse und Genealogien herein : Hieher
rechne ich die Leporelloliste S 317 ff., den Nereidenkatalog
1 39 fif. und den Stammbaum des Äneas T 76 ff., um von
dem Schiflfskataloge gar nicht zu reden. Wohl die jüngsten
■dem Ursprünge nach und vielleicht erst ein Erzeugnis der
Schule sind die glossierenden Verse; das bekannteste Bei-
spiel Hegt in 0 528, welcher Vers das Wort xYjpsaat^opTjTour
erläutert, vor. Nicht eigentlich mit Interpolationen haben wir
es bei den Doppelr ecensionen zu thun; denn nicht wenige
Stellen finden wir in doppelter Fassung, wobei die Entscheidung
in der Regel schwer fällt. ^)
Für die Annahme von Interpolationen, die Düntzer beinahe
als Panacee gebraucht, gilt Kirchhoffs Wort, man müsse in
jedem Falle den Grund der Einschiebung angeben — wir
möchten lieber sagen: jede Interpolation muss psychologisch
erklärt werden.
Das gleiche gilt natürlich auch von den grossen Ein-
schiebseln, den Eindicht an gen. Aber woraus soll der
Kritiker hier sein verdammendes Urteil ableiten? Die Ver-
schiedenheit des Tones, der Erzählungs weise oder
des poetischen Gehaltes hängt immer blos von dem
.subjektiven Gefühle des Einzelnen ab, weshalb es nicht auffällt,
dass die verschiedenartigsten und seltsamsten Urteile über einen
und denselben Gesang zu Tage kommen. Trotzdem baut Lach-
mann sehr viel auf sein persönliches Gefühl, aber gerade seine
Urteile fordern meistens den Widerspruch heraus. Der Dichter
der lUas konnte überdies ein sehr grosses Talent sein und doch
mag Horaz Recht haben, wenn er sagt: „Quandoque bonus
dormitat Homerus." Zudem verdient ein Poet, der immer den
gleichen Ton wahrt , seinen Namen sicherlich nicht. ^) Dass
Shakespeare den Charakteren und Situationen den Ausdruck
wunderbar anzupassen weiss , ist zur Scheidemünze geworden ;
Homer dürfen wir das gleiche Lob nicht versagen. Die
Scliönheit von Lachmanns erstem Liede bezweifelt kein Mensch,
obgleich oder vielmehr weil der Anfang im Tone so sehr von
der eigentlichen Erzählung verschieden ist ! Apollos Erscheinen ^
1) Friedländer anall. Hom. 173.
2) Niebuhr macht im Briefe Nr. 224 a der Leben.suachrichteu schöne
Beraerkangen darüber.
Die homerischen Epeu. 79
schildern wenige gedrungene , aber wuchtige Verse ; da der
Dichter den Eindruck des Furchtbaren erzielen will, fasst er
sich kurz, zumal er noch in der Einleitung steht. Die Haupt-
aktion, die für das folgende verhängnisvoll wird, ist breit angelegt
und die Streitreden sorgfältig bis in das Einzelne ausgeführt.
Ebenso nimmt Pandaros' Bogenschuss durch die Schilderung
alles Details viel ßaum in Anspruch, weil er für den Fortschritt
der Ereignisse bedeutend ist, und zugleich mitten in friedlicher
Ruhe vorfällt. Bei der Verteidigung der griechischen Schiffe
dagegen folgen die Ereignisse, welche die Katastrophe herbei-
führen, Schlag auf Schlag : Aias weicht entwaffnet zurück, das
Schiff fängt zu brennen an , Achill drängt jetzt selbst seinen
Freund zur Eile, Dies alles ist in markigen Strichen gezeichnet,
ohne dass der Dichter sein Publikum mit unnötiger Spannung
quält, [ch möchte fast sagen: Gerade die Verschiedenheit des
Tones verrät oft die Gleichheit des Verfassers.
Grösseres Vertrauen sollten die Schriften erwecken, die
von den Abweichungen der Sprache und des Vers-
baues ausgehend die homerische Frage zu lösen strebten; um
es jedoch kurz zu sagen, verdienen alle bisherigen Versuche
kaum Erwähnung. Nachdem Geppert*) einen dürftigen Anfang
gemacht, verwandten besonders C. A. Hoffmann ^) und Giseke')
unsäglichen Fleiss auf statistische Zusammenstellungen und
doch war alle Mühe vergeblich. Bezüglich der Metrik lässt
man den ausserordentlichen Einfiuss der Formeln und den
innigen Zusammenhang des Versganges mit dem Stoffe ausser
Acht. Den sprachlichen Forschungen steht aber der Mangel
einer systematischen Grammatik entgegen. Als besonders
lächerlich fällt die Mode auf, Monographien über einzelne Ge-
sänge oder Stücke mit Verzeichnissen der oLzo-i elpYjiJLEva auszu-
statten^), als ob jeder Dichter nur die abgedroschenen Wörter
fort und fort gebrauchen dürfte.
1) Ueber den Ursprung der hom. Gesänge, Lpg. 1840, 2 Thle.
2) Quaestiones Homericae, Clausthal 1843 — 8, 2 Bde.
3) Die allmäliche Entstehung der Gesänge der Ilias aus Unterschieden im
Gebrauche der Präpositionen nachgewiesen, Göttingen 1853; homerische
Forschungen, Lpg. 1864.
4) Gründlich widerlegt von L. Friedländer über ä. sl. Philol. 6, 228 ff.
und zwei hom. Wörterverzeichnisse, Jahrbb. Suppl. 3 (1861). Auch die
„Kritiker" des alten Testamentes bemächtigten sich dieses Mittels.
gO 3. Kapitel.
Um Widersprüche bei irgend einem Dichter herauszu-
finden, bedarf es nicht so grosser Vorkenntnisse, sondern nur
eiijes recht nüchternen Kopfes und des ernsthchen Vorsatzes,
solche zu finden. Beides besass Herodot nicht, wie er durch
seine ausdrückHche Versicherung (2, 116), Homer habe sich
nie widersprochen, beweist. Erst die nachsokratischen Philo-
sophen machten auf Widersprüche aufmerksam, um sie für ihre
Theorie von Wirklichkeit und Schein zu verwenden; Homer
vermischte diese nämlich nach ihrer Ansicht. ^) Auch den
Grammatikern entgingen jene nicht, fanden indes keine be-
sondere Beachtung.^) Erst Lachmann verwertete die Wider-
sprüche ausgiebig für seine Theorien und verschmähte selbst
nicht zu beanstanden, dass das Schwert Agamemnons einmal
mit goldenen und ein anderes Mal mit silbernen Knöpfen be-
setzt heisst. Bis zur Manie beutete Jakob diese Idee aus. Es
ist längst gegen Lachmann bemerkt worden , dass seine Zer-
splitterung der Ilias hier nicht völlig Abhilfe geschafft hat,
z. B. widersprechen sich innerhalb seiner Einzellieder A 151
und 214, r 279 und 323.3) Die Polemik hat ferner ähnhche
Unebenheiten bei anderen Dichtern, welche sie durch fleissiges
Ueberarbeiten ihres Handexemplars hätten vermeiden können,
zu Tage gefördert^); wenn Lachmann behauptete, schreibende
Autoren seien solchen Versehen eher ausgesetzt, dachte er wohl
an die Vielschreiber unserer Zeit, die mehr auf den Reinertrag
als auf die Durchbildung ihrer Arbeiten sehen. Die Schrift
gestattet vielmehr jedenfalls eine planmässigere und glattere
Ausführung. Hoffen wir, dass dieses pedantische Meistern des
Dichters^) allmälig ein Ende nimmt. Bedeutungsvoller als jene
1) Dio Chrys. or. 53 p. 276 1. c, vgl. atich seine 11. Rede.
2) A 424 änderten manche ertovTai; Schimberg anall. Arist., Greifsw.
1878 S. 23 ff. .sucht nachznwei.sen, dass Aristarch eine besondere Schrift über
das Wiederaufleben des Pylaimenes verfasst habe, anders Kammer Bursians
Jahresljer. 1878 I 8, 71 ff. und Friedländer ind. 1. Königsberg 1879 S. 4.
3) K. Frey Homer, Bern 1880 S. 13.
4) Nutzhorn die Entstehungsweise der hom. Gedichte, Lpz. 1869; R
Volkmanu Geschichte und Kritik der Wolfschen Proll. S. 159 ff'.; K. Frey
Homer, Bern 1880.
6) Selbst Haupt sagt in Belgers Biographie S. 144: „Man soll einen
Schriftsteller nicht logisch meistern, sondern ihn psychologisch verstehen."
Hätte er es doch auch bei Homer gethan !
Die homerischen Epen. 81
Kleinigkeiten ist, dass Pylaimenes (E 576 ff. N 658) und Schedios
(0 515. P 306 ff.) ^) wieder aufleben, Lykaon schon T 333 gegen
$ 45 ff. im Heere der Troer weilt und dass es an dem Haupt-
schlachttage sowohl A 86 als 11 777 Mittag wird. Aber auch
derartige grössere Varianten sind nicht von Belang, sobald man
nachweisen kann, dass der Dichter damit einem besonderen
Zwecke diente. Anders liegt dagegen die Sache, wenn sich in
den Grundanschauungen der Dichtung oder in den thatsäch-
hchen Verhältnissen, die der Dichter wie sie sind lassen muss,
Differenzen ergeben. Von diesem Gedanken ausgehend haben
Christ^) und Niese ^) selbständig und zum Teil in den Resultaten
zusammentreffend eine Anzahl Fragen behandelt ; Niese verfährt
dabei mit einer Rücksichtslosigkeit, die, wie ich fürchte, die
angewandten Mittel in den Augen besonnener Forscher kom-
promittiert.
Bezüglich des Schiffslagers erhellt mit Evidenz, dass
nur die Verfasser einiger Gesänge es von einer Mauer um-
geben sich vorstellen^); es sind 0. 1. M. 0^) und Q. Die
Patroklie kannte die Mauer nicht, da Lachmann 11 512 und
558 mit Recht ausscheidet, während S 215 aizb zsi^BOc: nicht
in den Zusammenhang passt. ^) Auch in die folgenden Ge-
sänge kam die Mauer blos durch Interpolation (T 19). Um die
Ignorierung in den übrigen Gesängen zu begründen, schob ein
Nachdichter am Ende von H die Schilderung des Mauerbaues
ein; da diö späteren Griechen aber keine Spuren mehr sahen,
wurde eine Zerstörung durch Götter zuerst in M, dann auch
in H eingelegt.
Christ (S. 157 f.)^) findet auch in der Anordnung der
Schiffe eine wesentliche Abweichung; das Schiff des Telamonier
1) Die Verschiedenheit der Verfasser erhellt zudem daraus, dass beide
den Schedios zwar Anführer der Phoker nennen, aber ihm verschiedene
Väter geben.
2) Die sachlichen "Widersprüche der Hias, in den Sitzungsber. der bayer.
Akad. "phil.-philol. Kl. 1881 II 125 ff.
3) Entwickelung der hom. Poesie, Berlin 1882.
4) Bergk griech. L.-G. I 586.
5) KÖchly will diesem Gesänge die Mauer absprechen, vgl. dagegen
Ribbeck Jahrbb. 85, 30 und Christ S. 155 f.
6) Köchly schreibt anb V7](l)y, anders Christ S. 156.
7) Vgl. auch Kayser hom. Abh. S. 56 A. und Niese S. 96.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 6
32 3. Kapitel.
Aias, das nach A 5—8 (vgl. Ö 222). 806 und K 113 am
äussersten Ende des Lagers steht, befindet sich N 681 in der
Mitte. ')
Die diesen Vers enthaltende Partie führt uns auf die all-
mälige Vergrösserung des griechischen Heeres ^) , z. B.
treten nur dort^) die Lokrer und Athener auf; ebenso erscheinen
fast nur in N — 0 die Phthier, Epeier (auch A 517 ff.), Ätolier
(auch H 168), Böoter (überdies P 597 ff.) und Phoker (auch
P 306). Der König der Abanten wird blos A 463 f. erwähnt;
die Rhodier beteiligen sich nur in einer von Köchly bereits
ausgeschiedenen Kampfesepisode (E 628 — 59) an der Schlacht.
Die Arkadier kennt sogar blos der Schiffskatalog. Wir gelangen
somit für die echten Partien zu einer vollkommen hinreichenden
Zahl von Helden, nämlich Achilleus mit Patroklos, den beiden
Atriden und Aias, Diomedes und Odysseus, wozu noch Nestor
mit Antilochos und der Arzt Machaon treten. Damit begnügt
sich Niese (S. 115 ff.) nicht; nur die sechs erst genannten
finden bei ihm Gnade. Auch Bergk verfolgt mit unbegründeter
Hartnäckigkeit den König der Kreter, obgleich bereits ein hoch-
altertümlicher Gesang der Odyssee (t 170 ff.) von der Teilnahme
dieses Inselvolkes weiss.
Da die griechischen Helden Dank dem begreiflichen Wunsche
der verschiedenen Stämme, einen ihrer alten Fürsten in dem
Nationalepos verherrlicht zu sehen, immer mehr an Zahl zu-
nahmen, mussten auch die Schaaren der troischen Bundes-
genossen entsprechend anwachsen.^) Die Thraker erscheinen
in der Doloneia, eben dort dieMyser, Leleger und Kaukonen,
ausserdem aber auch S 512. T 96 (Aneasepisode). 329 (inter-
poliert?). 4> 86 f. (unecht?), il 278. Dann finden wir zweierlei
Lykier^), die einen aus Troas, die andern aus dem bekannten
Lykien, von welchen jene kein Bedenken erregen, da Zeleia,
ihre Hauptstadt, nicht weit von Ilion liegt. Aber warum sollte
das entfernte Volk zur Hilfe herangezogen sein? Zuerst fügte
1) La Roche bezieht mit Aristarch deu Vers fälschlich auf Aias Oileus;
bei N 695 geht 'O'.X-^oc voraus.
2) Christ a. O. S. 160 f.
3) Ich sehe überall vom Schiffskataloge ab.
4) Niese S. 108 ff.
6) Christ 8. 158 fl.
Die homerisclien Epen. 83
sie, wie es scheint, ein Nachdichter in die Patroklie ein; denn
;ias dieser kann man die Lykierepisoden nur mit starken
Mittehi entfernen. ^) Dagegen kamen sie in H (V. 13 ff.) und
E (V. 426) wahrscheinUch blos durch Interpolation herein und
in E (V. 471—93. 627—98 Kampf mit den Fvhodiern)^),
Z (119—234) und M (290—429) lassen sich die Scenen, in
denen die lykischen Helden Sarpedon und Glaukos auftreten,
glatt ausschneiden. Sie sollten dem Stolze der jonischen Fürsten
schmeicheln , die ihr Geschlecht auf Glaukos zurückführten. ^)
Auch die Päonier mit Asteropaios in M 102 (neben Sarpedon),
P 2*17 und 351 (hi Erweiterungen der Patroklie) und 4> 139 ff.
(Erweiterung des Flusskampfes) gehören nicht in den engen
Rahmen der alten Ilias. Niese will sogar Aneas, Polydamas
und stillschweigend Paris entfernen. Aber ist eine Ilias ohne
Paris denkbar, kann der einzige Hektor seinen zahh'eichen
Gegnern auch nur von weitem die Wage halten?
Ausser den irdischen erhielten die himmHschen Heer-
scbaaren eine bedeutende Verstärkung.^) Als Schutzgötter der
Achäer traten natürlich die von ihnen am meisten verehrten
Gottheiten auf. Mit Hera, deren uraltes Heiligtum zu Argos
jeder Grieche kannte, verband sich notwendig Athene, die treue
Helferin aller hellenischen Helden. Für die Troer hätte es
nach der späteren Anschauung^) am nächsten gelegen, weil die
Griechen ihre Burggöttin Athene nannten, diese zur Schützerin
zn haben. Daneben genoss aber in Kleinasien das Heiligtum
des thymbräischen Apollo grosses Ansehen, weshalb Apollo den
Troern Beistand leistete. Um die gleiche Zahl von Helfern
herzustellen, fügte der Dichter Aphrodite, die unter den
griechischen Gottheiten am meisten an den Orient erinnerte
und überdies in der Troade verehrt wurde ^) , bei , damit sie
ihren SchützHng der Rache des beleidigten Gatten entziehe.
1) II 419—683 strich schon Ho ff manu allg. Monatsschrift für Literatur
1852 S. 289.
2) Hier veranlasste der Interpolator die weitere Störung; dass nun die
verschiedenen Lykier in demselben Gesänge auftreten, ohne dass wir darüber
orientiert werden. E 674 f. weist schon auf den Tod des Sarpedon hin.
3) Herod. 1, 147.
4) Christ S. 162.
6) Erst in Z erfahren wir davon.
6) Thiele proU. in hymnum in Venerera Homericum Halle 1872 p. 50 ff.
6*
84 3. Kapitel.
Später trat auf die Seite der Griechen der jonische Stammes
gott Poseidon; er greift blos in den Kampf um die Schiffe ein,
sonst beschränkt sich sein Auftreten ausserhalb der Götter-
schlachten auf eine Interpolation des Flusskampfes (<l> 284 ff'.)
Auch Hephaistos, der dem Skamandros gegenüber wohl an der
Stelle ist, muss trotz seines Leibschadens aus der Werkstatt
zum Kampfe heraussteigen, ebenso wie der göttliche Bote nicht
unbehelligt bleibt. ^) Zu Apollo trat seine Schwester Artemis,
zu Aphrodite durch Liebesbande verknüpft Ares. Diese zahl-
reiche Schaar gibt zu den wunderlichen Götterschlachten T 4 —
75 und <l> 385 — 519 Anlass. Niese streicht kurz entschlossen
alle Götter, Zeus allein ausgenommen.
Schwieriger gestaltet sich die Untersuchung, sobald die
Topographie in Frage kommt. ^) Richtig scheint Christ's
Annahme, dass in E, dem Anfange von Z und A die Schlacht
auf dem rechten Ufer des Skamandros stattfindet. Anders in
der Albe, aTcäiTj (S 432 ff".)! Wahrscheinlich übertrug der Ver-
fasser die Situation der Achilleis ^) , wo Achilleus vom linken
Ufer des Flusses aus vordringt, mit den Versen $ 1 f. in seine
Partie. Im Gesang 0 (490 und 560) stehen die Troer zwischen
den Schiffen und dem Skamander ; ähnlich durchfliesst er H 329
quer das Schlachtfeld. '*) Ueber die sonstigen Abweichungen
in der Topographie^) enthalte ich mich des Urteils; jedenfalls
können so viel umstrittene Dinge nicht als Stütze dienen. Niese
rügt auch den wechselnden Aufenthaltsort des Zeus; da aber
A 183 und 337 der Gott auf dem Ida , nicht auf dem Olymp
sitzt, wird jener übrigens sehr natürliche Wechsel nicht zu
vermeiden sein.
Im einzelnen wird die sorgfältige und unbefangene Beob-
1) 0 213 f. steht die endgiltige Liste der achäisch gesinnten Götter.
2) Christ S. 130 ff. Bei der Odyssee ist die Frage sehr vereinfacht, weil
weder der alte Dichter noch seine Nachfolger Ithaka je gesehen haben.
6egenäl)er den Enthusiasten, die alles genau in Wirklichkeit vorfanden und
selbst den Grundriss von Ody.s.seus' Palaste in Ruinen erblickten, wies Hercher
Hennes 1, 203 ff. nach, da.ss die Schilderung Ithakas nur ein Phantasie-
gebilde Hei.
3) Da II 397 interpoliert ist, fehlt für die Patroklie jede Andeutung.
4) Eine andere Dentung von ajxcpi ist grammatisch nicht möglich.
6) Christ über die Topographie der troischen Ebene und die honi.
Fnige, in den Silzungsber. der buytr. Ak. 1874 II 184 ff.
Die homerischen Epen. 85
achtung von Sitten und Gebräuchen zu manchen Resultaten
führen. Was z. B. die Kampfesvveise anlangt, so scheint es
mir, dass die homerischen Helden zu F el ds t einen ursprünglich
nur dann griffen, wenn sie ihren Speer abgeworfen hatten und
nun eines andern Wurfgeschosses bedurften. Ohne diesen Grund
wählen die Kämpfer diese unedle Waffe A 518 (im Zweikampf
eines Epeiers und Thrakers!), B 321 (aus E 302 wiederholt),
M 380 (in einer Lykierepisode) und <I> 403 (aus H 264). Niese
(S. 119 ff.) will den alten Helden auch die Streitwägen ab-
sprechen. ^) In der That passt der nodac, wxo? Achilleus mit
seiner leidenschaftlichen Natur viel mehr für den Fusskampf;
bei der Entscheidungsschlacht am Graben wären die Gespanne
blos hinderlich, also bleibt nur der erste Tag frei und hier ent-
spinnt sich wirklich ein Wagenkampf. Wie sollte ihn ein
Sänger in späterer Zeit, als man davon nichts mehr wusste^),
eingelegt haben? Zudem befindet sich unter den ältesten
Funden kostbares Pferdegeschirr und Reiterei kommt erst
später vor. ^)
Dem Aufsuchen der Verscliiedenheiten muss die Beobachtung
des Aehnlichen zur Seite geben; sonst gewinnt der Kritiker
eine falsche Anschauung. Ausserdem muss er erstens, wie
gesagt, überhaupt das Vorhandensein eines Einschiebsels ps3'^cho-
logisch erklären, zweitens Widersprüche und Verschiedenheiten
durch Angabe der Gründe, die den jüngeren Dichter zur Ab-
weichung veranlassen konnten, entschuldigen. Letzteres ge-
scliieht aber selten. Ich will nicht läugnen, dass nicht einmal
in Griechenland alle epischen Sänger , die zwischen Homers
Auftreten und der Peisistratidenzeit dichteten, grosses Talent be-
sessen haben; ob dies aber die modernen Gelehrten berechtigt,
gerade die, welche an Homer ihre Sporen verdienten, mit der
grüssten Verachtung zu behandeln und wo möglich das Werk
durch einen ungewöhnlichen Schwachkopf krönen zu lassen *),
1) Vgl. Kammer, zur hom. Frage II 67 A. Eyssenhardt Jahrbb. 109,
597 (dagegen Giseke Bursians Jahresber. I 113).
2) In griechischen Heeren der historischen Zeit erscheinen Streitwägen
blos auf Kypros (Herod. 5, 113)."
3) Eigentliche Reiter sind zuerst auf den melischeu Thongefassen dargestellt.
4) Derartige Sündenböcke siud Kaysers interpolator, Kirchhoffs Ordner
und der Diaskeuast Bergks.
g(J 3. Kapitel.
möchte ich doch bezweifehi. Ich habe auch eine zu gute
Meinung von der damaligen Kraft der Phantasie, als duss ich
annehmen möchte, die Nachdichter hätten aus älteren Liedern
geschöpft und seien, sklavisch an der Ueberlieferung festhaltend,
mit Homer in Konflikt geraten. Die Tradition geht nicht so-
in das Detail; und lagen nicht auch Homer dieselben Quellen
vor? Dagegen mögen jene aus anderen Sagen poetische Motive
entlehnt haben.
DasProömium derllias, das sich von der Erzählung
nicht trennen lässt, deutet bereits auf ein grösseres Epos, da
es nicht den Streit des Achilleus und Agamemnon, sondern
den daraus entspringenden Groll des Peliden mit seinen ver-
derblichen Folgen als Gegenstand des Liedes in Aussicht stellt. ^)
Der erste Gesang gehört zu den vorzüghchsten Partien
der Ilias und verrät schon dadurch seine Einheit, dass der
Erzähler durchgängig die Handlung in kurzen scharfen Zügen
zeichnend das Hauptgewicht auf die Reden und damit auf die
Charakteristik der Personen legt. Trotzdem will Lachmann den
ersten Gesang spalten und nur V. 1 — 348 als alt anerkennen;
dieses Stück sei zuerst in V. 431 — 92, dann mit V. 348 — 429
und 493 — 611 fortgesetzt worden. Von dem, was er dafür vor-
gebracht hat, ist nur die Abweichung wirklich von Belang,
dass V. 423 die Worte d-öol 8'a[Aa Trdvrsc btzovzo stehen, obgleich
Apollo seine Pfeile in das Griechenlager entsendet und Athene
vom Olympos herabkömmt, um Achilleus zu besänftigen. Für
jenes Bedenken genügt die Antwort, dass der Dichter am Tage
der Volksversammlung von Apollos Thätigkeit überhaupt
schweigt. "Was das andere betrifft, so war die Abwesenheit des-
Zeus mit seinem Hofstaate wahrschemlich alte Ueberlieferung;
dagegen erschuf die Phantasie des Dichters um den kleinen
Widerspruch, der den Hörern entging, unbekümmert jene
herrliche Scene, in der Athene auftrat. Da Homer den Streit
nicht in Thäthchkeiten ausarten lassen wollte und konnte, be-
durfte er bei dem jähzornigen Gemüte des Peliden der be-
ruhigenden Zuspräche einer Göttin. Um diesen Zweck zu
1) Der Dichter der Kyprien kennt es bereits (Fr. 1, 6 f.). Die uns be-
kannten Varianten können sich mit der Vulgata nicht messen; die, welche
mit ioitBte vüv fiot Moüoat beginnt, verband die Ilias mit den Kyprien (Heitz
zn O. Müller Gesch. der griech. Lit. I^ 114, 24).
Die homerischen Epen. 87
erreichen, kümmerte er sich weder um die Kollision mit der
sonstigen Erzählung noch um das grössere Bedenken, dass er
an die Phantasie des Hörers grosse Anforderungen stellt. Athene
erscheint nur Achilleus sichtbar und spricht blos ihm ver-
nehmlich, während die übrigen Personen einfach unberück-
sichtigt bleiben. Die Pause von zwölf Tagen, während deren
Achilleus' Groll gleichsam Wurzeln schlägt, füllt der Dichter
ausserordentlich geschickt durch die Chryseisepisode aus, in der
sich zwischen die aufregenden Streitscenen und die olympischen
Vorgänge ein anmutiges Bild des Friedens schiebt. Die Ruhe,
die es atmet, spiegelt sich in dem reichlichen Gebrauche formel-
hafter Verse. ^)
Als Einleitung gedacht erfüllt der erste Gesang seine Auf-
gabe unstreitig meisterhaft, indem er die Meinungsverschieden-
heiten der griechischen Fürsten darlegt und die beiden in
einander verschlungenen Grundzüge des Epos, den Groll des
Achilleus und den Ratschluss des Zeus ihrem Ursprünge""
nach entwickelt. Nicht ebenso klar liegen die Motive des
zweiten Gesanges.^) Hier lassen sich leicht zwei fremde
Bestandteile ausscheiden, der Schiffskatalog (484 — 779, vorbe-
reitet durch V. 360 — 68) ^) und die parallel stehende Uebersicht
der troischen Streitkräfte V. 816 — 77. Der Verfasser des ersteren
Stückes versucht die politischen Zustände der achäischen Zeit
festzuhalten, nicht ohne dabei in Anachronismen zu verfallen. ^)
Da Stasinos zwar einen Katalog der Troer, aber keinen der
Griechen gab, fand er den unseren bereits im Verbände der
Ilias vor ; dieser kann jedoch nicht aus viel älterer Zeit stammen,
weil der Name IlavsXXYjVäc bereits alle Griechen umfasst. Den
1) Natürlich für Manche ein Grund, um das ganze Stück für einen Cento
zu erklären, vgl. M. Häseke die Entstehung des ]. Buches der Ilias, Rinteln
1881; Hinrichs Hermes 17, 59 ff.; Gemoll Hermes 18, 34 ff.
2) Der Anfang widerspricht jetzt dem Schlüsse des ersten Liedes , weil
A 611, welcher dem Einzelvortrage diente, in den fortlaufenden Text kam.
3) Nestors ganze Rede, die schon sehr unpassend beginnt, ist wohl ein-
geschoben, um zu erklären, warum erst hier und nicht in den Kyprien die
griechischen Streitkräfte aufgezählt werden; ß 370 schreibe man statt
YEpctv (fiXoc.
4) Wenn die Böotier schon in Böotien wohnen, so nimmt dies der Ver-
fasser an , weil ein Gesammtname der älteren Bevölkerung fehlte ; übrigens
wohnen die Minyer noch in Orchomenos.
38 3. Kapitel.
Verfasser haben wir in Böotien zu suchen, da der Katalog nicht
blos mit diesem Lande anhebt, sondern auch die Städte des-
selben, sowie der übrigen Landschaften Mittelgriechenlands am
eingehendsten behandelt und die anderen Länder im Kreise
herum gruppiert. Auch das vorhergehende Gebet an die Musen
stimmt zur Sitte der hesiodischen Schule, wie auch die strophische
Gliederung des Kataloges. Während Köchly fünfzeilige Strophen
annahm, gelangen wir mit sanfterer Behandlung des Textes zu
Strophen von je drei Versen, wobei den Abschnitten oft ein
oder zwei Verse als Basis und Abschluss dienen.'^) Ein Jonier
hätte gewiss, statt die Völker schematisch aufzuzählen, sie etw^
bei Gelegenheit einer Musterung mit grosserer Lebendigkeit
geschildert. Jünger ist der troische Katalog, da ihn Stasinos
nicht kannte; weil er zur Ilias nicht recht stimmt, scheint der
Verfasser die Kykliker benützt zu haben. ^) Von den besprochenen
Gegenden kennt er nur die nordwestliche Küste Kleinasiens
genauer. Unter den übrig bleibenden Stücken des zweiten
Gesanges fällt die Beratung der Geronten V. 53 — 86 aus dem
Zusammenhang heraus^); ein Rhapsode wollte durch sie be-
griffsstutzige Hörer recht nachdrücklich aufklären, dass Aga-
memnon vor dem Volke nicht ernsthaft redet, obgleich. dies
nach dem Traume ohnedies einleuchten sollte. Dieser führt die
Aufnahme des Kampfes herbei, sonst dächten die Achäer, ent-
mutigt und kriegsmüde wie sie sind, nicht an das Kämpfen.
1) A. Mommsen Philol. 5, 522 ff. B 535, woraus man die insulare oder
kleinasiatische Herkunft erschliessen wollte, kennzeichnet sich durch seine
Stellung als interijoliert ; V. 626 lä.sst verschiedene Deutung zu. Nach Niese
der hom. .Schiffskatalog als hist. Quelle betrachtet, Kiel 1873 geht der Katalog
auf eine zwischen 770 und 740 entstandene Periegese von Hellas zurück und
ist zwischen 630 und 600 verfasst ; es versteht sich aber von selbst , dass
damals eine Periegese unmöglich war. Niese wurde (Entwickelung S. 228)
selbst in dieser Ansicht schwankend und gab die Zeitbestimmung ganz auf;
den sicheren terrainus ante quem soll die Benützung im ersteu homerischen
Hymnus (?) abgeben.
2) Agamemnon, Menelaos und Achilleus werden durch hyperstrophische
Zusätze geehrt. Der strophischen Gliederung widerstreben E 627 — 98, die
schon deshalb, weil der Dichter des Kataloges von der dorischen Wanderung
nichts wissen will (Bergk I 559), unecht sind.
3) Wenn er blos aus dem der Kyprien gezogen wäre, hätten es die
Schollen gewiss bemerkt. (Niese Schiffskatalog S. 52).
4) Sie ist jünger als die Odyssee (Wiederholungen in der Odyssee S. 76 f.).
Die liomerischeu Epen. 39
Diese Verhältnisse, welche die Ungeschicklichkeit und Energie-
losigkeit des Führers noch zerfahrener gestaltet, schildert die
TTSipa, ein in rein logischer Hinsicht von Bedenken nicht freies
aber nach Seite der Schilderung ausgezeichnetes und' für die
Oekonomie notwendiges Stück.
Der dritte Gesang legt entsprechend die Lage Trojas
dar. Wie der Dichter mit jenem Teile der Exposition sogleich
ein wirkendes Motiv verband, verschlingt sich hier ein retar-
dierendes mit der Schilderung. Beide Heere stehen sich zum
ersten Male gegenüber : Den Troern mag es vor dem Zusammen-
stosse mit dem überlegenen Feinde bangen, die Achäer sind
ebenfalls durch Achilleus' Abwesenheit etwas unsicher, weshalb
beide freudig einem Vertrage zustimmen. Zeus (V. 365 ff.)
vereitelt andererseits mit Aphrodite zunächst die Tötung des
Paris, dann bedient er sich Heras und Athenes , um darch
Menelaos' Verwundung das friedliche Ende des Krieges un-
möglich zu machen. Davon handeln F und die ungeschickt
abgetrennten Verse A 1 — 219. In einzig schöner Weise ver-
bindet der Dichter damit den Rest der Exposition, indem er
uns sowohl die Stimmung in Troja höchst anschaulich darlegt
als auch den Kampfpreis, die unselige Ursache des Krieges
selbst vor Augen stellt.^) Es ist nicht zu leugnen, dass die
Absichtlichkeit mancher Scenen einem sehr kritischen Beschauer
etwas bedenklich vorkommen mag. Aber wenngleich die
Teichoskopie im zehnten Jahre des Krieges Anstoss erregen
kann, so ist sie doch jedenfalls für dieses gedichtet-) und auch
Sophokles gestattete sich im Odipus eine ähnliche Freiheit.
Homer knüpfte ja nicht an die Kyprien an, sondern er schuf
offenbar das erste troische Epos. Bei dem Auftreten Helenas
gibt der Dichter mit dem denkbar geringsten Aufwand von
Mitteln einen poetischen Ueberblick über die griechischen Haupt-
helden , bei dem sich ein sorgfältiges Meiden jeglicher Ein-
förmigkeit zeigt. ^) Anders müssen wir über T 383 — 448 urteilen,
1) Der weichere Ton des Gesanges passt ausgezeichnet zu dem asiatischen
Staate.
2) r 126. 157. 205.
3) Auch der Schluss ist vortrefflich gelungen; Helena wartet, von Sehn-
sucht hingerissen, Priamos' weitere Fragen nicht ab, sondern geht auf ihre
Brüder über. F 230 — 3 sind natürlich interpoliert (Bergk I 569).
gO 3. Kapitel.
weil für die Exposition diese Episode entbehrlich ist und ihi
Kaffinenieut für eine jüngere Entstehungszeit spricht. Ein«
Nat offenbart sich in dem Einschiebsel T 451 — 61, das dei
Versen A 93 ff. widerspricht und eine seltsamer Weise unbeani
wortete Rede Agamemnons enthält. A 82 und 157 ff. weisei
auf die Wiedereröffnung des Kampfes hin, die als selbstver-l
ständlich betrachtet wird ; daher waffnen sich V. 220. 222 ^) die
Achäer wieder ohne Verzug. Es folgt dann die iTrtTrwXTjatc
'AYa}i,£[ivovoc, die mit der Teichoskopie parallel läuft; auch
dieser Sänger will die griechischen Helden vorführen, aber an
den alten Dichter reicht er nicht hinan. Agamemnons Poltern
ist nicht böse gemeint und doch steht es dem Könige nicht gut.
Nachdem der Schluss des vierten Gesanges die ersten
Kämpfe geschildert, zeigt der fünfte die allgemeine erbitterte
Schlacht. Wir haben im ganzen vier besondere Aristien ein-
zelner Helden, des Menelaos in F, Diomedes in E, Agamemnon
in A und des Aias im Schiffskampfe; die Atriden stehen in
verschränkter Ordnung, da aber Aias' Rolle wohl der alten
Sage angehört, wählte der Dichter für Diomedes gerade diesen
Platz. An den vorigen Gesang knüpft die Tötung des Pandaros
an; dass Diomedes dabei nicht von Rache spricht, ist selbst-
verständlich , da er den Verwunder des Menelaos nicht kennt
und ihm auch, wenn er ihn kannte, das nicht vorwerfen dürfte,
wozu ihn die ßchutzgöttin der Griechen verführte. Der Dichter
aber tritt wie gewöhnlich aus seiner Objektivität nicht heraus,
sondern lässt die Handlung sprechen. Wie wir schon sahen,
wurde der fünfte Gesang durch die Einführung des Ares und
der Aphrodite in einem frivoleren Zeitalter erweitert; auch
Sarpedon kam erst später herein.
An die Diomedeia reihen sicli, von einigen Eindichtungen
unterbrochen, mehrere Scenen von hervorragender Schönheit an ;
sie schildern, wie auf Helenos' Rat Hektor in die Stadt geht,
um Athene anrufen zu lassen, hier mit Andromache und Helena
sich unterredet, Paris ^) in den Kampf zurückführt und den
Tag durch einen Zweikampf mit Aias abschhesst. Alle diese
in Z und H enthaltenen Scenen tragen einen mehr lyrischen
Charakter. Wenngleich sich gut hören lässt, dass der Dichter
1) A 221 ist ati8 A 412 oder P 107 entlehnt.
2) Z 889 weißt anf T.
I
Die homerischen Epen. 91
die Einförmigkeit der Kämpfe durch solche anmutige Familien-
bilder unterbrechen wollte , drängen sich zu viele Bedenken
gegen die Ursprünglichkeit auf, zunächst das sachliche, dass
Athene und nicht Apollo von den Troern angerufen wird ^),
dann die auffallende Wiederholung des Zweikampfes , obgleich
der Dichter durch denselben nicht das mindeste für die Oeko-
Domie des Epos gewinnt. Aias erhält ja ohnedies später seine
Aristie und Hektor selbst wird auch sonst hinlänghch gefeiert.
Ebenso sind die in Troja spielenden Scenen nach dem dritten
Gesänge ziemlich überflüssig. Wir wollen damit das hohe
Schilderungstalent des Nachdichters keineswegs herabsetzen ;
aber im Hinblick auf das gesammte Epos füllt sein Werk eine
Lücke nicht aus. Jn dieses (doch wohl zusammenhängende)
Stück, vor dem der jedenfalls kurze alte Schluss von E weichen
musste, drängten sich besonders die Glaukosepisode (Z 119 — 236)
und vielleicht der Bericht, wie die Griechen ihr Lager um-
wallten (H 436 — 64) ein. Weil erstere ganz in der Luft hängt,
versetzten sie manche alte Gelehrte an eine andere Stelle. ^)
Die letztere Erzählung könnte aber zu der grossen Eindichtung
gehören, wenn sie nur nicht statt auf die in ihr geschilderten
Ereignisse vielmehr blos auf die Zukunft wiese.
Die KoXoQ (xd/Tj (0) schildert die Ereignisse des zweiten
Schlachttages. Man vermisste ein» positives Eingreifen des Zeus
am ersten Tage und fand in A vielleicht nicht genügenden
Ersatz. Denn dieser Nachdichter stellt sich das Eingreifen des
Zeus möglichst lärmend und mit viel Blitz und Donner ver-
bunden vor. Der ganze Gesang ist überhaupt eigentümlich
bewegt, da der Kampf in Extremen hin und her schwankt
und Verzweiflung mit prahlerischer Siegesfreude wechselt. Der
Dichter borgt aber verschiedenes von seinen Vorgängern und
zwar ausser Versen auch ganze Scenen, z. B. ist die Wägung
der Looso V. 69 ff. sicher aus X 209 ff. entlehnt. V. 177 ff.
setzen den Mauerbau bereits voraus.
Die bedenkliche Situation , in der die Achäer am Ende
von 0 sich beflnden, bildet für die üpsoßsia, das Werk eines
bedeutenden Talentes, die Grundlage. Während Homer selbst
1) Hier wird das einzige Götterbild erwähnt.
2) Ariston. zu Z 119; Bergk (I 574) verschiebt sie in den fünften Gesang,
Tgl. Moritz Schmidt melet. Hom 2, 13 ff.
■Q2 3. Kapitel.
bei Achill von Schuld und Strafe nichts weiss , sucht ein
Jüngerer den herben Verlust, den der Pelide durch den Tod'
seines Freundes erleidet , moralisch zu begründen ; er belastete]
ihn mit einer schweren Schuld ^), indem er dichtete, dass Achilleu
eine Gesandtschaft der Achäer trotz der gebotenen Sühne ab
wies. Der Dichter wählte dafür den Abend vor dem Ent-
scheidungskampfe, obgleich A 609 f. Achilleus selbst von einem
Versöhnungs versuche nichts weiss. ^ Er übersah ferner, dass,
nachdem die Achäer das Verlangen der Thetis und ihres Sohnes
vollkommen erfüllt, eine weitere Unterstützung durch Zeus unzu-
lässig war. Der Gesang enthält manche jüngere Elemente,
z. B. einen Hinweis auf Ägypten (381 ff.), eine Erwähnung des
pythischen Orakels (404 ff.); messenische Städte gehören zum
Reiche der Atriden (V. 149 ff)^). In mythologischer Hinsich
hören wir blos hier vom unterirdischen Zeus (V. 457) und Per-!
sephone (V. 457). Das meiste ungewöhnliche enthält die Rede
des Phoinix, so die eigentümliche Allegorie von den Liten
(V. 502 ff.) und die merkwürdige Fassung der Meleagrossage.
Dies könnte uns geneigt machen, mit Bergk anzunehmen, dass
anfangs immer nur im Dual von den Gesandten gesprochen
wird. Aber wie erklärt er es, dass Phoinix, der Erzieher des
Achilleus, nicht bei diesem sich befindet? Eis liegt hier ein
Problem vor, zu dessen Lösung unsere Mittel niciit hinreichen.
An die durch S und den Anfang von I gegebene Situation
knüpft deutlich dieDoloneia an.*) Nach den viktorianischen
SchoMen und Eustathios ^) soll die Rhapsodie früher ein Einzel-
lied gewesen und erst unter Peisistratos in die Ilias gekommen
sein; da sie aber jedenfalls in den jetzigen Zusammenhang
von jeher gehörte, betrachten wir diese Notiz am besten als
eine missverständliche Umschreibung des Gedankens, dass die
Doloneia jüngeren Ursprungs sei. Mussten doch schon die
I
1) I 496 fr. deuten dies an.
2) Patroklos spricht II 273 f. ähnlich. Dagegen können die jungen
Stellen A 666 ff. 11 60 flf. S 448 ff. und die Versöhnung in T nicht auf-
kommen.
3) Dies setzt vielleicht den ersten messenischen Krieg voraus.
4) Bäum lein Ztsch. f. Altertumsw. 1848 Nr. 23.
6) Dieser beruft sich auf die „Alten", d. h. die Scholieu des Apion und
Herodoros. Nach Bergk I 698 A. soll Theageues die Quelle sein.
Die homerischen Epen. 93
Alten durch die zahlreichen Abweichungen in Sprache und
Lebensverhältnissen^) auf diese Ansicht verfallen. Der Dichter
ist nicht sonderlich gewandt; seine Mängel möchte er durch
Uebertreiben, z. B. wenn er Agaraemnons Seelenzustand
schildert, verdecken. Ein schärferer Kopf hätte sich auch
gescheut, nach der Presbeia die Nacht noch mit so vielen
Ereignissen anzufüllen. Die Sprache gleicht vielfach der der
Odyssee und ich glaube nachgewiesen zu haben ^), dass dem
Verfasser an ein paar Stellen Verse dieses Epos vorschwebten.
Nach diesen von Z bis K reichenden nachhomerischen
Partien tritt uns wieder mit A alte Dichtung entgegen. Der
Gesang setzt die Vorgänge des ersten Tages voraus. An diesem
vereitelte also Zeus die friedliche Uebereinkunft, aber der Kampf
neigte sich, weil jener noch nicht eingriff, zu Gunsten der
Achäer. Auch jetzt würden die Griechen Sieger bleiben, wenn
nicht Zeus, so oft die Troer zu weichen beginnen, ihnen Hilfe
brächte. Der Dichter gesteht, sich als Grieche fühlend, den
Barbaren an sich keine Ueberlegenheit zu, weshalb er anfangs
nachdrücklich zeigt, wie wenig jene ohne Zeus' Hilfe aus-
richten. In diesen Teil des Kampfes fällt die durch eine aus-
führliche Schilderung seiner Waffen vorbereitete Aristie Aga-
memnons. Sobald aber Zeus energisch eingreift, vermögen die
tapfersten Thaten die Katastrophe nur zu verzögern. Aga-
memnon, Diomedes, Odysseus werden getroffen; als auchMachaou
eine Wunde erhält, führt ihn Nestor aus dem Kampfe. Damit
leitet Homer die Peripetie ein. Als nämlich Achilleus den
trefflichen Arzt verwundet sieht, schickt er Patroklos um nach-
zufragen ab. Nestor benützt diese Gelegenheit und fordert ihn
auf, das harte Herz seines Freundes durch Bitten zu erweichen.
Ein Sänger, für den der pylische Greis nicht mehr als ein
alter Schwätzer war, legte die lange Geschichte aus Nestors
Jugendzeit (V. 668—762) ^) ein. Patroklos kehrt H 1 ff . zu
I Achilleus zurück und entledigt sich seines Auftrages, wobei er
' Machaon ganz vergisst; denn der Dichter hat dessen Verwundung
i nur benützt, um den Umschwung herbeizuführen, und lässt,.
i nachdem der Zweck erreicht ist, das Motiv fallen.
1) Vgl. zuletzt Ranke die Doloneia, Lpg. 1881.
2) Wiederholungen in der Od. S, 30 ff.
3) Sie ist nach der Odyssee verfasst (Wiederholungen S. 38).
94 3. Kapitel.
So schnell geht es aber in der jetzigen Gestalt des Epos
nicht. Patroklos trifft auf dem Rückwege Eurypylos, der
A 575 ff. eine Wunde empfangen hat, und wird von diesem
aufgehalten. Warum? Die Einlage hängt mit einer bedeutenden
Erweiterung der Ilias zusammen. Wie wir bereits in den Vor-
bemerkungen erkannten, sind M — 0 eine jüngere Zuthat. ^) Der
Stolz der Griechen gab nicht zu, dass ihre Landsleute ohne
weiteres zu den Schiffen zurückgeworfen würden ; daher erobern
die Troer nur mit Hilfe lykischer Helden , von denen Fürsten
der Jonier abstammen wollten, die Mauer und trotzdem dauert
der Kampf noch längere Zeit. Der Dichter lässt den höchsten
Gott wider alle Wahrscheinlichkeit seine Augen von der Troade
abwenden und sich lange nicht um den Kampf bekümmern;
in S muss dann Hera ihn wirksamer fesseln. Die ganze Ein-
lage M — 0 rührt wohl von einem einzigen Verfasser her^),
der bedeutende Begabung besitzt, über einen leichten und an-
mutigen Stil gebietet, aber allzu sehr grosse Reden liebt. Man
lese nur Hektors und Pulydamas' Zwiegespräch (N 723 ff.)^)
oder vollends wie Idomeneus mit Poseidon und Meriones redet
(N 215 — 329)*). Infolge des Figurenreichtums geht die Handlung
etwas bunt durcheinander und entbehrt der Einheit und Klar-
heit. ^) 0 leitet wieder zum notwendigen Umschlag über. In
der alten Ilias waren blos 0 405 — 746 zur Fortführung der
Handlung nötig; die Fuge merkt man noch an der Episode
0 390 — 404, die Patroklos' endliche Rückkehr berichtet. Diese,
wie das Füllstück A 806 — 848 rühren von dem Dichter der
Einlage her, weil er, um seiner Dichtung Raum zu schaffen,
Patroklos künstlich aufhalten musste.*') Gleich künstlich ist die
1) Schon Kayser hom. Abh. S. 15 A. schied N — 0 aus.
2) Nach Bergk I S. 602 flf. und Niese S. 95 ist M später; aber wirk-
same Gründe mangeln. In N lässt der Dichter die Fünfteilung der Troer
fallen , weil die Sturmkolonnen im Kampfe sich rasch zusammenballen.
M 110 bezieht sich auf N 384 flf.
3) Niese S. 108 f.
4) Nitzsch Sagenpocsie S. 276 f. Naber quaestt. Hom. 175. Niese
fi. 98 f.
6) 3 259 erscheint die Nacht ähnlich den hesiodischen Anschauungen
als uralte Göttin.
6) Nach Niese S. 84 ff. ist der Botengang des Patroklos jünger als
M — 0, weil er sich diesem anbequemen muss.
Die homerischen Epen. 95
Erdichtung der Mauer; denn während am Ende von A die
Achäer sich bereits gegen die Schiffe zurückziehen, wogt am
Anfange von M der Kampf erst um den Graben.
Während der Flucht der Achäer (0 405 ff.) ist Patroklos
zu Achilleus zurückgekehrt und erbittet H 1 — 101 (in einer
von vielen Interpolationen durchgezogenen Partie) seine Hilfe
für die Achäer. Inzwischen ist auch Aias gewichen, ein Schiff
flammt auf, da drängt Achilleus, der es nicht zum Aeussersten
kommen lassen will, seinen Freund selbst zur Eile^) und be-
treibt persönlich die Rüstung der Myrmidonen. Ihre Abteilungen
und Führer -bedeuten für die Handlung so wenig, dass wir mit
Köchly und Bergk IT 168—97 streichen. Bergk (I 627) und
Niese (S. 92) vermuten sogar, der Menoitiade sei in seinen
eigenen Waffen zu Felde gezogen ; dann verlöre das Epos eine
Iveihe der schönsten Motive; die Troer werden anfangs durch
den Schein getäuscht und leichter in die Flucht getrieben.
Später kann Achilleus seinem Freunde nicht zu Hilfe eilen,
aber so gross ist die Furcht vor seinem Heldenruhme, dass
seine blosse Stimme die Troer zum Weichen bringt. Ueberdies
muss der rachgierige Held nun bis zum anderen Tage die
ßache verschieben , so dass nicht zu viel sich auf einen Zeit-
raum zusammendrängt. Leider müssen wir Patroklos den
grössten Teil seiner einzelnen Thaten rauben, weil die Lykier
und Päonier ursprünglich fehlten. ^) Die jetzige Tötung oder
richtiger Abschlachtung des Menoitiaden, an der sich Apollo,
Hektor und Euphorbos beteiligen, ging — zur Ehre des alten
Epos sei es gesagt — • früher anders vor sich; denn aus den
bestimmten Angaben des siebzehnten Gesanges^) erhellt, dass
der Leichnam noch die Waffen Achills trug. Erst ein Späterer,
welcher nicht begriff, dass die göttlichen Waffen den Menoitiaden
nicht vor dem Tode bewahren konnten, erklärte sich dies auf
etwas rohe Weise durch das Eingreifen des Apollo. *) Auf
die zahlreichen kleineren Schäden des Textes einzugehen, ge-
stattet der Raum nicht.
1) 0äaaov II 126 heisst „schneller als Du thust."
2) Die Unterredung, welche Zeus mit Hera über Sarpedous Schicksal
hält (H 431—61), ist der über Hektor nachgebildet.
3) P 13. 16. 125. 187. 205.
4) Lachmann, Düntzer u. A. s. Hentzes Anh. H. 6 S. 34 fi".
96 3. Kapitel.
Der siebzehnte Gesang ist gleichfalls stark überarbeitet.
Wenn Rektor die erbeutete Rüstung anlegt, so widerspricht
dies mehreren anderen Stellen und ist ein Erzeugnis eines
praktischen Rhapsoden. ^) Der Kampf um die Rosse des
Achilleus (V. 424 — 542) weist manche ansprechende Züge auf,
ohne dass diese die zahlreichen anderweitigen Bedenken auf-'
wögen. ^) Wie viel von dem übrigen echt ist, lässt sich nicht
mehr bestimmen ; jedenfalls widerspricht dieses verwirrende
Hin- und Herwogen, wobei einmal (V. 319) die Troer bis
Ilion fliehen, der alten Einfachheit. Das letzte Stück (P 702—61),
welches das Zurücktragen der Leiche und den allgemeinen
Rückzug der Achäer schildert, steht zu der am Anfange von
£ folgenden Erzählung in Gegensatz; die erste Hälfte des
achtzehnten Gesanges durchziehen aber mindestens viele
kleinere Interpolationen (z. B. V. 356 — 68), über deren Zahl
jeder Forscher anders denkt. ^) Wahrscheinlich ist es, dass erst
ein Ueberarbeiter die Rettung der Leiche so effektvoll gestaltete. *)
Die Beratung der Troer ß 243—315) trägt den sanguinischen
zwischen Gefühlsextremen hin und her schwankenden Charakter,
der so vielen jüngeren Dichtungen eignet. Sehr passend^)
greift der alte Dichter V. 369 auf Thetis zurück, um sie zu
Hephaistos zu bringen; freilich entsteht dadurch der Schein,
als ob sie erst am folgenden Morgen dorthin gekommen sei.*)
Im folgenden scheidet man nach Zenodots Vorgange die Schild-
beschreibung (S 483— 608) aus, wozu sprachliche und sachliche
Neologismen berechtigen. '') Ausserdem ist es nicht recht
glaublich, dass der alte Dichter der früher keineswegs langen
1) Hentze a. O. S. 70 f., auch Niese S. 89, vgl. P 129 ff. 231.
2) Hentze a. O. S. 78 ff., auch Niese S. 122.
8) Hentze 8. HO ff. P 384 deutet schon auf den Abend; trotzdem geht
erat ^ 230 die Sonne unter.
4) I.«<hinann8 Recensent und Bergk scheiden V. 148—231 aus und
Hentze (.S. 120) V. 148—240. Niese (S. 90 f.) beanstandet die Sendung des
Antilochos, weil dieser das ihm aufgetragene Hilfegesnch nicht vorbringt;
Achilleus ist eben vor Schmerz fassungslos und erst der Zuspruch einer
Gottin vermag seinen Geist auf andere Gedanken zu bringen. Bereits Zeuodot
8chie<l den hesiodisch gearteten Nereidenkatalog (il 39—49) aus.
6) Wenn auch Jakob und Bekker daran mäkeln.
6) Bergk verwirft deshalb die ganze Scene.
7) Ueber die künstlerische Möglichkeit Brunn Rhein. Mus. 5, 340 ff.
and die Kunst bei Homer, München 1868 (Abh. der bayer. Akad.).
Die homerischen Epen. 97
Achilleis eine so umfangreiche Einleitung vorausschickte. Diese
musste vielmehr erst wachsen, um dem Schilde gewachsen zu
sein. Da aber Arktinos die Partie bereits kannte, weil er in
seiner Äthiopis ihr eine entsprechende Beschreibung von Memnons
Schilde an die Seite stellte, ist ein terminus ante quem gegeben.
T schildert die Sühne und den Wiederauszug des Achilleus;
Mährend die erstere Partie durch Rücksichtnahme auf die
Presbeia mindestens grossen Schaden erlitt, scheint die andere
ziemlich unversehrt. Abgesehen davon, dass dort die lange
Geschichte von der Geburt des Herakles (V. 95 ff.) nur eine
frühere einfache Sentenz ausführt^), nötigen die zahlreichen
Anspielungen auf die Presbeia V. 140 — 275 und zugleich wohl
auch 277 — 356 zu verwerfen.^) Oder sollen wir lieber an
T 137 f. (= I 119 f.) I 121—34 anschUessen? Dann könnten
wir uns mit ziemlich wenigen Athetesen begnügen. Dagegen
ist der Schluss des Gesanges unzweifelhaft alt und von hervor-
ragender Schönheit; ich erinnere nur an das Gespräch des
Achilleus mit seinem Pferde.
Der Bericht über Achills Thaten'^) T — X ist bedeutend
erweitert, wahrscheinlich damit jener alle übrigen Helden der
Ilias in den Schatten stelle. T 75 — 350^) schildert mit grosser
Umständlichkeit den Einzelkampf des Achilleus und Aneas,
wobei wider Erwarten Poseidon, der doch in den jüngeren Ge-
sängen mit Recht den Griechen beisteht, den troischen Helden
rettet ^) ; der Dickter dieses Abschnittes prunkt mit seiner Sagen-
kunde. ^) Die langen Wechselreden erinnern an die Begegnung
des Glaukos und Diomedes ^), sind aber bei dem leidenschaftlich
nach Rache dürstenden Peliden wenig am Platze. Ueber die
Tötung Lykaons 4> 34 — 135 ist schwer zu urteilen, doch steht der
Annahme der Echtheit nichts im Wege. Dagegen weiss der
1) Bernhardy II 1, 171.
2) Bergk I 632; besonders V. 339 f. nnd die Metapher TcoXefioo ot6|j.a
(wie K 8) fallen auf. In jenem Stücke werden lange Reden über das wichtige
Problem gehalten, ob das Heer vor der Schlacht noch frühstücken soll.
3) Kammer zur hom. Frage II. Königsberg 1870; M. Schmidt
meletemata Homerica, Jena 1878.
4) Bergk I 633. Niese S. 102.
5) In E thut es Apollo!
6) V. 213 ff. 306 ff. 313.
7) Vgl. r 176 ff. mit Z 121 f.
Situ, Geschichte der griechisclien Literatur. 7
^8
2. Kapitel.
Dichter sicher noch nichts davon, dass Achillens Asteropaios
und seine Päonier vernichtet. Auch beim Kampf mit dem
Skamandros muss ich mir, wie Bergk ^), das Urteil vorbehalten.
Mag auch der Gedanke genial und die Ausführung ebenbürtig
sein, so erregt doch die Umgebung Verdacht. V. 272 — 98
rühren jedenfalls nicht von Homer her, weil Athene mit Poseidon
eingreift und beide nichts ausrichten. Um so wirksamer und
passender tritt aber Hephaistos auf Heras Bitte, die auch sonst
dem Achilleus beisteht, als Gott des Feuers gegen den Fluss-
gott auf. Weiters spielt Hektor jetzt eine ungeschickte Rolle
vor seinem Ende: Schon T 364 ff. würde er seinen Feind an-
greifen, wenn Apollo ihn nicht auf ungewöhnliche Art zurück-
hielte; V. 419 ff. tritt er ihm aus Schmerz um seinen Bruder
wieder entgegen, wird aber im entscheidenden Augenblicke
gerettet. Beide Episoden schoV) man ein^), nachdem einmal
die ganze Erzählung bedeutend erweitert war, um den langen
Aufschub der Rache, nach der doch Achill so heftig begehrte,
zu erklären. Neben den Kämpfen gehen jetzt ausserdem
Götterschlachten einher, welche die Fürchterlichkeit der Ent-
scheidung erhöhen sollten. ^) Die Götter kommen T 4 — 75 und
stellen sich zum Kampfe auf, darunter auch der Skamander
gegenüber Hephaistos, was jenen Kampf schon vorbereitet.
Erst 4> 383—513 kämpfen die Götter wirkhch.^)
Der Schluss des alten Epos „Hektors Tod" ist dagegen
wenig geändert. X 98 — 131 zeigen Hektdt' im Sinne der
jüngeren Dichtung als milden Helden, der weit von der Ruhm-
sucht des Achilleus entfernt nur für das Wohl seines Vater-
landes und die Rettung seiner Lieben kämpft; auch jetzt denkt
er noch an Frieden und Versöhnung.^) X 167 — 187 fühlen
Zeus in ähnlicher weicliherziger Stimmung vor; als der Götter-
könig tritt er dagegen X 208 ft'., wo er die Todesloose wägt,
auf. Jetzt weicht Apollo, jetzt erst (nicht schon V. 186 f.)
1) I 684 f.; Mor. Schmidt melet. Hom. I 6 und Niese S. 102 halten
ihn für später.
2) Niese S. 103, der auch * 544 — X 20 streicht.
8) Nitzsch Sagenpocsic S. 289 f. Lehrs Arist. MOS. Bergk I 636.
Kammer zur hom. Frage 2, 50 ff. Niese S. 101 f.
4) Vgl, r 112—56. Der Verfasser setzt V. 396 und 421 die Verwimduug
des Ares und der Aphrodite voraus.
6) V. 100 bezieht sich auf I 249 ff., eine Stelle, die wir ausgeschieden lial)cii.
Die homeiiscbea Epen. 99
tritt Athene zu dem Peliden. Dass sie Hektor täuscht, berührt
unser sittliches Gefühl nicht angenehm, indes muss dem Laufe
Hektors in geschickter Weise Einhalt gethan werden. Der
troische Held fällt und wird von Achill zu den Schiffen ge-
schleift; das Schicksal des Leichnams ahnen wir aus X 335 f.
Mit der herzzerreissenden Klage der Wittwe klingt das Gedicht
hart und schrill aus, gleich den Nibelungen. Die Zukunft, die
den Tod des Achilleus (X 359 f.) und den Fall Trojas in sich
birgt, steht drohend im Hintergrund. Das Nibelungenlied
schhesst in so heroischer Art; aber den jonischen Griechen
erschien es notwendig, diese Dissonanzen aufzulösen und die
Aufregung zu beschwichtigen. Der alte Dichter (denn wir
haben keinen Grund, an einen Nachdichter zu denken), fügte
deshalb das im Vorhergehenden mehrmals angedeutete Begräbnis
des Patroklos in W 1 — 257 bei. Es ist kein sogenannter ver-
söhnender, aber doch ein ruhiger Abschluss; Achilleus selbst
sieht dem Ende seines Heldenlebens mit voller Fassung (V 243 ff.)
entgegen. Mit diesem Schlüsse begnügte sich jedoch die jüngere
Zeit nicht ^), sondern einmal wurden Leichenspiele zu Ehren
des Patroklos erdichtet, um die Schilderung prunkvoller und
lebhafter zu machen; als ferner die späteren Dichter in Hektor
das Bild eines edlen Verteidigers seines Vaterlandes und gefühl-
vollen Familienvaters gezeichnet hatten, wurde das ehrenvolle
Begräbnis dieses Helden zur moralischen Notwendigkeit ; wie
dies vermittelt werden sollte, konnte X 416 lehren. Der Dichter
der Athla zeigt bei seinem spröden Stoffe besonders eine un-
gemeine Gewandtheit, jegliche Monotonie zu vermeiden. "^) An
diesem Lobe nehmen aber, wie Lehrs^) erkannte, W 798 — 883
nicht nur keinen Teil, sondern sie zeigen recht deutlich, wie
ein geringeres Talent aus demselben Stoffe nichts besonderes
(in der Menge sicher nur langweiliges) hervorbringt. Das
1) Ueber ^ und ii vgl. Nitzsch Sagenpoesie S. 268 ff., Bergk I 637 ff.;
über ii, das schon im Altertum viele Bedenken erregte, vgl. Köchly Hektors
Lösung, Zürich 1859, Peppmüller Commentar des 24. Buches der Ilias,
Berlin 1876, auch Düntzer hom. Abh. S. 236 fl".
2) Schiller that die überschwäugliche Aeusseruug: „Wenn man auch
nur gelebt hätte, um den 23. Gesang der Ilias zu lesen, so könnte man sich
über sein Dasein nicht beschweren."
3) De Aristarchi stud. Hom. 'M30 ff.
7*
JQQ 3. Kapitel.
didaktische Stück W 303—50^) stimmt dagegen gut mit dem
Tone des ganzen Gedichtes überein, da sich der Sänger überall
bestrebt, jede Person durch Rede und Handlung zu charak-
terisieren, wobei der berühmte Pylier nicht leer ausgehen darf.
Bei Hektor verzichtet der Dichter des letzten Gesanges mit
feinem Takte auf eine ebenso ausführliche Beschreibung des
Begräbnisses. Das Hauptgewicht ruht hier auf der Totenklage,
die einen RückbHck auf die Ihas und einen prophetischen Aus-
blick auf die traurige Zukunft eröffnet. ^) So schliesst der Ver-
fasser, wenn auch nicht mit heiteren Klängen — das würde
nicht passen — , so doch in mildem versöhnendem Tone.
Das alte Epos setzte sich also aus dem Kerne von A — E,
A und 0 ^ — W ^ zusammen und umfasste in runder Summe vier-
tausend Verse, die leicht ungefähr in dem gleichen Zeiträume
wie eine tragische Tetralogie vorgetragen und demnach als
Einheit empfunden werden konnten. Vergleichen wir damit,
dass bald nach Anfang der Olympiadenrechnung ein jedenfalls
bedeutend umfangreicheres und dazu sicher einheitliches Epos
in der Athiopis vorliegt^), so fällt jedes Bedenken gegen die
Einheitstheorie,
Der ihas gegenüber stand die Odyssee auf wesentlich
verschiedenem Boden. Auch die Alten erhielten von ihr einen
andersgearteten Eindruck, schoben dies jedoch bald auf die
Verschiedenheit des Stoffes, bald auf das höhere Alter, in dem
Homer die Odyssee angeblich dichtete. Wie aus allem hervor-
geht, betrachteten die Griechen die Ihas als das vorzüglichere
Epos, das am vollsten die Eigentümlichkeiten der homerischen
Poesie ausprägte. Die grosse Frische der Erzählung, die Natür-
lichkeit und Anschaulichkeit der Schilderungen, eine gewisse
Naivität der Auffassung rechtfertigt dieses Urteil ; diese Um-
stände hätten aber zu einer genaueren Untersuchung Anlass
geben sollen, damit die Verschiedenheit des Verfassers klar
geworden wäre. Aristarch verstand sich nicht dazu, obgleich
1) Nie«e 8. 59 Rtreicht es.
2) Für Dftntzer endigt da.s Epos mit ü 676.
8) Anch wenn man bei der Angabe von 9100 Versen die 'IXiou Tcepoic
niitrrchnet, so umfasste dann doch die Athiopis etwa V? dieser Summe, also
6600 Ver»e.
Die homerischen Epen. 101
ihm die C li o ri z o n te ii, an ihrer Spitze Xenon und Hellanikos ^),
vorangegangen waren. Freilich haben diese, wie wir aus der
Polemik der Schollen ersehen, nur das Verdienst, dass sie das
Richtige dunkel fühlten, wiewohl sie es nicht wissenschaftlich
bewiesen. In unserem Jahrhunderte brachte Benjamin Constant^)
die Frage wieder in Fluss; jetzt nehmen alle an, dass die
Odyssee nicht blos von einem anderen Verfasser, sondern auch
aus späterer Zeit stamme.^) Je gesicherter aber das Resultat
erscheint , desto grössere Vorsicht ist den einzelnen Beweisen
gegenüber anzuwenden. Seit Constant spricht man namentlich
viel über die Veränderung der religiösen Ideen ; in der Ilias
sollen die Götter nämUch mehr plastisch und anthropomorph,
in der Odyssee dagegen mehr abstrakt geschildert sein. In
der Ilias sind sie menschlichen Leidenschaften unterworfen,
hier dagegen angeWich darüber erhaben , so dass sie nicht
wegen armseliger Menschen in Streit liegen, von anderem ab-
gesehen, das sich, von einem stilistisch gewandten Franzosen
gesagt, recht gut ausnimmt, bei einer eingehenden Prüfung
jedoch nicht Stand hält. Die Götter richten sich eben für die
homerischen Dichter nach den menschlichen Verhältnissen ;
überdies kommt in der Ihas gerade das Eingreifen der Olympier
sehr oft auf die Rechnung der Nachdichter. Dagegen ent-
wickelt sich der eigenartige Begriff des göttlichen Rechtes
(o-iiov) erst in der Odyssee (z 423. x ^12); erst dieses Epos
kennt im Verein mit der Presbeia Orakel (O' 77 ff. I 404 ff.).
Auch Ägypten kommt blos in diesen beiden Dichtungen vor
(I 381 und S 227 ff. 351. ^ 252 ff.); überhaupt hat der Ver-
kehr mit dem Oriente zugenommen: Cypresse (s 64. p 340),
Ceder (s 64), Palme (C 163) und Lorbeer {i 183) treten erst
1) Sturz de HeUanico p. 30 fif., Grauert Welckers Rhein. Mus. 1, 199 ff.
Hellanikos ist ein älterer Zeitgenosse des Aristarch; Thiersch acta philol.
Monac. II 581 wollte Xenon in Zenodotos ändern. Ueber Chorizonten der
Kaiserzeit Sen. brev. vitae 13 und Luc. ver. hist. 2, 20.
2) In seinem grossen Werke De la religion, Paris 1830 III 316 ff., indem
er ausführte, was Herder Adrastea V 1, 141 Lpg. 1803 schon geäussert;
ausser den Literaturgeschichten vgl. noch Barth. Thiersch de diversa Iliadis
et Odysseae aetate Jahrbb. 1, 95 ff'., Burnouf revue de deux m. 1865
S. 735 ff'.. Niese S. 48 ff'.
3) Seh ö mann Jahrbb. 19, 130 hielt noch die Odyssee für älter.
102 3. Kapitel.
in der alten Odyssee auf. ^) Der Adel hat sich bereits ein
höheres Ansehen errungen, womit zugleich die alte religiöse
Scheu vor dem Herrscher von Zeus' Gnaden abnahm; daher
heissen bei den Phaiaken die Geronten selbst Könige 2), wie
später nach dQra Sturze der Monarchie. ^) Mit Ü hat die Odyssee
Hermes als Götterboten gemeinsam, während die Ilias und die
Irosepisode (o 6 f.) Iris in dieser Eigenschaft nennen ; nicht als
ob gerade deswegen die Ilias älter sein müsste. *) Auch die
Stellung der Sänger wird verschieden genannt, weil in der
Ilias die Helden selbst singen, wogegen die Odyssee einen
Sängerstand voraussetzt; aber hat etwa ein Dilettant jenes
Epos gedichtet? Der Sänger hat im Feldlager keine Stätte, denn
vor Ares flieht die epische Muse. Manches andere beruht auf
einer Vermischung der alten Odyssee und junger Zusätze, z. B.
bezeichnet ,, Hellas" in der Presbeia und in einer Formel späterer
Stücke bereits Mittelgriechenland; ebenso nennt blos ein Inter-
polator den Mythos vom Olymp eine Sage (C 42 fF.), wie auch
die Gnomen selten von dem alten Dichter stammen. Wort-
schatz und Phraseologie der Odyssee weichen gleichfalls von dem
der älteren Ilias vielfach ab, erinnern aber nicht selten an
deren späteste Gesänge. ^) Ich verzichte darauf Proben zu
geben , da auch hier der Mangel an systematischen Arbeiten
sich fühlbar macht. ^ In Hinsicht auf die Metrik verliert muta
cum Hquida immer mehr die längende Kraft.
Obgleich an sich ein Genie beide Werke hätte vollenden
können , ist doch die ganze Art des Dichtens zu verschieden,
als dass wir dieses Verhältnis annehmen dürften. Der Dichter
der Odyssee dichtet freilich in der Art des alten Epos; er be-
müht sich den ganzen Reichtum der ihn umgebenden Natur
1) Die Feige (Hehn Knlturpflanzen '84) erscheint blos in zwei späten
Sceoen, den Alkinoosgärten und dem Schlüsse der Nekyia.
2) »■ 40 f. 390 f. vgl. a 394.
8) Z. B. Hes. E. 88.
4) Im tritt anch Hes. Th. 784 flf., Hymn. 1, 102. 5, 314, in den Kyprien
nnd anf der Fran9oi8va8e als Götterbotin auf, Hermes dagegen in älterer
Zeit Wo« Hes. Th. 939. Wahrscheinlich waren die Ämter beider anfangs
ge«chie<Ien ; deshalb kommen in ü und auf einer Vase (Overbeck her. Bildw.
9, 7) beide neben einander vor.
6) Vgl. die Monographien über die Doloneia und ii.
6) Bergks Sammlung (I 731 f.) bedarf der kritischen Revision.
Die homeiischeu Epen. 103
ZU umfassen und die Einzelheiten getreu wiederzugeben, aber
er vermag nicht mehr zu der Frische und AnschauHchkeit,
Velciie auch nur den ältesten Liedern der Ilias in vollem Masse
zukommen, sich aufzuschwingen. Die Odyssee entbehrt daher
der Farbenpracht ihres Vorbildes, weshalb sie Jean Paul^) mit
Recht dem Monde und die Ilias der Sonne vergleicht. Diesen
Mangel sucht der Sänger durch etwas raffinierte Mittel aufzu-
wiegen. Variation geht ihm über alles. Während die Ilias als
treibendes Motiv der Groll des Achilleus durchzieht, fehlt bei
der Odyssee ein solches oder vielmehr es zersplittert sich. Für
den ersten Teil hätte es der Zorn des Poseidon werden können;
der Dichter ist aber damit nicht zufrieden, sondern fügt die
Eröffnung des Windschlauches und die Rache des Helios hinzu.
Im zweiten Teile gibt sich Odysseus seinen Angehörigen zu
erkennen, und thut dies bei Telemach, den Hirten und Penelope
durch ein jedesmal verschiedenes Mittel. Er erzählt ferner seine
angeblichen Abenteuer jedem, der ihn danach fragt, und immer
mit neuen Phantasiesprüngen. Wie der Dichter hier die Wahr-
scheinlichkeit seiner Fabulierfreude zu Liebe etwas in den Wind
schlägt, so thut er es im ersten Teile bei den Phäaken.
Odysseus gibt sich bekannthch — gegen die homerische Sitte
— seinem Wirte erst am folgenden Tage zu erkennen, weil der
Dichter die Erkennungsscene in besonders feierlicher Situation
und vor möglichst zahlreichem Publikum, also besonders effektvoll
vor sich gehen lassen wollte ; darum beantwortet sein Odysseus
mit anerkennungswerter Geschicklichkeit nur die zweite Frage
der Arete, welche die Kleider betrifft und das daran sich
schliessende Gespräch führt von der ersten weit ab. Dem
Dichter der Ilias und seinen ersten Fortsetzern waren derartige
Kunstgriffe ebenso fremd, wenn auch nicht in dem Sinne wie
den meisten gestrengen Kritikern, die darin nichts als Unge-
schicklichkeit sehen. In ähnlicher Weise verschiebt der Sänger
das Zwiegespräch Penelopes mit ihrem unerkannten Gatten auf
den Anbruch der Nacht , damit sich eine malerische Situation
ergebe. Weniger Gewicht lege ich auf die künstlichere Kom-
position der Odyssee; hätte denn die Ilias eine solche Ver-
schlingung überhaupt gestattet? Ohne Zweifel steht die Odyssee
Ij Vorschule der Ästhetik Progr. 4 § 20.
104 3. Kapitel.
aber auf einer vielfacli verfeinerten, ja überfeinerten Stufe und
ist durch mindestens ein Jahrhundert von der alten Ilias
getrennt.
Weini wir von einer wenig bedeutenden Schrift von Koes ^)
absehen, Wieb die Odyssee lange vor dem Anstürme der zer-
setzenden Kritik bewahrt, da ihr kunstvoller Bau vor der be-
dingungslosen Anwendung der Liedertheorie zurückschreckte, ^)
Selbst Hennings, der eine gehaltreiche Schrift über die Tele-
machie verfasste ^), und Köchly in drei Programmen de Odysseae
carminibus (Zürich 1862 — 4)*) wagten die Odyssee nur in
Liedergruppen ^) zu zerlegen; doch wird niemand leugnen, dass
diese Versuche geseheitert sind. Der Hauptangriff auf die
Einheit ging von dem berühmten Epigraphiker A. Kircbhoff
aus, der 1859 ,,Die homerische Odyssee und ihre Entstehung"
(Berlin) veröffentlichte; vielfach erweitert aber nicht besser be-
gründet liegen seine Untersuchungen zuletzt in der Schrift ,,Die
homerische Odyssee" (Berlin 1879) vor. Kirchhoff stellt folgende
Ansichten auf: Der früheste Bestandteil der Odyssee ist der
,,alte Nostos des Odysseus", welcher die erste Götterversammlung,
des Odysseus Erlebnisse bei den Phäaken (mit Ausschluss von ^),
ferner von seiner Erzählung nur den neunten und elften Gesang
und endlich einen kurzen Bericht über die Kückkehr nach
Ithaka enthielt. In späterer Zeit, aber noch vor dem Beginne
der Olympiadenrechnung wurde dieses Epos von einem weniger
bedeutenden Dichter so fortgesetzt, dass er mit ängstlicher
Benützung älterer Lieder die weiteren Schicksale des Odysseus
bis zur Wiedervereinigung beider Gatten erzählte. Weil er die
wichtigsten Gesichtspunkte und Motive nicht festhalten konnte,
scheint er ein sehr beschränkter Kopf gewesen zu sein. Noch
1) de discrepantiis quibusdam iu Odyssea otcurentibus, Kopenhagen 1806.
2) Heer klotz Betrachtungen über die Odyssee, Trier 1854 verstieg sich
allerdings soweit.
8j Jahrbb. Suppl. 3, 133—234 (auch separat Lpg. 1858).
4) Auch „üJ>er den Zusammenhang und die Bestandteile der Odyssee" in
den Verh. der 21. Phil.Vers. zu Augsburg S. 34 ff.
6) Nach Köchly 1. Telemachs Ausfahrt. 2. Odysseus bei den Phaiaken,
denen er »einen NoMtos erzählte (Kikhly scheidet die Nekyia und die Helios-
rinder aus; auf den Kyklopen folgen die Lästrygouen, dann kommt Odysseus
zu Aiolo«. Die entfe-nselten Winde treiben sein Schiff umher und Zeus' Blitz
zerschmettert es. Warum?). 3. Fortsetzung nach älteren Einzelliedern.
Die homeriscliea Epeu. 105
schlimmer stand es mit dem geistigen Befinden des „Ordners",
<ler um die dreissigste Olympiade die Telemachie (a — S) und
den jüngeren Nostos (x und |x) einschob , sowie verschiedene
redaktionelle Zusätze u. dgl. machte. Ein merkwürdiges Geschick
des herrlichen Epos, dass es in immer ungeschicktere Hände
fiel! Merkwürdige Leute diese Griechen, die nicht lauten Wider-
spruch gegen solche Manipulationen erhoben! Es ist ein Glück,
dass das kühne Gebäude auf recht schwachen Beweisen ruht. ^)
Die einschneidendste Hypothese, nach welcher der zweite
Teil der Odyssee vom ersten zu sondern ist, stützt sich auf
die Behauptung (S. 538 fif.), bei den Phaiaken erscheine Odysseus
noch in der vollen Blüte männlicher Schönheit , in Ithaka
dagegen als hinfälliger Greis. ^) Der Fortsetzer habe, um diesen
Widerspruch zu vermitteln, Odysseus v 430 ff. durch Athene
verwandelt werden lassen. Die homerischen Helden altern aber
nicht weniger langsam als ihre Frauen. Wenn nun Penelope
nach zwanzig Jahren voll Kummer und Thränen noch immer
so viele Freier anzieht, wie könnten die Leiden ihren Gatten
weit mehr als einen gewöhnlichen Menschen entstellt haben,
so dass er einem Greise vollständig gleicht? Wie' sollen wir
von dem hinfälligen Alten den Freiermord erwarten? Es ist
richtig, dass die Erkennungsscene in t^ Anstoss erregt, aber
Kirchhoff erkennt selbst an , dass die Erzählung dort gestört
sei. Als nämlich (o, das den Racheversuch der Verwandten
schildert, an das Epos trat, hielt ein Rhapsode es für notwendig,
den klugen Laertiaden schon vorher darauf Rücksicht nehmen
zu lassen und schob in diesem Sinne <}> 117 ff. ein. Da der
Literpolator damit die Erzählung störte, nahm er eine Umstellung
1) Vgl. W. Hartel Ztsch. f. Ost. Gymu. 1864 S. 473 ff. 1865 S. 317 ff.;
Düntzer Kirchhoff, Köohly und die Odyssee, Köln 1872; Heimreich die
Telemachie und der jüngere Nostos, Flensburg 1871; Kammer die Einheit
der Odyssee, Lpg. 1874 (ein namentlich durch poetisches Verständnis hervor-
ragendes Buch); G. Schmidt über Kirchhoffs Odysseestudien, Kempten 1879
und meine Schrift „Die Wiederholungen in der Odyssee" München 1882.
Es ist ein schlimmes Zeichen für Kirchhoffs Theorie, dass, wenn seine Schüler
sie verteidigen, sie dem Gegner den tendenziö.sen Vorwurf machen, er wende
sich speziell gegen „Berliner" Gelehrte. Aus dieser lusinuation wie aus
anderen Symptomen erhellt blos, dass die wissenschaftlichen „Beweise" längst
erschöpft sind.
2) Mit Zustimmung von Niese S. 152 f.
lAg 3. Kapitel.
vor und verband das Bad des Odysseiis mit dem seiner Kam})!-
genossen. Ursprünglich folgten jedoch auf V. 87 V. 153 — 6.
1(;3_4. >) 88—93. 96 — 112 (mit IItjvsXoztiV statt TTjXeiiaxov),
hierauf V. 166 ff. Der kluge Odysseus leitet also, weil er Pene-
lope von verborgenen Zeiclien reden h()rt, absichtlich die Rede
auf das kunstreiche Bett. So scheint mir die Schwierigkeit mit
den einfachsten Mitteln gehoben.^)
Wir kommen zum ,, jüngeren Nostos": Kirchhoff (S. 292 ff.)
fällt auf, dass in x und {i Odysseus Dinge, die er nicht gesehen
haben könne, erzähle. Namentlich irritiert ihn die im Olymp
spielende Scene \l 374 ff. Der Leser erinnert sich vielleicht,
dass schon einmal die Rede davon war, ein epischer Dichter
erzähle nicht mit der peinlichen Genauigkeit eines Protokoll-
führers; wer möchte vollends an solche Märchen den Massstab
der nüchternen Logik anlegen? Zudem bietet die Odyssee in
der Erzählung des Eumaios (o 420 ff.) eine Parallele und auch
im neunten Gesänge^) könnte man ähnliche Dinge entdecken.
Wenn ferner Kirchhoff auf mehrere aus der Argonautensage
entlehnte Punkte hinweist, so haben Kirke und die Lästrygonen
mit Medea und den Dolionen fast nichts gemein; die direkten
Anspielungen aber wären erst noch als echt zu erweisen. Auch
gelingt es ihm nur durch Athetese von X 104 — 13 die Nekyia
vonQ „jüngeren Nostos" loszutrennen; da verlohnte es sich für
Odysseus wahrlich nicht der Mühe, den Schrecken des Hades
zu trocknen , wenn ihm Teiresias über die Heimkehr nur mit-
teilte, er komme erst spät nach Itliaka, und ausführlich blos
über Dinge, nach denen er nicht gefragt ist, spräche, während
jetzt in seiner Rede eine schöne Symmetrie herrscht.
Nicht glücklicher scheint Kirchhoff (S. 275 ff.) vorzugehen,
wenn er wie Köchly verlangt, der Laertiade müsse auf Aretes
Frage (yj 238 f.) sogleich sich vorstellen und seine Erlebnisse
zum Besten geben; t 16 ff. sei also an tj 242 zu schieben.
Abgesehen von sprachlichen Bedenken, die sich dagegen erheben,
1) Mit der besseren in w 365 erhaltenen Lesart töfppa 8' '03.
2) Bei Kirohhoff spräche Penelope so antlällig von dem Geheimnisse,
dr«s jeder, der nicht so geistesschwach wie Kirchhofts Marionetten ist, hinter
der Häufung ixtoc, evS-a und exä-eiaat, zumal da sie kurz vorher des ver
borgenen \S'nhrzeichen8 gedacht hat, etwas besonderes suchen mü.sste.
1) Z. B. t 106 ff.
Die homerischen Epen. 107
wäre es auffallend, wie ein Ueberarbeiter dazu kam, die ein-
fache Erzählung so künstlich zu spalten und zu dehnen. Dann
übersehen Köchly und Kirchhoff, dass nach ihnen Odysseus
ungefragt in einem Atem seine ganze Leidensgeschichte er-
zählte und Aretes zweite Frage, auf die sie das meiste Gewicht
legt, erst nach vielen hundert Versen beantwortete.
Mit diesen Stützen fallen natürlich auch die weiteren
Folgerungen Kirchhoffs. Alt soll nur der Nostos des Odysseus ^)
sein, welcher aus a 1—87, s 28 — tj 242. i 16—564. X 25—564
628—35. Yj 252 — 297. v 1 — 184 bestand und nach der Scene
in der Unterwelt, wohin Odysseus aus unbekannten Gründen
und ohne Anleitung hinabsteigt, die Rache des Poseidon scliil-
derte. Kirchhoff operiert mit dem früher erwähnten Mittel, in
den Nachdichtern und -Rhapsoden blos Schwachköpfe, welche
die Ideen der grossen Kpen nicht festhalten konnten, zu sehen
und doch treffen wir bei den gleichzeitigen KykHkern bedeutende
poetische Kraft und zugleich pietätsvolle Rücksicht gegen die
homerischen Dichtungen.
Versuchen wir nun unabhängig von Kirchhoff ein Bild
der alten Odyssee zu entwerfen : Gleich am Anfange wurde sie
durch die Telemachie ^) erweitert. Nach dem Götterrate erwartet
jedermann, dass nach den bestimmten Worten Athenes ^) Hermes
sofort zu Kalypso eilen werde. Doch davon geschieht nichts.
Athene begibt sich vielmehr nach Ithaka und regt dort Tele-
raachos zu einer zwecklosen Volksversammlung und einer nicht
minder zwecklosen Reise an , während Odysseus noch länger
bei Kalypso ausharren muss. Endlich treten am Anfange des
fünften Gesanges die Götter abermals zu einer Versammlung
zusammen, reden nichts neues in obendrein meist erborgten
Versen und jetzt erst macht sich Hermes auf den Weg. Auf
die chronologische Verwirrung, welche durch die Einordnung
1) Eine sonderbare Odyssee stellt Niese (S. 187 ff.) zusammen: Er streicht
a — j, in ', das Kyklopenabenteuer, in v. Kirke, dann X; vom zweiten Teile
sind ihm acht der Anfang von v, x und die Erkennung in '|. Die Freier
sollen nur den dunklen Reflex abgeben; zum Lohne kommen sie mit heiler
Haut davon. Den Nostos hatte schon Adam die älteste Odysse, Wiesbaden
1877 ähnlich zugeschnitten.
2) Zuerst von W. Müller und B. Thiersch ausgeschieden.
3) Namentlich V. 85 otppa Ta)(^ioTa v6fi«p-fl Eo:c>.oxd|Aü) ti7:-(j vYifXEpTE«
ßooX-fjv.
jQg 3. Kapitel.
der Teleinachie entsteht^), lege ich weniger Gewicht, da man
einem Dichter in solchen Nebensachen nicht zu genau auf die
Finger sehen darf. Der Dichter der Telemachie kennt aber
im Osten bereits die Erember (5 84) und mit Ägypten und
l^ibyen ist er vertrauter als die anderen homerischen Sänger.^)
Kirchhoff (S. 315 fif.) weist überzeugend nach, dass die Tele-
machie älter als die Eöen oder der Katalogos ist, während
andererseits die genauere Kenntnis Afrikas auf die Zeit nach
Psammetichs Thronbesteigung deutet. ^) Da s 1 — 27 zu schlecht
ist, um von dem Verfasser der Telemachie herzurühren, anderer-
seits aber diese unzweifelhaft an a 87 anknüpft, so ist sicher,
dass die Eindichtung nicht von Anfang der Odyssee einge-
gliedert war, sondern eine halb selbständige Stellung — ich
mochte sagen wie der Trabant eines Sternes — einnahm. *)
Der Rest von s und der folgende Gesang blieben von der
Kritik fast unangetastet ; denn vor der Feinheit und Lieblichkeit
der Erzählung schwindet jedes Bedenken gegen ihre Ursprüng-
lichkeit. Das Märchenland der Fhäaken ist der geeignetste
Ort, wo Odysseus seine wunderbaren Geschicke erzählen kann ;
ebenso passt die Zeit am besten. Es ist ja nach so vielen
Jahren der Irrfahrten und der herzquälenden Sehnsucht der
enfte i'uhige und sorgenlose Tag, von der Hoffnung auf end-
liche Heimkehr verklärt und noch nicht getrübt durch die
Kunde von den Freiern. Die Kritik fordert erst wieder der
siebente Gesang heraus, an dessen Anfange ein Epigone, ob-
gleich C 300 Nausikaa selbst dies für unnötig erklärt und der
findige Odysseus gewiss nicht in Verlegenheit wäre, Athene
herbemüht, damit sie ihren Schützhng zum Palaste des
Alkiuoos geleite. Dabei laufen andere Sonderbarkeiten (z. ß.
die Gynaikokratie) ^) mit unter, welche die Andeutungen echter
1) Hennings S. 198 ff., dagegen Kammer S. 233 ff. und uochmal Hen-
nings Jahrbb. 109, 631 ff. 677 ff. 111, 269 ff
2) Z B. 8 86 mit Thär Philol. 29, 602 f.
8) Die Ueberlistuug des Proteus sah man am amykläischen Throne (um
Ol. 26) dargestellt.
4) Kircbhoff 8. 238 ff. schreibt dem Ordnet das erste Buch zu und
•tempelt so die Telemachie zu einem unmöglichen Torso; seine Gründe über-
zeugen nicht (Wiederholungen S, 74 ff.).
6) t) 81 ff. 66 ff.
Die homerischen Epen. 109
Stellen übertreiben. Vermutlich wollte der attische ^) Interpolator
schon im ersten Teile Athene thätig in die Geschicke ihres
LiebHngs eingreifen lassen. ^^) Fast unmittelbar folgen zwei
bedeutende Einschiebsel, von denen Friedländer ^) die Be-
schreibung der Alkinoosgärten (y] 103 — 32) ohne Widerspruch
ausschied. Der Verfasser derselben griff C 293 f. auf, versetzte
aber die Gärten willkürlich an den Palast, weil er diesen schon
beschrieben vorfand. Auch dieser Abschnitt (r^ 84 — 102) verrät
sich durch ungeschickte Anknüpfung als Interpolation. ^) Wie
wir oben gesehen haben , verläuft nun bis auf einige Inter-
polationen, unter denen namentlich die Rede des Alkinoos
Yj 308 ff. zu leiden hatte, die Erzählung ungestört. Grösseren
Schaden hat 0- erlitten. Zunächst ist V. 7 — 15 wieder ein un-
passendes Eingreifen Athenes zu verzeichnen; bald aber folgt
eine grössere Eindichtung, die sich durch die gleichen Verse
93 — 7 und 532 — 6 kennzeichnet.^) Das Motiv des troischen
Liedes, das die Erkennung herbeiführt, wird in der Absicht,
für eine Aristeia des Odysseus Raum zu gewinnen gespalten.
Jene erweiterte ein zweiter Sänger mit dem epischen Gesänge
von Ares und Aphrodite, der sich natürlich nicht zu einem
Tanzhede eignet und die Götter mit frivolem Spotte behandelt.
Mit V. 533 gelangen wir wieder auf alten Boden, nur dass
Interpolatoren die Rede des Königs kläglich entstellt und mit
einer Fülle von Sentenzen einer Predigt angenähert haben.
Dem entsprechend verbrämten sie die Antwort des Odysseus
mit ähnlichen Gnomen.
Von der neunten Rhapsodie zweifelt ausser Adam und
Niese kein Mensch, dass hier alte Poesie vorliegt. Sie ist so
1) Y) 80 f.
2) Wahrscheinlich standen f) 54 f., die jetzt zur folgenden Genealogie
nicht mehr passen und vom Verfasser der Eöen auch nicht in dieser Ver-
bindung gelesen wurden (anders Kirchhoff S. 320 ff.), in der Kede Nausikaas ;
Athene konnte mit ihnen deren Mitteilungen nützlich ergänzen.
3) Philol. 6, 669 fl'.
4) Literatur s. Wiederholungen in der Od. S. 97 A. 75.
5) Wiederholungen S. 126 f. Der Interpolator entnahm einige Verse
(mindestens * 389—93. 398—9. 417—9) aus v (Köchly opusc. I 187 ff.
Harte] Ztsch. f. öst. Gymn. 1865 S. 339 ff.; Düntzer Kirchhoft', Köchly
und die Od. S. 107 ff'., Kammer S. 121 ff., auch Bergk I 659. 680). Einen
terminus ante quem bietet wieder der amykläische Thron, der den Tanz der
Phäaken zeigte.
IIA 3. Kapitel.
wunderbar gut erhalten, dass wir glauben möchten, die
Riiapsoden hätten fast eine heilige Scheu vor dem Werke
empfunden. Um so schwerere Probleme knüpfen sich an die drei
Gesänge, die den Rest des Nostos enthalten. Da Kirchhofts
Gründe nicht genügen, müsste sich ein Verteidiger des jüngeren
Nostos nach anderen Beweismitteln umsehen. Was die un-
passenden Wiederholungen von Versen anlangt, so habe ich
einige Fälle zusammengestellt^) und daraus geschlossen, dass
der jüngere Nostos zwar etwas später, aber nicht notwendig
von einem anderen Dichter verfasst sei. Nach nochmaliger
Prüfung der Sachlage kann ich mich nicht einmal dazu ver-
stehen, sondern glaube, dass kein einziges vollwichtiges Moment
vorliegt, um i von x und {jl zu trennen. ^) Im Gegenteil scheint
es als ob der Dichter den Nostos höchst symmetrisch angelegt
habe. Nicht nur ziehen Bilder des Kampfes und des Friedens
in anmutiger Verschränkung an dem Hörer vorüber, sondern
es lässt auch der Wechsel von kürzeren und umfänglicheren
Scenen^) eine gewisse Absicht nicht verkennen.
Mit nicht besserem Rechte erklärt man die Nekyia für
ein Produkt der jüngeren Zeit. ^) In ^ müssten wir starke Ueber-
arbeitungeu annehmen, um die darauf bezüglichen Stellen zu
tilgen^); auch die einleitenden Verse am Ende von x erwecken,
wenn wir V. 529 — 30 und 532 streichen, kein Bedenken. Freilich
ist jetzt die Einfügung der Nekyia schwach motiviert, indes
wohl aus dem Grunde, weil die ursprüngliche Sage verblasste,
oder kommt nicht das gleiche auch in unseren Nibelungen
vor? Dort klären uns die Eddaheder über dunkle Punkte auf,
hier aber fehlt ein derartiges Korrektiv. Reinigen wir also die
Nekyia von den zahlreichen jüngeren Zusätzen, so liegt kein
Grund vor, warum sie dem alten Epos fremd gewesen sein
1) Wiederholnugen S. 104 ff.
2) lu dem formelhaften Verse x 543 haben blos gedankenlose Abschreil)er
von^T, Htatt K'f,xY, gesetzt; die Verse ji 314—5 fügte man, wie so oft, ge-
dankenlos aus '. 68—9 hinzu, weil jjl 313 sich mit t 67 deckte, obgleich nicht
Stiimi, Boudem ein lange anhaltender Wind sich erhebt. Die übrigen Fälle
batwu kein Gewicht.
8) Niese S. 170 ff. schliesst daraus auf die Verschiedenheit des Ursprungs.
4) Literatur h. Hentze S. 115 ff. und Wiederholungen S. 111 (schreibe
Jackel statt Jäck).
6) Wiederholungen S. Hl ff.
Die homerischen Epen. Hl
•sollte. ^) Unzweifelhaft alt ist nur die Befragung des Teiresias
V. 90 — 137. 150 — 1 und das Wiedersehen der ehemaligen
Gefährten V. 387 — 564, wo die drei ausgezeichnetsten Achäer
auftreten und so gleichsam eine engere Verbindung der Odyssee
mit dem troischen Sagenkreise herstellen. ^) Letzteres Stück ge-
hört zu den vorzüglichsten Partien der Ilias. Die Helden sind
dieselben wie in der Ilias und doch auch wieder nicht, weil
über allem der düstere Schatten des Todes liegt. Die Scenen
mit Elpenor^) und der Mutter des Odysseus sind vielleicht
ebenfalls alt. An letztere Episode schloss ein mittelgriechischer
Sänger einen längeren Heroinenkatalog (V. 225 — 327), in welchem
Tyro die glänzendste Kolle spielt. Die Zahl der Heroen er-
weiterte ein anderer Spätling durch ein ähnliches Verzeichnis
V. 565 — 627 ^), indem er Odysseus von der Schwelle des Toden-
reiches plötzlich mitten in dieses hinein versetzte; überdies
weist diesmal die Sprache unverkennbar auf ein spätes Jahr-
hundert. Endlich bemitleidete ein Rhapsode, der wohl an sich
selbst die Mühsal eines langen Vortrages verspürte, den ge-
plagten Odysseus, weil er seinen ganzen Nostos in einem Athem
erzählte, und schob, ihm eine Ruhepause gönnend, V. 328 — 84
ein ^), obgleich nun Odysseus seine Zuhörer ohne weiteres in
der Unterwelt stehen lässt. Erst eine Frage des Alkinoos bringt
die Erzählung wieder in das Geleise.
Der Anfang von v berichtet, was Odysseus nach der Er-
zählung seiner Abenteuer bei den Phäaken erlebte. Aber wenn
auch Odysseus ohne Hindernis sein Vaterland erreicht, so ist
dies für den Kritiker nicht der Fall; denn in V. 125 — 87 drängt
sich eine Episode ein, die an eine Lokalität von Kerkyra an-
knüpfte ^) ; einen Stein von der Gestalt eines Schiffes verbanden
nämlich die Kerkvi'äer, seit ihre Insel als das Land der Phäaken
1) Kein Widerspruch liegt in v 42 f. (Niese S. 168); die gegenüber der
Ilias mehr entwickelten Ansichten von der Unterwelt beweisen auch nichts
dagegen.
2) Der Dichter der Teleniachie verfolgt denselben Zweck.
3) Jünger nach Lauer, Kirchhoff und Düntzer Philol. 18, 716.
4) Seit Nitzsch fast allgemein verworfen.
5) Lauer quaestt. Hom. I p. 9 adn. 15; H e n n i n g s Telemachie S. 145;
La Roche Ztsch. f. öst. Gymn. 1863 S. 193 u. A. Kirchhoff S. 225 f. ist
jetzt eben so mitleidig.
6) Wiedei holungen S. 127.
iio 3. Kapitel.
galt, mit der Odysseussage und erfanden dazu eine nicht eben
plausible Geschichte. Jedenfalls geschah dies nicht früh; wenn
im späten Anhange der hesiodischen Theogonie Kirke den
J.,atinos gebiert, so ist dies die früheste Spur des Bestrebens,
homerische Fabelländer zu lokalisieren.
Wie Odysseus' Leiden mit seiner Heimkehr noch nicht
zu Ende waren, häufen sich für den Forscher gerade von
diesem Zeitpunkte an die Probleme in besonderem Masse. Es
fragt sich zunächst, ob der zweite Teil zugleich mit dem ersten
oder später gedichtet wurde und, wenn letzteres der Fall ist,
ob von demselben Verfasser oder von einem anderen Sänger. ^)
Manche Gelehrte wollten eine Verschiedenheit der Darstellungs-
weise entdecken, indem sie im zweiten Teile knapper und
flüchtiger sein soll, was wenigstens von den sicher alten
Partien gewiss nicht gilt. Die Untersuchungen über Sprache
oder auch Widersprüche können erst dann zu einem gedeihlichen
Resultate führen, wenn der Untersuchende altes und junges
sorgfältig scheidet ; durchzieht doch die zweite Hälfte der Odyssee
eine Menge von später eingelegten Episoden. Wir wollen zuerst
den wahrscheinlichen Gang der ursprünglichen Handlung
skizzieren und dabei die weniger bedeutenden Arabesken sogleich
wegschneiden.
Odysseus erwacht, erkennt aber vom Nebel geblendet sein
Vaterland nicht, bis Athene, die zuerst seine Klugheit auf die
Probe stellt, ihn beruhigt und den Nebel zerstreut.^) Nachdem
sie ihn über die Zustände Ithakas aufgeklärt und in einen
Bettler verwandelt, geht er in i zu Eumaios. Der vierzehnte
Gesang exponiert nun die Gefühle derer, die Odysseus lieben,
iu ausgezeichneter Weise und malt, wie sie verzweifelnd von
einem Hoffnungsstrahl nichts mehr wissen wollen. Die V. 459 —
524''), welche ein Anekdötchen mitteilen, können echt sein.
Am anderen Morgen treibt Athene Telemachos an, den Schweine-
hirten wieder einmal zu besuchen (Infolge der Einschiebung
der Telemachie wurde der Besuch anders, aber nicht sehr
glücklich motiviert). Im folgenden stört nur eine Anspielung
auf die Telemachie {z 16 ff.) ; weiter bemühte sich der Interpolator ]
1) Wiederholnngen 8. 128 ff.
2) V. 311—51 stiecken blos die Reden (Meister Philol. 8, 9).
«) Wiederholungen .S. 130 f.
Die homerischen Epen. 1X3
nicht , nur dass er während der Erkennungsscene Eumaios als
Boten nach der Stadt schickte. Wahrscheinlich ging er im
alten Epos einfach fort, um die Schweine zu hüten oder um
den Freiern ein Tier zu bringen. Die Erkennung und Beratung
verlaufen bis auf einige Interpolationen ungestört. ^) Am nächsten
Morgen kehrt Telemach in die Stadt zurück ; etwas später macht
sich Üdysseus mit Eumaios auf den Weg und wird von Melan-
thios beschimpft. Auch die Freier empfangen ihn unfreundlich,
ja der reizbare Antinoos misshandelt ihn sogar. Als Penelope
den Bettler zu einem Zwiegespräche rufen lässt, vertröstet er
sie auf den Abend. Nachdem erst Eumaios und dann auch
die Freier sich entfernt haben, steigt Penelope in den Männer-
saal herab. Es folgt nun die herrliche Unterredung zwischen
der Königin und dem unerkannten Gatten, welche mit V. 316
schliesst. Nicht blos die treuen Diener, selbst die Gattin, die
so lange gehofft, verzweifelt jetzt vöüig an der Rückkehr des
Odysseus; dies bereitet den Hörer schon auf den Preiskampf
vor. Wahrscheinlich begab sich nach V. 316 Penelope sogleich
wieder in ihre Gemächer (V. 594 ff.). Ein späterer schob die
Eurykleiascene ein, obgleich diese treue Pflegerin sonst im
Hintergrunde steht, bewerkstelligte dies aber nur durch eine
Reihe von Unwahrscheinlichkeiten, die keine rechte Freude an
der für sich betrachtet schönen Erzählung aufkommen lassen. ^)
In die Mitte dieser Episode drängte sich vielleicht eine Re-
miniscenz an eine Eberjagd des jungen Odysseus (t 395 — 466),
die seit B. Thiersch^) Allen für unecht gilt. Nachdem die
Eurykleiascene bereits eingeschoben war, wollte ein Anderer das
Preisspiel und den Freiermord eindringlicher vorbereiten, indem
er sowohl einen bedeutungsvollen Traum der Penelope, welcher
merkwürdiger Weise ihre Hoffnungen nicht belebt, obgleich
sich ihr Herz an jeden Hoffnungsschimmer klammern sollte,
als auch den Plan des Wettkampfes, welchen nach ^ 1 ff . erst
Athene der Fürstin eingal), hinzufügte. Hier befremdet schon
der anknüpfende Vers 509 , dann ist der Gedankengang so
störend, dass man sieht, der Nachdichter habe jene beiden
1) Namentlich tc 281—98 (Wiederholungen S. 138); nach V. 321 kamen
V. 452—9 und 478—81.
2) Payne-Knight und Kammer Einheit der Odyssee S. 647 ff.
3) Urgestalt der Odyssee S. 19; nur Bergk I 711 sträubt sich dagegen.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 8
j]^4 3' Kapitel.
Motive um jeden Preis hereinbringen wollen, mochte sich auch
ein ziemlich ungereimter Dialog daraus ergeben; besonders
eigentümlich bricht Penelope das Gespräch ab. ^) Aus dem
zwanzigsten Gesänge ist der alte Kern nur vermutungsweise
herauszuschälen. Die Katastrophe soll durch möglichst viele
V^orbedeutungen dem Hörer nahegerückt werden und die Freier
müssen in der Schnelligkeit noch einige Frevel begeben oder
begehen wollen. Vielleicht bilden nur die gewöhnlichen Berichte
von Sonnenaufgang, dem Aufstehen, dem Herrichten des Saales
und der Ankunft der Hirten den echten Bestand. Der Wett-
kampf und der Freiermord scheinen dagegen fast ganz in der
ursprünglichen Weise erzählt: In jenem ist vielleicht der Ab-
schnitt, welcher die Geschichte des Bogens gibt, später^), doch
urteilt hier der Kunstgeschmack unserer Zeit wahrscheinlich zu
strenge. Bei der Kampfschilderung selbst aber kann ich wie
Kammer (S. 614 ff.) das Gefühl nicht unterdrücken , dass ein
anderer Sänger Melanthios' Thätigkeit, wahrscheinlich weil ihm
das Hinschlachten der wehrlosen Freier widerstrebte, erst er-
dichtet habe , obgleich auch jetzt die Wafifenzufuhr blos eine
nominelle ist. Ueberdies leidet der ganze Abschnitt von V. 126
bis 260 an so vielen Unklarheiten und Unwahrscheinhchkeiten,
dass ich nicht umhin kann , ihn und damit auch V. 272 — 80
auszuscheiden. Den Schluss entstellt die barbarische Hin-
schlachtung der untreuen Mägde und des Melanthios^), die
mit den edlen Worten des Odysseus V. 412 in grellem Wider-
spruch steht, lieber die Störung in ^ habe ich bereits oben
gesprochen. Schon Aristophanes und Aristarch schlössen mit
V. 296 die alte Odyssee.'')
In diesen Rahmen fügten die Epigonen viele Episoden ein,
welche zumeist von gewissen allgemeineren Gesichtspunkten
abhiugen. Die Telemachie bildete ursprünglich eine Art von
Vorspiel der Odyssee ; denn nur mit der vorhergehenden Götter-
versammlung war sie untrennbar verbunden. Die übrigen
verbindenden Partien^) sind blos Füllstücke und vielleicht das
1) Bergk I 712. Niese S. 163.
2) KirchhoflS. 528, vgl. Jacob Entatehung der Ilias und Odyssee S. 600.
8) / 417—32. 467—79 n. A.
4) Mon kann darauf auch den Ausdruck des Theoguis (V. 1128) beziehen:
6) t 1 ff. 0 1 ft. it 342 ff, p 31 — 166; vgl. Wiederholungen S. 102 ff.
Die homerischen Epen. 115
Werk eines einzigen, welcher die Telemachie in die Odyssee
eingliederte; er benützte dabei sehr viele ältere Verse und
darunter auch manche der Telemachie. Es ist nicht unmöglich,
dass schon dieser Redaktor, das Kind einer orakelsüchtigen
Zeit, dem Telemachos auf der Heimreise den Propheten Theo-
klymenos mitgab. In den Stücken, worin dieser auftritt, finden
wir ebenfalls einen argen Mangel an Routine. Die Telemachie
veranlasste endlich die Einschiebung von o 301 — 495. ^) Weil
nämlich Telemachos von Sparta noch nicht zurückgekehrt war,
musste Odysseus noch länger bei Eumaios verweilen. Ein
Dichter benützte dieses, um über die Eltern des Odysseus und
Eumaios' Herkunft näheres mitzuteilen.
Andere Zusätze des zweiten Teiles beziehen sich auf das
Bettlerleben des Odysseus. Wie Antinoos, von seiner Heftigkeit
hingerissen und Ktesipeos unmittelbar vor der Katastrophe^)
den Fremden werfen, thut es später auch Eurymachos ^) , ob-
^ gleich dieser Zug mit der sonstigen Schilderung seines Charakters
in Widerspruch steht. Mit der Bettlerrolle nimmt Odysseus
weiters sogar das Laster der Gefrässigkeit an. ^) Der Ruhm
der verwegensten Phantasie gebührt aber dem, der Odysseus
selbst um das Recht des Betteins in seinem eigenen Palaste
kämpfen Hess (a 1 ff.) ; die Auffassung der Scene erinnert etwas
an das Satyrspiel.
Ebenso gern beschäftigen sich die unermüdlichen Rhapsoden
mit Odysseus' treuer Gemahlin. Im alten Epos stieg Penelope
nur da zu den Freiern herab, als sie den Wettkampf ankündigte.
Aber wie der Dichter der Telemachie a 328 ff., nötigten sie
andere t: 409 ff. und a 158 ff. sich den verhassten Gesellen
zu zeigen.^) Während sich erstere Episode an die Telemachie
anlehnt und man sagen könnte, die mütterliche Angst habe die
Königin hinabgetrieben, würdigt sie sich a 158 ff. so weit
herunter, dass sie den Freiern durch List Geschenke abnimmt.
Dies kann nur einer der mit Not ringenden Bänkelsänger, wie
sie Hesiod schildert, gedichtet haben.
1) Wiederhohingen S. 131 A. 134.
2) ü 284 ff. vgl. X 285 ff.
3) 0 346 ff.
4) Athen. 10, 412 bc.
5) Bergk I 697. "Wiederholungen S. 150.
8*
]^j(3 3. Kapitel,
Sonst liebten es die Rhapsoden, die Vorbereitungen zum
Freiermorde sowie seine Folgen zu erweitern. Wir haben
schon oben erwähnt, dass der Schluss von t nicht alt sei;
ebenso besteht der zwanzigste Gesang fast ganz aus jüngeren
Stücken. Ein wichtiges und neues Moment fügen aber blos
die t einleitenden Verse hinzu; während nämlich der Dichter
der alten Odyssee offenbar voraussetzte, dass an den Wänden
des Megaron keine Waffen hingen, scheint diese {Sitte im Laufe
der Zeit abgekommen zu sein, da die Telemachie bereits einen
Speerbehälter im Saale erwähnt. Die in dieser Anschauung
aufgewachsenen Leute fragten sich, warum die Freier nicht zu
diesen Wafien griffen , und setzten als notwendig voraus , dass
Odysseus sie klug auf die Seite geschafft habe. Der Verfasser
dieses Auskunftsmittels fällt in ein spätes Jahrhundert, weil er
bereits Oellampen kennt. Ein noch Späterer wunderte sich,
dass der kluge Odysseus nicht schon bei der ersten Beratung
dieses wichtige Moment ins Auge gefasst habe und schob
TT 286 ff. ein. ^) Die auf den Freiermord folgenden Ereignisse
fanden ebenfalls nicht so bald eineii Bearbeiter. Da die Eltern
des Odysseus im alten Epos nicht mehr als lebend galten, die
Telemachie aber Laertes noch erwähnte, erkannte man auch
das Wiedersehen zwischen Odysseus und seinem Vater als not-
wendige Zugabe, womit sich der Gedanke verband, ob nicht
die Verwandten der Freier ihren Tod zu rächen versucht
hätten. Vielleicht beabsichtigte der Verfasser des Schlusses
zugleich, durch sein Werk eine Symmetrie der beiden Teile
herzustellen. Er gehört zu den spätesten Homeriden ^) ; die
epischen Formeln sind längst abgenützt und er versucht ver-
geblich, ihnen durch Variation einen angenehmeren Klang zu
verleihen. Die Erkennungsscene erfreut sich eines unver-
dienten Rufes, der noch aus der rührseligen Zeit des Ossian-
kultus zu stammen scheint. Während der Dichter hier eher
Gescliwätzigkeit zeigt, ist ihm sonst die epische Breite so fremd ;
1) Wiederholungen S. 138 ff.
2) Dass nach (u 80 die Ringer sich noch gürten, ist ein Indicium von
sehr zweifelhaftem Werte, da wir blos wissen, dass iu Olympia seit Ol. 16
die Lftnfer keinerlei Gewand trugen. Die asiatischen Jonier blieben wahr-
scheinlich im Gegenteil der alten Sitte, weil ihre barbarischen Nachbarn zähe
daran festhielten, treu.
i
Die homerischen Epen. 117
■dass unter anderem die Reden manchmal zu einem Verse ^)
zusammenschrumpfen.
Durch diese Nachdichtungen erreichte die Odj^ssee zuletzt
mindestens den doppelten Umfang ihres ursprünglichen Bestandes ;
sie dürfte nämlich anfangs gegen sechstausend Verse enthalten
haben. Die Komposition erlitt durch jene nur geringen Schaden,
wenn auch der zweite Teil infolge der zahlreichen Episoden
und Episödchen den Eindruck des Zerfahrenen macht. An
dem Breittreten der Motive trägt der alte Dichter selbst einige
Schuld ; denn er liebt es, wie wir gesehen haben, in verschieden-
artiger Behandlung ähnhcher Dinge seinen Witz glänzen zu
lassen. Ein solches Aufgebot von Witz und Raffinement reizt
Epigonen immer zur Nachahmung oder besser gesagt zur nach-
ahmenden Uebertreibung. Vermutlich erstieg die Telegonie,
ein Werk der allerspätesten Zeit, das die Odyssee fortsetzte,
den Gipfelpunkt in raffinierter Phantasie; wenigstens deutet
schon die trockene Inhaltsangabe Gebilde einer abenteuerlichen
Phantasie au.
In der homerischen Frage wird es nie gelingen, eine all-
gemein oder auch nur die meisten befriedigende Lösung zu
finden, eben weil der Geschmack, der qualitativ und quanti-
tativ sehr verschieden verteilt ist, zu viel mitspricht. Aber eine
Wendung zum besseren wird kommen, wenn jeder den Gegner
zu verstehen und zu schätzen sich bemüht und richtige Gesichts-
punkte, die ja bei keinem fehlen, von ihm annimmt.
Die Umgestaltung der homerischen Epen beruht zugleich
mit der Fortpflanzung auf den Sängern oder Rhapsoden.^)
Weil das Volk nicht müde wurde, die schönsten Erzeugnisse
des Epos immer wieder zu hören, trugen die Sänger neben
ihren eigenen Gedichten auch Ilias und Odyssee unermüdlich
vor. Es gab sogar auf Chios ein durch gemeinsame Opfer
verbundenes Geschlecht, das Homer als seinen Heros verehrte
1) V. 407. 491. 495, Verspaare 328 f. 373 f. 511 f. 514 f. 531 f.
2) Nitzsch de hist. Hom. melet. I 139 ff. IL fasc. 3; J. Kreuser
hom. Ehapsoden, Köln 1833; Welcker ep. Cyklus 1, 338—406 und kleine
Schriften 2, 87 ff.; Hoff manu Homer und die Homeridensage S. 63 ff.;
H. Düntzer hom. Fragen S. 157 ff.
118 3. Kapitel.
und sich Homeride u nannte^); es betrachtete gewiss als
seine edelste Aufgabe, die jenem zugeschriebenen Gedichte fort-
zupflanzen, ohne dass ihnen ein gleichsam religiöses Ansehen,
welches ihre buchstabengetreue Erhaltung gefordert hätte,
zukam. Ein Monopol besessen aber auch die Homeriden niclit;
denn die Sänger hafteten von Nahrungssorgen bedrängt, nicht
an der heimischen Scholle, sondern müssten von Stadt zu Stadt
umherwandernd ^) ihr Brod suchen. So begreifen wir die rasche
ungeheuere Verbreitung der homerischen Gedichte in der
ältesten Zeit. ^) Nach Mittelgriechenland kamen sie wahr-
scheinHch über Chalkis oder durch Vermittlung der im Asopos-
thale angesiedelten Jonier. Den Peloponnes errang für Homer,
wenn wir der Tradition^) glauben dürfen, das Sängergeschlecht
der Kreophylier, das Samos bewohnte. Wahrscheinlicher
ist jedoch, dass Kreta wie die kleinasiatische Plastik, so auch
das Epos dem Peloponnes vermittelte. Kreophylos dachte man
noch als selbstthätig, da manche die „Einnahme von Oichalia"
und die kleine Ilias ihm beilegten.^)
Anders steht die Sache schon bei Kynaithos von Chios,
der die homerischen Gesänge angeblich als der erste den west-
lichen Kolonien vorführte und in der 69. (?) Olympiade zu
Syrakus rhapsodierte ^ ; daher schreibt ihm keiner, da der erste
1) Harpokration '0|XY)pi8ai ylvoc ev Xiu) OKtp 'AxouotXaoc ev y» 'EXXa-
vtxog 6v z-fi 'AtXavTtaSi, ai^b xoö tcoiyjtoö cpvjotv u)vo|j.äafl'at. SsXeoxoc 8^ ev ß'
Ttepl ßitov ÄjjLapxavsiv (pTjol KpitYita vo}j.iCovt« ev xatc leportotiatc '0}X7]pi5ac
ijtofovooi; elvai toö noiYjtoö u. 8. w., vgl. Strabo 14, 64.5, Böckh opusc. 4,
892 ff. Nitzsch bist. Hom. 11 69—78. Noch der alexaudrinische Dichter
Parthenios scheint nach Suidas dem Geschlechte angehört zn haben. Homeriden
heissen seit Find. Nem. 2, 1 alle Rhapsoden (vgl. Luc. Dem. enc. 17), später
auch die Freunde Homers (Julian, p. 66, 17 H).
2) Od. p 385.
8) Auch zu den Barbaren kamen sie früh. Denn am Hofe des Gyge&
lebte der smymäische Khapsode Magnes (Nicol. Dam. fr. 60 bei Suid.).
4) 8. 69.
6) Welcker ep. Cyklus 1, 219 ff. Joh. Schmidt diss. philol. Hai. H
188 ff. Ans Chios ist er nach Schol. in Plat. rep. p. 600 b und Suidas
(Xlo<; ^ XdjAioc), aus los nach Proklos, dem Certamen und Tzetzes schol. exeg.
in D. p. 164. Ein Lehrer des Pythagoras Hermodamas war ein Kreophylier
(Diog. L. 8, 1, 2, 2).
6) Hippofltr. bei Schol. Pind. Nem. 2, 1; die Aenderang Welckers Ol. !»
ist liistoriach unmöglich, Düntzer (die hom. Fragen) schreibt Ol. 29.
Die homerischen Epen. 119
homerische Hymnus nicht in Anschlag kommt , ein einziges
episches Gedicht zu. ^) Wenn man also jene frei schaffenden
Sänger am besten Aöden (aotSoi) nennt, gebührt ihm bereits der
Name eines Rhapsoden. ^) Die älteste Umschreibung dieses Titels
gibt Pindar in den bekannten Worten f^aTTTwv stcscöv aoiSoi und
zwar ganz richtig^); pajiTetv aoiSifjv heisst blos „Verse aneinander-
knüpfen" und entspricht unserem ,, singen", das ja ebenfalls
mit siuwan (engl, sew) „nähen" zusammenhängt.^) Der Rhap-
sode geniesst bei weitem nicht die hohe Achtung, deren sich
der Aöde erfreute; denn wenn er auch hie und da eine Er-
weiterung älterer Lieder wagt, ist ihm doch die Gabe selbständigen
Dichtens verschlossen. Er betreibt also sein Geschäft als eine
Art Handwerk, das ihn nährt. Mochte sich der Rhapsode
auch redlich um das Verständnis der dunkeln Wörter und des
Sinnes bemühen^), er verlor doch bald die Fühlung mit den
so hoch gehaltenen philosophischen Studien und gab dem
Philosophen ein gewisses Recht, auf ihn als einen Mann, der
nicht verstünde, was er vortrage, hochmütig herabzusehen");
dennoch gesteht auch Plato die grossartige Wirkung des rhap-
sodischen Vortrages ein. ') Wann ist nun dieser Wandel vor
sich gegangen ? Die erste Andeutung finden wir in einem der
die hesiodischeu Erga einleitenden Sprüche, nach dem (V. 26)
die Sänger bereits zum Proletariat gehören und in einem Atem
mit Bettlern, Töpfern und Zimmerleuteu genannt werden. Die
Produktionskraft nahm eben ab und zugleich vermehrten sich
die Gelegenheiten zum Vortrag sehr bedeutend. Hatte die
homerische Zeit noch keine Agone oder Wettkämpfe von
Sängern gekannt, so kam wenigstens einige Jahrhunderte später
die Sitte auf, namentlich den Götterfesten durch Wettspiele
1) Welcker ep. Cyklus 1, 242 f. identificiert ihn falschlich mit dem
genealogischen Dichter Kinaithou.
2) Seit Pindar gaben ihnen Wohlwollende den Ehrentitel Homeriden.
3) Die Erklärung „Stabsänger" spricht den Bildungsgesetzen Hohn.
4) Nach Brugman Curtius' Stud. 9, 256 gehört auch ujxvoi: zu siu ;
Cnrtius deutet es als ü'f-|jLvo? „Gewebe".
5) Die Scholien führen zu $ 26 eine Bemerkung des Rhapsoden Hermo-
doros an.
6) Ygl. ausser Piatons Jon Xen. mem. 4, 2, 10, Max. Tyr. 7 p. 79.
7) Jon c. 6 p. 535.
120 3. Kapitel.
von Sängern einen besonderen Glanz zu verleihen ; am frühesten
dürften diese geistigen Kämpfe bei den Apollofesten aufge-
kommen sein, war doch Apollo der Gott der Kitharaspieler und
der treue Begleiter der Musen. So kündet denn auch unsere
älteste literarische Urkunde, der Hymnus an den delisehen Apollo,
von einem Agon, der auf Delos vor dem ganzen jonischen
Stamme stattfand. Mindestens ebenso alt war der Agon in
Delphi , bei dem freilich die lyrische Poesie überwog. ^) Aber
rasch folgten die anderen Kulte nach: Panathenäen ^), Diony-
sien^), Brauronien *), die Asklepieia von Epidauros^), die Zeus-
feste in Dodona^) und viele Andere') konnten diesen Schmuck
bald nicht mehr entbehren. Auch die ländlichen Feste, die
heute noch durch Gesangesvorträge verschönert werden^), standen
nicht zurück. Eine solche enge Verbindung von Religion und
Poesie führte dahin, dass der Rhapsode seinen Gesang unter
den Schutz der Gottheit stellte, indem er seinen Vortrag mit
dem Preise eines Gottes begann. ^) Denkmäler dieses frommen
Brauches hegen in den unten zu besprechenden „homerischen"
Hymnen vor. Nach dem peloponnesischen Kriege scheinen die
rhapsodischen Festvorträge etwas in Verfall geraten zu sein ^°),
bis Alexander der Grosse ^^) und Demetrios von Phaleron, der
ihnen die Theater eröffnete ^^), sich eifrig um ihre Hebung
1) Strabo 9, 421.
2) Plato Hipparch. p. 228b. Lykurg in Leoer. 102. Isoer. pan. 159. Said.
8, XotptXo;. Ael. v. h. 8, 2.
3) Klearchos bei Athen. 7, 275 b.
4) Hesych. s. Bpaoptuvio-.!;, vgl. Areh, Ztg. 1853 S. 156 f.
6) Plato Jon p. 630.
6) Röhl Inscr. Gr. antiqu. ^02.
7) Herod. 6, 67, noch später in Chios und Teos (C. I. G. H 2214. 3088) und
Orchomenos (ib. 1683 ff.). Vieles stellt aus dem aristotelisehen Peplos Schol.
AriHtid. III p. 323 zusammen, vgl. Hermann gottesdienstliche Alterth. § 29.
In Sikyon verbot Kleisthenes den Vortrag der homerischen Epen, weil sie
Argofi zu sehr feierten (Herod. 6, 67).
8) Fuuriels neugrieeh. Volkslieder in W. Müllers Bearbeitung S. LIII— LVI.
9) Vielleicht schon «• 499 opfj.Yjd'slc *soö angedeutet ; vgl. Pind. Nem. 2, 1 ff.
10) Daher erhielt ^a^/ip^ecv die Bedeutung „schwätzen" Et. M. p. 703, 35.
11) Plut. Alex. fort. p. 666; vgl. Athen. 12, 638 e.
12) Ath. 14, 020 b (Eust. zu U 480). Daher nennen Et. M. 703, 33 f.;
8uid. v. pa'}ip?oi, Plut. qu. symp. 9, 1, 2. Schol. Plat. p. 184 B die Theater als
Stätten der Kecitation.
Die homerischen Epen. 121
annahmen. Eine andere nkht zu unterschätzende Gelegenheit
boten die Leichenspiele, welche in älterer Zeit vornehme Männer
einem teueren Toten zu Ehren veranstalteten. ^)
Homer bildete, wie natürlich, den Mittelpunkt aller dieser
Vorträge.^) Manchmal deklamierten die Rhapsoden vielleicht
Reihen von homerischen Sentenzen z. B. über Fürsten, Ehe
u. dgl. ^) ; gewöhnlich wählten sie indes, wenn ihnen nicht viel
Zeit zur Verfügung stand, besonders beliebte Gesänge aus und
gaben ihnen, wie wir oben sahen, einige passende Verse zum
Abschluss bei. Aber auch die Werke Hesiods und anderer
Dichter wurden rhapsodiert^) und vielleicht trugen gerade jene
mit ihrem halb prosaischen Charakter zur Aenderung der
Vortragsart viel bei. Die Aödeu bedienten sich nämlich bei
epischen Liedern der Kithara, um den Gesang einzuleiten.
Pausen auszufüllen und schwungvolle Stellen in geeigneter
Weise hervorzuheben.^) Der ruhige unepische Ton derhesiodischen
Gedichte eignete sicli offenbar nicht dazu ; deshalb erzählten
die Griechen, Hesiod habe zuerst, wenn er seine Gedichte
recitierte, statt der Kithara einen Lorbeerstab in der Hand ge-
halten.^) Er begnügte sich also wie viele spätere mit dem
blossen c^Sstv. Andererseits wurde die musikalische Begleitung
1) Hes. E. 652 ff. fr. 45. Aesch. Ag. 1548. Alherti zu Hesych. v. sk'
Fibpo-^öfj ftY*"^- ^I^ri vergleiche die dramatischen Aufführungen hei den
römischen Leichenspielen.
2) Rohde Rhein. Mus. 3(3, 419 A. Herodot 5, 67. Er ernährte zu Hierons
Zeit tausende von Menschen (Plut. reg. et imp. apophth. p. 175 Hieron 4)
3) Schol. Dien. Thr. p. 706, 30 ff.
4) Isoer. panath. 18, vgl. Heinrich app. ad lib. de Epimenide.
5) Daher heissen die Säuger xiö-aptotai (Theogonie 95). Wer fortlaufende
Diusikalische Begleitung annimmt (wie Bergk I 432 f.) darf sich nicht auf die
unbestimmten Verbindungen (xoXtcyj xotl cp6pjj.tY4 («p 430), xi^apic xal äoiS-rj
(N 731. a 159), äo'.or^ v.al x'.^apiaxöc (B 600) berufen, sondern er muss die
Analogie verwandter Völker, der Perser (Grote hist. of Greece IV 195 A.),
Armenier (Peter mann Dialekt der Armenier in Tiflis S. 62), Slawen (mit
der Gusla), Kelten (Amm. Marc. 15, 9, 8 und später in Irland) und Deutschen
(W. Grimm deutsche Heldensage S. 373; Seh melier Abh. der bayer.
Akad. 4, 212) heranziehen.
H) (Hes.) Theog. 30. Pind. Isthm. 3, 55. Schol. Dion. Thr. p. 766. Paus.
10, 7, 2. Homer wird so dargestellt in Raoul-Rochettes mon. ined. pl. 70, 1.
Wenn Chamaileon (bei Ath. 14, 620c, vgl. S use raihlJahrbb 109, 650 A. 1)
erzählt, Hesiod sei komponiert worden , so bezieht sich dies nur auf epische
Abschnitte desselben.
122 3. Kapitel.
mit dein Aufblühen der Musik vervollkommnet : Terpander ^)
setzte die ganzen homerischen Epen in Musik, womit der Vor-
trag überhaupt dem Gesänge näher kam. Stesandros von Samos
soll der erste gewesen sein, der die llias und Odyssee bei den
pythischen Spiele zur Kithara wirklich sang. ^) Auch in späterer
Zeit wich der Gesang nicht ganz der Recitation : Ion betrieb
diis Kitharaspiel mit grossem Eifer ^) und freute sich, so oft er
ein homerisches Melos hörte. *) Unter den Kaisern kam das
Singen ausgewählter Abschnitte nach längerer Unterbrechung
wieder in Schwung. '") Gerade damals suchte man das Rhap-
sodieren besonders pikant zu machen, indem teils die Wechsel-
reden von mehreren mit verteilten Rollen deklamiert wurden ^)
teils die Rhapsoden der llias in Hoplitenrüstung die Bühne
betraten ^) ; schon längst hatten Virtuosen ^) das Publikum ver-
wöhnt und den reinen Geschmack vernichtet.
Ich bemerke zum Schlüsse noch, dass Ehrenpreise, in der
Regel Dreifüsse, den Ehrgeiz der Rhapsoden anspornten. *) Die
Böoter zeigten auf dem Hehkon einen" uralten Dreifuss, den
Hesiod angeblich bei den Leichenspielen des Amphidamas
errang. In Dodona grub jüngst Karapanos^°) ein solches, vom
jonischen Rhapsoden Terpsikles geweihtes Geräte aus.
Die Rhapsoden sorgten für die Erhaltung der homerischen
1) Plut. mus. 3, vgl. Chamaileon 1. c.
2) Timomachos bei Athen. 14, 638 a (Ttpwxov ev AEX'foi? n'.d'ap{})87ioai
xäi xaä-' "()|ji7jpov liä/a? ap4äiJ.£v&v aizb zr^c: "'OSooaetai;) ; vgl. Sext. Emp. adv.
math. 6, 16.
3) Plato p. 540 d.
4) Plato p. 536 b; in die attische Zeit gehört auch Hymn. 3, 433.
6) Porphyr, vita Pyth, 26. Jambl. vita Pyth. 14 (tdJv '0|j.Y]pixdJv ox^xtuv
jidXioxa exstvooc e4ü|AV2t). Achilles Tat. 2, 1.
6) Petron. 59 (Homeristae).
7) Achilles Tat. 3, 20. Eustathios in IL I p. 5, 10 berichtet, dass sie
die (Mynsee in raeerfarbigen (iewändern, die llias aber in blutroten vortrugen.
Auf diesem kostümierten Vortrage beruhen die allegorischen Bilder der llias
und Odyssee, welche die Neapler Apotheose aufweist. Auch die attischen
Khapsoden traten in bunten Gewändern und mit bunten Kränzen auf (Plato
Jon 686 d).
8) Aristoteles wirft dem Rhapsoden Sosistratos Uebertreibung vor (poet. 26).
9) Anf ländliche Verhältnisse bezieht sich wohl der Name äpvwSö? „Der
um ein Lamm singt" (Eustath. in D. I p. 6, 27. Schol. Pind. Nem. 2, 1). In
Athen erhielten aber die trefflichen Rhapsoden Geldpreise (Plato Jon 586 e).
10) Dodone et ses ruines t. 23, 2, vgl. Röhl iuscr. Gr. antiq. 502.
Die homerischen Epen. 123
Gedichte , ohne das einzelne ängstlich zu behüten. Eine
bessere Erhaltung beruht notwendig auf geschriebenen Exem-
plaren. Diese waren anfangs Textbücher der Rhapsoden; dann
fanden aber auch im Publikum die homerischen Epen durch
Handschriften Verbreitung.
Der T e X t ^) der Ilias und Odyssee beruht, wie er uns heute
vorliegt, auf einem attischen Exemplare, das wir mit dem Namen
des Peisistratos bezeichnen mögen. Alle stärkeren Abweichungen,
welche gegen die Einheit der Ueberlieferung sprechen könnten ^),
beruhen teils auf Irrtum teils auf der Thätigkeit der Gram-
matiker. In jene Klasse gehören alle sogenannten ,, Fragmente"
Homers, an denen Willkür, Gedächtnisschwäche und Unge-
nauigkeit die Schuld tragen ^), in diese dagegen die verschiedeneu
Proömien der IHas und die schwankende Stelle der Glaukos-
episode, sowie das Fehlen von Versen. Dagegen weisen die
attischen Sprachformen "*) unverkennbar auf Athen. Da die
Stadt des Perikles sich rasch die führende Stelle im geistigen
Leben Griechenlands errang und zugleich das Leipzig der
griechischen Buchhändler wurde, gingen Abschriften der attischen
Recension nach allen Weltgegenden, wo sich Griechen an Homers
Gesängen begeisterten und wo gab es nicht solche ? Das Original
aber verbrannte wohl in den, Perserkriegen. '") Die homerischen
Gesänge hatten etwas später einen sehr bedenklichen Prozess
durchzumachen ; die Umsetzung der altattischen Handschriften
1) La Roche homerische Textkritik im Alterthum, Leipz. 1866.
2) Ungeheuerlich L. Adam die älteste Odyssee, "Wiesbaden, 1877; beson-
nen Nitzsch Sagenpoesie S. 338 ff.
3) Kinkels epicorum Graec. frgra. p. 70 ff. (Dazu Schol. Theoer. 2, 3
ä-ÜEoat IXaaxEaö-at. 107 '(•ri(ir/.of: bnkp ohom äjj.£'.'}ac); die 38 homerischen Sen-
tenzen, die ein arabischer Gelehrter aufbewahrte, stammen aus anderen Quel-
len (Nauck Bull, de l'acad. de St. Petersb. 1860 Nr. 388 und Köhler
Rhein. Mus. 16, 152 f.).
4) Z. B. TcoXst, A)(iXXei, noXewc» äxpa-fj, K^uiZQKOL'(tl(;, x£|j.vaj u. dergl.,
so auch Sayce über den hom. Dialekt (in Mahaftys bist, of class. Greek lite-
rature, auch separat übersetzt v. Imelmann, Hannover 1881) und Ober dick
philo]. Rundschau 1881 S. 468. Hieher gehört auch, dass keine Handschrift
der Alten eine Spur des Digammas bewahrte. Dagegen könnte es in älteren
jonischen Vorlagen geschrieben gewesen sein, da noch später ob iO-sv und ey"^
stiiüj im Texte stand.
5) Nach Gell. 6, 17 (Isid. or. 6, 3, 3) raubte es Xerxes mit den übrigen
Büchern des Tyrannen.
]24 8. Kapitel.
in das jonische Alphabet war mit grossen Schwierigkeiten ver-
bunden, (Ignen die alten Grammatiker sich nicht gewachsen
zeigten. Als Grundlage nahmen sie in zweifelhaften Fällen
<^en attischen Dialekt^) und zogen, wo dieser nicht ausreichte,
■die damals gebräuchHchen jonischen Mundarten heran. ^) Viel-
leicht regte dieses zum kritischen Studium des Textes an;
Antimachos, der gelehrte Epiker von Kolophon, veranstaltete
eben damals eine oft citierte Ausgabe (Stöp^wat«:), Ob es sich
bei dem Homer des Euripides^) und Alexanders berühmten
,, Kästchenexemplare" ^) um wirkliche Ausgaben handelte, möchte
ich bezweifeln. Nacheuklidisch ^) sind auch die sogenannten
Städtehandschriften {cd azo twv ^röXswv, ix ttöXscov)^), welche die
Alexandriner nach ihrer Heimat bezeichneten, weil sie die Ur-
heber der Recensionen nicht kannten ; es waren wahrscheinlich
wenn auch nicht offizielle, so doch offiziöse Exemplare'^), bei
denen die Kritiker sich bereits in dem Ausscheiden von Versen
versuchten. ^) Wir finden jetzt noch die Ausgaben von Massilia
(am fleissigsten benützt), Chios, Argos, Sinope, Kypros") und
Kreta , ausserdem eine ÄoHsche für die Odyssee angeführt.
Wenn alle Städtehandschriften übereinstimmen ^^), repräsentieren
1) Z. B. 3tp-cas£To, xpsbocuv, ouv und die Infinitive auf bv.v statt esv
{Renner Curtius' Studien I 2, 32 flf).
2) Z. B. in xXsioü? ('latpoxXeiouc auf einer Münze von Erythrä Mionnet
«uppl. VI p. 216 Nr. 918, ähnlich CIG. 3238. 3245).
3) Suidas, veahrscheinlich eine Bibliothekenrarität für neugierige Fremde,
aber nach Böckh tragg. princ. p. 226. 23G von dem jüngeren Euripidcs.
4) 'H iv. toö vipö-Yixoc, vgl. Schol. Ruhnk. praef. in Hesych. p. VIII.
Alexander und seine Genossen machten geographische Emendationen aus bes-
aerem Wissen (Strabo 13, 694, auch 12, 542. Plut. AI. 8.)
6) Giese, dial. Aeol. p. 163 fi.; sie sind daher schwerlich, wie Bergk
meint, Abschriften der peisistrateischen Ausgabe.
6) Im Gegensatze zu den nicht anonymen xax' avSpa (Schol. X 108.
W 881).
7) Wolf p. 1T7 ff. war so weit entfernt, hier offizielle Ausgaben zu fin-
den, dass er blos zugeben wollte, die Handschriften seien in der betreffenden
Stadt angekauft worden.
8) In der argolischen Ausgabe fehlte nach Schol. A 5: 39 das Nereiden-
verzeichnis.
9) Wahrscheinlich aus Paphos, wie aus paphischen Glossen des Hesychios,
die Bergk de tit. Arcad. p, VIII scharfsinnig heranzog, erhellt (xax' ep' iCeat,
— to, — tTo mit dialektischer Färbung).
10) Z. B. * 351.
Die homerischeu Epen. 12&
sie die voralexandrinische Vulgata. In dieselbe Zeit dürfte
auch die Einteilung von Ilias und Odyssee in je vierundzwanzig
Büciier fallen, eine rein äusserliche und unwissenschaftliche
Prozedur, die man unbedenklich den attischen Buchhändlern
beilegen darf. ^) Während nämlich ein Grammatiker die Bücher
nach dem Sinne geschieden hätte, bekümmerte einen Geschäfts-
mann blos der Umfang der Rollen; daher wurde z. B. die-
Diomedeia zerschnitten. Aber erst etwa seit dem augusteischen
Zeitalter gewöhnte sich die gelehrte Welt mehr und mehr
daran, nach Bücherzahlen statt nach den Aufschriften der
grösseren Abschnitte zu eitleren.
Die Buchhändler hatten , wie immer im Altertum, für die
Korrektheit der Handschriften wenig gesorgt ^) ; als deshalb das
Zeitalter der Gelehrsamheit anbrach und die Grammatiker mit
wachsender Gewandtheit die Texte in ursprünglicher Reinheit
herzustellen versuchten, beanspruchte Homer mit seinen ver-
schollenen Wörtern und schwierigen Formen ihre besonderen
Bemühungen. Die Kreise der Peripatetiker hielten sich, mit
den lockenderen Problemen der Literaturgeschichte beschäftigt,
von der Kritik ferne; darum ist es unwahrscheinlich, dass der
gelehrte Dikaiarchos von Messana eine Ausgabe veranstaltete.^)
Anders in Alexandreia! Hier ging das Studium Homers von
der Wiedererweckung des Epos aus. Aratos ^) und Rhianos^)
wenigstens waren so gewissenhafte Arbeiter, dass sie Homer,
wohl auch um die sprachhche Form ihrer Gedichte zu recht-
fertigen, förmhch herausgaben. Wenn auch Apollonios von
Rhodos letzteres nicht thatj, so hatte er sich doch eine be-
1) Viele legen sie blos um einen Namen zu nennen, Zenodot bei ; Ps. Plu-
tarch spricht von Aristarcheern. Aristarch scheint bereits die Einteilung sei-
nen Vorträgen zu Gründe gelegt zu haben. (Schol. A A 423 B 435 F 406).
2) Vita Arati III p. 53 Tivec 8e aüxöv tlc, Sop-lav iXfjXoS-lvat cpaal %al
YSYOVEvat Ttap' 'Avx'.6~^üj v.ol\ ij^iM'zd'rxi otc' aOToü cugts tyjv ""IXidcSa o'.opö-waocoö'at.
o'.a 10 öiTÖ TcoXXöJv XsXoiJLav^a:.
3) Apollon. de pron. p. 320b sagt nur, dass Aristarch gerne seine Lesarten
annahm, d. h. dass Dikäarch nach einer sehr guten Handschrift citierte; vgl.
C. Müller, frg. bist. Gr. II 245 f. Näke opusc. I 217. Nauck Phil. 5,683.
4) Suidas und eine Vita sprechen nur von der Odyssee; jedenfalls war
er zu der Arbeit nicht befähigt, vgl. Lobe de elocntione Arati, Halle 1864.
5) C. Mayhoff de Rhiani Cretensis studiis Homericis, Lpg. 1870 (Fr.
des Vitzthum'schen Gymnasiums in Dresden).
226 3. Kapitel.
stimmte Ansicht über den homerischen Text gebildet^) Wir
wollen, bevor wir die eigentlichen Alexandriner besprechen,
hier noch einige Recensionen, mit denen nichts rechtes anzu-
fangen ist, vorwegnehmen, ich meine die kyklische in einem
Corpus des ganzen epischen Kyklos stehende 2) Odyssee, die
Museumsausgabe ^), die in der Bibliothek des alexandrinischen
Museums lag, und die grossen Spott erregende 'IXtdc a;:' 'EXt-
xwvo? (sie), die Osann im Anecdotum Romanum zu Tage för-
derte. Die billige Emendation 'AttsXXixwvo?*) lässt sich mit der
Erwähnung der Ausgabe durch Krates schwer vereinigen.
Warum sollte es nicht eine Ilias, deren Proömium die heli-
konischen Musen feierte, gegeben haben?
Obwohl uns über die älteren Handschriften und Ausgaben
nur dürftige Notizen zu Gebote stehen, erhellt immerhin daraus,
dass es blos recognitiones und noch nicht durchgreifende
recensiones gab. Das Verdienst, das Gestrüppe der alten
Varianten und Schreibfehler mit kühner Hand gelichtet und
damit überhaupt die ersten wirklich kritischen Ausgaben her-
gestellt zu haben, gebührt dem alexandrinischen Dreigestirne
Zenodotos von Ephesos, Aristophanes von ßyzanz und Ari-
starchos von Samothrake.
Zenodot^) steht an der Spitze der Homerkritik und hat
die ganze Schwere dieser Stellung zu tragen. Ueberdies kennen
wir jetzt eigentlich nur die Schwächen seiner Kritik ; denn
was Zenodot geleistet, wurde unter dem imponierenden Ein-
drucke der aristarchischen Recension vergessen, was er gefehlt,
lebte in den polemischen Aeusserungen des Meisters ®) bei dessen
1) J. Michaelis de A. Rh. fragnientis , Halle 1875 p. 23—40; er ver-
fasste eine Schrift gegen Zenodot (Schol. AN 657).
2) So Lehr 8 Arist. stud." 26**).
8) "Kx^oot? ex Moo3Etou, vgl. Lehrs de Arist. stud. ''26 adn.
4) Philol. 6,663, nach Jahrbb. 66,4 zur aristotelischen Bibliothek gehörig.
5) Alexandrinischer Bibliothekar unter Ptolemaios Philadelphos , starl)
zwiMchen 266 und 250 nach Couat annales de la faculte des lettres de Bor-
deaux 1879 Nr. 2, um Ol. 133 nach Ritschi opusc. 1,73; Monographieen :
G. Pluygers de Zenodoti carminum Honieri editione, Leiden 1842: H.
Düntzer de Zenodoti stüdüs Homericis, Göttingen 1848; W. Ribbeck
Zenodotearum quaestt. spec. I. Berlin 1852, Philol. 8, 662 ff. 9, 43 flf., dagegen
Döntzer Zeit.sch. für Alterthumsw. 1852 Sp. 60 flf. 479 ff. und Philol. 9,
811 ff.
6) Auch Apollonios von Rhodos schrieb gegen ihn (Schol. N 657).
Die homerischen Epen. 127
Schülern fort. Lag doch den Späteren die zenodotische Aus-
gabe nicht mehr vor. ^) Darum schrieben sie dem Zenodot
gewiss manche Lesart mit Um-echt zu. ^) Anderes drückten
sie ungeschickt aus; Zenodot Hess nämHch oft die Vulgata
stehen, bis sie Aristarch auf Grund seiner Studien oder besserer
Handschriften emendierte, während die SchoHen von solchen
Varianten wie von Konjekturen des Zenodot sprechen. ^) Wo
er dagegen wirklich gegen die Ueberlieferung einschritt, geschah
es nicht selten mit einer Keckheit, die den Knoten zerhieb
statt ihn zu lösen. Ungewöhnliche Ausdrücke entfernte der
Kritiker durch Umdichtung eines Halbverses ^); bei Problemen
der höheren Kritik, bei Wiederholungen oder ästhetischen Be-
denken scheute er nicht davor zurück, einige Verse auszuwerfen
und nötigenfalls eine dadurch entstehende Lücke suo Marte
auszufüllen. Denn der Richtigkeit seines Gefühles war Zenodot
so sicher, dass er viele Verse nicht blos mit dem übelos ver-
sah, sondern sie einfach wegliess oder manche Stellen geradezu
umarbeitete. ^) Dass er jedoch nicht ohne gründliche Vorstudien
au sein Werk ging, beweisen sein alphabetisches Glossar und
eine Tageberechnung der Ilias ; aber er handhabte die Kritik
in zu subjektiver Weise und fasste seine Aufgabe zu negativ
auf, indem sein Hauptbestreben dahhi ging, alles anstössige zu
entfernen. Noch das späte Altertum stellte ihn achtungsvoll
und ohne an Rivalität zu denken neben Aristarch ^) ; erst unser
Jahrhundert benützte ihn als Strohmann zu Angriffen gegen
diesen ihm jedenfalls überlegenen Grammatiker.
Von seinen Schülern') ist der bedeutendste Aristophanes
von Byzanz, von ungefähr Ol. 144 bis 349 alexandrinischer
Bibliothekar^), doch ist von seinen positiven Leistungen wenig
zu sagen. Er stellte hinsichtlich der Athetesen hauptsächlich
1) Daher lesen wir oft al ZyjvoSotoo oder ol uEpl ZyjvoSoxov.
2) Cobet Mnemos. nova II 189 ff.
3) Cobet misc. crit. p. 251 f.
4) Z. B. 0 587 S 231.
5) Düntzer p. 106 ff. 151 ff.
6) Z. B. Auson profess. 13,3.
7) ZYjvoSoxEto' (Theophilos Schol. Nicand. Ther. 11, Anaxagoras Diog. L.
2,15, Agathokles Suid. o. Iko'/.sfj.aloc 'ET^tö-sxYjc).
8) Nauck Aristophanis Byz. gramm. Alex, fragmenta, Halle 1848 S. 20
ff., dazu Braune Jahrbb. 55,653 ft.
J28 3- Kapitel.
den frühereu Bestand wieder lier, wenn er auch oft die Kritik
seines Vorgängers als richtig anerkannte ; in diesem Falle aber
erklärte er die Verse lieber durch den Obelos für höchst ver-
dächtig, als dass er sie auswarf. ^) In der Revision des Textes
entwickelte er eine grössere Kühnheit als Aristarch. Auch von
seinem Schüler Kallistratos gab es eine Ausgabe. 2)
Die kritische Thätigkeit der ersten Alexandriner möchte
ich mit der, welche in der Zeit der ersten Drucke herrschte,
vergleichen. Zenodot ähnelt jenen Herausgebern, die mit
Scharfsinn aber wenig Methode an die Handschriften heran-
traten. Es entgingen ihnen einerseits viele Fehler, andererseits
überstürzten sie sich in der Kritik und überarbeiteten die Vul-
gata erheblich. Durch den Schaden, den sie nicht selten an-
richten', werden die folgenden klug; allraälig verfeinert und
festigt sich die Methode, je länger sie geübt wird. Tritt dann
zu ihr ungew^öhnliche Gelehrsamkeit und ausgezeichneter Scharf-
sinn, so entsteht in der Renaissance ein Scaliger, in Alexandreia
ein Aristarch.
Aristarchos von Samothrake (zwischen Ol. 142 und 160,
210 und 140 v. Chr.), der Nachfolger des Aristophanes , galt
im Altertum als der vorzüglichste Kritiker, so dass sein Name
zum Sprichworte wurde. Als Villoison die Venediger Schollen
aufgefunden hatte, ahnte zwar Wolf die Wichtigkeit des Fundes,
aber erst Gottfried Hermann ^), der sich einem verwandten Geiste
gegenüber fühlen mochte, sprach die Bedeutung Aristarchs
deutlicher aus. Ein vorzügHches Bild seiner Thätigkeit gab
das berühmte Buch von Lehrs ,,de Aristarchi studiis Homericis" "*),
durch das ArisUirch der Heros der Homerkritik wurde. Dieses
Ansehen gründet sich zunächst auf seine ausserordentlich ein-
gehenden Studien, bei denen ihm die bequemen Not- und Hilfs-
1) Daher lesen wir oft ZtjvöSotoi; ob^k Ypafet, 'AptoxotpavYjc 8^ äO-exsi.
2) Vgl. die Abhaudlung von R. Schmidt hinter Nauck's Buch.
8) Opu.scula II p. 49 (I8I3).
4) Königsberg 1833, Leipzig »1866. »JSSS (von Ludwich besorgt), vgl.
qnaestioneM epicae Königsberg 1837, M. Schmidt Philol. 9, 426 ff. 752 ff.
Jahrbb. 71, 220 ff. 73, 83 ff. Lud wich Wissensch. Monatsblätter 6, 58 ff.
76 ff. 82 ff. 108 ff. 125 ff. 162 fl'. 181 ff. Seine Lehren über die grammati-
Hchen a/TjjtaTa nind bei Friedländer Aristonici Frg. p. 1—35 zusammen-
gestellt.
Die homerischen Epen. 129
büchleiii der heutigen Philologie fehlten. Trotzdem beherrschte
er die Grammatik, die Literaturgeschichte und selbst die Alter-
tumskunde ^) mit Meisterschaft. Dazu kam das reiche kritische
Material, das ihm die alexandrinische Bibliothek bot; er nützte
es sorgfältig, wenn auch natürlich nicht im Sinne der letzten
fünfzig Jahre. Diese Fülle von Stoff war aber in dem Kopfe
eines Mannes aufgespeichert, der nur mit der grössten Umsicht
und zugleich mit erstaunlicher Sicherheit sein Urteil über Les-
arten und verdächtige Verse fällte. Es ist wahr, dass er nach
den Grundsätzen der Analogie verfuhr, aber im allgemeinen
that er dies nur wie es alle Kritiker thun müssen und verstieg
sich nicht zur Gleichmacherei Naucks und der Holländer; denn
davor bewahrte ihn sein feines Verständnis für die Mannig-
faltigkeit der homerischen Sprache. ^) Welchen Rang soll aber
Aristarch in der Homerkritik unserer Zeit einnehmen?
Der Herausgeber darf und soll sich freuen, so oft er mit
Aristarch übereinstimmt, und hat von seinem Urteile als aus
der sorgfältigsten Beurteilung eines unschätzbaren Materials
erflossen nur, wenn gewichtige Gründe dazu drängen, abzuweichen ;
aber Aristarch ist eben nichts als der vortrefflichste der alten
Grammatiker und über seine Zeit nicht völhg erhaben. ^) Eine
wichtige Frage, über die wir in den Scholien keinen Aufschluss
finden, wird überall sein, was Aristarch aus Konjektur in den
Text gesetzt und was er aus Handschriften gezogen habe.
Ueberdies ist nicht jedesmal ausgemacht, dass die überlieferte
Lesart wirklich von Aristarch herrühre; denn auch hier bieten
die Scholien nicht immer die nötige Garantie. Doppelte An-
gaben über Textesüberlieferung finden jedoch darin eine Ent-
schuldigung, dass zwei Ausgaben von Aristarch existierten.*)
1) Z. B. wusste er, dass der Hahn erst spät nach Griechenland kam
(Ariston. p. 279. Friedl.).
2) Einen schönen Ausspruch teilt Porphyrie in Hör. ep. 2, 1 , 257 mit:
Et hoc vetus esse dictum Aristarchi ferunt, qui, cum multa reprehenderet et
in Homero, aiebat neqne se posse scribere quemadmodum vellet neque velle
quemadmodum posset.
3) Eine Blütenlese von Irrtümern geben Lehrs in seinem Buche (p. 46 ff.
141 ff.) und die Vorreden von Nauck, einiges auch Brugman ein Problem
der hom. Texteskritik und der vergl. Sprachwissenschaft, Lpg. 1876; vgl. ge-
gen letzteren A. Lud wich Wissensch. Monatsblätter VI Nr. 4 — 12 und C.
Kammer, Jahrbb. 115, 649 ff.
4) Schol. n 613. Y 453. v 66.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. °
23Q 3. Kapitel.
Da sie seine Schüler selten unterscheiden, scheinen sie wenig
von einander abgewichen zu sein; daher hat Bernhardys *) Ver-
mutung, die erste Ausgabe sei nur eine Revision der ari-
stophanischen gewesen, wenig für sich.
Aristarchs Glanz verdunkelte, wenn er auch nicht den
allgemeinen Beifall errang ^) und dem Widerspruche keineswegs
entgingt), die Arbeiten seiner Nachfolger; wir hören nur hier
und da von Ausgaben des Seleukos*) und Philemon. ^) Dagegen
ist eine Diorthose des Milesiers Herakleides ^) und des Chamaileon
zweifelhaft. Die feindliche Schule von Pergamon stellte den
zahlreichen alexandrinischen Ausgaben keine einzige entgegen;
denn Krates beschränkte sich, wie es scheint, auf einen kritischen
Kommentar.
Da die Recensionen der Grammatiker verhältnissmässig
geringe Varianten aufweisen, kann ich nicht glauben, dass sie
die Vulgata vergewaltigten. Freilich murrte Timon'^), man finde
den echten Homer nur in den alten Exemplaren und nicht
in den „emendierten" und noch heute gibt es solche Timone,
welche die homerischen Gedichte lieber wie die Hymnen von
den Schreibern misshandelt lesen möchten. Die Vulgata (al
xotvat, Sy][x(ü8£'.c) wurde nur oberflächlich von den kritischen
Bemühungen berührt. Das meiste, was Aristarch korrigierte,
lebte in der alten Gestalt weiter ; fast alle Verse, die sein Obelos
verdammte, kamen auf uns, einige wenige ausgenommen, von
denen anzunehmen ist, dass sie bereits vor Aristarch in den
meisten Handschriften fehlten. ^) Auch die Lehren des Heriodian
1) II 1, 195.
2) Die Epiker berücksichtigten ihn nicht (Lehrs 1. c. 68); im gewöhn-
lichen Gebrauche scheint also die alte Vulgata fortgelebt zn haben.
3) Didymos entscheidet sich öfters gegen ihn; einmal trifft sogar seine
Lesart der Vorwurf xaxÄc (Schol. 8 231).
4) M. Schmidt, Philol. 3, 436 ff. Identisch damit ist vielleicht die
■Krj't.'jouyoq (nach Beccard de schol. Ven. p. 49 A. 14 7:o>>uoTtxto;), vergl. O.
Schneider Jen. Lit. Ztg. 1848, anders Ribbeck Philol. 8, 663.
6) Schol. ü 268. il 467.
6) Fr. Osann de H. Homeri carminum diorthota in quaestt. Hom. III
IV. Gieflsen 1853—4, verworfen von M. Schmidt Ztsch. f. Altertumsw. 1853
Sp. 266.
7) Diog. h. 9, 113.
8) Entscheidend ist dagegen, dass N 731, ein nach den Schollen von dem
jüngeren Zenodot eingesetzter, also von Aristarch nicht gelesener Vers, in
mehreren Codice.s steht.
Die homerischen Epen. 131
haben auf die Schreiber vielfach eingewirkt, doch kamen sie
ohne Konsequenz und nur in sorgfältigen Manuskripten zur
Anwendung.^) Der Aristarchisch- Herodianeischen Recension
steht verhältnismässig, freiHch oft blos in orthographischen
Dingen, der berühmte Codex Venetus A der Ilias (Nr. 454 aus
dem zehnten oder elften Jahrhundert) am nächsten, von dessen
SchoHen und kritischen Zeichen im nächsten Abschnitte die
Rede sein wird. J. d'Ansse de Villoison entdeckte ihn 1788
und machte ihn durch seine Ausgabe bekannt.^) Für die Ilias
verdient dann auch eine von La Roche mit C bezeichnete
Handschrift der Laurenziana (plut. 32, 3) wegen zalilreicher
selbständiger Lesarten Berücksichtigung, während die Schwester-
handschrift D (plut. 32, 15) von jämmerlichen Fehlern strotzt.
Die zu genau kollationierten Wiener Codices gehören, wiewohl
sie manchmal eine alte Lesart (z. B. 0 526) bergen, im allge-
meinen zu den schlechtesten. Ueber die anderen besitzen wir
meist blos ungenaue Angaben, die einen Stammbaum aufzu-
stellen nicht gestatten ; da hier und da etwas bemerkenswertes
steht, wären reichere Mitteilungen erwünscht. ^) Dazu kommen
einige mehr durch Alter als durch hohen Wert ausgezeichnete
Fragmente, zunächst drei Papyrusstücke mit Aversen aus N*),
S^) und ß^), dann ein syrischer Palimpsest des brittischen
Museums, der 3873 Verse aus M— ß enthält'), und eine
1) Ueber die Handschriften handelt am ausfiihriichsten La Roche ho-
merische Textkritik S. 439—79. Von Revisoren kennen wir den Numen
des Kometas (Anthol, Pal. 15, 36—38).
2) Vier Seiten sind in Diudorfs Ausgabe der Iliasscholien I. und II.
facsimiliert.
3) J. Rieckher die zweisprachige Stuttgarter Homerh. Heilbronu 1864
(Pr.) und Eos 2 (1866) S. 182 ff. 339 ff. 475 ff. O. Lehmann über das
Alter der Iliashandschrift Burney ms. 86 des brit. Museums, Hermes 14, 408
ff. Facsimilia: Cod. Regin. 2683 Silvestre de Sacy paleographie univer-
selle II 33; Cod. Burney 86 Palaeographical society pl. 67.
4) Brunet de Presle et Egg er les papyrus Grecs du musee du Louvre
p. 109 ff. pl. 12, einige Verse aus Z und I pl. 49.
5) Facsimile Catal. of anc. manuscr. in the British mus. I. London 1881
Nr. 1. 2.
6) Class. Museum Cambr. 1831 I 177 ff".
7) G. Cureton fragmeuts of the Iliad of Homer from a Syriac pal.
1851, vgl. W. C. Kayser Philol. 10, 145 ff'. 193 ff". 313 ff. 375 ff. B. S.
Rhein. Mus. 8, 471 ff.
9*
J32 3. Kapitel.
Miniaturenhandschrift der Ambrosiana. ^) Schlimmer steht os
um die Odyssee, da ihr eine so hervorragende Handschrift wie
der Venetus A fehlt; immerhin sind das älteste Manuskript,
ein Laurentianus (plut. 32, 24) aus dem zehnten Jahrhundert ^),
der verwandte Vindobonensis 56, zwei Marciani (613 und 456),
der bekannte Harleianus im brittischen Museum und die Hand-
schrift des Eustathios beachtenswert. Manchmal bieten auch
andere junge Codices in Wien, Stuttgart, Breslau und München
brauchbare Varianten. Dem aus den Handschriften gezogenen
Apparat liefert die grammatische Literatur reiche Supplemente
und nicht selten übertreffen ihn solche Citate an Güte, wenn-
gleich an vielen Stellen der Gedanke an Gedächtnisfehler nicht
abzuweisen ist; namentlich was andere Schriftsteller, auch
Aristoteles citieren, erinnert oft an die Verunstaltungen, die
heutzutage im Volksmunde den Dichtercitaten widerfahren. Ein
vollständiger Apparat sollte ferner die Varianten der parallelen
Stellen (Wiederholungen in der Odyssee S. 180 ff.) und die
Imitationen späterer Epiker bieten.
Die Frage, wie der homerische Text zu behandeln sei, ist
heute noch nicht gelöst: Von den älteren unmethodischen Aus-
gaben ist nur als typographische Merkwürdigkeit die editio
princeps, welche Demetrios Chalkondylas 1488 zu Florenz ver-
anstaltete, zu nennen. Die kritische editio princeps ist die Aus-
gabe von Wolf^); er ging wie Spitzner ^) und anfangs Bekker^)
von der Ansicht aus, dass wir jetzt über den Text der
Alexandriner nicht mehr hinauskommen könnten. Je mehr
man in Aristarch eindrang, desto mehr richtete sich das Be-
streben auf die Gewinnung des aristarchischen Textes. Auf
diesem Standpunkte steht Jakob La Roche, dessen kritische
Ausgabe^) den handschriftlichen Apparat am vollständigsten
bietet; leider erschweren die peniblen Angaben über die
1) Nach der Ansgabe von A. Mai (Mailand 1819) gibt Buttnianu hinter
den Odysseescholien S. 579 ff. eine Kollation; Proben mit Bildern Palaeo-
graphical society pl. 39, 40, 61, 52.
2) Gotschlich Jahrbb. 113, 21 ff.
8) Halle 1794, Ausgabe letzter Hand 1804—7, 5 Brie. (1817 wieder ab-
geilrackt).
. 4) Gotha 1832—6, 4 Tle.
6) Berlin 1843, 2 B<le.
6) Ody.ssee I.pg. 1867—8. Ilias 1878—6.
Die homerischen Epen. |33
prosodischen Varianten, um mit den Alten zu reden, deren
Platz in einer praefatio ist, den Ueberblick in bedauerlicher
Weise. ^) Sobald andererseits E. Lange ^) und Buttmann den
Feldzug gegen Aristarch eröffnet hatten, gestaltete Bekker in
seiner zweiten Ausgabe^) den Text nach selbständigen Grund-
sätzen und wagte sogar das Digamma in den Text einzuführen,
bot aber seinen Gegnern viele Blossen.*) Er berücksichtigte
auch die Sprachvergleichung zu wenig, obgleich die Homerkritik
diese als notwendige Grundlage haben muss. Nachdem Ahrens ^)
und Leo Meyer ^) die Verwertung ihrer Resultate angebahnt
hatten, führte Nauck ihre Gedanken weiter aus, aber statt seine
Untersuchungen zu einem Ganzen abzurunden und dabei die
verschiedene Natur der einzelnen Stücke zu beachten, unter-
nahm er es mit unzureichenden Mitteln einen vorpeisistrateischen
Text zu schaffen.'') Die Perorationen gegen Aristarch, welche
die Vorreden ausfüllen , wirken fast komisch , weil Naucks
Konjekturen jedenfalls, wie sie an Zahl die des Aristarch über-
treffen, an Güte hinter denselben zurückstehen; auch Cobet,
van Herwerden und Naber machten einige hundert engherzige
Konjekturen in seinem Geiste. Dagegen Mdll ich nicht leugnen,
dass er besonders bei der Auflösung kontrahierter Formen
vielfach das richtige getroffen hat; aber seine Forschungen
sind nur Stückwerk und so erweckt seine Ausgabe kein rechtes
Vertrauen.
Neben der Kritik geht die Thätigkeit jener, welche Homer
auf irgend eine Weise dem Verständnisse näher bringen
wollen, einher. Die Geschichte der Homerexegese reicht
ebenso hoch wie die der Philologie überhaupt hinauf. Freilich
1) La Koche hätte sich die klare Spezialausgabe des 21. und 22. Buches
der Ilias von Hoflfmaun (Clausthal 1864) zum Muster nehmen sollen.
2) Philol. 4, 701 ff.
3) Bonn 1858, dazu homerische Blätter, Bonn 1863—72 2 Bde.
4) Leskien ratiouem quam J. Bekker in restituendo digammo secutus
est examinavit, Lpg. 1866; W. Kayser Philol. 17, 683 ff. 18, 647 ff. 21,
308 ff. 22, 505 ff. für die Odyssee vgl. seineu Vortrag auf der Philologenver-
sammlung von Breslau 1857 S. 43 ff.
5) Rhein. Mus. 2, 161. Phil. 4, 592 fl'. 6, 1 ff.
6) Verhaudl. der 23. Phil.-Vers. in Hannover 1864 S. 113 ff. u. A.
7) Odyssee, Berlin 1874; Ilias 1877.
J34 3. Kapitel.
sind die Anlange dürftig genug ^) : Die Philosophen wollen nicht
glauben, dass der berühmte Dichter so alltägliche und, was die
Götter anlangt, auch so anstössige Dinge gesagt habe, sondern
sie suchen in solchen Worten einen tieferen Sinn (uTuövota),
wobei Homer natürlich ihren Dogmen dienen muss; da sie
zudem den Götterglauben angreifen und Homer als dessen Be-
gründer ansehen, hoffen sie jenen durch die Erschütterung des
Ausgangspunktes aus den Angeln zu heben. An der Spitze
solcher Versuche stand Theagenes von Rhegion ^) und die
meisten Philosophen folgten ihm. ^) Zugleich diente Homer als
Versuchsobjekt für die grammatisch - logischen Theorien der
Sophisten. ^) Eine ernstere Seite eröffnete sich durch den Schul-
unterricht, weil dem Lehrer die dunklen Wörter (YXwaaa'.) zu
erklären oblag. Bald stellten Gelehrte Verzeichnisse derselben
mit Erklärungen, d. h. Glossarien zusammen. Erst Aristoteles
begann aber eingehendere Studien durch seine homerischen
Probleme^); die lange Reihe der Monographien eröffnete gleich-
zeitig die Abhandlung des Isokrateers Dioskorides ;rspi twv Tiap'
'0|XT)pi(p vö{i(ov. ^) Die Alexandriner hatten wahrlich sehr düi-f-
tige Vorarbeiten ; somit ruhte die ganze Last auf ihnen selbst.
Sie lernten und lehrten erst, was bei Homer erklärt und be-
sprochen werden müsse; dieses zeichneten sie durch kritische
Zeichen (oYjjisia) an, welche den Leser auf Schwierigkeiten
aufmerksam machten und ihre Erläuterung in mündlichen
1) Ueber die voralexandrinischeu Studien vergl. Lehrs de Arist. stnd.
»36—46.
2) Porphyr, zu Y 67. Seugebusch diss. Hom. 1, 210 ff.
8) Seh rader Porphyr, quaestt. Hom. p. 384 ff. Mullach fragm. philos.
U 272 f. 277 ff. vgl. Xeuoph. conv. 3, 6.
4) Grafenhan Gesch. der klass. Philol. I 188; Ferd. Hoffmauu de
philo», ac sophistarum qui fuerunt ante Aristotelem studiis Hom. Halle 1874 ;
O. Friedel de philos. Gr. «tud. Hom. I. Merseburg 1879 (Pr.).
6) Arist. Daitaleis l'r. 1 D.
6) Wachsmath de Aristotelis studiis Homericis; Berlin 1863; Lehrs
AriflU stod. 222 and Val. Rose Arist. psendepigr. p. 149 halten die Schrift
för unecht, während sie Ileitz die verlorenen Schriften des Arist. S. 258 ff".
verteidigt. Seh rader Porphyr, quaestt. Hom. p. 415 ff. macht sehr
wuhrMcheinlich , daw den Spät«ren eine Sammlung peripa tetischer Probleme,
deren Kern aristotelische Vorträge aasmachten, vorlag.
7) C. Müller, histor. Graec. frg. II 193 ff.
«Die honierischeu Epen. 135
Vorträgen fimden. ^) Zenodot erfand den Obelos ( — ), um Verse
für unecht zu erklären ^); Aristophanes fügte dazu das /epaüvtov
(T), welches mehrere Verse verurteilte, bei allen ungewöhnlichen
Dingen die von Leogoras vonSyrakus erfundene StTrX'^ (>— oder »,
den aoTsptaxoc (x), um schwierige Stellen anzumerken, und das
avTioiY;j-a (•)), das er gebrauchte, wo die Verse nicht in der
richtigen Ordnung zu stehen schienen. Aristarch gab das
xspaDV'.oy auf, erfand aber neu die SiTcXr^ Trcf^teaT'.YlJ-svirj (>^ oder ::>)^
womit er die Besprechung fremder Lesarten einleitete. Den
Asteriskos verwendete er lieber für die Bezeichnung wiederholter
Verse. Zenodot verzichtete auf einen Commentar, obgleich ein
solcher gerade bei seinem Vorgehen wünschenswert gewesen
wäre, und begnügte sich mit stillschweigenden Aenderungen
und der Setzung des Obelos. Dazu kam ein Glossar ; überdies
besitzen wir eine Tageseinteilung der llias auf einem leider
fragmentierten Basrelief.^) Das Residuum von Aristophanes'
Exegese'*) besteht nur in zerstreuten Notizen, die aus seinen
Glossen stammen , ungerechnet die Angaben über seine An-
wendung der kritischen Zeichen; in der Athetese ging er oft
seinem grossen Nachfolger voraus.^) Aristarch bildet auch
hier den Mittelpunkt; zu seinen kritischen Zeichen gab später
Aristonikos von Alexandrien, ein Zeitgenosse des Strabo"),
1) Vgl. besonders das von Osann (Giesseu 1851.) herausgegebene Anec-
dotum Komauum; die verschiedenen Anecdota , welche auf Sueton zurück-
gehen, sammelten Reifterscheid in Suetoui fragmenta p. 137 ff. und Nauck
hinter dem Lexicon Vindob. p. 271 ff.; vgl. H. Schrader de notis criticis,
Bonn 1863.
2) 'AS-ctjlv. Alle athetierten Verse verzeichnet Geppert Urspr. der
hom. Ges. 1, 10 ff. War den Grammatikern die Unechtheit eines Verses
über allen Zweifel erhaben, so Hessen sie denselben ganz weg ; der technische
Ausdruck dafür ist oü5s Ypä'fsiv.
3) CIG. 6129. Lachmann Betrachtungen über die llias S. ^90 ff". O.
Jahn griech. Bilderchroniken S. 62 ft'.
4) Nauck Aristoph. Byz. frg. p. 20 — 59.
5) Durch die politische Färbung ist die Athetese von Y 307 f, die sich
auf Äneas beziehen, von Interesse (v. Wilamowitz philol. Untersuchungen
4,161.)
6) I p. 38. Sein Buch erschien vor dem des Didymos (Lehrs Arist.
stud. ^27). Die Schollen beginnen mit *r] o:KK-q und ä. ozi oder jetzt oft blos
mit oz'.. Die auf die llias bezüglichen Fragmente gab Friedländer Göttingen
1853 heraus (vgl. M. S en g ebu s ch Aristonicea, Berlin 1855); für die Odys.see
136 3' Kapitel.
in der Schrift Tuspl ('Aptatap/oo) orjjxsiwv '0[XY]pou einen Kom-
mentar. Der grosse Gelehrte handhabte den übelos nicht mit
der subjektiven Kühnheit des Zenodot, sondern stützte ein ver-
dammendes Urteil in der Regel auf mehrere Gründe, wobei er
sich als der genaueste Beobachter homerischer Sprache und
Sitte zeigte. ^) Selten rissen ihn die sittlichen und ästhetischen
Ansichten seines Zeitalters dahin fort, dass er Verse, die diesen
widersprachen, strich.^) Bei dem grossen Publikum, dem die
geheimnisvollen Zeichen imponierten, verlieh ihm gerade dieser
Teil seiner Arbeit einen besonderen Nimbus und sein Obelos
wurde ein geflügeltes Wort. Aber die Gelehrten ergaben sich
nicht so leicht : Schon Kallistratos, ein Schüler des Aristophanes
schrieb npbc zäc cn.d-ezrioziQ , später Demetrios Ixion Tipo? too^
rjö-exTjfxsvoof: (oTt/ou?) und der pergamenische Gelehrte Zenodotos
der Jüngere axoXoYtat Tipö? ras a^sTTjostc 'Aptotap/oo.^) Neben
den Zeichen kannte das spätere Altertum zahlreiche aristarchische
o;ro{ivr^[xaTa •*), vermutlich zum grossen Teile Kollegienhefte, die
seine Schüler nachschrieben.^) Eine Anzahl derselben schloss
sich an die Ausgabe des Aristophanes an^), weil Aristarch
damals wahrscheinlich noch keine eigene veröffentlicht hatte.
Von seinen aoYYpäiAjxaia, die Didymos (zu B 111) bestimmt
davon scheidet, richteten sich einige gegen den Zenodoteer
machte O. Carnuth Lpg. 1870 die Arbeit. Vgl. Lehrs Arist. * 1 ff. Bec-
card de scholiis Venetis p. 11 ff. Römer Jahrbb. 119, 88 ff. Friedländer,
(Ind. 1. Königsberg 1876. 1879) bewies, dass ein Fragment im codex Venetus,
welches Cobet Mnemos. n. s. 1, 28 ff. und D indorf Schol. II. 1 p. 1 f.
der Vorrede des Aristonikos zuteilen, nichts mit ihm zu thun hat. Suidas
erwähnt noch eine Schrift nep\ xwv xrji; 'IXtaSoc aauviaxTcuv övofxatcov. —
Verloren ist Philoxenos' Schrift Tcepl ofjixetcuv tojv ev xf/ 'IhMi (Said.).
Dasselbe Thema behandelten andere Aristarcheer gelegentlich (Ribb eck Phi-
lo!. 8, 666).
1} L. Schwidop de versibus quos A. in Homeri Iliade obelo signavit,
Kegim. 1862.
2) Cobet miscell. crit. p. 225 ff. Ueber die alexandrinische Aesthetik
Ed. Müller Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten II 225 ff.
8) Hiller Philol. 28,86 ff.
4) Suidas sagt: li-^txai U Ypi'^ai onep to ü7:ofivT^|xdtü>v iiöviuv (d. h. aus-
ser anderen ü»)cr 800 exegetische Rollen) ; diese hohe Zahl erklärt sich leicht
daraus. da«.s den Kommentar zur Ilias und Odyssee allein 48 Rollen bildeten.
6) Daher whieden die Alten zwischen genauen und weniger sorgfältigen
(Sohol. H III. II l.30j und schätzten die ooYYpa|M'-aTa höher.
0) Schol. A B 488, vgl. zu <l> 131. v 162.
Die homerischeu Epeu. 137
Philetas ^) und gegen Komanos. ^) Von seinem Gegner Kr at es
von Mallos können wir wenig rühmliches sagen, ausser dass er
in seinen neun Rollen umfassenden Siop^wtixa Aristarch manchmal
geschickt bekämpfte und in der Lästrygonenfabel mit Scharf-
blick eine Spur der langen nordischen Wintertage erkannte;
aber er war der erste Gelehrte, der auf die unglückliche Idee
der Philosophen einging, in Homer lägen die Keime aller
Wissenschaften. ^)
Die spätere Literatur, an der besonders die Aristarcheer
beteiligt waren, ist bei der Fülle von wenig bedeutenden Schriften
und kaum bekannten Verfassern weder rein chronologisch dar-
zustellen, noch auch hier zu erschöpfen,^) Wir geben daher
blos eine Uebersicht der Kategorien mit den nennenswerten
Leistungen.
Unter den kritischen Schriften nimmt das Sammel-
werk des Didymos, ;rspl ttjC 'Apiiatap/siöD Stopö-waew? betitelt,
den ersten Platz ein ^) ; er vereinigte hier die gesammteu
Varianten der verschiedenen älteren Ausgaben, vor allem der
des Aristarch*'), wodurch er den Späteren das Studium der
Originalausgaben ersparte, aber auch so ihren Untergang herbei-
führte. Indes schöpfte Didymos selbst vielleicht teilweise aus
1) Schol. A 524. ß 111.
2) Schol A 97. ]} 798. ii 110. Vou seiner Schrift irspl 'Ih.äooz xal
'Ooüooetai; (Schol. I 349) wissen wir nichts näheres; Mure history of the
language a. lit. of autient Greece II 121 A. 3 bezieht sie auf die Chorizon-
tenfrage. Dann wäre sie wohl identisch mit der Abhandlung Tipoc tö Sevcu-
vo? Tzapäoo^oM (Schol. M 435). lieber eine Schrift , die den Schiffskatalog
behandelte, spricht B. J. Gödhart de Aristarchi commentatione Ttspl xoö
vaoota^[xou iustauranda, Traiecti 1879 (Diss.).
3) C. Wachs muth de Gratete Maliota, Lpg. 1860, Nachtrag Philol.
lö, 666. Repliken von Dionysios Thrax (Schol. A I 464) und Parmeniskos
(Et. M. V. "Apju), vgl. Schol. Eur. Rhes. 515 [524].
4) Fabricius bibl graeca I''' 502 — 27 ; Heynes Ausgabe der Ilias III p.
LIII ff.
5) Didymi frg. coli, et disp. M. Schmidt, Lpg. 1854 p. 112—214, not-
wendig zu ergänzen durch J. La Roche Didymus über die arist. Recension
der hom. Gedichte, Triest 1859; A. Lu d wi ch Didymi ti. zr^ 'A. 8. frg. ad
II. A, Königsb. 1865, 2 Progr.
6) Ueber seine Quellen Lehrs Arist. stud. '''15 ff.; nach Sengebusch
drei Artikel, Berlin 1875 benützte er die erste Ausgabe des Aristarch, dage-
gen Aristonikos die zweite (diss. Hom. 1, 27 ff.)
iQQ 3. Kapitel.
abgeleiteten Quellen. *) Er besprach die Lesarten einsichtig;
und wahrte gegenüber Aristarch sein selbständiges Urteil. ''^) Die
gleichnamige Sciu-ift des Ptolemaios von Askalon ^) und Tryphons
Buch itBpl ap'/aiac avaYvwasw?^) verfolgten wahrscheinlich ein
ähnliches Ziel. Ammonios, Aristarchs Nachfolger, behandelte
eine kritische Detailfrage, die P^xistenz von zwei aristarchischen
Ausgaben. '") Von grösserer praktischer Bedeutung waren die
Untersuchungen über Prosodie (d. h. Accent und Spiritus) und
Wort- oder Satztrennung, seitdem jene Zeichen eingeführt und
<he continua scriptura aufgegeben war. Jene behandelte nach
Heleukos^), Tyrannion ^) und Famphilos *) der ausgezeichnete
Grammatiker Herodianos in der 'OfiYjptXTj zpoat^Bioi, einem
Teile seiner umfassenden xaO-oXtx-?j 7:poocj)5ia, woher die homerischen
e;rt{jispt'5[xo'l, die seinen Namen tragen, stammen; der byzantinischen
Zeit gehören bereits die pseudoherodianischen T/p[AaTia{j.ol
'0[i-Tjp'.*/.o'l und andere Epimerismen zur Ilias in Cramers Anec-
dota Parisina 111 294—370 an. ^) Da die Zahl der ausge-
storbenen Wörter gross war und die Analogie oft täuschte, ging
es ohne Missgriffe niclit ab, die eben in dem Wesen der alten
Grannnatik begründet waren. Oros von Milet scheint Nach-
träge zu Herodian gegeben zu haben. ^^) Ebenso bescheiden
und mühsam, aber fast noch notwendiger .war das Bemühen
1) 8o Beccard de scholiis Veuetis p. 53 f. gegen Lahrs; Bernhardy II
'1, 197 schiebt das Schwankeu der Angaben anf die Excerptoren.
2) Lehr» 24 f. Beccard p. 34 adn. 44.
3) nach Lehrs 25 * mehr orthographischer Natur.
4) Stichle Philol. 6, 473.
6) K«pl Toö |ji7j YS'fovevat nksiovoLq exSooeic t-rjc ^ Apioza^y zioo S'-opö-tuOcCui;
(Schol. K 397). Lehrs *23 deutet unwahrscheinlich ^rXs'lovac „mehr als
zwei"; denn Schol. T 365 heisst die Schrift jrepl tt]? ETtsxootS-stofjc Stop-
bmototr,.
6) Nicanor zu A 211. T 57. I 32.
7) H. Planer sammelte die Fragmente seiner '()|jLY]ptx7] :rpoo(uSia in der
Dw«ertation de T. granunatico, Berlin 1862.
8) Lehrs Arist. ^29; Beccard schol. Ven. p. 77, früher bezweifelt.
9) Das ganne Material liegt in dem gros.sen Werke von Lentz „Hero
diani technici fragmenta" (Lpg. 1867—70 2 Bde.) gesammelt Tor; früher wa-
ren die Gelehrten anf Lehrs Herodiani scripta tria, Regim. 1848 und Lentz
l'hilol, 21, 390 ff. angewiesen; vgl, O. Carnuth de Etym. M. fontt. IL de
«M loci« qni ex Herod. II. pros. in Et. M. translati snnt, Jever 1876 (Fr.)
10) Etym. Flor. v. Kpsiov p. 195. Zenobios oder Zeuodotos beutete Hero-
dian aus. (Lentz Philol. 21, 385 ff.)
Die homerischen Epen. 139
des gleichzeitigen Nikanor^), eine riclitige Wort- und Satz-
trennung herzustellen; selbst Grammatiker, wie der Verfasser
des von Hesychios ausgebeuteten Glossars ^) , nahmen an den
wunderlichsten Compositis keinen Anstoss. In byzantinischer
Zeit nahm Kometas^) sein Werk wieder auf.
Nicht minder eifrig betrieben die Grammatiker die Exegese
der homerischen Gedichte. Unseren Kommentaren entsprachen
am ersten die DTrojivvj^ata, von denen wir blos die des Aristo-
nikos"*) und Didymos nennen; die meisten, Arbeiten von weniger
bedeutenden Gelehrten , fallen in die Kaiserzeit und besit/.en
für unsere Scholien wenig Bedeutung. Die vom Texte mehr
unabhängigen 'j6[X[JLiXTa (von Philemon) und [AsXsrat (von Plutarch
in mindestens zwei Büchern) führen zu der sonderbaren Klasse
der a/Toptat, TtpoßXrjjiaTa und C^/Tiijoetc mit den dazu gehörigen
Xöosic. ^) Bei den Gelehrtendiners vergnügten sich nämlich die
Gäste mit der Aufwerfung spitzfindiger Fragen, welche be-
sonders irgendwie auffäUige Stellen bei Schriftstellern betrafen*');
die, welche ein förmliches Geschäft daraus machten, hiessen
kyni(y.z'.Y.oi und XoTtxot. Den Reigen hatten natürlich die Philo-
sophen , Aristoteles mit sechs Büchern aTropTjjxata '') und der
pontische Herakleides mit Xoasic eröffnet. Unter den zünftigen
Gelehrten war blos der jüngere Zenodot hier literarisch thätig^);
erst die Kaiserzeit brachte die Strömung in regeren Fluss; an der
1) Beccard de schol. Veu. p. 35 ff". Ueber seine Zeit Wackerna-
gel Rhein. Mus. 31, 432 It". Für die Ilias sammelte Friedländer Königsbg.
1850, für die Odyssee Carnuth Königsb. 1875 seine Fragmeute. Friedländer
gab p. 1 — 137 ein ausführliches Bild seiner Thätigkeit, das Carnuth p. 15 ft'.
für die Odyssee ergänzte. Nikauor benützte Aristarch vielleicht nicht mehr
direct (Friedläuder p. 104 f.")
2) Z. B. «fj-tflpsEÖ-pa, KOf/i'/^r/.'kv.ov ; sehr ergötzlich ist die Lesart Siä zz-i\-
TYjv spiaavTo A 6, was heissen soll: „Sie stritten wegen eines Weibes."
S) Anthol. Pal. 16, 38, 2. Villoison An. Gr. II 138 f,; wahrschein-
lich ist er der seit 856 zu Konstantinopel lehrende Professor dieses Namens.
4) Beccard p. 20 f., vgl. Kibbeck Philol. 8, 656 ff.
5) Lehrs Arist. H99 ff. Schrader Porph. quaestt. p. 368-441.
6) Porphyr, zu I 682.
7) s. S. 134. Nach dem Vorbilde ihres grossen Meisters beschäftigten sich
die Peripatetiker gei-ne mit spitzfindigen Problemen.
8) XuoEcc 'OfiYipixwv ZritriiKaTüiv, vgl. Schrader Porphyr, p. 431 f.
24Q 3. Kapitel.
Spitze stellen im dritten Jahrhundert Cassius Longinus^) und
sein Schüler Porphyrios, von dessen ^fizii\mzrf. 'OjXYjpixa unsere
-Scholien nur zu viel erhalten haben. ^) Eng damit hingen die
allegorischen Erklärungsversuche zusammen, weil die Philo-
sophen nicht blos auffällige Mythen physikalisch deuteten,
sondern auch Widersprüche allegorisch lösten. Wie wir oben
sahen, gehen derartige Versuche in frühe Zeit zurück; in der
alexandrinischen Zeit verwerteten besonders die Stoiker die
Methode. Wir kennen aber blos späte Proben dieser Thätigkeit,
zunächst die Allegorien eines etwa unter Augustus lebenden^)
Philosophen, der sich unter dem Namen des Herakleitos*)
als des Dunkeln verbarg und ein grösseres Werk eines Stoikers
benutzte^); viele Abschnitte gingen hi die jüngeren Ihasscholien
über. ®) Die Byzantiner verfertigten mit grosser Vorliebe Alle-
gorien^),; ein grosser Teil davon ist ungedruckt und mag es
bleiben.
Der fortlaufenden Erklärung dienen endlich noch die ■
Metaphrasen und Paraphrasen, anfangs rhetorische J
1) Eine Probe seiner TtpoßX-finaxa findet man in Cramers Auecd. Oxon
I 83.
2) Porphyrii scholia Homerica emendatiora ed. E. Kammer, Königsberg
1863; am vollständigsten mit einem eines besseren Gegenstandes wür-
digen Fleisse von H. Schrader Lpg. 1882 herausgegeben (Vgl. dazu A. Kö-
rne r Jahrbb. 123, 1 ff.). Die Einzelschrift „über die Nymphengrotte" .steht
am besten in Herchers Ausgabe des Äliau (Paris 1858). Nach Suidas schrieb
Porphyrios auch nepl rrfi '0|J.-fipou tptXooocp'a; und uspl tfj; et H)jj.-fjpou
iu'fE/.sta^ tdiv ßaoiXeu)V ßtßXia L
3) Osann quaest. Hom. V 6 f.
4) Früher nannte man ihn fälschlich Herakleides.
6) Schrader Porphyr, p. 393 ff. 402 ff. In neuerer Zeit ungenügend
herausgegeben von Matrauga Anecd. Gr. I (1850) 296—361 und Mehler, Leiden
1861; für eine neue Ausgabe ist der Cod. Oxon. nov. coli. 298 (Lud wich
Rhein. Mos. 1882 S 484 ff.) sehr wichtig; zur Emendation vgL H. J. Pola ck
«d Odysseam eiu»(ine scholiastas curae secundae H. 2.
6) Schrader Porphyr, p. 362. 407.
7) Z. B. Michael Psellos, Allegorie auf die Nymphengrotte (L. AUatius
<le Psellis p. 48) ; Nikephoros Gregoras , moralische Odyssee (Opsopoeus Ha-
genau 1681, Jo. Columbus LB. 1745, Matranga An. Gr. II 525 ff'., vgl. Philol.
8, 756 ff.); Jo Tzetzes ÖTtoO'eai? &XXYjY«>p"^9'Eioa zur Ilias uud Od. a — v (Ma-
tranga Anecd. Gr. I., zur Hins auch Boissonade, Paris 1851); Verschiedenes
bei Matranga II. zur Odyssee Anecd. Paris II 208, 8—214, 7 (später als Diktys)
o. s. w.
Die homerischen Epen. 141
UebuDgsstücke , bald aber ein Hilfsmittel der Exegese. Von
jener Art gab Plato in seinem Staat (3, 393 d e und 394 a)'
meisterhafte Proben und wurde so zum Vorbilde der jüngeren
Sophisten, unter denen sich Prokop von Gaza (Phot. cod. 160)
und der jüngere Philostratos (c. 10) hervorthaten. ^) Die
{j-sTa^paatai '^) verfolgten dagegen einen kommentatorischen
Zweck ^); als der erste, so viel wir wissen, verfasste der Gram-
n>atiker Demosthenes Thrax jxetaßoXal 'OSooasiac, die eine
wichtige Quelle für Eustathios wurden. Je weniger die Byzan-
tiner Homer verstanden, desto mehr hielten sie sich an solche
Eselsbrücken ; die Gebildeteren unter ihnen gebrauchten noch alt-
griechische Paraphrasen, als aber die Vulgärsprache auch eine
literarische Bedeutung gewann, entstanden selbst vulgärgriechische
Paraphrasen. ^) Obwohl jene für die Kritik des Textes und der
Schollen^) Bedeutung haben, sind sie noch fast gar nicht
verwertet.
Zu diesen allgemeineren Arbeiten tritt endlich eine Fülle
von Monographien über sachliche und sprachHche Themata.
Niemand behandelte die Sprache Homers im Zusammenhang;
denn seitdem Demokrit (in XEpl '0{jL7jpoo y) opO-osTceiYjc) und
Protagoras sie von logischen Gesichtspunkten aus betrachtet
hatten, fand sie bei den Grammatikern in der Regel nur mit
der gewöhnlichen Sprache verbunden eine Bearbeitung, einzig
1) Aristeides gibt in seineu xr/^vat pr^Topixa: (1,14) eine Anweisung dazu;
der ältere Seneca (suas. 1,12) nennt einen Rhetor Dorion.
2) Schol. vulg. A 232 u. ö.
3) Valckenaer opusc. 2, 116. Lehrs Pindarscholien 54 ff. Suidas
erwähnt aueh eine Paraphrase der Ilias.
4) Von altgriechischen teilt Villoison hinter seinem Apollonius Sophista
Proben mit ; Bekker gibt eine Pariser Paraphrase als Appendix der Iliasseho-
lien; Monographien: Wassenbergh Homeri II. 1. I. et II. cum paraphr.
Graeca, Franeckerae 1783 und E. Schmidt dr Iliadis paraphr. Bekkeriana
et metaphrasi Villoisoniana, Königsberg 1875. Vulgärgriechisch: Ilias in po-
litischen Versen von Nikolaos Lukanos, Venedig 1526. 1640, neu von Legrand
Paris 1870; Nie. Theseus, Florenz 1811; Konst. Hermoniakos in 2945 Acht-
silbern (Nicolai, Gesch. der neugriech. Literatur S. 04), ungedruckt eine dem
Michael Psellos zugeschriebene Paraphrase der Ilias (L. Allatius de Psellis p.
48 f. Villoison proll. in II. p. 16 not. p. 42) und eine andere zu den ersten
fünf Büchern der Ilias in Venedig (Mingarelli catal Gr. codd. msst. apud
Nanios ads. p. 490 cod. 293).
5) Mit den Didymosscholien stehen sie in innigem Zusammenhang (Lehrs-
wissensch. Monatsblätter IV H. 3).
1^2 3. Kapitel.
den grossen Dialektologen Tiyphon ausgenommen, der in seinem
siebenbändigen Werke Tuspt twv Traf/ 'ü{jLrjp(j> xal XifwöviS-fj xal
Il'.vSapy xal 'AXx[Aävi xal toi? aXXotc Xopcxoi? StaXsxxwv den
homerischen Dialekt wahrscheinlich gesondert behandelte. ^) Er
verfiel gerade auf dieses Thema, weil sich die Alten den
homerischen Dialekt mosaikartig aus den Mundarten zusammen-
gesetzt dachten. ^) Wir besitzen ferner byzantinische Regeln
über die Konjugation.^) Hingegen betrieb die alte Philologie
mit rühmlichem Eifer die Sammlung und Erklärung dunkler
und seltener Wörter, An die erwähnten voralexandrinischen
Glossen reihen sich die Glossarien des Zenodot und Philetas^);
die Xs^stc des Aristarch ^) excerpierten erst seine Nachfolger aus
ozo[jLV7j[xaTa. Während dieser Homer aus Homer erklären wollte,
zog Krates die Dialekte und sogar asiatische Sprachen heran ^,
Bestrebungen, die sein Anhänger Zenodot von Mallos in den
sd-vtxal Xi^eiQ fortsetzte. '') Auch die Jüngeren standen nicht
zurück: Seleukos 6 '0[jnrjptxöc ^) , der Antisemit Apion unter
Tiberius — eine in der Geschichte der Reklame wichtige Per-
sönlichkeit, liess sich doch selbst Wolf über seine Bedeutungs-
losigkeit täuschen^) — , Philoxenos von Alexandrien^''), Basi-
leides*^) und andere verfassten homerische Glossare. Im Auszuge
sind noch die ausführlichen Schriften des Zenodoros xepl ttj?
'Oftr^poo oovrjO-sia«; (10 Bücher über das Verhältnis der homerischen
1) A. V. Velsen stellte Berlin 1863 seine Fragmente zusammen, vgl.
Stiehle Philol. 6, 649.
2) Auf die Spitze getrieben ist diese Vorstellung in den fKiboQfui xaxä
KÖX«t^ (Bekker an. Gr. 1096).
3) Matranga anecd. II. 536—51.
4) Dieser behandelte in seinen '(kiho^rx.: «Taxioi die homerischen Wörter
nnr ueben1>ei.
5) Schol. A 423. U 125. 435 u. ö. Diese lexikalischen Excerpte be-
nützten wahrscheinlich Hesychios und ApoUonios.
0) Wachsmuth Philol. 16, 666.
7) M. Schmidt Kuhns Zeitschrift 9, 296 f.
8) M, Schmidt Philol. 3, 436 flf.
9) Lehr 8 qnaestt. epicae p. 1 ff.
10) Said.; Serenoa verfertigte einen Auszug (Said. o. Ssp-rjvoc).
11) Ktpl 'OjAYjp'.xf,': >.g;s<u; oder — d»v — eu>v, von Kratinos ausgezogen
(Et. M. p. 142, 28 und Et. Paris. An. Par. IV 61, 16).
Die homerischen Epen. 143
Sprache zur helleuistiscben) ^) und des Loiiginos Jtspl twv rcap'
''OixT^pc}) TtoXXä 07]|xa'.V0D0ü)v Xs^swv S' erhalten. ^) Sonst müssen
wii- uns mit den Excerpten alter Glossare , die im Hesychios ^)
und den Etymologika stecken ^), einem Lexikon des ApoUonios
Sophistes^), des Lehrers von Apion, und angeblich apionischen
fXwaaai 'OjiYjptxa'l ^) begnügen.
A^on den zahlreichen Einzelschriften, welche die homerischen
Realien besprachen, können wir bei ihrer ausserordentlichen
Fülle nur einige Proben geben. Ueber homerische Rhetorik
handelten Telephos von Pergamon (unter Hadrian) '^), ausserdem
mehrere erhaltene Traktate^) und der zweite Teil der früher
erwähnten pseudoplutarchischen Biographie, über Philosophie
Herraogenes von Smyrna und Porphyrios, über Mathematik
Dionysios der Phaselit. ^) Die geographischen Fragen der Ilias,
speziell des Schiffskataloges besprachen in erster Linie Deme-
ti'ios von Skepsis *°) und etwas später Apollodoros von Athen ^^) ;
beide überbot Menogenes wenigstens äusserlich mit 23 Büchern. ^^)
Den Wunderländern der Odyssee wandten sich Aristonikos ^^),
1) Miller melanges de litterature Grecque p. 407 fl". ; Schrader Por-
phyr, p. 433 f. erklärt diesen allerdings sehr dürftigen Auszug für ein byzau-
tini.sches Excerpt aus Homerscholien , ohne mich wenigstens zu überzeugen.
Snidas stellt den Titel fälschlich unter Zyjvoooto?.
2) Entweder in den Porphyriosscholien oder im Fragmentum glossarii
Teteris Graeci ed. Fr. Oehler, Halle 1849.
3) M. Schmidts Ausgabe IV p. CV flf. V 110—55.
4) Das grosse Etymologikon benützte (p. 553, 7. 744, 39) ein nach Ge-
säugen geordnetes Glossar zur Ilias, das auch Stephanos (Anecd. Paris I 298,
11) citiert.
5) Die Schrift ist natürlich nicht in der ursprünglichen Gestalt bewahrt.
Zuerst vou Villoison Paris 1773 herausgegeben, zuletzt von Bekker Berlin
1833; von Hesychios und Photios benützt.
6) Etym. Gud. col. 601 — 610; Oehler in dem ob. Progr. von Halle
1849 und Philol. 15, 328 f.
7) T^Jpl xüjv T:ap '^Ofi.Yipü) ayr^\i.6i.nt>v ^7]toptxü>v ß'.ßXta ß' := n. tyjc v-o.d-''
"OfAvipov pYjXCip'.xYjg Suid.
8) Mehrere Schriften iztpl a)(Y]{j.ax<juv oder xfiOTituv bei Walz rhet. Gr. VIII.
9) Vita Arati p. 61.
10) Fragmentensammlung bei Stiehle Philol. 5, 228 ff. 6, 344 fl.
llj N lese Rhein. Mus. 32, 267. Ueber das chronologische Verhältnis beider
Schriften Unger Philol. 41, 617.
12) Eust. zu ß 494.
13) TCspl X7](; MsvsXctou uXävYjc Strabo 1, 38, nach Friedländer Paulys
Kealeuc. I ^612.
1^ 3. Kapitel.
Teleplios von Pergamon ') und vielleicht Hypsikrates von Amisos ^)
zu. Das Leben der homerischen Zeit wurde bis in die kleinsten
Kleinigkeiten erforscht, so dass z. ß. Asklepiades von Myrlea
über Nestors Becher^) und Dorotheos von Askalon über den
Stuhl der homerischen Helden^) schrieb, Neoteles ihre Bogen-
kunst^) und Polles die Beobachtung des Vogelfluges ^) unter-
suchte. Ptolemaios Epithetes soll sogar über die bei Homer
ausgeteilten Prügel dissertiert haben. ^)
Trümmer dieser reichen Literatur liegen verdünnt und
verwässert in den Sc holiensammlungen vor, deren Hand-
schriften aus den Lexikographen erhebliche Bereicherung er-
fahren. Die Scholien der IHas beruhen ihrem alten Bestände
nach in erster Linie auf dem schon erwähnten Codex Venetus A,
der auch noch zahlreiche Beispiele der aristarchischen Zeichen
aufweist. ^) Diese Venediger SchoHen ^) bestehen in Excerpten
aus Aristonikos , Didymos , Herodianos und Nikanor wie aus
dem Nachworte der einzelnen Bücher hervorgeht: IlapaxciTai.
Toc 'AptoTOVtxoo OTjjxsia xal ta AiSofioo Trspl t'^c 'ApiaTap-/eiot>
Stopö-woeiöc, Ttvdc 8s xal sx tr^c IXtax'^? 7:pocjci)Sta<: 'HpwSiavoö xal
ix Töö Ntxavopoc Tcspl (f^q 'OtxTjpr/.'^c) ozi'([Lfic,. ^°) Dazu treten
jüngere Auszüge aus Apollonios, Herodian und Porphyrios^^),
1) unter Hadrian Kzpl t-rj? 'Oouaoscoc 7:Xav*r]i; Suid.
2) Sengebusch diss. I 12 f.
3) Ath. 11, c. 78—85 u. ö.
4) Snidas. Porph. zu I 90. Die Abhandlung bildete ein Buch des Sam-
melwerkes iravSixtai (Schrader Porphyr, p. 382).
6) Schol. A B 325.
6) Vielleicht gehörte diese Schrift zu seinen acht Büchern oltovooxoinx'i,
wie die Monographie über die tyrrhenische Mantik ; übrigens ist der Name
Polles wahrscheinlich von dem Seher (Suid. u. Marinos vita Prodi p. 24)
entlehnt. Nach Porphyr, zu B 305 p. 33, 15 Sehr, schrieben mehrere über
denselben Gegenstand.
7) So besagt wenigstens unser Text des Suidas.
8) J. La Roche Text und Scholien des berühmten Codex Venetus zur
Ilias, Wiesbaden 1862; C. Wachsmuth Rhein. Mns. 18, 178 fl'.
9) Beccard de schol iis Venetis, Berlin 1850.
10) Dindorf Schol. in Hom. II. I. p. VI. Diese Excerptensammlnng ent-
stand wahrMcheinlioh bald nach Herodian (Lehrs Arist. *30).
11) .\US den C'')'*^,|i.aTa und izepl täv -ap'y./,j>.j'.;j.itsv<ov xu) Tzoir^zr^ c/vojittTcuv
(Bchrader Hermes 14, 231 ff).
Die homerischen Epen. 145
Glossen und Varianterf, ausserdem zahlreiche btoptat. ^) San-
guiniker hofften für die Lücken des Codex in einer Hand-
schrift des Athosklosters Vatopedhi Ersatz zu finden, aber der
Fand rechtfertigte die hochgespannten Erwartungen nicht. ^)
Aeusserlich zerfallen die Venediger Schollen in verschiedene
Klassen, die zugleich einen verschiedenen Charakter tragen:
Kritische Zeichen, ausführliche Randscholien , kürzere Text-
schohen (unmittelbar neben dem Texte) ^), Glossen und Inter-
linearerklärungen, endlich Nachträge am Rande.
Viel mehr späte Bestandteile, aber doch nicht wenige alte
Gelehrsamkeit enthält die zweite Scholienklasse , die das exe-
getische Element mit allegorischphilosophischem Beigeschmäcke
in den Vordergrund stellt und demgemäss Porphyrios reichlich
ausbeutet. Sie zerfällt in zwei grosse Massen,^) von denen die
ältere, durch Zahlen auf einzelne Worte bezogen , meist gram-
matische Bemerkungen und kurze porphyrianische Excerpte
enthält , während in der anderen neben ähnlichen Excerpten
ansehnliche dem Porphyrios und Herakleitos entlehnte Ab-
schnitte erscheinen. Spätere fügten einige grammatische Aus-
züge hinzu. Als Repräsentanten dieser Klasse nahm Dindorf
den Codex Venetus B an, wogegen Römer ^) nachwies, dass die
scholia Victoriana oder richtiger das von ihrem Schreiber nach-
lässig kopierte Original^), die scholia Townleiana die Grundlage
bilden müssen. Zu derselben Klasse gehören die Leipziger
Schollen'^) und eine Gruppe, die auf gemeinsamer porphyriani-
1) Schwartz de scholiis Homericis ad historiam fabularum pertinentibus
Jahrbb. Suppl. 12, 403 ff. nimmt einen mythologischen Iliaskommentar als
Quelle an.
2) Dindorf füllt die Lücken damit aus; seine Angaben berichtigt Tour-
nier revue crit. 1877 11 nov.; vgl. auch Ludwich Rhein. Mus. 32, 184 flf.
Duchesne archives des missions scientif. et litt. II 3,365 ff.
3) Römer Sitzungsber. der bayer. Akad. phil, Cl. 1875 IT 241 ff. In den
Randscholien überwiegen Herodian und Nikanor, in den Textscholien Aristo-
nikos und Didymos.
4) Hiller Jahrbb. 97, 801 ff. Schrader philol. Anz. 1878 S. 607 ff.
6) de scholiis Victorianis, München 1874 und die exeg. Scholien der Ilias
im cod. Ven. B, 1879.
6) Thiersch acta phil. Mon. II 561 ff. Proben bei Cramer An. Paris.
III 270 f. und Dindorf, der eine vollständige Collation besitzt.
7) e codice Paulinae ed. L. Bachmann, Lpg. 1835 — 8 H. 1—3 (bis P).
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 10
J46 3. Kapitel.
scher Basis ruht.*) Die am frühesten bekannten Scholien , die
jetzt den Namen des Didymos führen, sind fast wertlos^).
Eine Gesammtansgabe aller dieser Scholien unternahm
Bekker Berlin 1825 in zwei Bänden, eine zu ihrer Zeit sehr
verdienstvolle aber jetzt nicht mehr genügende Arbeit^). W.
Diudorf hat eine neue nach Handschriften gesonderte Bearbei-
tung begonnen, die, wenn sie auch nicht befriedigt, immerhin
das Material sehr bereichert. Die beiden ersten Bände enthal-
ten die Scholien des codex Venetus A, der dritte und vierte
die des codex B*).
Für die Scholien der Odyssee gibt es keine Haupthand-
schrift^), doch sind die Marciana (zu a — S), Harleiana^), Ham-
burgensia und Palatina (zu 8 — yj) nennenswert. Die Hauptaus-
gabe nach Buttmanns Versuch^) rührt ebenfalls von W. Diu-
dorf her und ist noch weniger befriedigend^).
Eine kritische Ausgabe sämmtlicher Homerscholien dürfen
wir von A. Ludwich hoffen ; Proben liegen bereits in den Auf-
sätzen Scholia ad Odysseae 1. XIH. e codd. Veneto et Mona-
censi (Königsb. 1870) und ,,über den codex Hamburgensis der
Odysseescholien" (Rheni. Mus. N. F. 33, 439 ff.) vor.
Vor der Auffindung der Venediger Scholien stand der
Kommentar 'des Eustathios^) , TuapsxßoXal elc tt^v 'Ojivjpoo 'IXtaSa
1) Leidensis Voss. 64 (Schiader Porphyr. S. 357 ff.), Scorialensis ii I
12 (Miller catul. 462, Dindorf IV 409 flf.), Harleianus (Dindorf Philol. 18,
341 flf.), Mos<iuensi,s s. synodi 75 (Matthäi Syntip. fab. p. XIII. 81 flf.) und
Etonensis (Nöhden de Porph. schol. in Hom. Göttingen 1797 p. 1. 2. 30 flf.).
2) Nachträge zu Bekker Philol. 9, 385 flf. 11, 168 flf. Ruelle Archives
des miss. scientif. III. 2, 572 ff. Erst Asulanus benannte sie .so (Dindorf
Schol, in Od. I praef. p. XV).
3) Pluygers de carmm. Horter. veterumque in ea schol retrac-
tauda editione, Leiden 1847.
4) Die Recensionen von Lud wich Rhein. Mus. 32, l ff. 160 ff- und Rö-
mer Jahrbb. 113,433 ff. 117, 533 ff. sind dazu unerlässlich.
6) Karajan über die Handschriften der Odysseescholien (Sitznngsber. der
Wiener Akad. htst.-phil. Kl. 22, 264—333) SA. Wien 1857.
6) Facsiinile in Hayraan the Odyssey I, London 1866.
7) Schol. ant. in Hom. Od. Berlin 1821.
8) Oxford 1855 2 Bde.; Zusätze von J. La Roche Philol. 16,699 ff. 20,
711 ff.; Max Iskrzycki Ztsch. für öst. Gyiun. 1877 S. 83 ff. gab Proben
einer interessanten Krakauer Handschrift. Kritisches in J. Polack observa-
tioues ad scholia in Honieri Odysseani, Leiden 1869.
9) Erzbisphof von Saloniki, von 1160 bis gegen Ende des 12. .lahih.
Die homerischen Epen. 147
('OSüa^stav) betitelt, in hohem Ansehen^). Seine Hauptquelle ist
ein den alten Schollen entsprechender Kommentar, den er bald
mit oc izcfXaioi bald mit dem Namen des Apion und Herodoros
bezeichnet; aus eigener Lektüre verband er damit Notizen der
,, Techniker" Herakleides, Herodian und Choiroboskos, wie auch
von Lexikographen und Antiquaren^). Seine Kolle ist in der Ho-
merkritik jetzt ziemlich ausgespielt, wenngleich in der Geschichte
der Philologie sein Name mit Achtung genannt werden muss
und sein Kommentar für die Kritik der Schollen erheblichen
Wert besitzt. Des Tzetzes s^tjyyjok; sie; tyjv 'OjiTjpoo 'IXtäSa^)
und das elende Machwerk von Manuel Moschopulos*) ver-
dienen kaum Erwähnung.
Hinter dieser ungeheueren Literatur bleibt die Thätigkßit
der neueren Zeit nicht zurück; leider stehen jedoch die erzielten
Resultate mit der unübersehbaren Menge von Ausgaben, Disser-
tationen, Programmen und ganzen Büchern nicht in gesundem
Verhältnisse. Wir besitzen zunächst noch keinen genügenden
Kommentar, sondern nur Ansätze und Vorarbeiten dazu. Nä-
gelsbach lieferte die bekannten schönen aber einseitigen Anmerk-
ungen zu den ersten drei Büchern der Ilias^). Nitzsch' Arbeit^)
erstreckt sich blos über die erste Hälfte der Odyssee und ist jetzt
veraltet. Die kürzeren Anmerkungen der Ausgaben von Ameis-
Hentze'), Fäsi-Kayser-Franke^), La Roche^;, Düntzer^*'), Pierron^^)
1) Ausgabe von Maiorauus, Rom 1-542 — 50 4 Bde. mit Index des Deva-
rius , wiederholt von Stallbaum, Lpg. 1825 — 30. Eine grössere Ausgabe be-
gann A. Politus (vol I— III. zu A-E, Flor. 1730—5). Vgl. Keil Rheiu. Mus.
6, 132 f. Lehrs Arist. stud. 387 ft'. Schol. 0 324 citiert ot Y^">aaoYpa«pot
ri'iow 'Airttov xal 'HXtoStopoc (so lautet die richtige Form).
2) Darunter Aristophaues und Sueton (L. Cohu de A. Byz. et S. Tran-
quillo Eust. auctoribus Jahrbb. Suppl. 12, 285 tf.)
3) nur zu A 1 — 102, mit Draco von G. Hermann Lpg. 1812 herausgege-
ben, auch hinter den Scholia Lipsiensia Iliadis von Bachmann.
4) bei Bachmann a. O. lieber die byzantinischen Kommentare C. Sa-
thas Annuaire de Tassoc. pour l'enc. des etudes gr.9, 187 fi". '
5) Nürnberg 1834. '^1864.
6) Erklärende Anmerkungen zur Odyssee, Hannover 1826 — 40 3 Bde.
7) Lpg. 1856 ff. u. ö. Ilias 1870 ff., vorläufig B. 1—18.
8) Berlin 1849 ff. u. ö.
9) Ilias Lpg. (Berlin) 1870 ff. '-'1877 ff'.
10) Ilias Paderborn 1866 ff. u. ö. Odyssee 1863 ff. u. ö.
11) Odyssee, Paris 1875, 2 Bde.
10*
l^ 8. Kapitel.
und Hayman*) besitzen jede ihre besonderen Vorzüge. Ge-
lehrten Zwecken dienen die unschätzbaren Anhänge, welche
Hentze der Ausgabe von Ameis beigibt; nur hat er manchmal
des Guten zu viel gethan. Weder K. W. Krügers poetisch-
dialektische Sprachlehre (Lpg. 1844. ^1879) noch Monros Ho-
meric grammar (Oxford 1882) vermögen ferner den Mangel
einer Spezialgrammatik zu ersetzen, obgleich es nicht an treff-
lichen allerdings zum Teil überschätzten Einzeluntersuchungen
fehlt^). Den bekannten Index vocabulorum in Homeri poema-
tibus von W. Seber (Heidelberg 1604 u. ö.)^) macht das von
Ebeling herausgegebene reichhaltige LexiconHomericum (I fasc.
1 — 12 IL Lpg. 1871 ff.) nicht überflüssig. Dagegen ist die
Technik des homerischen Verses durch Spitzner (de versu
heroico Lpg. 1816) und Hoffmann (quaestiones Homericae
Clausthal 1848) und namentlich hinsichtlich der Berührungen
mit der Lautlehre durch Harteis treffliche ,, homerische Studien"
(3 Hefte Wien 1871—74, 21873 ff.) zu einem Abschlüsse ge-
langt. Für die homerischen Realien^) besitzen wir ein Reservoir
an Buchholz „homerische Realien" (I. H 1. Lpg. 1871 ff.);
W. Heibig, der beste Kenner der etruskischen Antiquitäten,
die so viele Aehnlichkeiten mit den homerischen besitzen, ver-
spricht eine Darstellung der homerischen Privataltertümer-'^).
Das meiste Interesse koncentrierte sich infolge der Entdeckungen
Schliemanns auf die Topographie der trojanischen Ebene, nach-
dem Hercher^) Ithakas Schilderung als Phantasiegemälde er-
wiesen hatte'). Sonst könnten wir noch Abhandlungen genug
1) the Odyssey, London 1866—82, 3 Bde.
2) Z. B. C lassen Beobachtungen über den hom. Sprachgebrauch, Frank-
furt 1867. Lange der hora. Gebrauch der Partikel EJ, Abh. der sächs.
Gc«. der Wissensch. 16, 307 ff, 487 ff. La Roche homerische Studien,
Wien 1861.
3) Prendergast Lushington concordance to the Iliad, Oxford 1874;
H. Dunbar a coniplete couc. to the Odysseey and the hymns of Homer,
Oxford 1880.
4) Reiches Literaturverzeichnis in O. Retzlaff Vorschule zu Homer II*
Berlin 1881.
6) Proljen: Im neuen Reich 1874 S. 721 ff., Bull. d. Inst. 1874 p. 68 ff.
TL A.
6) Hermes 1, 263 ff., jetzt in den hora. Abhandlungen.
7) Die überströmende Literatur findet man bei Schlieniann Ilios 1881
fast vollMtüutlig.
Die homerischen Epen. 149
aufzählen , wenn sich nur die Mühe belohnte , aber sorgfältige
Untersuchungen, wie die von Rumpf über das homerische Haus')
oder Grashof über das Fuhrwerk^) sind dünn gesäet, üeber-
dies herrscht der Unfug, die abgedroschensten Gegenstände
immer wieder zu behandeln, so dass z. B. über den homerischen
Zeus und sein Verhältnis zum Schicksal nicht weniger als drei-
undzwanzig Programme und Dissertationen existieren und wer
weiss, ob nicht eben jetzt irgend einer mit der vierundzwanzig-
sten sich die Hterarischen Sporen erringt?
Resümieren wir kurz die Leistungen der Homerphilologie,
so können wir einfach sagen : Bei Homer steht es wie auf
den meisten Gebieten der Philologie; eine Fluth von grössten-
teils geringhaltigen Monographien gegenüber dem Mangel an
zusammenfassenden Werken! Um Homer hat sich der grösste
Schutthaufen angesetzt ; hoffen wir, dass von hier aus die Bes-
serung beginne!
Während die gelehrten Studien mehr äusserlich die Wert-
schätzung Homers erkennen lassen, ruht gleichsam unter die-
ser Oberfläche schwer messbar der E i n f 1 u s s , den er auf die
geistige Bildung seiner Nation und aller, die ihr nacheifern,
ausgeübt hat. Der Geschichtsschreiber kann jedoch nur die
konkreten Symptome desselben verzeichnen. Dass Homer jeder-
zeit den Griechen als der erste Dichter galt, erhellt schon aus
der Ehre, Dichter v.o.x lio'/r^v zu heissen, ein Titel, den Justi-
nians Institutionen^) für die östliche Reichshälfte offiziell an-
erkannten. ,, Homer hat ganz Hellas gebildet", sagt Plato und
dies gilt schon von früher Zeit an, da Xenophanes^) sich zu
der Aeusserung genötigt sieht : 'E^ ^9Xh'^ ^*^' ''0{XYjp.ov ijtsl
jxe[Aa^7]%aat rdvTsc. In Athen und später überall bildete der
Dichter den Mittelpunkt des Unterrichtes-'^); wie wir aus Dosi-
theus ersehen, lernten die Römer an Homer griechisch und
1) de aedibus Homericis, Giessen 1844—58 3 Tle., gegen Ger lach
Philol. 30, 489 ff. verteidigt Jahrbb. 109, 601 ff.
2) Düsseldorf 1846.
3) 1, 2, 2.
4) Anecd. Oxon III 296.
5) Xenoph. conv. 3, 5; Isoer. paneg. 159; Plut. Alcib. 7. Alex. fort. 1,10.
Luc. Anach. 21. Ael. v. h. 13, 38. Die Alten bezeichnen den Anfang des Schul-
unterrichtes mit M-rifiv aetSe (Hentze Anhang zur Ilias I ^28, dazu Nilus
paraen. 9, 1).
1^50 ^- Kapitel.
auch in Byzanz wich man von der uralten Sitte nicht ab.
Viele gingen in ihrem Eifer soweit, dass sie die Gedichte ganz
oder zum Teile auswendig lernten^); jedenfalls musste aber, wer
die Schule besuchte, wenigstens ausgewählte Abschnitte sich
einprägen^. Aber auch der ungebildeten Menge wurde der
Dichter durch Festvorträge vertraut. So begreifen wir es, dass
Homer das ganze Leben der Griechen erfüllte. Sokrates liebte
seine Philosophie in einen homerischen Vers zu fassen, Demos-
thenes kurierte sein Stottern mit einem solchen, Diplomaten
zogen sich durch ein homerisches Citat aus heiklen Lagen ;
überhaupt spielte Homer in Bonmots eine grosse Rolle^). So
begreifen wir aber auch die Möglichkeit, dass eine ganze Reihe
von Parodien*) oder richtiger Travestien und Centonen
entstehen konnten , da ja nur bei populären Dichtungen die
Parodie wirkte. Dem Spotte boten die pomphaften Formeln
des Epos eine Handhabe, schlägt doch gerade das erhabenste
mit geringer Mühe in das lächerliche um. Die alte Jamben-
poesie und Komödie ergriff dieses Mittel, weil es Lachen erregte,
mit Begierde ; Hipponax dichtete bereits eine komische Epopöe^),
worin er nach dem Muster der Odyssee die Irrfahrten eines
Ephesiers durch die Spelunken seiner Vaterstadt schilderte.
Zu einer besonderen Literaturgattung bildete Hegemon von
Thasos®), der um die neunzigste Olympiade für die Erheiterung
der Athener sorgte, die Parodie aus, worin ihm Hermippos und
Euboios Konkurrenz machten'). In der Diadochenzeit schmug-
1) Z. B. Nikeratos (Xenoph. conv. 3, 6 f.), der König Kassandros (Athen.
14, 620 b) nnd der Bischof Falgentius (Vita c. 4); Alexander der Grosse hatte
die ganze Ilia« und den grössten Teil der Odyssee im Kopfe (Dio Chrys. or.
4 § 89).
2) Nach Porphyrios zu B 494 gehörte der Schiffskatalog dazu; Kerkidas
soll die« in MegalopolLs gesetzlich verordnet haben.
3) Lauer sammelt in der Geschichte der homerischen Poesie allerlei
Anekdoten.
4) A. Weland de praecipuis parodiarum scriptoribns apnd Graecos,
Göttingen 1888; Peltzer de parodica Graecornm poesi, Münster 1856;
Pässen 8 de nonnullis parodiarum scriptoribus Graecis , Kempen 1859;
Wachsmnth Rhein. Mus. 18, 625 ff.
6) tt. 86—88.
6) H. Seh rader Rhein. Mus. 20, 186 ff.
7) Athen. 16, 699 a b.
Die homerischen Epen. 151
gelten Archestratos von Gela^), Matron^) und Straton^) die
Gastronomie unter dieser Firma in die Literatur ein , wogegen
die philosophischen Witzlinge , der Kyniker Krates und der
berühmte Sillograph und Skeptiker Timon von PhHus (um 280
V. Chr.)^) die Parodie wieder zu satirischen Zwecken verwand-
ten. Als der Sinn für Humor abnahm, verfielen manche auf die
Idee, die Heroenkämpfe in Tierkämpfe zu verwandeln. So be-
handelt die ßatrachomyomachia^), ein saft- und witzloses
Elaborat, einen Krieg der Frösche und Mäuse, schon an sich
eine ungeheuerliche Idee, deren die Einkleidung völlig würdig
ist. Weiui sie Plutarch*^) und Suidas^) dem Pigres von HaH-
karnass, dem Bruder der Königin Artemisia, zuschreiben , ver-
wechseln sie jedenfalls blos das Gedicht mit dem Margites^).
Ein solches Machwerk kann frühestens einer Zeit, die Lyko-
phrons Alexandra sehen musste , angehört haben ; das einzige
komische Element geben die Namen der auftretenden Helden
ab und unter diesen entlehnte der Verfasser wenigstens die
witzigen von den Parasiten der jüngeren Komödie. Da ande-
rerseits Martial (14, 183 1.) und Statins (Silv. praef.) die Batra-
chomyomacbie bereits homerisch nennen , so scheint sie in
die spätere alexandrinische Zeit zu fallen. Trotz der argen
Schwächen erfreute sie sich später grosser Beliebtheit. Neue
Dichtungen wie die Apa-/voji.a-/ia , Fspavoiiaxia^) und Wapo-
{xa)^ia^°) entstanden jedenfalls nach ihrem Muster; nur die
1) Bussemaker Poetae buc. et did. p. 77 fif. und Ribbeck Rhein.
Mus. 11, 200 ff. Ennius bearbeitete seine r^ouKÜd'Zia lateinisch.
2) Ath, 4, 134 d ff. (auch Matreas).
3) Athen. 9, 382 b ff.; vgl. Meineke quaestt. scen. II 60 ff.
4) C. Wachsmuth de Timone Phliasio ceterisque sillographis Graecis
Lpg. 1859.
5) G. W. W altem ath de Batrachomyomachiae origine natura historia
imitationibus, Stuttgart 1880. Suidas und Andere nennen sie Müoßatpaxofxi«.
6) de malign. Herod. 43, 2.
7) Demgemäss auch in Handschriften, s. Wachsmuth Rhein. Mus. 20,
176 A. 8.
8) van Herwerden Mnemos. 1882 S. 163 ff. Er weist auf die häufige
correptio attica und die alexandrinische Form Eop^av V. 179. 181 hin; an
dem übrigen, das er anführt, kann der Verfasser unschuldig sein. Der Vers-
bau ist auffallend correct (Her werden a. O. S. 168 ff.).
9) Sttidas legt beide dem Homer bei.
10) Ps, Herodot. vita Hom. 24; Fab. Aesop. 143 = Phaedr. 4,5 wird ein
Krieg der Mäuse und Wiesel erwähnt.
152 ^- Kapitel.
raX80jioo[i-ax^a des Theodoros Prodromos ist noch erhalten.^)
In Byzanz hatte man besondere Freude an der Batrachomyo
niüchie, weil sie mit den damals eindringenden orientaHschen
Fabeln und Erzählungen manche Berührungspunkte besass,
wenn sie auch nicht selbst ein Tierepos ist'^) ; denn jeder lehr-
hafte oder satirische Zug fehlt. Aber eben diese Behebtheit
wurde für den Text verhängnisvoll; er liegt in zahlreichen
Handschriften ungemein zerlesen und von Byzantinern inter-
poliert vor. Mit den flüchtigen Griechen wanderte die Batra-
chomyomachie über das Meer und wurde Dank ihrem Ansehen
zuerst unter allen griechischen Schriftwerken Venedig 1486 von
dem Kreter Laonikos im Drucke herausgegeben. Im neueren
Griechenland machten sie mehrere Uebertragungen in die Volks-
dialekte zum Volksbuche-^). Auch die neulateinische Literatur
konnte sich ihrem Einflüsse nicht entziehen^). In Deutsch-
land arbeitete Gabriel Rollhagen seinen bekannten Frosch-
Mcuseler- Ameisen- und Mückenkrieg nach dem Muster des grie-
chischen Büchleins. Während es sich mit andern Trebern der
griechischen Literatur bei den Humanisten der grössten Beliebt-
heit erfreute — ein Reuchlin übersetzte es und manche Enthu-
siasten stellten es über Ilias und Odyssee I — verlor die Batra-
chomyomachie , als das Gefühl für echte Klassicität sich ver-
breitete, ihren erborgten Ruhm. Wenn gleich auch in neuester
Zeit Uebersetzer nicht mangelten, so fand sich doch nur in
Italien ein Talent wie Leopardi zu einer solchen Arbeit^). In
unserem Jahrhundert lastet vielmehr auf der Batrachomyomachie
1) herausgeg. v. Hercher, Lpz. 1873, nachgebildet vou P. Giac. Martello,
a inalvagio «-ousiglier peggiore in der Sainmlimg seiner Tragödien, Bologna
17V3 S. 161 ff.
2) So meinten Jak. Grimm Reiuhart Fuchs S. XIV. CG XXIX, Welcker
8. 416 und Wackeruagel Poetik S. 112. Um ein solches handelt es sich
vielleicht in einem ägyptischen Papyrus, der eine Bestürmung der Katzen-
bürg durch Mäusebogeuschützeu darstell* (Z ü n d e 1 Rhein. Mus. 6,446).
8) Zuerst von Deuietrios Zenos aus Zante um 1510 übertragen (zuletzt
hrwg, von Mullach, Berlin 1837); über andere Nicolai Gesch. der neugriech.
Literatur S. 94 f.
4) Z. B. Petri Porcü pugna porcorum, Antwerpen 1630, Caspari Dornavi
aiiiphitheatrum Bapientiae Socraticae iocoseriae ib. 1619; maccaronisch :
Mcrliuo Coccaio, Mosi-haea.
6) Er übertrug den Mäusekrieg zweimal in flüssige Ottaven und setztv
ihn dann in einem längeren Eiws fort.
Die homerischeu Epen, 153
ein seltsames Verhängnis. Erst 1852 erschien eine kritische
Ausgabe^); aber der Verfasser hatte das Missgeschick, unter den
zahlreichen und stark abweichenden^) Handschriften gerade die
jüngsten und schlechtesten auszuwählen. Die Ausgabe von
Draheim (Berlin 1874) befolgt dieselben Grundsätze. Lud wich ^)
wies dagegen nach, dass die ältesten Handschriften, voran der
Laureutianus 32, 3 (L) den besten Text darstellen und noch
die ursprüngliche symmetrische Anlage, wonach abwechselnd
bald ein Frosch, bald eine Maus im Zweikampfe siegt, erken-
nen lassen. Die Batrachomyomachie darf von ihm eine lesbare
Ausgabe erwarten*).
Schon bei Parodien lohnt der Erfolg dem Verfasser die
Mühe kaum ; was soll man aber erst von denen sagen, die eine
gründliche Belesenheit in den homerischen Epen nicht besser
zu benützen wussten, als dass sie aus homerischen Versen und
Versteilchen neue Gedichte mosaikartig zusammensetzten. Eine
Inschrift^) liefert ein interessantes Beispiel solcher Homercen-
tonen ('ü|AY]pdxsvTpa), dessen der Verfasser Areios sich 'ü'iTjptxöc
ÄO'.rjfrj? £x MooasioD nennt.
Noch eifriger betrieben die Christen diesen sonderbaren
Sport , weil sie den christlichen Stoffen genau dieselbe Form,
wie sie die heidnischen zierte, geben wollten; Tertullian redet
davon bereits wie von einer Sitte. '^) Das bedeutendste christlich-
homerische Epos begann der Patricier Pelagios'^), dessen Werk
1) von Baumeister unter dem Titel Batr. Homero vulgo attributa (Göt-
tingeii) herausgegeben.
2) Auch die Citate differieren erheblich (z. B. Plut. maligu. Herod. 34 u.
Choerob. Bekker Anecd. 1185).
3) Wissensch. Monatsblätter 3, 13 ff. 4, 164 ff. Ztsch. f. öst. Gymu. 1882
S. 817 ft'. Varietas lect. et scholia ad B. e cod. Veneto, Königsberg 1871.
4) Vgl. K. Wachsmuth Ehein. Mus. 20, 176 ff. A. Alt haus de Ba-
trachomyomachiae Homericae genuina forma, Greifswald 1866.
5) CIG. III 4748 auf der Memnousstatue.
6) de praescr. haer. 39. Hierou. ep. 53, 7. Isid. 1, 38, 25 (Fabricius
bibl. Gr. I'* 551—5). Bekk. An. p. 766, 24 ff. ist blos Hirngespinnst eines
Grammatikers, der OTCOpäSfjv qtSsaS-a'. ungeheuerlich missverstand. Epiphanios
(adv. haer. 31,29) gibt eine Probe; vgl. auch die freieren Imitationen Anthol.
4, 116. 12, 182 und bei Dio Chrys. 31, 387.
7) unter dem Kaiser Zenon (474—91), vgl. Cedren. I p. 621 f. Der Titel
war uepl x-rjc äv^pcoutooswc 'coö Xpiatoö.
J54 ^- Kapitel.
die geschmacklose Kaiserin Eudokia (Athenais) überarbeitete.^)
Aus den Oentonen dieser beiden, des Philosophen Optimos und
des Kosmas von Jerusalem (im -achten Jahrhundert) bietet ein
Kodex von Modena eine Auswahl. Tatianos erreichte den
Gipfel der „Kunst", indem er nie einen Vers zweimal ver-
wendete. ^
Ueber diesem Höhepunkte der äusseren Aneignung steht
weit die Wirkung, die der homerische Geist auf die griechische
Literatur ausgeübt hat. „A quo ceu fönte perenni vatum
Pieriis ora rigantur aquis" sagt Ovid mit vollem Rechte. ^) Alle
griechischen Epen standen unter seinem mächtigen Banne und
zwar so sehr, dass die selbständige Thätigkeit allmälig durch
die Imitationssucht, die bis zu den unbedeutendsten Dingen, ja
bis zu den Mängeln herabstiegt), erstickt wurde. Die Elegie
entlehnte, wie wir unten sehen werden, den Dialekt und zahl-
reiche Wendungen von Homer. ^) Aber auch die übrigen Arten
der Lyrik, selbst das subjektive lesbische Lied ^), konnten sich
nicht den Einwirkungen des überlegenen Genius entziehen.
Noch höhere Triumphe feierte Homer in der Tragödie, weshalb
ihn Plato ^) den Meister und Führer aller Tragiker nannte und
Aristoteles*) in seinen Dichtungen die Keime des Dramas fand.
Äschylus lehnte seine Ausdrucksweise vielfach an Homer an '),
1) Zonaras Ann. 13, 23; Tzetz. chil. 10, 92, die kürzlich aufgefundene
Vorrede (Abel Ztsch. f. öst. (lymn. 1881 S. 161 ff. und Lud wich Rhein.
Mus. 37, 212 fiF.) sichert ihre Beteiligung.
2) Hardt catal. codd. Gr. III 21. Die Hauptausgabe der Homercentonen
rührt von H. Stephanus Paris 1678. 1609 her; später gab Teucher die Cen-
tonen Lpg. 1793 nochmals heraus. Vgl. L. Borgen de centonibus Homer,
et Vergilianis, Kopenhagen 1828, abschliessend Ludwich Rhein. Mus. 87, 220 ff.
8) am. 3, 9, 25 f. Ein griechischer Naturalist (um mit den Griechen zu
reden, Schmutzmaler) verfertigte folgendes Gemälde: raXdtmv b Ctu^P"?®^
t-fpatj/« tiv fiiv "OfiYjpov aü-civ ejj.oüvTa, xou<; 8' äXXouc TroiYjTa? ta e|JL7)fJL3opiEva
äf,otoy.iwoo(; (Ael. v. h. 13, 22).
4) V. Lentsch Philol. 30, 217; Zingcrle zu den späten lat. Dichtem
8. 97.
6) Aus den inschriftlich erhaltenen Epigrammen stellt Kaibel epigram-
mata p. 694 ff. die Reminiscenzen zusammen.
6) G<^^ Ahrens, der aus Sappho und Alcäus alles epische verbannen
will, Meister die griech. Dialekte 1, 16.
7) rep. 10. 596 c.
8) poet. 4. 28. 26.
9) M. Lech n er de Aeschyli studio Homerico, Paris und Berlin 1862.
Die homerischen Epen. 155-
wenn wir auch seinen berühmten Ausspruch, er habe die
Brosamen unter Homers Tische aufgelesen ^) , auf alle unter
Homers Namen kursierenden Epen beziehen müssen, da er der
Ilias nur eine Trilogie^) entlehnte. Sophokles zog weniger im
Ausdruck als in Charakteren und Gedanken das Epos, das er
wie ein Künstler erfasste, heran; da der Glanz und die Durch-
sichtigkeit der homerischen Epen sich in seiner verwandten
Seele spiegelt , nannte ihn Ion den einzigen Schüler Homers. ^)
Dem Euripides stand die Naivität und Einfachheit des Epos
zu ferne, als dass er Homer hätte aufrichtig hochschätzen
können; doch dem Geschmacke der Zeitgenossen nicht zu
widerstreben wagend erhob er seine Sprache durch Beimischung
epischer Elemente über das Gewöhnliche. ^) Gerade der fälschlich
seinen Namen tragende ,,Rhesos" zeugt von den fleissigsten
Homerstudien.
Homers Einfluss blieb nicht etwa auf die Poesie beschränkt.
Die Mittelgattung des Romans übernahm die Hochschätzung
Homers vom Epos^); die Nekyien spielten deshalb in den
späteren Romanen eine grosse Rolle ^), von wo sie in die
byzantinische Satire übergingen. '') Was die eigentliche Prosa
betrifft, so schloss sich Herodot in Sprachformen und auch in
manchen stilistischen Eigentümlichkeiten an seinen berühmten
Landsmann an, obgleich die Ausdehnung des epischen Elementes
im einzelnen sehr schwierig zu begrenzen ist. ®) Selbst von
1) Athen. 8, 347 e.
2) Brunn Ann. d. I. 1858 S. 366 ff.
3) M. Lechner de Sophocle poeta '0[iY)ptxtütaT(}), Erlangen 1859; J.
Hemme rling S. quo iure Homeri Imitator dicatur, Cöln 1869 (Pr.); E.
Zwirnmann Mit welchem Rechte wird S. als einer der vorzüglichsten
Schüler Homers bezeichnet? Eilenburg 1874. An Stoffen entlehnte S. nur die
Phrygier aus Homer.
4) M. Lechner de Homeri imitatione Euripidea, Erlangen 1864.
5) Philetas arbeitete in seinem 'EpjjiYjc (Meineke anall. Alex. p. 348 ff.)
die Odyssee zu einem Roman um.
6) Roh de der griechische Roman S. 260 ff.
7) Tozer Journal of hellenic studies II 234 ff.
8) Uvo Hölscher die Entwicklung und der Zusammenhang der jon.
Prosa mit den hom. Epen, Aurich 1875 (Dis-s. v. Rostock); P. A. Ton der
Homer und die älteste Poesie der Griechen, Böhmisch - Leipa 1875 (Pr.); C.
Hofer über die "Verwandschaft des herodotischen Stiles mit dem hom.,
Heran 1878 (Pr.).
156 3- Kapitel.
Thukydides behauptet sein Biograph (c. 37). er habe im Stile
dem Homer nachgestrebt. ^) Im übrigen betrachtete Thukydide-
wie die übrigen Prosaiker seine Gesänge als historisch wichtige^
Denkmal, in welchem jener die Vorgeschichte Griechenlands,
•die Philosophen aber ihre Lehrsätze fanden. ^) Die Sophisten
hielten in Lykeion Vorträge darüber ^) und die späteren Philo-
sophen und Khetoren liebten es, in kleinen Monographien
ethische und ähnliche Themata von Homer ausgehend zu be
handeln, z. B. enthält eine Papyrusrolle von Herculaneum eine
Schrift des Philodemos über das Fürstenideal Homers.*) Der
ausgezeichnete Rhetor Dio Chrysostomos, der auch vier Bücher
„für Homer gegen Plato" schrieb^), hielt die 53. Rede auf
Homer und legte bei jeder passenden Gelegenheit von seiner
Verehrung Zeugnis ab. Der fast eben so berühmte Maximos
von Tyros pries den grossen Dichter gleichfalls in einer eigenen
Rede, der sechzehnten. ^) Selbst die der Poesie nicht eben freund-
lichen Mediciner liebten es doch, Homer heranzuziehen.'') Sah
man doch in ihm den Urquell aller hellenischen Wissenschaften,
was ihm den Ruhm eines Polyhistors^)' eintrug. Freilich ist
nicht zu leugnen, dass Homer für die jüngere Zeit mehr ein
neutraler Patriarch, den man erhob, weil er über dem Getriebe
der Parteien stand, als ein wirklicher Beherrscher des Ge-
schmackes war. Da der grosse Dichter am Anfange der
griechischen Literatur steht, kann er sie ja nicht auf ihrem
ganzen Wege als Mentor begleiten. Eben diese künstliche
Ueberschätzung, infolge deren er später in Smyrna, Chios,
1) Röscher Leben, "Werk und Zeitalter des Thukydides S. 132 ff. E.
T. Leutsch Philol. 33, 155. 185.
2) Besonders Antisthenes legte Homer seinen moralischen Betrachtungen
«a Grunde (Usener quaestiones Anaximeueae p. 14 ff.).
8) iBocr. 12, 18. 33.
4) rtepl xoö xa*' "O|ji-/]pov a.'fnd'oö ßaoiXswi; Vol. Hercul. VIII, vgl. Diels
Hermes 13, 3; Porphyrios schrieb zehn Bücher ntpl tyj; ii '0|j.-fipou itpeXsia?
XOÖ ß0(3l).i(uv.
5) Suidas.
6) Wer zu suchen Lust hat, findet Schulübungen der Byzantiner bei
Boissonade Anecd. Gr. II (Allatius exe. sophist. p, 259).
7) Z. B. Cael. Aur, acut. 3 § 121.
8) Fabricius bibl. Graeca L II c. 6, Lauer Gesch. der hom. Dichtung
S. 1—68, vgl. z. B. das erste Buch des Strabo, Anthol. 7, 159, 3 (TcoXutamp).
Die homerischen Epeu. 15T
Argos und Alexandreia göttliche Ehren empfingt) und manchfen
Enthusiasten geradezu Gott hiess^), führte zu einer natürlichen
Reaktion.
Die Philosophen waren die ersten, die von ernsten sitt-
lichen Erwägungen geleitet den Feldzug gegen Homer eröff
neten. Sein Anthropomorphismus passte zu ihrer würdigen
Meinung von den Göttern nicht , da er, in der Poesie äusserst
wirkungsvoll, die Religiosität der Gebildeten, sobald man die^
homerischen Anschauungen aus übermässiger Schwärmerei in
das wirkliche Leben verpflanzte, mit ernsten Gefahren bedrohte.
Keine geringeren als Xenophanes, Heraklit und wahrscheinlich
Pythagoras^) wiesen auf die sittliche Bedenklich keit der homerischen
Göttermythen hin und Plato schloss sich ihnen bekanntlich
mit solchem Eifer an, dass er Homer aus seinem Idealstaate
verbannen wollte. ^) Die Philosophen nahmen überdies will-
kürlich an, Homer hätte im Verein mit Hesiod die Mythen
einfach erfunden.^) Zu den Philosophen gesellten sich bald
auch die Rhetoren, unter denen keiner solchen Ruf wie Zoll os
von Amphipolis erlangte. ^) Während Dionys von Halikarnass^)
ausdrücklich bezeugt, dass er nicht, wie viele andere, wenigstens
Plato aus Bosheit oder Neid, sondern im redlichen Streben
1) Cic. Arch. 8, 19; Strabo 14, 646; Cert. Hom. p. 253; Ael. v. h. 9, 15;
ib. 13, 22.
2) Sil. 13, 786. Benseier gibt in seinem Onomastiken v. "Ofxfjpo? eine
reiche Sammlung von preisenden Beiwörtern. Die Epigramme findet mau von
Jacobs Anthol. Pal. V. indic. p. 393 aufgezählt. Stoff zu unzähligen Lob-
reden ist von Jac. du Porte app. ad guomologiam Homer, u. app. ad clav.
Homer, des G. Perkins, Jo. Scherpezelius von seiner Ausgabe der beiden
ersten Bücher der Ilias, Fabricius bibl. Gr. I^ 527 f. und dem Fortsetzer
von Lamiani le delizie dei dotti Nr. 2 aufgespeichert.
3) Diog. L. 8, 1, 19. 21.
4) 3. Buch über den Staat. Tb. Heine de ratione quae Piatoni cum poetis
Graecorum intercedit (xui ante eum floruerunt, Bonn 1880.
5) Kritolaos (Philo de iucorr. mundi 11 ff.) äusserte sich über Homer be-
sonders hart, fierodot selbst Hess sich in der berühmten Stelle (2,53) davou
blenden.
6) Lehrs Arist. stud. ^207 f ** Usenerquaestt. Anaxim. p. 16 f. G. WuK
pert zur Würdigung des Zoilus mit dem Beinamen 'OfiTjpo|i.äax!.4, Creuznach
1882. L\ach Porphyr, zu K 274 war er ein Schüler des Isokrates; aber nach.
Suidas schrieb er gegen diesen.
7) ep. ad Pomp. 16.
158 3. Kapitel.
nach der Wahrheit angrifft), wurde von den entrüsteten En-
tliusiasten sein Name zum Schreci^bilde eines boshaften Kritikers
für alle Zeiten verzerrt. In einem Werke von neun Büchern*)
«etzte er nicht nur die Polemik der Philosophen gegen die
Mythen fort, sondern legte auch die ihm so scheinenden
Schwächen der homerischen Poesie blos; wobei er sich im Ver-
gleiche mit seinen Zeitgenossen weder als besseren noch als
schiechteren Kritiker, jedenfalls aber als Mann von unbefangenem
Urteil zeigte. Die ganze Meute der Rhetoren und Sophisten
brach gegen ihn los und beschimpfte sein Andenken mit den
ärgsten Schmähungen und den albernsten Fabeln. Trotzdem
bekamen die Homer nicht verehrenden, weil einmal ein Kühner
vorangegangen war, Mut.^) Plutarch bespöttelte dieHomeromanie^)
und luvenal (7, 39) war respektlos genug zu behaupten, die
Leute schätzten Homer nur ,,propter mille annos", also wie
den Wein. Weder die Homerverfolgung des wahnsinnigen
Ckligula^) noch der Vorzug, den der geschmacklose Hadrian
•dem Antimachos gab, ^) stehen indes mit dieser Strömung im
Zusammenhang.
Von den Griechen überkamen die Römer die Bewunderung
Homers. ') Der griechische Unterricht begann mit Homer ^)
vind das älteste Lesebuch der Schule war die Odyssee in der
kläglichen Uebersetzung des Livius Andronicus. '•*) Nachdem
1) Für eine rhetorische Schulübung, als welche es Porphyrios (zu K 274)
ansieht, ist das Werk viel zu gross.
2) Fragmente bei C. Müller frg. bist. Gr. 2, 85. Sauppe or. Att. 2,
249 wies nach, dass es keine besondere Schrift ^öfoa 'Oii-fjpo'j gab.
3) Schol. t 60 iroXXol xaxYjY&poov xoü äiri^avou. Ueber Parthenios von
Phokäa Anthol. Pal. 7, 377. Nach Dilthey de Callim. Cydippa p. 8 flf. und
Kobde der griech. Roman S. 23 lobte Kallimachos den Homer blos ironisch.
Po.Heidipi)os setzt Homer arg zurück (Anthol. 12, 168, 5.) Euphorion wendet
sich gegen solche Angriffe in fr. 70: ft;:f>ox:[j.a-3TOC "ÜfJLYjpo<:.
4) Consol. ad ux. 13.
6) Snet. Cal. 84.
6) Die epit. 69, 4, 6.
7) C. Ph. Euler de autiqjiiorum Korn, studiis Homericis, Berlin 1854
(Pr.); H. Walter de scriptorum Korn, usque ad Vergilium stud. Hom.,
Breslau 1867 (Diss.).
8) Petron. 48. Quintil. 1, 8, 5. August, confess. 1, 14.
9) Fragmente »)ei Pfau de numero Saturnio 1864 p. 74—78, vgl. Jahrbb.
87, 331 ff. 93, 566 ff.
Die homerischen Epen. 159
On. Matius in der suUanischen Zeit die Ilias übertragen hatte/)
fand sich für sie in der Kaiserzeit wieder ein Uebersetzer ;
diesem wurde aber die Sache bald zu langweilig, so dass die
Paraphrase immer mehr in einen Auszug übergeht. In den
Handschriften trägt dieser Homerus Latinus den unerklärlichen
Namen Pindarus Thebanus an der Spitze.^) Cicero hatte
sich gleichfalls im Uebersetzen geübt und teilte gelegentlich
einige Proben dieser Beschäftigung mit. ^) Die hexametrischen
Dichter der Lateiner verehrten Homer als Heros, bis die Römer
in Vergil ihren Homer gefunden zu haben glaubten. Wie
Ennius^) von dem Mäoniden im Traume zu seinem Epos be-
geistert worden sein wollte, strebten die augusteischen Dichter
und unter ihnen besonders Vergil^) dem blinden Sänger nach,
au dem selbst zufällige Ornamente der Rede nachahmenswert
erschienen. ^) Als freilich Vergil durch seine Aneis dichterisch
dem hehren Vorbilde mindestens gleichzukommen, im Interesse
des Stoffes aber es zu übertreffen schien, da fingen die römischen
Schöngeister beider Geschlechter an, ihre ästhetische Bildung
in dem kunstreichen Abwägen der beiderseitigen Vorzüge dar-
zuthun '^) , was die französischen Kunstrichter , indem sie über
Homers Mangel an Hoffähigkeit die Nase rümpften, fortsetzten;
natürlich entschieden sie zu Gunsten Vergils.
Auch die übrigen ,, Barbaren", denen die griec^iische Sprache
geläufig war, erfreuten sich an den homerischen Gedichten;
deshalb sagt Dion Chrysostomos ^) schön: ,,Die Menschen,
welche andere Sterne am Himmel schauen , kennen doch das
Unglück des Priamos und die Klagen der Hekabe und Aii-
droraache".
1) Teuf fei Gesch. der röm. Literatur. § 150, 2.
2) Am besten iu Bährens' poetae Lat. min. Bd. III herausgegeben; ül)er
den Namen Lit. Ceutralblatt 1882 Sp. 89. Der Verfasser w£>r vielleicht Silius
Italicus (Teuffei *698. Rossbach Hermes 17, 514 A. 1).
3) TeulFel stellt § 308, 5 die unsicheren Spuren anderer Uebersetzungen
zusammen.
4) Ann. fr. 6-^9; vgl. TertuU. anim. 33. resurr. 1.
5) Teuf fei Gesch. der röm. Lit. § 228, 6.
6) Z. B. die Anadiplosis (Wölfflin Sitzungsber. der bayer. Akad. hist.-
phil. Cl. 1882 I. S. 431).
7) Juven. 6, 436 f.
8) or. 53 § 6; dagegen ist seine Nachricht vom indischen Homer wahr-
scheinlich aus Verwechslung mit dem Mahabharata entsprungen.
IQQ 3. Kapitel.
Schon der Ruhm, den das Altertum ihm zollte, hätte Homer zu
dem berühmtesten aller Dichter gemacht; doch auch die folgenden
Zeiten setzten ihn nicht zurück. Der syrische Astronom Theo-
philos übertrug Homer um 800 in seine Muttersprache.^) Während
Plato und Aristoteles den Orientalen die griechische Wissenschaft
verkörperten, galt ihnen Homer als Repräsentant der schönen
Literatur. ^ Im byzantinischen Mittelalter dauerte die gelehrte
Beschäftigung und die Imitation fort. Recht interessante Ver-
treter sind die nur in lateinischer Uebersetzung erhaltenen
Trojaromane des Kreters Diktys und des Phrygiers Dares.
Ersterer konterfeit, vielleicht nach Miniaturenhandschriften ^), die
homerischen Helden leibhaftig ab. Da selbst das Volksepos
der mittelgriechischen Literatur von dem alles beherrschenden
Einflüsse nicht frei blieb, werden in der umfangreichen Helden-
geschichte von Digenis Akritas nicht blos Scenen und Verse
aus der Ilias benützt, sondern sogar Homer citiert. *) Wenn-
gleich im Abendlande die Kenntnis der griechischen Sprache
nie völlig ausstarb, gab es doch ohne Zweifel nicht einmal eine
Horaerhandschrift^), trotzdem — wer möchte es glauben? —
war der Ruhm Homers nicht geschwächt; nicht nur teilte Karl
der Grosse einem Dichter seiner Akademie den Ehrennamen
Homerus zu^), Dante stellte ihn sogar über seinen geliebten
Vergil und besang ihn als den ,, Fürsten der erhabenen Sanges-
weise, der ob den andern wie ein Adler schwebet."^) Darum
begreifen wir, das3 Petrarca von einer ihm geschenkten Homer-
handschrift, die er nicht verstand , in die grösste Freude und
Trauer zugleich versetzt wurde.
Erst durch die flüchtigen (xriechen wurde Homer wieder mehr
als ein leerer Name, obgleich er vor Lessing eigentlich nie recht
populär war. Die Humanisten bedurften hier mehr als bei
einem anderen Dichter lateinischer Uebersetzungen. Wenn wir
1) Abulfaradsch bist, dynastarura p. 26. 148.
2) Bo im Alexnnderbuche des Persers Nisami. Vgl. Wahl von dem
Rrbicksul des Homer und anderer klassischer Dichter bei den Arabern und
Persern, Halle 1798.
8) Vgl. aber den Heroikos des Philostratos.
4) Eberhard Verh. der Phil.-Vers. in Trier 1879 S. 64.
6) E. V. Leutsch Philol. 12, 366 ff.
6) Angilbertns (Dum ml er poetae Latini aevi Carolini 1, 366 ff.).
7) Inf. 4, 88 ff. 94 ff.
Die homerischen Epen. 161
keine einzige gelungene Arbeit, die ja nur ans einem tieferen
Verständnisse des homerischen Geistes hätte entspringen können,
anzuführen haben , so hegen desto mehr ästhetisch ungeniess-
bare vor. Zuerst übersetzte Leontios Pilatos die Ilias nnd einen
Teil der Odyssee für Boccaccio in hartes Latein.^) Dann be-
mühte sich Papst Nikolaus V., ^) leider vergeblich, einen
Humanisten für eine metrische Uebertragung zu gewinnen. Viel-
leicht von der Ilias des Eobanus Hessus (Basel 1540) abgesehen,
blieb es trotzdem bei höchst unvollkommenen Versuchen.^) In
Deutschland erschien, nachdem Reuchlin den Anstoss gegeben,
bereits 1537 zu Augsburg eine deutsche Odyssee und Hans
Sachs führte seinen Mitbürgern sowohl den trojanischen Krieg
als ,,Ulisses mit den Meerwnndern" auf der Bühne vor. Homer
stand aber schon damals und noch mehr in den traurigen
Zeiten von 1550 — 1750 gegen Vergil zurück, weil man an ihn
nach dem Vorgange der Franzosen den Massstab des Kunstepos
anlegte und ihn demgemäss ganz falsch beurteilte ; als Pope Ilias
und Odysse in Rococoepen verwandelte, erntete er deshalb die
gebührende allgemeine Bewunderung. Erst Lessing eröffnete
das Verständnis für die homerische Dichtung; die folgende
Generation erkannte an Ossian und den Volksliedern Percys
und Herders, wenn auch unklar, den Unterschied von Kunst-
und Naturdichtung und fand die neugewonnene Erkenntnis von
Schiller in dem Aufsatze ,,über naive und sentimentalische
Dichtung" glücklich zusammengefasst und ausgeprägt. Es ist
nicht meine Sache, wie Homer der neueren Literatur als Leiter
diente , darzulegen , zumal da von berufenster Seite eine er-
schöpfende Schrift vorbereitet wird.^) Obgleich keine einzige der
1) Das erste Buch bei De Hortis studi sulle opere latine di Boccaccio
S. 562 ff.; Haase miscell. philol. lib. VI. Breslau 1862 S. 5 ff. Eieckher
Eos 2, 182 ö. (Probe aus Z) ; vgl. Jak. Bernays pentas versionum Homerl,
Bonn 1850.
2) Giorgi vita Nicolai V p. 193.
3) Der 2. — 5 Gesang der Ilias metrisch von Politianus in Maios spicil.
Vatic. I, neun Bücher von Nikolaus Valla (Kom 1474), das elfte der Odyssee
von dem Jenaer Humanisten Fincelius (um 1560); in Prosa gaben L. "Valla
die Ilias (Brescia 1474) und Philelphus die Odyssee (Venedig 1516) heraus.
Im Cod. Vatic. 2756 steht eine anonyme Version.
4) Vgl. vorläufig Cholevius Geschichte der deutschen Poesie nach ihren
antiken Elementen 1859.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. H
IQ2 3. Kapitel.
vorhandenen Uebersetzungen, in welchermodemen Sprachesie auch
abgefasst sein mag, hochgespannten Forderungen genügt, erwähne
ich doch die bedeutendsten und beliebtesten. Der erste glückliche
Wurf fiel dern Engländer Chapman zu, dessen in Alexandrinern
abgefasstes Werk^) leider durch Pope ^) verdrängt wurde. Die ab-
göttische Verehrung, die letzterer im vorigen Jahrhundert genoss,
macht dem Geschmacke des damaligen England wenig Ehre. ^)
Die zweite Nation, die der Welt eine wertvolle Uebertragung
schenkte, war die französische; wenn Madame Dacier^) oft
nicht den richtigen Ton traf, trug weniger sie selbst als der
akademische Zopf ihrer Sprache daran Schuld. Wie nun
Chapman und Dacier in der Glanzperiode ihrer heimatlichen
Literatur lebten , musste auch in Deutschland die Literatur
wieder ihres Lebens sich freuen, bis eine würdige Arbeit ent-
stehen konnte. Nach schweren Wehen und vielen verfehlten
Ansätzen erschien 177-1 die keineswegs ungewandte Ilias-
übersetzung von Friedrich Stolberg, die teils wiegen ihrer
Flüchtigkeit teils auch aus persönlichen Gründen keinen Wider-
hall hervorrief. Weit grösseres Glück machte Joh. H. Voss,
der 1781 die Odyssee und 1793 den ganzen Homer heraus-
gab, weil seine Uebersetzung zumal in der ersten Ausgabe, die
durch Bernays' schöne Neubearbeitung^) hoffentlich populär
wird, viele Vorzüge besitzt. Wiewohl sie Homers Feinheit und
Lieblichkeit und den leichten Fluss seiner Hexameter nicht
recht wiedergibt, Hest sie sich angenehmer als die Ueber-
setzung des „Rhapsoden" W. Jordan^), in der überall ein un-
angenehmes Haschen nach Originalität sich kundthut; das mit
Prätention vorgetragene „Neue" ist nur zu oft längst abgethan.
EndUch geniessen die italienische Ilias von Monti und die
russische Odyssee von Schukoffsky in ihrem Vaterlande grosses
Ansehen.')
1) Dias 1603, Odyssee 1614, vgl. Kegel in Kölbiug.s englischen Studien V.
2) Seine Arbeit erschien zuerst London 1715 flf.
8) Penon versiones Homeri Anglicae inter se comparatae, Bonn 1861.
4) Paria 1709.
6) Mit interessanter historischer Einleitung, Stuttgart 1881; über die
älteren Versache gibt Schröter Geschichte der deutschen Hoiuerübersetzungen
im 18. Jahrb. (Jena 1882) einiges.
6) Odyssee, P^raukfurt 1876. Ilias 1881.
7) Der Kariosität halber erwähne ich, dass der Erzbischof Mac Haie die
ersten sechs Geeäoge der Ilias in die Sprache des unruhigen Erin übertrug.
Die homerischen Epen. 163
Die Kunst blieb bei den Griechen in stetem Kontakt mit
der Literatm-, indem sie die poetisch entwickelten Ideen in
Anschaumig umsetzte. Ilias und Odysse besitzen nun als
Fundgrube für künstlerisch abrundbare Scenen eine verhältnis-
mässig sehr geringe Wichtigkeit^) gegenüber den Kyklikern,
welche Massen von Bildern hervorgerufen haben. Overbeck
sammelte in der ,,Gallerie heroischer Bildwerke der alten Kunst" I.
(Braunschweig 1853) auf nur 5 Tafeln, die wegen häufig un-
richtiger Deutung nicht voll zu rechnen sind, die Darstellungen
von Scenen der Ilias, wozu Brunn ^) in „troische Miscellen"
betitelten Abhandlungen kritische Nachträge gab. Ueberdies
erfährt die an sich geringe Zahl der Bilder dadurch eine Ein-
schränkung, dass bei weitem nicht alle direkt aus Homer
stammen und reine Schemata, denen man die Erklärung
,,Troische Schlacht" oder ,, Kampf um eine Leiche" beigibt,
einen bedeutenden Raum einnehmen. Wirklich populär wurde
blos, wie die Nereiden dem Achilleus die göttlichen AVaffen
überbringen, weil diese Scene sich zu einem Dekorationsstreifen
vorzüglich eignet.^) Den zweiten Platz nimmt die leicht dem
Beschauer klar zu machende und in sich abgeschlossene Doloneia
ein.^) Wir besitzen aus selbstverständlichen Gründen keine
Cyklen von Darstellungen, die nur die Ilias umfassten; wir
müssten denn eine Mailänder Handschrift mit Miniaturen des
vierten oder fünften Jahrhunderts hieher ziehen^), in der, wie-
wohl die Ausführung wenig Geschick zeigt, doch verschiedenes,
zumal die Typik, auf ältere Tradition deutet. Sobald sich ein
Künstler über die Illustration erhebt, gibt er lieber eine daii
1) Inghirami galleria Omerica, Fiesole 1829 — 31 ist künstlieh auge-
schwellt, indem der Verfasser auch die Darstellungen der von Homer l)eiläutig
erwähnten Mythen aufnimmt.
2) Sitzuug.sber. der bayer. Akad. hist.-phil. Cl. 18ü8 I 45 ff. II 217 ff.
1880 I 166 ff.; vgl. auch seine Rilievi delle urne Etrusehe I. Rom 1870 mit
Schlie Darstellungen des troischen Sagenkreises auf etrusk. Aschenkisten,
Stuttgart 1868.
3) Heydemann Festschrift der Universität Halle zum Jubiläum des
archäologischen Institutes 1879.
4) Schreiber il mito di Dolone in den Ann. d. I. 1875 p. 2^9—325.
5) Iliadis antiquissimae fragmenta cum picturis ed. Angelo Maio, Mediol.
1819. Romae 1835. Eine einzelne prachtvolle Miniatur zu A steht in der
Stuttgarter Handschrift (Rieckher Eos 2, 182).
n*
1(54 8- Kapitel.
ganzen troischen Krieg umspannende Reihe von Scenen. ^)
Unter solchen Cyklen hatte der GemäldecykUis, den Theodoros
im Porticus Philippi zu Rom gemalt hatte ^), das grösste An-
sehen ; er gab das Vorbild für die verschiedenen tabulae Iliacae
ab, die wahrscheinlich wegen der Kleinheit der Figuren nicht
dem Schulunterrichte, sondern zum Schmücken der Bücher-
schränke dienten. ^) Eben daher stammt das kürzlich aufge-
fundene Bild des Achilleusschildes , welchen eine ausserdem
76 homerische Verse enthaltende Platte^) darstellt.
Die Odyssee bietet am meisten durch die wunderbaren
Erzählungen des Odysseus Stoff für bildliche Darstellung.^)
Polygnot wurde zu seiner Nekyia gewiss durch die homerische
begeistert, wenn er auch im Einzelnen davon abwich. Bei der
Verfeinerung des Natursinnes nahmen aber die Maler aus der
Odyssee lieber heroische Landschaften. Vor mehreren Jahren
wurden auf dem Esquilin neun Landschaftsbilder, leider niclit
alle vollständig, entdeckt, welche die Scenerie der Gesänge x.
und X darstellen ^) ; der Maler mag am Ende der RepubUk oder
am Anfange der Kaiserzeit gelebt haben. Scenen aus dem
zweiten Teile der Odyssee wurden seltener dargestellt, immerhin
1) Das Prachtschilf des Hieron enthielt einen derartigen Mosaikboden.
Vergil scheint bei Aen. 1, 456 ff. einen Cyklus vor Augen gehabt zu haben.
Die Casa Omerica zu Pompeji enthält drei Wandgemälde, deren Stoff der
Ilias entstammt (O verbeck Pompeji 11^ 207VNur Triraalchio hatte in den
Vorhallen seines Hauses die ganze Ilias und Odyssee abgemalt (Petron. 29).
2) Plin. n. h. 35, 144.
^3) Reifferscheid Annali d. I, 1862 S, 104 ff.
4) H. Dressel Deutsche Literaturztg. 1882 Nr. 29 Sp. 1060—2; Gatti
Academy 1882 p. 423.
6) Nach Overbeck vergl. im allgemeinen H. He y dem an n Annali d. I.
1878 S. 222 ff.; J. E. Harrison myths ofthe Odyssey in art and literature,
New-York 1881; B ölten de monnmentis ad Odysseam pertinentibus, Berlin
1882, dann über Kirke O. Jahn Arch. Ztg. 23 (1865) S. 17 ff., Skylla A.
Klügmnnn Ann. d. I. 1876 p. 290 ff. und die Sirenen S t ephani Corapte-
rendu de 1' acad. de St. Pet. 1866 p. 31 ff. 1870 p. 146 ff. und H. Seh rader
die Sirenen nach ihrer Bedeutung und künstlerischen Darstellung, Berlin 1866.
6) Sie befinden sich jetzt in der vatikanisclien Bibliothek (K. AVörmann
die antiken Odysseelundschaften vom esciuilinischen Hügel, München 1876,
mit 6 farbigen Foliotafeln). Auch die Gärten des Alkinoos dürften im Altertum
mehrfach dargestellt worden sein (Celestino Cavedoni osserv. sul tipo rap-
presentante gli orti di Alcinoc. pelle monete di Corcira e sue colonie, Modena
1827 ?).
Die homerischen Epen. X65
sind alle bedeutenden Ereignisse vertreten. ^) Ein wichtiges
aber mit Erfolg gelöstes Problem der Kunst bestand darin,
Odysseus in Blick und Haltung zu charakterisieren, worin eine
solche Virtuosität erzielt wurde, dass seine Gestalt unter allen
die durchgebildetste war.^) Wie die Alten ihn und die übrigen
achäischen Helden nach ihrem Charakter darstellten, teilt der
Kunstkritiker Philostratos im i^pwtxöc mit.
Die Darstellungen der lykischen Keliefs von Gjölbaschi'')
wollen wir , bis sie genauer erforscht und erklärt sind , bei
Seite lassen.
Während wir die Zahl der Monumente, deren Stoff die
Künstler von Homer erborgt haben, leicht übersehen können,
fällt es weit schwerer, den Einfluss, den er auf die Blütezeit
der Kunst ausübte, zu ermessen. Ich will nur ein Moment
hervorheben : Zwischen den archaischen Göttertypen und den
klassischen Götteridealen klafft eine grosse Kluft, die nur das
Genie überschreiten konnte, lieber diese leitete nun die
homerische Dichtung den Geist des Phidias. Da die lebendige
Schilderung Homers die Charaktere der Götter getreulich ab-
spiegelte, wurden die Götter aus blossen Kultusbildern zu
lebenden Wesen , denen wie den Menschen eine individuelle
Gemüts- und Denkungsart innewohnte. Phidias konnte daher
sagen, Homer habe ihn zu seinem olympischen Zeus begeistert;^)
wenn es auch nicht gerade durch jene drei berühmten Verse
A 527 ff. geschah, so hatte er doch gefühlt, dass ihm durch
das erste Buch der Ilias die rechte Anschauung von dem
mächtigen Gotte, der selbst freundlich gewährend den Olymp
•erschüttert , geworden sei. ^) Wir dürfen daher mit Recht be-
haupten, dass alle Götterideale der Kunstblüte auf homerische
1) Conze Annali 1872 S. 187 ff., auch O. Jahn Berichte der sächs.
Oes. der Wissensch. hist.-phil. Cl. 1854 S. 49 ff.
2) H. Brunn lehrt in dem bekannten Aufsatze „Vulcano ed Ulisse" (Ann.
d. I. 1863 S. 421 ft.) den Typus des Odysseus von dem äusserlich ähnlichen
des Hephaistos unterscheiden.
3) Benndorf Archäologisch-epigr, Mitteilungen aus Oesterreich 6, 193 ff.
4) Von Euphranor wird eine ähnliche Geschichte erzählt (Eustath. zu
A 529).
5) Vgl. die schöne zwölfte Rede des Dio Chrysostomos ; Strabo 8, 353 ;
Val. Max. 3, 7 ext. 4. Macrob. sat. 5, 13. Ein ähnliches Gefühl liess den
Zeuxis unter seine Helena homerische Verse setzen.
IQQ 2. Kapitel.
Poesie zurückgehen. Wenn die wirklichen Künstler nicht viele
Scenen der homerischen Epen dargestellt haben mögen, so
arbeiteten sie desto mehr in dem Geiste des Dichters.
Für die Kunst unserer Zeit besitzt Homer keine grosse
Bedeutung mehr, da sie ihre Vorwürfe Heber dem Leben der
Gegenwart entnimmt. Aber noch ein kunstsinniger Monarch
Frankreichs hatte den königlichen Palast von Fontainebleau
mit den Schicksalen des Odysseus ausmalen lassen^) und der
Graf Caylus wollte durch sein Werk tableaux tir6s de 1' Iliade
die Künstler seiner Zeit veranlassen, ihre Stoffe der IHas zu
entnehmen. Auch die Klassicisten wandten sich wieder Homer
zu : so schmückte Cornelius eine Saaldecke der Glyptothek mit
ausgewählten troischen Scenen; John Flaxman und B. Genelli
entwarfen Umrisse zur Ilias und Odyssee, die sich rasch ver-
breiteten. *) In neuester Zeit unternahm Friedrich Preller, durch
eine Reihe von Gemälden ^) , in denen das landschaftliche
Element dominiert, uns Nordländern den echten Hintergrund
der Odysseemärchen vor Augen zu führen, wofür ihn der allge-
meine Beifall belohnte.
1) Les travaux d' Ulysse desseignez par de Saiuct-Martin dans la maisoi»
royale de Fontainebleau , peint par Nicolas et gravez en cuivre par Th.
V. Tulden, Paris 1640, deutsch Augsburg o. J.
2) Flaxmans Umrisse erschienen zuerst London 1795; die beliebtesten
Stiche sind von Ludwig und .Julius Schnorr, Lpg. und Stuttgart 1804 ff.
7. Aufl. 1876. Genellis Zeichnungen erschienen Stuttgart 1844, neu 1866.
3) Photographisch München 1864, in Aquarellausgabe München 1875 — 7»
im Holzschnitt bei Voss' Uebersetzung 2. A. Lpg. 1873.
4. Kapitel.
Das nachhomerische Heldenepos.
Der epische Kyklos — Verhältnis zu den homerischen Epen — Kyprien —
Aithiopis — Iliupersis — kleine Ilias — Nosten — Telegonie — Thebais
und Oidipodeia, Epigonen und Alkmaionis — Heraklesepen (Oichalias Ein-
nahme, Minyas und Phokais, Aigimios, Ho<'hzeit des Keyx, der hesiodische
Schild; Kinaithon, Demodokos, Diotimos, Phaidimos, Peisinns und Peisandros)
— Theseis — Argonautika — Antimachos von Teos — Magnes.
Homer brach dem Epos die Bahn. Nach der IHas und
Odyssee erschienen in verhältnismässig kurzen Zwischenräumen
zahlreiche umfängliche Epen, deren Verfasser die alten Einzel-
lieder mit Zuhilfenahme eigener Phantasie auszuspinnen sich
bemühten. Den Literarhistorikern beliebt es , diese Dichter
unter dem Namen der Kykliker zusammenzufassen. Die Be-
zeichnung ist keineswegs sehr alt, da wenigstens wir nur mehr
aus der Kaiserzeit Belege beibringen können.^) Trotzdem nahm
man früher an, dass schon Peisistratos' ehrenwerte Kommission
diese Epen zusammengestellt habe, während Welcker auf Grund
des SchoHon Romanum dem Zenodot die Sammlung eines
corpus poetarum epicorum beilegte. Indes bezieht sich jene
Nachricht ausschliesslich auf das riesige Unternehmen , die
Handschriftmassen von Alexandria zu katalogisieren , wobei
Zenodot die Epiker übernommen hatte. Dadurch war aller-
dings den alexandrinischen Gelehrten die Möglichkeit geboten,
einerseits den gesammten Kreis der Mythen in einem xöxXoc
1) Die Stelleu des Aristoteles sind anders zu erklären (Welcker der
epische Cyclus 1, 42 ff. 2, 441 ff.) Kallimachos meint mit den bekannten
Worten E/O-ctipü) xö ^oiYjjxa xb XDxXtxov (epigr. 30) zeitgenössische Dichter,
vornehmlich seinen Gegner Apollonios; auch Horaz (a. p. 136) zielt wohl auf
einen alexandrinischen scriptor cyclicus.
Igg 4. Kapitel.
tOToptxdc ZU vereinigen/) andererseits einen xoxXoc Ittixo? der
alten Epen selbst zu sammeln und mit Aenderung der An-
fangs- und Schlussverse eine ziemlich zusammenhängende Er-
zählung zu gewinnen. Als terminus ante quem des letzteren
Unternehmens können wir Mos die Zeit des Didymos, aus wel-
chem die Angaben über die kyklische Odyssee und den Schluss
der Ilias stammen , angeben. Den Anfang bildete die Theo-
gonie des Hesiod,^) welcher das argolische Epos „Danaiden"
folgte; den Hauptbestandteil machten die Dichtungen des
thebanischen und troischen Sagenkreises aus. Die Herakles-
mythen waren ausgeschlossen ; dagegen gehörten auch die Ilias
und die Odyssee zum Kyklos. Da jedoch der bedeutende Um-
fang dieses Sammelwerkes nur wenigen die Benützung gestattete,
machten Grammatiker im Interesse der Schule prosaische xAus-
züge. Einen solchen besitzen wir in der xpTjaTOfj.ad-sia Ypa[i[iaTtx7]
des Proklos, von der noch bedeutende Fragmente und ein aber-
maliger Auszug bei Photios (cod. 239) vorliegen;^) dieser Proklos
ist schwerlich mit dem berühmten Neuplatoniker identisch.*)
Eben weil es ihm um eine fortlaufende Geschichte zu thun
war, erzählte er die Vorgänge, die zwei Gedichte berichteten,
nur einmal. Eine in Bovillae gefundene tabula Ihaca mit klei-
nen Bildern und Inschriften, sowie zahlreiche Bruchstücke ähn-
lichen Inhalts ergänzen und bestätigen die Nachrichten des
Proklos.^) Jene wurde wahrscheinlich bei der Restauration des
Julierhaines, also im zweiten Regierungsjahre des Tiberius ver-
fertigt; alle dienten, wüe gesagt, wegen der Kleinheit der Figuren
1) Den bedeutendsten derartigen Kyklos verfasste Dionysios Skji»brachion
(C. Müller frg. histor. Graec. II 5—11, dazu Philol. 5, 676 f.).
2) Die Titanomachie (C. W. Müller de cyclo Graecorum epico p. 53)
ist hier nicht notwendig.
3) Zuerst uns den Papieren von Tychseu und Siebenkees bei Heyne
Bibliothek der alten Literatur und Kunst I S. VII flf., verbessert von
Thiersch acta philol. Monac. I 672 flf., zuletzt in den scriptores raetrici I.
von Westphal und vor Dindorfs Iliasscholien.
4) Phot. cod. 239, Suidas und 3chol. Greg. Naz. bei Migne 36, 914 c;
"Wekker 1, 3 ff. und andere ziehen Eutychios Proklos von Sicca, den Lehrer
des Mark Aurel, vor.
6) Am ))e8ten von O. Ja h n griechische Bilderchroniken, hrsg. v. Michaelis,
Berlin 1878 gesammelt; vgl. Rei ff erscheid Anuali d. L 1862 8. 104 ff.,
1868 8. 412 ff., zur kapitolinischen Tafel Robert Arch. Ztg. 1874 S. 106.
172, zur albanischen Klügmaun Bull. d. L 1875 S. 131 f.
Das nachhoiuerische Heldenepos. 1(59
nicht für den Unterricht, sondern zur Ausschmückung von
BibHothekschränken. Da die Kykhker für die Späteren nur ein
stoffliches Interesse besassen,^) gingen ihre Werke unter, sobald
diesem durch jene Auszüge und Bilderchroniken Genüge geleistet
war; früher dagegen hatten sie unter dem Deckmantel des
homerischen Namens ein bedeutendes Ansehen besessen. Wir
haben schon oben gesehen, dass vor Plato nur Herodot aus
sachlichen Gründen an der Authenticität der Epigonen und
Kyprien zweifelte, weshalb Äschj^lus, der den Kyklos am meisten
benützte, den berühmten von jeder Skepsis entfernten Aus-
spruch that. Die Sophisten fanden aber jedenfalls aus ästhe-
tischen Gründen nur Ilias und Odyssee Homers würdig; auf
diesem Staudpunkte befanden sich Plato, Xenophon^) und Ari-
stoteles. Als Anhängsel Homers erfuhren die kyklischen Ge-
dichte vielleiclit durch Zenodot eine Säuberung;^) aber das
grosse Publikum kannte von ihnen nur den Stoff und einige
geflügelte Worte. Welcker*) hat das unsterbliche Verdienst, sie
aus wesenlosen Schemen zu greifbaren Gestalten gemacht zu
haben. Er war wie kein anderer, um von seinem feinen Sinn
für Poesie nicht zu reden , durch seine eindringende Kenntnis
der griechischen Tragödien und der Kunstwerke zu diesem
Werke befähigt. Wenn auch die Tragiker die Mytlien vielfach
umbildeten, fussten sie doch in der Regel auf den Kyklikern;
die unübersehbare Masse der Vasenbilder und hier vor allem
der älteren , bezog ihren Stoff hauptsächlich aus der gleichen
Quelle, wobei freilich entweder die geringe Bildung der Maler
oder noch häufiger die künstlerische Noth wendigkeit eine Um-
bildung herbeiführte.^)
1) Daher sagt Proklos: airouSaCsiai xoiz itoWolq ouy o5tü) 8ta ty]v apst'fjv
U)Z S'.a T7]v äxoXouö-iav xwv ev aöxw TrpaYftattov.
2) conv. 3, 5.
3) Schol. Plaut, p. 124, 15 flf. Ritsch) (im griechischen Texte fehlt die
Notiz).
4) Der epische Cyklus oder die homerischen Dichter, Bonn 1830—5
*1865— 81 2 Bde., vergl. noch J. Th. Struve de argumentis carminum epi-
corum posthomericorum, Petersburg 1846 — 50 2 Tle., J. Overbeck, de argu-
mentis carminum epici cycli , Bonn 1848; veraltet Fr. Wüllner de cyclo
epico poetisque cyclicis, Münster 1825 und C. W. Müllerde cyclo ep. et p.
c, Leipzig 1829.
5) Luckenbach Verhältniss der griechischen Vasenbikler zu den Ge-
dichten des epischeu Cyklus (Jahrbb. Suppl. 11, 491—638), dazu Schlie in
jYO 4. Kapitel.
Die dürftigen Fragmente wurden zuerst von Düntzer und
ein zweites Mal, aber nicht viel besser von Gottfried Kinkel
(Epicorum Graecorum fragmenta I Lipsiae 1877) gesammelt.^)
Wenn wir uns nach gemeinsamen Eigenschaften des nach-
homerischen Epos umsehen, so bemerken wir zunächst, dass
alle Kykliker die homerischen Gesänge ausgiebig benützen.
Diejenigen aber, welche troische Sagen behandeln, knüpfen
enge an Homer an,^) indem sie dort angedeutete Motive w^eiter
ausführen, wobei Missverständnisse nicht fehlen. So ersann
<ler Dichter der Kyprien einen zweimaligen Auszug der Achäer
sammt der Telephossage blos deshalb, weil er A 59 f. vöv a.\L\i'.
TräXtv zXaY/dsvTa? o'lco falsch übersetzte. Die Mutter des Me-
gapenthes führt in der Telemachie (5 12) keinen Namen; der
Verfasser der Nosten weiss ihn bereits zu nennen. Endlich
fangen die Äthiopis und die Telegonie genau da an , w^o IHas
und Odyssee aufhören. Immerhin dürfen wir uns die Dichter
nicht so unselbständig, wie es Niese thut, vorstellen. Wenn«
Homer kyklische Mythen berührt, dann ist die Annahme einerf
gemeinsamen Quelle keineswegs ausgeschlossen. Die kykhschen
Epen unterschieden sich auch in poetischer Hinsicht, den un-
gleichen Grad des Talentes ausser Acht gelassen, wesentHch
von ihrem Vorbilde. Sie bheben schon darin entschieden hinter
Homer zurück, dass die Dichtungen statt gleich Ilias und Odyssee
einen einzigen Helden zum Mittelpunkt zu haben, nichts ande-
res als eine äusserlich verbundene Reihe Episoden gaben.
Diesen Mangel, den Aristoteles besonders hervorhebt,^) suchten
sie teils durch die Fülle und Mannigfaltigkeit der Scenen, teils
durch das Einfügen pragmatischer Wechselbeziehungen zu er-
setzen. Die KykUker mussten, von der Fülle des Stoffes, den
vi" zu iM'willtigen hatten, genötigt, mehr auf die Erzählung
verwenden und konnten weniger Personen redend auftreten
»winer geistreichen Schrift „Die Darstellung des troischen Sagenkreises auf
troischen Aschenkisten", Stuttgart 1870.
1) Die Nachträge der Ausgabe sind wohl zu beachten, anderes geben
Kibbeck Rhein. Mus. 38, 466 ff. und E. Abel Egyetemes Philologiai
Kftrlöny m.
2) Kirchhoff (juaestt. Homer particula, Berlin 1846; Niese Entwick-
lung der homerischen Poesie S. 26 ff.
3) Günstiger denkt Welcker 2, 68 ff. darüber.
Das nachhomerische Heldenepos. 171.
lasseii, wodurch die Charakteristik litt.^) So sehr wir auch den
Untergang aller nachhonierischen Epen bedauern, besitzen wir
• loch in den jüngeren und jüngsten Partien der Jlias und Odyssee
eine vielleicht ununterbrochene Kette von Dichtungen; die von
der alten Ilias bis etwa zum siebenten Jahrhunderte reicht.
Sollte es nicht gelingen, mit Hilfe derselben die verschiedenen
Kunstmittel des Epos, z. B. Gleichnisse, Formeln, /ata t6
^tco;rtb;j.Evov und ähnliches von der höchsten Blüte bis zum tief-
sten Niedergange zu verfolgen? Sehen wir nicht schon, wenn
wir den ersten Gesang der Ilias mit dem letzten der Odyssee
vergleichen , durch eine wie weite Kluft nicht nur der Geist,
sondern auch die Technik getrennt ist? Ueberall gibt sich,
wenn ich nicht irre, ein Streben nach dem Ueberraschenden
und dem Pathetischen kund, welchem eine etwas unruhige
sprungweise Manier der Erzählung zur Seite steht. Grelle Mo-
tive, wunderbares Eingreifen der Götter, übermenschliche Tha-
ten von Helden , rascher Wechsel der Gefühle von feigster
Furcht bis zu unbegründeter Hoffnung, ungewohnte Prahlereien
treten uns nur zu häufig entgegen. Der Gaumen des Publi-
kums muss des Einfachen müde geworden sein und empfind-
Hcherer Reizung bedurft haben. Die alte Odyssee ist davon
auch schon etwas berührt; z. B. kündigt sich in der Vorliebe
für das Wunderbare der neue Geschmack an. Gilt nicht genau
dasselbe auch von den kyklischen Epen ? Werden doch die
Schauerscenen (z. B. in den Atridensagen) immer zahlreicher
und die Einführung merkwürdiger Helden, die aus den fernen
Ländern des Orients kommen, belobt die Oede der Kampfscenen.
Deutet endlich nicht auch schon das Proömium der kleinen
Ilias ,,Ich singe von Ilion und dem rossereicheu Dardanien",
zu dem der Beginn der Epigonen"'*) einen gewissen Uebergang
bildet, auf einen ganz unepischen subjektiven Geist ?^)
Da es wohl nie gelingen wird, die nachhomerischen Epen
nach ihrer Entstehungszeit zu ordnen, muss der Inhalt den Ein-
teilungsgrund bilden. An der Spitze der troischen Epen^) stan-
1) Aristot. poet. p. 1460 a 5 flf.
2) Nüv aud-' oTrXoxIpcüV äv5pa»v apy^ä»}JLc9'a Moöoat.
3) Vgl. den 16. kritischen Brief Lessings.
4) Die.se bildeten den Kern des Kyklos; deshalb definiert Schol. Clem.
protr. p. 26 die Kykliker als die, welche xa xüxXü> t-i^c 'IkiäPjo^ dichteten.
172 ^- Kapitel.
■den nach der Zeitfolge die Kyprien, welche die vor der Ilias
liegenden Ereignisse schilderten.^) Da die kyprische Göttin in
diesem Gedichte keine sehr hervorragende Stelle einnimmt und
auch sprachliche Bedenken einer derartigen Deutung im Wege
stehen, bezieht sich der Titel auf die Heunat des Dichters.^)
Es ist allerdings nach den metrischen Inschriften und dem
zehnten (vielleicht auch sechsten) homerischen Hynmus nicht
zweifelhaft, dass die homerischen Epen ziemlich frühe nach der
Insel der Aphrodite gelangten. Die Alten nahmen daher auch
«inen Kyprier (weil Salamis die ansehnlichste griechische Stadt
war, speziell einen Salaminier) als Verfasser an;^) manche
nennen ihn Stasinos.^) andere Hegesias.^) Beide waren jeden-
falls alte berühmte Aöden; von jenem erzählt schon Pindar,
dass ihm Homer die Kyprien als Mitgift seiner Tochter ge-
schenkt habe.*^) Der poetische Wert der elf Bücher^) umfassen-
den Dichtung scheint nicht bedeutend gewesen zu sein; da-
gegen bot der Sagenreichtum den griechischen und italischen
Künstlern, wie den Tragikern eine unerschöpfliche Fundgrube,
weshalb Ninnius Crassus die Kyprien in die lateinische Sprache
übertrug.^) Soweit wir aus den Fragmenten einen Schluss zie
lien dürfen, war die Sprache wortreich und die Sätze lang-
atmig.^) Der Dichter schloss sich so sorgfältig an Homer an,
dass er alle Aeusserungen desselben, auch beiläufige wie über
den Wein des Menelaos^") auffing und ausspann; wie bereits
erwähnt, gelangte er irrtümhch zur Annahme einer zweimaligen
Landung der Griechen. Er brach nicht einmal mit der Ver-
teilung der Ehrengaben (Briseis und Chryseis) ab, sondern wies
auf die folgende Ilias noch deutlich durch einen abermaligen
1) Weicker 1, 300 ff. 2, 85 ff.; Schlie zu den Kyprien, Berlin 1874.
2) Der Vergleich mit den Naondxx'.a STz-t] liegt nahe.
8) Von einem Halikarnassier scheint Demodamas (Athen 15, 682 e) zu
sprechen.
4) Z. B. der Mythograph in Schol. A zu A 5 f.
6) Ath. 16, 682 e und Proklos; Hegesinos ist wahrscheinlich in Erinner-
ung an Stusiuos verschrieben.
6) Ael. V. h. 9, 15 (Fr. 266 Bergk.)
7) Proklos Ijei Phot. cod. 289.
8) Teuffei röm. Literaturgesch. § 160,6. *
9) Z. B. fr. 3.
10) fr. 10 nach ? 219 ff.
I
Das uachhonierische Heldenepos. 173
ojanz unpassenden Ratschluss des Zeus und den Katalog der
Troer hin. Selbst nach der Ilias liegende Ereignisse bereitet
der Kyprier vor, indem er z. B. Polyxena von Achilleus beim
Ueberfalle des Troilos erblickt werden lässt und so schon auf
ihre Verlobung mit dem Helden hinweist. Ueberhaupt betont
er überall die Ursachen; Zeus beschhesst mit Themis den
troischen Krieg im vornherein , um der Uebervölkerung ein
Ende zu machen. An die Stelle des lebensvollen Eingreifens
der Götter ist der dürre Kausalnexus getreten;^) wären die
Kyprien erhalten, dann würden die Anhänger der Liedertheorie
sie deshalb vermutlich als ein Musterepos der Ilias gegenüber-,
stellen. Der Dichter ist von Homer weit abgewendet. Der alte
Nestor, der bei jenem aus seiner reichen Erfahrung manche
Züge mitteilt, wird bei Stasinos zu einer wandelnden Chronik,
indem er bei einem Besuche des Menelaos nicht weniger als
vier Geschichten zum besten gibt.
Die IHas bricht mit der Leichenfeier Hektors ab; die
Athiopis des Arktinos ^) von Milet^) setzte diese bereits voraus
und erzählte die weiteren Thaten des Achilleus, wie er Penthe-
sileia und M'emnon erlegte, bis ihn endlich der Pfeil des Paris
traf. Die Verteilung dieses Stoffes auf fünf Bücher erhellt aus
der Pariser Tafel. '^) Nach allem, was wir von Arktinos wissen,
gebührt ihm unter den Naclifolgern Homers der Ehrenplatz. '")
1) Charakteristisch ist, dass sich der griechische Rationalismus mit
indischer Spekulation berührt (Köhler Rhein. Mus. 13, 316 f.); weil Zeus
fortwährend seine Hand im Spiele hat, zeigen die Kunstwerke häufig den
Götterboten anwesend.
2) Fragmente bei Kinkel p. 32 fi. Artemon (bei Suid.) nennt seinen
Vater Teles und den Ahnherrn der Familie Nantes.
3) Nach Eusebios dichtete er Ol. 1, 1 (Hieron.) oder 1, 2 (arm. Hier. APR>
und Ol. 4, 2 (Hieron.) oder 4, 4 (Synk. u. arm.), nach Suidas, der auch über
die Genealogie Auskunft gibt, Ol. 9; vgl. Sengebusch Jahrbb. 67, 378 f.
410. Die Chronographen setzen ihn mit Eumelos gleichzeitig (Rohde Rhein.
Mus. 33, 172 f.).
4) Jahn griech. Bilderchroniken T. HI D^ (Penthesileia kommt an;
Achilleus tötet sie; Memnon kommt und erschlägt den Antilochos; Achilleus
rächt seinen Tod ; endlich fällt er selbst) ; wegen des glänzenden Anfangs
heisst das Gedicht 'A[xaCovia (Suidas), womit die Amazonis des Donlitius
Marsus im Zusammenhang zu stehen scheint.
5) Seine Dichtung fand wahrscheinlich noch in Rom Anerkennung; denn
der Dichter, den Horaz sat. 1, 10, 36 unter dem Namen Alpinus verhöhnte,
(? Purins Bibaculus) scheint sie bearbeitet zu haben.
2Y4 ^' Kapitel.
Er fand in Achilleus den Helden seines Epos und brachte die
späteren Ereignisse, um niciit die Fersoneneinheit aufzugeben,
in eine besondere Dichtung, statt dass er nach der Weise der
Kyprien einfach die Post-Homerica zusammenstellte. ^) Ergreifende
Scenen (der Tod Penthesileias , des Antilochos, Memnon und
Achilleus) wechseln mit ruhigeren Schilderungen (Sühne von
Thersites' Tod, Schildbeschreibung Memnons, die Bestattung des
Eossohnes und Wettspiele am Grabhügel des Achilleus). Der
grösste Teil dieser Erzählungen dürfte der Phantasie des Ark-
tinos entsprungen sein^); anderes ist Homer nachgebildet, z.B.
wie Memnons Leiche entführt wird, die Beschreibung seines
Schildes und der Kampf um den toten Achilleus. Noch in den
Bildern , welche aus der Athiopis abgeleitet sind , spürt man
den belebenden Hauch der wahrhaft tragischen Gestaltung des
Stoffes.
Ob der Dichter aber wirklich schon am Anfang der
Olympiadenrechnung gelebt hat, möchte ich sehr bezweifehi.
Der harte Charakter des Achilleus ist schon milder geworden,
ja in sein Verhältnis zu Penthesileia scheint sich bereits ein
erotischsentimentaler Zug zu mischen. ^) Auch die Apotheose
des Achilleus und seine Versetzung nach Lenke steht Homer
'ferne, hängt aber mit den Pontusfahrten der Milesier, der Mit-
bürger des Dichters, zusammen.
Manche vereinigten die Athiopis, das Proömium weglassend,
unmittelbar mit dem Schlüsse der Ilias, so dass es hiess: ""ßc
■oTy' ajx^isTcov toc^ov "ExTopo?, TjX^s S' 'AfiaCwv *) ; ebenso verband
ein Relief der Villa Borghese die Trauer um Hektor und
Penthesileias Ankunft.^) Andere fügten sie mit dem zweiten
Epos des Arktinos zu einem einzigen Werke von 9500 Versen
in sieben Büchern zusammen.**) Jenes war die 'IXioo Tcipatc
in zwei Büchern. Arktinos scheint auf die Ereignisse zwischen
■dem Selbstmorde des Aias und der Erbauung des hölzernen
1) So unterscheidet er sich von den übrigen Kyklikern, weshalb ihn
Aristoteles in der Poetik nicht nennt.
2) Welcker II 200 tY. vgl. Nitzsch Beiträge S. 232 ff.
3) Von Höh de der griechische Komau S. 103 A. 2 angezweifelt.
4) Schol. Victor, 12 804, Nitzsch Sagenpoesie H. 40 f.
6) Ov erbeck Gall. her. Bildw. T. 21, 1, vgl. Nr. 3 und Gerhard aus-
•erleeene Vaseubilder T. 199.
6) Fr. 8 aud Marmor Borgianuiu.
•Das nachhoiuerische Heldenepos. 175
Pferdes wenig Gewicht gelegt zu haben, weil Proklos für diese
Partie lieber Lesches auszog; immerhin erzählte er gleichfalls,
dass die Achäer Philoktet und Neoptolemos zu Hilfe riefen.
Dagegen boten ihm die folgenden Ereignisse wieder eine passende
Gelegenheit, um seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Wir
dürfen annehmen, dass die erschütternden Scenen des Unter-
ganges zum grossen Teile des Arktinos Eigentum sind.^)
Hingegen weiss der Verfasser der kleinen II ias^) ebenso
wenig wie der kyprische Dichter den bunten Stoff unter einen
Gesichtspunkt zu bringen. ^) Dies spricht sich wider Willen
in dem nichtssagenden Proömium aus: ''IXiov astSo) xai AapSavlyjv
ioTTwXov. Der Dichter erzählte in vier Büchern alle der Ilias
folgenden Ereignisse des troischen Krieges, die natürlich eines
Mittelpunktes und gemeinsamen Gedankens entbehrten. Wie
weit sein Anteil an dem Fortwachsen der Sage ging, können
wir weder mehr aus den Fragmenten noch aus den Excerpten
bestimmen. Jedenfalls milderte er ein hartes Motiv des Arktinos,
da er Priamos nicht am Altare, sondern an der Schwelle des
Tempels sterben liess. '*) Er bildete ferner die Sagen vom
Waffenstreite und des Aneas Fahrten ^) weiter aus. Nach den
Excerpten des Proklos scheint es, dass der Anonymus mit
Arktinos keinen Vergleich aushalten kann; weil sie aber den
gleichen Stoff behandelten, erzählte Phanias''), Lesches habe
sich mit diesem in einen Wettstreit eingelassen und (wie der
Landsmann wohlwollend hinzufügt) den Milesier besiegt. Dem
1) Durch eine Blätterverschiebuug geriet der Schluss vou Proklos' Aus-
zug im Venediger Codex A auf fol. 4r. WüUner und Welcker erkannten,
■dass das Fragment zu Arktinos gehöre, während es Heyne und Thiersch trotz
abweichender Angaben auf Lesches beziehen wollten. Michaelis (in Jahns
Bilderchroniken S. 95 ff. und Hermes 14, 481 ff.) sprach die Vermutung aus,
dass es aus der Iliupersis des Stesichoros stamme, wurde aber von Th. Schrei-
ber Hermes 10, 305 ff. widerlegt.
2) Welcker I 267 ff". Nitzsch bist. Hom. H 38 ff. Kinkel p. 36 ff.
Der Znsatz [xixpä bezieht sich zunächst auf den äusseren Umfang ; der Mangel
an ianerer Einheit stand der Wahl eines bezeichnenderen Titels entgegen.
3) Aristot. poet. 23.
4) Robert Bild und Lied S. 222 ff.
5) Sonst kommt die jüngere Form der Äneassage zuerst bei Stesichoros
(bestritten von Hadsikonstas Iliupersis S. 9 ff. 63 ff.) und Hellanikos vor.
6) Clem. AI. ström. I p. 144 S. 398 P.
JY6 4. Kapitel. •
Lesches (Aiv/riz oder Aeo/sw?) von Pyrrha ^) schrieben nämlich
die meisten Späteren das Epos zu; da aber der Lesbier Hel-
lanikos, der, soweit es nur irgendwie angeht, seinen Landsleuten
einen mögliehst grossen Anteil an der alten Literatur ver-
schaffen will, nicht ihm, sondern dem Spartaner Kinaithon das
Gedicht beilegt^), so steht fest, dass die kleine Ilias weder von
Lesches noch überhaupt von einem Äoler herrührt. Lesches
ist vielmehr ein Appellativ und bezeichnet den Sänger, der in
der Xeo-/"/] (Markthalle) vorträgt. ^) Andere nannten statt dessen
den halbmythischen Thestorides von Phokäa^) oder den sonst
völlig unbekannten Diodoros von Erythrä. Wir kommen über
das Nichtwissen nicht hinaus, obgleich für Kinaithon, wie ich
nicht verschweigen will, spricht, dass ein Vers (fr. 11 Kinkel)
mit unjonischem ä überliefert ist. Auch der an sich plausible
Ansatz des Eusebios, Ol. 30, 3 ^) = 658 hat keinen Wert«'),
falls sich nicht der Synchronismus mit Alkman auf die Ge-
dichte beider stützt. Die kleine Ilias diente Polygnot für seine
Iliupersis ^), trat aber schon ziemlich frühe in den Hintergrund.
Robert macht wenigstens wahrscheinlich, dass alle unsere Citate
aus Pausanias und den Nosten des Lysimachos stammen. ®)
Den Zusammenhang zwischen dem troischen Sagenkreise
und der Odyssee stellen die Nöaiot^) her, angeblich von dem
Trözenier Hagias^") verfasst. Eustathios^^) nennt dagegen den
Verfasser einen Kolophonier, was nicht unwahrscheinlich ist,
wenn man die Betonung der kolophonischen Lokalsagen erw'ägt.
Doch wie dem auch sei, die Nosten umfassten in fünf Bücher
1) Nach Prokloa aus Mitylene. Paus. 10, 25, 5 nennt seinen Vater
Ai8chylino8.
2) Schol, Vat. Eur. Troa<l. 821.
8) Welcker I 2«7 und Robert a. O. S. 227.
4) Vgl. Ps. Herod. 16.
6) So Arm. u. Hier. APF, Ol. 30, 4 Hieron., Ol. 31, 1 Sj-nk. n. Hier. B.
6) Fand mau etwa einen Znsammenhang zwischen der Dichtung und dem
Kyiweloskasten? Für Phanias (1. c.) ist Lesches älter als Terpander.
7) Fr. 12 ff.
8) Bild und Lied S. 228 ff.
Ö) Nitzsch hist. Homeri II 27 ff. Beiträge S. 281 ff. Welcker I 278 ff.
Kinkel p. 62 ff.
10) Pausanias nennt ihn 'Hyi«;; 'Afta? ist blos Schreibfehler.
11) Od. p, 1796, 53. Oder sind diese Nosten verschieden?
Das nachhoiuerische Heldeuepos. 177
<lie Schicksale der achäischeii Helden nach Trojas Falle, wohei
nur Üdysseus wegen der Odyssee ausser Betracht blieh. Der
Dichter zeigt Vorliebe für Genealogien und Namen, die wieder
für die peloponnesische Pleimat sprechen könnte. Das ganze
scheint ein düsterer Ton zu durchziehen, den eine Nekyia^)
nicht vermindert. Leider gab es so viele Nostenbücher^), dass
bei vielen Fragmenten die Zugehörigkeit zweifelhaft ist; aber
Tj Twv 'ATpsiSwv xa^oSoc war blos ein anderer Titel des Epos.^)
Den Schluss dieser Reihe bildet das jüngste der ky kuschen
liedichte, die Telegonia des Eugamon von K3Tene. ^) In
zwei Büchern schilderte er, an den Schluss der Odyssee an-
knüpfend^), die weiteren Schicksale des Odysseus , wobei er
teils Andeutungen der Odyssee fortführte, teils rein seine
Phantasie schalten Hess. Der bejahrte Odysseus abejiteuert in
-der Welt herum und wird, endlich nach Ithaka zurückgekehrt,
von seinem und Kirkes Sohn Telegonos , der ihn nicht kennt,
getötet. Eine Doppelhochzeit bildet den würdigen Schluss. ^)
Wir begreifen das Epos erst, wenn wir erfahren, dass es in der
53. Olympiade^), also schon im Zeitalter des Peisistratos entstand.
Neben den troischen Epen steht eine Gruppe von Dichtungen,
die den an ergreifenden Momenten nicht minder reichen Sagen-
kreis von Theben^) behandeln. Er stand den Joniern nahe, weil
1) Weuu diese nichts weiter als ein Auszug der homerischeu wäre
{Kircbhoff hoiu. Odyssee S. 331 f.), hätte es Pausanias gewiss angegeheu.
2) Stiehle Philol. 4, 99 ff. 8, 50 ft. 10, 151 ff., besonders von Anti-
kleides (Dübner Anhang zu Arrian S. 148 — 50), Kleidemos und Lysimachos
3) Athen. 7, 281b. 9, .399a (Er citiert die Nostot nie). Schol. Find. Ol,
13, 31 schreibt dem Eumelos einen vooto? täv 'EXXyjvujv zu. Ist er mit unseren
vöaxo: identisch?
4) Welcker I 311 ff. Kinkel p. 57 — 9; die Form E'jYa{i.[j,cüv ist unwahr-
scheinlich.
5) Den sklavischen Nachahmer verrät es, dass er mit dem Begräbnisse
■der Freier begann.
6) Es ist zu beachten, dass die Geschichte grösstenteils in Epirus spielt.
Nach byzantinischer Art zurechtgelegt steht sie Auecd. Par. 2, 214, 8 ff.
7) Euseb. Synk. u. Armen. Ol. 53, 3, Hieron. Ol. 53, 2 (53, 1 F). Er
steht chronologisch dem Abaris sehr nahe und mag also in seinen Gedichten
auf ihn angespielt haben.
6) Ferd. Hütte mann die Poesie der Ödipussage I. Strassburg 1880
(Pr. des Lyzeums).
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 12
lyg 3. Kapitel.
sich unter den Gründern jonischer Städte Kadmeer und Argiver
befanden. ^) Schon den homerischen Dichtern dürften Lieder
bekannt gewesen sein. '■^ Ein sehr altes Epos, das selbst KalHnos
für echthomerisch hielt, war die Thebais^), welche die Leidens-
geschichte des Ödipus und seiner Söhne in 9100 Versen"*)
enthielt. Pausanias^) stellt sie nach der llias und Odyssee am
höchsten; ebenso ist es ein rühmliches Zeugnis für den unbe-
kannten Verfasser, dass in der Tradition mit Homer nur Ark-
tinos um die Urheberschaft konkurrierte. ^) Wir erkennen auch
darin den begabten Dichter^ dass er nicht mit der Geburt
des Ödipus anhebt, sondern die Hörer sogleich nach Argos
versetzt, wo Polydeukes von Adrastos Hilfe erfleht.
Einen ähnlichen Stoff behandelte eine nur dem Titel nach
bekannte Oidipodeia, welche den Namen des Spartaner.«
Kinaithon trug. ^)
Die Mythen der Thebais wurden in den 'Ejcl^ovot^) fort-
gesetzt; sie scheinen nicht so vortrefflich gewesen zu sein, da
bereits Herodot^) an ihrer Echtheit zweifelte. Wahrscheiuiicli
waren sie mit der 'AXxjxatwvt«: identisch. ^^) Während bei
den Epigonen die Erwähnung der Hyperboreer eine jüngere
Zeit andeutet, heisst es von diesem Epos, es sei jünger als die
Jamben des Simonides von Amorgos^^), wozu es passt, dass
der orphische Zagreus genannt wird. Der Dichter hat für
Blutthaten grosse Vorliebe ^'^) ; bei ihm findet man zuerst den
unnatürlichen greuelvollen Zwist des Atreus ulid des Thyestes.^'')
1) Herod. 1, 146. Strabo 14, 633.
2) S. 41.
3) E. V. Leutsc h Thebaidis cyclicae reliquiae, Gott. 1830. Welcker
I 198 ff. II 320 ff. 655 ff. Nitzsch Beiträge S. 438 ff. Kinkel p. 9 ff". Sie
hiess zun» Unterschiede von der Thebais des Antimachos -/.üxX'.xyi ; ein Neben-
titel war 'Ajj.'ftaf.oc'io tizKrx'sifA.
4) So Mann. Borg.; ?:ty) C' Cert. Hom. et He?.
5) 9, 9, 5.
6) Marmor Borgianum Ovjß'/i^a ['Apxxivov] tiv (?) MiXtigiov
7) Marmor Borgianum. Paus. 9, 5, 6 sagt über den Verfa.sser nichts.
8) Wekker II 380 ff. Kinkel p. 13 f.
9) 4. 32.
10) Wekker I 209 f. Kinkel p. 76 f. 313.
11) So Ist wohl Athen. 11, 460 b zu deuten.
12) Fr. 1, Mas.senmord fr. 4.
18) Schol. Enr. Orest. 997.
Das nach homerische Heldenepos. X79
Dagegen wandten sich die Dichter den d o r i s ch e n H e 1 d en-
sagen in älterer Zeit noch nicht zu, ohne Zweifel aus keinem
anderen Grunde , als weil das homerische Epos sich bei den
Dorern noch nicht so eingelebt hatte, um selbständige und
doch gleichartige Dichtungen hervorzurufen. Deshalb fand der
grösste Held der Dorer, um den das Volk so viele Sagen wob,
erst spät eine würdige Verherrlichung. Doch wurden einzelne
Thaten des Herakles von alten Sängern ausführlich erzählt.
Wie es scheint, machten die Jonier mit der Oi/aXiac
aXwott:^) den Anfang; denn nach einem Grammatiker soll
entweder der Samier Kreophylos oder Homer selbst ^) , der sie
jenem dann schenkte , erzählt haben , wie Herakles Oichalia
eroberte und die schöne Tole gewann. ^)
Die Mtvodc^) verherrlichte den Sieg des Herakles über
die Minyer, der zur Eroberung von Orchomenos führte. Sie
entstand in Phokäa und hatte Prodikos oder Thestorides zum
Verfasser. ^) Den Glanzpunkt bildete die Höllenfahrt , wobei
Charon zum ersten Male auftrat. Die Minyas war wahr-
scheinlich dasselbe Gedicht wie die verschollene ^coxatc*'), die
demnach gleich den Kypria und Naupaktia nach der Heimat
den Namen trug. ^)
Andere Gedichte weisen dagegen auf den Kreis der mittel-
griechischen Dichtungen hin. In dem zwei Bücher umfassenden
Atyi^ioc fand man die Geschichte des Krieges, den der
dorische König Keyx mit den Lapithen führte^); Herakles
1) Welcker I 229 ff. II 421 ff. N i t z s c h Beiträge S. 434 ff. Kinkel p. 60 ff.
2) Vgl. das hübsche , übrigens irouiscli gemeinte Epigramm des Kalli-
machos Nr. 6.
Zf Das angebliche Fragment des Kreophylos , welches die Medeasage be-
rührt, hat mit diesem Gedichte nichts zu thuu.
4) Welcker I 253 ff, II 422 ff. Kinkel p. 215 ff.
5) Paus. 4, 38, 7.
6) Welcker I 253 ff. 423 f., bestritten von O. Müller Ztsch. f. Alter-,
thumsw. 1835 Sp. 1171 und Orchomenos S. 18; Bernhardy II ^ 1, 253. Vgl.
Kinkel p. 63.
7) Wie sich aus dem folgenden ergeben wird, nehmen Müller a. O.
Bode Gesch. der griech. Poesie I 271 und Nitzsch Hallische Literaturztg,
1838 Ergänzungsblatt S. 138 ohne Wahrscheinlichkeit an, dass die Phokais
die Gründungssagen von Phokäa enthalten habe.
8) Welcker I 263 ff. Marckschef fei Hesiodi frg. p. 160 ff. Kinkel
p. 82 ff.; vgl. ApoUd. 2, 7, 7. Diod. 4, 37.
12*
1^0 4. Kapitel.
brachte ihn zu einem glücklichen Ende und schloss mit den
Dorern einen feierlichen Bund. Stephanos von Byzanz *) legt
den Aigimios dem Hesiod bei; Athenäus^), der alle Schriften
benennen möchte, schwankt zwischen Hesiod und dem Milesier
Kerkops, für den Apollodor^) stimmt.
Nicht weit von dem Schauplatze des Aigimios spielte die
,,H och zeit des Keyx"*), ein Gedicht, welches die meisten'')
hesiodisch nannten ; Herakles kam unvermutet als Gast zu dem
Hochzeitsschmause des ihm befreundeten Königs.
Eine andere mittelgriechische Heraklessage gab zu der
pseudohesiodischen 'AottIc TlpaxXsooc") Veranlassung. Ein
jüngerer Sänger^) nämlich, der sich an den homerischen Ge-
sängen gebildet hatte ^), besang den Kampf des Helden mit dem
Kyknos, welcher die pythische Tempelstrasse sperrte. Er ahmte
die liias so ängstlich nach, dass er eine Schildbeschreibung
nach dem Muster der homerischen anbringen zu müssen glaubte,
obwohl sie für das kurze Gedicht viel zu umfangreich ist; doch
beachte man, dass ein erheblicher Teil, nämlich V. 228 — 313
durch einen noch späteren Rhapsoden hinzukam.^) Ebenso
erregt die Fülle der Gleichnisse Anstoss.^") Der Verfasser stammt
unverkennbar aus Böotien, da er (V. 24 die Tapferkeit seiner
1) V. 'Aßavtt-.
2) 11, 503 d.
3) 2, 1, 3. 5. Aristoteles bei Diog. L. 2, 46 spricht daher von eiueiu
Streite zwischen beiden.
4) Kinkel p. 146 ff.
5) Manche Grammatiker (Ath. 2, 49 b) z. B. Plut. quaest. symp. 8, 8,
4, 4, widersprachen ; den Ausdruck des letzteren „6 töv Kyjuxo!; y^P-ov eIi; xä
MIoioSoo 7taf,£jj.ßa"/.«"ijv eTp,7jy.£v-* darf man nicht mit Marckschef fei IJesiodi
frg. p. 154 ff. dahin ausdeuten, dass es eine Interpolation der Eöen oder des
Fraaenkataloges war, \g\. Paus. 2, 26, 6.
6) H. Deiters de Hesiodia Scuti Herculis descriptione, Bonn 1858, nach
der kün.stlerischen Seite Brunn die Kunst bei Homer S. 17 ff.
7) Au der Echtheit zweifelten Ps. Long, t:, u'^^oof; 9, 4; Ael. v. h. 12, 36;
Schol. Dien. Thr. p. 672, 8. 1165; Gramer anecd. Oxon. 4, 316. Philostratos
heroicus 2, 19 hielt gar den hesiodischen Schild für älter als den homerischen,
weil er in diesem eine iM)Iemi8che Stelle zu finden glaubte.
8) Bänke in .seiner Ausgabe S. 347 ff. (hom. Hymnen S. 360 ff.)
9) Lehrs quaest. ep. p. 249 (439) ; Deiters a. O. p. 27. Es war, wenn
V. 302, wo /.aYO? steht, echt ist, ein Dorer.
10) Flach streicht fast alle.
Das nachhomerische Heldenepos. 181
Landsleute rühmt und) V. 105 Poseidon als Gott der Thebaner
erwähnt. ^) Seine Lebenszeit ist über die dreissigste Olympiade
nicht herabzurücken : denn etwa drei Olympiaden später führt
Peisandros die uns geläufige Ausrüstung des Herakles ein,
während er in der Aspis noch als Hoplite auftritt. Stesichoros
citiert sie bereits als Werk des Hesiod. ^) Da wir aber unten
sehen werden, dass die pseudohesiodischen Eöen nicht vor Ende
der dreissiger Olympiaden entstanden, so folgt notwendig, dass
der aus diesen entlehnte Anfang V. 1-56 nicht von jeher die
Basis oder den Ausgangspunkt der 'AaTil«; 'HpaxXsooc bildete ;
V. 57 wird sich vielmehr an einen einleitenden Herakleshymiius
angeschlossen haben. Dasselbe Abenteuer des Alkiden wurde von
Bathykles am amykläischen Apollothrorie und von vielen Vasen-
malern dargestellt. ^) Das. bibliogra{»hische Material findet man
unten, wo Hesiod, der Dichter der Erga, zu behandeln ist.
Eine eigentliche Herakleis, die alle Thaten des dorischen
Heros in sich vereinigt, kommt erst in verhältnismässig später
Zeit vor. Zwar soll K i n a i t h o n eine Herakleis verfasst haben ^),
aber sein Name ist wahrscheinlich durch Konon^) zu ersetzen,
denn die Erwähnung des Hylas und der Kianer passt für sein
Jahrhundert nicht. Sonst würde ich annehmen, dass ein längerer
Abschnitt seines genealogischen Gedichtes von Herakles han-
delte. Die Herakleen des Demodokos^) und Diotimos'')
gehören dem Inhalte der Fragmente nach nicht in diese Periode.
Warum sollten wir über die Werke des Phaidimos^) und des
Lindiers Peisinus^) anders urteilen? Vielleicht um die 33.
Olympiade^") entstand eine wirkliche 'llpaxXs'.a in zwei oder
1) Dass Hesychios das V. 224 vorkommende Wort xfß-.Gic kyprisch nennt,
beweist nichts dagegen.
2) Argnm. 3 am Ende.
3) Gerhard alte Vasenbilder T. 121—4.
4) Schol. Ap. 1, 1357.
5) ib. 1, 1165.
6) Plut. mor. p. 1161 ab.
7) Ath. 13, 603 d. Snid. v. E'jpüßaxoc. Nach Bergk comm. de com. Att.
p. 24 war er ein Zeitgenosse des Aratos.
8) Ath. 11, 498 e. Elegiker nach Steph. B. v. Biomd-q.
9) Trotz Clem. AI. ström. 6, 266 S. 628 P; ist er etwa mit Peisandros
identisch ?
10) Diese Angabe bei Suidas ist jedenfalls richtiger als die andere, die ihn
n)it Eumolpos verbindet und vor Hesiod .setzt. Sie beruht auf der Annahme,
132 4. Kapitel.
wahrscheinlicher^) zwölf Büchern, das Werk des Peisand ros
aus der rhodischeh Stadt Kanieiros. ^) Er errang sich damit
einen hervorragenden Platz unter den späteren Epikern und
wird mit Panyasis und Autimachos als Repräsentant des jüngeren
pragmatischen Epos genannt. ^) Trotzdem sind ausserordentlich
wenige Fragmente erhalten, so dass wir uns keine detaillierte
^''orstellung von seinem Werke machen können. Peisandros
führt Herakles zuerst in der traditionellen Jägerausrüstung ein ;
da Kameiros ein hervorragender Sitz der orientahsierenden
Industrie war, hatte er täglich die Bilder des Melkart und
orientalischer Kämpfer, die mit reissenden Tieren rangen oder
sie mit Keulen bedrohten, vor Augen. So vermischte Peisandros
den griechischen und phönikischen Herakles zu einer Gestalt. *)
Wahrscheinlich geht auch die traditionelle Zwölfzabl der Kämpfe,
die sonst in den Metopen des olympischen Zeustempels zum
ersten Male vorkommt, auf ihn zurück. '") Was aber den Geist
seines Epos anlangt, so ersehen wir aus jener Zusammenstellung,
dass er die Reihe der gelehrten Epiker eröffnete, die dem
zunftmässigen Betriebe des Heldengesanges ferne stehen und
sich Technik wie Sagenkunde durch mühsames Studium erringen.
So steht Peisandros an einem verhängnisvollen Wendepunkte ;
das Epos verliert den Jahrhunderte lang festgehaltenen Zu-
sammenhang mit der Volksdichtung und geht so der unver-
meidlichen Verknocherung entgegen. Wie es die erste Literatur-
gattung war, welche ausgebildet wurde, so erlosch hier auch
zuerst der freie unmittelbare Schaffenstrieb. Peisandros ist
somit ein Vorläufer der alexandrinischen Zeit/)
er hal)e geblüht, als Ste.sichoros geboren wurde, und diese eutspraiig wieder
darau.s, dass man bei ihnen zuerst die allbekannte Ausrüstung des Herakle.s
fand. Nach Megakleides (Athen. 12, 512 f) hat sie Stesichoros aufgebracht;
Xauthos, der "Vorgänger dieses Dichters, kannte Herakles noch als Hopliten.
1) Wie 6. Hermann vermutet.
2) Fragmente bei Kinkel p. 248 ff., vgl. O. Müller Dorier 2, 475 ff. M58.
8) Proklos bei Phot. bibl. p. 319 a 18, vgl. Kyrillos Anecd. Par. 4, 196,
15. Quintilian sagt 10, 1, 56: Quid? Herculis facta non bene Pisaudros?
4) Herakles hat auf dem Kyi^eloskasten ein ihn von anderen Helden
unterscheidendes oxYjjxa, also wohl diese Tracht; auch l 607 führt er den
Bogen.
6) Welcker kleine Schriften I 83 ff.
6) Die manus secunda der i)alatiuischen Authologiehandschrift legt ihm
7, 304 (Bergk poetae lyr. II* 24) bei. .Suidas kannte unechte Dichtungen.
Das nachhomerische Heldenepos. 183
Während Herakles also wiederholt poetisch verherrlicht
wurde, wiederfuhr Theseus diese Ehre in unserer Periode
wahrscheinlich gar nicht. Wir hören überhaupt immer nur von
einer einzigen Theseis^) und diese schreiben die Pindarscholien -)
dem Chohambendichter Diphilos zu, der in anderen Gedichten
bereits die Philoso[)hen verspottete.^) Welcker wollte sie mit
der von Suidas erwähnten 'A^aCovia zusammenstellen; diesen
Titel habe das Epos nach seinem Glanzpunkte, dem Kriege,
welchen Theseus mit den Amazonen führte, getragen. Es ist
jedoch wahrscheinlicher, dass diese Amazonia nichts anderes als
die Athiopis des Arktinos war. Die angeblich hesiodische
,,Hadesfahrt des Theseus"^) dürfte ein orphisches Produkt
sein; nur Pausanias^) spricht von ihr. Eine Theseis nach Art
der Heraklesepen war vor der höchsten Steigerung des attischen
Selbstbewusstseins unmöglich. Vorher kursierten ja nur zwei
Theseussagen, der Sieg über den Minotauros^) und die schimpf-
liclie Fortführung der Aithra^); daraus konnte kein Epos ent-
springen. F>st mussten der Ruhm Attikas und der Gegensatz
zwischen Joniern und Dorern das ehrgeizige Bestreben hervor-
rufen, dem dorischen Stammeshelden einen attischjonischen
gegenüber zu stellen und ihm ähnliche Thaten zuzuschreiben.
Erst musste aber vor allem Attika aus dem Todesschlummer,
der es in unserer Periode umfangen hielt, erwachen; das Ver-
dienst, es erweckt zu haben, gebührt nicht sowohl Solon als
Peisistratos. Doch davon später mehr!
Perseus wurde von den Epikern vöUig vernachlässigt.
Selbst die Argonautensagen hätten in alter Zeit keinen
Bearbeiter gefunden, wenn nicht die Teilnahme des pierischen
Sängers die Orphiker zu einem Epos angeregt hätte. Es ging
4) Welcker I 313 ff. 459. II 424 ff. Kinkel I p. 217; er übersah das
■einzige und wörtliche Fragment bei Plut. Thes. 32.
5) Zu Ol. 10 (11), 83.
6) Schol. Arist. Nub. 96.
1) Marckscheffel Hesiodi frg. p. 158 ff.
2) 9, 31, 5.
3) Die Siegesfeier stellten der Kypseloskasten und die Fran^oisvase dar;
den Kampf selbst sah man am amykläischeu Throne. Eine sehr alt scheinende
Va.se Mon. d. I. VI 15 ist nach Brunn Probleme S. 29 imitiert.
4) Schon bei Homer T 144 und den Kyklikern, auf dem Gebiete der
Kunst am amykläischeu Throne.
2g4 4. Kapitel.
unter dem Namen des Epimenides. ') Ausserdem behandelter»
die genealogischen NauTraxtia stttj wenn auch als Episode, doch
ziemlich ausführlich diesen Sagenkreis.
Zu den homerischen Epikern mag endhch der Jonier
Antimachos von Teos gehören^); wir wissen von ihm nichts,
als dass er vor dem Nostendichter Hagias lebte und ihm einen
Hexameter lieh. ^) Ausserdem erwähnte er eine Sonnenfinsternis,
welche -die alten Astronomen Ol. 6, 3 ansetzten. *)
Verdient Nikolaos von Damaskos ^) Glauben , wenn er
erzählt, der Rhapsode Magnes habe am Hofe des Gyges einen
Reiterkampf der Lyder und Amazonen besungen,?
1) Kinkel p. 233.
2) Plut. Eomul. 12.
3) Clem. AI. ström. VI 622 C. 743 P.
4) Flut. a. O.
6) Fr. 60.
5. Kapitel.
Historisch - genealogische Epen.
Chersias — Fraiieukatalog — Eöeu — Naupaktische Gesänge — Ennielos
Phorouis — Danais — Kinaithon — Hegesinus — Asios.
Während das eigentliche Heldenepos im Mutterlande weni-
ger Anklang fand — es fehlte ja die reine Freude an phantasie-
voller Poesie — , entstand dort, weil der historische Sinn kräftig
war, eine bedeutende Zahl historisch-genealogischer Epen. Wie-
wohl auch in Jonien die alten Adelsgeschlechter ihre Ahnen-
reihe verherrlicht wissen wollten , genügten dort die Dichter
diesem verzeihlichen Wunsche in mehr poetischer Weise; sie
Hessen einen der Ahnen selbst auftreten und fügten bei passen-
der Gelegenheit Nachrichten über seine Abkunft ein. So er-
fahren wir durch Wechselreden im sechsten Gesänge der Ilias
die Abstammung des Glaukos und Diomedes;^) B 100 ff. zählt
der Dichter bei Gelegenheit des Scepters die Vorgänger Aga-
memnons auf. Die Nichtjonier dagegen verbanden blos eine
Anzahl von Stammtafeln zu einem sogenannten Epos. Der
dichterische Wert scheint bei allen diesen Werken nicht hoch
zu stehen , weshalb sie Aristoteles in der Theorie des Epos
ignoriert; legten doch die Hörer und Leser den Hauptwert auf
den Inhalt und nicht darauf, in welcher Form sie die Sagen
oder, wie sie meinten, die Geschichte hörten. Diese Epen
möchten daher etwa den deutschen Reimchroniken, welche die
Sagenwelt hereinziehen,^) zu vergleichen sein. Sie bilden die
unmittelbare Vorstufe der ältesten Prosageschichten. ^)
1) Schon etwas weniger homerisch ist die Begegnung von Achilleus und
Äneas (y 213 ff.)
2) Z. B. der Kaiserchronik.
3) Herodoros aus dem pontischen Herakleia, ein Zeitgenosse des Sokrates,
186 5. Kapitel.
Wenn wir sie nach der geographischen Folge ihrer Ent-
■stehungsorte einteilen, so hahen wir mit den Nao^axTia stctj^)
zu beginnen. Ohne Zweifel entstanden sie in der lokrischen
iStadt Naupaktos; Pausanias^) berichtet noch genauer, dass der
idte Historiker Charon von Larnpsakos den Verfasser Karkinos
von Naupaktos^) nannte. Die Meisten stimmten freilich für
«inen Milesier, wahrscheinlich Kerkops, den unaufgeklärte Fä-
den mit Mittelgriechenland verbinden.^) Wie Pausanias aus
Autopsie weiter erzählt, behandelte das Epos Heldenfrauen,
was bei einem Lokrer sehr begreiflich ist; dieser Stamm räumte
nämlich den Frauen ungewöhnliche Rechte ein.^) Man glaube
aber nicht, dass sich der Verfasser engherzig auf seine Heimat
beschränkt habe; der Argonantenziig war nach den Fragmen-
ten ausführlich behandelt.
Zwei dem Hesiod zugeschriebene Dichtungen KatäXoYo;;
^uva'.xwv und 'Ho tat mit dem Zusätze {jLSYaXat**) stammen
jedenfalls auch aus Mittelgriechenland , wenn gleich sie wohl
nicht gerade ebenfalls nach Lokris gehören; dies wäre doch
ein embarras de richesse für das kleine Ländchen. ^) Beide
gaben eine Uebersicht über die sterbUchen Frauen , deren Liebe
Götter oder Heroen genossen hatten, und zählten die Nach-
kommen sammt ihren Schicksalen auf.^) Formell unterschied
sich das zweite Gedicht von dem ersten dadurch , dass
jeder neue Abschnitt mit t) oi'y] begann, wonach das Ganze
den Namen empfing. Während man früher beide Gedichte für
bearbeitete die genealogischen Epen prosaisch (C. Müller frg. bist. Gr. 11
127 tr. O. Müller Dorier II 464 f. ^^449 f.)
1) Gewöhnlich aber weniger gut blos Nauitotxi'.xdt genannt. Marek-
«cheffel Hesiodi frg. p. 262—68; Kinkel p. 198 ft'.
2) 10, 38, 11.
3) Dieser ist ganz unbekannt.
4) Er »oll bekanntlich den Aigiraio.s verfasst haben.
6) Bachofen das Mutterrecht S. 309 f. 316.
6) Göttling-Flach p. 294—327 (138 Fragmente), Kinkel p. 90—146 (150
Fragmente).
7) Auch der in die Nekyia eingeschobene Heroinenkatalog dürfte in Mit-
telgriechenland entstanden sein; freilich hatten die Adelsgescblechter selten
sterbliche Männer als Urahnen. Das eigentliche die Familien unterHcheidende
Moment lag also in den gottbegnadeten Ahnfrauen.
8) Daher heisst der Katalog auch -^pwoYovia (Proklos zu Hes. O. p. 9,
Tzetzes p. 17 Gaisf.)
Historiscli-geuealogiscbeu Epen. 187
identisch hielt, wies MarckschefFeP) nacli, dass manche Mythen
von den Verfassern, wie natürhch, verschieden erzählt wurden.^)
Ferner umfasste der Katalog drei , die Eöen aber nur zwei
Bücher; indes verbanden bereits die Alten diese zwei Dicht-
ungen zu einer einzigen.^) Endhch galt dem Pausanias der
Katalog als ein echt hesiodisches Werk,*) wogegen er die Eöen
nicht anerkannte.^) Da die Eöen den Beinamen ,,die grossen"
tragen , scheinen sie in ihren einzelneu Abschnitten ausführ-
Hcher als der die gesaramten Genealogien zusammenfassende
Katalog gewesen zu sein.
Nur von der Weise der Eöen liegt in <len 56 Viersen, die
jetzt den ,, Heraklesschild" eröffnen, eine nennenswerte Probe
vor; sie unterscheiden sich darnach in nichts von den mittel-
griechischen Epen: Die weibliche Cäsur lähmt zu oft ange-
wandt den kräftigen Gang des Hexameters und im Ausdrucke
ist manches unklar und ungelenk, woran namentlich der un-
passende Gebrauch der epischen Formeln Schuld trägt; denn
diese wollen nicht zu der knappen Erzählungsvveise der genea-
logischen Epen passen.") Mögen wir auch die Fragmente des
Katalogos und der Eöen nicht mehr recht sondern können,
so herrscht doch gerade über die für die Chronologie wichtig-
sten Stellen^) glücklicherweise kein Zweifel. Da die Eöen
wissen, dass die thessalische Nymphe Kyrene nach Libyen ent-
führt wurde und dass die Argonauten den Rückweg über deren
Wohnsitz nahmen, muss Kyrene damals bereits in den Hän-
den der Griechen gewesen sein ; nun bestand aber die Kolonie
seit dem Ende der dreissiger Olympiaden (Ol. 37 oder 39, 1).
Mit geringerer Sicherheit folgert Kirchhoff aus der Erzählung
des Kataloges, dass lo nach Aegypten geflohen sei, der Dichter
1) Hesiodi Eumeli etc. frg. p. 102 fi".
2) Schol. Ap. Rh. 2,181. 4, 57.
3) In der dritten ÖTzod-sz'.z der Aspis steht , der Anfang finde sich im
vierten Buch des Katalogos ; er gehörte aber ofieubar zu den Eöen. Ferner
berichtet Suidas, der Frauenkatalog habe fünf Biu^her umfasst.
4) 1, 3, 1. 43, 1.
5) 9, 36, 7. 40, 5. Es könnte aber auch sein, dass ihn erst die helikoui-
schen Böotier zu dieser Skepsis bewogen (vgl. 9, 31, 5).
6) Z. B. (Aspis) V. 34.
7) Vgl. die ausgezeichnete Darlegung bei Kirchhoff die homerische
Odyssee S. 315 ff.
18g 5. Kapitel.
setze bereits den seit Psammetich eintretenden näheren Verkehr
zwischen Aegyptern und Griechen voraus; demnach habe er
nach der dreissigsten Oh'mpiade gelebt. Ich vermute, dass der
Katalog jünger als die Eöen war; er scheint nämlich die reich-
haltigste Fundgrube aller Sagen gewesen zu sein, was bedeu-
tende Vorarbeiten voraussetzt.^) Beide Dichtungen waren nie
populär;^) die Mythographen (besonders Hygin) beuteten sie
freilich aus und alexandrinische Dichter ahmten sie nach,^) aber
das Publikum kannte nur den Absatz über das hohe Alter,
das manche Geschöpfe erreichen (fr. 163), in der ursprünglichen
Forrn.^)
Sicher in Böotien entstand die Chronik des Orchorneniers
Chersias.^) Der eifrige Antiquar Pausanias®) stöberte nur
noch in einer Stadtchronik zwei Verse auf, die von Asj)ledon,
einem Sohne des Poseidon, handeln. Vielleicht stellte Chersias
die Sagengeschichte des Minyerreiches von Orchomenos zusam-
men. Bezüglich seiner Zeit hören wir, dass er ein Zeitgenosse
des Kyi)selos, Cheilon und Periandros gewesen sei.') Worauf
mag sich diese Angabe und die weitere, er sei bei Periandros
in Ungnade gefallen, stützen? Weil die Orchomenier keinen
anderen alten Dichter zu nennen wussten , schrieben sie auch
die auf ihrem Grabe des Hesiod stehende Inschrift^) ihm zu.
Die Korinther besassen ebenfalls ein historisches Epos,
die Kopivd-iaxi^ das angeblich Eumelos,^) ein vornehmer Mann
1) Mützell emend. theog. p. 503 ß". vermatet, der spätere Katalog habe
Bich aus einem kürzeren Gedichte entwickelt.
2) Die Parodie bei Luc. conv. 41 parodiert nur oberHächlich die Foriu
der Eöen.
3) Sosikrates verfasste männliche Eöen und Nikainetos von Samos eine»
Fraaenkatalog (Rohde der griech. Roman S. 83).
4) Ausoniu» paraph rasierte ihn lateinisch (Anthol. Lat. 647),
6) Mar<k Scheffel Hesiodi frg. 261 f.
6) 9, 38, 5t.
7) P«. Plut. .sap. conv. 13, 21.
8) Paa». 9, 88, 9; der Sammler der Anthologie (7, 54) nennt aber den
Verfasser Mnasalkas, von dem wir sonst nichts wissen.
9) Welcker I 274 ff.; Kinkel p. 185 ff.; Wilisch über die Fragmente
d«-H Epikers Eumelos, Ljtg. 1875, dazu E. v. Leutsch philol. Anz. 7, 78 ff.
Man mnss es wohl Ijei Maickscheffels (p. 220) Resultat l>ewenden lassen, daas
er in der ersten Dekade der Olympiaden lebte; Leutsch (8. 79) setzt ihn
nach Terpander.
Historisch-genealogische Epen. 189
aus dem Geschlechte der Bakchiadeii bald nach Beginn der
Olympiadenrechnung gedichtet haben sollte. Wie aber Pausa-
nias^) mitteilt, galt blos ein Prozessionslied in dorischen Hexa-
metern für echt; es war für den messenischen König Phintas
gedichtet, als die Messenier die erste Theorie nach Delos sand-
ten und in ihrer Unerfahrenheit fremder Hilfe '^) bedurften.
Darauf beruhen die Ansätze der Chronographen.^) Da aber die
Korinther in iliren .Jahrbüchern keinen anderen frühen Dichter-
namen fanden, legten sie ihre älteste Chronik jenem Eumelos
bei. Die Alexandriner kannten diese epische Dichtung noch*);
sie ging aber etwa in der augusteischen Zeit verloren , durch
eine prosaische Geschichte Korinths^) verdrängt, deren Fälscher
sich ebenfalls Eumelos nannte und sein Machwerk aus dem
Epos desselben und hesiodischen Gedichten*') zusammensetzte.
Manche unterschieden deshalb zwei Eumelos.
Auch die B o o y o v i a und E o p w ti i a haben Beziehungen
zu Korinth gehabt, da sie manchen als Werke des Eumelos
galten^). Von ersterem nahm man früher an, es sei ein Lehr-
gedicht über die Kinder- oder gar Bienenzucht,^) und doch
1) 4, 4, 1.
2) Wilisch Jahrbb. 123, 175 f. will Korinth und Messenien enger zu-
sammenbringen, indem er vermutet, dass ein korinthischer Dichter den
Stammbaum der messenischen Könige verfasst oder beeinflusst habe, seine
Gründe genügen jedoch nicht.
3) Eusebios setzt Eumelos Ol. 4, 4 (arm.), 4, 2 (Hieron.) oder 5, 1 (Hier.
A P) und 9, 1 (arm.) oder 9, 2 (Hieron.); vgl. Roh de Rhein. Mus. 33, 172 f.
:N"ach C'lem. AI. ström. 1, 144 S. 398 P erlebte er die Gründung von Syrakus
ts-:ßsß"/,Y|y.sva'. 'Ap/ta xü) lopav.ou^ac v.xi-avx'.) d. h. nach dem Sprachgebrauclie
<Ies Clemens: Er hatte mit Archias eine Begegnung.
4) Apollonios von Rhodos entlehnte nach den Scholien vier Verse (3,
1372—5) daraus.
5) Marckscbeffel p. 223 ff.; C. Müller frg. bist. 2; 20; vgl. Paus 2, 1, 1 :
iv -z-fi Kop'.vD-'oc auYTP'^'f^ ^'^ ^"'1 Eojx-f|/.ou -rj au-pcp'^'f"'!-
6) Für Klemens (ström. 6, 267 S. 752 P) sind Eumelos und Akusilaos
Historiker, die Hesiod ausplünderten. Wilisch Jahrbb. 123, 164 sucht
willkürlich den Verfasser des Auszuges in dem Korinther Dionysios, weil
diesem Suidas 6i^o|j.vYj[xaxa öIq 'H-lorov zuschreibe.
7) Euseb. a. O. ; die Europia nennt der von Schol. A Z 131 benützte
Mythograph, aber in anstössiger Form (v. Leutsch a. O. S. 82). Paus. 9, 5, 8
(4) und Clem. AI. ström. 1 p. 151 S., 419 P. erwähnen von ihr keinen Ver-
fasser.
8) P.ergk Rhein. Mus. 1, 365 ff.; er leugnet ohne Grund, dass irgend
•ein Euhemeros über Viehzucht schrieb.
190 5. Kapitel.
würde ein solches zweifellos den Namen des Hesiod getragen
haben. Nach Wilisch behandelte es die Abkunft der Bakchia-
den von Dionysios Bugenes; könnte es nicht das Geschlecht
der lo verherrlicht haben? So würde das Gedicht eine Parallele
zur Europia, dem Epos von Europes Geschlecht bilden ; letzte-
res erwähnt daneben z. B. den thrakischen König Lykurgos
(Fr. 10) und den wunderbaren Spielmann Amphion (Fr. 12).
Eumelos oder, wie wir lieber sagen wollen, die korinthische
Poesie, steht getreu dem internationalen Charakter der Stadt
zugleich mit dem kleinasiatischen Epos in Verbindung ; darum
heissen die Titanomachie^) und die Nosten^) manchmal Werke
des Eumelos. In Kürze sei erwähnt, dass ihm Pausanias^) ver-
mutungsweise noch die metrischen Inschriften des Kypselos-
kastens zuteilt.'*) Sie verdienen nur wegen des dorischen A
Aufmerksamkeit. Was wir sonst von korinthischer Dichtung
hören, ^) findet besser bei der Lyrik eine Stelle.
Im eigentlichen Peloponnes besitzt Argolis Dank seiner
grossartigen Vergangenheit die reichste Sagenwelt. Die gene-
alogischen Dichter gingen bis zu den Uranfängen zurück: Die
^opcövic*) hebt mit Phoroneus, dem sagenhaften Gründer der
staatlichen Ordnung in Argosan; dieAavai? (AavaiSec)^) nahm
die Regierung des Pelasgos zum Ausgangspunkte , umfasste
aber volle 6500 Verse. Erstere scheint sich bereits auf die
Verzeichnisse der argivischen Herapriesterin gestützt zu haben, ^)
was ihr einen mehr historischen Charakter gibt. Die Danais
stammt ebenfalls nicht aus sehr alter Zeit, da sie die attische
Sage von Ericlithonios erwähnte.^) Ihr Umfang spricht schon
gegen Welckers Annahme, dass das Gedicht blos die Danaiden-
sage episch behandelt habe. Dichternamen fehlen hier ganz;
1) Schol. Apoll. Rh. 1,1166.
2) Schol. Find. Ol. 13,81.
3) 6, 19, 10.
4) .Sollte die Aehulichkeit der önovoia iu der gemeinsamen Vorliebe für
glückliche Paare liegen?
5; Wi lisch Jahrhb. 123, 161 ff.
6) Kinkel 8. 209 ff. Hellanikoa bearbeitete denselben Stoff in Prosa.
7) Kinkel S. 78, vgl. Welcker der ep. Cyklns I 326 f.
8) Fr. 4.
;») Kr. -1.
Historisch -genealogische Epen. 191
doch werden wir im letzten Kapitel bei Akusilaos noch darauf
zu sprechen kommen.
In Sparta treffen wir wieder eine anscheinend historische
Persönlichkeit in dem Lakedämonier Kinaithon,^) der nach
der Ueberlieferung ein Zeitgenosse des Eumelos war.'"*) Er schrieb
ebenfalls ein genealogisches Gedicht , das sich nicht auf die
Sagen seines Heimatlandes beschränkte ; sein Interesse war
auch auf kretische (Fr. 1), korinthische (Fr. 2) und messenisclie
(Fr. 5) Sagen, also wohl überhaupt die Sagen der Dorer ge-
richtet, wenngleich aus dem Namen Nikostratos , den er allein
dem Sohne des Menelaos und der Helena gibt, der patriotische
Stolz des Spartaners hervorleuchtet. Mit dem berühmten
chiischen Rhapsoden Kynaithos hat er trotz Welcker^) nichts
zu thun ; vermutlich verwechselt ihn mit diesem der Euripides-
scholiast, nach welchem Hellanikos*) ihm die kleine Ilias beilegt.
Auf einem Versehen der Schreiber beruht die Zuweisung der
Telegonie^) und einer Heraklie.'') Kinaithon heisst auch nach
der borgianischen Tafel Verfasser der Ödipodie.
Die 'AtO-ic des Hegesinus (H^rjoivooc) geliort schwerlich
vor die Zeit der Perserkriege, üebrigens erwähnt sie nur Pau-
sanias,'') der ausgezeichnete Kenner des alten Epos, hat sie aber
nicht einmal selbst gelesen , sondern er führt vier Verse aus
einer Schrift des Korinthers Kalhppos an; diese behandeln die
Gründungssage von Askra.
Diesen zahlreichen genealogischen Epen, die bereits die
Geschichtsschreibung vorbereiten, haben die asiatischen Grie-
chen in der älteren Zeit nicht das mindeste gleichartige an
die Seite zu stellen. Erst in ziemlich später Zeit wirkte
das Mutterland auf die asiatischen Kolonien , von denen
es den Keim empfangen hatte, zurück. Auf Samos dichtete
Asios^) ein genealogisches Epos, das nach den Fragmenten
1) Marckscheffel p. 245 ff.; Kinkel p. 196 ff. 212.
2) Hieronymus setzt ihn Ol. 4, 2 (P R 4, 1), die armenische Uebersetz-
uug des Eusehios Ol. 3, 4.
3) Ep. Cyklus I 242 ff.
4) Schol. Vat. in Troad. 821.
5) Euseb. 1. c.
6) Schol. Apoll. Rh. 1,1357.
7) 9, 29, 1. 'S
8) Sohn des Amphipto|Aios Paus. 2, 6, 4. 7, 4, 1.
toJ&io.':
192 5. Kapitel.
<len ganzen Umkreis griechischer Sagen umspannt zu haben
sclieint.') Bei Gelegenheit der einheimischen Vorgeschichte
beschrieb er ausführHch einen Festzug in das Heraion und
schilderte dabei den Luxus der Samier.^) Da ihm auch Elegien
zugeteilt werden,^) ist Asios nicht früh anzusetzen.**) Dagegen
deutet das Imperfekt in jener Schilderung von Samos keines-
wegs darauf, dass er diesen Glanz nicht mehr kannte; davon
steht kein AVort da.
1) Callini Tyrtaei Asii quae supersunt disp. N. Bach, Lpg. 1831; Marck-
scheffel S. 259—61. 411—16; Kinkel S. 202 If.
2) Duris bei Athen. 12,525 ef. Von Spott ist keine Rede; vielleicht ge-
hört die dem Simonides zugeschriebene „samische Archäologie" hieher.
3) Das Fragment bei Ath. 3, 125 b scheint apokryph.
4) Die harmonisierende Darstellung in Fr. 1, das äusserliche Motivieren des
Freundschaftsbündnisses von Orestes und Pylades in Fr. 5 u. a. passen dazu.
k
6. Kapitel.
Epische Hymnen und Theogonien.
Homerische Hymnen — Titanomachie — hesiodische Theogonie — Orpheus,
Mitsaios und Epimenides — Melampodie — Abaris und Aristeas.
Der alte Sänger preist nicht blos die Tbateri der Men-
schen ; Phemios kennt viehnehr ,,die Werke der Menschen und
Götter". Für den eigenthchen Hymnus des Gottesdienstes be-
sass das epische Element der griechischen Mythologie nur die
Bedeutung des Hintergrundes ; der Priestersänger oder der
Chor spielte auf Ereignisse in der Göttervvelt gelegentlich an
oder gab in lyrischer Art seine Gefühle kund. Darüber beleh-
ren schon die vedischen Hymnen am besten. Die eigentliche
Erzählung fiel hingegen den epischen Sängern zu. Da jedoch
die Mythen selbst keine Spur von Einheit besassen, war hier
die Entwicklung eine andere als beim profanen Epos. Das
Einzellied bheb die Regel. Die Sitte schloss nämlich die Be-
singung der Götterthaten von den epischen Agonen selbst aus ;
dafür pflegten die Aöden und Rhapsoden ihren Vortrag, um
sich die Gunst des Gottes zu sichern, mit einem Hymnus, der
eine Episode aus den Mythen der jeweiligen Stadtgottheit be-
handelte, zu eröffnen.^) Sie benützten dabei, wie natürlich, die
Formeln der gottesdienstlichen Hymnen, z. B. am Anfange den
Gruss -/alfvE,-) dann die BVage: ,,Wie soll ich dich besingen,
entw^eder als solchen oder wie du u. s. w."^) und zuletzt das
Schlussgebet, worin sie Glück und Wohlstand erflehen.^)
1) Aristophaues parodiert diese Sitte in den Fröschen V. 875 S.
2) Schneid ewin de hymnis in Apoll. Hom. p. 11.
3) Hymn. Hom. 1, 19 ff. 2, 29 ff. Callim. hymn. 1, 4.
4) Nach Ailios Dionysios (Eust. zu B 360) war die beliebteste Formel:
Nüv 5e S-sol fjLGJy.c/.ps'; itöv egO-Xwv a'fd-ovoi Igzz , vgl. Hesych. v. vüv ok {)-£oi
jxaxapsc. Zenob. 5,99 (uc xal oi xtfl-apajSoi. AV/v' Sva^ }>-ä.Ka lalpt.
Sitil, Geschichte der griechischen Literatur. '"
194 ö- Kapitel.
Wir l>esitzeii von solchen Proöniien fast nichts anderes als eine
Sainniknig homerisch sein wollender Hymnen,^) die ein bunt-
scheckiges Gemisch von nach Zeit, Geist und Manier weit aus-
einanderhegenden Stücken darstellen. Den Sammler kennen
wir nicht. Das älteste Zeugnis für ein Corpus steht bei Philo-
deinos,'^) welcher ApoUodors Werk Trsp'. i^söiv benützte. Diodor^)
schöpfte seine Citate aus dem etwa hundert Jahre vor Christus
lebenden Dionysios von Mitylene.*) Vielleicht haben die Per-
gamener das zweifelhafte Verdienst, da die älteren Alexandriner
diese Hymnen konsequent unbeachtet Hessen.^) Die Sammlung
niiifasste sechs grosse und achtundzwanzig kleine Hynmen.
So vollständig war aber von unseren Handschriften nur die
jetzt in Leiden befindliche Moskauer, während alle übrigen aus
einem Exemplare, dem die beiden grossen Hymnen an Diony-
sos und Demeter fehlten . stammen ; auch die Moskauer ent-
hält von ersterem blos ein kleines Stück, 208 Verse aber sind
verloren.") Sonst besitzt diese Handschrift keinerlei Vorzüge.')
Die andere Klasse, durch vier Laurentiani, zwei Riccardiani, drei
Ambrosiani und drei Parisini repräsentiert, hatte bisher an
einem Lauren tianus (L), der ein Paar Randscholien enthält,
ihren Hauptvertreter; diese Stelle soll ihm ein bisher unbenutz-
ter Codex Estensis in Parma rauben^). An Ausgaben sind nach
der editio princeps (1488) die Arbeiten von Matthiä (1805 mit
einem Band animadversiones) und von G. Hermann (1806) zu
nennen; Baumeisters Ausgabe (Leipzig 1860) bietet vorläufig
den reichsten Apparat'-') und Kommentar. Köhn^") und Eber-
1) Gdfr. Groddeck de hyran. Homer, rell., Gott. 1786.
2) K. ehzt% p. 40, 5 ff. Gomperz, vgl. p. 19. 42.
H) 1, 16. 3, 66. 4, 2.
4) Benihardy II =' 1, 230. Die älteste Anffthruug eines Hymnus überhaupt
.steht Thuc. 3,14.
5) Die Aukläuge bei Kallimachos, die Guttmann de hymn. Hom.
historia critit-a, Greifsvvalde 1869 p. 6 t. zusammenstellt, sind zu unbedeutend.
6) Thiele Philol. :U, 203 f.
7) Thiele Philol. :54,n)3 fl". Cobet Mnemos. 10, 309 f.; zur Geschichte
der Handschrift Boutkowski dict. numism. col. 287 f.
8) Philol. 34, 194 A. 3; v. Wilamowitz Callim, hymni et epigr. p. 7
adn. 1.
9) Guttmann a. O. p. 10 f. luid Eberhard die Sprache der ersten hom.
Hymnen, Husum 1873—74, der eine Naohkollation der Hand.schriften L und D
gil)t, wei.Hfu «eine Unzuverlftssigkeit nach.
10) qnaeslioues metricae et grammaticae de hymnis Horaeri, Halis 1865.
Epische Hymneu und Tlieogouieu, 195
hard^) behandelten die Sprache. Mit der cln-onologischen Be-
stimmung beschäftigten sich Windisch^) und Fick^) ohne Glück.
Beide legen das längst erloschene Digamma zu Grunde, jener
auch den Grad der Ilomerimitation*), so dass gar der Homer
am ärgsten ausplündernde Rhapsode der älteste sein soll.
Die Hymnen zerfallen in zwei Gruppen , von denen die
eine den Gott durch ausführliche Erzählung einer bestimmten
That verherrlicht , die andere dagegen, obgleich durch Dialekt
und Stil jenen gleichartig, den gottesdienstlichen Hymnen
näher steht. Die einstigen sechs grossen Hymnen und der
siebente an Dionysos gerichtete bilden jene Gruppe, während
2u dieser die übrigen kleinen Hymnen und die in Hesiods Ge-
dichten erhaltenen, nämlich Erga V. 1 — 9, Theogonie V. 411
bis 452 und das Konglomerat am Anfange der Theogonie, ge-
liören ; doch nehmen das sechste homerische Lied an Aphrodite
und das neunzehnte an Pan eine Art Mittelstellung ein. Von
allen sondert sich der achte Hynmus, der den späteren orphi-
schen in den gehäuften Beiwörtern völlig gleichgeartet ist.
Bezüglich der Form verdient noch beachtet zu werden , dass
der Sänger nur im zweiten, einundzwanzigsten und vierund-
zwanzigsten homerischen Hymnus, dem verstümmelten an Dio-
nysos, einem Fragmente bei Diodor (3, 66) und am Anfange
<ier Erga den Gott selbst anredet. Sonst spricht er immer in
der dritten Person von ihm ausser dass er am Schlüsse das
übliche kurze Gebet an ihn richtet; der erste und der neunund-
zwanzigste Hymnus sind gemischt.
Der erste und altertümlichste homerische Hymnus^) ist das
Werk eines blinden Sängers, der, wie er selbst angibt, auf
Ohios wohnte und offenbar im dehschen Agon den Preis ge-
wonnen hat; mit diesem Liede nimmt er Abschied von dem
1) a. o.
2) De hymuLs Homericis luaioribus, Lpg. 1867,
3) Bezzenbergers Beitr. 2, 1 ff.
4) Jetzt vgl. Sterret qua in re hymni Homerici qujuque maiores iuter
se differaut autiquitate vel Homeritate, Boston 1881 (Diss. v. München).
5) Jos. Schürmann de genere dicendi atque aetate hymni in Apolliuem
Homerici, Arensberg 1859; Jos. Priem de hymno in Ap. Delium Homer.,
München 1872 und der hom. H. auf den del. Ap., Posen 1878; Th. Burck-
hardt der Homeridenhymuus auf den delLschen Apollo, Pr. von Basel 1878.
13*
J9Ö 6- Kapitel.
• lelischeii Gotte und den ihm dienenden Jungfrauen , deren
Reigen er vielleicht auch mit seiner Kithara begleitet hat. Wie-
wohl V. 173 sicher interpoliert ist,^) deutet die stolze Sprache
jedenfalls auf einen angesehenen Sänger, in dem das Altertum
seit Thukydides^) Homer erkennen zu dürfen glaubte.^) Nur
Hippostratos*) wollte ihn dem Rhapsoden Kynaithos von Chios,
der ihn Ol. 69 zu Syraku§ vorgetragen habe, zuschreiben, was
wegen des Thukydideischen Zeugnisses unmöglich ist. Der
Korrektur Welckers,^) der Ol. 6 oder 9 statt 69 setzte, wider-
spricht, dass Syrakus erst Ol. 11, 3 (734) gegründet wurde.
Wenngleich die Sprache des Hymnus sich von der homerischen
unterscheidet, befürworten andererseits die geschilderten Kultur-
verhältnisse ein hohes Alter ;'^) freilich sind die geographischen
Angaben V. 30 ff. nur mit grösster Vorsicht zu benützen. Die
Versuche, den Hymnus in kleine Stücke zu zersplittern,^) füh-
ren nicht zu einem gedeihlichen Resultate.
Der zweite Hymnus, der den pythischen Apollo') feiert,
ist in den Handschriften fälschlich mit dem ersten verbunden.^)
Ein böotischer Dichter verherrlicht mit genauen Lokalangaben
die Gründung des delphischen Heiligtumes ; er trug das Ge-
dicht gewiss in Delphi vor und zwar, wie V. 92 ff. zeigen,
bevor die hippischen Agone eingeführt wurden; dies fand Ol.
48, 3 nach dem Ende des heiligen Krieges statt. Die Krissäer
bedrückten aber damals schon die Tempelleute (V. 364 ff.).^*^)
Dem Verfasser lag bereits der erste Hymnus vor, da er ihn
1) Guttraann a. O. S. 16.
2) 3, 105.
3) Aristophanes (Av. .'iT-ö) scheint V. 114 als homerisch zu citieren.
4) Schol. Find. Nem. 2, 1.
6) Ep. Cyklus I 237.
ß) V. 102 ff., ans denen Flach Gesch. der griech. Lyrik 1,95 f. anfeine
jüngere Zeit schlie.s.';en will, sind von zweifelhafter Echtheit.
7) G roddeck de hymn. Hom. rell. , Göttingen 1780; Schnei dewin
Göttinger Studien II (1847) S. 493 ff.; Ph. Wegener Philol. 36,217 ff. (drei
Hymnen); Christenseu Schriften der Universität zu Kiel VII. 1876 (er
zerlegt dleoen und den folgenden Hymnus in acht .Stücke).
8) Th. Schrei her der deljihische Lokalmythus von Apollon Pytho-
ktonos, .Tahrhb. 121, 085 ff.
ft) Erst Ruhnken schied die beiden.
10) Enropa erscheint hier zuerst in geographischer Bedeutung und steht
im Gegensatze zu d^m Pelop<mnes und den Inseln (V. 72 f)
Epische Hymueu uuci Theogouieii. 197
mehrfach nachbildete. Das älteste Zeugnis des homerisclien
Ursprungs steht in einem nach 196 v. Chr. verfassten Ehren-
dekret von Knossos ; Dioskorides empfängt nämlich grosses
Lob, weil er die Stadt auf Grund jenes Hymnus verherrlichte.^)
Das Lied hat durch eine grosse Interpolation eine Störung er-
litten; denn es drang ein Stück aus einem andern Hj^mnus
ein, der die Geburt des Typhaon erzählt.
Einen völlig verschiedenen rein humoristischen Ton hat
der dritte Hymnus an Hermes,^) der von der Geburt des
Gottes, dem RinderdiebstahP) und der Versöhnung mit Apollo
handelt. Ein merkwürdiges Produkt, das von allen anderen
Hymnen völlig abweicht und zweifellos nicht unserer Periode
angehört!^) Der Dichter zieht geflissentlich das Alltagsleben
mit seinen anständigen und auch nicht anständigen (V. 294 ff.)
Seiten heran. Alles ist von Humor umflossen, selbst was
Hermes V. 57 ff. singt, indem er in die Liebesgeschichte seiner
Eltern die Dreifüsse und Kessel der Küche hineinbringt; ich
erinnere auch an das liebenswürdige Gespräch des Kleinen mit
der Schildkröte (V. 25 ff.) und mit welchem Humor steht endlich
dei' Schelm vor dem feierlich strengen Gotte von Pytho! Ich
glaube nicht zu fehlen, wenn ich auf Athen hinweise ; am besten
vergleicht sich die Dichtung mit einer bekannten Statue des
kleinen Hermes, eines liebenswürdigen Gamins. Der Ton allein
würde genügen , um den würdevollen Schluss (von V. 507 an)
als fremdartigen Zusatz zu erkennen.^)
1) Hozolle Bulletiu de corr. Hell. 4, 352 ff. e-{v.Mii',ov xata xöv no'.fj-cäv
üTisp Toj afxö) E^v'.oc (die Polemik von Cauer Philol. 42, 173 ff. ist ohne
Belang).
2i Tb. Burckhardt Jahrbb. 97, 737 ff.; Greve de hymuo in Mercur.
Homerico, Münster 1867; O. Schulze de hymni in M. H. compositione,
Halle 1868; E. Lohsee de h. in M. Homerico, Berlin 1872.
3) Diese indogermanische Sage stand zuerst in den Eöen (Anton. Liber.
23) ; die scheinbar älteste Darstellung auf einer korinthischen Vase (Memoria
deir Inst. II t. 15) ist eine Cäretauer Imitation.
4) Daraus, dass V. 51 die siebensaitige von Terpandros eingeführte Lyra
vorkommt, gewinnen wir nichts. G. Hermann setzte aus metrischen Grün-
den den Hymnus sehr spät (Orphica S. 689), wozu die Sprache stimmt (Greve
a. O.).
5) Matthiä, Hermann, Greve, Welcker ep. Cyklus 2, 464; Hermann
p. XXXVIII wurde durch die Lückenhaftigkeit und Verderbtheit unseres
Textes bewogen, zwei Recensionen anzunehmen.
198 6. Kapitel.
Wie hätte dieser Dichter das Thema des vierten HyimmSr
die Liebe von Aphrodite zu Anchises behandelt und wie frei
von Frivolität, aber auch wie farblos stellt sie dieser Gesang
dar.^) Er gehört entschieden zu den schlechtesten in seiner
Art und der Verfasser bedeckt seine Blosse nur mit zahlreichen
homerischen Phrasen. Aphrodite entwickelt eine ausserordent-
liche Zangenfertigkeit, zuerst in V. 108 — 42^ und dann gar in
dem langen Vortrage V. 192 — 290, wogegen Anchises sich nur
zu einigen matten Bemerkungen, unter denen V. 145 ff. pedan-
tisch stilisiert sind, aufrafft. Anspielungen auf Lokales finden
sich nicht, so dass kein Grund vorliegt, warum der Sänger am
Hofe der Aneaden geweilt haben sollte.^) Die Zeit auch nur
annähernd zu bestimmen ist unmöglich.^)
Von diesem saftlosen Hymnus sticht wieder der fünfte
an Demeter vorteilhaft ab. ^) Der unverkennbar attische")
Dichter besingt, von der Weihe der eleusinischen Mysterien
begeistert, den Raub der Persephone, Demeters Gram und die
Gründung der Eleusinien; aber, wie ich noch einmal erinnere,
sein Hymnus ist weder für die Mysterien noch überhaupt für
den Gottesdienst bestimmt. Er schreibt mit Würde und Frömmig-
keit, wenn auch der etwas schleppende Ton namentlich in den
Reden die volle Wirkung beeinträchtigt. Ueber die Zeit lässt
1) R. Wir. sei quaestt. de hymno in Venerem Homericnm, Münster 1869
(Diss.); Rieh. Thiele proU. ad hymunm in Venerem Homeri quartuni,
Halle 1872 (Diss.); Berth. Sa hie de hynino Homeri quarto tlz 'A-fpootTfjv
Stolp 1878 (Pr.).
2) Hier steht eine überflüssige linguistische Notiz V. 113 ff.
3) So Matthiä, K. O. Müller griech. Lit.-Gesch. 1 '127 nud Wirspl
p. 41 f.; die Prophezeiung über die Äneaden V. 196 ff. stammt ans der Ilias.
4) Voss mythol. Briete II 176 denkt an die Zeit des Anakreon, Matthiä
auiniadv. in hymn. p. 75 an die des Mimnermos, beide wegen der angeblichen
Aehnlichkeit des Tones; nach Thiele wurde der Hymnus zu Ehren der troi-
scheu Göttermutter in Gergittion bei Kyme gleichzeitig mit den Kyprien ge-
dichtet; Suhle setzt ihn hinter den fünften Hymnus, weil daraus allerlei ent-
lehnt sei u. 8. w.
ö) Separatausgabe von Bächeier, Lpg. 1869 (mit Facsimile); Jos. Schür-
mann de hymno in Cererem aetate at<iue scriptore, Münster 1850 (Pr.); L.
Prelle r Demeter und Persephone S. 65 ff.; Gust. Gemss de h. in Cer.
Homerico I. Berlin 1872; W. O. Gutsche Diss. philol. Halens. I 45— 87 v
Phil. Wegener Philol. 36, 227 ff; Francke de hymni in Cererem Homerici
compositione dictione aetate, Kiel 1881 (Pr.).
6) Schürmann p. 47 ff. und Francke 1, c.
Epische Hyniueu und Tlieogouien. 199
sich wieder keine bestimmte Angabe machen; Schürraann nimmt
willkürHch als Grenzpunkte die dreissigste und vierzigste Olym-
piade an. Jedenfalls liegt der Hymnus vor dem Auftauchen
des orphischen Unfuges, aber nicht lange zuvor, weil Attika erst
mit Solon in der Literatur eintritt. Die Einlagen und Doppel-
recensionen ^) sind wahrscheinlich aus einem oder mehrei'en
anderen Demeterhymnen entlehnt.
Der siebente Hymnus an Dionysos trägt das deuthche
Gepräge einer jüngeren Zeit. Der Gott, den er feiert, ist nicht
der weinfrohe, aber würdige und gesetzte Herrscher der alten
Zeit, er ist vielmehr ein weichlicher Jüngling, wie ihn die
jüngere attische Kunst auffasste. So mag die Entstehungszeit
des Hymnus und des Lysikratesdenkmals, das, im Jahre 335/4
errichtet, ebenfalls den jugendlich schönen Dionysos als ßestrafer
der Seeräuber darstellt, nicht weit auseinander liegen.
Bei den kleinen Hymnen lassen sich manche Anhaltspunkte,
um die Lokalität und die Zeit zu bestinnnen, auftreiben: Der
neunte stammt aus Jonien^), der zehnte, vielleicht auch der
sechste, aus dem kyprischen Salamis und der vierundzwanzigste
w'ohl aus Delphi. Die nnt den Nummern 15. 20. 29. und 32
bezeichneten Hymnen dürften attisches Fabrikat sein.^) Der
hübsche Hymnus an Pan (Nr. 9) gehört, nach seinen eigen-
tümlichen Kompositis zu urteilen, in die alexandrinische Zeit. ^)
Nr. 13, 18 und 25 sind blosse Centonen. Von den übrigen
lässt sich nichts bestimmtes sagen. Es ist also eine wunder-
liche Gesellschaft, die sich hier zusammengefunden hat.
Was die Clausula dieser kleinen Hymnen anlangt, so er-
flehen die Schlussverse des 6. und 24. Hymnus den Sieg im
Wettkampfe; die anderen weisen fast alle auf den folgenden
1) F. Flander de iuterpolatioiiibus hymui Cereris qui fertur Homeri,
Parchiin 1879 (Pr.).
2) Nach Flach Gesch. der griech. Lyrik 1, 42 fällt er vor die Ein-
nahme von Smyrna durch die Kolophonier , also vor 700; Diincker Gesch.
des Altertums V ^199 setzt ihn aber mit Recht hinter dieses Ereignis.
3) Ueber den 32. Hymnus K. O. Müller griech. Lit.-G. I^ 123, der
Pandia hervorhebt; Gerhard Trinkschalen S. 15 nennt ihn orphisch, -weil
Selene geflügelt sei. Hymn, 33, 13 ist die einzige Stelle, wo die Dioskuren
geflügelt erscheinen.
4) Baumeister und Köhn observatt. de Homeri in Pana hymno, Guben
1876 halten ihn für jonlsch.
2()(j 6. Kapitel.
Vortrag hin, wofür die ständige Formel lautet: aotap k^iü xat
Zu den äusserlicli epischen Hymnen gehört der Hekate-
hymnus, der in die hesiodische Theogonie eingelegt ist
(V. 414 — 52). Nach dem ursprünglichen Plane der Theogonie
konnte der Verfasser jener Göttin nur V. 411 — 3 widmen. In
jenem Zusätze aber empfängt die Göttin das Lob aller mög-
lichen Vorzüge, von denen sonst kein Mensch etwas w^eiss. Er
bildet daher ein ungelöstes Problem^); der Wahrheit dürfte die
Annahme am nächsten kommen, dass er mit irgend einem
Lokalkulte, von dem wir jetzt nichts mehr hören, zusammen-
hängt. Hekate stand auf Ägina im höchsten Ansehen ^) ; aber
welches Band verknüpft einen äginetischen Gesang mit der
Theogonie? Seit Heyne schieben die meisten, um das unbe-
queme Problem mögUchst billig loszubekommen, das Elaborat
den Orphikern zu. ^) Die einzige Stütze dieser Hypothese ist
das Beiwort [xoovoysvt^c (V- 426, 448), das nichts beweist.^) Haben
die alten ürphiker Hekate wirklich so hoch gestellt?^) Zudem
weichen die sicher orphischen Nachrichten von Angaben des
Hymnus ab. ^) Wir können nur so viel sagen, dass der Hymnus
spät entstand^) und wahrscheinlich bei einem* Agon vorgetragen
wurde.
Unter allen Ereignissen der griechischen Mythologie lud
der Kampf mit den Titanen und Giganten am meisten zu
epischer Behandkuig ein; bot sich doch hier eine Fülle von
Gestalten und zugleich die Möglichkeit, die Handlung durch
Episoden in die Länge zu ziehen. Nachdem wahrscheinlich in
1) Schömauu opusc. II 215 ff. Lehrs Aiist. *44l ueuut den Hyinuus
einen „Jargon"; was sollen wir dabei denken?
2) Paus. 2, 30, 2.
3) Man nennt im besonderen Ouomakritos oder Kerkops (O. Müller
Prolegomena S. 299).
4) Schömauu a. O. 220.
6) Die Ägiueten leiteten allerdings zu Pausanias' Zeit die Weihen der
Hekate von Orpheus ab.
6) Frg. bei Schol. Ap. Rh. 3, 467 u. Orph. Arg. 980.
7) Vgl. z. B. xati vö|xov 417, rtapaY'lY^^JlJ-«'- „stehe bei" 429. 432. 436
(sonst erst bei Plato); s. auch Petersen Ursprung der hesiodischeu Theo-
gonie S. 41 und Lehn* a. O. Auch Merkel Philol. 17, 146 hält den Hymnus
für den Festgesang eines Rhajwoden.
Ex)i.s(rhe Hymnen und Theogouien. 201
Eiuzelliedern der Anteil der verschiedenen Götter, voran der
des höchsten Königs, besungen war, entstand in unbekannter
Zeit die Titavofia^^oa, die mindestens zwei Bücher umfasste. ^)
Die Art der Behandlung muss bald an das jonische Epos bald
an das europäische erinnert haben, da sie manche bald dem
Arktinos bald dem Eumelos zuschrieben. ^) Sie scheint nach
der tabula Borgiana in den epischen Kyklos aufgenommen
worden zu sein. ^) Auf eine ziemlich späte Zeit weist die Ge-
stalt des Chiron, der als Reformator des Menschengeschlechtes
(fr. 6) erscheint. Welcker erkannte höchst scharfsinnig, dass
das Epos auch eine Schildbeschreibung (fr. 4) und eine Schil-
derung des Siegesfestes gab, bei dem selbst Zeus vor Freude
tanzte (fr. 5). Er vermutete ferner, dass Aschylus im Pro-
metheus V. 199 — 230 daraus geschöpft habe. "*)
Spätere dichteten Thamyris^) und Musaios^') Titano
machien an. Die Sage vom Gigantenkampfe scheint im allge-
meinen jüngeren Ursprungs und nach dem Titanenkampfe ge-
bildet; Xenophanes^) erwähnt sie zuerst.
Durch zahlreiche gottesdienstliche und profane Hymnen
kam ein hinlängliches Material zusammen, das von lokaler Ein-
seitigkeit befreit einen Ueberblick über die Göttermythen des
gesammten Griechenlands bieten konnte. Die Jonier wären
schwerlich je auf den Gedanken gekommen , einen Abriss der-
selben in Versen zu geben ^) ; ein Böoter war nicht so ekel.
Wir besitzen bekanntlich als Werk desHesiodos eine" The o-
gonie in 1022 Versen; sie steht weder mit dem Kultus noch
1) Welcker I 218 f. 409 ff. Kinkel p. 5 ff.
2) Athen. 1, 22 c. 7, 277 d, nur dem Eumelos Schol. Apoll. Rh. 1, 1165.
3) Dieses Denkmal sagt ausdrücklich, es sei nicht die des Methymnäers
Telesis. Es ist übrigens blos |j.ayiav erhalten.
4) Ueber den Inhalt des Epos Nitz seh Sagenpoesie 28 fl'. W^elcker II 409.
5) Heracl. Pont, bei Plut. mus. 3 ; vielleicht existierte sie nur in der
Phantasie des Herakleides.
6) Von mindestens drei Büchern, Schol. Ap. Rh. 3, 1178. Schömann
opusc. 2, 8.
7) Fr. 1, 21 ß; eine scheinbar sehr alte Vase von Cäre mit einer Giganto-
machie (Mou. d. I. VI. VII 78) ist jung, s. Brunn Probleme der Vasen-
malerei S. 29.
8) Wenn Homer häufig auf Göttergeschichten anspielt , braucht er noch
keine theogonische Dichtung ^Schömann hesiodisehe Theogonie S. 2) vor
sich gehabt zu haben.
»)()«) 6. Kapitel.
mit dein delphischen Orakel in Verbindung 0, denn hieratie^chp
Lehrdichtung war bei den Griechen höchstens im Zusammenhange
mit orphischen und ähnlichen Mysterien denkbar, üeberdies
referiert der Dichter ganz objektiv, ohne in den tieferen Sinn
der Sagen einzudringen oder ihnen eine allegorische Deutung
aufzunötigen.^) Trotzdem nähert er sich den ersten Natur-
philosophen, wenn er die Anfänge der Welt zu enthüllen strebt;
zu der philosophischen Spekulation passt auch die Vorhebe für
die etymologische Erkenntnis der Götternamen. ^) Es muss ein
eigenartiger Kopf gewesen sein, der ohne priesterliches Amt auf
die Abfassung einer Theogonie verfiel und dabei so viel allge-
meines Wissen besass, dass ihm die kosmogonischen Ideen der
Orientalen nicht fremd waren.*) Die gewöhnliche Tradition
nennt ihn Hesiod, obgleich es unglaubhch ist, dass der Bauern-
sänger eine solche Vielseitigkeit der Interessen und eine so be-
deutende Weite des Blickes besessen habe. Die helikonischen
Böoter selbst sprachen ihm die Theogonie ab^) und mit ihnen
scheinen zahlreiche Graunnatiker der Kaiserzeit, die der höheren
Kritik freundlich gestimmt war, eines Sinnes gewesen zu sein.^)
Ueber die Zeit der Theogonie ist nichts anderes zu sagen, als
dass sie nach Homer — wir dürfen wohl auch sagen — lange
nach ihm entstand; dies beweist der Dialekt, zahlreiche ent-
lehnte Verse') und nicht am wenigsten, dass die von Homer
M 340 ff. aufgezählten troischen Flüsse als fabelhafte grosse
1) Schömann opnscula II 464 flf.
2) Er geht sogar auf den Wirkungskreis der Götter sehr selten (Schö-
mann opusc. 2, 471 A. 9) ein.
3j Z. B. V. 195 ff. 199 f. 271. 282 f.
4) Wenn der Verfasser anf die Welten tstehung das Prinzip der Liebe
anwendet, bewegt er sich in den Anschauungen der Semiten und Ägypten;
genule bei letzteren ist Hathor zugleich Göttin der Liebe und der Natur.
Manche Vorstellungen, wie von der Beflügelung stammen aus Kleinasien
(Langbehn Flügelgestillten in der ältesten griechischen Kunst S. 51).
6) Paus. 9, 31, 5.
6) Paus. 9, 27, 2 'Hoiooov •?) xov 'HoiöSij) BsoYoviav eiirtOffisavta; 8, 18,
1 «agt er sogar, einige hielten die Theogonie für hesiodisch; vgl. auch 9,
36, 1 :tp.«>3'.t3fl-«o ?Ttp 'f'./.ov r»]v Heo^oviav. Dem wider.sprechen allerdings diu
zahlreichen te«timonia bei Mütze 11 de emend. theog. p. 303 — 35 (dazu
liankefl .\uogabe des Scntum p. 81). Vgl. Welcker Theogonie R. 14 ff.
7) E<1, Kau seh quatenus Hesiodi in theogonia elocutio ab exemplo
Homeri pendeat, Königsberg 1876 (Diss. v. Leipzig); Elbing 1878.
Epische Hymnen nnd Theogonien. 203'
Ströme gelten. ^) Der Erörterung der Heimat muss die Son-
derung der alten und jungen Partien vorausgehen, weil ßöotismen
und Dorismen scheinbar durcheinanderlaufen; es wird sich
daher fragen, ob hier nicht die zeitlich gesonderten Schichten
auch örtlich sich unterscheiden.
So viel ist objektiver Thatbestand; aber die homerische
Frage hat eine hesiodische nach sich gezogen, von der ich
bezweifle , dass sich der Lösung geringere Schwierigkeiten als
dort entgegenstellen. Im Gegenteil liegen dort zwei umfang-
reiche Epen vor, während wir bei der Theogonie höchstens die
Erga heranzuziehen haben. Dagegen sind die Werke so vieler
Epiker und Lyriker, aus denen allein die Fortbildung der Mythen
richtig erkaimt und in ein chronologisches System gebracht
werden könnte, bis auf wenige Fragmente verloren. Somit
liegen zu wenig feste Punkte vor. Der Liedertheorie entspricht
bei Hesiod die Ansicht Schömanns'^); er sieht in der Theo-
gonie ein Aggregat verschiedener kleiner Stücke, die erst die
Kommission des Peisistratos zusammengesetzt habe. Trotzdem
fehlen unzweifelhaft orphische Elemente in der Theogonie
gänzlich ; dann kannten schon Xenophanes und Heraklit eine
berühmte hesiodische Theogonie, oder soll man ohne irgend
einen Grund die erhaltene von jener unterscheiden '? üebrigens
fehlt es mir schwer zu glauben, dass Onomakritos, der unter
Peisistratos die Mythen seiner Sekte zusammenstellte, denselben
Liebesdienst Dokumenten der von ihm, wenn nicht bekämpften,
doch wenigstens bei Seite gesetzten alten Religion erwiesen
habe. Während Schümann jene selbständigen Stücke von dem
Kompilator durch einen dürren Götterkatalog verbunden werden
liess, betrachtete Gerhard^) diesen als das ursprünglichste
Element, an das sich teils selbständige Stücke teils Interpolationen
ansetzten.
Einen höchst bedenklichen Vermittlungsversuch zwischen
radikaler und konservativer Tendenz machte Petersen.^) Nach
J) V. 342 ff.
2) Opuscula II, besonders p. 47-5 ff.
3) Ueber die hesiodische Theogonie, Abhaudlnngen der Berliner Akademie
1856 mit Textausgabe.
4) Ursprung und Alter der hesiodischen Theogonie, Verzeichnis der
Vorles. des Hamburger akad. Gymn. Winter 1862/3.
■5>()4 6- Kapitel.
ihm sind Hymnen, epische und theogonische Bestandteile zu
sondern ; diese vorhesiodischen Stücke habe der Dichter zu
«ineni Ganzen vereinigt. Aehnliches hatten schon Brucker^)
und Heyne '^) angenommen.
Mehr Stimmen fielen mit Recht zu Gunsten eines ursprüng-
lichen Kerns, über dessen Umfang freilich auch hier jeder
anders denkt. Thiersch^) sprach für ein einfaches Verzeichnis
der Götter und ihrer Thaten , mit der man eine Anthologie
von Stellen älterer Dichter verbunden habe. ^) Fruchtbarer war
•die für eine aufzählende Dichtung ausgezeichnet passende
Strophentheorie. Auf Grund dieser von Gruppe gefundenen
Idee schnitt A. Sötbeer^) zweiundsiebzig Strophen von je fünf
Versen zurecht. Gruppe*') verbesserte seinen eigenen Ge-
danken dahin , dass er richtig dreizeihge Strophen annahm,
wenn er sie auch irrtümlich im ganzen Gedichte durchführen
wollte; er fand ein Gedicht von blos siebenunddreissig Strophen;
•einiges ursprüngliche soll verloren gegangen sein. G. Her-
mann^) bildete Sötbeers Versuch weiter; indem er äusserst
kühn nach seinem Belieben Verse strich und umstellte, kon-
«tj-uierte der berühmte Kritiker eine recht hübsche Theogonie
von hunderteinundfünfzig fünfzeiligen Strophen , von welcher
Schümann sagte, der alte Dichter dürfte froh sein, wenn er ein
solches Werk zu Stande gebracht hätte. Köchly verband beide
Systeme so, dass er als älteste Schicht Strophen von je drei
Versen , dann eine jüngere Schicht fünfzeihger Strophen und
■endlich Füllstücke annahm. **) Die letzte Redaktion übertrug er
wieder den Leuten des Peisistratos.
Die Schwierigkeit der Untersuchung Hess in den letzten
1) Hist. crit. phil. I 2 p. 407.
2) De Theog. ab Hes. condita, iu Comm. soc. Gotting. II. uud im Au-
bange der Ausgabe Wolfs, Halle 1783.
8) Ueber die Gedichte des He-siod, Denkschrifteu der bayer. Akad. 1813
Bti. IV. S. 1 ff.
4) MerkelPhilol. 17, 132 nimmt als Kern V. 116—8. 120—38. 154— 616 an.
6) Versuch, die Urform der hesiodischen Theogonie nachzuweisen, Berlin
1837; er bereute es später (Gott. gel. Anz. 1848 Nr. 137 S. 1370j.
ö) UeJier die Theogonie des Heaiod, Berlin 1841.
7) De Hesiodi Theogoniae forma autiquis-sima 1844 (Opuscula «, 47 fi.j.
8) Akademische Vorträge I 387 ff. und de diversis Hesiodeae Theogoniae
partibas, Zürich 1860.
Epische Hymnen und Theogonien. 205-
Decennien das Interesse erkalten oder sie führte zu quietistischen
Tendenzen. So streicht der neueste Bearbeiter, H. Flach *),
nur die offenbarsten Zusätze (das Proömium ausser V. 1 — 4.
;')6 — 42. 104 — 6, den Hymnus an Hekate und den Schluss von
V. 965 an), dazu noch die Schilderung der Unterwelt, die nach
ihm in zwei Recensiowen (V. 746 — 806, 807 — 19) zerfällt.
Wir versuchen im folgenden einen selbständigen üeberblick
über die Schichten der hesiodischen Theogonie zu geben. An
erster Stelle muss der ganze Anfang bis V. 115 fallen.^) Er
besteht aus den Hymnen von Rhapsoden, welche die Theogonie
vortrugen; die Inhaltsangaben bildeten wohl auch beim Vor-
trage den Uebergang von den Hymnen zu der Dichtung selbst.
Diese Erkenntnis bringt aber nicht viel Licht in das Chaos,
weshalb die Ansichten ausserordentlich aV)weichen. Gerhard
und Merkel^) sehen hier einen einzigen stark interpolierten
Hymnus, während ihn Deiters *) in drei und Lehrs ^) in nicht
weniger als fünf Fragmente spaltet. V. 1 — 34 ist offenbar ein
Hymnus an die helikonischen Musen , dessen Verfasser die
Theogonie bereits für hesiodisch hielt und ihren Ursprung aus
Eingebung der Musen erklären wollte; es war ein Rhapsode,
der die Theogonie vortrug. Später legte man das Stück imit
leichten Aenderungen Hesiod in den Mund, obgleich V. 22
stehen blieb. Der zweite Hymnus V. 36 — 52 richtet sich
dagegen an die olympischen Musen ; der Dorier *') gibt zum
Schlüsse einen UeberbHck über die Theogonie. Daran traten
zwei Fragmente von Musenhymnen, eines dorischen ^) V. 53 — 80
und eines jonischen V. 81 — 103^), wodurch jene geschickt ge-
1) Sy.stem der hesiodischen Kosmogonie, Lpg. 1874.
2) Die Literatur steht bei Göttling-Flaeh Hesiodi carmina S. XLV
A. 24; speziell vgl. Herrn. Deiters de Hesiodi Theogoniae prooemio, Bonn
1863; Gust. Ellger de prooemio Theogoniae, Berlin 1871; Fritz Ehling
Composition der Theogonie, 1. Teil Proömium, Clausthal 1875 (Hier werden,
die älteren Ansichten zusammengestellt); G. Ellger die Zusätze zu dem
Proömium der Hesiodischen Theogonie, Berlin 1883.
3) Philol. 17, 124.
4) A. O.
5) Populäre Aufsätze S. 235 f.
G) Vgl. ö-sGtv V. 41 ; V. 44 — 52 scheinen drei Strophen zu bilden.
7) V. 60 xoüpa;;.
8) Von diesem verwertete ein Rhapsode V. 94 — 7 als eigenes Proömium.
(Hyran. Hom. 25).
206 ^- Kapitel.
gebene Inhaltsangabe zuweit von dem Gedichte abrückte; so
■wurde eine neue üebersicht (V. 105 — 13), wiederum in drei
Strophen mit zwei abschhessenden Versen zerfallend, notwendig.
Innerhalb der Dichtung selbst stossen unverkennbar störende
Abschnitte auf: V. 207—10 stehen abgerissen da; V. 217—22
sind bei V. 211 und 904 ff. unnötig. V. i?65— 9 und 270—330
(Geschlecht des Phorkys und der Keto) trennen V. 263 un-
gehörig von V. 337 ; auch hat dieser Abschnitt vieles auf-
fallende und passt nicht recht in die Theogonie. Er entspricht
-der Vorliebe, welche die letzten Jahrhunderte unserer Periode
für Sagen von Ungeheuern hegten. In vollster Blüte steht
dieses Interesse in den Bildern des amykläischen Thrones. Auch
sonst lieben die ältesten Künstler, Perseus und Medea, Bel-
lerophon und die Chimaira, die kalydonische Jagd, Herakles
mit der Hydra und dem Löwen und ähnliche Kämpfe darzu-
stellen ; wahrscheinlich wirkten dabei die orientalischen Dar-
stellungen phantastischer Wesen auf den Geschmack. An
V. 380 reiht sich wieder V. 404, durch einen Abschnitt (V.
383 — 403), der von der Styx handelt, getrennt; auch dieser
überschreitet das gewöhnliche knappe Mass der Dichtung. Von
dem Hymnus an Hekate (V. 411 — 52) war bereits die Rede. ^)
Zwischen der Schilderhebung des Zeus V. 501 ff. und dem
daraus entspringenden Titaneukriege (V. 617 — 745) liegt wieder
ein unzeitiger Absatz über Prometheusmythen, der, wie das
ähnliche Stück am Anfange der Erga, eine polemische Tendenz
gegen das weibliche Geschlecht enthält. Von V. 745 sollten
wir dann unmittelbar zu V. 881 — 5, die den Kampf schliessen,
gelangen; dazwisciißn schieben sich V. 746 — 819, eine Liste
der Unterweltsbewohner, aus meist jungen und lose mit ivd-ct
-angereihten Stückchen bestehend, ausserdem V.820 — 80 (Typhoeus
und sein (^esclilecht.) Jener Abschnitt widerspricht der Theo-
gonie in mehreren Punkten, letzterer korrespondiert mit dem
oben verworfenen Ungeheuerkatalog. Von V. 885 schreitet die
Erzählung ohne Anstoss bis 929 weiter, die Zeusgeburten, bei
denen die Namen der Musen aus dem Proömium V. 77 — 79
einzusetzen sind, und im Anschlüsse daran Hephaistos' wunder-
bare Entstehung behandelnd. V. 930 bis 962 bilden einen bunt
gemischten Anhang; als endlich die Theogonie mit dem xatä-
1) 8. 200.
Ei>ische Hymueu uud Theogonieu. 207
>.0Y0C YDvar/.wv verbunden wurde, fügte der sehr späte Sammler
zum Uebergange ein Verzeichnis der Kinder, welche Göttin en
sterblichen Männern gebaren, hinzu. ^)
Ehminieren wir diese Bestandteile, so erhalten wir zwar
kein vortreffhehes Gedicht, aber doch eine ganz passende Dar-
stellung der Götterwelt. Da dem Dichter Gewandtheit im Aus-
druck und im Versbau mangelt, dürfen ungelenke Uebergange
kein Bedenken erregen. Bedeutende Lücken sind nicht nach-
zuweisen^), weil es dem Dichter freisteht, nicht von jeder er-
wähnten Gottheit wieder Kinder zu nennen. Die Theogonie
teilt sich nun in zwei grundverschiedene, aber nicht ungeschickt
verknüpfte Massen, epische Erzählungen und knappe Genea-
logien; letztere und nur diese sind, wie überhaupt die Strophe
regelrecht blos bei Katalogen steht, an die Strophenform ge-
bunden und wir können in allen alten Partien mit Ausscheidung
weniger überflüssiger Verse ^) dreizeilige Strophen herstellen.
Die beiden epischen Partien haben nur am Anfang und Ende
des Ueberganges wegen die! Strophenform (V. 154 ff. 201 ff.
453 ff. 894 ff.). Vielleicht sind auch sie symmetrisch in Ab-
sätze von je neun oder achtzehn Versen gegHedert, doch ist es
rätlich, sich hier zurückhaltend auszusprechen. Jedenfalls
herrscht in der ganzen alten Theogonie eine grosse Synnnetrie,
die freilich zu nicht wenigen sonst überflüssigen Versen führte^);
die Herausgeber haben nichts eiligeres zu thun als sie alle zu
streichen. Wenngleich in der That ungewöhnlich viele Doppel-
recensionen vorkommen^), ist eüi gewisser Gliederparallelismus
nicht zu leugnen^ aber er erhöht unstreitig die Feierlichkeit
1) Weyeu Atrios (So ist für "Ayp'.oc zu schieibeu) und Latiuos geschah
dies wahrscheinlich vor dem Auftauchen der latiuischen Äneassage, aber auch
nicht sehr hinge vorher, da der Verfasser die Völker Ober- und Mittelitaliens
mit Odysseus verbindet, also einen anderen Weg der Hellenisieruug ein-
schlägt; andererseits muss Hatria bereits bekannt gewesen sein.
2) Schömann opusc. II 393 — 424 gegen Mützell.
3) V. 119. 138. 144—5. 153 (vgl. 146). 158. 230. 234. 264. 364—70 (oder
blos 365—70?). 373. 381—2 (wahrscheinlich im Interesse der östlichen Lokrer,
die den Morgenstern im Wappen führten, interpoliert). 408. 910—11 (wofür
908 beizubehalten ist); V. 144—5, 408 und 910—11 sind schon von anderen
gestrichen.
4) Z. B. V. 224. 271. (639 ff...
5) Z. B. V. 144 f. 195 ff. 367 ff. 407 f.
208 •■'• ''Kapitel.
«les Tones. ^) Der Dichter steht aber unter dem Banne der
Strophe, da er nicht das Gesclück, die Fessel in eine heilsame
»Schränke zu verwandeln, besitzt. Seine Schwäche zeigt er auch
darin, dass er bei dem lebhafter bewegten Titanenkampfe fort-
während von dem Dichter der Ilias Verse und Wendungen
borgt; trotzdem bleibt der Kampf ein Aufeinanderschlagen ohne
[)lastische Episoden. Bei der beliebten Erfinduiig von Namen
zeigt sich selten poetisches Gefühl ; nur im Nereiden katalog hat
der Zauber des Meeres das nüchterne Gemüt erregt. Jenes
Stück beweist , dass man das ewig wechselnde Naturschauspiel
fortwährend beobachtete und jeder Seite des Meerlebens durcli
einen eigenen Namen gleichsam Dauer zu geben versuchte.
Wir haben zum Schlüsse nachzuholen, was der Dialekt des
Gedichtes über seine Heimat verrät. Die alten Partien scheinen
nach izeplayB (678 , eigentlich Trspoia/e) und Tispov/^Bzai (733)
büotisch oder norddorisch. ^) Dagegen erweiterten dorische
Sänger dieses böotische Gedicht bedeutend; sie dürften im be-
sonderen Lokrer oder auch Phoker gewesen sein. Ihnen ge-
hören V. 383—403 (von Styx), die Prometheusmythen V. 507
— 616 und vielleicht die Nekyia V. 767 — 819, an kleineren Inter-
polationen V, 265 — 9 und 653 an.^) Aber die Böoter selbst
standen keineswegs zurück ; wenigstens deuten bei V. 270 — 336
<Pi7.-x = X'f'lYva (326), vielleicht auch rjv (321) und der teilweise
Gebraufh der Strophenform den böotischen Ursprung an.
Es scheint nicht, dass die hesiodische Theogonie grosse
Verbreitung erlangte. Von kanonischem Ansehen als „hellenische
Bibel" ist natürhch von vornherein keine Rede. Ihre meisten
Leser fand sie in den Kreisen der Philosophen und der halb-
philosopliischen Gottesgelehrten; jene bekämpften sie teils, wie
Xenophanes, als Lügenbuch auf das heftigste, teils schätzten
sie es, wie Plato-*), als ältestes Dokument einer spekulativen
1) i:)('.Hhjill» wurde er auch ausserhalb des Orientes in feierlichen Sprüchen
verwindet, .so in griechischen Orakeln, eiiiigemale in der Edda [z. B. Rigsmal
83), vgl. auch K. Blind in der „Gegenwart" 1878 S. 309.
2; UwKÜi; mit kurzem '/ nach dorischer Weise steht in dem unechten
Verse 063. Obgleich v. in Böotien erst spät für tj eintrat, hören viele nicht
auf, die schlechte Etymologie V. 200 eines Interpolators zu einem Böotismus
zn stempeln.
3) Vgl. die dorischen Akknsative auf kurzes ac V. 401. 534. ? 804. 2ß7. 653.
4) Synipos. p. 178b. Cratyl. p. 396 c. 400c. Theaet. p. 155 d.
Epische Hymnen und Theogonien. 209
Weltanschauung hoch. Die Stoiker fanden hier ein bequemes
Material, an dem sie ihre Neigung zum Allegorisieren hin-
länglich befriedigen konnten. ^) Epikur soll sogar durch die
Theogonie auf das philosophische Denken geführt worden sein.
Die Orphiker nutzten sie für ihre theogonischen Gedichte ; noch
in der Kaiserzeit war sie ihnen, wie die orphischen Hymnen
beweisen ^) , geläufig. Auch Pindar scheint als eifriger Mythen-
forscher die Theogonie sorgfältig studiert zu haben. Dagegen
wurde sie schwerlich so populär, dass sie auf Vasen bilder wirkte. ^)
Die Römer hielten sich von iin- so gut wie ganz ferne; daher
benützten sie die lateinischen Kirchenväter trotz ihres Stoff-
reichtums beinahe gar nicht zur Polemik.
Die Idee des Werkes selbst fand mehr Anklang. Während
die Kosmogonien des Linos und Thamyras^), wie die des
Atheners Palaiphatos ^) und des Propheten Epimenides^)
Werke später Philosophen sind, dürfen die Theogonien des
Musaios und sicher die orphische ein höheres Alter bean-
spruchen. Freilich gehen beide nicht über die Zeit des Peisi-
stratos zurück. ^) Jene erwähnt den attischen Heros Tripto-
lemos, noch dazu als Sohn der Uranos und der Ge. ^) Diese ist
ein Werk des Onomakritos, nach dessen Vorgange später zwei
andere Theogonien auftraten.^) Die Athener betrachteten sie,
wenigstens was die Philosophen^") betrifft, mit höchster Ehr-
1) Mützell de em. Theog. p. 280.
2) Büchsenschütz de hymnis Orphicis, Berlin 1851.
3) Luckenbach Jahrbb. Suppl. 11, 636 A. Ein theogonisches Bild,
nämlich die Geburt der Athene", schmückt zuerst ein mit der Franjoisvase
verwandtes Gefäss (Mon. d. I. III 44. 45) ; also lenkten die Künstler vielleicht
erst in den sechziger Olympiaden ihre Augen auf dieses Mythengebiet.
4) Schömann opusc. 2, 4 f.
5) ib. opusc. 2, 6.
6) ib. p. 21 f. Die prosaischen Theogonien des Abaris und Aristeas sind
eiue Erfindung des Lobon (Hiller Ehein. Mus. 33, 522).
7) Anders P. Schuster de veteris Orph. theog. indole atque origine
p. 74—79.
8) ib. p. 6 ff. Kinkel frg. epic. Gr. p. 225 fi".
9j ib. p. 9 ff. Lobeck Aglaophamus S. 347 ff., dazu Giese Rhein. Mus.
8, 70—121; AUg. Encykl. f. Alterth. 5, 999 ff.; P. Schuster de veteris
Orphicae theogoniae indole atque origine, Lpg. 1869; Susemihl Jahrbb.
109, 666 ff.
10) Hippias bei Clem. AI. ström. 6, 265 S. 745 P. Plato Ion 536 b. apol.
41a, vgl. Arist. Ran. 1024 ff.
Situ, Geschichte der griechischen Literatur. 14
210 ^- Kapitel.
furcht und nocli später nahm die orphische Theogonie in den
Bücherschränken einen ehrenvollen Platz ^) ein. Dagegen
nannte sie schon Herodot (2, 53), sonst nicht eben ein scharfer
Kritiker, unecht. Diese ältere Theogonie allein lasen Plato,
Aristoteles und Eudeinos ^) ; die übrige orphische Literatur liegt,
die TsXetat ausgenommen, ausserhalb des Bereiches dieser
Periode. Auf viel ältere Orphikerschriften soll Heraklit^) hin-
weisen, wenn er sagt, Pythagoras habe in dem Dionysosheiligtum
des Balkan uralte Aufzeichnungen des Orpheus eingesehen und
benützt; aber die Handschriften nennen als Gewährsmann statt
des berühmten Philosophen den verrufenen Herakleides.
Von diesen theogonischen und kosmogonischen Dichtern
werden Musaios, Orpheus und Linos unter dem Namen ,, Theo-
logen'' zusammengefasst.*)
Hier ist wohl der geeignetste Platz, um die prophetisch-
mystischen Epen, die aus der Peisistratidenzeit und den
nächsten Jahrzehnten stammen, ein für allemal abzumachen.
In jener Zeit ergab sich aus einem Kompromiss zwischen der
ReHgion und der Naturphilosophie, wobei mystisches Dunkel
die unversöhnlichen Differenzen verhüllte, ein wunderliches
Treiben, in das viele gebildete Männer hineingezogen wurden.
Athen war zugleich die Heimstätte der rationaüstischen Auf-
klärung und des Mysticismus. Ein mystischer Zustand des
Geistes ruft immer eine merkwürdige Schreibseligkeit hervor,
von der wir, was die Griechen anlangt, wenig bemerken, da
von der umfangreichen mystischen Literatur nur dürftige
Fragmente das Altertum überdauert haben. Athens Stadt-
prophet war Musaios^); seinen Namen tragen die bereits
erwähnte Theogonie^), die Eumolpia (ein an seinen angeblichen
1) Alexis bei Athen. 4, 164c.
2) P. Sehnst er de veteris Orphicae theogouiae indole atque origiiie,
Lpg. 1869 p. 4— 23; Susemihl Jahrbb. 109, 666 flf.; Zeller Philosophie
der Griechen I ' S. 68—73. B, Giseke philol. Anz. 1873 S. 21 ff. nahm an,
das« es vor Aristoteles nur XE/.etat, die auch theogouisches enthielten, gab.
3) Schol. Eurip. Ale. 983.
4) Anglist, civ. d. 18, 14. 37, vgl. 18, 24, auch Schol. Dion. Thr. p. 785,
18; Clem. ström. 6, 238 S (659 P). Orpheus heisst auch xax' e^o^'^iv ö ö-eo-
XoY»? (CleBi. AI. Strom. 6, 244 8. 676 P).
6) Passow Musäos, Lpg. 1810; Kinkel p. 218 flf.
6) Pan». 10, 6, 6 (3).
Epische Hymnen und Theogonieu. 211
Sohn Eumolpos gerichtetes Lehrgedicht) ^), dann ein Epos ;:spl
^sajrpcDTwv (ein freches Plagiat an der Telegonie) ^) , ferner ein
vermuthch ebenfalls episches Gedicht xparYjp^) und die zwischen
ihm und Orpheus streitige ayaipa, eine* Beschreibung des
Zodiacus. ^) Ilspi 'Ia^[iiwv ist spurlos verschwunden ; die mu-
säische Titanomachie ist sicherlich von der gewöhnlich ge-
nannten nicht verschieden oder ein Teil der Theogonie. 'Axsastc
vdawv gehörte als Lehrbuch der sympathetischen Medicin in
denselben Kreis ^), während für das Heil der Seelen die „Weihen",
„Reinigungen" oder „Lösungen"^) sorgten. Dazu kamen end-
lich Orakel, die Onomakritos mit grosser Willkür zusammen-
stellte,^) und je ein Hymnus auf Dionysos und Demeter. Pau-
saunias erklärt den letzteren unter allen Werken für allein
echt^); denn die Lykomiden hatten ihn bei ihren Familien-
opfern bewahrt.^)
Eine umfangreichere Thätigkeit entwickelte sich unter dem
nominellen Schutze des Epimenides von Kreta^^), der auf
Solons Autrieb Athen von Blutschuld reinigte. Es existierte
zunächst eine genealogische Dichtung, die Demetrios von
Magnesia einem homonymen Dichter beilegte. Es versteht sich
weiters von selbst, dass man auch xaO-ap;xot ^^) und vielleicht
1) Suid. 67ro9'Y|Xac Eö}j.6X7ru) xü) ulü).
2) Umgekehrt Clem. AI. ström. 6, 266 S. 751 P (ebenso Lob eck Aglaoph.
p. 370); ohne Verfassernamen citiert es Pausauias 8, 12, 5 (3). Wahrschein-
lich veranlasste den Fälscher das thesprotische Kessel- und Totenorakel und
die dodonäische Stätte zu seiner Bemühung.
3) Serv. Verg. A. 6, 667.
4) Diog. L. I prooem. 3; Schol. Vict. S 570 vj Se xaXou|j.£VY) wcpaipa
KOtYjjAa ioTCV sie xöv Alvov ävatpspEtat 8s et;; Aivov.
5) Arist. Ran. 1033.
6) TsXsxai, xaS-apfiot und Tiapaluaen; (Schol. Arist. Kan. 1033) scheinen
identisch.
7) Herod. 7, 6 ; Lasos verriet seine Fälschungen, was ihn zur Flucht aus
Athen nötigte, vgl. Gerhard gesammelte Abh. 2, 210.
8) Paus. 1, 22, 7.
9) Von Schriften des Eumolpos fabelt Lobon bei Suid. s. v. (Hill er
Rhein. Mus. 33, 522 f.).
10) Hock Kreta 2, 246 flf.; Kinkel p. 230 flf.
11) In Veisen (Strabo 10, 479), nicht in Prosa (Suidas) ; vgl. Daub Jahrbb.
123, 242.
14*
222 6- Kapit«!.
Orakel ^) las. Um die TeX/tviax-rj lazopia^) stritt mit Epimenidesr
der dunkle Ehrenmann Telekleides. Andere fälschten Briefe
in dorischer Mundart oder, wenn sie sich die Mühe sparen
wollten, in der gemSinen Sprache. ^) Daran erkannte Demetrios
eofort, dass der an Solon gerichtete Brief über die Verfassung
des Minos unecht sei.
Die mystische Richtung blieb nicht auf Attika beschränkt,
sondern verbreitete sich über Mittelgriechenland, weshalb wir
hier eine Gruppe von angeblich hesiodischen Schriften ähnlicher
Art treffen.^) Die bekannteste war die Melampodia^) in
mehreren Büchern, die wir das griechische Prophetenbuch
nennen dürfen. Es umfasste wahrscheinlich die Schicksale der
berühmten Seher Melampus, Amphilochos, Kalchas und Tei-
resias. In diesen abergläubischen Stoff mischt sich aber die
frivole Geschichte von einem Problem, das nur Teiresias als
doppelgeschlechtig lösen konnte. ^) Ein Gedicht Jt s p l '1 § a t w v
AaxToXwv') erwähnt blos Suidas. ^) Ueber die von Pausanias ^)
erwähnten szy] {xavtad (speziell über den Vogelflug) ^°) und die
kiri'criOBic: sttI tspaatv wissen wir so viel, dass man Hesiod auf
Grund derselben mit akarnanischen Sehern in Verbindung
brachte.")
Bei den Apolloverehrern lag ein mystischer Keim in den
Hyperboreersagen und er entging den Mystikern nicht. Der
1) Hiller Rhein. Mus. 33, 627.
2) Ath. 7, 282 6 ; damit scheinen identisch die dorische Schrift über
Rhodos (Demetr.Ss bei Diog. L. 1, 115) und vielleicht die Kp-/)Ttxd (Robert
Eratosth. frg. p. 241 ff. 261).
8) Diog. L. 1, 112. Rohde der griechische Roman S. 261 A. erschliesst
aus Paus. 8, 18, 2 und Suidas s. v. eine „Hadesfahrt des Epimenides." Ueber
die Lügen des Lobon Hiller Rhein. Mus. 33, 528 f.
, 4) Marckscheffel Hes. frg. p. 169 ff.
6) Göttling-Flach p. 328 ff. Kinkel p. 161 ff.
6) Fr. 179 K.
7) Lobeck Aglaopharaus p. 1156 ff.; ööttling - Flach p. 291; Kinkel
p. 160 f.
8) Suidas v. 'H^ioSoc-
9) 9, 31, 5.
10) 'Opv'.frojjLavTEia Proklos zu Hes. E. 824. Nach diesem schlössen manche
dieses Gedicht au die Erga an, aber Apollonias von Rhodos verwarf es.
11) Marckscheffel 8. 172 ff.
Epische Hymnen uud Theogouien. 213
hyperboreische Prophet Abaris^) hinterliess angeblich Orakel
und „Sühnuugen", ausserdem 'ATröXXwyo? oLtpi^a; sie Tjispßopsooc
und Ya^JLOc ^'Eßpoo. Ein Brief des Abaris steht unter denen des
Phalaris (Nr. 57). Wenn wir die bestimmten Zeitangaben über
sein Erscheinen in Griechenland lesen ^) und doch sehen , wie
weit sie auseinanderliegen, werden wir unwillkürHch an den
ewigen Juden gemahnt, von dem ja auch in deutschen Chroniken
bemerkt Mdrd, er sei in dem oder dem Jahre in einer Stadt
gesehen worden.
Aristeas ^) scheint nach der l^radition eher eine historische
Persönlichheit zu sein. Man behauptete, er sei aus Prokonnes,
nannte den Namen des Vaters und setzte ihn in die Zeit des
Krösus und Kyros; dabei sind aber trotz dieses hellen Jahr-
hunderts^) die wunderbarsten obendrein schon Herodot bekannten
<jeschichten im Umlauf. Es ist indes wahrscheinlich, dass er
mit dem freundlichen Schutzgeiste Aristaios^), der nach dem
Mythos einst ein frommer Mensch gewesen , enge verwandt,
wenn nicht dieselbe Person ist. Genug, unter seinem Namen
lag den Alten neben einer bereits genannten Theogonie ein
dreiteiliges Epos 'Apt{jidaxeta vor; sein Alter wird durch
Herodots Zeugnis^) verbürgt. Es schilderte in der Form, dass
Aristeas seine Wanderungen erzählte, die jenseits der thrakischeu
Berge gelegenen Wunderländer des Apollo. Mit den Hyper-
boreern verbinden sich hier die ebenfalls als fromm gepriesenen
Arimaspen in Hochasien; die dort wohnenden goldsuchenden
Ameisen'') sind die erste Spur einer Nachricht von Indien. Es
1) Kinkel p. 242 f.
2) Ol. 3 nach Nikostratos (Harpokr.), Ol. 21 nach anderen (Harpokr.);
Findar (bei Harpokration) machte ihn zu einem Zeitgenossen des Krösus,
weshalb Suidas Ol. 53 angibt.
3) Kinkel p. 243 ff.
4) A. V. Gutschmid bei Niese der hom. Schiffskatalog S. 49 A. befür-
wortet die Angabe des Herodot (4, 15), Aristeas habe 240 Jahre vor ihm, also
wahrscheinlich um 690 gelebt. Bei Suidas ist Ol. 58 zu lesen (Rohde Rhein.
Mus. 33, 181 A. 2). Sollte bei den verschiedenen Ansätzen die Erwähnung
eines Falles von Sardes im Spiele sein?
5) O. Müller Dorier 1, 281 ff. Orchomenos 348; Bröndsted Reisen
und Forschungen in Griechenland 1, 42 ff.
6) 4, 14, vgl. Find. fr. 194 Böckh, 271 Bergk; Dionys von Halikarnass
(lud. de Thuc. 23) zweifelte nichtsdestoweniger daran.
7) Fr. Schiern über den Ursprung der Sage von den goldgrabendea
Ameisen, Kopenh. 1873.
214 ö- Kapitel.
scheint, dass mannigfaltige Schiffer- und Karawanenerzählungen
in diesem ersten geographischen Buche zusammenflössen. ^) Des
Inhalts wegen lag es der Zeit des Hekataios und Herodot
natürlich sehr nahe^); der Verfasser war jedenfalls ein Jonier,
da sein Heimatland in unserer Periode der Centralpunkt für
die wichtigsten Handelsunternehmungen war. Hier ist bereits
der geographische Roman der nachklassischen Zeit, zu welchem
die Odyssee den ersten Keim gelegt hatte , vorgebildet. ^) Die
Arimaspeia ist deshalb das einzige Gedicht dieser mystischen
Literatur, das über die frommen Kreise hinaus Beachtung ver-
diente und wirklich fand. Aschylus benützte es in der Pro-
metheustrilogie^) und noch nach Alexander verwertete der
attische Vasenmaler Xenophantos seine Fabeln zu einem präch-
tigen Bilde. ^) Aber Gellius zog die Dichtung bereits mit
anderen Wundergeschichten aus dem Staube eines Antiquariates
hervor. **)
1) Fr. 1 hören wir zuerst von Pfahlbauern.
2) Niebuhr kleine Schriften 1, 361. Prokonnes entstand unter Gyge»
(Strabo 13, 587) und das Gedicht setzte den Einfall der Kimmerier voraus
(Herod. 4, 13).
8) Diese ganze Gattung schildert Roh de der griechische Roman und
seine Vorläufer S. 167 flf. in ausgezeichneter "Weise.
4) Rohde a. O. S. 176 A. 2.
6) Es wurde in Pantikapaion gefunden, vgl. Jahn Katalog der Münchner
Vasensamralung S. XXVni. CCIX A. 1364.
6) 9, 4, 3.
7. Kapitel.
Didaktische Poesie und kleinere
hexametrische Gedichte.
Spruchdichtung — H e s i o d (Erga) — Erga megala — Cheiron — Pittheus —
Periandros — philosophische Gedichte des Xenophanes — Orakel — Kerkopen
— Margites — homerische Epigramme — metrische Grabschriften.
Der Hexameter war vor der Ausbildung der Lyrik, soweit
es sich Dicht um Tanz und wirkHchen Gesang handelte, das
Universalinetrum ; darum hiess er einfach säoc ,,Rede". Ob-
wohl er ursprünglich für das erzählende Epos geschaffen war,
verwandte man ihn zunächst auch für die didaktische
Poesie, gerade wie Franzosen und Deutsche im Mittelalter ihren
epischen Vers auf diese übertrugen. Es fehlte nicht an allerlei
Fäden , welche jenen Uebergang vermittelten. Vor allem ver-
schmähte auch das Epos die Gnomen nicht, wenn es gleich
dieselben einer Person in den Mund legte und für einen be-
stimmten Fall verwendete. Nestor war im troischen Sagen-
kreise, Amphiaraos im thebanischen der Ratgeber der jünge-
ren Gefährten , der nicht blos ältere Erlebnisse mitteilte , son-
dern auch seine Erfahrungen in nützliche Regeln zusammen-
fasste. Während in der alten Ilias sich keine besondere
Vorliebe für Gnomen zeigt, treffen wir dagegen in einem
später angefügten Gesänge eine lange an seinen Sohn Anti-
lochos gerichtete Mahnrede Nestors, die schon ein Lehrgedicht
en miniature über die Kunst des Wagenlenkens (¥ 306 — 48)
vorstellt. Die Vorhebe für Gnomen nahm aber, wie wir an
der Odyssee und besonders ihren Nachdichtungen fühlen, immer
mehr zu, weshalb ihnen die Epiker einen grösseren Platz ein-
216 7. Kapitel.
räumten.^) In der berühmten Thebais war ein längerer Ab-
schnitt, welcher die von Amphiaraos seinem Sohne Amphi-
loclios erteilten Ratschläge enthielt, der Glanzpunkt; Pindar
und die Tragiker erwähnten ihn, Theognis benützte die dort
ausgesprochenen Gnomen und Künstler stellten die Scene dar.^)
Die Theseis scheint Pittheus, dem Grossvater des Theseus, eine
ähnliche Rolle zugeteilt zu haben ^); ebenso rühmt man andere
Könige der Heroen zeit wegen ihrer Weisheit.*) In dieser
hübschen Form, die das allgemein menschliche mit dem per-
sönlichen und augenblicklichen mischte, suchten die jonischen
Dichter ihren Zuhörern weise Lehren mundgerecht zu machen.^)
Im Mutterlande brauchten die goldenen Aepfel nicht in
silberner Schale dargeboten zu werden. Wie man gerne die
Fabeln zu kurzen Sprichwörtern zusammenzog, entlehnten die
Dorier ursprünglich wohl aus Epen einzelne Hexameter, bis sie
selbständig gewisse Kernsprüche in einen Vers zusammen-
drängten. Von den Lebensgrundsätzen, welche die sogenannte
delphische Säule^) im Heiligtum des Pythiers lehrte, erhi-
nert zwar nur der Spruch kf-fba, Ttdpa §'aTr] an einen Hexame-
ter; dagegen waren viele Verse als Aussprüche der sieben
Weisen^) im Umlauf, ohne dass wir wüssten, wie viel davon
altes Gut und wie viel auch in alter Form überliefert ist. Was
jene willkürliche Vereinigung von berühmten Gesetzgebern und
Weisen der älteren Zeit anlangt , so hat eine Erörterung der
verschiedenen Listen für die Literaturgeschichte keinen Wert;
1) Das 11. und 13. homerische Epigramm sind wahrscheinlich aus Epen
excerpiert.
2) Bergk de com. Att. p. 220 und zu Theognis S. 215 f.
8) Sehne idewin de Pittheo Troezenio , Gott. 1842; nach Schol. Her-
mog. IV p. 43 (vgl. Spengel auvaYWY*»] p. 6 sq.) verfasste Pittheus ein Lehr-
buch der Khetorik!
4) U. A. Roh de de vett. poetarum sapieutia gnomica, Kopenh.'1880;
Suidas führt v. Eiri^oy.rj einen Spruch des Hyllos oder Echemos an.
5) An modernen Parallelen erwähne ich blos die Scenen zwischen Polo-
uius und Laertes und zwischen Don Quijote und seinem Knappen.
6) Göttling gesamm. Abhandlungen 1, 221 ff'. (Berichte der sächs. Ge-
sellschaft l, 298 flf.); Ferd. Schnitze die Sprüche der delphischen Säule, im
Philol. 24, 193 ff.
7) Orelli opusc. sent. I 138—206. 626 ff.; Mullach frg. philos. Graec.
1, 121 ff".; V. Leutsch Philol. 30, 129 ff.; anders Hill er die literarische
Thätigkeit der sieben Weisen, Rhein. Mus. 33, 618 ff.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 217
die angebliche literarische Thätigkeit der einzelnen wird an
den passenden Stellen zur Sprache kommen. In Athen führten
die Peisistratiden die Spruchpoesie offiziell ein, indem Hip-
parchos'die Meilensteine und Hermen mit je einem Verse be-
schreiben Hess.^) Die Inschriften begannen mit den Worten
|xvf^[Aa TöS' 'iTTTrap'/ou und gaben dann eine moralische oder
pohtische Sentenz, z. B. ,, Betrüge einen Freund nicht." Ein
solcher poetischer Stein ist bis auf unsere Tage erhalten.^)
Aus einer reichen Fülle solcher Spruchverse ergab sich dann
die Möglichkeit grösserer Spruchgedichte, in denen jene
Lehren in einen gewissen Zusammenhang gebracht waren.
Sie werden alle dem Hesiod beigelegt, weil er der Verfasser
des ältesten und berühmtesten, der spya xai i^iispai, war.
Denn an dieser Thatsache ist nicht zu zweifeln, da die heliko-
nischen Böoter diese Schrift allein als hesiodisch anerkannten
und eine uralte Bleihandschrift derselben vorzuweisen hatten.^)
An dieser Stelle ergibt sich also die Notweniiigkeit, was die
Alten von Hesiod wussten oder zu wissen vorgaben, darzulegen.
Welcker'^) würde freilich, wenn er Recht hätte, eine solche Ar-
beit ziemlich überflüssig machen ; er betrachtet nämHch Hesiod
als eine blosse Personifikation, weil sein Name nur einen Sänger
im Allgemeinen bezeichnet. Aber seine von Clemm^) nach den
Gesetzen der Sprachvergleichung modificierte Etymologie ist
höchst unwahrscheinlich. Da wir über das Leben des Hesiod
sehr verschiedenartige Nachrichten haben,^) so wollen wir zu-
nächst betrachten, ob die Griechen andere Quellen als die uns
ja auch vorliegenden Dichtungen benützten. Die alten Nach-
richten sind hauptsächlich in dem y^^oc 'HawSou, das nicht von
Proklos, sondern von Tzetzes herrührt,'') und dem früher be-
sprochenen Certamen Homeri et Hesiodi zusammengestellt;
1) Ps. Plato Hipparch p. 228 c ff. Aesch. in Ctes. 183 ff. vgl. Harpoer.
Epfj.al.
2) C. Inscr. Att. I 522 (CIG. I 12).
3) Paus. 9, 31, 4.
4) Theogonie S. 5.
5) De compositis Graecis quae a verbis incipiunt p. 28.
6) Vgl. die Ausgabe von Göttling-Flach p. IX— XXXIII; Flach Hermes
457 ff.
7) Kose Aristot. pseudepigr. 508 fl".
218 7. Kapitel.
beide stammen aus einer geraeinsamen Quelle.*) Schon früher
hatten der erste „Grammatiker" Autodoros von Kyme,^) Her«-
kleides von Heraklea,^) der Kyniker Kleomenes'') und Plutarch^)
über Hesiod geschrieben ; weniger wissenschaftliche 2?Wecke ver-
folgte der Rhetor Alkidamas in seinem Museion, ") sowie die
Gedichte des Eratosthenes und Euphorion.^) Die Knäuel der
alten Genealogien entwirrte auch hier Rohde^) endgiltig. Nicht
alte Tradition ist es jedenfalls, wenn Hesiods Vater Dies heisst,
da diese Angabe aus einem Missverständnisse von Siov ysvoc
(V. 299) entsprang.^) Die Sage, dass Hesiod zweimal gelebt
habe, verherrlichte zwar schon Pindar*") in einem Epigramm;
aber sie ging nur aus der Existenz von verschiedenen Gräbern,
da eines zu Askra und ein anderes in Orchomenos sich befand,
bervor. Die Orchomenier , in deren Bürgerschaft die Askräer,
Hesiods Mitbürger, eintraten, wollten nämlich Hesiods Gebeine
aus Naupaktos geholt haben. Jedenfalls war es allgemeine
Tradition, die immerhin Beachtung findet, dass Hesiod nicht
zu Askra starb, sondern in Oinoe bei Naupaktos ein gewaltsames
Ende fand.**) Der falsche Verdacht, ein Mädchen verführt zu
haben, brachte ihm den Tod. Die Erga selbst stellen nun
Hesiod als einen Landmann dar, der, von einem aus Kyme
eingewanderten Vater geboren , in dem böotischen Orte Askra
am P'usse des HeHkon seinen Acker bebaute, aber auch etwa
wie die Meistersinger zu Zeiten seine Geschäfte bei Seite stellte
und im Dienste der helikonischen Musen als Sänger zu den
Agonen zog; wurden doch auf dem Helikon selbst Wettspiele
1) O. Friedel Jahrbb. Sappl. 10, 271 flf.
2) Cramer Anecd. Ox. 4, 310.
8) Diog. L. 6, 92.
4) Clem. AI. ström. 1, 129 S. 861 P.
6) Katalog des Lamprokles Nr. 35.
6) Nietzsche Rhein. Mus. 25, 536 flF.
7) Said, 8. V.
8) Rhein. Mus. 86, 380 ff.
9) Aehnlich machte Polyzelos nach den Schollen aus tovyi (E. 10) einen
chalkidischen Herrscher Tynes.
10) Bergk Pindari Carmina *479.
11) O. Friedel die Sage vom Tode Hesiods nach ihren Quellen unter-
ancht, Jahrbb. Suppl. 10, 233 ff.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 219
abgehalten. ^) Und das Glück war ihm auf semen Fahrten^
hold; so errang er bei den Leichenspielen des chalkidischen
Königs Amphidamas den Ehrenpreis. Dennoch war Hesiod mit
dem Leben nicht zufrieden. Die Frauen müssen ihm bös mit-
gespielt haben, wofür er sich mit satirischen Versen rächte, und
sein Bruder Perses hatte, wie er behauptete, durch die Bestech-
lichkeit der Richter einen Erbschaftsprozess gegen ihn gewon-
nen. Da nun dieser heruntergekommen , benützte er dessen
drückende Lage, um ihm eine Strafpredigt zu halten und g\it&
Lehren zu erteilen. So viel meldet das Gedicht selbst, wenn,
anders alle darauf bezüglichen Verse von Hesiod herrühren.
Auch bei der Bestimmung seiner Lebenszeit waren die-
Alten nicht besser als wir gestellt ; sie bestimmten seine Zeit
nur vermutungsweise im Verhältnis zu der des Homer. ^) Die
landläufige Meinung, welche beide Dichter gleichzeitig leben.
Hess, empfahl sich sowohl durch die BequemHchkeit als durch
die Sage, Hesiod habe in jenem chalkidischen Wettstreite Homer
zum Gegner gehabt,^) und fand unter den Gelehrten ihre an-
sehnlichsten Vertreter an Herodot^) und Cornelius Nepos.^)
Dagegen setzten die Alexandriner, weil sie die mythologischen
und etymologischen Anschauungen bei Hesiod fortgeschritten
fanden, letzteren später an; Eratosthenes hatte diese Unter-
suchung begonnen und Aristarch sie weiter geführt.*) Woraus-
sich Xenophanes seine identische Ansicht gebildet hatte, wenn
er wirklich Hesiod für später hielt, ^) weiss ich nicht. Anders
1) Vgl. Nikokrates :t£pl toü iv ''EX'.xüJvt ä'nb^joq und Amphion nepi xoö
ev 'EXtxcüvi fjLooosiou (Bergk anall. Alex. I 21, .Jahn Rhein. Mus. 6, 636).
Auf dem Helikon befand sich später mindestens ein uralter Dreifu.S8 als
Weihgeschenk eines Sängers.
2) E. Roh de Rhein. Mu.s. 36, 416 ff. Welcker Theogonie S. 19 L
.stellt die Ansichten einiger neueren zusammen.
3) Certamen Hom. et He.siodi; Philostr. her. p. 727; Dio Chrys. or. 23 I
p. 76. In Versen, die Philochoros bei Schol. Pind. Nem. 2, 1 aufbewahrte,
soll Hesiod einen anderen Wettstreit, den er mit Homer auf Delos bestand,
erwähnt haben; vermutlich erschloss man diesen, wie es Bergk that, aus den
beiden Aiwllohymnen. Nach Welcker Theogonie S. 12 standen die Verse
in einem Epigramme.
4) In der berühmten Stelle 2, 53.
5) Gell. 17, 21.
6) Roh de Rhein. Mus. 36, 416 f. A. 1.
7) Tzetz. exeg. in II. p. 19, 2- Vgl. noch Cic. Cato 15. Porphyrios bei
220 7- Kapitel.
Ephoros, der aus lächerlichem Lokalpatriotismus seinen Lands-
mann Hesiod als den ältesten Epiker hinstellen wollte; wirk-
lich folgten ihm manclie, auf völlig nichtige Gründe gestützt.^)
Obgleich die Beweisführung der Alexandriner für den, der blos
die Erga als echthesiodisches Werk betrachtet, keine Kraft
besitzt,^) führen doch andere Erwägungen zu demselben Resul-
tat. Es ist nämlich unzweifelhaft, dass der böotische Dichter
den Dialekt des Epos aus Homer selbst und nicht aus gemein-
samer Quelle entlehnte; denn verschiedene Halbverse und auch
ganze Verse stammen aus Homer, wenn auch die Erga davon
weniger Beispiele als die Theogonie bieten.^) Was den falschen
Anschein der Altertümüchkeit erweckt , ist nur das bäuerische
Wesen, die rusticitas, wenn man mit ihr die Glätte der homeri-
schen Gedichte vergleicht. Dagegen führen die politischen Zu-
stände auf die richtige Betrachtungsweise, llias und Odyssee
stehen noch in der Königszeit , wenn schon in letzterer die
Adelsgeschlechter das absolute Königtum geschwächt haben;
Hesiod lebt dagegen bereits unter dem widerwiUig ertrageneu
Kegime der Aristokraten und hat die Zeit der achäischen Kö-
nige weit hinter sicli.^) Ein demokratischer Zug, der zuerst in
Jonien sich zum Schaden der Aristokratie geltend machte, geht
bereits durch die ganze hellenische Welt. Die Gesangeskunst
dient nicht mehr blos den Edlen zur Ergötzung, auch das ge-
meine Volk kann bei Festspielen den Sänger hören, ja aus
seiner eigenen Mitte treten Dichter auf. Diese wenden sich
nicht mehr an die Vornehmen ausser mit Ausbrüchen der
Unzufriedenheit, sondern zu ihren Mitbürgern und machen ihr
hartes Loos mit aller seiner Trübsal und Einförmigkeit zum
Suidas V. 'üaiohoz bestimmt die Dififerenz vermutungsweise auf eiu Jabihua-
■dert, worin ihm sehr viele beitraten.
1) Motiviert ist die Ansicht bei Accius (Gell. 3, 11) und Philostr. her.
2, 19.
2) Auch Thiersch über die Gedichte des Hesiod S. 15 ff. scheidet noch
nicht, ebenso wenig Isler quaestiones Homericae p. 75 ff. in seineu sprach-
lichen Bemerkungen.
3) Poseidonios bei Tzetz. exeg. in II. p. 19 sagt richtig : Hesiod verdarb
viele homerische Verse.
4) E. 164 f. Nicht einmal das Jahrhundert steht fest; Newtons Versuch,
AUS der astronomischen Angabe £. 564 ff. die Zeit zu berechnen, ist verfehlt,
weil jene za unbestimmt lautet (Ideler Handbuch der Chronologie 1, 246 f.).
Didaktische Poesie iind kleinere hexametrische Gedichte. 221
Gegenstände ihres Gesanges. So wird die Dichtung, die stets
einen gewissen aristokratischen Anstrich behalten sollte, in den
Streit und Kampf des gewöhnlichen Lebens herabgezogen und
streift hier ihren Blütenduft ab. Hart und scharf sind die
Gedanken, schwerfällig folgen sich die Sätze, in der Regel ohne
Verbindung oder mit der nichtssagenden Partikel §£ eingeleitet
die Verse schreiten ebenfalls meist mit schwerer spondeischer
Basis dahin. Hesiods Manier ist eine wenig erquickliche Dich-
tungsart, an welcher , wer eben von der Horaerlectüre kommt,
keinen Geschmack finden wird; dabei ist der ethische Gehalt
zu gering als dass er für den Mangel des poetischen entschä-
digen könnte.
Wie der Kulturgeschichte , so geben die Erga auch in
ihren 828 Versen der höheren Kritik eine Fülle der interessan-
testen Probleme auf Twesten (commentatio critica de He-
siodi carmine quod inscribitur Opera et Dies , Kiel 1815) und
Fr. Thiersch (de gnomicis carminibus Graecorum, Acta philoL
Monac. III 402 ff.) eröffneten die kritische Zersetzung des Ge-
dichtes, welcher die Schutzschriften von F. Ranke (de Hesiodi
Opp. et D., Göttingen 1838 und hesiodische Studien 1840) nicht
Einhalt zu thun vermochten; für jene waren die Erga nichts
weiter als ein Conglomerat aus Trümmern grösserer Gedichte
und vollständigen kleinen Stücken, aber besonders Twesten
sonderte in fruchtbringender Weise die verschiedenartigen Teile.
Seitdem brachte nur Lehrs in den quaestiones epicae^) eineiv
neuen Gesichtspunkt bei, indem er die Gnomen nach Stich-
wörtern geordnet sein liess. Mehr als sonst irgendwo hängt
hier die Forschung von subjektiven Gefühlen ab.^)
Den Hymnus an Zeus V. 1 — 10 erklärten schon Aristarch
und die helikonischen Böotier, auf deren altertümHcher Blei-
tafel er nicht stand, ^) für unecht; auch wir haben keinen Grund,
1) Königsberg 1837 p. 177 ff.
2) Nützlich C. Hey er de Hesiodi carmine quod Opera et Dies inscribitur,
Schwerin 1848; Aug. Steitz de Op. et D. Hesiodi compositione , forma
pristina et interpolationibus, Gott. 1866 und die Werke und Tage des Hesiod,
Lpg. 1869; Hetzel de carminis Hesiodei quod O. et D. inscribitur composi-
tione et interpolationibus, Weilburg 1860.
3) Paus. 9, 31, 4, vgl. Herodian. Rhet. Gr. 8, 586; Aratos glaubte aber
Hesiod nachzubilden, wenn er seiner Dichtung einen Hymnus au Zeus vor-
•«OO 7. Kapitel.
uns dafür zu erwärmen. Die Erga selbst zerfallen in mehrere
grössere Abschnitte: den Pandoramythus V. 42 — 104/) den
Mythus von den vier Weltaltern V. 109—201,2) ^.^^^^ ^[q
eigentlichen sp^a, eine Anweisung zur Landwirtschaft V. 383
bis 499. 536—617, ein Stück über die Schiffahrt mit jenen
biographischen Notizen V. 618—94 und endHch die r^'j-spai (ein
Bauernkalender) V. 765— 828; dazu traten die eigentlichen Sit-
tenlehren V. 11 — 41. 202— 382^) und die praktischen Ratschläge
über Verheiratung, Freundschaft u. dgl. V. 695—764, alles von
wenig Zusammenhang , mehr eine Anthologie von kurzen
Sprüchen, die zum Teil, wie Lehrs erkannte, nach Stichwörtern
geordnet sind.'') Der grösste Teil von V. 383 — 828 scheint
wenn auch nicht von Anfang, so doch frühzeitig ein zusam-
menhängendes Gedicht gebildet zu haben, da Heraklit den
Kalender bereits als hesiodisch kennt ;^) doch stimmen dessen
Angaben nicht recht mit der böotischen Chronologie.*') Am
schwierigsten ist das Urteil über das autobiographische Stück
y. 618 ff.; V. 663—94 bilden ein abgesondertes kleines Ge-
dicht, das Vorschriften über die rechte Zeit der Schiffahrt gibt
und ganz in dem Geiste eines Bauern, der sich auf dem Schiffe
nicht wohl fühlt, ^) gehalten ist. Wir dürfen es schwerhch dem
Hesiod absprechen , wenn es auch nicht in den Rahmen der
Erga passt; es existierte vielmehr für sich und hat jetzt irn
Umfang verloren. Dieses Stück wurde mit der Erga durch
"die Verse 641 — 662 verbunden; aber die Einleitung, welche
aasschickte. Nach Hermesianax V. 26 scheinen mehrere hesiodische Gedichte
einen solchen zum Proömium gehabt zu haben. Vgl. H. Ritter de Hesiodi
operum prooeraio, Gott. 1856.
1) V. 106 — 8 sind schlechte und entlehnte Kittverse.
2) Orig. contra Geis. 4 p. 216 Spencer und Schol. Arat. 97 (Göttling zu
Hes. E. 120) teilen zwei Hexameter über die goldene Zeit aus einer unbekann-
ten Dichtung mit.
8) V. 202 ist wahrscheinlich ebenfalls ein schlechter Kittvers.
4) Köchly Hektors Lösung S. 10 meint, hier manche vorhomerische
Verse zu flndeu; die Alten glauV)ten es wenigstens, denn V. 368 wurde auch
4em weisen Pittheus in den Mund gelegt.
6) Flut. Camill. 19.
6j Böckh GIG, I p. 734. Man bemerke auch, dass Hesiod seineu Bru-
<ler V. 397 und 611, also am Anfang und am Ende der eigentlichen Erga
anredet.
7) Vgl. V. 236 f.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Dichtungen. 223
den Seehandel am höchsten stellt, entspricht weder der Denk-
ungsart des Hesiod noch motiviert sie die Episode genügend ;
der Interpolator ist möglicherweise mit dem Verfasser der
Dichterweihe Hesiods (Theog. 1 ff.), auf die er V. 659 anspielt,
identisch. Die Sage verband also schon damals den uralten
Dreifuss mit dem helikonischen Dichter und den berühmten
Leichenspielen ; über die Zeit des Amphidamas steht leider nur
fest, dass die alten Chronographen seinen Tod zwanzig Jahre
nach der jonischen Wanderung (vielleicht eben wegen der Stelle
in den Erga) setzten.^)
Im Uebrigen liegt der einzige sichere Punkt in der Er-
wähnung des jonischen Monates Lenaion, der über die Natio-
nalität des Verfassers von V. 504 — 35 aufklärt.^) Die gnomi-
schen Verse sind wahrscheinlich Bruchstücke von hexametri-
schen Elegien oder Jamben, wenn ich so sagen darf, die Hesiod
in der Regel an seinen Bruder, einmal auch an die Patrizier
von Askra richtete ; das gleiche gilt von den einleitenden mytho-
logischen Stücken. Diese Gedichte hatten, gerade wie die des
Theognis, teils eine polemische, teils eine ethische Tendenz und
wurden, wiederum wie jene, zertrümmert, damit die Splitter ein
Handbuch bildeten. Die Quasielegien des Hesiod sind noch in
Hexametern abgefasst, weil er offenbar vor Kallinos und Archilo-
•chos lebte; dadurch ergibt sich ein ziemlich sicherer terminus ante
quem. LTnzweifelhafte Böotismen fehlen vollständig, obgleich man
sie bei einem Bauerndichter, der einen weniger hohen Aufschwung
nimmt, erwarten sollte. Wir müssen daher annehmen, dass
man in Askra, weil die Grenze von Lokris nahe war, schon
halb dorisch sprach oder dass sich Hesiod wirklich, wie die
Tradition will , in Lokris aufhielt. ^) Von asianischäohschen
Bestandteilen, die nach Ahrens^) die asiatische Herkunft des
Dichters verbürgen sollen, bemerken wir aber ebenfalls nicht.
In den eigentlichen Erga weicht nur ein dorischer Akkusativ
(V. 564) von dem epischen Dialekte ab^); fast das gleiche ist
1) Roh de lihein. Mus. 36,241 tf.
2) Merkel Philol. 17, 130 weist passend auf Euböa hin, dessen Bewoh-
ner den thrakischen Nordwind empfindlich fühlten.
3) Rergk I 921.
4) Verhandl. der Gott. Phil.- Vers. 1852 S. 73 ff., ebenso Göttling S. XXX f.
5) Vielleicht ist a(|(iv V. 426 beizufügen.
224 ''• Kapitel.
in dem über die Schiffahrt handelnden Abschnitte^) und den
folgenden Vorschriften ^) der Fall und nicht anders steht es mit
der ganzen Einleitung. ^) Die Tradition, die Hesit)d nach Lokris
führt"*), verdient dabei besondere Beachtung, während es ver-
fehlt ist, wenn Ahrens Spuren des delphischen Dialektes finden
wollte. Der Stil ist innerhalb der lehrhaften Partien im allge-
meinen kurz und gedrungen; der Dichter spielt gerne auf
Rätsel an^), z. B. nennt er den Polypen den ,, Beinlosen", die
Schnecke ,, Häuserträgerin", den Greis „einen dreifüssigen Mann" ;
wir befinden uns eben in dem Gebiete der Sphinx. In den
epischen Stücken, welche dem Anfange nahe stehen, erinnert
ein gewisser Gliederparallelismus an die Theogonie, z, ß, drückt
der Dichter V. 152 ff. dreimal den Untergang des ehernen Ge-
schlechtes aus.
Hesiod errang sich trotz dieser Schwerfälligkeit^) bei den
Mittelgriechen einen solchen Ruhm, dass er, da jene sonst
keinen einheimischen alten Dichter kannten, als Verfasser
sämmtlicher in Mittelgriechenland entstandener Gedichte, welches
Inhaltes sie auch sein mochten, galt. In Thespiä bestand ein
eigener Kult zwar nicht des Hesiodos selbst, aber der hesiodischen
Musen. '') Die Griechen erfreuten sich in ihrer Gesammtheit
an seinen Lehren und führten sie teilweise so oft im Munde,
dass der Name des Autors in Vergessenheit geriet. Es gibt
wenige Verse, die uns nicht wenigstens einmal als Citat erhalten
1) V. 663. 675. V. 683 mit atvrjfjit gehört nach G. Hermann zu einer
anderen Recension; ztiot V. 635 ist höchst unsicher.
2) V. 698 TETopa ; V. 696 Tptfjx&vTujv erweckt kein Vertrauen.
3) V. 22 ftptufxsvat. 146 fxeXiäv.
4) Auch der aus einer lokrischen Familie stammende Stesichoros hiess
Ankömmling dos Hesiod.
6) (Jreg. Cor. repl Tprktov c. 23; Bergk I 1020 A. 126. So ergab sich
ein Anlass zu den Kätselspielen des Certamen.
6) Die Rhetoren rühmen an ihm die XstoT-rjc ovofiäxtuv xal cüvO-soic
ifijie/.-fic co}i(j.eTpia twv Tcspttppäactuv (Menander k. eictSetxT. 7) und seine
ä^iltta und y^uxuxtic (Mützell de emend. theog. p. 361 ff. und Welcker
Theogonie S. 22).
7) Mdtsat VAoiö^tioi, wie die späteren Böotier sagten (Keil sjiloge inscr.
Boeot. 93 f.) Auf dem Marktplatze von Thespiä sah man ein Denkmal mit
Statue (Paus. 9, 27, 5). Andere Statuen waren auf dem Helikon (Paus. 9,
80, 8), in Olympia (Paus. 5, 26, 2 von dem Rheginer Mikythos Ol. 76—8
errichtet) und in Byzanz (Christod! 38 ff.).
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 225
sind. ^) Die Lyriker und nnter ihnen Theognis variierten gerne
hesiodische Gnomen. ^) In Athen und später in anderen Städten
lernte sie der Knabe auswendig^); dort hielten Sophisten im
Lykeion über die Erga Vorträge ^) und Isokrates erklärte Hesiod
für den besten Lehrer der menschhchen Weisheit.^) Auch
später galt er als der Meister der Lehrdichtung, weshalb Aratos
sein höchstes Lob darin suchte, mit Hesiod verghchen zu
werden. *') Was das republikanische Rom anlangt , so scheint
Hesiod selbst hier einige Popularität genossen zu haben '^), doch
machten Vergils Georgica sein Gedicht ziemlich überflüssig;
aber dieser selbst benützte Hesiod sehr fleissig in allen seinen
Gedichten, ja er übersetzte ihn teilweise fast wörtlich. ^)
Die Geschichte der gelehrten Studien muss die Erga mit
der Theogonie und Aspis verbinden, weil weder die Alten noch
die Neueren einen genügenden Unterschied zwischen diesen
Gedichten machten. Peisistratos soll, wie die homerischen
Gedichte, auch die Werke des Hesiod haben sammeln lassen,
eine Ansicht, die sich blos auf die tendenziöse Behauptung des
Megarers Hereas ^) stützt, ein Vers der Eöen oder des Kataloges
sei von Peisistratos unterschlagen worden. Da, wie wir sahen,
in der Theogonie sicher orphische Elemente fehlen, ist die
ganze Ansicht unwahrscheinlich. Nur soviel lässt sich behaupten,
dass die Vulgata auch hier auf attische Exemplare zurückgeht. ^^)
Erst Zenodot und Aristophanes veranstalteten eine kritische
Recension derselben, jedoch ohne einen Kommentar beizu-
1) Vgl. besonders Van Lenueps Kommentar.
2) Kenner das Formelwesen im griechischen Epos S. 16 u. ö. ; Hetzel
de carminis Hesiodei . . . comp, et interpol., Weilburg 1860 p. 4.; v. Leutsch
Philol. 29, 514 f.
3) Aesch, in Ctesiph. 135; Colum. 1, 3, 5; vgl. Arist. Ran. 1044. Alexis
bei Ath. 4, 164 c. Luc. Anach. 21.
4) Isoer. 12, 18. 33.
5) 2, 43.
6) Callim. epigr. 27.
7) Dafür spricht die Anekdote Gell. 4, 5, 7.
8) Ausgabe Vergils von Ribbeck und Flach Hermes 9, 114 ff. Aus
V. 289 — 92 wurde später ein lateinisches Epigramm (Riese Anthol. Lat. 11
p. LIII). Gellius (1, 15, 14) nannte Hesiod den klügsten Dichter.
9) Flut. Thes. 32.
10) Vgl. -rijiLsXXov Th. 478. 888. 898 und eto'c-fjxsiv A. 269.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. -^^
226 "^^ Kapitel.
fügen. 0 Aristarchos gab dann bereits eine kommentierte Aus-
gabe heraus. ^) Da wir nur je ein Fragment seiner D7ro[ivy]|xaTa
zu den Erga und der Theogonie besitzen, beruht das Fehleu
einer Note in den Aspisscholien blos auf Zufall. Auch bei
Hesiod ging Aristonikos den Zeichen des grossen Kritikers nach
und widmete ihnen die Schrift 'zb^i twv airjjJLSLWv twv sv z^i
OcOYovta 'HaiöSoo. ^) Krates von Mallos beschenkte ebenfalls
den askräischen Dichter mit einer revidierten Ausgabe und
einem Kommentar. Seleukos' Ausgabe kennen wir aus einigen
Notizen , die einen verwegenen aber scharfsinnigen Geist ver-
raten.^) Aus späterer Zeit sind nur mehr exegetische Arbeiten
zu verzeichnen. Die Kommentare des Demetrios Ixion und
Dionysios von Korinth, die nur Suidas nennt, umfassten wahr-
scheinlicli sämmtliche drei Gedichte. Im einzelnen erfuhren
die p]rga als das populärste Gedicht die fleissigste Förderung.
Das Hauptwerk war der vierbändige Kommentar des Plutarch^),
welchen der bekannte Neuplatoniker Proklos (f 485) benützte.
Dessen Werk besitzen wir nicht mehr in der ursprünglichen
Gestalt, sondern unsere Schollen bestehen aus Excerpten jener
Schrift*^) und einem alten auf die alexandrinischen Studien
zurückgehenden Kommentare, so dass sie mit den exegetischen
SchoHen der llias grosse Aehnlichkeit haben und vermutlich
auch in derselben Zeit entstanden sind. ') Diesen plünderte
und verwässerte der berüchtigte Johannes Tzetzes, der seinen
Schollen die erwähnte Biographie vorausschickte. Noch geringerer
1) Das Citat aus Apollonios von Rhodos stand nicht in einem dreibändigen
Kommentare zur Aspis (Flach Bnr.sians Jahresber. 1876 S. 16), sondern iu
einer grös.seren Geschichte der griechischen Poesie (Mützell p. 287).
2) H. Wasch ke Commentatt. philol. Lpg. 1874 S. 151 ff. Flach Jahrbb.
1877 8. 433 f.
3) Seh Oman n opuscula 2, 47 ff., Flach Glossen und Scholieu zur
Theogonie S. 100 ff. und Jahrbb. 1877 S. 433 ff.
4) Moritz Schmidt Philol. 3, 456 f.
6) Plut. ed. Hütten XV p. 292, vgl. Gell. 2, 8. 4, 11. 20,8. H. Patzig
iinaestt. Plutarch. p. 21—28.
6) Daher lautet der Titel gy. tJjv lIpöxXou 8;a5c.you.
7) Usener Rhein. Mus. 22, 587 ff., der die Sammlung dem sechsten
.lalirhundert zuteilt; er gibt zu den bekannten Scholien (zuerst Basel 1642,
nach Gai.*jford in der Ausgabe der Erga von VoUbehr, Kiel 1844 herausjie-
geljeu) Nachträge aus einer Münchener Handschrift.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 227
Wert kommt den Schollen des Manuel Moschopulos ^) zu. Die
Schollen des Proklos und Tzetzes verdünnte Demetrios Tri-
klinios ^) noch mehr. Sj)eziell den Pandoramythus besprach der
s^-rische Philosoph Prokuleios ^) , während Joannes Protospa-
tharios den Kalender am Schlüsse der Erga in einer htq^ri^n
(poatxTJ erklärte.^)
Die Theogonie fand viel weniger Beachtung. Nach jenen
umfassenden Kommentaren dürfte blos der ungedruckte des
Kornutos, welcher Theogonie und Schild umfasst, dem Altertum
angehören^); doch reichen die Quellen des Stammes unserer
Schollen weit hinauf. ^) Was aber jetzt vorliegt, rührt von einem
anonymen Grammatiker des zwölften oder dreizehnten Jahr-
hunderts und Demetrios Triklinios her; letzterer benützte die
Allegorien des Johannes Diakonos Galenos. Daneben sind eine
Menge Glossen nicht zu übergehen. Die Hauptmasse der
Schollen beschäftigt sich mit der allegorischen^ Deutung der
Mythen, wofür, wie bei Homer, die Stuiker und Neuplatoniker
das meiste thaten. Eine Sammelausgabe besitzen wir an Flachs
,, Glossen und Schollen zur hesiodischen Theogonie" (Lpg. 1876).
Ueber die Aspis hatten schon Hieronymos und Epaphro-
ditos unter Nero geschrieben. '') Wir aber besitzen nur Schollen,
an denen ausser einer Hypothesis und einigen Notizen nichts
alt ist*), und einen Kommentar des bulgarischen Staatssekretärs
1) Mit Proklos und Tzetzes zuerst in Trincavellis Ausgabe, Venedig 1537,
zuletzt bei Gaisford, poetae min. Graeci III (im Leipziger Abdiuck Bd. II)
herausgegeben. Flach behauptet wohl irrtümlich, dass ungedruckte Scholien
des Maximos Planudes im cod. Neapol. 165 seien; vgl. Fabricius - Harles V
p. 778 zu cod. 55.
2) Hardt catal. codd. Graec. 2, 223.
3) Said.; vgl. das in Flachs Scholien S. 417 if verööentlichte Stück.
4) Gaisford p. 448 fl'. vgl. J. "Wrobel zu den Scholien der hesiodischen
Mouatstage, Wiener Studien II H. 1.
5) in der Laurentiana nach Montfaucon bibl. ms. I 338.
5) Abgesehen von den Noten des Triklinios gehen die Citate ü'uer die
Zeit des Augustus nicht herunter (Schömann opusc. II 539); also mag
Flach Jahrbb. 109, 815 tf. ßecht haben, wenn er Didymos und Aristonikos
als Quellen der gelehrten Noten ansieht.
7) Etym. Gud. u. Angelic. v. äXv.ala, Etym. Angel, v. ä-öxporco^, Schol.
zu V. 301.
. 8) Rankes Ausgabe des Scutum p. 23 ff.; der Verfasser ist ein Schüler
des Porphyrios (zu V. 327 Jjc r.apö. zib 11. |xsiJ.'/.O^Y,-/.a|j,Ev).
15*
228 7. Kapitel.
Joannes Diakonos Pediasimos ^) ; letzterer fügte eine z£-/yoXo'(ici.
bei, die in Handschriften abgesondert vorkommt. ^)
An Paraphrasen exi.stiert eine einzige kritisch bemerkens-
werte zum Schilde ^) ; nach Suidas hatte der Khetor Demosthenes
Thrax die Theogonie paraphrasiert.
Die hesiodischen Gedichte pflanzten sich auf den heutigen
Tag in einer Menge von Handschriften fort, die über das
elfte Jahrhundert nicht hinaufgehen"*); sie repräsentieren eine
einzige Klasse, von deren Text ältere Citate, besonders die des
Chrysippos beträchtlich abweichen. Die verhältnismässig beste
Handschrift, ein Mediceus ^) aus dem elften oder zwölften Jahr-
hundert, enthält leider blos die Erga, wofür ein anderer Medi-
ceus^) einigen Ersatz bietet. Für die Erga sind ausserdem
noch eine Pariser Handschrift aus dem elften Jahrhundert und
ein etwa hundert Jahre jüngerer Codex von Messina'') zu er-
wähnen.
Im Druck erschienen durch die Bemühung des Demetrius
Chalkondylas zuerst die Erga zu Mailand, wahrscheinlich 1493,
zugleich mit Theokrit; Aldus druckte 1495 die erste vollständige
Ausgabe, Die Arbeiten der folgenden drei Jahrhunderte^) sind
ohne Bedeutung. Erst Gaisford gab durch seine Ausgabe der
poetae Graeci minores (I. 11. 1814 — 20) dem Texte und den
Schollen eine gesicherte Grundlage. Seitdem wurden viele
Handschriften verglichen und ihre Lesarten in der kritischen
Ausgabe Köchly's (Lpg. 1870), sowie in Flachs Neubearbeitung
der alten Göttling'schen Ausgabe (Gotha 1831, 3. Aufl. Lpg.
1878) registriert. Doch ist keine von beiden abschliessend; in
1) bei Gaisford, vgl. Mutz eil emend. Theog. p. 295 ff.
2) Hardt catal. codd. Graec. 2, 224. 3, 191.
3) Kanke S. 41 ff., vgl. S. 303 f.
4) Vgl. die Ausgabe von Köchly und Kinkel, dazu Flach S. LXIX; ders.
die beiden ältesten Hesiodbandschrilten, Lpg. 1877; Wrobel über eine neue
He»iodhand8chrift, Sitzungsber. der Wiener Ak. 1880; die viktorianische
Kollation einer interessanten Handschrift Acta phil. Monac. 1, 309 f.
6) plut. 31, 39, M bei Köchly, M5 (sie) bei Flach.
6) plut. 32, 10 (MB bei Köchly, M3 bei Flach). Die Ansätze schwanken
zwischen dem zwölften und vierzehnten Jahrhunderte. Diese Handschrift ist
die einzige vor dem vierzehnten .Jahrhundert geschriebene, welche alle drei
Werke enthält.
7) H. Flach der rescribierte codex Me.ssanius, aus Jahrbb. 121 Lpg. 1880
8) Göttling- Flach 8. LXX ff.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 229
ihrer Art verdient die Recension der Theogonie, die Schömanii
Berlin 1869 erscheinen Hess, alle Anerkennung. Paley^) und
Flach (wenn auch nur in „die hesiodischen Gedichte", Berlin
1874)^) wollen den Text durch Einführung des Digammas ver-
zieren, obgleich schon in den homerischen Gedichten das
Digamma augenscheinlich im Niedergange begriffen ist und
seine Hauptstütze an formelhaften Wendungen hat. ^) Wegen
des gelehrten Kommentars sind die Einzelausgaben der drei
Gedichte von David van Lennep^) und die Spezialbearbeituug
des Schildes in Hesiodi quod fertur Scutum Herculis ed. F.
Ranke (QuedHnburg und Lpg. 1840) von Wichtigkeit.
Die Uebersetz ungen haben kein besonderes Interesse;
ich erwähne nur, daes zuerst eine lateinische Uebersetzung des
Nicolaus Valla ^) erschien , der bei-eits 1474 eine besondere
Version der Theogonie, ein Werk des Bonino Mombrizio, folgte.
Unter den kritischen Beiträgen verdient einzig Mützells
Buch de emendatione Theogoniae Hesiodeae (Leipzig 1833) be-
sondere Erwähnung. Bezüglich der sachlichen Exegese ruht
der Schwerpunkt auf den mythologischen Fragen der Theogonie,
über welche Schömann eine Reihe von vortrefflichen Aufsätzen
lieferte. ^) Den Dialekt behandelten Förstemann (de dialecto
Hesiodea, Halle 1863) und Rzach (Jahrbb. Suppl. 8 (1876),
355 ff.) im Zusammenhange'^); auch der Stil wurde kürzlich
(jegenstand eines Programmes. ^) Endlich dürfte es wenig
bekannt sein, dass Flaxman zu Hesiods Werken Zeichnungen
entwarf.^)
1) The epics of Hesiod, London 1861.
2) Vgl. Flach das dialektische Digamma bei Hesiodos, Jahrbb. 113, 369 ff.
3) Gegen Flachs unermüdliche Wiederholung seiner Theorie vgl. Clemm
in Curtius' Studien 9, 409 ff. ; über diese und ähnliche Fragen s. auch AI.
Ezach hesiodische Untersuchungen, Prag 1875 (Programm).
4) Theogonie, Amsterdam 1843, Opera 1847, Scutum (herausgegeben von
HuUemaun) 1855.
5) Zuerst s. 1. et a., dann Rom 1471 u. ö.
6) Im zweiten Bande seiner Opuscula gesammelt.
7) M. Isler quaestt. Hesiodiarum spec. I. de dialecto librorum Hes.,
Berlin 1830.
8) J. Pochop über die poetische Diktion des Hesiod, Weisskircheu in
Mähren 1881; P. Schneider de elocutione Hesiodea, Berlin 1871,
9) Compositions from the works and days and theogony of Hesiod,
London 1879.
230 '^- Kapitel.
Neben den sp^a xal T^[i^pat gab es ein Gedicht, das deii
Landbau abgesondert und zwar eingehender als Hesiod be.
handelte (Fr. 16—26 Göttling, p. 157 ff. Kinkel), weshalb es
"EpYa [xsyaXa hiess^); der Verfasser, in dem man Hesiod
vermutete, schenkte den Pflanzen besondere Aufmerksamkeit;
unter diesen kennt er bereits den Oelbaum, hält ihn aber für
unproduktiv (Fr. 17 G.). Auch der zweite astronomische Teil
des Gedichtes fand in der 'Aatpovofxta^) eine eingehendere
Bearbeitung; hier war aber der angebliche Hesiod ein sach-
kundiger Mann der attischen oder alexandrinischen Zeit, da
Phnius^) wegen dieses Gedichtes Hesiod mit Thaies, Anaxi-
mandros und Eudoxos zusammenstellt. Dem Thaies dichteten
ebenfalls die Späteren ein astronomisches Lehrgedicht an."^)
Auf die Ethik bezogen sich die pseudohesiodischen Xipwvoc
6;roö"»5xat°), gute Ratschläge, welche der weise Kentaur seinem
Zöglinge Achilleus ^) erteilte. Den Anlass zu diesem Gedichte,
auf das bereits Kratinos anspielte^), gab vielleicht eine Erzählung
der Kyprien. Aristophanes von Byzanz .sprach es dem Hesiod
ab ^) ; doch hätte dieser Umstand seinen Untergang nicht herbei-
geführt, wenn nicht das un verhüllte Heidentum, vor allem die
dringenden Ermahnungen zum Opfern bei den Christen Anstoss
erregt hätten.^) Dass die Sprüche dem Chiron selbst in den
1) Cäsar Ztsch. f. Alterturasw. 1838 Nr. 65—67 will diese Annahme
widerlegen; die Sprüche des Chiron sollen einen Teil der Dichtung gebildet
haben.
2) Marckscheflfel Hes. frg. p. 194 ff.; Robert Eratosth. frg. p. 237 ir. ;
Göttling -Räch Fr. 10—13; Kinkel p. 86 ff.
3) bist. nat. 18, 25.
4) Plut. Pyth. orac. 18 (Zeller Philos. der Griechen I^ 174), dagegen er-
innert Themistios (or. 26 p. 383 D), dass Thaies nichts geschrieben habe.
6) Marckscheffel p. 175 ff. Schultz über die Sprüche des Chiron,
Welckers Rhein. Mus. 5, 599 ff. Vgl. Cäsar a. O. Sp. 542 ff. Schnei de wia
prooeni. aest. von Gott. 1842; Fragmente bei Göttling -Flach Nr. 178— ] 86
und Kinkel p, 148 ff.
6) Paus. 9, 31, 4.
7) Hephaestio c. 1 p. 8W; Find. Pyth. 6, 19 ff., vgl. fr. 60 und 68
Böckh kennt Chiron gleichfalls als Lehrer der Weisheit. Was Schultz über
die Zeit annimmt, ist alles unsicher.
8) Qaintil. 1, 1, 15.
9) Eine Komödie „Chiron" parodierte dieses Gedicht und überhaupt die
hesiodische Spruchweisheit (Ath. 8, 364 ab).
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 231
Mund gelegt waren, veranlasste einen heiteren Irrtum; Suidas
hielt nämlich den Kentauren selbst für den V^erfasser.
Während hier von einer Fälschung nicht die Rede sein
kann, griff sie gerade in der didaktischen Dichtung sonst stark
um sich. Der Lügner Lobon von Argos erfand zweitausend
Verse des Periandros und ebenso viele des Blas, worin dieser
das wichtige Thema behandelte, wie Jonien glückhch werden
könne. ^) Hier bheb es bei dem Titel; in das Werk gesetzt
wurde aber die Erfindung bei den einundsiebzig goldenen Versen"
des Pythagoras; von späteren Pythagoreern herrührend, bil-
deten sie den Sittenkodex der hellenisierenden Renaissance. ^)
Ebensoviel las man in derselben Zeit, wie in Byzanz das dem
Phokylides untergeschobene Sittengedicht ^), über dessen Titel
die Handschriften erheblich schwanken. Wie Jakob Bernays
in glänzender Beweisführung darthat*), ist der Verfasser einer
jener alexandrinischen Reformjuden, welche die Lehren des
Judentums mit der griechischen Philosophie gefällig verbanden,
indem sie von jenen höchstens den Monotheismus etwas be-
tonten. Diese zu einer jüdischgriechischen Literatur führende
Bewegung begann etwa um 150 vor Christus und behielt bis
zur Zerstörung Jerusalems ihren ursprünglichen Charakter;
seitdem verband sie sich aber mit der Polemik gegen die
Christen. Da diese in den Phokylidea noch fehlt, sind die
zeitlichen Grenzen des Werkes bestimmt^); Goram versucht
mnsonst die Zeit auf das Jahr loO v. Chr. präcisieren und
1) Ueher diese xiud andere angebliche Schriften der sieben Weisen
Hill er Rhein. Mus. 33, 518 ff.
2) Chrysippos bei Gell. 7, 2, 12 citiert sie als Werk der Pythagoreer,
ebenso Plnt. cons. ad Apoll, j). 116 c; Hierokles prooem.; David Schol. Arist.
p. 13. 17; mit dem Kommentar des Hierokles j;i>letzt bei Mnllach fragm.
philos. Gr. I 193 ff. gedruckt, vgl. Nauck mel. Greco-Rom. 3, 546 ff. =
Bull, de r ac. de St. Pet. 18, 472 ff. Gilde meist er Pythagoras -Sprüche in
syrischer Ueberlieferung, Hermes 4, 81 fi'.
3) Am besten ist es bei Bergk poetae lyr. Graeci H* p. 74 ff. gedruckt.
4) lieber das phokylideische Gedicht, Berlin 1856, dazu O. Goram
Philol. 14, 91 ff". Schon Scaliger hatte seinen Verdacht ausgesprochen. Ein
Fälscher sibylliuischer Orakel benützte diese Phokylidea im zweiten Buche
(V. 45 ff". 56 — 148, bei Opsopoeus am Ende des achten); vgl. Suid. v. $cuxu-
XioYj? mit Bernhardys Note.
5) lieber unklassische Ausdrücke E. v. Leutsch Philol. 22, 23 und
Bernhardy UM, 522.
232 7. Kapitel.
dem Verfasser zu einem Schüler des Aristobulos zu machen.
Wer war aber nun jener Weise, dessen Namen der Fälscher
zum Deckmantel nahm? Phokylides von Milet^) dichtete nicht
etwa ein zusammenhängendes Gedicht, sondern kurze Sprüche
von gewöhnlich zwei bis drei Hexametern ^), denen er meistens
seinen Namen in der Form ,,Aucli dies ist von Phokylides"
vorausschickte^); zu einem zusammenhängenden Spruchgedichte
koimten sich also damals die Jonier noch nicht verstehen.
Die Sprüche waren sehr beliebt *), erfuhren aber gerade deshalb
ohne Zweifel Interpolationen, wozu ich besonders die elegischen
Fragmente rechne; doch davon mehr bei der Elegie!
Die hohe Blüte der didaktischen Poesie — man denke nur
auch an die gnomischen Elegien — verfehlte auf die Philo-
sophie ihre Wirkung nicht; ausserdem ermangelte die Prosa
lange Zeit einer so ausgebildeten Form, dass nicht ein poetisch
angelegter Mann lieber zum Verse gegriffen hätte. Ein solcher
war Xenophanes von Kolophon^), der als Denker wie als
Dichter Achtung beanspruchen darf. Sein Leben erstreckte sich
über eine lange Folge von Jahren ; dichtete er doch fr. 7 nach
seiner eigenen Angabe als zweiundneunzigjähriger Greis in
voller Geistesfrische. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass
er über hundert Jahre alt starb. ^) So verstehen wir die An-
1) Die Chronographen betrachteten ihn der Bequemlichkeit halber als
Zeitgenossen des Theognis (Rohde Rhein. Mns. 33, 169 A. 6) oder des
Xenophanes ; nach Suidas lebte er also Ol. 50 oder 60, 4 (= 527 Jahre nach
dem troischen Kriege), nach Kyrillos (c. Julian. 7, 225) Ol. 58, nach Eusebios
Ol. 59, 4 (Hier. P), 60, 1 (Hier. A F), 60, 4 (armenisch), 61, 3 (Hieron.) oder
Ol. 62, 3 (Syukellos). Phrynicbos ecl. 358 sagt allgemein av5pa zaXoiiöv
0(pö5pa. In fr. 5 nennt Phokylides bereits Babylon als Hauptsitz des Luxus.
2) Fr. 1 best«ht aus acht Versen.
3) Dio Chrys. or. 36 T. II p. 505, vgl. or. 32 II p. 457. Cic. ad Att. 4, 9, 1.
4) Wie Chamaileon bei Athen. 14, 620c meldet, wurden sie wie Lieder
gesungen; nach v. Leutsch Philol. 10, 133 spielt Lys. de caed. Erat. 7 auf
einen Vers an, Dion nennt Phokylides neben Hesiod und Theognis (or. 2,
§ 5, vgl. 8).
6) Cousin nouveaux fragraent« philosophiques , Paris 1828 p. 9 ff. ; F,
Kern zur Darstellung der Philosophie des Xenophanes, Danzig 1871 (Pr.);
üImt Xenophanes von Kolophon, Stettin 1874 (Pr.). Die Fragmente sind ge-
sammelt Ytei Karsten Xenophauis Colophonü reliquiae, Amsterdam und
Hnag 1830 und Mull ach frg. philo». Gr. I 101 ff.
6) Censor. 16, 3,' falsch Ps. Luc. jiaxpißio: 20 mit 91 Jahren.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 233
gäbe des Apollodor ^), er sei Ol. 50 (579 — 76) geboren und
habe bis unter Darius gelebt^); er hat insofern Recht, als
Xenophanes an der Gründung Eläas (um Ol. 60) teilnahm und
gegen die Lehre des Pythagoras, der erst am Anfange der
sechziger Olympiaden nach Italien kam, polemisierte.^) Xenophanes
teilt selbst mit, dass er fünfundzwanzig Jahre alt (spätestens
zwischen 554 und 551)^) aus seiner Vaterstadt Kolophon fliehen
musste; jedenfalls hing diese Verbannung mit politischen Wirren
zusammen. Er schleppte dann viele Jahre, wie er sagt, seine
Sorge in Hellas herum ^) und erwarb sich namentlich in Sicilien^)
als Rhapsode seinen Lebensunterhalt. Als Eläa gegründet wurde,
gewährte ihm diese Kolonie eine Ruhestätte, wo er sein be-
wegtes Leben endigte. '^)
Der Gründer der eleatischen Philosophenschule gehört zu
den merkwürdigsten Menschen des Altertums. In der Philo-
sophie führte er zuerst die blosse Abstraktion ein und setzte
an die Stelle der materiellen Anschauungen seiner Vorgänger
den Begriff des reinen Seins mit Negation des Werdens, worin
er den ruhenden Pol der buntbewegten Aussenwelt und zugleich
den Ruhepunkt der eigenen- Scliicksale fand. Mit gleicher
Schärfe erkannte Xenophanes die wunden Stellen des helleni-
schen Lebens, die zum Theil dessen Untergang verschuldeten:
das Verschwimmen der Religion in einen poetischen Anthro-
pomorphismus, der vor jeder Kritik zerstäuben musste, und den
1) Clem. AI. Strom. 1, 353 P (in den Handschriften Ol. 40, ebenso Sext.
Emp. adv. gramm. p. 657, 11 B).
2) Damit stimmen die Ansätze des Eusebios (Synk. Ol. 57, 3, und 62, 2;
armenisch Ol. 56, 2 oder 3 und 60, 4, lateinisch Ol. 57, 1 [56, 1 F, 56, 2 Ä,
56, 3 PS, 57, 2 BJ und 60, 1 [AF] oder 61, 3) ; doch nannteer irrtümlich jenes
die Blütezeit. Nach Sotion (Diog. 9, 18) war er ein Zeitgenosse des Anaxi-
mander. Nach Diogenes (9, 20) blühte er Ol. 60. Timaios Hess ihn die Zeit
des Hierou und Epicharm (Ol. 75, 3) erleben; vgl. über diese Fragen Diels
Rhein. Mus. 31, 21 ff.
3) Fr. 6 Bergk; Ol. 62 Aristoxenos bei Jambl. vita Pyth. 35, Ol. 62, 4
Cicero rep. 2, 15 (? nach Atticus Cobet coli. crit. 320).
4) Fr. 7; Duncker Geschichte des Altertums VI* 676 denkt daher
wahrscheinlich mit Unrecht an die Eroberung der Stadt durch Harpagos 547.
5) Fr. 7 EViauTol ß)vY]OTptCovTsc i\)-\^ cppovtiS' &v' 'EXXäSa y'^j'A was Bergk
sonderbar deutet.
6) In Zankle und Katana nach Diog. L. 9, 18.
7) Diog. L. 9, 18.
234 '7- Kapitel.
übermässigen Kult der gymnastischen Spiele und ähnlicher
Schaustellungen , welcher die Masse des Volkes wichtigeren
Interessen entzog. Ersteres führte ihn zur Polemik gegen
Homer und Hesiod , deren literarisches Ansehen , wie er an-
nahm , den alten schlichten Götterglauben allmälig zu unter-
graben drohte. Nicht minder gewandt bekämpfte der scharfe
Denker die menschliche Gestaltung der Götter in geistvollen
Versen.') Das zweite sprach er in einer originellen Elegie aus,^)
ohne damit bei den denkenden Männern Griechenlands den
gleichen Anklang wie bei jener Polemik zu finden.^) Obschon
Xenophanes seine witzigen und scharfen Angriffe gegen alles,
was er für thöricht hielt, richtete, zog doch Niemand seine red-
liche Absicht in Zweifel; selbst der Sillograph Timon, der
sonst niemand schonte, sprach von ihm mit der höchsten
Achtung und machte ihn zum Sprecher des zweiten und drit-
ten Buches seiner Sillen^) Kurz Xenophanes stand hoch über
seiner Zeit. Diese lohnte es ihm damit, dass sie ihn zu einem
dem Griechen kaum erträglichen Wanderleben verurteilte.
Xenophanes legte seine philosophischen Ansichten in einem
umfangreichen Gedichte, das die Späteren z=[A 'foocojc betitel-
ten.^) nieder. Bei den abstrakten übersinnlichen Lehren gelang
es dem Verfasser nicht immer, zwischen Stoff und Form die
richtige Harmonie herzustellen. Daraus erklärt sich das etwas
geringschätzige Urteil Ciceros''), der nicht bedenkt, dass Xeno-
phanes' Werk das erste philosophische Gedicht war und er sich
erst die Sprache bilden musste, um mit ihr dem Gedanken-
fiuge folgen zu können. Wir werden ihn darin am besten mit
Lucrez vergleichen. In diesem Lehrgedichte standen die gegen
Homer und andere gerichteten Ausfälle. Daher beruht es auf
einem Missverständnisse, wenn manche sagen, Xenophanes habe
Sillen'') oder Parodien*^) oder Jamben^) verfasst. Wo er .sich
1) F. 6—7 MiiUach.
2) F. 2 Bergk.
8) Nur Euripidcs folgte ihm in Autolykos fr, 284.
4) F. Kern Philol. 35, 373 ff.
6) PoUnx 6, 46.
6) Acad. priora 2, 23, 74.
7) Strabo 14, 643. Schol. Arist. Equ. 400. Eustath. in II. p. 204, 21.
8) Athen. 2, 64 e iv rcapcuSiatc.
9) Diog. L. ?>, 18; da.s angebliche Fragment bei Bergk II *116 i.st aus
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 235^
einer bereits ausgebildeten Sprache bedienen konnte, treten jene
Härten nicht hervor; seine Elegien sind sehr gewandt geschrie-
ben und haben alle einen ethischen Gedanken zur Grundlage.^)
Eine von Athenäus vollständig überlieferte schildert ein froh-
Hches Symposion, erinnert aber dabei, der Götter und der bra-
ven Männer zu gedenken und nicht die Fabeln der Vorzeit zu
singen. In einer andern Elegie stand der witzige Spott über
die Seelenwanderung (fr. 7).
Anderen Wissenschaften diente das Lehrgedicht in unserer
Periode noch nicht; während die geographischen Märchen bei
den Joniern durch die Odyssee und die Arimaspeia vertreten,
sind, fehlt vorläufig das geographische Epos, da das posi-
tive von Mythen losgelöste Wissen noch keinen erheblichen
Umfang erreicht hatte. Was den hesiodischen yt^c 7rEf>io5o? an-
langt, so ist längst erkannt, dass eine alexandrinische Samm-
lung der geographischen Stellen Hesiods diesen Namen trug.^)
Man ermesse darnach, wie viel Wahrscheinlichkeit Niese für
sich hatte, als er vermutete, der homerische Schiffskatalog ginge
auf einen etwa im Jahr 700 entstandenen böotischen y*^? Trspio-
Soc zurück.^) Ein französischer Gelehrter überbot ihn durch
eine phantastische Hypothese."*)
Neben dem Ernste des Lebens mangelte es in Griechen-
land nie an Scherz und Witz , vor allem gilt dieser Satz wieder
von dem jonischen Volksstamme. Die homerischen Dichtei*
verschmähten daher weder die Thersitesscene noch die Götter-
komödie oder den Faustkampf des Odysseus und L'os ; im
Olymp bot ihnen und den folgenden Sängern Hephaistos einen,
unerschöpflichen Lachstoff. In den Lleroensagen reizte einen
Sänger die Kerkopensage zu abgesonderter Behandlung; die
einem unechten Briefe künstlich konstruiert. Gedichte auf die Gründung,
Kolophons und Eleas sind von Lohon erlogen (Hill er Rhein. Mus. 33, 529).
1) Fragmente bei Bergk poetae lyr. Graeci II *110 fl".
2) Göttling-Flach S. LI.
3) Der homerische Schiflfskatalog , Kiel 1873; er wurde jetzt selbst an
sich etwas irre (Entwicklung der hom. Poesie S. 228 A. 1.).
4) So schliesse ich aus dem Titel von Tauxier hypothese sur l'exi-
stence d'un poeme geographique dorien anterieur de 300 ans a Homere in.
den Notices, mem. et docum. de la societe ... du dep. de la Manche V.
236 '^- Kapitel.
pseudohomerischen „Kerkopen"^) erzählten, wie Herakles mit
jenem diebischen Brüderpaare zusammentraf, sie wegen ihrer
Eaublust gefangen nahm, aber endlich, weil sie ihn zum Lachen
brachten, laufen hess.^) Diese Sage, gleichsam das irdische
Gegenstück zum Hermesmythus, war so volkstümhch, dass sie
bereits in einer der ältesten Metopen von Selinunt abgebildet
wurde.
Während hier der Humor und — fast möchte ich' sagen
— die Poesie des Diebeslebens ihren Ausdruck fand, zeichnete
der noch berühmtere Margites^) das Ideal der Tölpelhaftig-
Jkeit. Margites (Tölpel) hiess der Held des Stückes, ein dummer
täppischer Mensch , der alles verkehrt anfasste und nicht ein-
mal im Alter klug wurde ; ,, vieles verstand er, aber alles schlecht"
(fr. 3). Es war die reine Posse ohne satirischen Beigeschmack,
welche die UngeschickUchkeit auf das ärgste karikierte und
nach Art der Komödie mit Obscönitäten^) gewürzt war; stören-
des Mitleid hielt der Verfasser geschickt durch den Umstand
ferne, dass Margites als Sohn sehr reicher Eltern auftrat. Die-
ser Schwank rauss dabei höchst genial durchgeführt gewesen
sein, weil keiner der älteren Gelehrten an der Verfasserschaft
Homers zweifelte , Aristoteles sprach deshalb Homer den Ruhm
zu, mit der Tragödie auch die Komödie begründet zu haben. ^)
Der Stoiker Zenon schrieb sogar ein besonderes Buch über den
Margites.^) Später stellten sich aber Zweifel an der Echtheit ein;^)
vermutlich verwarf ihn Aristarch , da die Homerscholien ihn
1) Kinkel frg. epic. Gr. p. 69 f.
2) Lob eck Aglaoph. p. 1296 ff. Preller griech. Mythol. I ='230 f.
Ei gl er de Hercule et Cercopibus, Cöln 1826.
8) Kinkel frg. epic. p. 64 ff. Welcker ep. Cyklus 1, 184 ff. uud
Rhein. Mus. 11, 498 ff. = kleine Schriften 4, 27 ff'. Göttling de Margita
Hom., Jena 1863 = opascula acad. p. 167 ff.
4) Fr. 4. 6.
6) Poet. 4, vgl. eth. Nicom. 6, 7. Darum huldigen auf der Homer-
apotheose des Archelaos Tragödie und Komödie dem blinden Dichter.
6) Dio Chrys. or. 63, 4.
7) Harpocr. s. v. Eust. Od. p. 1669, 48. Hephaest. c. 17. Gramer Anecd.
Oxon. IV 316. Dagegen hielt Dion (or. 53 p. 275 R) den Margites für ein
Jugendwerk Homers. Kallimachos scheint ihn ironisch gepriesen zu haben.
(Harpocr. a. O.)
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 237
nie citiereu. Nur Suidas^) und Proklos erzählen , dass nach
manchen Pigres , em Bruder der bekannten Königin Arte-
misia, den Margites verfasst habe, wohl aus keinem anderen
Grunde , als weil man wusste , dass er die Ihas durch Penta-
meter interpoliert habe. Im Margites treten nämlich unter die
Hexameter gemischt mehrere jambische Senare auf.^) Da an-
dererseits schon Archilochos das Gedicht anführte,^) so er-
hellt, dass die Jamben interpoliert und zwar möglicher Weise-
von Pigres eingesetzt waren. Als Ort der Entstehung nennen
alle Kolophon, das auch imProömium erscheint.^) Dieses verdient
schon deshalb Aufmerksamkeit, weil hier zuerst Apollon als-
Gott der Sänger auftritt. In der Kaiserzeit war das Gedicht
noch bekannt, aber Tzetzes fand es nicht mehr vor.^)
Andere heitere Erzeugnisse der homerischen Schule sind
Umbildungen der volkstümlichen Bettellieder, die nur in den
epischen Vers und Dialekt und wahrscheinlich zum Teil in
eine gewähltere Form übertraten. Ich rechne hieher die schon
besprochene Eir es ione,^) dann Ka jx i v o c oder KspajjLsl?^) in drei-
undzwanzig Hexametern ; beide stehen in der sonderbaren
Sammlung der homerischen Epigramme. Letzteres enthält eine-
komisch gehaltene Anrede an die Töpfer : Der Dichter verspricht
ihnen pathetisch, für ein Geschenk von Athene Förderung ihres-
Werkes zu erbitten; wenn sie darauf nicht eingehen, will er
eine Schaar von Dämonen und Zauberern über sie herein-
brechen lassen, damit diese ihre Arbeit zerstören. Von dersel-
ben Art war das Kram mets voge Uied;^) das jambische Z le-
ge nlied^) dagegen, welches mannigfaltige Titel führte, bezog,
sich vermutlich auf das Spiel all -/aX/-^.
1) V. EiYp^i?.
2) Fr. 1 Tind Arist. poet. 1. 4.
3) Enstratios zu Aristot. eth. Nie. 6, 7; nach Bergk zu Archil. fr. 116^
entlehnte er auch einen Vers daraus.
4) „Nach Kolophon kam ein greiser göttlicher Sänger, der Musen und
des ferntrefi'enden Apollo Diener."
5) Exeg. in Hom. II. p. 37.
6) S. 10.
7) G öttling opusc. acad. p. 182 ff. Proklos scheint es Kä[j.tv&i zu nen-
nen (Hermes 14, 162). Nach Poil. 10, 85 legten einige das Gedichtchen-
dem Hesiod bei.
8) S. 10.
9) Wahrscheinlich 'Er.'zi-zv.xoz al|, verderbt Tjö-tETrax-co? tjto: Ia|xßoL
238 '^- Kapitel.
Solche Fest- und Spielgesänge führen uns zu den Gelegen-
heitsgedichten im allgemeinen. Diese Periode kennt von sol-
chen nur Orakel- und Grab- oder Weihinschriften. Wir haben
uns hier weder mit Orakelstätten noch mit der Persönlichkeit
der Seher und Sibyllen zu beschäftigen, sondern ausschliesslich
die literarische Stellung der Orakelsprüche^) zu beurteilen.
An älteren Denkmälern sind nun ausserhalb der oben bespro-
■chenen frommen Literatur blos delphische Sprüche zu nennen.
Die Priester des pythischen Orakels suchten , mit scharfem
Blicke die Macht der epischen Dichtung erkennend, ihre Orakel
nach Dialekt und Metrum jener ähnlich zu gestalten. Die uns
bekannten alten Orakel sind sämmtlich in Hexametern ab-
gefasst;-) ebenso gebrauchte die Pythia immer die epische
Mundart, so oft sie nicht zu Doriern sprach. In letzterem Falle
kam mindestens das dorische A zur Anwendung. 3) Ueberall
finden wir homerische Reminiscenzen, doch auch Hesiods Erga
steuerten manche Formeln bei.^) Nicht zu leugnen ist ferner
die geschickte Anwendung der poetischen Bilder z. B. Fels,
Adler und Löwe bei Herod. 5, 92, 2, und kleiner Kunstmittel,
wie gleichkhngender Wörter.^) Das Orakel bei Herodot 7, 140
erinnert in der Kühnheit der Sprache an die Vision des Theo-
klymenos o 351 ff. Die Sprüche des Bakis, in denen poetische
Personifikationen vorkommen,*') sind schwerlich älter als die
Perserkriege, in denen sie zuerst auftauchten. Die Orakel der
kumäischen und einer kleinasiatischen Sibylle reichen an sich
(Suid.) 'EictajtäxT'.ov (Suid), 'PjVT3;:äxT'.oy (Proklos) oder 'EztajraxTix-i] (Ps.
Herod. § 24); Tzetzes machte daraus zwei Gedichte A'4 und -fj eirtasTtaxtioc
(V. 1. xohi tK-zä e^ixTüJv). Vgl. Flach Hesych. Mil. p. 164.
1) Ge.sammelt von HendesB Diss. philol. Halenses IV 1 ff., vgl. Joh.
R. Ponitow quuestt. de oraculis caput sei. Berlin 1881.
2) Hendess a.. O. p. 10—16. Das jambische bei Herodot 1, 174 ist
gcfiilscht.
3) Hendess a. O. p. 16 ff. schlicsst den dorischen Dialekt mit Unrecht
aus. EuHt. II. p. 1, 13 Yj ll'jfl-'lot -fjü.oh', tü>v ypTjSjioiv -po? '()|i.Y|p:xT,v ^ksO-o-
4) He». E. 284 1". erscheinen wenig verändert im Glaukosorakel (Herod.
6, 86) ; jt<Ya VYjKte Kpoia« (Herod. 1 , 85) hat an der Anrede au Perses ein
■Seitenstfick.
6) Z. B. Herod. 6, 92, 2 a V. 1.
6) Herod. 8, 77 Aixtj, Kopo: und Tßjiii;.
Didaktische Poesie und kleinere hexametrische Gedichte. 239
gewiss weiter hinauf, aber schwerlich hatten sie von Anfang
an metrische Form. Wenigstens nennt Herakleitos^) die Sprüche
der Sibylle „unwitzig, ungeschminkt und ungesalzen."
Die Grabschriften fallen in eine Zeit, wo man bereits
das Distichon kannte; weil den Klagegedichten ebenfalls das
elegische Mass eignete, zogen die Griechen mit richtigem Ge-
fühle dieses Versmass dem blossen Hexameter vor. Dennoch
mangelt es nicht ganz an hexametrischen Inschriften: Auf
♦Steinen finden wir sowohl einzelne Hexameter als auch je zwei ^)
oder drei^), ja zweimal sechs Verse."*) Sechs Hexameter zählt
auch das homerische Epigramm Nr. 3, angeblich die Inschrift
der ehernen Jungfrau, welche auf dem Grab des Midas stand ;^)
es ermangelt indes so sehr aller persönlichen Beziehungen, dass
man billig daran zweifeln darf, ob es wirklich lange vor der
attischen Periode, in welcher das Epigramm seinen epideikti-
schen Charakter gewann, gedichtet sei. Simonides betrachtete
Kloobulos, den Verfasser von Rätseln, als den Verfasser;^) der
Grund bestand vermutlich in der kunstreichen Spielerei, dass
die Verse auch in umgekehrter Ordnung gelesen werden konn-
ten.'') Daher war das Epigramm hochberühmt und wurde oft
xm geführt.^) Endlich war der Kypseloskasten mit Hexametern
beschrieben.
Das elfte und dreizehnte ,, homerische Epigramm" fanden
bei der Spruchdichtung eine passende Stelle.^) Bezüglich der
anderen^") habe ich oben^^) die A^ermutung ausgesprochen, dass
«ie Exeerpte der Horaerbiographie eines alexandrinischen Dich-
1) Bei Plut. Pyth. or. 6 (Fr. 39 Schuster), vgl. darüber Schuster Acta
?oc. phil. Lips. 3, 373 ft".
2) Kohl in.scr. autiquissimae 78. 340. 531.
3) Röhl 37. 343. 407.
4) Kohl 62 (Sparta). 342 (Kerkyra).
5) Bergk I S. 779, in vollstäudigem Gegensatze dazu Job. Schmidt de
vita Herodotea p. 167 ff.
6) Diog. L. 1, 90.
7) Deshalb hiess es v.üv.Xoc (Job. Pbilop. in Arist. anal. post. p. 34 b).
8) Zuerst Plat. Phaedr. p. 264 d.
9) S. 274.
10) Die ganze Sammlung ist mit den Hymnen von Ilgen, G. Hermann,
Franke und Baumeister (blos in der kleinereu Ausgabe) herausgegeben ; das
«rste Epigramm steht schon in der editio prineeps des Homer.
11) S. 55.
240 7. Kapitel,
ters vorstellen. Von Altertümlichkeit findet sich nirgends eine
Spur; namentlich ist der Scherz Nr. 12 gewiss nicht alt; in
Nr. 8 fällt die unjonische Verachtung der Seefahrt auf. In
dem ijrixT^Seiov sie Bdipa/öv ttva spwfjisvov aotoö, das Suidas
Hesiod beilegt, sehe ich ebenfalls nur ein Epigramm;^) war es
etwa gar in Distichen abgefasst?
1) Ueber den Gebrauch von £TCtxY|8eiov Plnt. de anim. proer. 33.
8. Kapitel.
Die homerische und hesiodische Schule.
Im bisherigen ist durch die Ordnung des Stoffes eine 7ai-
gleich lokale und geistige Zweiteilung der hellenischen Welt
hoffentlich klar geworden. Nun haben G. Hermann^) und
Näke^) eine homerische und eine hesiodische Schule,^) von wel-
chen jene das heroische Epos , diese die didaktische und theo-
gonische Dichtung vertreten habe, zu sondern begonnen. Die-
ser Unterschied gründet sich zum Teil auf Noten der Gram-
matiker, die an manchen Stellen der Ilias und Odyssee hesiod-
ische Manier ('HatöSöcoc /apaxtT^p) entdeckten."*) Sie schrieben
demnach dem Hesiod die katalogische Manier und die Vorliebe
für Gnomen zu^.) Sehen wir selbst näher zu , so erkennen wir
bald, dass von einer scharfen Scheidung oder einer ausgepräg-
ten Rivalität der homerischen und hesiodischen Dichter nicht
die Rede sein kann; denn die Alten schwanken bei mehreren
Gedichten, welchem Kreise sie dieselben zuweisen sollen.^) Die
Sache stellt sich vielmehr so: Jonien sah Dank den homer-
ischen Epen die Ausbildung des Heldenepos. Ihr ungewöhn-
licher Aufschwung, während die Poesie sonst überall auf nie-
derer Stufe stand, verschaffte dem Epos auch bei anderen
Stämmen Eingang. In das Mutterland gelangte es über jonische
1) de dialecto Pindari, opusc. 1, 246.
2) Choerilus p. 64.
3) Widerlegt von Marckscheffel im ersten Teile seines Buches Hesiodi,
Eumeli etc. fragmenta, Lpg. 1840.
4) Lehrs de Arist. stud. ■'343.
5) 'HctooE'.öc 0 xat' ovofj.« yapa-Äf«]p Eust. in S 39 , vgl. Schol. S 39.
iä 614. 0 74.
6) Der Hymnus an den pythischen Apollo steht sogar unter den ho-
merischen.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 16
. 242 ^- Kapitel.
Städte: Im Norden scheint Chalkis der üebergangspimkt gewe-
sen zu Pein ; dann wohnten im ganzen Asoposthale Jonier und
die Anwohner des Hehkon mögen dem gleichen Stamme an-
gehört haben. ^) So wurden ßöotien, Lokris und Delphi für
Homer gewonnen.^) Was den Peloponnes betrifft, so möchten
wir auf die argolischen Jonierstädte hinweisen ; ihnen entstammte
angebhch der Dichter der Nosten. Wenn nun auch im eigent-
lichen Griechenland das homerische Epos die höchste Be-
wunderung erregte, rief es doch nicht gleichgeartete Werke her-
vor; denn Athen, das zunächst von den stammverwandten Jo-
niern eine Anregung hätte empfangen sollen, war noch in jeder
Hinsicht unbedeutend. Die Dorier aber waren dem blossen
Fabulieren abgeneigt — den Spartanern galt '0[iT|[>i§5£'.v so viel
als lügen^) — und zogen die Geschichte ihres Stammes und
ihrer vornehmen Geschlechter vor. Nur der Heraklesmythus,
der mit diesen Interessen enge zusammenhing, gab den nörd-
lichen Doriern zu kleineren epischen Gedichten Anlass. Dafür
verwenden die Dorier, an welche sich auch die Böotier und
Lokrer anschliessen, die epischen Formen für ihre Stammsage ;
auf diese Weise entstand das genealogische Epos, das die Grie-
chen selbst historisch nannten, waren doch diese Gedichte
nichts anderes als versificierte Chroniken,*) was nicht aus-
schliesst, dass sich der Dichter hin und wieder etwas höher
aufschwang. Mittelgriecbenland blieb von direkter Imitation
Homers, jene Heraklesgedichte abgerechnet, ganz frei ; da nun
aber Hesiods Name in der Tradition alle mittelgriechischen
Dichtungen umspannte, erschien er dadurch als Vertreter der
unjonischen Dichtung. Im Peloponnes mögen sich beide Strö-
mungen gekreuzt haben, sonst hätten die Alten schwerlich bei
mehreren Epen geschwankt, ob sie dieselben jonischen Epikern
oder dem Eumelos und Kinaithon zuweisen sollten, und die
Nosten nicht dem Hagias von Trözen zugeschrieben.
1) K. O. Müller Orchonieuos "282.
2) Eineu terraiuus ante quem für die Zeit gibt der Schiftskatalog ab,
welcher in Böotien vor der Abfassung der Kyprien entstand.
3) Hesych. s. v.
4) Diomedes III p. 482 Historice est qua narrationes et genealogiae cou-
ponuntur ut est 'Jia'.ö5o'j '(iy>rx:y.ü)v v.rxzä.).o-^oz et similia, vgl. Hermesiauax
V. 22; Eumelos heisst i:oiY,f>); btoptxö; Schol. Pind. Ol. 13, 74 (Hieron. ad
Ol. '.K 2 j). 83 Heb. E. Corinthius ver sificat o r agnoscitur).
Die homerische uud hesiodische Schule. 243
Wenn wir von den Thateu der Menschen zu denen der
Götter übergehen, tritt uns dasselbe Prinzip entgegen. Die
Jonier betrachten sie vom epischen Gesichtspunkte, die Mittel-
grieclien vom genealogischen ; der Peloponnes steht wahrschein-
Hch wieder in der Mitte.
Was endlich die Lehrdichtung anbelangt, so gelangen nur
die Böoter zu eigentlichen didaktischen Gedichten, während die
Jonier sich mit kurzen Sprüchen begnügten.
Die Alten liebten es, Extreme einander gegenüberzustellen ;
llias und Erga wurden auf diesem Wege zu Repräsentanten
der verschiedenen Richtungen. Darum sagte Alexander der
Grosse, Homer habe für Könige, Hesiod für Bauern gedichtet^)
und Kleomenes von Sparta that einen ähnlichen Ausspruch mit
Bezug auf Spartaner und Heloten.^) Um diese prinzipielle Ver-
schiedenheit von Idealem und Realem drehte sich der mythische
Wettkampf beider Dichter, wie ihn die Rhetoreu seit Alkida-
mas darstellten. In Wirklichkeit standen sich die Gegensätze
nicht so schroff gegenüber. Darum stritten die Grammatiker
häufig über die Heimat der Epen, darum fanden sie bei Homer
Stellen, die sie an Hesiod erinnerten und in der That eine
Mitarbeit anderer hellenischer Stämme an der Ausbildung des
jonischen Epos beweisen; daraus erklärt sich endlicb die Rück-
strömung, welcher das genealogische Gedicht des Samiers Asios
entsprang.
1) Dio or. 2 § 8.
2) Plut. apophth. Lac. p. 223 a. Ael. v. h. 13, 19.
16*
9. Kapitel
Die alte Elegie und die jambisch-
trochäische Dichtung.
Ursprung der Elegie — Dialekt, Metrum, Strophenbau — Einführung in die
Literatur — Kallinos — Tyrtaios — Mimnermos — Solon — Andere der
sieben Weisen — Demodokos — Theognis — Ursprung des Jambos — Archi-
lochos — Simonides von Amorgos — Hipponax — Ananios, Diphilos uud
Herodas — Aristoxenos.
Wie wir sahen, musste der Hexameter wider seine Natur
auch nicht epischeu Dichtungen, wenigstens soweit sie der
Kunstliteratur angehörten, als Versmass dienen. Doch dieses
unnatürliche Verhältnis änderte sich bald. Dem ruhigen Klange
der die Hexameter begleitenden Fhorminx trat zuerst in Jonien
die bis zur Aufregung lebhafte Flötenmusik gegenüber, nicht
von den Griechen, sondern von den Phrygiern, die es hierin
bis zur Meisterschaft gebracht hatten, erfunden. Die alten
homerischen Gesänge kennen sie noch nicht und, auch in einer
Interpolation der Doloneia (K 13) wird die Plöte nur als In-
strument der Barbaren erwähnt; erst in der Schildbeschreibung
(S 495) begleitet sie bereits den Reigen griechischer Tänzer,
Sobald einmal die Flötenmusik einen wichtigen Platz im jonischen
Leben, dann aber rasch im griechischen überhaupt gewonnen
und die Kithara etwas zurückgedrängt hatte, konnte auch die
Alleinherrschaft des Hexameters in der Kunsthteratur nicht
weiter dauern. Da ihn jedoch die lange Gewohnheit lieb und
wert gemacht hatte, verstand man sich nicht sogleich dazu, ihn
völlig aufzugeben, sondern passte ihn vorläufig dem Flöten-
rhythmus durch Hinzufügung des leicht beweglichen Pentameters
an. Dass das Distichon wirklich in Verbindung mit der Flöten-
rausik entstand, beweist der Name IXs^eiov ,,das zum eXeYOC
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 245
gehörende"; sXsyoc ist aber nichts anderes als das zur Flöte
gesungene Lied ^) oder genauer die Flötenmelodie ^) , da im
Armenischen, das bekanntlich dem Phrygischen enge verwandt
ist, elegn „Rohr" (aoXöc) heisst. 3) Die IXsYsia*) werden daher
wenigstens Anfangs immer zur Flöte gesungen; Mimnermos
war als Flötenspieler berühmt*) und trug, wie wir ausdrücklich
hören , die Kradiesweise vor. *') Vielleicht begleitete die von
ihm geliebte Flötenspielerin Nanno den Vortrag seiner Elegien. '^)
Dieselbe Vortragsweise gilt für die Elegien des Archilochos. ^)
Ueberdies stimmen die Zeugnisse darin überein, dass die alten
Aulöden Dichtungen im elegischen Versmasse vortrugen. ^)
Pagegen riefen die ethischdidaktischen Gedichte hier eine ähn-
liche Umwälzung wie auf dem Gebiete des Hexameters hervor.
Wie dort der Sänger der Erga die Kithara aufgab und seine
Verse einfach recitierte, so verzichteten Xenophanes, Phoky-
lides ^°), Solon und Periandros auf Gesang und musikalische
Begleitung. ^^) Auch von Theognis wird dasselbe berichtet ; doch
1) Didymos bei Schol. Arist. Av. 217 eXeYO- o- 'tp^? at)Xöv ä^öfisvot
•O-pvivo'., verkürzt in Orion p. 58.
2) "E)>£-p? (codd. tks'(o:) wird von Plutarch mus. 4 ein aulödischer Nomos
■des Klonas und Polymnastos genannt.
3) Bötticher Arica S. 34; vgl. die armenischen Ortsnamen 'EXey^'*
iund 'EXsYOGuvY).
4) Selten heissen die Distichen hXz-fslai (Nietzsche Rhein. Mus. 22, 182).
5) Hermesianax V. 37.
6) Hipponax bei Plut. mus. 8 (Hesych. v. KpaSifj!; vojaoc). Strabo 13, 442.
7) Suidas nennt auch den Tyrtaios iKz'ft'.oKfj'.b'i xal aöXfjxrj;, vgl. Plnt.
inst. Laced. 16.
8) Chamaileon bei Athen. 14, 620 c (|j.£>.u)0-rjO"riva: heisst nicht „sie wurden
Jiomponiert", sondern sie wurden melisch gesungen).
9) Plut. mus. 8, der sich auf die nava^Yjvaitov YP^'fh *h '^'P' '^°" fJ.ooa'.v.o'j
ä-^öiwz beruft; den Sakadas nennt er TCOiYjx-rj-; eXsY^^'wv }iEta7ts7co:T||j.£vu»v.
Paus. 10, 7, 3 IXs'^sZr/. irpoaaoojJLcva xolc rxb\olz.
10) Chamaileon a. O. berichtet von ihm das Gegenteil; aber woher konnte
•es der gelehrte Philosoph besser wissen. Doch nur durch Kombination?
11) Athen. 14, 632 d, nach Rohde de Jul. PoU. in app. scaen. enarr.
fontt. p. 46 adn. aus einem Metriker, der schwerlich vor dem ersten christ-
lichen Jahrhundert lebte, geschöpft. Rohde der griech. Roman S. 139, 1
schenkt der Ueberlieferung keinen Glauben; Susemihl Jahrbb. 109, 651 ff.
und Hiller Bursians Jahresber. 1879 III 154 verteidigen sie dagegen und
Flach I 159 flf. schlägt einen Mittelweg ein. Plutarch Sol. 8 behauptet, dass
Solon die Elegie Salamis gesungen habe, was wohl möglich ist. Vgl. Aristid.
or. 46 p. 641 und Luc. Timon c. 46.
246 9- Kapitel.
widersprechen dem anscheinend Verse des Theognis (241 f. 5o3..
825. 945). Der Widerspruch lässt sich aber leicht durch die
Erklärung heben, dass die erotischsympotischen Elegien Flöten-
begleitung hatten, während die hauptsächlich paränetischen
recitiert wurden. Zweideutig ist ein rotfiguriges Vasenbild von
Vulci^): Ein bärtiger Mann mit Stab steht auf einer Tribüne
und spricht: '^ßSs ttot' sv Ttpov^t; seinen Vortrag begleitet ein
Jüngling auf der Flöte.
Die Elegie ist also jedes zur Flöte gesungene Lied und
umfasst demgemäss das ganze Gebiet dieser Musikgattung, also
alle lebhaften Gefühle^): ausgelassene Freude (z. B. beim Gast-
mahl) °) , tiefen Schmerz , Liebeslust . Kampfesmut — denn die
Spartaner und Arkader ^) zogen unter Flötenschall in die Schlacht
— und Trauer um die Toten. Der klagende Ton wurde erst
in der alexandrinischen Zeit herrschend und verdrängte die
übrigen so, dass er auch die Definitionen aller Grammatiker
beeinflusste, wozu die seltsame Eltymologie i s Xs^etv nicht wenig
beitrug.
Die Elegie^) ist demnach keine bestimmt begrenzte Gattung
der Poesie, sondern eine Zwitterart, die zwischen Epos und
Lyrik steht ^) ; denn sie umfasst das ganze unbestimmte Gebiet,
das nicht dem Epos und andererseits weder der chorischeii
noch der subjektiven Lyrik angehört. Die ausgebildete Kunst
des Epos übt daher von vornherein einen starken Druck auf
die Elegie aus und lässt sie nicht recht aufblühen. Die
1) Mon, d. Inst. 5, 6 (cfr. CIG. 7980).
2) Die Flötenmusik ist nach Arist. polit. 8, 6 nicht -rjt^txöv, sondern
3) Beim Komos ist die Flöte stehend.
4) Polyb. 4, 20, 12.
6} W. E. Weber die elegischen Dichter der Hellenen nach ihren Ueber-
resten übersetzt und erläutert, Frankfurt 1826; Härtung die griechischen
Elegiker, griechisch mit metrischer Uebersetzung, Lpz. 1858—9, 2 Bde.;
Hertzberg der Begriff der antiken Elegie in bist. Entwickluug, Prutz'
literarisch-historisches Taschenbuch HI (1845) S. 204 ff. IV (1846) S. 125 ff.;
Bach de lugubri Graecorum elegia I, II. Breslau 1835-36, de symposiaca
Graecorum elegia, Fulda 1837, quaestionum elegiac. spec. I. Fulda 1839, bist.
crit. poesis Graecorum elegiacae, Fulda 1840; Fragmente nach Schneid ewin
delectus poesis Graecorum elegiacae iambicae melicae I. Göttingen 1838^
Bergk poetae lyrici Graeci II* Lpg. 1882.
6) Hanpt opnscula HI 205.
Die alte Elegie wucl die jambisch-trochäische Dichtung. 247
Elegiker nahmen von jenem die ganze Sprache, in die sich nur
schüchtern Spuren der einheimischen Mundart mischen.^) Bei
KalHnos und Mimnermos sind es die Formen xors und xok, bei den
Attilvern^) und jedenfalls auch bei allen Doriern (Tyrtaios natürlich
nicht ausgenommen) '') A in den Wörtern, wo H den asiatischen
Joniern eigen ist. Ferner machten sich die elegischen Dichter
auch den Reichtum der epischen Formeln wohl zu nutze. '^j
Wenn ich recht empfinde, gereichte dies, weil die epischen
Formeln für das raschere Versmass zu schwer waren, der Elegie
nicht zum Vorteil. Ueberdies liebten es die griechischen Elegiker,
Gedanken in Rede und Gegenrede zu erörtern. "Wenngleich
sich die Antithese hie und da angewendet hübsch macht, wäre
bei häufigerem Gebrauche die Knappheit des orientahschen
GliederparalleHsmus notwendig; aber das Distichon hat keinen
Abschluss.
Die älteren Elegiker betrachteten nämlich Hexameter und
Pentameter nicht als eine Strophe, da ja der zweite Vers die
Hexameter nicht scheidet, sondern sie vielmehr in anmutiger
Weise verknüpft, wie bei Schmuckketten kleinere Glieder die
Einförmigkeit der grossen zierlich unterbrechen. ^) Der breite
Satzbau ruft sehr oft Konflikte zwischen Vers- und Satzabsclmitt
],iervor; die Dichter bemühen sich sogar anscheinend manchmal,
den Schluss des Satzes in den folgenden Vers hinüberzuziehen.
Im völligen Gegensatz hiezu isolierten die Alexandriner und
1) Vgl. die sorgfältigen Zusamraenstellungen von Joh. Kenner quaestiones
de ilialecto anticxuioris Graecorum poesis elegiacae et iambicae, Curtius
Studien I 1, 134 ff. 2, 1 fi., dazu Sitzler Jahrbb. 125, 504 ff. Die Resultate
sind freilich nicht immer zu billigen.
2) Kirchhoff Hermes 5, 48 ff. und Cauer Curtius' Studien 8, 244 ff.
3) Dies beweisen die Inschriften. Gerade die Dorier wenden auf Steinen
häufig lokale Formen an, z. B. Eöhl 37 3-d5'.ov, vwtj , 329 ßapväjiEvoc , 340
TÜjJ.([i)cU U. S. W.
4) Eenner über das Formelwesen im griechischeu Epos und epische
Kemiuiscenzen in der älteren griechischen Elegie, Ljig. 1872.
5) Der Pentameter ist, auch wo er vom Hexameter getrennt ist (Christ
Metrik ''211), immer nur Bindeglied; Ausnahmen machen blos ausser Aesch.
Choeph. 380 und Künsteleien der Kaiserzeit zwei alte Inschriften bei Riihl
inscr. Gr. antiquissimae 542 (Poseidouia) und 588 (auf einer Lampe). In
einer abderitischeu Weihinschrift (Röhl 349j fügte der Künstler seinen Namen
in einem Pentameter zu dem Widmungsepigramm.
248 9- Kapitel.
ihre Nachahmer das Distichon mit Vorliebe; besonders Ovid
betrachtete es als abgegrenzte Strophe.^) Dafür nehmen manche
Gelehrte eine symmetrische Gliederung der älteren Elegie mit
grossen Sinnstrophen an. In solche versuchte H. Weil^) eine
Elegie des Solon (fr. 13) zu zerlegen, was O. Hense in ver-
besserter Form wieder aufgriff. ^) Er nahm zunächst zwei Teile
von je yiermal acht Versen und zwölf Verse als Schluss an.
Noch bedenklicher erscheint der Versuch , dasselbe Gedicht
nach Art des terpandrischen Nomos zu gliedern. *) Bergk
verhielt sich mit Recht gegen alle diese modischen Liebhabereien
ablehnend.
Der Ursprung der Elegie ist im Volke zu finden, während
die Alten nach dem bekannten Spruche des Horaz (a. p. 77)
darüber stritten, welcher Dichter sie erfunden habe. Wir
müssen vielmehr die Frage stellen : Wer hat die Elegie zuerst
in die Literatur eingeführt und sie künstlerisch verwertet?^)
Die Alten waren bei der Beantwortung der Frage nicht besser
als wir gestellt, weil sie sich blos auf historische Anspielungen,
die wir ebenso gut kennen, stützten. Kallinos erwähnte einen
Einfall der Sardes zerstörenden Kimmerier (Fr. 3. 5) und Trerer
(Fr. 4); ausserdem sprach er von den Kriegen zwischen Mag-
nesia und Ephesos, worin erst jenes glücklich war ^), bis es
1) Wei se quaestiones Tibulliauae, Bonn 1864 ; nur auf ein solches Distichon
bezieht .sich natürlich das bekannte Epigramm Schillers, üeber das Distichon
vgl. Arn. Langen de disticho Graecorum elegiaco I. Breslau 1868; F. C.
Hultgren observationes metricae in poetas elegiacos Graecos et Latinos,
Lpg. 1871—72 (Pr.); Drobisch über die Klassifikation der Formen des
Distichons, Berichte der sächs. Ges. 23 (1871) S. 1 ff.
2) Ueber Spuren strophischer Composition bei den griechischen Elegikern,
Rhein. Mus. 17, 1 ff.
3) Rivista di filologia 1874 S. 305 ff. Analoges versuchte G. H. Bu-
bendey die Symmetrie ^er römischen Elegie, Hamburg 1876; vgl. Mülleu-
hoff allg. Monatsschrift für Wissensch. u. Literatur 1864 März und Hermes
13, 423 f.
4) E. V. Leutsch Philol. 31, 150 ff., vgl. 32, 17 ff.
6) J. Val. Francke Callinus sive quaestt. de origiue carminis elegiaci,
Altena 1816; Fr. Thiersch Acta philol. Monac. III 669 ff.; Cäsar de
carminis Graecorum elegiaci origine et notione, Marburg 1837, Nachtrag 1841,
quaestiones de Callini poetae elegiaci aetate supplementum, Marburg 1876;
Geiger Acta sem. Erlangen.si.s 1, 72 ff. 472; E. Robde Rhein. Mu.s. 33,
194 f.; Geizer Rhein. Mus. 30, 249 ff. 259; Clemm Jahrbb. 127, 3.
6) Strabo 14, 647, vgl! Fr. 2.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 249
wegen der Weichlichkeit seiner Bürger den Ephesiern erlag. ^)
Von Archilochos enthalten dagegen blos zwei Yei'se historische
Anspielungen. Fr. 20 xXaiw xa Öaaowv, oo ta MaYVYjtwv xaxa
und Fr. 25, 1 od [loi ta Foysco toö TcoXayjiooou {liXsi; aus letz-
terem erhellt blos, dass Archilochos vor Krösus lebte, sonst
hätte er diesen als den reichsten Fürsten genannt. Trotzdem
richteten sich im Altertum fast alle chronographischen Ansätze
des Dichters nach der Regierung des Gyges. ^) Wichtiger ist
die andere Aeusserung ; denn dass Magnesias Unglück bei den
Joniern sprichwörtlich war, veranlasste gewiss die zweimalige
Eroberung der Stadt, nicht blos die Erstürmung durch die
Ephesier, welche ohne Zweifel nicht so fürchterlich wie die
barbarischen Kimmerier hausten. Während aber Kallinos die
Ereignisse, die er schilderte, sicherlich erlebte, liegt für
Archilochos in dem zweiten Falle von Magnesia blos ein ter-
minus post quem. Kallinos scheint also vor Archilochos gelebt
und gedichtet zu haben. Bei Archilochos ruht ja auch der
Schwerpunkt seiner poetischen Wirksamkeit im Jambos , wes-
halb er als Jambendichter besprochen werden wird ; daher hat
ev schwerlich die Elegie, die bei ihm nur nebensächlich ist,
«ingeführt.
Den Kallinos^) von Ephesos führte zur elegischen Dichtung
die kriegerische Zeit. Rings um Ephesos wüteten Kämpfe, in
die auch seine Heimatstadt jeden Augenblick hineingezogen
werden konnte, und doch lebten Kallinos' Mitbürger so sorglos
weiter , wie wenn überall der tiefste Friede wäre ; seinen Un-
willen hierüber drückte er in der ersten Elegie aus. Weil nach
V. 4 bei Stobaios, der das Fragment mitteilt, etwas ausgefallen
ist, sprach Thiersch'^), von der inneren Verwandtschaft ver-
leitet, die Vermutung aus, V. 5 — 21 gehörten dem Tyrtaios;
die Aehnlichkeit der Gedanken entspringt jedoch mit Not-
wendigkeit aus der Gleichheit des Stojffes. Uebrigens steht V. 12
in allen Handschriften (ausser A) die jonische Form xwc, die
1) Athen. 12, 525c; Härtung I 32 f. legt Theogn. 603 f. dem Kallinos bei.
2) Rohde Rhein. Mus. 33, 194 flf., bei Eusebios Ol. 29, 3 (Synk.), 28,4
(armenisch und Hieron.), 28, 3 (Hier. AF) oder 29, 1 (Hier. PR}.
3) Callinous Ter. Maur. 1722. Welckers Deutung KaXXiXivoi; ist un-
wahrscheinlich. '
4) Acta philol. Monac, 3, 576 fi.
250 9- Kapitel.
keinen Zweifel an der Autorschaft des KalUnos übrig lässt. Nichts
desto weniger stammen jene Verse schwerlich aus dem gleichen
Gedichte; oder droht nicht im ersten Teile der Krieg blos aus
der Ferne, wogegen wir mit dem zweiten Teile mitten im
Kampfe stehen? Erfüllte sich doch die Ahnung des Kallinos
nur zu rasch ! Zunächst von Magnesia angegriffen, kamen die
Ephesier in eine so schHmme Lage, dass der Dichter Zeus
durch eine besondere Elegie um Erbarmen anflehte (Fr. 2). ^)
Wandte sich hier bald der Kampf zum Guten, so Hessen die
verheerenden Einfälle der Kimmerier Epbesos nicht zu Ruhe
kommen. Kallinos ermunterte seine Mitbürger in einfacher
aber kräftiger Sprache und ging nach fr. 6 — 8 in die Vorzeit
zurück, um ihren Mut durch die Thaten der Vorfahren wieder
aufzurichten.
In späterer Zeit waren die Gedichte des Kallinos fast ganz
vergessen ; von acht Fragmenten , unter denen nur das erste
von Stobaios erhaltene nennenswert ist, stehen fünf bei Strabo,
der sie wahrscheinlich aus dem Antiquar Demetrios von Skepsis
schöpfte. Härtung fühlte sich bemüssigt, dem Kallinos Kriegs-
lieder überhaupt abzusprechen , wofür er ihn mit Theognidea
V. 235 f. und 603 f. entschädigen wollte. Gegen die Angriffe
Bernhardys^) nimmt ßergk das erste Fragment geschickt in
Schutz.
Ausser dessen Fragmentensammlung in den Poetae lyrici
Graeci II ^ 3 — 7 ist von älteren Leistungen zu erwähnen, dass
Bach die Bruchstücke des Dichters Leipzig 1831 herausgab."^)
Reichere Proben der hellenischen Kriegspoesie besitzen wir
aus der Zeit des zweiten messenischen Krieges. Ueber Tyrtaios*)
erzählte die fable convenue^), das delphische Orakel habe den
verzweifelnden Spartanern aufgetragen, von den Athenern einen
1) Strabo 14, 633 ö TTpö-; Aia \r)-(0(;.
2) Griechische Literaturgeschichte 11^ 1, 418.
8) Callini ICphesii Tyrtaei Aphidnaei Asii Samii carniiuum quae supersnut,
Lpg. 1881, Nachtrag 1832.
4) Die Handschriften schwanken zwischen Topxato? und Tuptato^; Pott
Knhns Zeitschrift 6, 141 erklärt den Namen als •reTaptatoc. Vgl. Aug. Mat-
thiä diss. de Tyrtaei caruiinibus, Altenburg 1820; Nie. Bach über Tyrtäos
nnd seine Gedichte, Breslau 1830.
6) Schon Plato leg. 1, 629 a (mit Scbol.), Lycurg in Leoer. 28, ebenso
Philocboros und viele andere, besonders Paus. 4, 15, 6.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 251
Katgeber zu erbitten. Diese hätten ihnen aber zum Spotte
Tyrtaios, einen lahmen Schulmeister^) mitgegeben; in die
Bürgerschaft eingetreten hob dieser wider Erwarten ihren Mut
durch Elegien und anapästische Embaterien so sehr, dass die
Spartaner ihm den Sieg über die Messenier verdankten. Thiersch
unterzog diese üeberlieferung einer einschneidenden Kritik,
indem er auf eine Stelle des Herodot (9, 35) hinwies. ^) Dieser
erklärt ausdrücklich, den Seher Tisamenos und seinen Bruder
Hegias hätten die Spartaner allein von allen Menschen mit
ihrem ängstlich gehüteten Bürgerrechte geehrt; er weiss also
von einer Aufnahme des so berühmten Tyrtaios nichts. Schon
Strabo (8, 362) entging es andererseits nicht, dass sich dieser
in seinen Gedichten (z. B^. fr. 2) als Spartaner gerierte; ein
Fremder hätte gewiss nicht mit so echt spartanischem Stolze,
wie es Tyrtaios that, geredet. Was er sagt, sind die Worte
eines Feldherrn ^) und leitenden Staatsmannes, der mit dem
Bewusstsein seiner AVürde zum Volke spricht. Da die ürsprungs-
zeit der Legende"*) durch Herodot deutlich begrenzt ist, müssen
wir uns an die kläglich endende Hilfeleistung der Athener
vniter Kimon erinnern ; der übertriebene Stolz der Bürgerschaft
wollte die erlittene Schlappe, da es in der Gegenwart nicht
möglich war, durch ein Ereignis der halbmythischen Zeit wett-
machen. Es ist nicht die einzige patriotische Lüge, die im
perikleischen Zeitalter den Beifall der Athener fand. Wahr-
scheinlich benutzte man die doppeldeutige Angabe, dass Tyr-
taios aus Aphidna (in Wirklichkeit aus dem lakonischen Orte) '"}
stammte , zu einem notdürftigen Beweise. Wenn einer der
beiden Staaten von dem andern einen Elegiendichter erborgen
musste, war es ohne Zweifel Athen, in dem das Flötenspiel nie
recht aufblühte ; dagegen übten es die Spartaner sehr fleissig
1) Dies beruht auf der Zweideutigkeit von o:oä-v.aXo?, die Lahmheit
dagegen hat gewiss ein Komiker aufgebracht.
2) Acta philol. Mouac. 3, 587 fl".
3) Fr. 8. Lycurg 1. c. Philoch. bei Athen. 14, 630 f. Strabo 1. c. Diod.
15, 67. Tzetzes Chil. 1, 692; vgl. Polyaen. 1, 17.
4) Ueber die Heimat des Dichters Schwepfinger de patria Tyrtaei,
Isenb. 1842; A. Hölbe de Tyrtaei patria, Dresden 1864; Kohlmann quae-
stioues Messeniacae p. 31 K
5) Nur von Steph. Byz. genannt; wahrscheinlich feierte es Tyrtaios irt
einem seiner Gedichte.
252 9- Kapitel.
und Ijatten schon vor Tyrtaios durch den Kolophonier Poly-
mnastos die aulödischen Nomen kennen gelernt.^) Es wäre also
viel auffallender, wenn Tyrtaios in dem damals noch in festem
Geistesschlafe ruhenden Attika gedichtet hätte. Suidas sagt
aber von ihm Aaxwv ri M i X tj o t o ? ! Nach dem bisher gesagten
ist Welckers Behauptung ^), Tyrtaios sei von Milet als homerischer
Rhapsode nach Athen gekommen, unwahrscheinlich. Wir
können nur irgend einen ungeheueren Missgriff des Suidas
^hnen. ^)
So viel steht fest, dass Tyrtaios im zweiten messenischen
Kriege eine hervorragende Thätigkeit entwickelte; die Chrono-
graphen bestimmen daher nach dem Anfange des Krieges seine
Blütezeit.^) Er verband das Amt des Feldherrn mit der Poesie;
durch kurze anapästische ^) Marschlieder (i[xßaT7Jpta) in dorischem
Dialekte, die das ganze Heer unter Flötenbegleitung sang, be-
geisterte er es unmittelbar vor dem Kampfe. Sicher von Tyr-
taios ist jedoch nur fr. 15, das in einfachen Worten zum
tapferen Kampfe auffordert und die Handgriffe einschärft.^)
Durch Elegien aber, die er beim fröhlichen Mahle abends vor-
trug, — während des Gelages erfreuten sich ja die Griechen
am Flötenspiele — wirkte Tyrtaios auf die moraHschen Grund-
lagen der Tapferkeit, auf das Ehr- und Pflichtgefühl und die
innere Zuversicht. Von diesen Gedichten, die man später
«TToO'f^xat nannte, besitzen wir ausser zwei kleineren Fragmenten
drei wahrscheinlich vollständige Elegien, Sie verherrlichen alle
die Tapferkeit, indem sie den E-uhm des Mutigen ausmalen
und ein abschreckendes Bild von der Schande der Feigheit
entwerfen. Die Gesinnung ist edel und echt spartanisch, was
für die nicht zu leugnenden poetischen Mängel entschädigt. Den
1) Zur Zeit des Alkman (fr. 112) hielten sich mehrere phrygische Flöten-
bläser in Sparta auf.
2) Der epische Cyclus 1, 317 f.
3) Graue rt in Aristidis declam. Leptiu. p. 124 denkt an den attischen
Gan Miletos.
4) Suidas Ol. 35, Eusebios lateinisch Ol. 36, 4 (Myrt«us, Ol. 36, 3 A),
armenisch (Timaeus) und Hier. F Ol. 37, 1 und bei Synkello.s (Muptaloc)
Ol. 87, 4. Vgl. Schwepfinger de aetate Tyrtaei, Isenb. 1835.
6) Die katalektischen anapästischen Tetrameter hiessen metruni Laconicum.
6) Die Worte des Suidas ß-.ßXia i beziehen sich natürlich auf alle Ge-
dichte de« Tyrtaios; Fr. 16 schreibt Bergk willkürlich Alkman zu.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 253^
Spartanern drohten damals ausser den Einfällen der Messenier
ernste Gefahren im Inneren. Weil die Bürgerschaft den be-
denklichen Beschluss gefasst hatte, die an Messenien grenzenden
Ländereien sollten vorläufig nicht mehr bebaut werden, entstand
Getreidemangel und zugleich ein Aufruhr der von jener Mass-
regel betroffenen Bürger; sie verlangten sogar eine neue Ver-
teilung der Aecker, was bei der eigentümlichen Verfassung der
Spartaner den Staat in seinen Grundfesten erschüttert hätte.
Da trat Tyrtaios mit einer grossen Elegie (Fr. 1 — 9), welche
die Späteren cDVO[Aia oder nokixtla betitelten, auf und erzielte
den grossartigen Erfolg, dass auf sein Zureden die xAufregung:
sich legte. ^) Nicht umsonst appellierte er an den frommen
Glauben, dass Zeus selbst seinen Enkeln Sparta verliehen und
Apollo die Existenz des Staates gewährleistet habe; aber er-
mahnte auch von dem törichten Beschlüsse ab und forderte
an die glückliche Eroberung Messeniens erinnernd zum Aus-
harren auf.
Tyrtaios' Gedichte ^) sind nicht eigentlich Poesie ; denn es-
gibt ja in Wirklichkeit überhaupt weder eine politische noch
eine rein didaktische Poesie. Trotzdem genossen sie wegen
ihrer Gesinnungstüchtigkeit hohes Ansehen, zuvörderst natürlich
bei dem Volke, dessen Geist sie getreu abspiegelten. Die
Lakedämonier hatten die Gewohnheit, die Embaterien fort und
fort in der Schlacht zu singen ^) ; die Elegien aber trugen ein-
zelne im Bivouac vor und, wer es am besten verstand, empfing
vom Polemarchen ein besonderes Stück Fleisch als Belohnung. '')•
Von Lakedämon kamen die Gedichte nach Kreta ^) und Athen ;,
sie wurden aber wenig gelesen und gingen wahrscheinlich früh
unter. Ausser den Sentenzensammlern berücksichtigten sie fast
nur Philosophen ^) und Historiker. Die Fragmente stehen ausser-
1) Arist. pol. 5, 6, 2; Paus. 4, 18, 1.
2) Thiersch Acta philol. Monac. 3, 640 ff. stellt die eigentümliche
Ansicht auf, das überlieferte rühre nicht von Tyrtaios, sondern von später
lebenden Spartanern her; er vermag jedoch diese Hypothese nicht einmaL
wahrscheinlich zu machen.
3i Aristox. bei Ath. 14, 630 f.
4) Philoch. bei Ath. a. O.
5) Plato leg. 1, 629 b.
6) Plato (Bergk Rhein. Mus. 3, 213 f.), Aristoteles und Chrysippos-
(Bergk zu Fr. 14).
^54 ^- K^apitel.
bei Bach^) am besten bei Bergk IP p. 8—22; zu dem langen
fr. 10 ist eine neue Kollation des Oxoniensis heranzuziehen. ^)
Unter den Uebersetzern geniesst Barodet^) den besten Ruf;
enge an Tyrtaios lehnt sich Zinkgref in ,, Vermahnung zur
Dappferkeit nach Form und Art der Elegien des Grichischen
Poeten Tyrtäi" an. '')
In völlig andere Bahnen lenkt die Elegie mit M i m n e r m o s. ^)
Mögen die Jonier auch immer lebenslustiger als die Dorier
gewesen sein, so haben sie doch auch in Asien lange den
männlichen Sinn , der ihren attischen Brüdern bis nach den
Perserkriegen blieb, bewahrt. Erst das Zusammenströmen an-
sehnlicher durch den Handel erworbener Reichtümer und die
aus wiederholten unglückHchen Kriegen entspringende moralische
Entkräftung machten sie für die Genüsse Asiens empfänglicher.
Die Scheidewand zwischen Joniern und Kleinasiaten fiel und
■die Weichheit ihres Sinnes wurde gleichzeitig zur Weichlichkeit.
Am schlimmsten stand es in Kolophon ^) ; hier trat als der erste
öjffentliche Vertreter der lydischen Denkungsart Mimnermos auf
Archilochos hatte seine Liebe noch in starken Tönen ausgesprochen
und den Liebeszorn vorwiegen lassen. Jetzt treten dagegen
zärtliche und klagende Liebeslieder an die Stelle.
Mimnermos entstammte einem Geschlechte Kolophons, wie
er selbst mitteilt (Fr. 9): , .Nachdem wir das ragende neleische
Pylos verlassen, kamen wir hochgemut in das hebhche Kolophon
und von dort ausziehend nahmen wir nach der Götter Rat-
schlüsse das äolische Smyrna." Bei dem bekanntlich sehr
innigen Verhältnisse der griechischen Mutter- und Tochterstädte
lässt sich nicht ermitteln, ob Mimnermos in Kolophon oder
Smyrna lebte; er erwähnt beide Städte.^) Sein Zeitalter bestimmte
man nach einem Verse des Solon ^) ; denn nachdem Mimnermos
1) S. 260.
2; Blass Jahrbb. 111, 597 ff.
3) Poi'sies militaires de l'antiqnite, Brux. 1835.
4j Von W. Braune in den Neudruckeu deutscher Literatlirwerke de.s 16.
und 17. Jahrhunderts (Nr. 18 Halle 1879) herausgegeben.
6) P. Schöne mann de vita et carminibus Mimnermi speo. I. Göttingen
1823; Chr. Marx de Älimnermo poeta elegiaco, Cösfeld 1831.
6) Xenophanes Fr. 3; Phylarchos bei Athen. 12, 526a.
7) Suidas nennt au.s.serdem A.stypalaia als Heimat.
8) Roh de Khein. Mus. 33, 201.
Die alte Elegie und die jambiscli-troehäisclie Diclituag. 255
gesungen hatte ,, Sechzigjährig möge mich das Todesloos ereilen",
erwiderte Solon, er hätte sagen sollen „Achtzigjährig möge mich
das Todesloos ereilen". ^) Wer Solons Blütezeit auf Ol. 47 ver-
legte -), konnte annehmen, dass er geboren wurde, als Mimnermos
in seiner axjxr] stand; so erklärt sich die Nennung von Ol. 37.
Dann wäre jedoch Mimnermos schon mindestens sechzig Jahre
alt gewesen, als Solon ihn ansang. Die Synchronisten machten
Mimnermos zum Zeitgenossen des Solon. Die eigene Angabe
des Dichters (Fr. 14, 2), dass er den Krieg der Smyrnäer mit
Gyges nach den Berichten der Aelteren, d. h. wahrscheinlich
der vorhergehenden Generation erzähle, fördert etwas mehr.
Er ist also frühestens unter der Herrschaft des Gyges geboren.
Jenes Fragment des Solon klärt zugleich über den Namen des
Vaters auf, weil jener ihn AiYoaaräoY] anredet. Aeltere und
neuere Gelehrte wollten allerdings einen symbolischen Namen
darin erblicken, weil sie die patronymische Form unberück-
sichtigt Hessen und in dem Worte gar Xqbc, und o^dziv wieder-
zufinden glaubten. Von den Lebensumständen des Mimnermos
wissen Avir nichts w^eiter, als dass er die Flötenspielerin Nanno
liebte^); die meisten seiner Elegien sind dieser Liebe und dem
Kummer, den ihm teils seine ergrauenden Haare teils zwei
Nebenbuhler (Hermobios und Pharokles) dabei verursachten,
gewidmet, weshalb die Grammatiker die ganze Sammlung
Navvw nannten.*) Einen peinlichen Eindruck machen die fort-
währenden Klagen über das Alter, dessen Schrecken der Elegiker
in den düstersten Farben und mit unerschöpflicher Phantasie
ausmalt (V. 1, 5 ff. 2, 5 ff. 3. 4. 5, 5 ff. Theognidea 1131 f.);
es stellt ihm nichts anderes als Krankheit und hoffnungslose
Liebesschmerzen in Aussicht. Darum möchte er mit sechzig
Jahren schon sterben ; übrigens scheinen die Jonier überhaupt
so gedacht zu haben, .wenn anders wir der Nachricht glauben
dürfen, dass sich auf Keos die Greise durch Gift zu töten
1) Diog. L. 1, 60.
2) So lautet die erste Angabe des Suidas.
3) Hennesianax V. 35 flf. Poseidippos Anthol. Pal. 12, 168.
4) Rtob. ilor. 11, 1. 102, 3. 116, 33. 34. Strabo 14, G34. Ath. 11, 470a.
Sie bestand nach Porphyrio in Hör. ep. 2, 2, 101 aus zwei Büchern, lieber
die Worte des Suidas £'(^a'\is ßtßXia xaüxa TzokKÖ. Volkniaun Symb. philol.
Bonn. 2, 727 ft;
i
25ß 9. Kapitel.
pflegteil. ^) Es wäre jedoch ungerecht, wenn wir Mimnerinos
nur nach diesen Aeusserungen beurteilen wollten. Selbst in
seinen erotischen Elegien liebte er es, die mythische Ver-
gangenheit der Gegenwart gegenüberzustellen. ^) Aphrodites
Macht zu verherrlichen, erzählt der Dichter von Diomedes und
Ismene (Fr. 21. 22); aber auch der Argonautenzug (Fr. 11),
der Becher des Helios (Fr. 12), troische Sagen (Fr. 18) und
sogar Niobes Gram (Fr. 19) dienen seinen Gedichten zum
Schmucke. Der Dichter der zarten Liebesklagen reiht sich in-
des an Kallinos durch eine grosse Elegie an, in welcher er den
Kampf zwischen den Smyrnäern und Gyges schilderte; sie war
so umfangreich, dass Pausanias^) einige Verse ausdrücklich aus
dem Proömium citierte. Wahrscheinlich gehören auch Fr. 14
und die Gründungsgeschichten Fr. 9 und 10 dazu. Es scheint,
dass Mimnermos seine Mitbürger, als sie wieder einmal von
ernsten Gefahren bedroht waren, an jenen glücklichen Krieg
erinnerte und so ihre Zuversicht zu heben suchte. ^) Die Späteren
beachteten aber nur seine Liebeselegien, welche die erotische
Elegie der Alexandriner bereits vorbildeten^); in diesem Sinne
heisst er sogar Erfinder der Elegie. ^) Mimnermos war daher
der Liebling der alexandrinischen Elegiker, welche seine schmach-
tenden zärtlichen Liebesklagen für den edelsten Gegenstand
dieser Dichtgattung hielten'') und im Enthusiasmus hie und da
so weit gingen , dass sie seine Elegien über Homer stellten. ^)
In jener Zeit fanden viele seiner Verse in die Sammlung der
Theognidea Aufnahme. Schon bei Lebzeiten des Dichters waren
seine Elegien in das stammverwandte Athen, wo sie den jungen
Solon zur Nachahmung anregten, gekommen; Mimnermos hat
, 1) Ael. V. h. 3, 37.
2) Schneidewin Philol. 1-, 151 f.
3) 9, 29. 4.
4) Flach I 173 denkt an den glücklichen Angriff, den Alyattes (612—663
nach Duncker, 609 — 661 nach v. Gutschmid) auf Kolophon machte.
6) liohde der griechische Koman S. 72.
6) Marias Plotins are gramm. III p. 610, 6 K u. Orion p. 58 (Et. Gud.
p. 180) aus Didynjos. Kyrillos Anecd. Par. IV 196, 27 nennt als alte Elegiker
blos KallinoH und Mimnermos. *
7) Hermesianax a. O. Alex. Aet. bei Athen. 16, 699 c. Hör. ep. 2, 2, 101.
8) Poseidippos Anthol. 12, 168; Prep. 1, 9, 11.
Die alte Elegie vmd die jambisch-trochäische Dichtung. 257
auch den Ruhm, die poetische Kraft der Sohne Attikas zuerst
geweckt zu haben. ^)
S olon^) ist ja der älteste attische Dichter und somit in jeder
Beziehung für Athen epochemachend. Er gehört als Sohn des
Exekestides der uralten Familie der Kodriden an. Seine jün-
geren Jahre verlebte er auf Reisen, bei denen nicht Bilduiigs-
eifer, wie die Späteren sagten , sondern der Wunsch , das zu-
sammengeschmolzene Familiengut wieder zu vermehren , die
Triebfeder war. Dann griff er aber mit Kraft und Talent in
das politische Leben ein. Die erste Probe seiner Herrschaft
über das Volk legte er ab, als die Athener nahe daran waren,
den Megarern Salamis dauernd zu überlassen, indem er sie
durch eine begeisterte Elegie von hundert Versen zu einer letz-
ten Kraftanstrengung aufrief.^) Dass sich Solon dabei wahn-
sinnig gestellt habe, ist gleich der rationalistischen Erklärung,
die Athener hätten die Todesstrafe auf einen solchen Rat ge-
setzt, eine schlechte Erfindung Späterer, die nicht begreifen
konnten, wie ein Staatsmann in der Volksversammlung die
elegische Form wählte. Die Redekunst war eben noch gar
nicht entwickelt, während die Poesie allgemein verstanden und
geliebt wurde. So erliessen auch die arabischen Minister, als
die arabische Dichtung auf ihrem Höhepunkte stand, Staats-
schriften in Kassidenform. Als Archon (Ol. 46, 3, 594/8)*)
reformierte Solon den ganzen Staat, nachdem er durch Epime-
nides den erforderlichen Gemütszustand hatte herstellen lassen.
Sein Werk dauerte aber nicht lange, denn seine Warnungen
vor dem herrschsüchtigen Peisistratos glitten an der Vertrauens-
seligkeit des V^olkes ab. Trotz des freundlichen Entgegenkom-
mens des Tyrannen verliess er schwergetroffen Athen und ging
1) Die Fragmente findet mau in Mimnermi qua« supersunt emend. Nie.
Bach, Lpg. 1826 und bei Bergk II* 25—33.
2) Die Hauptquelle für seine Lebensgeschichte ist ausser Diogenes von
Laerte die von Plutarch verfasste Biographie; sie geht wahrscheinlich auf
Hermippos und Didymos zurück (Prinz de Solonis Plutarchei fontibus, Bonn
1867; H. Begemann quaestt. Soloneae spec. I. Göttingen 1875; Vol-
quardseu Bursians Jahresber. 7, 389 ff.)- Aus unserem Jahrhundert sind
zu nennen E. Bohren Beiträge zu dem Leben Solons, Philol. 30, 177 ff. und
Cerrato Riv. di filol. VI. nov. dec. VII. geun. febr.
3) Paus. 1, 40, 5. Dies geschah Ol. 44, 1 = 604.
4) Andere (bei Suid.) nannten Ol. 47.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur.
17
258 ^- Kapitel.
noch als Greis in das Exil nach Kypern. Soloii überlebte,
w«nn Phanias Recht hat, den Beginn der Tyrannis nicht ein-
mal um zwei Jahre ;^) er starb also Ol. 54, 3 (561 v. Chr.), an-
gebhch achtzig^) oder hundert Jahre alt. Mit Krösus konnte
er das berühmte Gespräch auf keinen Fall halten, weil dieser
erst Ol. 55, 1 den Thron bestieg.^) Die Sagen von seinen liei-
sen lassen wir dahingestellt.^)
Den Hauptkern von Solons Dichtungen bilden Elegien. In
seinen jüngeren Jahren schloss er sich wahrscheinlich an Mim-
nermos an, wie das an ihn gerichtete Gedicht beweist ; aus die-
ser Zeit stammen die erotischen Fragmente (fr. 25 und 26).
Später gab er aber, den ernsten Staatsgeschäften sich widmend,
diese Tändeleien auf. Sein patriotischer Zorn riss ihn zuvörderst
zu der berühmten Elegie ,, Salamis" hin, von der wir leider
nur drei kurze Fragmente besitzen ; sie lassen noch den stür-
mischen begeisternden Ton der Dichtung, die- wahrscheinlich
den Höhepunkt seines poetischen Schaffens bezeichnet, ahnen.
Schon die Idee, dass er sich als Boten, der von Salamis kommt,
darstellt, verrät einen dichterischen Sinn, welcher den übrigen
Elegien mangelt.^) Sie behandeln unpoetische Gegenstände in
der breiten Art des Tyrtaios und athmen den gleichen edlen
Sinn; der grosse Staatsmann legt in ihnen sowohl seine rühren-
den Sorgen um das geliebte Vaterland als auch die freudigen
Gefühle über das aufgerichtete Werk nieder. Zugleich liefert
er zu seiner Gesetzgebung gewissermassen einen Commentar,
indem er seine Absichten, das Volk zu schützen und den Vor-
nehmen einen Zügel anzulegen. Allen enthüllt. In Elegien,
die an den Dichter selbst oder an Freunde, wie Kritias (fr. 22)
und Philokypros (fr. 19) gerichtet sind, gibt Solon Ratschläge
allgemeiner Art und stellt Betrachtungen über das menschhche
Leben an. Eine Elegie (Fr. 27) ist nichts weiter als eine höchst
1) Büdinger Sitzungsber. der Wiener Akademie 92, 197 ff. weist als
Anfang8jahr der Tyrannis Ol. 64, 1 uach.
2) Schol. Plat. p. 360 B aus Hes. Mil. (Roh de Rhein. Mus. 33, 205 A.).
3) Philippi Rhein. Mus. 36, 472 f.
4) Bii.ste bei Visconti iconogr. gr. pl. 9. Die Florentiner Herme mit
der modernen Aufschrift Xö/.tuv ö vojjLod-Etrjr stellt in Wirklichkeit Sophokles
dar.
6) Auch der wohlwollende Plato (Tim. p. 21 c) verklausuliert .sein Lob.
Die alte Elegie und die jambisch-tiochäisi-he Dichtung. 259
nüchterne Liste der zehn Lebensabschnitte. Aus dem Gedichte
an Philokypros erfahren wir , dass Solon auf Kypern war und
jenen, den Fürsten von Soloi, besuchte; der Dichter nimmt von
ihm Abschied, wobei er seinem Geschlechte und Fürstentume
den Segen der Götter, sich selbst aber glückliche Heimkehr
wünscht.
Daneben dichtete Solon nach Art des Archilochos auch
Jamben, Epoden und trochäische Tetrameter. ^) Während von
den Epoden keine Reste vorliegen , verdeutlichen Fr. 32 — 35
seine trochäischen, Fr. 36—40 seine jambischen Gedichte. Er
stellte hier nicht wie in den politischen Elegien seine Anschau-
ungen objectiv dar, sondern bekämpfte lebhaft seine zahlreichen
Gegner und angebliehen Freunde, welche ihn höhnten, dass er
seine Gewalt nicht zur Erreichung der Tyrannis benützt habe.
Solon tritt ihnen mit volkstümlicher Sprechweise gegenüber und
gibt ihre eigenen Spottreden (Fr. 33) wieder. Von den Tetra-
metern war mindestens ein Teil an seinen Freund Phokos ge-
richtet. Auf Irrtum beruht die Angabe, dass Solon seine Ge-
setze in Hexametern abgefasst habe;^) denn die späteren Gram-
matiker nahmen bekanntlich wegen der Zweideutigkeit des
Wortes vöjAo? für alle alten Gesetze metrische Form an. Dabei
ging man so weit, zwei augeblich einleitende Hexameter (Fr. 31)
zu erfinden. Dass Solon ein Epos ,, Atlantis" begonnen habe,^)
ist blos aus den bekannten Erzählungen des Flato (Tim. p. 24 ff.
Grit. p. 108 ff.) erdichtet. Das einzige lyrisclie Fragment (Fr. 42),
das scheinbar einem Skolion angehört, rührt von dem berühm-
ten Fälscher Lobon her.
Es versteht sich von selbst, dass Solons Gedichte in Athen
ebenso populär waren als die des Tyrtaios in Sparta, weshalb
es an Anspielungen'^) und Parodien nicht fehlte.^) Die Späte-
ren beschränkten sich aber bald darauf, sentenziöse Stücke
1) Eine blosse Anekdote ist die Erzählung bei Sehol. A II. P 265, Solon
habe, weil er daran verzweifelte, Homer nachahmen zu können, seine eigenen
Schriften verbrannt.
2) Plut. Sol. c. 3.
3) Plut. c. 31.
3) Z. B. Eurip. Erechtheus V. 11 ff. vgl. Fr. 13.
4) Der Kyniker Krates parodierte den Anfang von Fr. 13 (Julian, or. 6
p. 258, 15 ff.)
17*
260 9- Krpitel.
auszuwählen ; davon kam manches in die Theognidea. Die
Gedichte selbst gingen bis auf Nr. 4, 13 und 27 und eine An-
zahl Fragmente verloren. Von diesen üeberresten veranstaltete
Nie. Bach Bonn 1825 eine Separatausgabe ;^) allein brauchbar
ist die Fragmentensammlung bei Bergk II* 34 — 61 mit Nach-
trag p. 520 f.
Der Fälscher Lobon machte auch andere der ,, sieben Wei-
sen""^) zu Dichtern von Elegien, so Pittakos mit sechshun-
dert Versen, Chilon mit hundert Distichen und Periandros
mit oTTOö-r^xai von zweitausend Versen. Letzteren nennt auch
Athenaios einen elegischen Dichter.^) Dem weisen Kleobulos
von Lindos und seiner ihrem Vater nicht nachstehenden Toch-
ter Kleobulina kommen nur Pätsel in elegischem Versmaasse
zu, die Bergk IP 62 f. und IIP 201 f. zusammenstellt.
An die sieben Weisen reiht sich der Zeit nach D e m o d o-
kos von der kleinen Sporadeninsel Leros an, der nicht vor
Blas lebte , weil er dessen Gerechtigkeit rühmte (Fr. 6) und
wahrscheinlich nicht jünger als Hipponax war.*) Er hinterliess
uns nur wenige Spuren seiner Thätigkeit. Von seinen Epigram-
men besitzen wir blos zwei Distichen, welche beide polemische
Tendenz gegen Nachbarstädte zeigen ; er erscheint somit als
der früheste Epigrammatiker. Der gute Einfall (Fr. 2), der
nach Art des Phokylides mit den Worten Kai töSe ATfj(io6öxot>
beginnt: ,,Die Chier sind alle schlecht, nicht blos ein Teil von
ihnen, den einzigen Prokies ausgenommen; aber auch Prokies
ist ein Chier" wurde von den Epigrammendichtern wahrhaft zu
Tode gehetzt ; Bergk teilt drei Imitationen mit (Fr. 3 — 5), aber
auch dem Phokylides, der sonst blos Hexameter dichtete, wurde,
weil er seine angegriffenen Mitbürger verteidigen sollte, eine ge-
schmacklose RepUk (Fr. 1) in den Mund gelegt; Bergk hatte
Recht, als er seine Bedenken dagegen aussprach. Von den
Jamben ist ein einziger für Blas schmeichelhafter Vers erhalten.
Die dürftigen Fragmente stehen bei Bergk IP 65 ff.
Die Elegien des Xenophanes haben wir bereits oben im
1) ßolonifl carminnm qnae siipersnnt.
2) Hiller Rhein. Mus. 33, 618 ff.
3) H, «32 d aus der S. 246 A. 11 erwähnten Quelle; Hill er Rhein. Mus.
33, 624 zweifelt nichtsdestoweniger daran und dies wahrscheinlich mit Recht,
i) Bergk tu Fr. 6.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 261
Zusammenhange mit seinen philosophischen Dichtungen be-
sprochen. Von dem Epiker Asios^) hegt blos ein Fragment^)
vor, das einen Schmarotzer in einer teils an die Thersitesscene
teils an Hipponax erinnernden Weise schildert; es gehörte,
wenn es ■wirklich echt ist, wahrscheinlich zu einer sympotischen
Elegie.
Als der letzte Elegiker dieses Zeitraums bleibt somit
Theognis^), ein Bürger des nisäischen Megara;^) nur Plato,^)
Suidas und der Schreiber der Handschrift c weisen ihn irrtüm-
lich dem hybläischen Megara zu. Er kam allerdings, wie er
selbst angibt (V. 783) , auch nach Sicilien und mag sich dort
längere Zeit aufgehalten haben. Plato schwebte bei seiner
Aeusserung wahrscheinlich eine bestimmte Elegie vor, vielleicht
die von Suidas erwähnte iXs-^elci. sie, tooc awO-evrac twv XopaxoDOtwv
sx f^? TToX'.opx'lac. Jedenfalls ist Xopaxooatwv entweder missver-
ständlich oder hinter TuoXtopxtac zu stellen. 0. Müller,^) Bern-
hardy^) und Hecker'*) denken an die Eroberung des sikelischen
Megara, welche Gelon Ol. 74, 2 oder 3 (484 oder 483) gelang;
Rintelen'') an die Belagerung von Syrakus durch Hippokrates,
€s ist jedoch zweifelhaft, ob Theognis damals noch lebte.
Wenn ihn Suidas und Eusebios^") (jedenfalls nach Apollodor)
in die 59. Ol3'mpiade setzen, so beziehen sie, wie es auch Bergk
thut, die Andeutungen, dass ein persisches Heer heranrücke,
1) Vgl. s. 192.
2) Athen. 3, 125 b; Bergk II *23.
3) Beüyviooc; im Geuitiv V. 22.
4) Feiice Ramorino Riv. di filol. 4, 1 flf. 238 fi". gibt einen Ueberblick
über den Stand der Forschung.
5) leg. 1, C30 a, schon von Harpokration s. v., dem zufolge viele Plato
beistimmten, widerlegt. Nach Schol. Plat. jj. 231 B teilten einige diese An-
sicht.
6) Dorier II 509. *488.
7) Suidas I jj. 1127.
8) Phil>)l. 5, 47.
9) De Theognide p. 13.
10) Synkellos Ol. 60, 1, lateinisch Ol. 59, 4 (540), armenisch 58, 4 (536);
Hiller vermutet Jahrbb. 123, 459 f., Theognis sei als Zeitgenosse des Phoky-
lides betrachtet worden und bei diesem habe man eine Anspielung auf den
Einfall des Harpagos gefunden; dass das umgekehrte richtig sei, erhellt dar-
aus, dass nur Suidas und die Handschriften M P des Hieronymus beide als
Zeitgenossen betrachten; sonst gilt er als Zeitgenosse des Xenophaues (Di eis
Rhein. Mus. 31, 22).
262 ^- Kapitel.
(V. 764 und 773 — 82), auf den Angriff, welcher den jonischen
Städten von Harpagos drohte. In der That geht aus den Ver-
sen des Theognis hervor, dass nur vorsichtige Leute das sicher
in weiter Ferne befindUche Heer fürchteten; allerdings könnte
man auch an den ersten Versuch der Perser unter Mardonios
denken , aber die Alten wurden wahrscheinlich durch weitere
uns unbekannte Aeusserungen davon abgehalten. In V. 671 f.
kann nur ein Mann von zu lebhafter Phantasie sich an den Kampf
bei den Thermopylen erinnern. Bergk bezieht V. 503 ff. ohne
Grund auf den Gesetzgeber ünomakritos von Lokroi. Nur in
V. 891 ff. ist unverkennbar der lelantische Krieg gemeint ; aber
sind die Verse wirkhch von Theognis? Es wird nichts übrig
bleiben, als jenen Alten zuzustimmen, da wir auch die Geschichte
der megarischen Unruhen^) hauptsächlich aus Theognis selbst
kennen. Er war ein megarischer Edelmann, der in den Partei-
kämpfen seiner Vaterstadt als literarischer Vorkämpfer der
Aristokraten eine sicher bedeutende Rolle spielte, obgleich er
eine Zeit lang versöhnlich gestimmt war (V. 220. 331. 544,
945 f.)^). Die Demokraten verstärkten sich durch die Bauern
(V. 53 ff.) und vertrieben gewaltsam die Adeligen , welche zu-
gleich ihre Güter verloren (V. 1197 ff. vgl. 345 ff.). In der
Verbannung zog er, wahrscheinlich um Hilfe zur Rückkehr zu
erlangen, weit umher. Sicihen, Euböa und Sparta waren seine
Zufluchtsorte; an letzterem Orte versöhnten den Dichter der
vortreffliche Wein von den Geländen des Taygetos (V. 879 ff.)
und die Schönheit der Lakonierinen (V. 1001 f.) etwas mit
seinem harten Schicksale. Später eroberten die Aristokraten
Megara wieder und nahmen an der Volkspartei schwere Rache. ^)
Alle diese Ereignisse begleitet Theognis mit Elegien , welche
meistens an seinen lpa)(j,svoc Kyrnos , den jungen Sohn des ||
Polypais, gerichtet sind. Die Gedichte beziehen sich in der
1) Arist. jwlit. 6, 3. 6; Plut. qu. Gr. 18. Die Unruhen begannen um
612 (Ol. 42, 1) und dauerten mit geringen Unterbrechungeu, so lange Megara
unabhängig war.
2) Carl Müller de scriptis Theognideis, Jena 1877 p. 49 ff. vermutet,
er sei eine Zeit lang das Haupt der Mittelpartei gewesen.
3) V. 847 ff.; V. 949 ff. dagegen beziehen sich nicht auf „die Mässig-
ung, als die Oligarchep ihre Kückkehr erzwangen", sie haben mit Politik
nicht djLs niinde.stc zu thun.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 263
Regel auf politische Zustände, was die Späteren verkannten;
Theognis nennt nämiich sdjse Pai'tei die ,, Guten", seine Geg-
ner aber die ,, Schlechten".^) Die meisten dichtete er för gesel-
lige Zasammenkünfte seines Freundeskreises , weshalb häufig
Anspielungen auf das Trinken und Schmausen vorkommen;
daher ist, obgleich vieles der Art Mimnermos angehört, das
erotische Element nicht ausgeschlossen. Kam doch zu den
Standesvorurteilen des Theognis der persönliche Hass gegen
einen Bürger, der das von ihm geliebte adelige Mädchen , weil
die Eltern dem reichen Plebejer den Vorzug gaben , heiratete
(V. 261 ff.) Sie blieben aber trotzdem, wie aus V. 257 ff. und
1097 f. erhellt, mit einander in Verbindung. Die Alten kann-
ten ausserdem zahlreiche erotische Elegien, die an schöne Kna-
ben gerichtet waren , und es liegt kein Grund vor , sie dem
Theognis abzusprechen.^) In der Kaiserzeit hatte man für der-
artige Gedichte eine bedenkliche Vorliebe, der wir auch das
zwölfte Buch der palatinischen Anthologie (Moö^a TratStxyj) ver-
danken; daher bewahrt der codex Mutinensis als IXsvs'-föv W
eine 160 Verse umfassende Anthologie jener päderotischen
IClegien. Es ist höchst merkwürdig, dass niemand ausser Saidas
diese erwähnt oder citiert.
Die übrigen Handschriften bieten 1230 elegische Verse;
wie längst erkannt ist, liegt hier mir eine Sammlung von Ex-
cerpten vor.^) urkundlich erhellt dies schon aus den Citaten ;
denn Plato^) las bald (oXtYov iisraßdc) nach V. 33 schon 945
und Xenophon^) oder ein anderer Sokratiker fand V, 183 ff.
unmittelbar hinter dem Proömium. Wann die Gedichte selbst
verloren gingen und an ihre Stelle Sentenzensammlungen
traten, lässt sich nicht bestimmen ; jedenfalls geschah es sehr
1) Welcker S. XX ff. Die Sokratiker führten anscheinend zuerst die
Gedichte des Theognis auf die Ethik zurück.
2) Nietzsche Rhein. Mus. 22, 185 schreibt sie dem Mimnermos zu,
Hiller Jahrbb. 123, 470 f. dem voralexandrinischen Veranstalter unserer
Sammlung.
3) Fr. Nietzsche zur Geschichte der theognideischen Spruchsammlung,
Rhein. Mus. 22, 161 ff.; v. Leutsch Philol. 29, 526 ff. V. Leutsch Philol.
29, 683 f. 30, 206 f.. Sitzler in seiner Ausgabe S. 12. 38. 39 und Hiller
Jahrbb. 123, 478 meinen, dass nur weniges fragmentiert sei.
4) Men. p. 95 e.
6) Stob. flor. 88, 14.
264 ^- Kapitel.
frühe, weil gelegentliche Citate nur sehr wenige neue Verse
bringen, aber Isokrates^) kannte noch keine solche Genealogie.
Von unserer Sammlung wollte Nietzsche nachweisen,'^) dass
sie erst Stobaios gekannt habe; aber für Athenaios haben wir
keinen genügenden Beweis des Gegenteils. Sicher existierten
im Altertum mehrere Sammlungen. Interessant ist hiefür, was
Suidas aus Hesychios von Milet mitteilt: "EYpacj^sv sXsysiav elr
xobc, ocöO-^vta? twv Sopaxooaicov Iv r^ zoX'.opxioi: <y-oCO> YV(«)[jLac 8i
iXsYstwv (i)C ^JtTT] ß(o', xal 7rp6? Kupvov töv eaoToö £ptb|A£Vov Yvtojio-
XoYiav dta rjpwsXeYstwv xat Itspa? uxo^Tjxac rcapatvsTtxac ^) ta
Travia -(- ^^'->twc: (Dilthey yj^ixwc, vielleicht stttj ßw'). Suidas fügt
dann selbst hinzu: ''Ott \xhv ^tapaiveaetc s'^pa^s. OsoYvtc, aXX' Iv
[jLS^o) TOUTCöv SisoTrapjjiva sopTjvTat {xtapd T^va xal iratScxo'. spwts?
xal aXXa oaa 6 Svapexoc ßwc ocTroaTps'feTaL^) Dem Autor des
Hesychios lag also eine wahrscheinlich blos moralische Antho-
logie von zweitausend achthundert Versen vor. Auch Suidas
selbst bezieht sich wahrscheinlich auf eine andere Sammlung
als die erhaltene, da, wenn anders wir die Worte des Suidas so
urgieren dürfen, in diesem Exemplare die Moüaa xatScxi^ unter
die übrigen Gedichte gemischt war. Weil in der erhaltenen
Antiiologie selbst zahlreiche Verse an zwei Stellen vorkommen,
darf man annehmen , dass der Verfasser zwei vorhandene zu
einer vereinigte.^) Er ordnete die ausgewählten Stücke teils
nach Stichwörtern,*') teils nach dem Inhalte. Die Excerpte sind
höchst oberflächlich gemacht, so dass oft recht wenig Ethik in
den V^ersen steckt, was Nietzsche zu dem sonderbaren Einfall
veranlasste, der Sammler habe eine Theognis feindhche paro-
dische Tendenz gehabt. Zu den Fragmenten des Theognis
traten überdies Abschnitte aus anderen Elegikern, namentlich
1) Ad Nicoclem § 43.
2) tt. O. 8. 181 ff. dagegen C. Müller de syllogis Theognideis p. 33 flf.
3) V, Leutsch Philol, 29, 522. 30, 520 unterscheidet ohne Grund
onoiHjxat und i'KVftirt..
4) Ich habe einige Lesarten der Turiner Handschrift, welche Ramorino
(a. O.) mitteilt, aufgenonnuen.
6) H. 8chneidewiu de syllogis Theognideis, Strassburg 1878.
6) Fr. Nietzsche a. ().; Th. Fritzsche das Stichwort als Ordnungs-
prinzip der theognideischen Fragmente, Philol. 29, 646 ff.; C. Müller de
scriptis Theognidei.s p. 13 ff., eingeschränkt von U. iSchneidewin de syllo-
gis Theognideis 8. 36 ff. und Hiller Jahrbb. 123, 472.
Die alte Elegie uud die jambisch-trochäische Dichtung. 265
Soloii (z. E. V. 227 fF.) und Mimiiermos (z. B. V. 795 f. 1017
— 22). Wie wir aus den noch kontrolierbaren Stücken er-
sehen,, wurden die oft aus dem Zusammenhange gerissenen Verse
namentUch am Anfang geändert, um den Schein der Selbstän-
digkeit zu gewinnen.^) Es handelt sich für die höhere Kritik
zunächst darum, alle fremden Bestandteile auszuscheiden; ist
schon diese Aufgabe sehr schwierig, so scheint es mir wenig-
stens unmöglich, den einen und den andern Fall ausgenom-
men, das als nicht Theognideisch erkannte (z. B. V. 1209 — 16)
einem bestimmten Dichter zuzuweisen. Härtung und Bergk
sind auf diesem Gebiete am weitesten gegangen. Ferner müs-
sen die echten Bestandteile, welche oft nur ein, zwei oder drei
Distichen umfassen , abgegrenzt werden und hier dürften, ob-
gleich die besten Handschriften durch den Mangel an Ab-
sätzen uns im Stiche lassen, die meisten und reellsten Erfolge
zu erzielen sein.^) Darüber hinaus gelangen wir in das Gebiet
der reinen Hypothese, wo den Philologen die ars nesciendi am
besten kleidet; demioch haben- viele ihren Scharfsinn in der
versuchsweisen Herstellung der ursprünglichen Elegien geübt.
Welcker^), der das grosse Verdienst hat, die politische Tendenz
des Theognis klar erkannt za haben , verwarf zunächst jenen
zweiten erotischen Teil , indem er auf Xenophons (?) Worte/)
Theognis habe blos von Tugend und Laster gesprochen, zu
viel Gewicht legte; überdies redet dort Theognis V. 1354 Kyr-
nos und V. 1349 Simonides an, wie dies in den sogenannten
paränetischen Elegien geschieht. Dann sonderte er die .parodi-
schen, epigrammatischeti und sympotischen Stücke aus. Aber
bei aller Anerkennung seines Scharfsinnes kann man ihm nicht
zugestehen, dass er seinem Ziele auch nur nahe gekommen sei.
einige Anhaltspunkte bieten blos die Anreden an bestimmte
[Personen , unter denen der junge Kyrnos, der Sohn des Poly-
)ais, hervorragt;^) an ihn richtet Theognis die meisten lehr-
[haften Elegien. Unter den übrigen Adressaten, Simonides, Ono-
1) Vgl. z. B. V. 1003 flf. mit Tyrt. 12, 13 flf., auch 933 ff. mit 12, 35 flf.
2) Bergk Rhein. Mus. 3, 224 ff,; v. Lcutsch Philol. 29, 663 ff.
3) Theognidis reliquiae S. XX ff.
4) Stob. flor. 88, 14.
5) lIoXo-atoTic; so urteilte schon der Schreiber der Handschrift b.
Welcker S. CI unterscheidet aber beide trotz V. 19—26. 53—60. 183—92.
266 9. Xapitel.
makritos, Klearistos, Damokles, Damonax und Timagoras wird
der erste nach Kj^rnos am häufigsten genannt.
Poetische Bedeutung besitzt Theognis^) nicht besonders.
Der Ausdruck ist jedoch lebhaft und gewandt; zudem steht er
am Ende der eigen tUchen Elegie und gebietet somit über eine
ausgebildete Sprache und einen reichen Schatz von Formeln.^)
Die Gedanken bezieht Theognis nicht selten von älteren Dich-
tern.^) Sein Dialekt ist der epische, sollte aber jedenfalls das
dorische A haben; sonst finden sich nicht viele Dorismen,'*)
woraus erhellen dürfte, dass die Elegie in Megara nicht ein-
heimisch, sondern sozusagen inokuliert war. Merkwürdigerweise
scheinen die Handschriften manchmal geschriebenes Digamma
(z. B. xtSiov = FiS'.ov V. 440) vorauszusetzen.^)
Schon bei Lebzeiten hatte sich Theognis , wie er selbst
mit stolzem Munde verkündete, in den Kreisen seiner Gesin-
nungsgenossen hohen Ruhm errungen : ,,Bei allen Menschen
genannt kann ich doch nicht allen Bürgern hier gefallen;
kein Wunder, Sohn des Polypais! Auch Zeus gefällt nicht allen
Leuten , mag er Regen oder Sonnenschein senden" (V, 23 ff.),,
und zu Kyrnos spricht er nicht minder selbstbewusst (V. 237 ff.) :
,,Dir gab ich Flügel, mit welchen du dich leicht erhebend über
das weite Meer und die ganze Erde hinfliegen wirst; in vieler
Munde wirst du sein und bei allen Gastmählern und Gelagen
weilen und mit hellen Flöten werden dich Jünglinge schön und
hell besingen und selbst im Tode, wenn du in das thränenreiche
Haus des Hades hinabsteigst, wirst du deinen Ruhm nicht ver-
lieren, sondern immer den Menschen am Herzen liegen".^) We-
nig spätere Dichter und Historiker') berücksiclitigten Theognis
1) lieber seine Lebensanschauung H. Beruliardt Theognis quid de rebu»
divinis et ethicis senserit, Breslau 1875.
2) Rieh. Küllenberg de imitatione Theognidea, Strassburg 1874.
3) V. Leatsch an verschiedenen Stellen des Philologus und Bergk im
Kommentar.
4) Engelbert Schneider de dialecto Megariea, Giessen 1882 S. 13 ff.
(z. B. vtv V. 364. h{j 299. vaöv 680. ii.M-9-a: 771).
6) Anders Flach Bezzenb. Beitr. 2, 64 f.
6) Bernhardy II» 1, 632 zweifelt die Echtheit der Verse an.
7) Pindar v. Lentsch Philol. 29, 616, Sophokles Schneidewin zu
Antig. 707, Euripides v. Lentsch a. O., Herodot v. Leutsch Philol. 21,
143 nnd Thnkydides nach den Schollen zu 2, 43, 5.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 267
schon; am meisten Eingang fand er aber in den Kreisen Athens^
welche durch die Ausschreitungen der Ochlokratie geschreckt,
sich aristokratischen Tendenzen zuneigten. Für den Unterricht
der Kinder war ihnen ein Buch, das zugleich als moralischer
und pohtischer Wegweiser dienen konnte, hoch willkommen.
Ich brauche nur die Namen des Plato,^) Xenophon^) und Iso-
krates^) zu nennen, um die Freunde des Theognis genau zu
charakterisieren. Noch später als man das politische nicht
mehr verstand, gehörte Theognis zu den Hausbüchern, welche
der Konversation die Scheidemünze der Trivialitäten lieferten ;*)
daher sagte das Sprichwort: ,,Das wusste man schon , bevor
Theognis lebte. "^) Auch bei den Römern war der Elegiker
ziemlich angesehen. *")
Aus byzantinischer Zeit stammen zahlreiche Handschrif-
ten^), unter denen sowohl wegen seiner Güte als, weil er allein
das zweite Buch enthält, der codex Mutinensis (A), der sieb
jetzt in Paris befindet, den ersten Platz einnimmt.^) Ein jünge-
rer und schlechterer, aber unabhängiger Vaticanus 915 (0) ver-
dient nach jenem die meiste Berücksichtigung;^) doch wäre es
unrecht, wenn ein Herausgeber die übrigen Handschriften ganz
bei Seite setzen würde. Die Citate des Theognis,^") besonders
was Stobaios mitteilt, ^^) weichen von unseren Handschriften oft
1) leg. 630 a.
2) Coüviv. 2, 4 citiert er ihn einfach als ÖECiyvi^, vgl. Cyrop. 1, 6, 44 flf.;
V. Leu t seh Philol. 29, 517. Nach Stobaios flor. 88, 14 verfasste er eine
besondere Schrift über den Dichter , woran Bergk p. 136 mit Kecht zweifelt.
Antisthenes behandelter ihn im vierten und fünften Buche seines npozptKXiv.ö<i
(Diog. L. 6, 16).
3) Ad Nicocl. 12 api^Tog cüfjLßouX&c.
4) Julianos Apostata misop. p. 451, 4 H betrachtet ihn als Lehrbuch des
Schicklichen.
5) Douza zu Lucil. fr. ine. 102.
6) Lucil. 1. c. Varro sat. Men. fr. 236 aus Theogn. 183; Amm. 29, 1, 21
Theognis poeta vetus et prudeus.
7) Bergk Rhein. Mus. 3,206 ff. 396 ff. Sehne idewin Gott. Nach-
richten 1852 Stück 5.
8) Die Kollation Bergks ist aus vau der Mey Mnemos. 8, 307 ff. zu er-
gänzen; vgl. Jordan Hermes 15, 623 ff. Hill er Jahrbb. 123, 452 ff.
9) Jordan Hermes 16,506 ff.; Ziegler Jahrbb. 125, 446 ff.
10) O. Crüger de locorum Theoguideorum ap. veteres scriptores exstan-
tium ad textum poetae emendandum pretio, Königsberg 1882 (Diss.).
11) H. Schneide win de Theognide eiusque versibus in Stobaei florilegio.
servatis, Stettin 1882.
268 ^- Kapitel.
sehr bedeutend ab und manche sind geneigt, sie diesen vor-
zuziehen. Aber Bergk*) und Jordan^) ziehen, wenn ich nicht irre,
mit gutem Grunde die Handschriften, bei denen Gedächtnis-
fehler ausgeschlossen sind, jenen vor; ist ja doch gerade der
gnomiselie Charakter, wie bei allen geflügelten Worten für die
wörtHche Fassung verhängnisvoll.
Als die griechischen Studien in der Renaissanceperiode
wieder auflebten, gehörten die Theognidea zu den beliebtesten
Büchern und wurden mit ähnlichen sentenziösen Schulbüchern
sehr oft gelesen und gedruckt.^) Nachdem 1. Bekker^) dem
Texte eine kritische Grundlage gegeben hatte, brach Welcker
mit seiner Ausgabe (Theognidis reliquiae, Frankfurt 1826) der
richtigen Erklärung und Beurteilung des Dichters die Bahn ;
von den kritischen Ausgaben ist die Bearbeitung Bergks in den
poetae lyrici Graeci II* 117 ff. und die Separatausgabe von
Chr. Ziegler (Tübingen 1868. ^1880) zu nennen. Die neueste
Ausgabe von Sitzler (Heidelberg 1880) verdient wegen eines
Wortregisters Beachtung.
Auch für ganz kurze Gedichte wurde das Distichon ver-'
wendet und zwar, weil die Flöten bei den Leichenfeierlichkeiten
unumgänghch notwendig waren, zunächst für Grabschriften.
Doch finden wir innerhalb dieser Periode, wenn nicht künftige
Funde, das Material vermehren, sehr wenige Grabepigraninie,
z. B. in Attika nur drei (Cauer delectus inscr. propter dial-
memor. 140. 141. 143). Der jonisch-attische Stannii kann unter
den erlialtenen sechsundzwanzig Epigrammen nicht weniger als
vierzehn für sich in Anspruch nehmen. Zu bemerken ist dabei,
da.ss die nicht jonischen Inschriften das spezifisch jonische H
nicht annehmen ; bei den Doriern dringen auch andere Spuren
der Landesmundart ein. Das einzige uns bekannte Epigramm
Thessaliens (Röhl 325) ist sogar im epichorischen Dialekte ab-
gefasst. Durch die häufige Anwendung auf Grabsteinen wird
das Distichon die gewöhnliche Form für metrische Inschriften
4) Rhein. Mus. 3, 896.
6) Hermes 16, 628 f.
6) Zuerst mit Theokrit und Gnomikern Venedig 1495 fol. In Deutscli-
land veröftentlichte zuerst J. Camerarius (Basel 1651) Theoguis mit Pytha-
goras, Phokylides und anderen.
7) Lpg. 1815, 2. A. Berlin 1827.
Die alte Elegie nnd die jambisch-trochäische Dichtung. 269
überhaupt; das älteste inschriftlich erhaltene und genau bestimm-
bare Epigramm, das ein Weihgeschenk begleitet, ist für den
jüngeren Peisistratos eingegraben. ^) Waren doch auch die Sen-
tenzen des Hipparchos ^) oft in Distichen.
Wie sehr diejam bische und trochäischeDichtung^)
mit der Elegie zusammenhängt, erhellt schon daraus, dass ver-
schiedene Dichter beide Arten zugleich pflegten; denn die echten
Griechen kannten , wie wir in der Einleitung dargelegt haben,
auch in der Poesie nur Spezialisten. Wenn aber die Elegie
sich mehr an das homerische Epos anschliesst, entspricht der
Jambos eher den hesiodischen Erga. Während jedoch der
dichtende Böoter seinen Groll in ziemlich ruhigen Hexametern
ausströmte, wählte der Jonier zum Angriffe den scharf zuge-
spitzten Jambos. Die Griechen liebten es, bei den ländlichen
Festen, wenn die Ausgelassenheit zu ihrem Höhepunkte gelangte,
sich kleine Schwächen halb im Ernste halb im Scherze vorzu-
werfen; ganz besonders war aber der Demeterkult eine wahre
Pflanzschule der Spottverse. Bei den Festen dieser Göttin
flogen höhnende Wechselreden hin und her, ohne dass sich
die Getroffenen beleidigt fühlen durften. ^) Die Athener leiteten,
das bei ihnen übliche iajxßtCsw, dessen Stammwort in Wirklich-
keit mit idTCTc'.v zusammenhängt, auf die heitere Magd Jambe
zurück, welche die in dumpfen Gram versunkene Demeter
durch ihre nicht gerade feinen Spässe zum Lachen brachte. ^)
Unter den jonischen Kolonisten war der Demeterkult seit sehr
alter Zeit auf der Insel Paros heimisch ^) und der lambe ent-
1) Thuc. 6, 54. CIA. 4, 373 e. Nach Bergk ist auch das attische Epi-
gramm bei Eust. U. p. 1353, 8 aus der Zeit der Peisistratiden. lieber alte
korinthische Epigramme Will seh Jahrbb. 123, 172 ff. Das älteste Weih-
epigramm dürfte das des Echembrotos (Paus. 10, 7, 6) sein.
2) Plato Hipp. p. 229 a.
3) Lysanias von Kyrene schrieb -sp\ lafißoKoiwv (Athen. 7, 304 b. 14, 620c).
4) Schol. Arist. Ran. 400. Plato verbot es in seinem Staate (leg. 11, 935 e) ;
aber Aristeides (or. 46 p. 298 Jebb) irrt sicher, wenn er dieselbe Massregel
Solon beilegt. Solche beissende Wechselworte liebten auch die alten Ger-
manen; die Edda nnd das Walthariuslied liefern dafür Beispiele.
5) Küster zu Suid. s. v. ; Gaisford Hephaest. p. 423 f.; Santen zu Ter.
Maur. p. 65 f.
6) Hymn. in Cer. 491; Kikanor bei Steph. Byz. v. Iläpo?; vgl. Archil.
Fr. 82; Welcker kleine Schriften 1, 77 ff. Von der parischen Kolonie Thasos-
redet Paus. 10, 28, 3, vgl. Herod. 6, 134, Dion. Per. 523; Her m ann gottes-
dienstl. Altertümer § 65, 26.
270 9. Kiipitel.
sprach hier die Magd Enipo, in deren Namen die SymboHk
ebenso deutlich hervortritt.^) Mit Recht nannte sie Archilochos
seine Mutter; denn er bildete in der That nur die Spottverse
seiner Heimat künstlerisch aus. Aber die Grammatiker ver-
standen den Spass schlecht und warfen ihm sogar vor, dass er
die Abkunft von einer Sklavin nicht verschwiegen habe. ^) Das
satirische und polemische Element konnte im Epos, weil dieses
zu sehr der Gegenwart abgewendet war, nicht aufkommen; die
Satire richtet sich aber immer gegen das gegenwärtige. Immerhin
deuten die Gestalten des Thersites und Margites schon eine
gewisse Neigung hiefür an. Auch das didaktische Epos und
die Elegie konnten, wie wohl sie sich den Tendenzen der
iambischen Dichtung mehr zuneigten, der Aufregung eines
leidenschaftlichen Geistes nicht genügen. Facit iracundia versum !
Die Leidenschaft brachte Archilochos von Paros^)
dazu, die Jamben in die Literatur einzuführen. Was seine Zeit
betrifft, so haben wir am Anfange dieses Kapitels dargelegt,
dass die Alten die Zeit des Archilochos nur aus den oben er-
wähnten zwei Versen kombiniert haben. *) Wir kamen dort zu
dem negativen Resultate, dass Archilochos wahrscheinlich nach
dem zweiten Falle von Magnesia dichtete. Oppolzer^) möchte
ein positives Resultat aus einer von Archilochos erwähnten
Sonnenfinsternis gewinnen; er berechnet als Datum derselben
den 6. April 648. Damit stimmt überein, dass Archilochos nach
den besten Zeugnissen") jünger als Terpander war.
Was die Lebensumstände des Archilochos anlangt, so sind wir
•dafür hauptsächlich auf seine eigenen Nachrichten angewiesen.
Der Dichter entstanmite einer angesehenen Familie von Faros ;
seinen Grossvater Tellis sah Pausanias^) in der delphischen
1) Welcker kleine Schriften 1, 6 f. Der Name kommt in Wirklichkeit
nie vor; ebenso allegorisch ist Enipe bei Mythogr. Vat. 1, 86.
2) Kritias bei Ael, v. h. 10, 13.
3) Welcker kleine Schriften 1, 72 ff. Paul Den ticke Archilocho Pario
quid in Gniecis litteri.s sit tribuendum, Halle und Berlin 1877.
4) Cicero (Tnsc. 1 in.) verdient, wenn er sagt, dass Archilochos unter
Romulus gelebt habe, keinen Glauben.
6) Nach dem Referat in der Philol. Wochenschrift 1882 Sp. 1619.
6) Glaukos bei Plut. mns. 4, vgl. 6 (aus Alexandros), anders Phanias bei
-Clem. AI. Strom. 1, 833.
7) 10, 28, 3,
I
Die alte Elegie und die jambisch-trochäisclie Dichtung. 271
Lesche mit der Priesterin Kleoboia, welche die Orgien in Faros
•eingeführt hatte, gemalt. Sein Vater Telesikles ^) führte auf Befehl
des delphischen Orakels eine Kolonie von Faros nach Thasos^) ; die
Alten nahmen als Gründungszeit die fünfzehnte oder achtzehnte
•Olympiade an^); doch ist zu fürchten, dass sie auch hier den
Eegierungsantritt des Gyges zu Grunde legten. ^) Telesikles
muss aber wieder nach Faros zurückgekehrt sein, weil Archi-
lochos, obgleich ihn Oinomaos^) sogleich mit nach Thasos
ziehen Hess, lange Zeit auf Faros sich aufhielt. Erst als er in
pohtischen Wirren sein Vermögen verloren hatte, siedelte er auf
■den Rat des Apollo nach Thasos über. ^) Doch auch hier glückte
es ihm nicht besser; Archilochos' scharfe niemand schonende
Zunge'') verscheuchte seine Freunde und machte ihm viele
Feinde. ^) Welche Ausdrücke er im Zorne gebrauchte, mögen
uns die Frohen loiTJvSs S' w tti^y^xs xtjv ttoy'^v I/cov (Fr. 91) und
1^ Ss Ol aa^T] wast t' 6wv> IIptYjvsog xyjXwvo? s7rX7]|X{A0p£V oipüYYj'^aYoo
(Fr. 97) lehren. Unter solchen persönlichen Verhältnissen ge-
langte Archilochos zu dem Resultate, in Thasos sei der Jammer
von ganz Griechenland zusammengeflossen (Fr. 52, vgl. Fr. 20);
er tröstete sich darüber durch das ausschweifendste Leben, das
er mit cynischer Offenheit beschrieb. •') Doch auch anderes
Missgeschick traf den Dichter. Der Mann seiner Schwester
ging auf dem Meere zu Grunde, was den Dichter tief berührt
haben nmss, weil er eine ungewöhnlich ernste Elegie (Fr. 9 — 13)
•seinem Andenken widmete. Als Archilochos dagegen in den
Kämpfen zwischen den thrakischen Saiern und den Thasiern
seinen Schild zurückliess, tröstete er sich damit, dass er das
kostbarste, sein Leben gerettet habe und einen ebenso guten
Schild wieder bekommen könne (Fr. 6) ; die Griechen verargten
ihm aber auch hier seine offene Sprache sehr.^") Durch sein viel-
1) Anthol. Pal. 14, 113.
2) Euseb. praep. ev. 5, 33; Steph. Byz. v. ©äaoc.
3) Clem. AI. ström. 1, 144 S. 398 P (Dionysios Ol. 15, Xanthos Ol. 18).
4) Roh de Rhein. Mus. 33, 194 f.
5) Fr. 14 Müller (Euseb. praep. ev. 6, 7).
6) Euseb. praep. ev. 5, 31 ; vgl. Fr. 51.
7) Luc. pseudol. 1 äyZpa no|xtS^ slsöö-spov v.a.\ Tzuopr^izicf, auvovta.
8) Aristeides II p. 380, vgl. Meineke com. Gr. fr. II 485.
9) Nach Kritias a. O. nannte er sich selbst p.oly^o':, Ka-^voz xal oßp'.axYjc.
10) Bergk zu Fr. 6.
272 ^' Kapitel.
faches Missgeschick entmutigt kehrte Archilochos nach Faros zu-
rück, wo er den härtesten Schlag seines Lebens erleiden sollte. Der
parische Bürger Lykambes hatte seine Tochter Neobule mit
Archilochos zuerst verlobt, dann aber aus uns unbekannten
Gründen das Verlöbnis aufgehoben und die Tochter wahr-
scheinlich an einen Anderen verheiratet. Der getäuschte und
beleidigte Archilochos verfolgte nun beide mit dem fürchter-
Hchsten Hasse und schleuderte so giftige Gedichte gegen sie,
dass die Alten ^) erzählten, sie hätten sich vor Verzweiflung
und Scham erhängt; doch lasen sie dies nur aus dem Aus-
drucke des Archilochos (Fr. 35) : Ko^fjavtec: ußptv a^pÖTjv ajis^Xooav
heraus.^) Er meint damit nur: ,,Sie haben .sich geduckt und
ihren Uebermut gebüsst." Als er die Familie moralisch ver-
nichtet hatte, war ihm auch der Aufenthalt auf Faros verleidet.
Jetzt wahrscheinlich trat unser Dichter in fremde Kriegsdienste
(Fr. 14. 24) und rühmte mit Stolz von sich (Fr. 2): „Ich bin
zugleich ein Diener des enyalischen Königs und der lieblichen
Gabe der Musen kundig." Zuletzt scheint er sich wieder auf
Faros aufgehalten zu haben, weil er in einem Kampfe der
Farier und Naxier fiel. Den Kalondas, der ihn getötet hatte,
wies angeblich die Fythia aus dem delphischen Tempel, indem
sie ihn schalt, dass er den Diener des Apollo nicht geschont.^)
Das Glück hat Archilochos, freilich meist durch seine
eigene Schuld, nirgends weich gebettet; überall fand sein über-
spruclelnder Geist, der sich keine Beschränkung auferlegen
wollte, hemmende Schranken. Wie aber Leopardi ohne seine
körperlichen und seelischen Leiden die pessimistischen Gedichte
nie geschrieben hätte, in gleicher Weise würde ein freund-
licheres Geschick die Schärfe des parischen Dichters abgestumpft
haben. So aber Hess er, durch seine Schicksale verbittert, der
Zunge freien Lauf und zog sich dadurch überall Hass und
Feindschaft zu.*) Die Rache der Beleidigten steigerte natürlich
1) Hör. ep. 1, 19, 26. Ovid. Ibis 63.
2) Photios 193, 22 (vgl. Hesych. s. v.) hat wegen dieses Verses die Glosse
xi'it^fxt ävTt Toü fimäY^ao*'/'.; vgl. Piccolomini Hermes 18, 264 ff.
3) Stellen bei Hendess oracula Graeoa S. 54 zu 77 b und Piccolomini
HermcA 18, 267 ff, Ael. v. h. 3, 43 berichtet dasselbe bezüglich eines Kitha-
riiden von Sybaris.
4) Piudar Pyth. 2, 99 (66) sagt deshalb: KtSov Y«p e"'-«? iwy za kök'k' ev
ä}Layavt« <^trftft6v 'Ap/cXo/ov ßapoXö^otc sy'ß'sai «latvofisvov.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 273
den Groll des Archilochos und führte ihn dazu, seine zu den
grössten Werken hinreichende poetische Begabung auf den
Jambos, der zu seiner bitteren und menschenfeindlichen Stimmung
passte, so gut wie ganz zu beschränken; neben den jambischen
Trimetern (Fr. 20 — 49) benützte er die von diesen fast unzer-
trennlichen trochäischen Tetrameter ^) (Fr. 50 — 83). Am liebsten
aber vereinigte er längere und kürzere Verse, in denen der
Jambos vorherrscht, zu den sogenannten Epoden (Fr. 84 — 118);
sie klingen mit ihren kurzen Absätzen noch viel schneidiger als
die einfachen Trimeter. Der Grundzug der archilochischen Poesie
ist Schmähung ^) ; daher bezeichnete sein Name einen schmäh-
süchtigen Menschen. Für jeden Eindruck ist er auf das höchste
empfänglich und spricht ihn in voller Frische und durch Re-
flexion ungetrübt aus;, ein Blatt nimmt er nie vor den Mund,
sondern äussert seine Gesinnung in den kraftvollsten Wörtern,
ohne darüber zu grübeln, ob jemand daran Anstoss nehmen
könnte. ^) Aber Archilochos muss mehr als ein streitsüchtiger
vorlauter Mensch gewesen sein; sonst wäre die Begeisterung
des gesammten Altertums, die edelsten Männer mit einge-
schlossen, nicht zu erklären. Die Lieblichkeit seiner Sprache
erlaubte, ihn neben Homer, an dem er sich gebildet hatte*), ,
als beinahe ebenbürtigen Dichter zu stellen^); selbst Künstler
verbanden, wie eine Doppelherme im Vatikan'') zeigt, beider
Bilder. Trotzdem ist er der erste Kunstdichter, der sich von
dem Banne des Epos befreite und neue Wege eröffnete ; daher
gebraucht er die jonische Mundart seiner Zeitgenossen^), nicht
1) Dionys. comp. verb. 17 pu8-[j.6c p.aXaxtötspo'; xool ä'^sveQXBpor, nach
Pliit. mus. 29 von Olympos erfunden. Fragm. Ambros. p. 254 N ö 'Apj^-lXo^^o?
Iitl ■9'£p[id>v uiioö-EGEcuv Tpo}(aix(I) x£Tpa[j.2xp(i) nsj^pfjtat. Mar. Victorinus p. 84,
2*1 tetrameter Archilochius ajjtus festivis narrationibus. Vgl. über das Metrum
Kumpel Philol. 28, 425 ff.
2) Dion Chrys. or. 2 § 4.
3) Z. B. Fr. 72. 136. Porphyrie in Hör. ep. 1, 19, 34 multa obsceua
dicentem.
4) Dio Chrys. or. 55 § 6; Deuticke p. 5 f. 16 f. 19.
5) Heraklit fr. 134. Hippodromos bei Philostr. vit. soph. p. 620. Vol.
Hercul. coli. alt. 4, 116. 117. 11. u>\iouz 13, 7. Cicero orator 1, 4 nennt ihn
mit Homer, Sophokles und Pindar.
6) Visconti Museo PioClemeut. VI t. 20, vgl. Welcker kleine Schriften
I 73 f.
7) Ahrens Mischung der griech. Dialekte S. 60 ff. Kazd-ayoüG: und
llpi-r]vfj'. sind nicht blos episch. Atüjvöoo'.' Fr. 77, 1 ist jedenfalls zu ändern.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 18
274 Ö- Kapitel.
die des Epos, wenn er auch jene verfeinert und die Worte des
Marktes in der Regel verschmäht. Trotzdem verhert der Aus-
druck nicht den Reiz der Volkstümhchkeit. Das Volk lieh ihm
auch die FabeP), die in seiner Hand zur furchtbaren Waffe
wurde; z. ß. wandte Archilochos gegen Lykarabes die Fabel
vom Adler, der dem Fuchs die Treue brach, aber schwer büssen
musste (Fr. 86 — 88), an. Auch der Mythus musste seinen
Zwecken dienstbar sein ; so erzählte er in einein jambischen
Gedichte ausführlich die Nessosmythe. ^) Deianeira hielt eine
langathmige Rede, worin sie Herakles um Hilfe bat; manche
fanden darin einen Verstoss gegen die Wahrscheinlichkeit. •^)
Wir beschliessen die Charakteristik am besten mit den schönen
Worten Quintihans (10, 1, 59 f.): Ex tribus. receptis Aristarchi
iudicio scriptoribus iamborum ad s^tv maxime pertinebit unus
Archilochus. Summa in hoc vis elocutionis, cum validae tum
breves vibrantesque sententiae, plurimum sanguinis atque uer-
vorum. adeo ut videatur quibusdam, quod quoquam minor est,
materiae esse non ingenii vitium, womit man den hübschen
Ausspruch des AHan (Fr. 80) verbinde: irotTjdjv ^swalov taXXa
61 Tt? aoToö TÖ aiT/pocTreq xai tö xaxöpp7][iov a'^sXo'. xai oiovsl
XT|Xl5a aTroppitj^sieV^) ; was aber deu Verlust dieser Gedichte uns
besonders schmerzlich macht, ist die ungewöhnlich individuelle
Persönlichkeit des Dichters, dessen Gedichte ihn selbst am ge-
treuesten darstellten.
Es wird nicht überflüssig sein, auch über die metrische
Forin der archilochischen Gedichte einiges beizubringen. Die
jambischen Trimeter und die trochäischen Tetrameter genügten
dem Sänger nicht allein, obgleich er auf dieselben so viel
Sorgfalt verwandte, dass die Jamben nach einem Ausspruche
1) Julian, or. 7 p. 268 II noXuc 5' sv toötoi; (sc. nu9-ot(;) ö Ildcptoi; eatt
ÄOiYjTY,':, vgl. p. 294; Philostr. iun. 1, 3 ; H u.schke de fabulis Aesopi in
Matthias miscell. philol. I 1 und in der grösseren Äsopausgabe von Furia;
Schncidewin coniectanea crilica p. 130 flf . ; Buchholtz Rhein. Mus.
28, 176 flf.
2) Schneide win Philol. 1, 148 flf.
8) Dion Chrj's. or. 60, 1.
4) Archilochos hiess sprichwörtlich jeder arge Spötter (Aristid. II p. 307.
Said. 8. V. East in Od. p. 1684. Diogenian. 3, 96. Arsen, p. 79. Cic. ad Att.
2, 20. 21).
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 275
des tiermogenes ^) xai YopYÖTspot xai XoYos'.&sarspoi -) twv aXXwv
waren. Er eröffnete das weite Gebiet der Epoden, bei denen
wie beim Distichon auf einen langen V^ers ein kürzerer folgte;^)
hier Hess er die mannigfaltigsten Masse wechseln: jambische
Trimeter und Dimeter, jambische Trimeter und katalektische
Tripodien von Daktylen, den von ihm erfundenen versus Archi-
lochius und katalektische Trimeter. Im übrigen müssen wir
auf Plutarch vertrauen , der in der Schrift über die Musik ^)
die Thätigkeit des Archilochos folgendermassen charakterisiert:
'AXXa [xy]v xal ^ApylXoyo<; tyjv twv Tpijxstfxöv po^iioTioitav Tipoos^söps
xa'. TTjV sie, Too? 00/ 6[A0Y£ve:c po^[iÖD? I'vraatv xat T7]y Trapaxata-
XoYYjv xai TYjV ;rep'. Taöra xpoöaiv • TrpwTtj) os aoui) td t' s~tpSd xal
ta T£Tpd{ieTpa xal t6 xpYjT'.xöv xal tö :rpoao5iaxöv azoSsSotat xal
ij toö 7ip(})0D aolTjatc, t>jr' Iviwv Ss xal t6 IXsysIov, izpbc, Ss toötoic
r; TS TOÖ lajJLßeloD Trpöc: töv STrißaTÖv zatwva l'vTaaic xal i^ toö
YjO^YjJlSVOO rjp{i)0D SIC T£ TO TipOaoS'.aXOV xal tö XpTjTtXdv. £Tt Ss TWV
lajj-ßsloiv TO Td [JLsv XsYsa^ai ;capd ttjv xpoöoiv, Td S' ^SsoO'at 'Ap)^l-
Xo'/öv (paat xaTaSsi^at, sl^' odtco )(prjaa':59-at too? TpaYtxooc 7roiY]Tdc,
Kps^ov Ss XaßövTa sie St^üpd[i,ß(üv XP'^'^^^ aYaY&lv. öiovTai 8k xal
r^V XpOÖOtV TYjV OTTO TY]V Cj)§7jV TOÖTOV TTpWTOV SOpslV, TO'JC 6' dp/aloOC
irdvTac Trpöa/opSa xpoöetv. Wenn sich auch nicht alle diese
Angaben sicher erklären lassen, so geht doch soviel zur Genüge
hervor, dass Archilochos auch auf dem Gebiete der Metrik und
Rhythmik eine hervorragende Bedeutung besass. Der berühmte
Musiker Thaletas soll ihm deshalb nachgeeifert haben. Die
Parakataloge , ein Mittelding zwischen Gesang und einfacher
Rede, wurde später für das Drama sehr wichtig.^) Manche
schrieben ihm auch die Einführung polyphoner Instrumentation
zu, ein Verdienst, das andere mit wahrscheinlich besserem
Rechte Terpander beilegten. '^)
1) id. II 1 p. 302.
2) Wahrscheinlich fielen Vers- und Wortaccent hei ihm häufiger als sonst
zusammen.
3) Ueber den Namen vgl. Teuffei Gesch. der röm. Literatur § 237, 1,
dazu Hephaest. c. 7.
4) c. 28 p. 1140 f. 1141 ab; zur Erklärung vgl. Bergkmelett. lyr. spec
II. ind. schol. iiib. Halle 1859/60; Ritschi opusc. 1, 278 ff.; Deuticke
p. 23 fi". ; Flach Geschichte der griech. Lyrik 1, 219—34.
5) Christ die Parakataloge im griechischen und römischen Drama, Abh.
der bayer. Akademie hist.-phil. Cl. 1875 Bd. 13 S. 153 ff.
6) Westphal Melopöie der Griechen S. 112 ff.
18*
276 9. Kapitel.
Archilochos verfasste ausserdem einige Elegien, wäre aber
durch diese schwerlich so berühmt geworden. Es ist jedoch
bemerkenswert, dass er bereits in so früher Zeit die mehr
objektive Elegie zum Ausdruck seiner Subjektivität verwendete.
In Fr. 1, 2 und dem berühmten Nr. 6, worin er den Verlust
seines Schildes erzählte, spricht der Dichter von sich selbst und
auch Fr. 3 bezieht sich wohl auf sein Geschick. Sein spöttischer
reizbarer Charakter ist höchstens in Fr. 8 und 14 zu spüren;
im übrigen liegt ein gewisser Hauch von Ruhe über den Ele-
gien: Fr. 4 und 5 athmen frohe Heiterkeit; eine besondere
Elegie, aus der Fr. 9 — 13 stammen, betrauerte den Tod seines
Schwagers, der durch Schiffbruch unterging. Aber während
sich Archilochos in den Epoden und Jamben gegen alles wild
aufbäumt, zeigt der Dichter diesesmal stoisches Ertragen : ,,Das
Leid wird nicht besser durch Klagen. Jetzt hat uns Unglück
getroffen, doch nur Geduld! Bald lächelt uns wieder das
Glück." Ebenso ungewohnt sind in seinem Munde die Sentenzen
Fr. 15 und 16; doch durchzieht auch einen Teil der Tetraraeter
ein ernster fast melancholischer Ton, wofür ich blos die resig-
nierten Verse Fr. 66 oder die Mahnung (Fr. 64), tote Männer
nicht zu schmähen, als Beispiele anführe. Vielleicht sind beide
Gruppen von dem gealterten Manne, der in den Kämpfen des
Lebens müde geworden ist , gedichtet ; er hat erfahren , dass
alle wilden Ausbrüche des Schmerzes die Sache nicht besser
machen. Deshalb hat er sie aufgegeben und nimmt wenigstens
den Schein der Resignation an. Die beiden Epigramme Nr. 17
und 18 sind sehr zweifelhaft. Das witzige auf eine Hetäre be-
zügliche Distichon (Fr. 19), das wohl einem längeren Gedichte
entstammt, ist gleichfalls bedenklich.
Auf jen% Dichtungsarten beschränkte sich der ausserordent-
liche Geist des Archilochos nicht; denn selbst das Melos bheb
ihm nicht völlig fremd. Zweifelten auch die Alten selbst, ob
er wirklich die ihm zugeschriebenen lobakchen (Fr. 120. 121)
verfasst habe ^), so war doch von ihm ein Hymnus an Herakles
allbekannt und der Refrain desselben TvjvsXXa xaXXtvtxs so
populär, dass den Siegern in Olympia ihre Freunde diese Worte
zujubelten. Archilochos dichtete ihn für den thasischen Kult
1) Hepbui.stiuii [». Ö6, 22 W.
Die alte Elegie und die jambisch-trochäische Dichtung. 277
des Herakles Kallinikos *) , indem er den Helden als ßesieger
des Augias feierte. Das Gedicht war höchst einfach: Es zerfiel
in drei Strophen, die abgesehen von dem Hefrain, in welchem
Tenella den Klang der Kithara nachbilden sollte, aus je einem
katalektischen trochäischen Dimeter und einem jambischen
Trimeter bestanden.^)
Auf das hohe Ansehen, das Archilochos genoss^), haben
wir bereits oben hingewiesen. Die Parier, die ihn bei seinen
Lebzeiten verfolgt hatten , ehrten ihn nach seinem Tode ^) als
Heros. Er war gewissermassen auch ein Heros der altattischen
Komödie, die von ihm den persönlichen Angriff lernen konnte;
Kratinos ^) verfasste daher ein Stück, das 'Ap-/tXo'/oi hiess, und
Aristophanes '^) las die Epoden am liebsten. Den wohlgezogenen
Alexandrinern '') und ihren römischen Nachfolgern stand er
natürlich ebenso wie die alten Komiker etwas fremdartig gegen-
über; er übte auf ihre Dichtung einen höchst geringen Ein-
tiuss aus. Dasselbe gilt von den Dichtern der augusteischen Zeit,
wiewohl Horaz' Epoden zahme Nachahmungen der archilochischen
sein wollen. ^) Was die Gelehrten betrifft, so schrieb bereits
der pontische Herakleides 7:s[A 'Ap-/iX6'/oü xai '0[j-r]poD.^) Den Ari-
starch führte Klemens von Alexandria^") sv 'Ap-/tXo)(£W'.c oTroprj-
[laat an, aber der Inhalt der Notiz bezieht sich auf das Zeit-
alter Homers ; wahrscheinlich waren in der ilmi vorliegenden
Quelle die 'Aptatap^^sia viZO[Lvri\LCLxa angeführt, was mit ander-
weitig bekannter Korruptel ^^) voji Abschreibern oder Lesern zu
dem bei Klemens stehenden Titel umgestaltet wurde. ApoUonios
1) CIG. II 2358.
2) Bergk II *418 ff., der den Hymnus zu rekonstruieren sucht; L.
V. Sybel Hermes 5, 192 ff. will Tenella nicht als alt anerkennen, ebenso
Deuticke p. 34 ö'.
3) Deuticke p. 56 ff.
4) Alkidamas bei Arist. rhet. 2, 23. 11, vgl. Aristid. I p. 142.
5) Bergk comm. de com. ant. 1, 1.
6) Cic. ad Att. 16, 11, 2.
7) Diese erfanden die Fabel, dass die Lakedämonier Archilochos ausge-
wiesen hätten (Plut. inst. Lac. 34. Val. Max. 6, 3, 12, vgl. Piccolomini
Hermes 18, 266 f.)
8) Hör. ep. 1, 19, 23 ff.
9) Diog. L. 5, 87.
10) Strom. 1, 141 S. 388 P.
11) Bergk II* 439.
278 9- Kapitel.
vou Rhodos *) sprach über Archilochos nur in seinem grossen
literarhistorischen Werke. Von dem Byzantier Aristophanes
wird ein abyipoL^^a itspi r^<; axvofisvTQC av.oz(xkri<z angeführt ^) ; die
Etymologica erwähnen anonyme Schohen. ^)
A'^or der Fragmentensammlung ßergks II ^ 382 — 440 war
die Separatausgabe von Ign. Liebel (Leipzig 1812. 2. A. Wien
1819) zu nennen.
Simonides von Amorgos*) ist der zweite aber weit
weniger bedeutende Vertreter des lambos. Er war als Sohn
des Krines auf Saraos geboren und führte von hier nach der
kleinen Insel Amorgos Kolonisten, die sich in den drei Städten
Minoa (wo er selbst seinen Wohnsitz nahm)^), Aigialos und
Arkesine ansiedelten.^) Die Alten schwankten daher, ob sie
Amorgos ^) oder Samos ^) seine Heimat nennen sollten. Ueber
seiae Zeit wussten sie gar nichts, weshalb sie ihn nach be-
liebter Manier zum Zeitgenossen des Archilochos machten. **)
Manche hielten ihn, vielleicht weil ihn dieser weit übertraf, für
älter ^"), indem sie den Unterschied der Talente mit dem der
Zeiten verwechselten.
Simonides verfasste blos zwei Bücher Jamben ;^^) Suidas
teilt ihm nach seiner schhmmen Gewohnheit, Homonyme zu
vertauschen , zwei Bücher Elegien und dafür seinem keischen
Namensvetter Jamben in zwei Büchern zu. Die ap-/atoXoYta
SajAicDv ist entweder identisch mit dem Abschnitte des von dem
Samier Asios verfassten genealogischen Gedichtes, aus dem wir
einige Verse besitzen , oder wahrscheinhcher ein längeres jam-
1) Athen. 10, 451 d.
2) Athen. 3, 85 e.
3) Etym. Gud. p. 305, 8, Etym. Flor. p. 179 v. y.ataTCpot^aodat und
Etym. Paris, in Anecd. Paris. 4, 55, 16.
4) Richtiger lY)|xtuvLoY); , vgl. Choerob. im Et. M. 713, 18; Vol. Herc.
coli. alt. 4, 201; Röhl iuscr. Gr. ant. 1.
5) Steph. Byz. v. 'AjAOfiYoc.
6) Suidas.
7) Strabo 10, 487; Steph. Byz. 1. c.
8) Einige nach Proklos (bei Phot. cod. 239) p. 243 W.
9) Roh de Rhein. Mus. 33, 193.
10) Suida«; deshalb weist ihm Kyrillos Anecd. Par. 4, 196, 16 wahr-
scheinlich die erste Stelle an.
11) Ein 11. Buch (Euseb. praep. ev. 10, 2) geht auf einen Schreibfehler
zurück, s. Bergk zu Fr. 6.
Die alte Elegie und die jainbisch-trochäische Dichluug. 279
iDisches Gedicht, das die Sitten der Samier schilderte; ich be-
ziehe hieher einen anonymen Vers, der auf Sanios sprich
wörtlich war: ßaStats' de, 'Hpaiov s[j.7C£7cXeY{XEVov.^) Die Spuren
Fr. 8 und 18 sind zu zweifelhaft als dass sie berechtigten, dem
Simonides ohne äusseres Zeugnis auch Choliamben beizulegen.
Simonides steht ohne Zweifel, schon wenn wir auf die
griechische Volksstimrae hören, weit hinter Archilochos zurück.
Die Dürftigkeit seiner Fragmente gestattet nicht mehr, ihn mit
diesem zu vergleichen, da die polemischen Gedichte bis auf
unverständliche Stäubchen verloren gegangen sind, und doch
vereint Lucian^) mit dem Hasse des Archilochos gegen Ly-
kambes die Verfolgung, welche Orodoikides (Orodikides) durch
Simonides erfuhr. Gerade die längeren und verständhcheren
Stücke verdanken wir nämlich Stobaios, der natürlich blos
ethische Sentenzen auszog. Hieraus, erhellt nun allerdings, dass
Simonides den Jambos nicht gleich Archilochos ausschliesslich
zu. persönlichen Angriffen verwendete , sondern sich ausserdem
besonders an die hesiodische Spruchdichtung anschloss. Von
den beiden längsten Fragmenten handelt das erste über die
VergänglicJ^keit und Machtlosigkeit des Menschen. Das 118
Verse umfassende siebente ist ein Frauenspiegel von wenig
Schwung und Frische; der Dichter teilt in spiessbürgerlichem
Tone die Frauen in Klassen ein, für welche Schweine, Füchse,
Hunde, die Erde, das Meer, Esel, Wiesel, Pferde, Affen und
Bienen als Vergleichungsobjekt dienen müssen ; nur den fleissi-
gen gerechten Frauen, die den Bienen gleichen — Periandros
nahmt deshalb seine Gattin Lyside liebkosend Melissa^) — lässt
ev Gerechtigkeit widerfahren. Die Aufzählung und Schilder-
ung der Arten ist ebenso nüchtern, trocken und unpoetisch
wie die hesiodischen Verse; wir wollen lieber gar nicht daran
denken, mit welcher Frische Archilochos den gleichen Gegen-
stand behandelt hätte. Phokylides führte in Fr. 3 jenen Ge-
danken in wenigen Versen aus; wer war der frühere? V. 96
bis 118, welche kurzweg alle Frauen ohne Ausnahme verdam-
1) Duris bei Athen. 12, 525 e. W^elcker und andere hielten diese Archäo-
logie für eine Elegie (Literatur in C. Müllers fragm. bist. Gr. II 16).
2) Pseudol. 2.
3) Diog. L. 1, 7, 1.
280 9. Kapitel.
men, gehören zu einem anderen Gedichte^); warum aber der
Verfasser verschieden sein soll, sehe ich nicht ein, da die
Ansichten auf diesem Gebiete je nach den Umständen sehr zu
schwanken pflegen. Das echte Stück wurde nach der neuen
Mode auf die Folterbank der Zahlensymmetrie gelegt; während
Kiessling^ dabei noch massig vorging, behandelte Ribbek^) das
Gedicht mit grosser Willkür. Gegen diese ganze Manier genügen
die feinen ironischen Bemerkungen Bergks. Besser wäre es^
statt symmetrische Verhältnisse auszuklügeln , lieber den Zu-
sammenhang des Stückes mit der Tierfabel genauer nachzu-
weisen; wie Archilochos verwendete sie Simonides auch sonst,
z. B. in Fr. 9, das den Anfang einer Fabel vom Reiher und
Aal bildet.
Die Fragmente des Jambendichters waren lange Zeit unter
die des Elegikers gemischt, bis sie Welcker in der Schrift
„Simonidis Amorgini iambi qui supersunt (zuerst im Rheüü-
schen Museum 3, 353 — 438 , dann separat Bonn 1835) scharf-
sinnig schied. Die dürftigen Reste stehen jetzt bei Bergk 11*
441—59.
Eine Erzählung in jonischer Mundart, welche Stobaios
flor. 28, 18 mitteilt, ist wahrscheinlich nichts weite? als ein in
Prosa aufgelöstes jambisches Gedicht;*) es richtet sich gegen
die Goldgierigen: Ein habsüchtiger Mensch, dereinen Meineid
vermeiden will, schwört eine Geldsumme ab, indem er während
des Eides seinem Gegner einen hohlen Stock mit dem Gelde
in die Hand gibt, wird aber entlarvt. Wegen dieser moralischen
Pointe könnte unser Simonides das Gedicht verfasst haben.
Der rastlose Geist der Griechen erfand auch bei dem Jam-
bos eine neue Variation, die mit einer Wendung desselben zum
Burlesken zusammenhing. Den Griechen galt , wie wir bei
Hephaistos sehen können, das Hinken als ein komisches Ge-
brechen; Verse, welche zu hinken schienen, waren daher von
1) Bernhardy Griech. Litt. IP 1, 493 und Härtung fassen V. 94—11»
zusammen; Jordan Hermes 14, 287 betrachtet V. 94—5 als Uebergangs-
verse. V. Sybel Hermes 7, 327 ff. will überhaupt keine Trennung zugeben,
2) Rhein. Mus. 19, 136 ff.
3) ßhein. Mus. 20, 74 ff., mit Antwort gegen v. Sybel 29, 248 ff.
4) Haupt bei Stob. ed. Meineke IV p. LXI, vgl. Ten Brink Philol,
22, 888 ff.
Die alte Elegie uud die jambisch-trochäische Dichtung. 281
vornherein des Lacherfolges sicher. Beim Jambos konnte man
diesen Eindruck leicht erreichen , wenn der rasche Schritt des
Trimeters durch einen Spondeus im sechsten Fusse eine plötz-
liche Störung erlitt.
Von den Fragmenten der Choliambendichter gibt es zwei
besondere Ausgaben : Auctorum qui choliambis usi sunt Grae-
corum reliquias coli, et ill. Joach. H. Knoche, I. II 1. Herford
1842 — 5 und Rossignol, fragments des chohambographes grec&
et latins, Paris 1849.
Der erste und bedeutendste Choliambendichter Hipponax
von Ephesos,^) Sohn des Pythes und der Protis , lebte nach
der einen Angabe Ol. 59^) oder 60,^) nach der anderen unter
der Regierung des Dareios.*) Es handelt sich offenbar, wie bei
Theognis, um die Erwähnung eines Perserzuges, welchen die einea
als den des Harpagos, die anderen als den unter Dareios fal-
lenden betrachteten. Von den Tyrannen , welche die Perser
überall einsetzten — in Ephesos waren es Athenagoras und
Komas — wurde Hipponax vertrieben und wanderte nach
Klazomenä aus. Hier ging es ihm nach Fr. 16 — 19 sO'
schlecht, dass er selbst an warmen Kleidern Mangel litt. Zu-
dem kam er mit den bekannten Bildhauern Athenis und Bupa-
los in Streit^) und wurde, ein hässlicher magerer Knirps*'), von
ihnen mit Karrikaturen verfolgt; bezüglich der Gründe dieser
P'eindschaft möchte ich, weil Fr. 39 neben Bupalos eine Arete
vorkommt, sagen: Cherchez la Femme. Was jedoch die Horazscho-
lien zu epod. 6, 14 als unglaubwürdig mitteilen, Hipponax habe
um die Tochter des Bupalos gefreit, aber wegen seiner Häss-
lichkeit einen Korb erhalten, ist nach der Geschichte des Ar-
chilochos erdichtet. Mit den Künstlern konnte Hipponax sich
1) Hipponactis et Ananii iambographorum fragm. coli. Welcker, Gott.
1817.
2) Parische Marmorchronik Z. 57 f. Ol. 59, 3 (542). Hieronymus setzt
ihn gar zu Ol. 23, 1 , weil ihn ein Chronograph mit Archilochos (vgl. Hieron.,
ad a. 914) verband, denn nachlä.ssige Literarhistoriker .setzten Hipponax nebea
Archilochos (vgl. Plut. raus. 1133 d).
3) Plin. n. h. 36, 11.
4) Proklos ehrest, p. 243 W.
5) Ael. v. h. 10, 6. Manche schrieben ihm den Erfolg des Archilochos
zu (Acro zu Hör. epod. 6, 14).
6) Melrodoros bei Athen. 12, 552 cd.
282 9- Kapitel.
überhaupt nicht vertragen, weil sie ihm vermutlich, schönes zu
sehen gewohnt, seine körperlichen Gebrechen in besonders be-
leidigender Weise vorhielten;^) Fr. 49 ist gegen den Schiffsmaler
Mimnes gerichtet. Seine Leibesgestalt wie sein Missgeschick
trieben ihn jedenfalls zum Schmähvers. Denn solche Leute
werden schon, wenn sie den Spott argwöhnen, verbittert, wie
A'iel mehr ein Grieche , in dessen Vaterland die körperlichen
Fehler als schlimme Mängel betrachtet und ungeniert vorge-
halten wurden.
Theokrit (epigr. 21) welcher meint, er habe blos die
-Schlechten verfolgt, fasst Hipponax zu günstig auf. Wenn
Archilochos auch in dem heftigsten Ausbruche seiner Lei-
■denschaft nie den Aristokraten verleugnet, nie seine An-
mut verhert, wird, was bei ihm geniale Freiheit ist, bei
Hipponax zur unverhüllten Gemeinheit. Die Ausdrucksweise
ist dieselbe pöbelhafte,^) die wir an den Sklaven der Komödie
gewohnt sind, und dazu passt es, dass er den Jargon der
niedersten Bevölkerungsschichteu sich angeeignet hat. Weil
ihm das Epos nicht das, was Archilochos daraus lernte, zu
bieten hatte , verhöhnte es Hipponax in hexametrischen Paro-
-dien; er ist somit auch der Erfinder der Parodie.^) Auch an den
trochäischen Tetrametern nahm er dieselbe Veränderung wie am
lambos vor (Fr. 78 — 84). Ausserdem dichtete er einiges in reinen
Trimetern, doch verbürgen dies blos Fr. 73, 74 und 76 zuverläs-
sig. Seine Gedichte füllten zwei Bücher (la[ißoc von den Gram-
matikern betitelt) von denen das erste die Bupalos bekärapfen-
■den Gedichte enthielt;*) das zweite, aus dem blos zwei un-
bedeutende chohambische Fragmente (26 und 27) citiert werden,
enthielt wahrscheinlich alles übrige.
Hipponax konnte seiner ganzen Natur nach kein Klassiker
«einer Nation werden. Es mag freiHch manche amateurs ge-
geben haben, ,,denn es gibt nichts gemeines, was fratzenhaft
ausgedrückt nicht humoristisch aussähe." Abgesehen von
einigen unbedeutenden Sentenzen kennen wir Fragmente blos
1) Plin. nat. bist. 36, 12. Nach Diog. L. 4, 58 erwähnte Hipponax
aach den Bildhauer Biou.
2) Demetrios de eloc. 132 t« y"P TO'.aöxa xäv öko 'iTCJvwvaxtof: Kift^xa.:,
3) Athen. 16, 698 b.
4) Tzetz, Lycophr. 219.
Die alte Elegie und die jarabisch-trochäische Dichtung. 283
aus den nicht wählerischen Grammatikern, zamal den Lexiko-
graphen, denen Hipponax durch seine zahlreichen der jonischen
Volkssprache entlehnten „Glossen" ein leckeres Mahl bereitete.
Von diesem Gesichtspunkte aus schrieb der Smyrnäer Hermip-
pos über Hipponax •/) vielleicht stammen die von Tzetzes er-
haltenen Fragmente, welche den Kern des heutigen Bestandes
bilden, indirekt aus dieser Quelle.
Die literarhistorisch wenig bietenden Ueberreste teilt Bergk
114 460—500 mit.
V^on anderen Choliambendichtern lebte in früher Zeit
Ananios,^) über den wir nur wissen, dass ihn schon Epichar-
mos erwähnte und sogar citierte ;^) er überbot seinen Vorgänger,
mdem er den Jambos mit zwei Spondeen schloss. Die Alten
lasen Choliamben, Trimeter und hinkende Tetrameter ; weil sie
oft schwankten, ob ein Vers von Hipponax oder Ananios
herrühre,*) scheinen die Gedichte beider im Buchhandel verei-
nigt gewesen zu sein. Die erhaltenen fünf Ueberbleibsel findet
man bei Bergk H^ 501 — 3.
Wir wollen hier sogleich die übrigen Choliambendichter
anreihen. In der attischen Periode verfasste Diphilos,^) der
vor Eupolis lebte, ausser einer Theseis choliambische Gedichte,
unter anderem gegen den Philosophen Boidas.*') Dagegen gibt
die alexandrinische Zeit die Polemik ganz auf und benutzt die
Choliamben zu der Didaktik und lehrhaften Erzählung. Hie-
her gehören die Choliamben des Kallimachos, Aischrion, Apol-
lonios und Herodas (Herondas)J) die mit Hipponax und Ana-
nios nichts als den jonischen Dialekt und das Versmass gemein-
sam haben. An die Alexandriner lehnte sich Babrios an, als
er Fabeln in diesem Versmasse dichtete. Allerlei choliambische
Spielereien zählt Bernhardy IP 1, 340 f. auf.
1) Athen. 7, 327 bc; ders. 7, 324 a erwähnt ol £4"'lY*^^°'H--v°'"
2) 'Avaviac Schol. Arist. Ean. 674. Tzetz. prol. in Lycophr.
3) Athen 7, 282 b. Hephaistion c. 5 nimmt die Möglichkeit an, dass er
älter als Hipponax war.
4) Bergk zu Fr. 1—3.
5) Schol. Arist. Nub. 96; vgl. Meineke com. Graec. I 448 f.
6) Bergk II* 504.
7) So Meineke anall. AI. 399, noch jünger nach Bernhardy 11^ 1, 477
lind Schneidewin Ehein. Mus. 6, 292; Bergk II* 505 identificiert ihn will-
kürlich mit dem von Xenophon Hell. 3, 4, 1 erwähnten Syrakusaner.
284 9- Kapitel.
Wie in Jonien die Jarabendichtuiig aus dem Demeter-
dienste entsprungen war, so geschah es auch auf Sicilien, der
geliebten Insel der Göttin; in Syrakus „jambten" daher die
lafjß'.atai ebenso gut ihre Gegner, wie auf den jonischen Inseln.
Leider kennen wir von dem Selinuntier Aristoxenos
nichts weiter als den Namen. Die Chronographen machten ihn
willkürlich zum Zeitgenossen der beiden Jamben dichter, obgleich
seine Vaterstadt erst Ol. 38, 1 (628) gegründet war. Den ter-
minus ante quem bestimmt eine Erwähnung bei Epicharmos^).
Er verwendete nach dorischer Sitte auch die Anapäste zu Sa-
tiren^) und gebrauchte die dorische Mundart seiner Heimat.
Diese Notizen bietet sammt einem Verse der Metriker Hephai-
stion (c. 8 p. 26 ff.), ohne den wir von diesem Dichter nur den
Namen wüssten.
1) Vgl. auch Schol. Arist. Plut. 487.
2) Rossbach-Westphal griech. Metrik 3,88.
10. Kapitel.
Die eigentliche Lyrik (Melik).
ISfomendichtung : Terpandros, Klonas, Ardalos, Sakadas, Echembrotos und
Polymnestos — Chorische Poesie : Thaletas, Xenodamos, Xenokritos, Alkman,
Stesichoros, Xanthos, Ibykos und Tynnichos — Dithyrambos : Arion — Melik :
-Alkaios, Sappho, Erinna und Anakreon.
Fast ganz vom Epos emancipiert zeigt sich das griechische
Lied, das jisXoc, wie die Griechen die lyrischen Gedichte im
engeren Sinne nannten ^), weil sie mit Musikbegleitung wirklich
gesungen wurden. Dadurch sowie durch die damit zusammen-
hängende strophische Gliederung unterscheidet sich das Melos
von der Elegie und dem Jambos schon äusserlich. Wenn also
eine der Haupteigentümlichkeiten in der engen Verbindung mit
der Musik liegt, könnte es sich fragen, ob nicht eine Darstellung
der griechischen Musik der der Lyrik vorausgehen muss. Dieser
Frage gegenüber dürfte mir die persönliche Entschuldigung
^Ovoq zpoQ Xopav nicht viel helfen, wenn mir nicht auch objek-
tive Gründe zu Gebote ständen. Zunächst ist in der Blütezeit
Griechenlands davon, dass die Musik den Text in den Hinter-
grund gedrängt hätte, keine Rede, vielmehr ist sie nichts weiter
als eine Dienerin der Poesie.^) Nur so konnte es geschehen,
dass sich die Griechen mit wenig künstlichen Instrumenten be-
gnügten und ziemlich geringe Sorgfalt auf ihre Vervollkommnung
verwandten.^) Dann aber erhebt sich die Frage, was es denn
1) Didymos behandelte in seinem Werke Trspl XupixÄv tcoitjtwv, das die
Späteren stark benützten, nur diese Dichter.
2) Erst Ol. 55, 3 Hessen die Leiter der Pythien das blosse Kitharaspiel
(<]>'."a7] x'.{)-äp'.aic) zu.
3) K. V. Jan die griechischen Saiteninstrumente, Lpg. 1882 (Pr. von
Saargemünd).
286 10. Kapitel.
hülfe, wenn ich seitenlang die Terminologie der antiken Musik
bespräche; es wäre bei den vorhandenen trefflichen Werken^)
freilich nicht schwer, aber niemand würde daraus ein tönendes
Bild der griechischen Musik gewinnen, denn die vorhandenen
Reste von Melodien sind zu dürftig. Alles Aufgebot von
Worten würde also blos tote Gelehrsamkeit sein. Ich ziehe es
daher trotz Flach ^), der es für einen grossen Mangel der bis-
herigen Literaturgeschichten hält, dass sie auf die Geschichte
der Musik gar nicht oder nur wenig eingehen, vor, den wiss-
begierigen Leser auf die Spezialwerke zu verweisen, wie ich
auch der griechischen Tanzkunst, die ja für die Chorlieder
ebenso wichtig ist, kein besonderes Kapitel widme. Es genüge
die Erinnerung , dass wir leider nur den Text der Lyriker
kennen und die Verbindung von Poesie, Musik und teilweise
Orchestik nicht mehr empfinden können , was der richtigen
Würdigung der Dichter erheblichen Eintrag thut.
Die Lyrik zerfällt ihrem Gegenstande und zugleich ihrer
Form nach in zwei grosse Massen, die religiösen Gesänge«
und die profanen Lieder. Jene können wir nach ihrem 1
Verhältnisse zur Orchestik wieder in monodische und chorische,
Gesänge, die natürlich auch in der Komposition abweichen/
zerlegen. Hinsichtlich der monodischen Art des Vortrages be-
rühren sich der Nomos und das Lied, w^ährend durch die
Gleichmässigkeit der Strophen letzteres und die Chorpoesie zu-
sammengehören.
1) Fr. Gevaert histoire et theorie de l;i musique fle Tantiquite, Gent
1875; Westphal Geschichte der alten und mittelalterlichen Musiki. Breslau
1864; ders. die Musik des griechischen Altertumes, Lpg. 1883; über den Zu-
sammenhang der alten Musik mit dem griechischen Kirchengesang, durch
dessen Vergleichung wir am besten einen anschaulichen Eindruck von jener
erhalten können: W. Christ in der Einleitung zur Anthol. Graeca carmm.
Christ.; Tzetzes über die altgriechische Musik in der griechischen Kirche,
München 1874; Papastamatopulos Studien zur altgriechischen Musik,
Bonn 1878; über die griechischen "Werke von Eust. Therianos und D. Bcrnar-
dakis Kuelle revue et gjiz. nuisicale de Paris 1877 26 mars, 2 et 23 avril,
20 aoüt, auch NsoXo-fOC li^TT Nr. 2094.
2) Geschichte der gricciiisciien Lyrik I. Tübingen 1883. Da unsere An-
sichten ül>er literarhistorische Forschung und Kritik zu weit auseinander zu
gehen scheinen, enthalte ich mich jeder Polemik gegen das Buch, um so
mehr als bei der prinzipiellen Meinungsverschiedenheit eine Vereinigung leider
nicht zu hoffen ist.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 287
Die religiöse Monodie, in welcher der Keim der gesamraten
Melik lag, heisstNomos, der, weil er sich bei den pythischen
Spielen entwickelt hat, fast ausschliesslich im Dienste des Apollo
steht. *) Nach dem begleitenden Instrumente heisst er entweder
kitharödisch oder aulödisch. Von der Vorgeschichte war im
ersten Kapitel die Rede, die kunstgerechte Ausbildung erfuhr
aber der Nomos durch den Lesbier Terpandros^) aus Antissa.^)
üeber seine Zeit'*) weichen die Angaben ausserordentlich ab:
Die meisten Chronographen nahmen an, dass er gleich Tyrtaios
in der schweren Bedrängnis des zweiten messenischen Krieges
nach Sparta gerufen worden sei, um den finsteren Geist des
Unfriedens und der Verzagtheit durch die Musik zu bannen.
Deshalb setzten ihn Eusebios Ol. 36, 3 ^) und die Quelle des
Marmor Parium (Z. 49) Ol. 33, 4 oder 34, 1. Hieronymos^)
kombinierte seine Thätigkeit mit der Gesetzgebung des Lykurg;
nicht minder beruht die Angabe des Glaukos '') , er sei sofort
auf die Begründer des auletischen Nomos gefolgt, auf reiner
Kombination. Glauben verdient allein Hellanikos ^), der angab,
dass Terpandros in der Liste der Sieger in den Karneen den
ersten Platz einnahm ; nach Sosibios begannen aber die musi-
kahschen Wettkämpfe in Sparta Ol. 26 (675—2).^) Diese An-
gabe, welche nicht künstlich erschlossen scheint, ist die glaub-
1) PoUux 4, 66 bezieht ihn auf Zeus, Athene und Apollo; Bergk za
Lamprokles fr. 1 III ^555 nimmt einen Athenenomos an. Plutarch mus. 29
teilt Olyrapos einen Nomos an Ares zu.
2) C. Walther de Graecae poesis melicae generibus, Halle 1866 S. 34 flf.-
3) Steph. Byz. s. v. und Suid. aus Philon; Suid v. (xsxa Aeaßiov ü)o6>
mit den Parömiographen ; Plut. mus. 30. Methymna nennt Diod. fr. 11 p. 639
Wess. 'Apvaloc oder Ku[j,aio^ heisst er bei Suidas wegen der genealogischen
Verbindung mit Hesiod oder Homer. Sein Name entspricht dem Kitharöden-
namen Terpes (so nennt ihn Tryphon Authol. 9, 488), Terpios und Terpnos.
4) Otto Löwe de Terpandri Le.sbii aetate, Halle 1869.
5) So Synk. (im Arm. nur Abfall Messenieus); Hieronymos setzt ihn.
schon Ol. 34, 4 (34, 1 F, 34, 3 AP).
6) ajpl v.iö'apwoojv bei Athen. 14, 635 f.
7) Plut. mus. 4. Als erster Lyriker wird er bei Proklos mit den ältesten
Epikern in genealogischen Zusammenhang gebracht.
8) Fr. 122 bei Ath. 14, 635e; ebenso v. Leutsch Verh. der 17. Philo-
logenversammlung in Breslau S. 66 und E. Curtius griech. Gesch. I *196.
9) Bald nachher Hessen die Spartaner dafür durch Theodoros A'on Samos-
die Skias erbauen (Urlichs Rhein. Mus. 10, 19).
288 10. Kapitel,
würdigste ; jedenfalls lebte Terpandros vor Alkman, weil dieser
bereits Polymnastos, einen seiner Nachfolger erwähnte.^)
Die Spartaner beriefen den lesbischen Sänger, der angeblich
wegen Blutschuld aus seiner Heimat fliehen mussle ^), auf Ge-
heiss der Pythia in ihre Stadt ^), um die heimische Musik zu
reformieren^) und durch seine Weisen die Gemüter zu be-
ruhigen. ^) Er vertrat also die apollinische Musik ; fiel ihm
"doch viermal der Sieg in den Pythien zu. ^) Sein Ruhm ist,
die musikalische Komposition des kitharödischeu Nomos be-
gründet zu haben. Dieser zerfiel seitdem in sieben Abschnitte ') :
ap'/a^), [JLSTap/d, xataTpoTiä, {isTaxaTaxpoTra, ofJi'faXöc: (ein Name,
<ier mit dem Apollokulte zusammenhängt), o'^paYt? und £7:1X070«:.
Aus der Stellung des 6[j.(paXö<; ergibt sich, dass die ersten vier
Abschnitte nur den Wert von zwei Kola haben und Westphal ^)
also den o^^paXoQ mit dem vorhergehenden Gliede willkürlich
vertauschte. Die Tonart war die seiner Heimat, die äolische.
Als Titel von Nomen werden genannt: "OpO-io? (der berühmteste,
nach dem aufsteigenden jambischen Versmasse benannt) , Tpo-
ya.io(Z, AtÖAtoc, " Botcbtio? , o^öc, TsrpaoiSwc, KirjTtitüv (Kauicov) und
TspTrdvSpEoo«: (?). Die Versmasse waren entweder Hexameter
(Fr. 5. 6) oder langgezogene fermatenartige Spondeeu (Fr. 1.
3. 4), entweder ia[x[ioi opd-ioi, tpo'/aioc ayjtxavtot oder o;rovS£to'.
jAsiCovs? ^") mit nicht sicher zu bestimmenden Versabschnitten.
Auch das ohne Zweifel daktylische Fragment Nr. 2 bildete
wahrscheinlich einen Hexameter. Der erste Nomos war ein
1) Was Suidas v. '(Kov.b [xih. v.a\ Trv.^dxtu über seineu Tod erzählt, bezieht
sich wahrscheinlich auf den Kitharödeu Terpes (s. Bernhardy im Kommentar).
2) Suidas v. [AEtä xöv Ai-jfy.ov wSov.
3) Schneidewin zu Heracl. pol. p. 51.
4) Suid. a. O. ; Chri.stod. 114 ff.
5) Letzteres bezweifelt Philodem, de mus. col. 20, indem er geltend
macht, das Zeugnis des Stesichoros sei nicht vollkommen deutlich.
6) Glaukos bei Plut. mus. 4.
7) Pollax 4, 66.
8) Im Texte des Pollux steht £;:ap/«, was Bergk glücklich in kr.xä. ap/a
verbesserte. Dagegen E. v. Leutsch Philol. 29, 318. Nach letzterem zerfiel
der Nomos in vier Hauptteile.
9) Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik I 77.
10) Ritschi opusc. 1, 291 flf. Christ Metrik "83. 93 u. A. (vgl. Bergks
Kommentar).
Die eigentliche Lyrik (Melik). 289
apollinischer Hymnus (Fr. 2)*), wozu ein sicheres Fragment
eines Hymnus an Zeus (Fr. 1) kommt. Ausserdem sind von
Bergk Nomen auf Apollo und die Musen (Fr. 3) und die Dios-
kuren (Fr. 4) vermutungsweise angenommen. Manche be-
zeichnen diese Hymnen auch mit 7rpooi[A'.a Xoptxa, Im späteren
Altertum zweifelte man (und dies wohl mit Recht) an der
Echtheit der überlieferten Gedichte. ^) Die Sprache war die
epische Mundart mit dorischem A.
Für diese Nomen machte Terpandros die siebensaitige Lyra,
welche die Kleinasiaten und unter ihnen besonders die Lydier
verwendeten, den Griechen geläufig •^) und fügte ihr noch die
Flöte zur Begleitung bei. *) Was den Inhalt betrifft, so scheint
er, da ihn Plutarch^) ,, Lober der Heroenthaten" nennt, neben
den Göttermythen oft die Ereignisse der LIeldenzeit hereinge-
zogen zu haben. Er beschäftigte sich ja auch mit den homerischen
Epen; wenigstens heisst es, er habe sie komponiert. Wahr-
scheinlich stellte Terpander noch die Melodie der Skolien, deren
Erfindung ihm manche zusprachen, fest.
Der kitharödische Nomos dauerte in der Art , wie ihn
Terpander behandelt hatte, nicht lange, es müssten ihn denn
seine Nachkommen*') pietätsvoll gepflegt haben. Aber die Keime,
die jener Meister hervorgebracht, gelangten im Dithyrambos
und in der alten Tragödie zur Entwicklung. Seine Nomen
gaben die technische Grundlage für die späteren Dithyramben-
dichter ab, was Aristophanes veranlasste, den Nomos hin-
sichtHch der Sprache und der Rythmen in den Wolken (V.
275 ff.) zu parodieren.'') Äschylus übernahm von Terpander
1) Suidas V. «[xtptavaxtiCsiv.
2) Strabo 13, 618 (Bergk zu Fr. 3).
3) Strabo 13, 618, Eaclid. iutrod. härm. p. 19, Said. s. v. u. v. v6jj,oc
und Plin. 7, 204 schreiben ihm auf Grund des angeblich terpandrischen
Verses k.-xazö'^iü cp6p[j.'.YY- '^'^ooc xsXaoYj-ofjLsv aixvouc die Erfindung der sieben-
saitigen Lyra zu, vgl. C. Fr. Hermann antiquitates Laoon. p. 72 flf., zuerst auf
einem melischen Gefässe abgebildet (Conze melische Thongefässe T. 4 und
Textvignette = Arch. Ztg. 1854 T. 64, vgl. Brunn Bull. d. I. 1861 p. 9).
Nach Poseidontos (Atlien. 14, 635 d) führte er auch das Barbiton ein.
4) Marm. Par. Z. 49. Pollux 4, 83.
5) Inst. Laced. 17.
6) Suid. v. ^povtr.
7) Schol. Arist. Nub. 595 (Fr. 2 Bergk), vgl. Rossbach und Westphal 3,
64. Sie behielten den Hexameter noch häufig bei.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 1^
290 1^- K^pit^^'
die Weise des vö-aoc op^to? und die langgezogenen Fermaten ; *)
mit seiner Vorliebe für den terpandrischeu Nonios hängt es
auch zusammen, dass seine Chorgesänge nicht selten in sieben
Glieder zerfallen.^) Leider ist es aber in letzterer Zeit Mode
geworden — möchte ich doch sagen können, gewesen — die
Nomeneinteilung dahin zu übertragen, wohin sie nicht gehört,
z. B. auf die Siegeslieder Pindars^) und selbst auf Catull;^)
auch Kallimachos soll nach dem Nomenschema gedichtet
haben. ^) Damals war Terpander nur mehr ein uralter Sänger,
den man nach dem Sprichworte [astoc töv Asaßiov <5)§öv einfach
den ,, lesbischen Sänger" zu nennen pflegte^); in der Kaiserzeit
bezeichnete sein verschollener Name jeden geschickten Kitha-
roden. ')
Durch Terpanders Unternehmen wurde ein anderer Mann
angeregt, für den Flötennomos^) dasselbe zu leisten. Der
auletische Nomos war bisher in Phrygien und Lydien von der
eingeborenen Bevölkerung, die sich auf diese Kunst vorzüglich
verstand, sorgfältig ausgebildet worden. Von dem mythischen
Marsyas dürfen wir billig absehen; Olympos^) aber steht in ||
der Tradition schon der historischen Zeit sehr nahe, wiewohl
er noch älter als Terpandros heisst. Er soll bereits die Weisen
des IloX.ox£'f aXoc (an Apollo gerichtet) ^") und des Athene gel-
tenden kriegerischen apjjLdtetoc ^^) , der wahrscheinlich mit dem
öpd-coc vö|i,oc: identisch war ^^), erfunden haben.
1) Arist. Ran. 1264 fif. Timachidas bei Schol. Arist. Ran. 1285.
2) In den Persern V. 65 ff. 633 flf. 852 ff., mitupowSoc und £t:u>86<; 922 ff.
8) Mezger Pindars Siegeslieder erklärt, Lpg. 1880.
4) Westphal Catulls Gedichte S. 78 ff., dagegen H. Schmidt griech.
Metrik 1872 S. 636 tt.
6) Käsebier de Callimacho vojicov poeta, Brandenburg 1873.
6) So schon Sappho Fr. 92; vgl. Plut. ser. num. vind. 13. Eustath. in II.
zu A 129 und p. 741, 16.
7) lulian. or. 3 p. 142, 11. Anecd. Par. 3, 63, 23. Christodoros will eine
Statue des Terpandros gesehen haben. (V. 111 ff.).
8) Walt her S. 69 ff.; H. Guhrauer zur Gesch. der Aulodik bei den
Griechen, Pr. v, W^aldeuburg (Schlesien) 1879; dazu K. v. Jan Jahrbb. 119,
577 ff. Antwort Guhrauers 121, 689 ff.; v, Jan Jahrbb. 123, 643 ff.
9) Kitschi Opusc. 1, 268 ff.
10) Find. Pyth. 12, 19 mit Schol. Plut. mus. 7. Hesych. 8. v.
11) Plut. mus. 7. 33.
12) Bergk poetae lyr. Gr. III* 5; vgl. Dion Chrys. or. 1, 1.
Die eigentliche I.yrik (Melik). 291
Aus dem auletischen Nomos des Olympos entwickelte sich,
als man dem Flöteiispiele einen Text unterlegte, der aulödische
Nomos. Der Begründer des letzteren war wahrscheinlich Klon as^^i
von Tegea^), der nach Terpandros lebte und von ihm die An-
regung empfing; diese Auffassung der Alten ist sehr ansprechend,
weil die Flötenmusik überhaupt ein weit jüngeres Alter als das
Kitharaspiel hat. Von den Nomen kommen ihm nach der
Tradition der a;cö^£TO<; und der a-/ocvtwv zu. ^)
Nach anderen gebührte das Verdienst der Begründung
vielmehr dem Trözenier Ardalos*), über den sonst keine
einzige beglaubigte Nachricht vorliegt; er gehört vielmehr der
•Sagengeschichte an. ^)
In dem religiösen Nomos errang Sakadas von Argos '')
den höchsten Preis. Er erfand den vö^j-oc TpijispTjc und siegte
Ol. 48, 3 (632), sowie noch zweimal später bei den Spielen von
Delphi ^) im pythischen Nomos. In Delphi *) bestand nämlich
die festgeregelte Weise des pythischen Nomos , in welcher der
Drachenkampf des Apollo musikalisch wiederzugeben war. ^)
Von einem Texte ist dabei nie die Rede. ^^) Wenn es jedoch
heisst, Sakadas habe sXsvoi und IXs^sia {i,£[j.sXo7rotrj{jL2va gedichtet,
so bedeutet dies, wenn anders die Nachricht Glauben verdient,
jedenfalls, dass er nicht blos Aulet, sondern Aulöde war. Ein
Fragment seiner Dichtungen besitzen wir aber nicht mehr;
denn ihm mit den Handschriften des Athenaios ^^) eine Iliu-
persis zuzuschreiben, ist höchst bedenklich.
1) KXcuvä«: Plut. mus. 3. 5. vgl. 4, s. Bergk III *3.
2) Andere nennen Theben, wo ebenfalls das Flötenspiel blühte, seine
Heimat; doch kommen in Mittelgriechenland sonst keine Aulöden vor.
3) Plut. mus. 5. Pollux 4, 65. 79. Die sikyoaische Terapelliste nennt
auch den tp'.|j.e).Yj; (Plut. mus. 8).
4) Plut. mus. 5.
5) Paus. 2, 31, 3; Plut. sept. sap. p. 150a unterscheidet einen älteren
und einen jüngeren Ardalos.
6) Hier war sein Grab (Paus. 2, 22, 8).
7) Paus. 10, 7, 3. Deshalb stand seine Bildsäule auf dem Helikon (Paus,
i), 30, 2).
8) Ueber den Schauplatz Bursi an Geographie von Griechenland 1, 178.
9) Guhrauer Jahrbb. Suppl. 8, 309 ft.: K. v. Jan Philol. 38, 378 ft'.
10) Strabo 9, 421. Poll. 4, 84. Böckh de metris Pindari p. 182 f.
11) Athen. 13, 610c. C. Fr. Hermann las 'Ayta toö 'Apy»'-^'^» was Hiller
Rhein. Mus. 31, 88 billigt.
19«
292 10. Kapitel.
Im pythiscben Wettkami)f siegte gleichzeitig mit Sakadas^
als Aulöde der Arkadier Echembrotos, von dessen Weihge-
sehenk Tansanias ^) die Inschrift mitteilt.
Wir sehen also den religiösen Nomos ausschliesslich in
Argolis und den anstossenden Gebieten von Arkadien ent-
wickelt. Wie der Flötennomos aus Asien dorthin gelangte, ist
nicht klar; ohne Zweifel führte aber sein Weg über Delphi.
Es kann sein, dass der Nomos zunächst aus den äolischen
Kolonien nach Böotien kam ; indes vermag man im griechischen
Kleinasien blos bei den Joniern die Aulödik nachzuweisen.
Wenn es auch hier, wie ich nicht zweifle, einen ernsten religiösen
Nomos parallel mit der ernsten Elegie des Kallinos und Archi-
lochos gab, kennen wir doch nur mehr den profanen aulödisclien
Nomos, welcher der Elegie des Mimnermos entspricht.
Dieser Wandel ging gleichfalls von einem Kolophonier,
Polymnestos^) oder, da er sich in Sparta aufliielt, Polymnastos
genannt, aus, indem er die Nomenform auf Liebes- und Klage-
lieder anwandte. Erstere wurden von den Athenern noch
lange gesungen ^), weil seine Musik bereits reich an Melodien ^)
und vielleicht sogar aus verschiedenen Klanggeschlechtern ge-
mischt war.^) Wenn er den Lakedämoniern ein Gedicht auf
den Gortynier Thaletas verfasste^), so beklagte er darin wohl
seinen Tod. Durch diese Nachricht und ein Fragment des^
Alkman (Fr. 114), worin ihn dieser erwähnte, wird seine Zeit
ziemlich genau bestimmt. Auch Pindar gedachte des Poly-
mnastos mit ehrenden Worten. '')
Von seinem Landsraanne, dem Elegiker Mimnermos, wissen
wir blos, dass er den KpaSirjC vöfioc: vortrug; ob mit dieser
Melodie ein Text verbunden gewesen sei, ist leider nicht über-
liefert. War aber letzteres der Fall, dann wird sich der Inhalt
desselben von dem seiner Elegien nicht viel unterschieden
haben.
1) 10, 7, 6.
2) Bergk III M3.
3) Kratinos bei Schol. Arist. Equ. 1284. Arist. Equ. 1292 (1284).
4) Hesych. s'j|ie).t,'; nävo.
6) Plnt. mtis. 6.
6) Paas. 1, 14, 4.
7) Fr. 190 Böckh, 188 Bergk 'fO-eYn-a ^züf-Kov^ov.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 293
Wie der Nomos die sorgfältigste Pflege in dorischen
Ländern fand und seine festen Wurzeln im Apollokult hatte,
so gelangte bei dem nämlichen Stamme und zwar vor allem
in dem tanzliebenden Sparta, dessen Reigen Pindar rühmt, die
chorische Dichtung (x^ptxrj izoiriaic) zur höchsten Blüte.
Bei den Doriern war es ja hergebracht, dass an Festtagen Chöre
von Jungfrauen oder Jünghngen sich zusammenthaten, um den
Gott, welchem der Tag heilig war, in würdiger Weise zu feiern.
Musik, Gesang und Orchestik wirkten hier einträchtig zu seiner
Verherrlichung zusammen. Die Hauptarten dieser religiösen
Chorgesänge waren die nach dem Refrain benannten Paiane^),
die Processionslieder (TifvoadSta) mit vielen Unterabteilungen,
unter denen die Jungfrauen lieder (^apO-svia) für die Literatur
die grösste Bedeutung gewannen, und die Tanzlieder (o;rop/7]-
jiata)^), die aus Kreta nach dem Festlande gekommen waren.
Bei den Dionysosverehrern trat ausserdem der Dithyrambos
hinzu. Diese Arten knüpften sich an ständige Götterfeste.
Gelegenheitsgedichte dagegen, welche die Heimkehr eines Mannes,
•der bei einem der Nationalfeste den Preis errungen hatte,
feierten oder ein Siegesfest verherrlichten, waren die sztvtx'.a
und l7Xü){j.ta. Während auch diese mit dem Gottesdienste
stets enge zusammenhingen, waren die Hochzeitslieder frei
von diesen Rücksichten, fanden aber auch gerade deswegen
«rst, als jene Arten vervollkommnet waren, die Berücksichtig-
ung eines Kunstdichters.
Eben deswegen, weil so viele Künste zusammenwirkten,
war es äusserst schwer, einen vollkommen fähigen Dichter, der,
was schwer in die Wagschale fiel, zugleich ein geübter Dirigent
lind Arrangeur sein musste, zu finden. Darum Hessen Staaten
-im besonders geschickte Männer, die in anderen Städten lebten,
einen ehrenvollen Ruf ergehen und räumten ihnen eine bevor-
zugte Stellung ein. Republiken und Tyrannen stritten sich in
edlem W^etteifer um so vielseitige Talente. Auch an Geld-
belohnungen fehlte es nicht , weshalb Arion , Simonides und
Pindar sich grosse Reichtümer erwarben; aus diesem Grunde
zogen wenigstens in der späteren Zeit solche chorische Sänger
1) Vgl. S. 16; Schwalbe über die Bedeutung des Päan als Gesang des
apollinischen Cultus, Magdeburg 1847 (Pr.).
2) C. H. Walt her de Graecorum hyporchematis I. Bochum 1874.
294 10* Kapitel.
in ganz Griechenland, überall freudig aufgenommen und reich-
lieh für ihre Mühe belohnt, umher.
Schon der erste in Sparta auftretende chorische Dichter
Thaletas^) oder Thaies^ ist nicht in Sparta selbst, sondern
in der kretischen Stadt Gortys^) geboren. Auf Kreta hatte die
Musik, welche wie überall bei den Doriern mit dem Dienste
des Musengottes innig verbunden war, bereits eine hohe Stufe
erreicht; es blühten dort somit die Form des Paian, daneben,
aber auch besonders das Tanzlied, da der kretische Tanz ini
Zeuskult bis zu den ältesten Zeiten zurückgingt) und vielleicht
eine Spur des alten Zusammenhanges von Kreta und Klein-
asien*) war. Daher trug das Hyporchem noch lange den Bei-
namen ,, kretisch".^) Weil Kreta ausserdem in seiner Verfas-
sung und seinen Sitten dem spartanischen Staate am nächsten
stand, kann es nicht auffallen , dass gerade ein Kreter, zumal
da er in seiner Heimat ein angesehener Mann war und sich
um ihre Gesetzgebung verdient gemacht hatte,') zur Reform
der Kirchenmusik nach Sparta berufen wurde. Bezüglich der
Zeit seines Wirkens setzt ihn der alte Literarhistoriker Glaukos
nach Archilochos, weil er diesen in den Rhythmen nachbildete ;
wenn dies richtig ist, lebte er nicht lange Zeit nach ihm.")
Da nämlich wie Pratinas^) erzählte, die Spartaner ihn auf den
Rat des delphischen Orakels in ihrer Not kommen Hessen, ha-
ben wir an den zweiten messenischen Krieg zu denken.*®) Die
1) Herrn. Litzinger de Thaleta poeta, Pr. v, Essen 1851.
2) Hock Kreta 3, 339.
3) Plut. muB. 9. Polymnestos bei Paus. 1, 14, 3; aus Elyros oder Knosso»
nach Suid. s. v. (in zwei schlechten Artikeln).
4) Hock a, O. 3, 345 ff.
6) Milchhöfer die Anfänge der Kunst in Griechenland, Lpg. 1883.
6) Simon v. Keos fr. 31, 3 Kpf^td jitv xaXEoiot tpÖTiov, tö o' rj^^a'^ov
MoXooaov.
7) Strabo 10, 733.
8) Easebios betrachtete beide wahrscheinlich als gleichzeitig; daher setzte
er den Beginn der Gymnopädien Ol. 28, 4 (Synk. armen.), 27, 4 (Hieron.)»
28, 1 (Hier. P) oder 27, 2 (Hier. F) an. Vgl. Unger Philo!. 23, 40 ff.
9) Plut. raus. 42.
10) Von Beruhigung der Gemüter sprechen Stesichoros und Pindar (Phi-
lodem. de mus. col. 20); Mart. Cap. 9, 926 verwech.selt ihn offenbar mit
Epimenides.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 295
Nachrichten, die ihn als Gesetzgeber mit Lykurg verbinden^)
oder gar in die homerische oder hesiodische Zeit hinaufrücken^^),
besitzen selbstverständlich keinen Wert.
Thaletas brachte also von Kreta die kunstmässigen Päane
und Tanzlieder nach dem Festlande; mit jenen führte er zum
ersten Male den päonischen Rhythmus, mit diesen den kreti-
schen Vers in die dorische Kunstlyrik ein. ^) Seine Dicht-
ungen Hess Thaletas an dem Feste der Gymnopädien, das
er in Sparta zur Versöhnung der Arterais einsetzte, durch
Chöre der Epheben vortragen. Von seinen Dichtungen wussten
die Alten nichts bestimmtes mehr; nach Ephoros' Angabe'*)
legten ihm manche fast alle auf Kreta entstandenen Gedichte
bei. Die meisten sprechen nur von Paianen, ohne irgend ein
noch so kleines Fragment mitzuteilen. Wenn wir Suidas Glau-
ben schenken, beschäftigte er sich gleich Terpander auch mit
dem Vortrage epischer Gedichte.
In derselben Zeit sollen Xenodamos von Kythera und
der itahsche Lokrer Xenokritos in Sparta thätig gewesen
sein ; etwas anderes wissen wir nicht von ihnen , als dass die
Alten das Auftreten dieser drei Männer , mit denen sie die
Aulöden Polyranestos und Sakadas verbanden,^) als die zweite
Katastasis der spartanischen Musik bezeichneten. Die erste
aber hatte allein auf Terpander beruht. Die Alten nannten
Xenodamos und Xenokritos Paianendichter, obgleich sie selbst
vvolil nichts als ein dem ersteren zugeschriebenes Hyporchema*^)
1) Ephoros bei Strubo 10, 738. Flut. Lyc. 4, älter als Lykurg nach Arist.
pol. 2, 12. Sext. Emp. p. 679, 1 B.
2) Diog. L. 1, 38 (xatä 'Hg'ooov xal "Ofi-ripov xal AuxoüpYOv). Suid.
3) So sind die Aeusserungen von Crlaukos bei Flut. mus. 14 und Strabo
10, 480 zu deuten; diese Vei-se waren natürlich längst auf Kreta in Gebrauch
und man sieht nicht, warum sie Thaletas von Olympos hätte entlehnen sollen.
Die Hyporchemata galten als Erfindung der Kreter (Athen. 5, 181 b). Vgl.
Sauten in Terent. Maur. p. 97 ff.; Hock Kreta 3, 346 f. Auch im
Kitharaspiele waren sie ausserordentlich geübt; dieses Instrument begleitete
sie sogar in den Krieg (Ath. 12, 517 a. 14, 627 d. Mart. Cap. 9, 925).
4) Strabo 10, 736.
5) Diese Fünfzahl ist nicht chronologisch geordnet, sondern die beiden
Aulöden stehen abgesondert von den Kitharöden.
6) Flut. mus. 9, vgl. Athen. 1, 15d.
296 10. Kapitel
kannten; doch rühmte Kalliraachos die italische Harmonie des
anderen^).
Etwas jünger ist, weil er nicht mehr zur zweiten Katasta-
sis gehört, der gleichfalls in Sparta dichtende Alkman.'^) Be-
züglich seiner Heimat lautete die vulgäre Erzählung, er stamme
aus Sardes^) und sei nur ein freigelassener Sklave.*) Da aber
Dionys von Halikarnassos , die Quelle des Suidas, sagt, Krates
stelle irrtümlich diese Ansicht auf, Alkman sei thatsächlich in
dem spartanischen Dorfe Messoa^) als Sohn des Damas oder
Titaros geboren , muss jene Behauptung nur aus der Interpre-
tation einer doppeldeutigen Stelle entsprungen sein. Diese liegt
ohne Zweifel in Fr. 25 vor: ,,Du bist nicht ein ungebildeter
ungeschickter Mann noch von Geschlecht ein Thessaler, ein
Erysichäer oder ein Hirt, sondern aus dem hohen Sardes." So
viel wir jetzt beurteilen können , sang mit diesen Worten ein
Mädchenchor unseren Dichter an. Wenn er also wirklich von
Sardes war, so geht andererseits aus dem stolzen Ton der
Fragmente hervor, dass der Dichter ein freier Mann gewesen
sein muss; in der That hätte ein Freigelassener in Sparta da-
mals kein solches Ansehen erringen können. Ausserdem ist
sein Name wie d^r des Vaters echt griechisch®) und er zeigt
nirgends eine ungewöhnüche Kenntnis Kleinasiens. ^) Wenn
Alkman aus der Fremde kam, hatte er gleich Terpander und
anderen einen offiziellen Ruf erhalten.^)
1) Schol. Pind. Ol. 11, 17. Nach Herakleides pol. fr. 29 war er von
Greburt bliud.
2) Tb. Niggeiuey er de Alcniane poeta Laconico, Diss. von Münster 1869.
3) Alex. Aetol. Anthol. 7, 709; Anth. Pal. 7, 18, 19. Vell. 1, 18 Alcmaiiu
Lacones falso sibi vindicaut.
4) Said, (aus Hermippos? Daiib Jahrbb. 123, 246 flF.).
6) Dieser Name scheint von Späteren in Mss^YjVY) verdorben worden zu
Bein, weil Suidas einen messenischen Lyriker Alkman von dem berühmten
unt-erscheidet. Dionysios nennt Messoa, da Alkmans Denkmal sich dort be-
fand (Paus. 3, 15, 2).
6) 'A>.x|iav ist nach dorischer Art aus 'A>.x|j.äu>v = 'AXx(j.ai(ov (so nennen
ihn Ensebios und Himer. or. 6, 3) zusammengezogen. Alkman selbst hat
beide Formen ('AXxjjiav 26, 1. 33, 4 und 'AAx|xätuv 71).
7) Fr. 82 und 91 hängen mit dem Ursprünge der griechischen Musik
überhaupt zusammen; Fr. 129 (?) und 131 kamen bei Erwähnung des troischeu
Krieges vor; die lydische Mitra ^Fr. IG) zählt er mit anderen Luxusgegeii-
stäuden auf.
8) Ae], v. h. 12, 60.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 297
Auch die Zeit des Alkman unterliegt grossen Bedenken.
Niicii Suidas lebte er unter König Ardys um Ol. 27;^) aber
dann wäre der Dichter ein Zeitgenosse des Terpander, während
er doch schon den zur zweiten Katastasis gehörenden Poly-
mnastos nennt. Wahrscheinlich fand man einmal bei ihm
den Einfall der Kimmerier erwähnt. Aus einer ähnlichen
Kombination ging die erste Angabe des Eusebios, er habe
Ol. 30, 4'^) oder 31, 1-^) gedichtet, hervor. Mehr Glauben ver-
dienen ,, einige", die nach seiner Angabe Alkman Ol. 42, 2*)
oder 43, 3^) ansetzten,^) wenn dies nur nicht so viel bedeutet
wie dass sie ihn für einen Zeitgenossen des Stesichoros hielten.
Alkman erreichte ein hohes Alter, denn Fr. 26 klagt er den
Mädchen des Chors, die Kniee vermöchten ihn nicht mehr zu
tragen. Dass er an der Wassersucht starb, ist eine Erfindung
der Komiker oder ironischer Literarhistoriker, welche annah-
men, dass seine aufrichtig eingestandene Esslust nicht ohne
schlinnne Folgen geblieben sei.')
Alkmans Dichtungen , welche die Grammatiker in sechs
Bücher teilten, standen alle mit den Götterfesten in Zusammen-
hang, wenn sie auch hinsichtlich ihres Inhaltes oft sehr welt-
licher Natur waren.
Die eigentlichen Götterhymnen (Fr. 1 — 21) erfreuten sich
geringer Beachtung, so dass über sie wenige Nachrichten vor-
liegen. Alkman besang in ihnen den Zeus Lykaios, die Dios-
kuren nnd jedenfalls noch viele andere Gottheiten. Eine dich-
1) Im siebenten Regierungsjahre des Ardys nach Roh de Rhein. Mus.
33, 199 f.
2) Hier. (30, 3 APF).
3) Synk. u. Hier. ß.
4) Hier. (Ol. 42, 3 F, 42, 4 AP).
51 Synk. 403, 14.
6) Hock Kreta 3, 379 f.; Susemihl Jahrbb. 109, 661 flf., vgl. Ritschi
opusc. 1, 279; anders Hiller Rhein. Mus. 31, 77 ff. Letzterer weist in Bur-
sians Jahresberichten H 2, 202 f. mit Recht Susemihls Versuch ab, aus der
Erwähnuuji von Rennpferden einen bestimmten Terminus post quem zu er-
schliessen ; denn Alkman spricht nicht von lakonischen Rennpferden. Eine
bessere Zeitbestimmung dürfte die Nennung der Pityusen 'Fr. 147 b) abgeben,
weil sie zumal im eigentlichen Griechenland erst nach der Mitte der dreissiger
Olympiaden möglich war.
7) Ael. bist. au. 5, 25, 1 u. ö.
298 10. Kapitel.
terische Individualität tritt in ihnen nicht hervor; die Hymnen
scheinen aber in patriotischem Gefühle gedichtet gewesen zu
sein. Wenigstens verband er mit dem Hymnus an Zeus das
Lob der Dioskuren und seiner Stadt. ^) Beachtung verdient zu-
gleich, dass sich Alkman von Terpauder bereits völlig emauci-
pierte und den Hexameter nirgends, ja selbst die daktylischen
Masse überhaupt in ziemlich beschränktem Umfange anwendete.
Von seinen Päanen kennen wir nur ein einziges dürftiges
Fragment (Nr. 22): „'Bei den Schmausereien und Gelagen
wackerer Männer ziemt es sich unter den Gästen den Päan an-
zustimmen." Ist es jedoch wirklich aus einem Päan?
Alkmans Hauptstärke ruht aber in den von Jungfrauen
vorgetragenen Gesängen, den Parthenien.^) Auch hier fehlten
natürlich religiöse Lieder nicht. Gerade das umfangreichste
Stück des Alkman (Fr. 23) spricht den Gedanken aus , die
Götter rächten früher oder später eine Frevelthat, und führt
ihn an dem Schicksale des Hippokoon und seiner Söhne durch ;
aber V. 39 wendet sich der Dichter plötzlich , den Uebergang
blos durch die Worte „Ich aber singe Agidos Glanz" andeutend,
zum welthchen Teile des Hymnus, indem er den Chor zunächst
die Schönheit der Chorführerin Agido und mit ihr die Reize
Agesichoras rühmen lässt. Er vergleicht sie mit edlen Rossen
oder Tauben und scheut sich nicht, nach echt spartanischer
Sitte durch den Vergleich nnt zahlreichen anderen Mädchen
Agido auf Kosten derselben besonders hervorzuheben. Alkman
schont dabei deren P^mpfindlichkeit so wenig, dass er die zu-
rückgesetzten mit Namen nennt (V. 70 ff.). Dieses ungefähr
hundert Verse enthaltende Partheneion, ein unschätzbares, aber
leider sehr lückenhaftes und ruiniertes Denkmal der lakonischen
Poesie, steht auf drei Papyrusseiten, welche der bekannte Ägyp-
tologe Mariette-Pascha 1855 in einem Grabe nicht weit von der
zweiten Pyramide entdeckte. Nachdem es Egger 1863 zum
ersten Mal herausgegeben, 3) wurde es seitdem oft bearbeitet.*)
1) Himer. or. 6, 3.
2) fiteph. Byz. v, 'Epooix"^ citiert das dritte Buch.
8) memoires d'hiat. anc. et de philol., Paris 1863 p. 159 ff.
4) Ten Brink Philol. 22, 1 ff.; Ahrens Philol. 27, 241 ff. 577 ff.;
Christ Philol. 29, 211 ff.; Blass Rhein. Mns. 23, 646 ff. 25, 177. Hermes
13, 16 ff. 14, 466 ff.; Canini fragment da parth^mie d'Alcman, Paris 1870,
Die eigeutliche Lyrik (Melik). 29^
Es eröffnet niis das Verständnis für die Reste der übrigen Par-
thenien; denn diese begannen obne Zweifel ebenfalls mit dem,
Preise einer Gottheit und gingen dann , vielleicht durch Ver-
mittlung einer Sentenz, wie es später Pindar that, zu persön-
lichen Dingen über. Auf letztere beziehen sich die meisten
der erhaltenen Fragmente, die uns in das heitere Leben der
alten Spartaner einführen. Bei ihren festlichen Reigentänzen
war es Sitte, bestimmte mit ihrem Namen bezeichnete Perso-
nen teils lobend , teils tadelnd mit gleicher Unverfrorenheit zu
erwähnen, z. B. singen fr. 29 die Mädchen von einem Jüng-
linge ,,0 Vater Zeus, möchte er doch mein Gemahl sein ;" aber
ein anderes Mal sparen sie auch den Spott nicht. Um diesem
jedoch die Spitze abzubrechen und niemand persönlich zu ver-
letzen, lässt der Dichter auch auf sich selbst Spottverse singen,
z. ß. wenn er in fr. 25 seineu Gesang mit dem der Rebhühner
vergleicht oder fr. 33 sagt: ,,Bald wird der Kessel voll von Brei
sein , wie ihn der nicht wählerische Alkman gerne warm isst ;
denn er ist kein Gourmand, sondern verlangt nur Hausmanns-
kost."^) Auch an anderen Stellen redet er mit sichtlichem Be-
hagen von Käse und anderen Esswaaren. Wie wir schon ge-
sehen haben, sangen manchmal die tanzenden Mädchen ihre
Führerin an;^) hie und da sprach der Dichter selbst, der den
Reigen leitete, zu ihnen, wie im 26. Fragmente. Seine Worte
sind , wie ich denke, auch (Fr. 36) : „Wiederum erweckt mir
Eros nach Kypris' Gebote ein süsses Beben im Herzen."'^)
Freilich genossen die Lakonierinen eine zu freie Erziehung, als
dass sie nicht auch von Aphrodite und Eros singen durften,
z. B. Fr. 38. Endhch scheinen sich einige Parthenien, weit
ein Epigrammatiker die Epithalamieu Alkmans*) rühmt, auf
Hochzeiten bezogen zu haben.
Alkman steht, wenn man auf Reichtum an poetischen Ge-
danken und auf edle Sprache sieht, nicht sonderlich hoch; da-
ain besten bei Bergk III* 23 ff. Ein Facsimile steht Notices et extraits de
man. XVII 2 pl. 2, genauer Bergk III * 30—34.
1) Vgl. Ael. V. h. 1, 27.
2) Ath. 14, 646 a.
3) Archytas bei Athen. 13, 600 f nennt ihn unpassend xwv Epwf.xöiv
}jie"/,(öv YjYSfiHuv ; vgl. fr. 1 25.
4) Anthol. Pal. 7, 19.
300 ^ö- Kapitel,
gegen erfüllt seine Dichtung der anspruchslose und etwas pro-
saische, aher doch zugleich frohe und heitere Geist der Spar-
tjiner. Die Menschen betrachtet er alle, wenn sie sich nicht
wie etwa Hippokoon durch Frevel den Göttern verhasst ge-
macht haben, als seine Freunde, denen gegenüber ein passen-
<ler Scherz und zuweilen eine wohlgemeinte mit lächelndem
JMunde gesprochene Rüge erlaubt ist. Auch an dem Leben
•der Natur ging der Dichter nicht kalt vorüber, wie das schöne
Fragment 60 darthut: „Es schlafen der Berge Häupter und
■Schluchten, Gipfel und Thäler, die Pflanzen und alles lebende,
was die dunkle Erde nährt, die Tiere in den Bergen, der
Bienen Schwärme, die Ungeheuer in den Tiefen des purpurnen
Meeres, es schlafen auch die Schaaren der fiügelregenden Vö-
gel; in fr. 67 rühmte er sich sogar, die Weisen aller Vögel zu
kenneu und gerade den gefiederten Bewohnern der Luft wandte
«r eine besondere Vorliebe zu.^)
Die Sprache Alkman's^) baut sich auf dem altlakonischen^)
Dialekte, in den er hie und da epische und äolische Formen
mischt, auf. Für jene kann er aber ob der argen Verderbnis
des Textes nur eine trübe mit Vorsicht zu benützende Quelle ab-
geben; ist doch das Digamma vöUig geschwunden.'') Während die
«pischen Formen bei dem allbekannten Einflüsse Homers keiner
besonderen Erklärung bedürfen, sind die Aolismen nicht so
selbstverständlich. 0. Müller und Ahrens^) führen sie auf
Terpander und seine Nachfolger, die bei den Kameen als
Kitharöden auftraten , zurück , obgleich jener den dorisch ge-
färbten Dialekt des Epos gebrauchte; doch selbst wenn dies
nicht der Fall wäre, untei-läge jene Annahme grossen Bedenken,
weil Alkman mit Terpander, wie es scheint, weder poetisch
noch musikalisch viel zu thun hat. In letzterer Hinsicht
könnten wir eher an Sappho und Alkaios denken, doch scheint
i
1) Fr. 25. 26. 28.
2) G. Ingraham de Alcmani.s dialecto, Novi Eboraci 1877 (Di.ss. v.
Wiirzburg); H. Spiess de Alcmanis poetae dialecto (1877) in Curtius' Studien
10, 329 ft". ; Fr. Schubert Miscellen zum Dialekte Alkmans in den Sitzungs-
tyer. der Wiener Akad. 92, 617 ff.
3) Ich sage „altlakonisch", weil Alkinau weder den Khotacismus kennt
noch inlautendes o in die Aspiration verwandelt.
4) Clemm Curtius' Stud. 9, 444 ff.
6) Ueber die Mischung der Dialekte S. 69.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 30 L
mir, wenn ich mich erinnere, dass sogar in dem bekannten.
VolksUede der Spartaner (C. pop. 18) ^) Aolismen, die hier niclit
im geringsten am Platze sind, die Vulgata entstellen, und dass
bei Alkman vielleicht nur in den Participien auf oioa und der
Vertretung von C durch ad sichere Belege vorliegen, eine
andere Auskunft wahrscheinlich. Apollonios Dyskolos ^) , an
den sich Priscian ^) anschliesst, las offenbar Handschriften, die
von Äolismen wimmelten; denn er nennt Alkman ,, beständig,
äolisierend" , was von unserem Texte nicht so sehr gilt. Ich
vermute daher, dass die Alexandriner ihre verderbten Hand-
schriften mit ungenügender Kenntnis des lakonischen Dialektes-
recensierten und einer Theorie oder auch einigen Korrupteleu
zu Liebe ÄoHsmen in den Text hineintrugen. Der ganzen
literarhistorischen Stellung Alkmans nach scheint es mir wahr-
scheinlich, dass er selbst keine anderen Aolismen als die-
epischen anwendete. Das bekannte Schema Alcmanicum, wo-
nach ein zu mehreren Subjekten gehöriges Verbum im Plural
hinter das erste derselben tritt (z. B. 12), war wahrscheinlich
in dieser Häufigkeit ein lakonischer Idiotismus.
Bei den Versmassen des Alkman tritt uns eine für so früh&
Zeit auffällige Fülle, doch zugleich auch archaische Beschränkung
entgegen. Den lyrischen Hexameter des Terpander gebrauchte
er nicht selten (z. B. fr. 26. 27. 39 u. ö.), er bildete aber auch
die übrigen daktyhschen Masse bedeutend aus, indem er sich
besonders daktylischer Tetrapodien'*) (zumal katalektischer,
welche daher den Namen metrum Alcmanicum trugen)^) und
Tripodien") bediente. Damit hängt wohl der Ausdruck xaTO.
1) "Aixjxö?, wofür Bergk mit Kecht «|j.£C herstellt, und aü-cäaoso. Selbst
in dem hochaltertümlichen Prozessiousliede des Eumelos ist Molaa überliefert.
2) De pron. 136 c.
3) 1, 21. 22.
4) Hephaistion c. 7, catalectica in duas syllabus z. B. fr. 1, 1.
5) Christ Metrik *154; Diomedes p. 516 (aus Varro) behauptet irrtüm-
lich, Archilochos habe das Metrum erfunden. Dieser setzte vielmehr in fr. 9&
die tetrapodia catalectica in duas syllabus.
6) Katalektisch fr. 1, 2. 2, 2, 3, 1 u. ö. (wie Archilochos), akatalektisch
blos fr. 43, 2. 60, 6.
302 10. Kapitel.
SaxToXov s.l8o<z zusammen.^) Daneben waren trochäische ^) und
jambische^; Diineter, sowie katalektische Senare ^) behebt. Die
vöUig einheithch gebauten Verse überwogen die gemischten bei
weitem; der Dichter verband überdies blos Daktylen und
Trochäen oder Anapästen und Jamben. Jonische Verse finden
«ich blos in Fr. 83 — 85. Von höchstem Interesse, weil das
Verhältnis des Alkman zu Thaletas dadurch in ein helles
Licht tritt, ist der Umstand, dass unser Dichter den kretischen
Rhythmus blos in einem einzigen Gedichte (fr. 38) anwandte,
während die eigentlichen Päone und die Choriamben ganz
fehlen.^) Die Strophen waren von altertümHcher Einfachheit:
In dem erhaltenen Partheneion enthält jede Strophe vierzehn
grösstenteils kurze Verse; die ersten acht entstehen durch den
viermaligen Wechsel von je zwei Versmassen, V. 9 — 12 haben
-das erstere gleichsam als Thema, worauf zwei daktylische Verse
das ganze abschliessen. Mit den Strophen eines Stesichoros
oder Pindar halten die alkmanischen weder an feierlicher Länge
-der Verse noch an Künstlichkeit des Baues einen Vergleich
aus. Doch ging der Dichter schon so weit, dass er bei einer
grösseren Zahl von Strophen eine gewisse (isTaßoXi] anbrachte. ^)
Den Wechsel von Strophe, Antistrophe und Epodos gab es
aber noch nicht. Einige Lieder sollen parakatalogisch vorge-
tragen worden sein '), was zu dem nicht selten etwas prosaischen
Tone stimmen würde. In der Regel sangen jedoch die Mädchen
-des Chors unter Begleitung der Flöte (fr. 78, vgl. 82) oder
Kithara (fr. 66).
Die Spartaner weihten Alkman die Verehrung, die ihm
-schon als dem einzigen literarischen Vertreter ihrer heimischen
1) Schol. Arist. Nub. 651. Suse mihi Jahrbb. 109, 664 ff. weist diese
Ansicht Westphals zurück, weil sich der Ausdruck blos auf die Melodisierung
beziehe.
2) Versus Alcmauius Servins c. 2, z. B. fr. 16, 1. 2. 23, 11. 12 u. ö.,
katalektisch fr. 23, 1. 3. 6. 7. 25, 2 und 67, 1.
3) fr. 37, 2. 76, 1—6. 78—80. 86, 2 (archilochisch), akatalektisch fr. 9, 2.
74 b 4. 86, 1?. 87, 1.
4) Fr. ], 3. fr. 4. 6 u. ö. (archilochisch), akatalektisch fr. 74 A.
6) Dreizeitige Längen oder Pausen bei Alkiuan anzunehmen, ist nicht
-einmal in Fr. 60 notwendig: vgl. Bergksadn. crit.
6) Nach Hephaistion p. 76, 20 ff. W unterschied er in einem Gedichte
Aon vierzehn Strophen die beiden Hälften durch das Metrum.
7) Hesych. v. x>.e'j.':a|xßot mit Athen. 14, 636 b.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 303
Mundart gebührte^); er selbst schilderte einmal mit komischem
Pathos seine Berühmtheit und zählte die fabelhaften Völker
iuif , zu denen sein Name schon gedrungen sei. ^) Ausserhalb
seiner engeren Heimat stand aber sein lokaler Dialekt der
wirklichen Popularität^) entgegen; dennoch waren die Athener
•der perikleischen Zeit mit ihm fast wie mit Stesichoros und
Simonides vertraut.^) In der alexandrinischen Periode lenkte
hingegen gerade seine Mundart die Aufmerksamkeit der Ge-
lehrten auf ihn. Aristarch recensierte seine Gedichte. ^) Der
Lakonier Sosibios, der unter Ptolemaios Philadelphos lebte,
schrieb wenigsten^ drei Bücher über Alkman^), wie auch Philo-
choros ') und wahrscheinlich Chamaileon ^) Monographien ver-
fassten. Seine sprachlichen Eigentümlichkeiten boten Stoff für
die YXwaaai Aaxwvtxaf und Alexandros Polyhistor gab eine
Schrift über seine l^okalsagen, 7r=pl twv Tiap' 'AXxjxävt xozixöic,
IiTOpYjixsviov ") heraus. Infolge dieser Studien schenkten ihm
auch die Dichter wieder einige Beachtung; die Bukoliker be-
trachteten ihn als ihren Vorläufer. ^^) Christodoros ^^) will im
Zeuxippos Alkmans Bild gesehen haben.
Die Fragmente stehen bei Bergk III ^ 14 — 78; früher
(Giessen 1817) hatte sie Welcker bearbeitet.
In eine neue Phase tritt die chorische Lyrik mit dem
Sicilier Stesichoros.^^) Er hiess eigentlich Teisias^^); erhielt
aber von seinen Verehrern jenen Ehrennamen. ^*) Die Namen
1) Er heisst daher oft kurzweg ö AaxäSa'.jj.oviuiv iro'.Yjx-r]?, z. B. Aristid.
or. 2, 40.
2) Fr. 118.
3) Pausauias sagt 3, 15, 2 & TCOiYjoavxi qfa|xaTa ohohv sq -f^Soviiv aOxuiv
iXo[j.'f|vaxo xojv Aaxcuvcuv 7j •^Xiüaaa. r^v.iO'za irapE^^ojxevfj xö £U5pti>vov.
4) Anonymer Komiker bei Athen. 14, 638 e.
5) Schol. zum Papyrusfragment II 3 ; dieselben führen zu III 11 Stasikies an.
6) Atheuaios führt sie mehrmals an.
7) Suid. V. <I>'.X6-/opo;.
8) Ath. 13, 600 f.
9) Steph. Byz. v. 'Apä^Yj, 'Aoaö?; slp"fj|j.evu>v , das an der ersten Stelle
steht, ist nach den Fragmenten unrichtig.
10) Valkenaer ad Theoer. 1, 65.
11) "Ex-fp. 393 ff.
12) Welcker kleine Schriften 1, 148 ff.
13) Suid.
14) Auf der Frauyoisvase heisst eine Muse SxYjaiyopvj; vgl. XopovixY) auf
«iner Vase von Vulci Mon. d. I. 2, 24.
304 ^^- Kapitel.
seines Vaters, Eupliemos ^) oder Eukleides ^) scheinen gleichfalls
blos symbolisch zu sein. Sein Geschlecht stammte aus Ma-
tauros^), einem Städtchen der epizephyrischen Lokrer. und
leitete sich von Hesiod ab. *) Er selbst erblickte an der Nord-
küste Siciliens in Himera, an dessen Gründung^) 'sein Vater
mit anderen Lokrern Teil genommen hatte, das Licht der Welt.
Nach Dionysios von Halikarnass blute er Ol. 37 und starb Ol.
56^); ersteres ist aber wohl aus der Bestimmung des Alkman,
als dessen Nachfolger er galf), auf Ol. 27 berechnet. Sein
Todesjahr wurde andererseits wahrscheinlich nach der Geburt
des Simonides bestimmt, weil dieser sich als jünger bezeichnet
(Fr. 53)^). Bezüglich seiner Blütezeit ist die Angabe des Euse-
bios (Ol. 42, 1^) oder 43, 2)'") aus dem Gründungsjahre von
Himera, das jener mit dem Geburtsjahre des Dichters zusam-
menfallen lässt, abstrahiert. Noch mehr Verwirrung richten die
Angaben der parischen Chronik an; sie sagt ^. 65 zu Ol. 73, 3
StTjor/opo? TrotYjTYjc El? 'EXXaSa a<pixsto und Z. 85 zu Ol. 102, 3
XT7joi)(opoc ö 'I[jL£paioc 6 SeÖTspoc. ^^) Erstere Angabe ist un-
möglich richtig und sicher aus der Deutung der unten zu er-
wähnenden Fabel auf Gelon oder wahrscheinlicher Terillos von
Himera entsprungen. Der Verfasser der ,, Langlebigen" endlich
hat die 85 Lebensjahre des Stesichoros nach einer Quelle be-
1) Plato Phaedr. 244 a; Stcph. B. v. Maxaopoc.
2) Suid. und auf einer verscholleneu Herme von zweifelhafter Echtheit
(Welcker a. O. S. 151). Suidas nennt ausserdem Euphorbos (an erster Stelle)
und Hyetes.
3) Steph. Byz. a. O.
4) Welcker a. O. S. 150 ff. Nietzsche Rhein. Mus. 28, 223 ff. Suse-
niihl Jahrbb. 109, 658 ff. Robert Bild und Lied S. 189.
5) Ol. 33, 1 (648) ; Thuc. 6, 5. Die Himeräer behaupteten, Stesichoros sei
aus dem arkadischen Pallaution zu ihnen eingewandert (Suid.).
6) Euseb. Ol. 60, 2 Synk. u. Hieron., 55, 3 armen, und Hier. A, 65, 2
Hier. P.
7) Said. Manche machten beide ungefähr zu Zeitgenossen, s. S. 297.
8) Roh de Rhein. Mus. 33, 198 f. Nach Ensebios armeni.sch Ol. 55, 3,
bei Hieronymas Ol. 66, 2.
9) Hieron. (42, 2 AP). Auf das gleiche läuft der Synchronismus von
Alkaios, Sappho und Stesichoros hinaus (Suid. v. -r/Tf-pü'»).
10) Armenisch.
11) Snidas v. Eitirrj?£0|ia nennt einen Kitbaröden Stesichoros, den ein
Räuber erschlug.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 305
rechnet, welche seine Blütezeit wahrscheinlich Ol. 34, 2 oder
35, 1 ansetzte. Somit bleibt nur die Thatsache übrig, dass
Stesichoros in einem Gedichte die Fabel vom Pferde und dem
Menschen erzählte, um seine Mitbürger vor einem Tyrannen
zu warnen; dies war höchst nach alter Tradition Phalaris von
Akragas. ^) In den unechten Briefen dieses Tyrannen ist diese
Geschichte sogar zu einem ganzen Roman ausgesponnen. ^) Konon
(42) nennt dagegen Gelon, was zur Zeitbestimmung im Marmor
Parium passen würde ; doch verbietet die Autorität des Ari-
stoteles und wahrscheinlich auch des Philistos, an jener gewöhn-
lichen Annahme zu rütteln. Ueberdies citiert Simonides (Fr. 53)
Stesichoros wie einen alten Autor. Da aber die Himeräer auf
seine Warnungen nicht hörten und Phalaris aufnahmen, musste
der Dichter nach Katana fliehen. Hier lag vor dem stesichorischen
Thore sein eigentümlich gebautes GrabmaP), auf welches die
Alten das Sprichwort xavta oxto) bezogen, weil es acht Ecken
und acht Säulen hatte. ^) Seine Vaterstadt Himera bewahrte
das Andenken an seine Person durch eine Statue, die Cicero
noch sah und beschrieb^); eine Münze ^) gibt einen Begriff von
ihr; man sieht einen bärtigen Mann in gebückter Haltung, der
als Chorodidaskalos einen Stock in der Hand trägt und schreibt.
XJeber die Lebensverhältnisse des Stesichoros teilten die Alten
nichts genaueres mit; nur entstand noch dadurch eine Sage,
dass er in zwei Gedichten über Helena völlig verschieden
urteilte. Das eine Mal nämlich, vielleicht in der 'IXioo Trspoit;,
bürdete er ihr die volle Schuld des troischen Krieges auf,
während er in einem späteren Gedichte der Sage die eigen-
tümliche von Euripides angenommene Gestalt gab, dass Helena
in Ägypten blieb und an ihrer Stelle ein Phantom Paris nach
Troja geleitete. Diesen unerwarteten Wechsel der Auffassung
glaubten sich die Alten nicht anders als durch die Annahme
1) Aristot. rhet. 2, 20.
2) Ein|guter Kern (Holm Geschichte Siciliens 1, 155) findet sich darin nicht.
3) Kleine p. 26 ff. PoUux 9, 100 und Eust. p. 1289, 59. 1397, 38 ver-
ßetzen das Grab falschlich nach Himera.
4) rxYjot)(opo(: bedeutet daher im Würfelspiel acht.
5) In Verr. 2, 35, 87.
6) Visconti icon. gr. 3, 7; Ztsch. f. Numism. IX. T. 4, 10. Christodor
V. 125 ff. beschreibt eine andere Statue.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 20
306 lö- Kapitel,
erklären zu können, die beleidigte Helena habe ihn mit Blind-
heit gestraft und ihm erst nach jener berühmten „Palinodie"
die Sehkraft wieder zurückgegeben. ^)
Die Gedichte bildeten nach Suidas sechsundzwanzig Bücher;
denn jede Dichtung — wir kennen deren vierzehn mit Namen
— füllte mindestens ein Buch. Ich sage mindestens, weil von
der Oresteia ein zweites Buch citiert wird. '^) Schon aus dieser
Länge der Gedichte ersieht man, dass Stesichoros eine indivi-
duelle Dichtungsart pflegte^); es war die epische Lyrik,
also gleichsam das griechische Surrogat der germanischen
Ballade. ^) Stesichoros bemühte sich , Homer möglichst getreu
nachzuahmen^), wodurch er den Namen '0[xyjpixcÖTaToc ®) ver-
diente. Aber die Objektivität des Epos war dem Lyriker, wie
billig, fremd ; an ihre Stelle trat das subjektive Mitempfinden,
an Stelle der einfachen Erzählung die Betonung der psycho-
logischen Grundlagen. Die Leidenschaften, für welche das Epos
keinen Raum hat, erfahren bei Stesichoros die sorgfältigste
Beachtung; ich denke vor allem an die Liebesleidenschaft. ')
Tritt schon in den Titeln der Gedichte überhaupt das weib-
liche Geschlecht bedeutend hervor, da unter zwölf vier Frauen-
namen (Europeia, Eriphyla, Helena und Skylla) sind, so finden
wir bereits zwei von den grossen Sagenkreisen unabhängige
Liebesgeschichten, Kalyka und Rhadina benannt. Der Dichter
schöpfte sie aus den Erzählungen des Volkes, wie er die Ge-
schichte des schönen Daphnis^) in seiner Heimatstadt kennen
gelernt hatte. Mit der epischen Objektivität hat er aber auch
1) J. Geel Rheiu. Mus. 6, 1 flf. Bergk III* 214 f.
2) Bekker Anecd. II 783, 14.
3) Ein Paiau bei Athen. 6, 250 b beruht auf schlechter Lesart (statt xöv
4>poviyou xal i^T7)3i)(^öpou ist tt xcüv <l>p. xal Xx. zu schreiben). Ueber einen
Hymnus an Athene s. Bergk zu Lamprokles fr. 1. Elegien sind blos in den
Briefen (19 ff.) erdichtet. Von Hymnen spricht auch Clem. ström. 1, 133 S.
366 P. Anletische Nonicu erwähnt Plutarch mus. 7.
4) Welcker Nachtrag zur Trilogie S. 245 und kleine Schriften 1, 176
drückte sich nicht glücklich aus, wenn er von lyrischen Tragödien sprach;
vgl. G. Hermann opusc. 7, 211 ff.
6) Dion Chrys. or. 2 § 33. 65 § 7.
6) l'H. Longin. 13, 3. Antipatros von Sidon dichtete, Homers Seele habe
in seinem Körper gewohnt (Anthol. Pal. 7, 75).
7) Rohde der griech. Roman S. 27.
8) Ael. V. h. 10, 18, s. Welcker a. O. S. 188 ff.
I
Die eigentliche Lyrik (Meiik). 307
•die Unbefangenheit, mit welcher die alten Epiker an die Sagen
herangetreten waren, verloren. Diese bildeten die Ueberlieferung
von poetischen Gesichtspunkten um, unser Sänger aber ver-
ändert sie nach seinem persönlichen Gefühle, indem er mit
falscher Reflexion die Rauheit der älteren Sage nach seinen
Begriffen von Konvenienz tilgt. Darum stirbt Astyanax natür-
lichen Todes und darum besteht Helenas Vergehen nur in
ihrer Flucht nach Ägypten. ^) Man kann nicht behaupten, dass
die Sagen unter seiner Hand gewonnen haben. Die Absicht-
lichkeit tritt zu sehr hervor und schwächt die dichterische
Wirkung, zumal da Stesichoros zuweilen in einen unpoetischen
kahlen Rationalismus verfällt; z. B. erzählt er (Fr. 68), die
Hunde des Aktaion hätten ihren Herrn, weil er ein Hirschfell
um die Schultern trug , angegriffen. ^) Infolge dieses Ratio-
nalismus fehlt das warme religiöse Gefühl^), ohne das die
Mythen nur bunte Schaustücke bleiben. Stesichoros ist in seiner
Zeit ein Rätsel; in der Vorliebe für das Liebesleid steht ihm
Mimnermos zur Seite, aber jene innere Nüchternheit bei prunk-
voller Oberfläche kommt vor Alexander sonst noch nirgends
vor. Stesichoros ist ein vollständiger Alexandriner. Nicht klarer
ist der Zusammenhang seiner Poesien mit dem äusseren Leben
seiner Zeitgenossen. Bei welcher Gelegenheit sie vorgetragen
wurden, lässt sich nicht sagen. Ich glaube, dass sich Stesichoros
um die äusseren Bedingungen nicht kümmerte; die Fragmente
enthalten nichts individuelles noch auch eine Spur moralisierende
Exemplifikation, wie sie Pindar übt.
Stesichoros eröffnete die Reihe der lyrischen Virtuosen.
Leider können wir seine Dichtungsart nicht mehr analysieren,
sondern es müssen uns die Urteile der Alten genügen. Diony-
sios*) sagt: Xs'yw Ss tf^c jjLSYaXoTrpsTretaf: xwv xard rac, fiTroO-sasi?
jcpaYjiaTWV, £V oIq tä tj^t] xal ta a^iwjiata twv zpoawjrwv T£T7jprjxsv.
Genauer drückt sich Quintilian^) aus: Stesichorum quam sit
1) Welcker S. 164 f.; Robert Bild und Lied S. 23 ff.
2) Der Künstler, welcher in einer Metope des jüngsten Tempels von
Selinnnt (Beundorf T. 9) den Vorgang in ähnlicher Weise darstellt, braucht
nicht Stesichoros zu folgen; die Verwandlung war künstlerisch nur anzudeuten.
3) Welcker griech. Götterlehre 2, 85.
4) Script, vet. cens. 2, 7.
5) 10, 1, 62.
20*
308 10- Kapitel.
iugenio validus, materiae quoque ostendunt, maxima bella et
clarissiraos canentem duces et epici carminis onera lyra susti-
nentem. Reddit enim personis in agendo simul loquendoque
debitani dignitatem ac, si tenuisset modum, videtur aemulari
proximus Homerum potuisse, sed redundat atque effunditur,
quod, ut est reprehendendum, ita copiae vitium est; zugleich
nennt er aber Pindar „novem lyricorum longe princeps". *) Da
wenige wörtliche Fragmente vorliegen, können wir diesen Vor-
wurf nicht mehr im einzelnen begründen ; es scheint aber, dass
Stesichoros aus übertriebenem Nachahmungseifer die epischen
Beiwörter und Pleonasmen, obgleich der Lyrik eine knappere
Form zukommt, im Ueberflusse anwendete. ^) Fragment Nr. 8
liefert davon ein sprechendes Beispiel: 'AsXioc S' TTrepioviSaq
Se;ra? laxatsßatvev )(p6aeov , ötppa St' 'Qxeavoio Trepdoa? atpixot^
Upä? 7C0U ßsv^ea voxtö? Ipe^iväc jtotI [xatspa xoDptSiav z ä'koyQV
;ratSdc: ts ^iXoo? • 6 S' ic aXooc sßa Sd'^vaiai xataoxtov Tzooal t:6ü<z Atöc.
Etwas deutlicher erkennt man, wie bahnbrechend Stesichoros
auf dem Gebiete der Lyrik gewirkt hat. Er erfand das Prinzip
der dreifachen Strophengliederung (Strophe, Antistrophe und
Epodos) oder führte es wenigstens, vielleicht aus dem sike-
liotischen Volksgesange , in die Kunstlyrik ein, ^) Ferner ver-
wertete er den vorhandenen Reichtum von verschiedenen Vers-
massen, den er seinerseits vermehrte, insofern ausgiebiger als
er lange Strophen aus mannigfaltigen Versen mit kunstreichem
Wechsel bildete und so Pindar deu'Weg ebnete.*) Die Sieges-
gesänge dieses Dichters dürften das deutlichste Bild von dem
metrischrhythmischen Baue der stesichorischen Gedichte abgeben.
Nur verschmäht Pindar in der musikalischen Komposition die
Weisen der äolischen Lyrik nicht, weshalb seine Sprache zumal
in einigen Dichtungen von Äolismen durchzogen ist. Stesichoros
steht dagegen der lesbischen Schule fremd gegenüber und
1) Beide verbindet Dion or. II § 28. 33 als Repräsentanten der ernsten
Cbordichtnng. Auf die Lieblichkeit der stesichorischen Dichtung deutet blos
die Sage , eine Nachtigall habe sich auf die Lippen des Knaben gesetzt und
«in Lied angestimmt (Christod. 128 f.).
2) Vgl. Hemiog. id. 2, 4 11 p. 364, 14 Sp.
3) Daher sagte das Sprichwort: ObU xa xpia StTjotxöpou '(<.-cA»ov.e'.<:.
4) Dion. Hai. comp. verb. 19 p. 262 Seh. : ot U :tepl StYjoi/opov xal
llivoapov {iJtCoo; £pY*''«'F^«voi Ta; :ispt65ou? dq izoKKu fiEtpa xal xw>.a
oi£V£i}iav «üTÖc; oox äX/.oo tivöc ^ tyjc jxsxaßo/v-rjc eptuTi,
Die eigentliche Lyrik (Melik). 309
sendet daher seiner Kunstrichtung gemäss den Dialekt des
Epos, jedoch mit Dorismen versetzt, an. Ausser dem langen
A findet man jedoch einige Idiotismen, wie YjTrioSwpco Fr. 26, 2
oder xoraoÖTf] Fr. 92 oder gar die siciüsche Form zizo'^ycit. Fr. 89.
Der himeräische Sänger unterscheidet sich ferner von Pindar
durch diegrössere Leichtigkeit und Einheitlichkeit seinerRhythmen,
in denen die daktylischen und anapästischen Systeme die erste
Rolle spielten^) und auch der Stil ist nicht so hoch geschraubt,
sondern gehört nach dem Urteile der Alten zur Mittelgattung. ^)
Dank diesen Eigenschaften genoss er in Athen eine grössere
Popularität als sein schwer verständlicher Nachfolger ; man sang
deshalb Stücke seiner Gedichte beim Mahle ^) und erfasste
etwaige Parodien sofort. ■*) Auch auf die Kunst mag Stesichoros
gewirkt haben ^), obgleich sich die Frage erhebt, ob der Einfluss
wirklich direkt gewesen sei. ^) Nach dem oben Gesagten können
wir uns nicht verwundern, wenn die alexandrinischen Dichter,
deren Vorläufer Stesichoros recht eigentlich war, sich enge an
ihn anschlössen, und vor allem seine erotischen Erzählungen
benützten.'') Sonst beachteten die Mythographen seine Ge-
■dichte, in denen sie viele eigentümliche Varianten fanden;
daher war auf der Tabula Iliaca die Zerstörung Trojas nach
«einen Angaben dargestellt. Ihre Popularität hatten aber damals
die stesichorischen Chorgesänge schon längst verloren^); sonst
1) Nicht selten sind die Daktylen mit Trochäen (fr, 29, 1. 42, 1. 50, 1. 2),
^ie Anapäste mit Jamben (17?. 26, 4. 35, 2. 37, 2. 44, 1. 49. 51) gemischt.
Blosse Trochäen (26, 3, vielleicht auch 14, 1. 32, 2) und Jamben (52) kommen
blos vereinzelt vor. Für Choriamben und Kretiker gibt es kein sicheres
Beispiel (unsicher fr. 8, 6. 36. 42). „Rhadina" ist wahrscheinlich in Jonici
a maiore gedichtet, deren weicher Rhythmus mit dem erotischen Stoffe ausge-
zeichnet harmonieren würde.
2) Dion. Hai. comp. verb. 24 p. 372 Seh.
3) Eupolis fr. ine. 9. Schol. Arist. Nub. 97. 180. 1358. Vesp. 1217-
Hesych. v. xptä? STY]0'.)^6pot); vgl. auch Amm. 28, 4, 15.
4) Aristoph. Pax 775.
5) Robert Bild und Lied S. 170.
6) Ueber seinen Einfluss auf die Tragiker Welcker griech. Tragödien
S. 528 f. 1015.
7) Rohde der griechische Roman S. 98 A. 2.
8) Lys. Hadsikonstas Iliupersis nach Stesichoros, Lpg. 1876.
9) Ael. hist. au. 17, 37 ex. gibt ihm das kühle Prädikat „ehrenwert"
(o£(xv6<;).
310 10. Kapitel.
hätten wir an wörtlichen Citaten mehr als blos fünfundzwanzig..
Die Gelehrten beachteten Stesichoros so gut wie gar nicht;
nur Chamaileon *) schrieb über ihn und Tryphon berücksichtigte
ihn in seinem Werke über die Mischung der Dialekte.
Die Fragmente sind abgesondert von O. Fr. Kleine (Stesi-
chori Himeraei fragmenta, Berlin 1828) herausgegeben und
stehen bei Bergk IIP 205—34.
In musikalischer und metrischer Hinsicht war der Dichter
für die Folgezeit sehr bedeutend, aber auch seine allgemeine
Anschauung über die Lyrik wirkte nach ; denn er bewog aucli
die folgenden chorischen Dichter, der mythischen Erzählung einen
bedeutenden Raum, wenn auch vielleicht nicht einen eben so
grossen, als er ihr zuteilte, zuzugestehen. Doch schlössen sich
in diesem Umfange nur wenige an ihn an. Megakleides '■^) be-
richtete von einem älteren Lyriker Xanthos, dessen Gedichte-
Stesichoros angeblich stark benützte; so soll er einen grossen
Teil der Orestie aus ihm herübergenommen haben. Wahr-
scheinlich hängt diese Angabe mit der leichtfertigen Fälschung
einer lyrischen Inkunabel zusammen, aber Xanthos lebte jeden-
falls vor Stesichoros, der ihn erwähnte.
Bei anderen Andeutungen wissen wir nicht, ob sie sich direkt
auf Stesichoros beziehen, z. B. wenn Xenophanes^) dagegen
polemisiert, dass man bei den Gastmählern von Titanen,
Giganten und Kentauren singe. Auf einer attischen Vase *}
sehen wir dem Lehrer in das Buch geschrieben : Mwad |xot a^t'^l
Sxa[i,av5pov loppwv apxo{xat aeiSstv, was nach Stoff, Versmass und
Dialekt für Stesichoros passen würde. Eine schwarztigurige
Vase bietet den Titel IlaTpdxXta ^), womit wohl ein lyrisches
Gedicht in der Art des Stesichoros, welches der Maler benutzte^
gemeint ist. Am nächsten steht ihm unter den bekarmteren
Dichtern Ibykos, weshalb diesem manche die ,, Leichenspiele
des Pelias"^) zuschrieben; indes führte bereits Simonides da»
Gedicht unter dem Namen des Stesichoros an.
1) Athen. 14, 620 c.
2) Athen. 12, 613 a; vgl. Ael. v. h. 4, 26.
.3) Fr. 1, 21 ff. B.
4) Archäologische Zeitung 1873 T. 1.
5) Bergk Ztach. f. Alterthumswiss. 1860 S. 407 f., abgebildet Gerhard
auserlesene Vasenbilder 227, vgl. Jahn Katalog der Münchner Vasen-
sammlung 380.
6) Athen. 4, 172d.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 311
Ibykos von Rhegion^), ein Sohn des Phytios ^), verliess
seine Vaterstadt, obgleich er dort sehr angesehen war^), und
führte ein unstetes Wanderleben. Eine Zeit lang zog er in
Sicilien umher, wobei er auf einer Fahrt von Katana nach
Himera vorn Wagen herabstürzte und eine Hand brach; zum
Andenken weihte er seine Lyra dem Apollo. Am längsten
hielt sich jedoch Ibykos an dem Hofe von Samos auf, wo ihm
Aiakes und dessen Sohn Polykrates ein ehrenvolles Asyl ge-
währten. Dies ist der einzige feste Punkt seines Lebens, nach
dem die Chronographen sein Zeitalter bestimmten.^) Aiakes
bestieg angeblich mit Kroisos gleichzeitig den Thron, also Ol.
55, 1 (560) ^), Polykrates aber herrschte von ungefähr Ol. 62, 1 ^)
—64, 3 (532—522). Die Mitte dieser Zeit nimmt Kyrillos,
wenn er die Blüte des Ibykos in Ol. 59 setzt. Der Dichter
verliess wahrscheinlich erst nach Polykrates' Tode Ibj^kos und
zog wieder bis zu seinem Tode umher. Die Grieclien erzählten
über diesen die bekannte Geschichte von den Kranichen des
Ibykos^), welche ihnen als sprichwörtliche Redensart dienten,
so oft eine geheime That durch einen unerwarteten Zufall an
das Tageshcht kam. ^) Diese Geschichte erwähnte zuerst etwa
hundert Jahre vor Christus der Epigrammatiker Antipatros von
Sidon.^) Welcker erkannte richtig, dass die Sage zu den zahl-
reichen lehrhaften Anekdoten, welche die sichere Strafe des
Frevels vor Augen führen sollten, gehört.^") Ibykos steht als
fahrender Sänger wie Arion noch halb im Dämmerlichte der
Sage. Beiden rauben neidische Menschen ihre Schätze, aber
sie gereichen ihnen zum Fluche. Was die näheren Umstände
1) Welcker kleine Schriften 1, 220 fif.
2) Suidas nennt ausserdem die von den Komikern erfundenen Namen
Polyzelos und Kerdas.
3) Diogenian erklärt das Sprichwort ävoTjtöxEpo': 'Ißüxoo durch die Er-
zählung, dass Ibykos in seiner Heimat Tyrann hätte werden können und sie
trotzdem verliess.
4) Da üb Jahrbb. 121, 247 ff.
5) Suidas sagt nach abweichender Angabe Ol. 54.
6) Hieronymus gibt bei Ibykos Ol. 61, 2 (60, 3 A) an.
7) Welcker kleine Schriften 1, 100 ff.
8) Diogenian 1, 35. Zenob. 1, 37.
9) Anthol. Pal. 7, 745.
10) Vgl. Grimm Märchen, 2, 29; P,oners Edelstein Fabel 61 u. a.
312 ^^* Kapitel.
anlangt, so greift hier die etymologische Mythenbilduug ehi;
die l'ßoxsq übernehmen die Rache an den Mördern ihres Namens-
vetters. ^) .
Da die Dichtungen des Ibykos blos sieben Bücher füllten,
köimen sie im einzelnen nicht so umfangreich wie die des
Stesichoros gewesen sein, sondern mögen eher den pindarischen
Gesängen geglichen haben. Aber er stand Stesichoros in der
VorHebe für Mythen, in dem grossartigen Strophenbau und der
Auswahl der Metren nahe. Andererseits entfernte er sich von
dem himeräischen Dichter durch den lebhaften ja glühenden
Ausdruck seiner subjektiven Gefühle, der ihn dem Alkman,
noch mehr aber den lesbischen Sängern näher brachte, während
Stesichoros das erotische Element in die Vergangenheit ver-
wiesen hatte. Ibykos galt als der erste und leidenschaftlichste
Sänger der Knabenliebe ^) ; durch solche erregte er zumal in
seiner Vaterstadt nicht den mindesten Anstoss , da die Chal-
kidier wie die Kreter diese Sitte anerkannten. ^) Weil nun aber
aus der strophischen Gliederung unabweislich erhellt, dass die
Gedichte des Ibykos von Chöi'en vorgetragen wurden, so fragt
man bilUg, wie dies mit jenem zu vereinigen sei und welche
Absicht den Dichter bei der Abfassung geleitet habe. Nach
Welckers geistreicher Hypothese bezogen sich seine Chorgesänge
auf Jünglinge oder Knaben, welche in den Schönheitswett-
kämpfen der Aolier gesiegt hätten. Doch ist dagegen einzu-
wenden, dass solche nur au sehr wenigen Orten und gerade
nicht in Samos stattfanden, während ja Ibykos weit in der
Welt umlierkam. Wie es scheint, erwählte er sich vielmehr
als SpeziaHtät Knaben und Jünglinge, welche in irgend welchen
Spielen den Preis davon getragen hatten, zu besingen, wie es
auch Pindar nicht selten that. Ibykos pries dabei offenbar
ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit in einer Weise, welche
die Späteren zum schlimmen deuteten; und doch entsprangen
diese leidenschaftlichen Ergüsse wie bei Sappho seinem leb-
haften leicht entzündlichem Naturell. Von Eros zu reden, war
Ibykos in gleicher Weise wie dem Alkman verstattet. Daneben
1) Das Epigramm auf da.«* Grab zu Khegion braucht, da häufig Keno-
taphien vorkommen, der Sage nicht zu widersprechen.
2) Aristoph, The.sm. IUI. Epigr. iuc. 519. Cic. Tuso. 4, 33. Said.
3) Carm. i)op. 44.
Die eigeutliche Lyrik (Melikj. 313
vernachlässigte er auch das, was sonst an jenen zu preisen
war, keineswegs; hieher beziehen wir die Angabe^), er habe
gleich Simonides und Stesichoros die edle Abstammung über
iiUes gepriesen. Ibykos verherrlichte also zugleich die Abkunft
und die Schönheit der jugendlichen Sieger^), wobei er nach
<iem Vorgange des Stesichoros, jedoch mehr in der massvollen
Art Pindars mythologische Parallelen hereinzog. Er sprach
daher z. B. gerne von Ganyraedes und Tithonos. ^) Der Stil des
-ersten Fragmentes, das ein Frühhngslied vorstellen könnte,
■erinnert an die wortreiche Art des Stesichoros.
Die literarische Doppelstellung des Ibykos gibt sich auch
in seinem Dialekte*) kund; dem Kerne nach gleicht dieser
allerdings der Sprache des Stesichoros, von welcher die epische
Grundlage samrat dem dorischen A^) herrührte. Dazu kommen
aber infolge der Berührung mit der lesbischen Poesie mehrere
Äolismen, z. B. daXsxJ-otaiv Fr. 1, 6 und ^soi? Fr. 24. Ausser-
dem tritt das Italiotische bei Ibykos sehr stark hervor. Er
teilt nicht blos mit Stesichoros einige Idiotismen^), sondern er
bietet ausser eigentümlichen Bildungen wie Atßoa'f tY*v>]C Fr. 57
das bekannte Schema Ibyceum^); Ibykos gibt nämlich — ich
denke, nach rheginischer Sitte — der dritten Person des Sin-
gulars der Verba auf sw im Präsens die Endung rpi statt st.
Man kann nicht gerade sagen, dass Ibykos' Gedichte von
den Späteren wenig gelesen wurden, aber sie gehörten stets zu
den Werken zweiten oder dritten Ranges; denn die Alten sind
bei ihm mit dem Lobe ungewöhnlich zurückhaltend. Die
fieissigsten Leser fanden sich natürlich unter den Lexikographen
und Grammatikern : infolge dessen sind aber die meisten Frag-
mente so wenig umfangreich, dass die kärglichen Splitter kein
1) Ps. Plut. de nobil. 2.
2) Darauf zielt Pindar im Eingange der zweiten isthraischen Ode : Ot
UEV näXa: cpcüTS? (ti\i'fa. TCa'.osiou? eto^euov lAsXiyäpoac oiavou-;, ooxci;
scuv xaXöc eI/^ev 'AcppoiSita^ EüO-povou (jLvaaxsipav dSiatav oizötpav.
3) Schol. Apoll. Rhod. 3, 158.
4) W. Schaumberg quaestt. de dialecto Simonidis Cei Bacchylidia
Ibyci, Celle 1878.
5) Ausserdem v.v 2, 3.
6) "AtEpTcvo«; Fr. 52, ßpuaXixxa'. Fr. 53 und X'ip[J.T| Fr. 63.
7) Die Grammatikerzeugnisse stehen in Schueidewins Ausgabe p. 66 fl".
mit gesunder Kritik beurteilt von Bergk III * 240.
314 10- Kapitel.
Bild der dichterischen Individualität zu entwerfen gestatten.
Vielleicht verdankte schon im Altertum Ibykos den grössten
Teil der ihm geschenkten Aufmerksamkeit jener Fabel von den.
Kranichen; ohne Zweifel ist jetzt sein Name durch sie un-
sterblich geworden.
Es ist bekannt, dass Schneidewins Erstlingsschrift em&
Ausgabe der Fragmente des Ibykos war^), die ihm von Seiten
G. Hermanns scharfen Tadel zuzog. ^) Im Hinbhck auf den,
Text ist sie längst antiquiert und durch Bergks Sammlung
(IIP 235—52) ersetzt.
Aus dem chalkidischen Rhegion gelangte der Chorgesang
wahrscheinlich wieder nach dem euböi.schen Chalkis zurück.
Hier verfasste nämlich Tynnichos einen in Athen ausser-
ordentlich populären Päan, den Äschylus mit einem Ehrfurcht
einflössenden Schnitzbilde verglich. ^)
Die bisher besprochene chorische Lyrik wurzelte in dem
rehgiösen Leben des griechischen Volkes und war auf nationalem
Boden entsprungen. Lesbos und Kreta waren die Ausgangs-
punkte des künstlerischen Chorgesanges, der sich zunächst nach
Sparta verbreitete, um dann mit den Kolonistenschaaren über
das jonische Meer nach Italien und Sicilien zu wandern. Hier
schwang sich die Lyrik rasch zu solcher Höhe auf, dass die
Schüler die Meister überflügelten und in das Mutterland gerufen
wurden.
Im Osten war aber während dessen schon wieder eine neue
Dichtungsart aufgetreten . Es war der phrygische Dithyrambos.*)
Der Gottesdienst der phrygisch-thrakischen Stämme liebte die
stürmische V^erehrung der (Tottheit, wobei die Andacht nach
Art der heutigen Heilsarmee durch möglichst grossen Lärm
sich kund that; die musikalische Begleitung stand nicht zurück
und auch der Hymnus hatte einen ungewöhnlich erregten
Klang. Diese Liedweise begleitete den Dionysoskult nach
1) Ibyci carminum reliqniae, Göttingen 1833.
2) Jahns .Tahrbb. 1833 II S. 371 ff.
8) Porph. abstin. 2, 18. Plat. Ion p. 684.
4) G. M. Schmidt diatribe in dithyrambum poetarumqne dithyrambi-
conim reliqaias, Berlin 1846; Härtung Philol. 1, 397 ff. und Lyriker 4, 196 ff.
6, 251 ff. Demosthenes Thrax schrieb nach Suidas ntp\ StO-uprxfi.ßo7rouüv. Die
Etymologie des Wortes ist im Eranischen, nicht im Griechischen zn suchen.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 315-
Griechenland ; sie kam, wie die phrygische oder hypoplirygische
Tonart der Musik ^) und der Name des Tanzes ^) verrieten, aus
Phrygien und fand in den Dionysosstädten Naxos und Theben ^)
auf dem Uebergange wichtige Stationen.
Der DithjTambos, dessen Archilochos (Fr. 36) zuerst Er-
wähnung that, gehörte solange zum Volksgesange , bis Arion
von Methymna, also wiederum ein asiatischer Grieche auf-
trat, um ihm seinen Platz in der Literatur anzuweisen. Er
lebte längere Zeit am Hofe des korinthischen Tyrannen Peri-
andros (629 — 585)*), weshalb Pindar^) von Korinth rühmt,
dass dort der Dithyrambos erfunden worden sei. An diese
sichere historische Thatsache knüpft die Angabe des Suidas
an. ^) Wenn nach Eusebios dagegen Arion um Ol. 40, 4
(lateinisch)''), 41, 4 (Synkellos) oder 42, 3 (armenisch) lebte, so
ging seine Quelle von der durch Suidas bekannten Annahme
aus, Arion sei ein Schüler des Alkman gewesen; Arion wurde
nämlich nach beliebter Manier geboren gedacht, als der letz-
tere in seiner Blütezeit stand. (Jeher sein Leben kennen wir
keine Nachricht als die berühmte Erzählung^): Dass Arion auf
seinen Fahrten von Schiffern, die nach seinen erworbenen
Schätzen begehrten , in das Meer geworfen , aber durch einen
Delphin gerettet worden sei, versichert bereits Herodot'') und
unzählige sagten es ihm nach, ja einer erdichtete selbst einen
Dankhymnus an Poseidon, den er trotz des attischen Dialektes
Arion in den Mund legte. ^®) Welcker will diesen nicht wörtlich ver-
1) Aristot. pol. 8, 7, 9. Proklos p. 245, 22 f.; Simonides spricht Fr. 72, 7
von dorischer Tonart.
2) Topßaaia Pollux 4, 104.
3) Find, bei Schol. Find. Ol. 13, 25.
4) Herod. 1, 23.
5) Ol. 13, 25.
6) Ol. 38 (so lesen die meisten Handschriften) ist die äx|JL-r] des Periandros
nach ApoUodor (Di eis Rhein. Mus. 31, 19, vgl. Roh de Rhein. Mus. 33^
201 A.).
. 7) 40, 3 AF, 41, 1 P.
8) Lehr 8 populäre Aufsätze S. 202 fi' ; Welcker kleine Schriften
1, 89 ff. Klemens von Alexandrien fcoh. ad gentes 1) hielt wegen dieser Sage
Arion selbst für eine mythische Person. Den Vorgang stellen Münzen von
Methymna dar (Bürchner Ztsch. f. Numism. 9, 6).
9) 1, 23.
10) Bergk III* 79—81 aus Ael. bist. an. 12, 45.
^16 10. Kapitel.
stehen, was der Schluss auf keine Weise erlaubt: ,,Als mich
listige Männer von dem meerbefahrenden bauchigen Schiffe in
den Schwall der Purpurflut schleuderten." Böckh ^) schrieb
das Gedichtchen einem Nomendichter zu, der es in grösserem
Zusammenhange Arion habe sprechen lassen. Auch Bergk ver-
mutet, dass der Hymnus in einem Nomos oder Dithyrambus
gestanden sei, denkt aber an die jüngere attische Zeit. Lehrs ^)
hat gewiss recht, wenn er Allan selbst von dem Verdachte
der Fälschung freispricht. Es liegt hier wie bei Ibykos
nichts weiter als eine moralische Erzählung vor und das an-
gebliche Weihgeschenk auf dem Kap Tainaron stellte, wenn
anders es alt war, den Gott Taras dar;^) es wäre höchstens
möglich, dass es ein tarentinischer Seefahrer Arion^) aufstellte.
Oder sollen wir lieber die Sage von Palaimon, der auf dem
Kücken eines Delphins schlafend nach Korinth gelangte, her-
beiziehen?
Von der dichterischen Thätigkeit des Arion gibt kein ein-
ziges Fragment Kunde. Wir wissen nur, dass er dem Dithy-
rambos äusserlich und innerlich eine bestimmte Form verlieh.
Arion setzte vor allem den ■/.(ivXioc. X°P^^'') von fünfzig mit
Bocksfellen bekleideten Männern ein ,^) der seinen Namen
wahrscheinlich von der kreisrunden Aufstellung trug. Der Ge-
sang bezog sich natürlich anfangs immer auf die Schicksale
des Dionysos. Die musikalische Komposition regelte Arion
ohne Zweifel gleichfalls , wiewohl nur soviel mitgeteilt wird,
dass die älteren Dithyramben in Strophen zerfielen.'') Es gab
eine Strophe und Antistrophe, bevor Melanippides diesen Wechsel
aufhob.^) Arion selbst war, wie Herodot berichtet, ein vorzüg-
licher Kitharöde, aber er Hess diese Kunst dem Dithyrambus
1) Abb. der Berliner Akademie 1836 S. 74.
2) a. O. 8. 204.
3) O. Müller Gesch. der gr. L. I» 343 A. 74.) Dieser hält auf Män-
zen von Brundisium (Mionnet descr. des med. I 37) in der Linken eine Lyra.
4) Der Name war nicht selten.
6) Schol. Find. Ol. 13, 25, vgl. Schol. Arist. Av. 1403. Deshalb nannte
man seinen Vater Kykleus (Epigramm bei Ael. bist. an. 12, 46 und Suidas).
6) Daher entstand der Name der Tragödie. Die Mitglieder hie.ssen nach
Suidiis Satyrn.
7) Ph. Arist. probl. 19, 16, vgL Dion. Hai. comp. verb. 19.
8) Arist. rhet. 3, 9.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 317
ZU Gute kommen. Proklos schöpft aus schlechten Quellen,^)'
wenn er angibt, Arion scheine den Nomos nicht wenig geför-
dert zu haben , wie auch nur der Lügner Lobon^) angibt, er
kenne von ihm gegen zweitausend Hexameter 7rpooi{jLta, d. h.
kitharödische Vorspiele.
Mit dem nächsten Dithyrambiker Lasos beginnt bereits
der attische Dithyrambus von anderem Charakter, den wir dem-
gemäss der nächsten Periode zuweisen.
Wenn auch die chorischen Dichter in einem uns auffallen-
den Masse dem ganzen Chore, der doch gleichsam die Bürger-
schaft vertrat, ihre subjektiven Gefühle in den Mund zu legen
sich erlaubten, so versteht es sich dabei doch von selbst, dass
diese Subjektivität von dem, was die neuere Zeit mit diesem
Begriffe verbindet, weit entfernt ist. Was für diese im eigent-
lichen Sinne Lyrik ist, hiess bei den Griechen Melos. Sie ver-
standen darunter zunächst kleine Lieder, welche ein einzeln er^^)>
zum Klange eines Saiteninstrumentes vortrug. Nicht mehr als
vier Verse, die obendrein im Vergleiche mit denen der Chor-
lieder gewöhnlich kurz waren , durften eine Strophe bilden*)
und die Strophen (oft auch die Verse xata qx'v/ov) kehrten ohne
Abwechslung regelmässig wieder. Die Verse selbst waren we-
niger künstlich und gravitätisch gebaut; während vierzeitige
Längen so gut wie ganz fehlten, war der Grundcharakter der
Metren logaödisch. Der Inhalt ist der ewig gleich bleibende:
Liebe, Freundschaft, Hass und Wein. Deshalb mögen die
modernen Lyriker sich glücklich schätzen, dass die Leistungen
der Griechen das Altertum nicht überdauert haben. Sonst träte
das unaufhörliche Wiederkehren del- nämlichen Gedanken weit
deutlicher hervor; die Griechen haben ihnen zuerst und wahr-
scheinhch nicht am schlechtesten Ausdruck verliehen. Einen,
bedeutenden Teil ihres Reizes gewannen die alten Meliker, wie
Göthe durch den Anschluss an die Volkspoesie ;^) der gesunde-
1) Walther de poesis melicae gen. p. 46 ff.
2) Bei Suidas vgl. Hill er Rhein. Mus. 33, 522.
3) Ich will damit natürlich nicht sagen, dass den nielischen Dichtern
Chorgesänge gänzlich fremd gewesen seien; so verfasste Sappho Epithalamien
für "Wechselchöre.
4) Alkaios und Sappho lassen wie Pindar nicht immer einen Satzabschnitt
mit dem Ende der Strophe zusammenfallen. Nach Hephaistion p. 60 verband
Sappho nur immer zwei Veise zu einer Strophe.
5) Welcker kleine Schriften 1, 118 ff.
318 10. Kapitel.
■Sinn der Griechen bewahrte sie vor der akademischen Spitz-
findigkeit, welche der Lyrik des Mittelalters eigen war.
Die Sage erzählte, des Orpheus Leier^) sei über das Meer
nach Lesbos geschwommen; darum ströme auf dieser Insel der
-Quell der Lieder in ungewöhnlicher Fülle. In der That brachte
dieses gottbegnadete Eiland nicht nur den Terpander hervor,
es zeugte auch das herrliche Sängerpaar Alkaios und Sappho.
Alkaios^) griff im Verein mit seinen Brüdern energisch
in die politischen Verhältnisse ein, was die Bestimmung seiner
Lebenszeit^) wesentlich erleichtert. Ol. 42 kämpfte er mit den
Mitylenäern gegen die Athener um Sigeion und verlor hier
seinen Schild , welchen die Athener wegen seiner hohen socia-
len Stellung — als Dichter war er schwerlich damals schon
berühmt — zu Hause abgesondert aufstellten.^) Seine beiden
Brüder Kikis und Antimanidas erschlugen ungefähr damals
den Tj^annen Melanchros und er stimmte über den Tod des
Myrsilos ein Jubellied (Fr. 20) an; aber seine Freude war ver-
früht, da das Volk den weisen Pittakos zum Aisymneten erhob
und die Aristokraten in die Verbannung trieb. Hier knüpfen
die meisten chronologischen Angaben an , aber sie differieren
zwischen Ol. 45, 1 (600) und 47, 1 (592).^) Alkaios zog nun
mit seinen Genossen weit umher, indem sie im Solddienste
fremder Herrscher sich Freunde und Geldmittel zur Rückkehr
zu verschaffen suchten; der Dichter kam auf diesen Fahrten
selbst nach Ägypten, wo Psammetich hellenische Miettruppen
um sich sammelte.^) Als aber die Aristokraten nach einigen
Jahren unter der Führung unseres Alkaios und seines Bruders
Antimenidas ihre Pläne ins*Werk setzten,'') unterlagen sie und
1) Phanokles bei Stob. flor. 64, 14 V. 19 ff. Hygin erzählt dagegen (p.
a. 2, 7), die Lesbier besässen das Grab des Orpheus.
2) Plehn Lesbiaca p. 169 ff.; Welcker kleine Schriften 1, 126 ff.;
Th. Kock Alkäus und Sappho, Berlin 1862 S. 8 ff
3) Rohde Rhein. Mus. 33, 215 ff.
4) Fr. 32. Herod. 6, 95. Strabo 13, 600. Suidas v. ilaitcpu) setzt hier
seine «5tx|rf, an. Schöne symb. phil. Bonn. 2, 746 ff. denkt, weil er fi-fove
falsch übersetzt, an einen zweiten viel weniger bekannten Krieg zwischen
Ol. 66 und 67 (560 und 550).
6) Ol. 45, 2 Hieron. Ol., 45, 1 P F, Ol. 46, 2 Euseb. armenisch, Ol. 47, l
Marmor Par.
6) Strabo 1, 37.
7) Arist. pol. 8, 9, 6. Theophr. bei Dion. Hai. aut. Rom. 5, 73.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 319
Hessen Alkaios verwundet in der Gewalt des Pittakos ; dieser
aber schonte , obgleich vom Dichter früher auf die heftigste
Weise angegriffen.^) edelmütig sein Leben, indem er den schö-
nen Ausspruch that: „Verzeihung ist besser als Rache ;"^)
Alkaios scheint fernerhin mit Pittakos versöhnt, auf Lesbos ge-
wohnt und dort sein Leben in Frieden beschlossen zu haben.
Ueber sein Privatleben liegt nur eine wenig verbürgte Nach-
richt vor, dass er nämhch Sappho geliebt habe. Sie stützt sich
darauf, dass Alkaios an Sappho ein Gedicht (Fr. 55) in sapphi-
fichem Versmasse richtete : ,, Veilchenlockige , züchtige, hold-
lächelnde Sappho , ich möchte etwas sagen , aber die Scham
hindert mich,^) worauf Sappho in der nach ihm benannten
Strophe erwiderte (Fr. 28) : ,,Wenn du nach edlem oder schö-
nem begehrtest und deine Zunge nicht etwas schlechtes sagen
möchte (ixDxa), würde auch nicht Scham deine Augen treffen,
sondern du sprächest gerecht darüber." Welcker'^) betrachtete
beide Gedichte als eine Fälschung; aber das Zeugnis des Aristo-
teles^) macht sowohl diese Annahme als auch die Ausflucht,
es habe sich nicht um die beiden gehandelt, ganz unmöglich.
Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, dass Alkaios in der
That irgendeinmal für Sappho Liebe empfand, ohne dass sie
■diese Gefühle erwiderte. Mehrere Kunstwerke , besonders Va-
senbilder, stellen beide einander gegenüberstehend dar.^)
Die Gedichte des Alkaios bildeten später mindestens zehn
Bücher. Die Ueberreste der Hymnen (Fr. 1 — 14, an Apollo,
Hermes, Athene, Hephaistos und wohl noch andere Gottheiten
gerichtet) zeigen keine poetische Individualität ; aber gerade von
ihnen kennen wir zwei vollständige Stücke , wenn auch nur
gleichsam in Silhouetten. Den Hermeshymnus (Fr. 5 — 8) bil-
dete bekanntlich Horaz in der zehnten Ode nach und einen
1) Fr. 37 flf. vgl. Val. Max. 4, 1, 6.
2) Diod. fr. Vatic. 7, 22 Diog. L. 1, 76.
3) Bergk verband mit Zustimmung Welckers (kleine Schriften 1, 111
diese zwei getrennt überlieferten Verse.
4) Kleine Schriften 1,110 ff.
5) rhet. 1, 9.
6) Jahn Abh. der sächs. Ges. der Wiss. 1861 S. 766 ff.; Welckeralte
Denkmäler 2, 225 f.; A. Michaelis Thamyris und Sappho, Lpg. 1865 S.
11 ff.
320 1^- Kapitel.
Paiaii an Apollo \jste der Sophist Himerios^) in seine blühende
Prosa auf. In diesem ist die farbenreiche Schilderung der
Freude, welche bei der Rückkehr des Apollo unter den Vögeln
und Gewässern entsteht , höchst anziehend ; doch bewegt sich
der Dichter hier nicht in seinem eigentlichen Elemente. Die
übrigen Gedichte , in welchen sich das eigentliche Talent des
Poeten kund gab, können wir im Allgemeinen nach der Gele-
genheit, bei welcher sie vorgetragen wurden , sympotisch nen-
nen. Die Alten scheiden zwar politische, eigentlich sympotische
und erotische Lieder, aber scharfe Grenzen kann hier niemand
ziehen. Denn gerade die schärfsten Ausfälle gegen die poHti-
sohen Gegner stehen unzweifelhaft in sympotischen Gedichten;
ich erinnere an das leidenschaftliche Trinklied , das den Tod
des Myrsilos feiert (Fr. 20) und in der berühmten Kleopatraode
des Horaz (carm. .1, 34) nachhallt. Die Angriffe auf Pittakos,
dem die Aristokraten keinen anderen Fehler vorzuwerfen hatten
als dass er ein Plebejer {xaxoTzazpiQ fr. 37a) war, citiert Athe-
naios gleichfalls ausdrücklich aus den Skolien.^) Der Unter
schied besteht also nur in der vorwiegenden Gedankenrichtung,
Die berühmtesten waren die politischen Lieder (aiaa'.wTaa), mi
den sirventes der Provenzalen nach Inhalt und Leidenschaft'!
vergleichbar (Fr. 15 — 31). Leider sind die Fragmente zu dürf-
tig, um ein genügendes Bild der Gattung zu geben. Nur Fr.
15 — 19 stehen in innerem Zusammenhange , indem sie den
Staat mit einem Schiffe, das in den Wogen der Revolution
schwankt, vergleichen. Andere richten sich gegen die Führer
der Volkspartei, Melanchros (Fr. 21), Myrsilos (Fr. 22) und
Pittakos (Fr. 37 ab, vgl. 25). Das lange Fragment Nr. 15,
welches die Waffen kammer im Hause des Alkaios schildert,
deutet am Ende an, dass die Aristokraten bald entschlossen
waren, die Richtigkeit ihrer Ansichten durch das Schwert dar-
zuthun. Einige (Fr. 22—24, 27—31) spielen auf kriegerische
Ereignisse, die wir nicht näher kennen, an; in einer Ode an
Melanippides (Fr. 32) beklagt Alkaios sein bekanntes Miss-
geschick, das ihn, als man um das Strandschloss Sigeion
käm})fte, betraf. Ein Gedicht endlich (Fr. 33) bewillkommnete
1) Or. 14, 10.
2) Wie Julian (Antioch. in.) andeutet, dichtete er diese in der Verb:»n-
DDDg.
i
Die eigentliche Lyrik (Melik). 321
seinen Bruder Antimenidas, der im Dienste der Babylonier
einen feindlichen Riesen erschlagen und dafür reiche Geschenke
empfangen hatte. ^) Die eigentlichen Skolien (Fr. 34 — 54) pre-
digten den heiteren Lebensgenuss in Verbindung mit sentenziö-
ser Weisheit, die man aus Horaz zur Genüge kennt; nur Fr.
48 a. b, in denen Aias erwähnt und Achilleus angeredet wird,
stehen etwas davon ab. Die Freunde, an die Alkaios seine
Gedichte richtet, heissen Bykchis (Fr. 35) und Oikis (Fr. 41).^)
Den Schluss mag die widrigste Seite der alkäischen Dichtung,
die Liebespoesie, machen; denn sie wendet sich in sinnlicher
Art fast blos an Knaben,^) von denen wir den Menon aus Fr.
46 und Lykos aus Fr. 58 und Hör. c. 1, 32, 11 kennen. Be-
rühmt ist, was Cicero"*) erzählt : Naevus in articulo pueri delectat
Alcaeum. Doch richtet sich wie gesagt BV. 55 an Sappho und
im Fr. 62 stellt Bergk vermutungsweise den weiblichen Namen
Krino her. Auch in Fr. 59 u. 63 ist von Mädchen die Rede.
Es bleibt uns wiederum nichts übrig, als aus den Berich-
ten derer, die noch so glücklich waren , Alkaios zu lesen, ein
ungefähres Bild des Dichters zusammenzustellen. Dionys von
Halikarnas^) sagt von ihm kurz: 'AXxatoD Ss axÖTtsi tö [isYaXo-
(posc xal ^poLyb xai rjSu {leta SetvötTjxoc ext Ss zobc, a/'^^aTta[X0D?
jtsxa aa(p-/]vstac, oaov aoTfjS [X'/j z-^ SiaAsxrci)*') zi XExäxwxat xai. it^jb
dcTrävTCrtv tö twv vroXtTixwv Vj^oc, und Quintilian^) sagt ähnlich:
Alcaeus in parte operis aureo plectro merito donatur, qua tyran-
nos insectatus multum etiam moribus confert; in eloquendo
quoque brevis et magnilicus et dicendi vi plerumque oratori
1) K. O, Müller Rhein. Mus. 1827 S. 287 if.
2) Bergk zu Fr. 41 vermutet nicht unwahrscheinlich, dass auch Hippis
dazu gehörte. ,
3) Cic. Tusc. 4 § 71. nat. d. 1 § 79, Hör. c. I, 32, 11. Quintil. 10,
1, 63.
4) Nat. deor. 1, 28, 79.
5) Vet. Script, cens. 2, 8.
6) Ahrens üher die Mischung der Dialekte S. 63 ff. leugnet die Bei-
mischung epischer Formen; aber Alkaios und Sappho lassen das Augment
manchmal weg und verschmähen den Genitiv auf o:o nicht. Bei Alk. 48
steht ausserdem das unäolische ^Ajlkkta (Meister die griechischen Dialekte
1, 16). Allerdings bieten die Handschriften zu viele epische Formen, z. B.
asipe Alk. 41 statt aepps, oopeot Sappho 94 statt oppsai.
7) 10, 1, 6'3.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 21
ä2ä iO- Kapitel.
similis; sed et lusit et in amores descendit, maioribus taineii
aptior. Auf seinen icraftvollen Geist geht das horazische Wort
'sonantera plenius aureo plectro'.^) Die syinpotischen Lieder
waren wie in der Trunkenheit geschrieben;^) aber wiewolil
Alkaios über die Massen streitbar war,^) blieb der Spott immer
in den Grenzen des Erlaubten*) und an Ungebundenheit Arohi-
lochos gleichzukommen hinderte ihn schon sein holier gesell-
schafthcher Kang. Die .Leidenschaft und der Trotz prägten
sich in seinem Porträt auf einer Münze von Mitylene aus.^)
Als sein Hebstes Versraass wandte der lesbische Sänger
die nach ihm benannte Strophe an, welche zugleich männ-
liche Kraft, lyrischen Wechsel der Stimmung und kühnes
Vorwärtsstreben glücklich darstellt und vereinigt.*') Er bildete
sich ausserdem noch grössere Strophen. '') Der äolische Hexa-
meter mit schwacher Basis (fr. 45) passte zu seinem unruhigen
Wesen und die Vorhebe für die Jamben ^) erinnert an die
Jambenpoesie der jonischen Nachbarn. Allen melischeu Dich-
tem ist die Mischung von Trochäen und Daktylen oder Jamben
und Anapästen gemein. Das eigenthch charakteristische beruht^
auf den mannigfaltigen zum Teil aus Choriamben bestehenden
Systemen (40 — 44. 48 — 52. 81 — 86 u. ö.), deren stürmische
rauschende Bewegung die aufgeregten Streit- und Trinklieder
am passendsten kleidet.
Alkaios war zu Athen, namentlich während der perikleischen
Zeit sehr beliebt'-*), obgleich der äolische Dialekt dem allge-
1) Vgl. Ps. Ov. her. 15, 30.
2) Athen. 14, 429 a. 430 a.
3) Athen 14, 627 a. Cic. Tusc. 4, 33. Hör. c. 1, 32, 6.
4) Üebertrieben Porphyrie in Hör. c. 4, 9, 7.
6} Jahn T. 8, ö S. 724; über eine Statue vom Monte Calvo Bull. d.
Inst. 1836 p. 9 flf. Jahn S. 731 A. 86*. Braun Ruinen und Museen Koni.s
S. 548 bezieht auch eine Statue der Villa Borghese auf unseren Dichter.
6) Christ Metrik § 635.
7) Christ a. O, § 638 S. "550,
8) Tetrameter 66, katalektische Pentapodie 9, 3. 13b 2? 18, 3. 7. 19, 3.
An einfachen Versen haben wir sonst blos hexametrische Tetrapodien (47)
und Peutapodien (25), katalektische Tripodien von Anapästen (43, 1) und
jonische Verse (59 — 61).
9) Aristoph. Satt, bei Athen. 16, 694 a.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 323
meinen Verständnisse im Wege stand. ^) Später widmeten ihm
die Gelehrten, schon durch die eigentümliche Sprache angeregt,
ein eifriges Stadium. Der Peripatetiker Dikaiarchos schrieb
über Alkaios. ^) Aristophanes und Aristarch reinigten seinen
Text. ^) Der Lesbier Kallias kommentierte Alkaios so gründlich,
dass er eine Monographie xepi zf^c, sv 'AXxaiti) XsTiäSoc'^) schrieb.
In seinem Vaterlande genoss der Dichter überhaupt hohe
Ehren; viele Münzen von Mitylene schmückte sein Kopf. ^)
Ausserdem bewirkte aber er mit Sappho die lange schriftliche
Anwendung des lesbischen Dialektes, weshalb dieser noch in
der Zeit des Augustus aus dem offiziellen Gebrauche nicht
ganz geschwunden war. ^) Später schrieb Drakon ;tepl twv
'AXxaioü [xsXwv.'^) Unter Theodosius waren die Gedichte noch
erhalten , weil damals Horapollon ^) einen Kommentar ver-
fasste. Auch Gregor von Korinth, der im zwölften oder drei-
zehnten Jahrhundert schrieb , will sie noch gelesen haben ^),
aber man verspürt nichts davon. Der vielbelesene Eustathios
kennt sie nicht mehr.
Nach der Spezialausgabe von Aug. Matthiä (Leipzig 1827)
sind nur Ahrens' (im Anhang seines Buches de dialecto AeoHca)
und Bergks Bearbeitungen (III '^ 147 — 97) zu nennen.
Dem Alkaios ungefähr gleichzeitig und vollkommen eben-
bürtig war Sappho^*') oder — wie sie sich selbst nannte —
1) Did. bei Schol. Arist. The.sm. 169 oh Y"p sirsicoXaCe xa 'AXxaiou 8iä
TTjV OtCtXsV.TOV.
2) Müller frg. bist. II 246 f.
3) Tt^pl TCOivjjx. 10.
4) Athen. 3, 85 f.
5) Z. B. Mionnet descr. des med. III 46, 107. suppl. VI 64, 82 u. ö. ;
Ztsch. f. Numism. IX, T. 4, 2. 3.
6) Meister griech. Dialekte I S. 9 ff.
7) Suid. V. Apäxcuv.
8) Suid s. V.
9) Meister a. O. I S. 5 f.
10) Welcker kleine Schriften 1, 101 if. (Sappho). 2, 80 ff. (Sappho von
einem herrschenden Vorurteile befreit). 4, 68 ff. (über die beiden Oden der
Sappho). 5, 229 ff. (Sappho und Phaon); Mure Rhein. Mus. 12, 564 ff.;
Plehn Lesbiaca p. 176 ff. ; A. Schöne Untersuchungen über das Leben der
Sappho in den Symb. philol. Bonn. 2, 731 ff.; K. Riedel der gegenwärtige
Stand der Sapphofrage, Programm von Waidhofen an der Thaya 1881; Po-
st ioii griechische Dichterinen, Wien 1882 (2. uuveränd. Aufl.); am radikalsten
21*
^24 iö- Kapitel.
Psappha.^) Sie war in Eresos^) geboren, hatte aber später ihren
Wohnsitz zu Mitylene,-'') wo ihre FamiHe eine angesehene Stellung
einnahm.'*) Die Eltern hiessen Skamandron ymos ^) und Kleis.
Ihre Lebenszeit wird immer mit der des Alkaios gleich gesetzt,
denn sie hatte unter dem lesbischen Bürgerkriege gleichfalls zu
leiden. Als die Adelsfamihen fliehen mussteu, begab sie sich
nach Sicilien. *') Es ist nicht unmögüch, dass Sappho im Exil
starb; dann gehört, was wir sonst über ihre Lebensumstände
hören, vor jene Flucht. Die Dichterin versammelte nämlich in
ihrem Hause, das sie deshalb Musenstätte ^) nannte, einen Kreis
lernbegieriger schöner Mädchen, um sie in den musischen
Künsten zu unterrichten. Es war ein ähnhches Verhältnis wie
zwischen Sokrates und seinen Schülern^), nur gesteigert durch
die Leidenschaftlichkeit der Frau und das Temperament des
Inselvöikchens , welches der weiblichen Schönheit eigene Wett-
kärapfe, xaXXtatsia genannt, bereitete. Sie drückte daher die
Liebe zu den Schülerinen und die Bewunderung ihrer Schönheit
so überschwänglich aus, dass manche der Alten später meinten,
sie sei in das unnatürliche Laster einiger Lesbierinen verfallen.
Gerade die Ode , in der sie ihre Gefühle am heissesten aus-
spricht, scheint Sappho am Hochzeitstage einer Schülerin vor-
getragen zu haben. ^) Bei den Alten beruhte eben der edlere
Dom. Coinparetti Saifo e Faone diuauzi alla critica stör, in der Nuova
antologia 1876 Febbrajo.
1) Fr. 1, 20. 59; ^l'aTtfpa» auf einer Münze von Mitylene (Jahn Ber. der
Sachs. Ges. der Wiss. III T. 8, 1) ; Xaiztpu) sagen aber auch Alkaios (Fr. 56)
und ein anonymer Lyriker (Fr. adesp. 62).
2) Suid. Dioskorides Anthol. 7, 407, 4. Darum bilden sie unter Commodus
geprägte Münzen von Eresos ab (Allier de Hauteroche note sur ]a courti-
sane Sappho 1822; Damersau descr. pl. 14, 2; O. Jahn Abh. der sächs.
ües. der Wiss. 1861 T. 8, 5; Ztsch. f. Num. IX T. 4, 7. 9).
3) M. Par. Z. 51, vgl. Herod. 2, 135 u. a.
4) Sapphos Bruder Larichos bekleidete das Ehrenamt eines Mundschenken
im Prytaneion, was sie mit Adelsstolz oft hervorhob (Athen. 14, 424 f. vgl.
Schol. II. Y 234. öchöne p. 742 bezieht Fr. 16. 20. 21. 50. 62. 89. 101 hieher).
6) Herod. 2, 136. Ael. v. h. 12, 19. Schol. Plat. Phaedr. p. 312. Ueber
die anderen Namen, welche Suidas angibt, Schöne S, 733 ß". Woher weiss
Pseudoovid, daus Sappho 6 Jahre alt ihre Eltern verlor? (V. 61 f.).
ö) M. Par. a. O.
7) MouaonoXo«; Fr. 136.
8) Max. Tyr. 24, 8.
9) Welcker Khein Mus. 11, 248.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 325
rnterricht nicht auf staatlichem Zwang oder persönlichen In-
teressen (sei es der Sorge um den Lebensunterhalt oder dem
l>lossen Streben nach Wissen), sondern Lehrer und Schüler
führte gegenseitige herzliche Zuneigung zusammen ; die wie
immer beschaffene Liebe wurzelte aber nur dann wahrhaft fest,
wenn das sinnliche Wohlgefallen an der äusseren Schönheit
hinzutrat. Auch von Frauenemanzipation kann bei Sappho
keine Rede sein, wenn sich auch von selbst versteht, dass die
Frauen von Lesbos viel freier als die Athenerinen lebten. Da
also die Attiker Sapphos Lebensverhältnisse nicht kannten,
erschien sie ihnen in falschem Lichte und die Medisance der
Komiker that das ihrige, um das Andenken der Dichterin dem
Pöbel zu Liebe schmählich zu brandmarken. Dieses Gewebe
von Fabeln entfernte erst Welckors Scharfbhck, doch könnte
er in der Negation zu weit gegangen sein. Auf Lesbos scheint
es eine Fabel von der hoffnungslosen Liebe der Philomela (?)
zu dem schönen Phaon gegeben zu haben, wie sie mit ver-
änderten Namen in verschiedenen Gegenden Griechenlands vor-
kam,^) oder Phaon war blos ein Doppelgänger des Adonis. '"*)
Vielleicht wegen des Namens jener Jungfrau übertrug man
diese Sage auf die lesbische Nachtigall, auf Sappho, deren Ge-
dichte zum Theil Liebesklagen, die sich jedoch auf Mädchen
bezogen, aussprachen. Wie doppelsinnig jene waren, beweist
am deutlichsten die erste vollständig erhaltene Ode, die Aphro-
dites freundliches Hilfeversprechen schildert. Der Wortlaut
lässt hier den Leser vöUig darüber im unklaren , ob Sappho
einen Jünghng oder ein Mädchen im Sinne habe. ^) Den Ent-
scheid gibt eine Stelle des Horaz^): Aeoliis fidibus queren tem
Sappho puellis de popularibus ; aber gerade solche doppeldeutige
Gedichte, wie jenes, gaben dem Gerüchte, das Sappho Liebe
zu einem Manne zuschrieb, Nahrung. Weil Sappho in einer
ähnlichen Ode den Wunsch, sie möchte durch einen Sprung
von dem berühmten leukadischen Felsen herab ^) ihr Liebesleid
1) Schöue a. O. S. 671.
2) O. Müller LG. I ''293.
3) In allen Handschriften lautet der letzte Vers xüjovc eO'eXotoav ; Bergk
vermutet freilich e^eXo'.aa.
4) Carm. 2, 13, 24.
5) Oberhummer die Phönizier in Akarnauien S. 49 ff.
326 10. Ksrpitel.
enden können, ausgesprochen zu haben scheint, dichtete man
hinzu, Sappho sei von Phaon verschmäht oder verlassen worden
und aus Verzweiflung darüber von dem leukadischen Felsen in
das Meer gesprungen. ^) Dieser Klatsch beherrschte die öffent-
Uche Meinung von Athen bereits zur Zeit des Aristophanes
und kam schon damals durch Ameipsias, der nach der Be-
hauptung jenes Dichters die grobe Komik liebte, auf die Bühne.
Sein Stück ,, Sappho" ist der Vorläufer einer ganzen Reihe von
Stücken, welche der mittleren und neueren Komödie ange-
hören; Amphis, Antiphanes, Timokles, Diphilos, Epikrates und
Ephippos verfassten eine ,, Sappho", Piaton und Antiphanes
einen ,, Phaon" und Menander die ,,Leukadia'. Diphilos gab
ihr sogar wider alle Chronologie Hipponax und Archilochos zu
Liebhabern'-^), andere fügten Anakreon hinzu, obgleich dieser
ebenfalls weit später lebte, und suchten dieser Behauptung
durch ein gefälschtes poetisches Zwiegespräch den Schein der
Thatsächlichkeit zu verleihen. 3) So sank Sappho, während
anfangs die Liebe zu dem einzigen Phaon durch eine Zauber-
wurzel erklärt worden war^), allmälig zu einer Courtisane herab;
ein Komiker nachte den unübersetzbaren pöbelhaften Witz
dazu, Sappho habe den sehr reichen Kerkylas (von xepxo?) aus
Andros (Mannheim) geheiratet. ^) Aber Sappho hatte ja nach
Suidas eine Tochter Kleis I Dies erschlossen die Alten aus
Fr. 85 (vgl. Fr. 136): ,,Es ist mir ein schönes Kind, dessen
Gestalt goldenen Blüten gleicht, die geliebte Kleis, die ich nicht
um ganz Lydien hergäbe." Wer mit Sapphos Überschwang-
hcher Ausdrucks weise vertraut ist^), wird nicht anstehen, auch
Kleis zu ihren jugendHchen Schülerinen zu rechnen. Dass
Sapphos Mutter ebenfalls den Namen Kleis trug, spricht nicht
dagegen; kann dies übrigens nicht erst aus dem Namen jener
1) Sapphos Fluclit wurde im Zu.samiueiihaiig damit umgeändert ; sie ver-
folgte nun den treulosen Phaon nach Sicilien (l'a. Ov. her. 15, 51 ff.).
2) Athen. 13, 699 d.
8) Chamaileon und Hermesianax bei Athen. 13, 599 c, vgl. 598 c. 14, 635 e.
4) Plin. nat, hist. 22, 20.
5) Suid.
6) Vgl. Fr. 69. Deiuetrios de eloc. 1 02 lührt gerade aus Sappho Beispiele
der Hyperbel an: IloXö itdixTtSoc &ho^t\eaxipa und /poocu ^^poootepa (s. anderes
bei Bergk III ^ 129).
Die eigentliche Lyrik (Melik). 327
Tochter gefolgert sein?^) Ein Verhältnis 7ai einem Manne
kommt nur einmal (Fr. 75) vor und hier — weist Sappho den
jüngeren Bewerber ab! Mit einem Worte, es fehlt jeder stich-
haltige Beweis, um ihre Moral irgendwie in Zweifel zu ziehen.''^)
Die Geschichte dieser Sappholegenden wirft ein schlimmes
Licht auf die alten Ijiterarhistoriker, unter denen Chamaileon ^),
weil er alle Komödienwitze ohne Kritik als wirkliche Geschichte
in seine Biographie der Dichterin aufnahm, die Hauptschuld
trug. Denoch können wir den Komikern nicht zürnen, weil
sie uns Grillparzers Tragödie und Leopardis ultimo canto di
Saffo geschenkt haben ; ich bemerke bei dieser Gelegenheit über
die Gestalt Sapphos, welche die Neueren zum Unglücke ihres
Lebens machen, dass sie klein und brünett, also nach griechi-
schen Begriffen durchaus nicht schön war. "*) Zur Ehre der
alten Gelehrten sei jedoch gesagt, dass nicht alle an jene Fabeln
glaubten. Der pedantische Didymos stellte im vollen Ernste
eine Untersuchung über die Frage an ,,an Sappho publica
fuerit".^) Mehrere andere ^), denen der grosse Abstand zwischen
der Dichterin Sappho und der Komödienheldin nicht entging,
unterschieden von jener eine Hetäre gleichen Namens und
bürdeten dieser alles nachteilige auf.
Da die Alten Dichter und Dichtung, soweit es möglich war,
trennten, thaten jene bösartigen Verleumdungen dem Ruhme
Sapphos keinen Eintrag. Epigrammatiker nannten sie die zehnte
Muse^), den weibhchen Homer ^) oder die pierische Biene. ^)
1) Schöne a. O. p. 740.
2) Als Gegenbeweis lässt sich über das bekannte Gedicht, in welchem
Sappho ihren Bruder Charaxos, weil er die Hetäre Rhodopis losgekauft hatte,
verhöhnte, schwerlich verwenden ; auch hinsichtlich der Chronologie beweist
es nicht zwingend , dass Sappho noch mehrere Jahre nach der offiziellen Er-
öffnung Ägyptens (Ol. 52, 4) gedichtet habe.
3) Athen. 13, 599 c.
4) Diese Angabe des Maximos von Tyros (or. 24, 7, vgl. Ps. Ovid. her.
15, 33 If.) stammt ohne Zweifel von Sappho selbst.
5) Seneca ep. 88, 37. Weniger Bedeutung verdient, dass der Epigrammatiker
Anthol. 7, 14 Sappho auf Lesbos begraben sein Hess.
6) Nymphis'bei Athen. 13, 596e. Ael. v. h. 12, 19. Suid. s. v. und
^äcov; vgl, Phot. v. AeoxäxY]? Apost. 17, 80.
7) Ps. Plato epigr. 20, Anthol. 9, 66; 571. Auson. epigr. 32.
8) Autip. Sid. Anthol. 9, 26, 3.
9) Christod. 69.
328 10. Kapitel.
Diese Lobsprüche verdiente sie dadurch , weil sie mit dem
begeisterten Ausdruck ihrer Gefühle die glücklichste Wahl der
Worte zu verbinden wusste. Ihre Sprache war glatt und
blumig^), dabei aber von männlicher Kraft, weshalb sie Horaz
„mascula Sappho" ^) nannte. Doch stand Sappho nach dieser
Seite hinter Alkaios zurück, den sie andererseits durch süsse
Anmut übertraf.^) Philoxenos^) gesteht ihr auch zu, dass ihre
Rede in Wahrheit mit Feuer gemischt sei. Diese Doppel-
seitigkeit drückte sich in der Wahl der Tonarten aus ; sie kom-
ponierte nämhch teils in der leidenschaftlichen Art der Äoler
teils wandte sie zum ersten Male unter den Griechen die weiche
mixolydische Tonart an. ^) Auch ihre Versmasse zeigen die
Mannigfaltigkeit ihres Dichtens. Vielleicht kein anderer der
älteren Lyriker hat so viele Metra wie sie — ich zähle deren
etwa fünfzig — zur Anwendung gebracht. Diese sind nicht
blos nach der gewöhnlichen Weise der Melik aus den gebräuch-
lichsten Massen oder auch Choriamben gemischt , sondern da-
neben treten die rein daktyhschen*'), trochäischen^), jambischen^)
und anapästischen^) Metra weit häufiger als bei Alkaios und
Anakreon auf, was Sapphos Gedichten den Schein einer ge-
wissen Schlichtheit verleiht. Mit der Einführung der mixo-
lydischen Tonart harmoniert die Erfindung der weichlichen
Iwvixol avaxXw[Jisvot. ^")
Sai)phos Dichtungen zerfielen in neun Bücher und waren
nach dem Metrum geordnet, doch so dass die Epithalamien
(Fr. 91 — 117) ein eigenes Buch bildeten ^^); denn in dieser
1) Dionys rechnet ihre Gedichte zur ■^Xa.tfopa. xal ävö-Yjpä oüv^eotc (comp,
verb. 23).
2) ep. 1, 19, 28.
3) Fr. adesp. lyr. 62 ex SotTctpui? x68' dp.eXY6|xevo(; {leXt tot (pepcu, vgl.
Anthol. 9, 66. Luc. amor. 30.
4) Plut. amatorius 18.
5) Aristox. bei Plut. mus. 16.
6) Zwei bis sechs Füsse, teils katalektisch teils vollständig und manchmal
mit trochäischer Basis .(30— 39. 41. 46—47. 49. 92—97. 104. 107. 108).
7) Sechs (84) oder sieben (86) Füsse.
8) Vier (81), fünf (70) oder sechs (103) Füsse.
9) Drei (46, 1. 48, 1. 75, 2. 4. 82. 83, 1. 2), vier (40, 2. 42, 2. 43. 98, 2)
oder fünf (101, 2) Füsse.
10) Fr. 87; eine gewöhnliche jonische Tripodie steht in Fr. 88.
11) Serv. in Verg. G. 1, 81. Bergk meinte deshalb, Aristophanes habe
Die eigentliche Lyrik (Melik). 329
Gattung zeichnete sich die Dichterin besonders aus und wir
sind so glückhch, eines derselben durch Fragmente (Fr. 93 —
97), die Paraphrase des Sophisten Himerios^) und die Nach-
bildung des Katull (Nr. 62) rekonstruieren zu können. Sappho
redet bald die Braut bald den Bräutigam an ; manchmal kommt
jene selbst zu Worte wie Fr. 109. Den schönsten Schmuck dieser
Dichtungen machten Vergleiche mit dem Naturleben aus , wie
wenn sie von einer Braut sagt (fr. 93): „Wie ein süsser Apfel
auf dem höchsten Zweige am Wipfel sich rötet, von den
Pflückern vergessen, doch nein — vergessen haben sie ihn
nicht, sie konnten ihn nur nicht erreichen." Das erste Buch
(Fr. 1 — 26) enthielt Gedichte verschiedenen Inhalts, denen die
sapphische Strophe gemeinsam war; einen Hymnus (Fr. 6)
finden wir bei Horaz c. 1, 30 nachgebildet. Die anderen Bücher
füllten Oden in äolischen Pentametern , choriambischen Tetra-
metern und anderen Versmassen. ^) Epigramme, Elegien, Mono-
dien und Jamben , die Suidas anführt, hat Sappho nie ge-
schrieben ; doch stehen in der Anthologie noch drei Epigramme,
die aber schon durch den dorischen Dialekt ihre Ünechtheit
erweisen. Die Gedichte sind zum grössten Teile an ihre
Schülerinen gerichtet, die sie teils in ihrer Gesammtheit (Fr. 11.
14. 24. 25. vgl. 129) teils einzeln anredet (Fr. 21. 22. 34). ^'j
Sappho beklagt sich gewöhnlich über ihre geringe Anhänglich-
keit (Fr. 21. 22); die Dichterin wetteiferte nämhch mit Andro-
meda, welche Atthis an sich zog (Fr. 41) und dafür von Sappho
angegriffen wurde (Fr. 41. 58). Letztere scheute sich nicht
einmal, den Namen der Gegnerin zu einem Witze zu miss-
brauchen (Fr. 70). ^) Sapphos Selbstbewusstsein spricht sich
seine Ausgabe nach dem Inhalte, Aristarch nach dem Versmasse geordnet,
obgleich es höchst unwahrscheinlich ist, dass Servius jene alte Ausgabe be-
nützt haben sollte.
1) 1, 4. 16. 19 (Bergk III M21).
2) Bergk III ^ 82 f.
3) Sie nennt Atthis Fr. 33. 41, Eranna Fr. 77?, Gyrinno Fr. 76, Hero
aus Gyaros Fr. 71, Kleis Fr. 85 und Mnasidika Fr. 76. Suidas erwähnt
ausserdem , indem er lächerlicher Weise exalpa'. (piAai und [j.a9"f]tpic/.'. unter-
scheidet, Telesippa, Megara, Anagora von Milet, Gongyla von Kolophon und
Euneika von Salamis. Ihre Schülerinen kamen also von weither. Durch Ps.
Ovid. her. 15, 17 hören wir noch von Anaktorie und Kydno.
4) Auch gegen ihren Bruder Charaxos trat Sappho , weil er die Hetäre
330 l<^ Kapitel.
besonders gegenüber weniger gebildeten Frauen aus: „Nach
dem Tode wirst du einst im Grabe liegen und niemand wird
weder dann noch später deiner gedenken, denn du hast keinen
Anteil an den Rosen Pieriens, — sondern unansehnüch wirst
du im Hades unter den kraftlosen Toten schweben" (fr, 68,
vgl. P^r. 10). Von sich selbst rühmt sie dagegen: ,,Auch
später wird mancher, denke ich, unser sich erinnern" (fr. 32).
Mit Recht durfte Sappho so sprechen , sie , die allein von
den Frauen aller Zeiten wirklich genial, nicht blos talentvoll
war. Schon bei ihren Mitbürgern genoss ^ie, obgleich ein
Weib, hohe Ehren. ^) Da ihr Bild sehr oft den Revers mity-
lenäischer Münzen^) zierte, verbreitete es sich auch im übrigen
Griechenland. Ihre Gestalt erscheint auf mehreren Vasen-
bildern •^) ; ein Relief^) stellt Sappho von Liebesleidenschaft auf-
geregt und gequält in vortrefflicher Weise dar. Silanion ver-
fertigte eine Statue der Dichterin ^) und eine andere stand im
Zeuxippos von Konstantinopel ^) ; Leon malte sogar ein Porträt.^)
Doch auch ausserhalb ihrer Heimat fanden trotz des Dia-
lektes Sapphos Lieder die grösste Verbreitung, so dass sie noch
im zweiten Jahrhundert gerne gesungen wurden. ^) Den
römischen Dichtern gab die Lesbierin ein unerreichbares Vor-
bild ab, dem besonders KatulP) und Horaz nachzustreben
sich bemühten. Es versteht sich von selbst, dass die griechisch
Rhoclopis loskaufte, mit eiuem herben Gediciite iuif (Herod. 2, 135. Ath. 13,
596 b u. ö. vgl. Schöne p. 743).
1) Alkid. bei Aristot. rhet. 2, 23, 11,
2) Pollnx 9, 84; Miounet VI 46, 103. Suppl. VI 60, 52 fl". 72, 125. O. Jahn
a. O. S. 720 ir. T. 8, 1— r,; Bär ebner Zeitschrift f. Nuraism. 9, 8 fl'.
3) Jahn u. O. S. 712 ff.
4) Jahn S. 715.
5) Cic. Verr. 4 § 126. Athenaji. p. 168 ed. Pur.
6) Chri.slodoro8 V. 69 ff".
7) Plin. n. h. 35, 141. Anfein Porträt gebt da.s Epigrauini de.s Daniorharis
Anthol. Pal. 2, 310. Eine Doppelbüste iu Madrid (Hübner antike Bild-
werke in Madrid S. 100) soll Sappho und Korinna darstellen; aber die soge-
nannte Korinna ist nach der Haartracht ein Mann. Es könnten also höchstens
Sappho und Alkaios sein. Vgl. Bötticher und Hübner Archäol. Zeitung
29 (1872), 83—7.
8) Gell. 19, 9, 4. Dion Chrys. or. 2 § 28. Solon will ein sapphisches
Lied lernen 'Iva jiaO-iv iicoddvu)' (Stob. 29, 58).
9) Süss Acta sem. Erlang. 1, 40 f.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 331
sprechenden Frauen, die einen Drang zum Dichten in sich
fühlten, Sappho zu ihrem Vorbilde nahmen und, wenn sie auch
ihren Geist nicht in sich aufnahmen, doch die Aeusserhchkeiten
getreuhch naciiahmten. In unbestimmter Zeit kopierte sie die
Pamphyherin Damophile ^), indem sie sich mit einer Schaar
von Mädchen umgab und Liebesgedichte und Hymnen (z. ß.
auf die pergäische Artemis) verfasste. Etwas später fühlte
ßalbilla, eine Hofdame der Kaiserin Sabina, sich bemüssigt, ihre
Sapphostudien an der Memnonssäule durch äohsche Gedichte ^)
zu verewigen.
Die alexandrinischen Gelehrten wandten Sappho geringere
Sorgfalt als Alkaios zu, was vielleicht zur Folge hatte, dass die
Fragmente des letzteren in manchem besser erhalten sind. ^)
Ausserhalb Alexandria entstanden mehrere Schriften : Das Lü-
genbuch Chamaileons , wie die merkwürdige Monographie des
Didymos wurden bereits erwähnt. Kallias von Mitylene kom-
mentierte Sappho mit Alkaios^) und Drakon ^) schrieb auch
Tier/t Töiv SaTTtpoö? [isXwv, Gegen Ende des vierten Jahrhunderts
beschäftigte sich der Rhetor Themistios mit der Dichterin; ein
Jahrhundert später gab Sopatros^) in der sxXoyyj twv toTop'.wv
eine Blütenlese sapphischer Sprüche. Da Eustathios und
Tzetzes^) nichts mehr gelesen haben, fällt der Untergang ohne
Zweifel in die Zeit der bilderstürmenden Kaiser. **)
Fragmente besitzen wir etwa eben so viel wie von Alkaios.
Früher waren die Bearbeitungen von Neue^) und Ahi-ens^*^) zu
1) Philostr. vita Apoll. 1, 30; in den Hiindschriften steht fälschlich
Damophyle. Ich glaube, dass Philostratos irrtümlich als Gerücht mitteilte,
sie habe mit Sappho gelebt.
2) Am besten bei Puchstein epigrammata Graeca in Aegypto reperta
1880 (Diss. phil. Argent. 4, 1 flf.).
3) Meister die griechischen Dialekte 1, 108.
4) Strabo 13, 618.
5) Suidas s. v.
6) Phot. bibl. cod. 161 p. 103 a 40.
7) Anecd. Paris. 1, 63, 21. 266, 25.
8) Schubart sagt hübsch: „Sappho, welche Blut weinte in ihren Liebes-
klageu, lässt uns Blut weinen, dass die grösste Zahl dieser unschätzbaren
Perlen verloren gingen."
9) Berlin 1827.
10) Im Anhange zu seinem Buche de dialecto Aeolica.
332 10. Kapitel.
gebrauchen; jetzt muss man Bergk IIP p. 82 — 140 zu Grunde
legen.
Sappho hat allerdings Freundhien und Schülerinen gehabt,
aber auf keine übertrug sie ihr poetisches Vermächtnis.
Erinna^) soll zwar ihre Schülerin gewesen sein, indes beruht
dies nur auf der Kombiniersucht der Grammatiker; nicht mehr
Glauben verdient, dass sie aus Lesbos ^) stammte. Bessere
Gewährsmänner nennen Tenos^), das Inselchen Telos oder
Rhodos als Heimat. Die jonische Insel Tenos fallt jedenfalls
weg, weil Erinna nach dem Dialekte eine Dorierin war; Rhodos
ist nur eine ungenaue Bezeichnung für das zeitweilig dazu ge-
hörende Eiland Telos. Auf Letzterem, dessen Name sich ohnehin
durch die Seltenheit empfiehlt, war also Erinna sicherlich ge-
boren. Ueber die Zeit liegt nur eine Angabe des Eusebios vor,
sie habe Ol. 107, 1*) (352/1) oder 108, l^) gelebt. Obgleich
dies Benndorf^) nicht durch den Charakter der höchst ver-
dächtigen Epigramme, welche als Dichtungen Erinnas im Um-
laufe waren, nicht verteidigen durfte, widerspricht ihr nur eine
Behauptung Tatians ^), derzufolge Naukydes von Argos, welcher
um die 95. Olympiade arbeitete, eine Statue der Dichterin ver-
fertigte. Ich glaube, dass diese Statue gleich einer von Christo-
doros beschriebenen ^) nur ein Lyra spielendes Mädchen darstellte
und erst durch die Periegeten zu einem Bilde der Dichterin
gemacht wurde. Zu jener so späten Zeit würde wohl auch
passen, dass ihr Hauptwerk ein Gedicht von dreihundert Hexa-
metern, „der Spinnrocken" betitelt, war. Ich kann mir nichts
anderes dabei vorstellen, als dass es wie das gleichnamige Idyll
des Theokrit (Nr. 28) ein poetisches Genrebild war. O. Müller
1) "Hptvva, vgl. Malzow de Erinna, Petersburg 1836; Welcker kleine
Schriften, 2, 145 ff.
2) Tatianos Suid., Authol. 7, 710 und 712 lemma. Stob. Flor. 7, 13
lemma v. 1.
3) Steph. Byz. und Suidas (TYjVia, nicht Teta) aus derselben Quelle
(Rohde Bhein. Mus. 34, 5(59); Anthol. Pal. 7, 710, 7.
4) Armen, (z 106, 3) u. Hier. (106, 4 F, 107, 3 P). In dieselbe Olym-
piade setzt er das Auftreten des Deiuostlumes.
6) Synk. 494, 16.
6) De Anthol. Gr. epigr. quae ad artes spectant, Bonn 1862 p. 5 ff.
7) Or, ad Graecos 61.
8) V. 108 ff.
Die eigentliche T.yrik (Melik). 333
vermutet, sie habe darin „die rastlos aufsteigenden Gedanken
der jugendlichen Seele bei der einförmigen Arbeit ausgedrückt."
Ausserdem nahm Meleagros drei Epigramme Erinnas in seine
Anthologie auf ^); ein viertes (Anthol. 7, 190) galt dem Plinius^
oder vielmehr seiner Quelle als Werk der Erinna. Wenn Erinna
wirklich so spät lebte, so verdient die Nachricht, dass sie im
neunzehnten Jahre starb ^), dass sie ,,der Hades zum Hyme-
näus raubte'"^), wohl Glauben; sonst wäre die Frage angezeigt,
ob dieses traurige Schicksal nicht aus ihren Epigrammen auf
sie übertragen worden sei. Genug, der frühe Tod des früh-
reifen Talentes machte der Nachwelt das Andenken Erinnas
heilig und Enthusiasten achteten sie selbst Homer gleich.-'^)
Der skeptische Athenaios ^) aber zweifelte , ob das überlieferte
Gedicht wirklich von ihr herrühre. Andere teilten das Poem
der Lesbierin Melinno ,,an Rom" ebenfalls ihr zu. ^)
Das Lied der Lesbier eignete sich seinem ganzen Charakter
nach am besten für die asiatischen Jonier und , als Sappho
und Alkaiüs es ausgebildet und seinen Ruhm weithin verbreitet
hatten, fand es bei den Joniern eine neue Heimstätte, freilich
nicht ohne sich den Eigentümlichkeiten dieses Stammes anzu-
passen. ^)
Der Vertreter des jonischen Melos ist Anakreon von
Teos^), ein Sohn des Skythinos. ^^) Seine Zeit bestimmt sich
dadurch, dass er am Hofe des Polykrates (um 532 bis 522)
1) Bergk III* 143 ff.
2) Nat. bist. 34, 57.
3) Suidas.
4) Anthol. Pal. 7, 13, 3.
6) Suidas.
6) 7, 283 d.
7) Thiersch acta philol. Monac. 2, 591 ff. Welcker kleine Schriften
2, 160 ff.
8) Ein Paar Äolismen bei Anakreon (/puaocpdcövvo? Fr. 25 und a'.vondfl-Tjv
Fr. 36) erinnern noch an die Heimat des Melos.
9) Mit übel angebrachter Gelehrsamkeit nennt Porphyrio in Hör. c. 1,
17, 18 die paphlagonische Stadt Teion.
10) Diesen Namen nennen Suidas (an erster Stelle) , Schol. Plat. p. 122
B. und eine Herme in Tivoli (Visconti icon. Gr. I p. 74); später hiess
ein teischer Jambendichter ebenso. Ueber die übrigen Namen bei Suidas s.
Welcker kleine Schriften 1, 3.
534 10. Kapitel.
von Samos lebte ^) ; er war schon von dessen Vater Aiakos,
angeblich als Lehrer seines Sohnes, dorthin gerufen worden.^)
Als aber Polykrates durch seine eigene Thorheit Ol. 64, 3 = 522
stürzte, sandte Hipparchos einen Fünfzigruderer ab, um den
weitberühmten Dichter feierlich nach Athen einzuholen. ^)
Nachdem aber jener durch Mörderhand den Tod gefunden, litt
es den Dichter , obgleich er sich auch die vornehme Familie
des jungen Kritias durch seine Lobeserhebungen ^) geneigt ge-
macht hatte, wahrscheinlich nicht länger in Athen, sondern er
begab sich wieder nach Teos. Aber von hier verscheuchte ihn,
den Freund der persisch gesinnten Peisistratiden, der Aufstand
des Histiaios (Ol. 71, 2 = 495) in die teische Kolonie Abdera,
wo er sein Leben beschloss. ^)
Anakreon verfasste einige Hymnen in kurzen raschen
Versen, für welche der vollständig erhaltene Hymnos an Dio-
nysos (Fr. 2) als Probe dienen mag; es waren nur anmutige
Spielereien ohne tieferen Gehalt. Nicht mehr bemerkenswertes
enthalten die Fragmente der Elegien , von denen blos JPr. 94
und 95 sicher sind. Die siebzehn Epigramme (100 — 116)*')
verdienen keinen Glauben. Fr. 3 — 93 entstammen aber den
fünf Büchern') Ttapoivta, jenen von Liebe und Wein über-
1) Herod. 3, 121. Strabo 14, 638. Ael. v. h. 9, 4. 12, 25. Suidas sollte
Ol. 62 sagen, setzt aber d.ifür die daraus ge/ogeue Geburtszeit Ol. 52 (Roh de
Rhein. Mus. 33, 190, vgl. Daub Jahrbb. 121, 25 f.). Das richtige hat Eu-
sebios (liier. Ol. 62, 2, A 60, 4, F und arm. 61, 3).
2) Himerios or. 30, 3. Seine Dichtungen sind daher von dem Lobe des
Polykrates erfüllt (Strabo 14, 638).
3) Ps. Plato llipparch. 228 d. Ael. v. h. 8, 2.
4) Plato Charni. 1 57 e. Schol. Aesch. Prom. 128.
6) Suid., vgl. Fr. 100. ? 130. Nach Ps. Luc. iJ.ot-/.poß. 26 war er 85 Jahre
alt, vergl. Val. Max. 9, 12, 8. Wenn das Epigranini (Authol. Pal. 7, 25, 2),
welches sein Grab nach Teos versetzt, wirklich von Simonides wäre, müssten
wir diese Darstellung ändern , aber Bergk teilt es mit Recht den unechten
Stücken zu. Nicht mehr Glaubwürdigkeit haben die angeblich anakreontischen
Epigramme Nr. 103 und 109, die auf thessalische Verbindungen hinweisen.
Aus einem solchen Epigramme rührt, wie ich glaube, auch die Ge.schichte
von Anakreons treuem Hunde her (Tzetz. chil. 4, 235); Älian bist. an. 7, 29
erzählt sie von einsm kolophonischen Kaufmanne.
6) Said. Meleager l, 35.
7) Krinagorsis Anthol. Pal. 11, 239. Nach E. Geist Krinagoras S. 27 f.
war es eine Sammlung von Anakreonteen. Die .\lteu «stierten nämlich immer
blos drei Bücher.
t>ie eigentliche Lyrik (Melik). 335
strömenden Gedichten, die Anakreon berühmt gemacht haben.
Er ist der klassische Sänger der Liebe und des Weins; diese
beiden erfüllten sein ganzes Leben ^), obgleich spätere nicht
glauben wollten, dass ein so begabter Mann nichts höheres als
die Flasche und sinnliche Lust gekannt habe. ^) Sie irrten sich
aber. Es war kein harmloses Treiben, wie es sich im vorigen
Jahrhundert bei den deutschen Anakreontikern in seinei' ganzen
Lächerlichkeit sich zeigte. Anakreon kann nicht sagen : Distant
mores a carmine nostro; vita verecunda est, sondern er ist eine
durchaus sinnliche Natur ^), die nicht wie jene ehrbaren Fami-
lienväter etwas anempfunden hat; seine Gedichte spiegeln viel-
mehr ganz das Leben der späteren Jonier ab, die unter der
persischen Herrschaft verweichlicht waren und in ihrem Wesen
einen kosmopolitischen Anstrich erhalten hatten, weshalb ihn
ein geistreicher Sophist^) mit leichter Ironie aber treffend den
Dichter der Jonier nannte. ■'') Trinklieder wechseln mit Ge-
dichtchen, die an schöne Knaben") und Mädchen^) gerichtet
sind. Wenn auch die Grazie keinem mangelt, tritt doch
nirgends ein tieferes oder kräftigeres «Gefühl hervor. Anakreon
ist auch als Dichter der elegante, aber blasierte Ijcbemann, der
alles geniesst, al^er durch nichts aus seinem egoistischen Gleich-
mute gebracht wird und der sich nirgends zu kräftiger Männ-
lichkeit erhebt. ^) Nie beherrscht ihn eine Leidenschaft, sondern
immer nur eine augenbUckliche Regung. Wünscht er in einem
1) Suiilas : fj'.oc. 31: -^v a'jxü) Tz^bq ipmiOLr ita'.oojv v.al -pvaiv.crjv xal ihoäc, ;
vgl. Autip. Sid. Anthol. 7, 23, 7 f. Cic. Tn.sc. 4 § 71. Ov. tr. 2, 363. Paus.
1, 25, 1. Athen. 13, 600d. Julian sagt hübsch (Antioch. in.): Tputpäv y«P
r^a-y(^sv £x |xoipJJv.
2) Athen. 10, 429 h, Ael. v. h. 4,4; vielleicht warf Didyraos diese Frage
auf, wofür ihm «eueca ironisch das Problem imputiert (ep. 88, 37): libidi-
nosior Anacreon au ebriosior vixerit. Man dichtete, dass er an einer Wein-
beere erstickt sei (Plin. nat; h. 7, 5. Val. Max. 9, 12, 8).
3) Vgl. Fr. 66.
4) Dio Chrys. or. II § 62.
5) Als solcher gebraucht er den jouischen Dialekt mit wenigen Epicismen,
vgl. B. Stark quaestt. Anacreont. p. 1.5 ff.
6) Besonders Bathyllos (Hör. epod. 14, 9. Max. Tyr. 37, 5), Smerdies
(Fr. 8. 48—50) und Kleobulos (Fr. 2 b). V^ir sind durch nichts berechtigt,
in ihnen allen Epo'jfxsvoi des Polykrates zu sehen.
7) Fr. 14. 17. 52. 75. 76, Eurypyle Fr. 21, 1.
8) Kritias bei Ath. 13, 000 d töv 'itr/a'.%s'.oi'^ [j.E>v£OiV -Xs^wvt« tcot' wod?.
336 10. Kapitel.
Augenblick des Missmutes den Tod herbei (Fr, 51), so denkt
er doch nie im Ernste daran, üeberhaupt steht alles, was
ausserhalb seiner gewöhnlichen Sphäre liegt, dem Dichter nicht
wohl an; selbst sein Spott hat keinen Stachel, sondern erregt
nur eine unangenehme Empfindung (Fr. 21).^)
Diesen grossen Mangel, der einem minder begabten Dichter
nicht zu verzeihen wäre, wiegt bei Anakreon die unübertreff-
liche Liebhchkeit und Anmut des Stiles auf, in dem die durch-
sichtige Einfachheit (a^^Xsia) ^) vorherrscht ; deshalb verbindet
ihn Dionysios -^j vom rhetorischen Standpunkte mit Sappho.
Nur das Metrum scheidet seine Gedichte von schöner Prosa.
Die Persönlichkeit des Anakreon stellte eine Statue, die auf der
athenischen Burg stand, unübertrefflich vor Augen. ^) Der greise
Dichter hatte in der Weinseligkeit sogar eine Sandale verloren.
Eine Nachbildung dieser realistischen Porträtstatue liegt wahr-
scheinHch in einem marmornen Bildwerke der Villa Borghese^)
vor : Der korpulente Sänger sitzt mit bequem übergeschlagenem
Fusse und leidenschaftlich erregtem Oberkörper im Lehnstuhle.
Dieselbe Idee drücken einige Vasenmaler aus. ") Dagegen haben
die Münzbilder von Teos^) keine psychologische Bedeutung.
So einförmig im gewissen Sinne der Inhalt der ana-
kreontischen Gedichte ist, so mannigfaltig erscheint ihre äussere
Form.'') Die meisten Strophen sind monostichisch , abgesehen
davon, dass Anakreon dem letzten Verse manchmal die End-
silbe nimmt (z. B. in Fr. 1 — 4). Während er hierin den
äolischen Dichtern folgt, gibt er auch die Art seines Lands-
1) Wie die Alten Anakreon beurteilten, lehrt besonder.s Bernli. Stark
quaestt. Anacreont. p. 10 H".
2) Herniog. 18. 2, 3 p. 351 Sp.
3) Comp. verb. 23.
4) Paus. 1, 26, 1, vgl. Anthol. Planud. 4, 306—8, O. Jahn Abh. der
Sachs. Ges. der Wiss. 8, 726 if.
6) Braun Ruinen und Museen Roms S. 543 und Bull. d. I. 1853 p. 19;
Brunn Ann. d. I. 1859 p. 156 ff., abgebildet Mon. d. I. VI 25. Bernoulli
die crhalteuen Bildnisse berühmter Griechen S. 7 zweifelt die Benennung
ohne Grund an.
6) Jahn Darst. griech. Dichter auf Vasenbildern S. 724 ff.
7) Jahn a. O. S. 726 T. 8, 7. 8; Bür ebner Ztsch. f. Numism. 9, 11 f.
T. 4, 11.
8) Vgl. Bergks Spezialausgabe p, 29 ff. und Stark a. O. p. 23 ff.; Ross-
bach und Westpbal griechische Metrik 3, 301 ff. 491 ff.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 337
raannes Archilochos nicht völlig auf, sondern baut ebenfalls
mehrere Gedichte epodisch, so Fr. 87 und 88, vor allem aber
das oben berührte Spottgedicht auf Artemon (Fr. 21). Gerade
in diesem zeigt sich jedoch die Doppelstellung des Anakreon
recht deutlich, denn die Langzeile stammt aus Alkaios (Fr. 11
mit Ahrens' Emendation), die Epode dagegen von Archilochos.
Seine metrische Bildung verdankt der teische Dichter in der
Hauptsache unstreitig den Aolern, obgleich er die überkom-
menen Elemente mit grosser Virtuosität selbständig variierte ;
den Grundstock und das individuelle Moment seiner Rhythmen
bilden die Glykoneen und Pherekrateen , welche bei Sappho
und Alkaios fast blos im Keime vorliegen. Das gleiche ist
von den weichUchen 'Icovaol avaxXwfievot, die für den Charakter
der anakreontischen Lieder (fr. 43 — 45. 61 — 66) ausgezeichnet
passen, zu sagen, weil sie Sappho blos in Fr. 87 und 88 ge-
braucht hat. Gerade die aus den Anakreon teen bekannten
Masse kommen selten oder gar nicht vor, z. B. sind die He-
miamben (---^-.---) blos aus dem zweifelhaften Fragmente
Nr. 92 zu belegen. Ebenso mannigfaltig waren die Tonarten
des Anakreon ; er gebrauchte die dorische , lydische und
phrygische Tonart ^) und seine Instrumente waren hauptsächUch
das lesbische Barbiton, die zwanzigsaitige Magade (Fr. 18) und
wegen des sympotischen Charakters die Flöte. '^)
Die Athener sangen gerne anakreontische Gedichte bei
Tische^) und bildeten die Liedformen nach.*) Die jüngeren
Lyriker Griechenlands und Roms (darunter Horaz) ^) studierten
bei Anakreon den Ausdruck der Liebe und Weinseligkeit, da
sie selbst wenig davon empfanden. Chamaileon schrieb Trspl
1) Athen. 14, 635 c.
2) Kritias bei Athen. 13, 600 d. Aus demselben Fragmente durfte O.
Müller P 279 A. 1 nicht schliessen, dass nächtliche Mädchenchöre Ana-
kreous Gedichte vorgetragen hätten. Der Dichter will blos sagen, dass, so
lange die Menschen sich am Weine erfreuen und Dionysos verehren, sie auch
den Anakreon lieben werden.
3) Aristoph. SaixaX. bei Ath. 15, 694 a. Seine Lieder sind jedenfalls die
„jouischen" bei Arist. Eccl. 882 flf. 918.
4) Christ Metrik der Griechen und Römer § 338.
5) C. Campe Phüol. 31, 670 ff.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 22
338 10. Kapitel.
"'AvaxpeovToc ^) und die drei grossen alexandrinischen Kritiker
beschäftigten sich mit der Kritik des Textes. 2)
Nach und nach entstand eine bedeutende Anzahl anony-
mer Gedichte, welche Anakreon kopierten, ohne dass die Ver-
fasser an eine Fälschung dachten. Man schrieb sie jedoch
später dem teischen Dichter zu , obgleich nur in Nr. 6 Ana-
kreon selbst zu sprechen scheint und Bathyllos mehrmals vor-
kommt.^) Es sind nur Spielereien ohne den Reiz der Indivi-
dualität , manchmal mit recht hübschen Pointen , aber fast
durchgängig nichts weiter als Epigramme im angeblich ana-
kreontischen Versmasse, welche Anakreon in der Regel blos
abschw'ächen, zum Teile sogar verwässern. Der Eros des alten
Dichters ist ein gewaltiger Gott, der jenen mit der Axt schlägt
und im winterlichen Sturzbache badet (Fr. 47); in den Ana-
kreonten tändeln mutwillige , ich möchte beinahe sagen , blos
dekorativ aufgefasste Eroten, die aus den Denkmälern der
alexandrinischen und römischen Zeit so wohl bekannt sind.
Unter dreiundsechzig Stücken sind einunddreissig (meist kürzere)
in katalektischen jambischen Dimetern abgefasst, aus denen
die Sammlung wahrscheinHch ursprünglich bestand;*) wenig-
stens lautet der Titel Avaxpiovtoc Ttjioü av>\LzoGiav.ä TJfi-iaftßta.
Damit verband sich eine Sammlung von dreissig in jonischeu
Dimetern (Anaklomenoi) abgefassten Gedichten, meist grösseren
ümfangs, welchen die epigrammatische Zuspitzung jener Sinn-
gedichte und damit der Hauptreiz fehlt. Vereinzelt stehen
zwei Gedichte in pherekrateischen Massen (Nr. 20 und 49).
Da die Gedichte weder nach dem Metrum noch nach dem In-
halte geordnet sind, möchte man sich versucht fühlen, diese
Verwirrung dadurch zu erklären, dass der Sammler mehrere
ältere Sammlungen aneinander reihte.^) In neuester Zeit führte
1) Athen. 12, 633 e.
2) Bergk p. 216 ff.
3) Wo 1 per de antiquitate carm. Anacr. Lpg. 1825 ; C. G. S t a r k quaestt.
Anacreonticae, Lpg. 1846; Welc.ker die Anakreonteen , Kleine Schriften 1,
261 ff. 2, 366 ff.; Wiedemann de antiquitate carm. Anacr. I. Petersb. 1843;
F. Colin camp de aetate carminum Anacreouteorum, Paris 1848. Ihre Un-
echtheit erkannte bereits Fr. Robortellas.
4) Bergk 111* 296.
6) Düntzer Ztschr. f. Alterthumsw. 1836 Nr. 94.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 339
Hansen^) diesen Gedanken durch, indem er kleinen Unterschie-
den nachforschte und so in der ersten Hälfte zwei Samm-
lungen ausschied ; die erste besteht aus Nr. 1. 3. 5 — 20 und
die zweite aus Nr. 21 — 34. Mehrere Gesichtspunkte sind ent-
schieden beachtenswert, doch ist eine abermalige umfassendere
Untersuchung notwendig. Weil in der Handschrift viele Stücke
die Ueberschrift loö aoioö tragen , ohne dass immer Anakreon
damit gemeint wäre — sicher ist er es nicht in Nr. 2, welches
Basilios oder BasiHkos verfasst hat, und Nr. 5, das Planudes
einem Julianos zuschreibt — und ebenso häufig unpassend
olKXo steht, möchte ich glauben, dass unsere Sammlung ganz
oder zum grossen Teil aus einer umfänglichen lyrischen An-
thologie mit Rücksicht auf das Versmass geschöpft sei ; leider
ist es unmöglich, die Zeit der Sammlung oder dieser Antholo-
gie auch nur annähernd zu bestimmen, da wir bei keinem Ge-
dichte wissen , ob es nicht erst später hinzugesetzt wurde.
Ueberdies liegt es in der Natur des Gegenstandes, dass die
Gedichte wenig Anhaltspunkte bieten; doch hören wir Nr. 15,
3 von der rhodischen Malerei und Nr. 26 b 3 erscheinen statt
der Perser die Parther. Der Verfasser von Nr. 5 dichtete unter
Anastasios. Andere Gedichte gehorchen in ihrem metrischen
Baue nicht mehr der Quantität, sondern dem Accent. Dass
gerade die Byzantiner die klappernden Masse der Anakreonteen
anzuwenden liebten, erhellt aus den nur zu zahlreichen Resten,
von denen Bergk anhangsweise die Gedichte des Joannes von
Gaza^) (im sechsten Jahrhunderte), des Sicihers Konstantinos,
Leon Magistros (im zehnten Jahrhunderte) und Georgios Gram-
matikos, sowie ein anonymes dem Grammatiker Akoluthos ge-
widmetes Poem zusammenstellt.^)
Es gab natürlich mehrere Sammlungen von Anakreonteen.
Die uns erhaltene steht nur in der Handschrift der palatini-
schen Anthologie. Von einer anderen kennen wir blos das in
einem barberinischen Codex erhaltene Verzeichnis^) einer klei-
1) Auf der Philologenvers, von Heidelberg; ich benütze den Bericht in
der philol. Wochenschrift 1882 Sp. 1624 ff.
2) Diese Stadt war der Hauptsitz der Produktion (Schol. Pal. bei Ja-
cobs Anthol. Pal. IV p. 814).
3) Ueber andere Bergk III* 339 ff.; über die christlichen Anakreonteen
Stark a. O. p. 36 ff. u. Christ Anthol. Gr. Christ, p. XXVI ff.
4) Bergk III* 341.
22*
340 iO. Kapitel.
nen Lese , welche den Titel führte : 'Avaxpsövtiov ODfiTuoataxov
Tcspl ovsipwv. Sie umfasste nur dreizehn Gedichte, von denen
nicht mehr als zwei in Anaklomenoi waren und eins in unserer
Sammlung fehlte, befolgte aber genau die Ordnung unserer
Handschrift. Die gelegentlichen Citate geben sehr geringe
Ausbeute; Gellius^) und Hephaistion^) sind die ersten, die Verse
citieren. Manches ist auch verloren gegangen, doch beziehen
sich solche Citate nur auf xAnaklomenoi jüngeren Datums.'')
Es ist wahrscheinUch, dass diese Anakreontiker von ihrem
Meister manche Züge benützten, aber es ist doch reine un-
begründete Hypothese, wenn man Anakreon ganze Gedichte
zuschreibt. Stark thut dies bei Nr. 3, 32 u. 45 und Welcker^)
vermutet es von Nr. 9 oder 11. Sollte denn nicht auch einem
begabten Nachdichter hie und da ein Stück, das des teischen
Sängers würdig gewesen wäre, gelungen sein?
Die Anakreon teen genossen mit anderen pseudoaymen
Machwerken die zweifelhafte Ehre, in den letzten drei Jahr-
hunderten unendlich oft gedruckt^) und übersetzt zu werden.
Wer möchte aber vollends die Schaaren der Nachahmer zählen,
die von den Eroten und dem Weine schwärmten und die The-
men der Anakreonteen mit wenig Witz und viel Behagen ebenso
unendlich oft variierten?^) Die lateinische Literatur war von
dieser sonderbaren Schwärmerei ziemlich frei geblieben, vermut-
lich weil die Gattung den etwas grobkörnigen Römern zu leicht
beschwingt war. Doch gebrauchte Petronius auch das ana-
kreontische Metrum und Florus'') ahmte das dreiunddreissigste
Gedichtchen nach.
Die erste Ausgabe erschien 1554 von Heinrich Stepha-
nus besorgt zu Paris, lieber die zahlreichen Prachtdrucke und
Schulausgaben können wir sofort zur ersten kritischen Ausgabe
1) 19, 9 Nr. 3.
2) de metr. 5 Nr. 46, 8 f.
••J) Bergk 111* 337 f.
4) Kleine Schriften 2, 389.
6) Bibliographie Ijei E. R. Neubauer Anakreon von Teos, Radautz
(Bukowina) 187ü.
♦>) C. V. Laugadorff die auakreontische Dichtung in Deutschland,
Heidelberg 18Ö2.
7) Anthol. Lat. 86.
Die eigentliche Lyrik (Melik). 341
Übergehen; man verdankt sie Mehlhorn.^) Dessen Arbeit ist
jetzt durch Val. Rose (Anacreontis Teii quae vocantur ao[x;ro-
aiaxa %ta[i,ßia, Lpg. 1868. ^876) und Bergk (IIP 296—338)
ersetzt. Eine bequeme Sammelausgabe \\\\\ Anacreonte, edizione
critica di Luigi A. Michelangeli (Bologna 1882) sein.
Eine ganz andere Fälschung, deren Grund nicht abzusehen
ist, finden wir in dem bei Fulgentius und mittelalterlichen
Schriftstellern angeführten Anacreon (Creon) de natura deorum.^)
1) Anacreontea quae dicuntur, Glogau 1825.
2) C. F. Hermann Pbilol. 10, 323, vgl. Bergk zu fr. 132.
11. Kapitel.
Anfänge der Prosa.
Entstehung der Prosa — Logographen — Kadmos, Eudemos, Amelesagoras,
Deiochos , Deraokles , Eugaion , Hekataios — Pherekydes , Anaximandros,
Anaximenes, Herakleitos, die Pythagoreer.
Wenn die echte Poesie jeder Zeit von der Schrift unab-
hängig ist, ja durch das Niederschreiben mit dem Rhythmus der
Verse und dem allgemeinen Wohlklange notwendig einen Teil
ihres Reizes einbüsst, kann dagegen die Prosa ohne jene nicht ■
existieren; das gesprochene einfache Wort verhallt, mag es
auch für den Augenblick den tiefsten Eindruck gemacht haben,
so lange die Schrift es nicht in der ursprünglichen Form für
die Dauer festhält. Die nicht in Verse gekleideten Märchen
wandeln sich im Munde des Volkes unaufhörlich nach Form
und Inhalt; weil sie keine bestimmte Form besitzen, erzählt
sie jeder anders und selbst derselbe Mensch wird , wenn er
eines wiederholt, nicht immer genau dieselben Worte ge-
brauchen.
Wir haben bei der Erwägung der homerischen Frage ge-
sehen, dass der freie Gebrauch der Schrift verhältnismässig
späten Ursprungs ist. Zuerst stand sie jedenfalls im Dienste
des Staates, der sie zur Aufzeichnung von Namensverzeichnis-
sen anwendete. Am ältesten sind die sogenannten ava^patpai,*)
Listen von Namen der Könige, Priester, hohen Beamten oder
auch der Sieger in Nationalspielen. Unter diesen reichten die
t) J. Brand is de temporum Graec. antiquiss. rationibus, Bonn 1867;
A. V. Gutschmid Jahrbb. 83, 20 ff. und über die späteste, die makedo-
nische Königsliste Syrab. phil. Bonn 1, 103 ff. Er versprach damals zugleich
eine Schrift, in der er sämmtliche gleichartige Urkunden behandeln wollte.
Anfänge der Prosa. 343
Verzeichnisse der spartanischen Könige, der argolischen Hera-
priesterinen und der olympischen Sieger in sehr alte Zeit hin-
auf, doch wurden sie wahrscheinlich später aus der Erinner-
ung zurückergänzt. An diese Verzeichnisse schlössen sich der
Zeit nach, wie wir bereits gesehen haben, die genealogischen
Epen, welche die älteste Geschichte Griechenlands in poetischem
Gewände geben wollten. Diese verhinderten im eigenthcben
Griechenland das Aufkommen der historischen Prosa; den Jo-
niern dagegen fehlte diese Art bis auf das einzige Werk des
Asios, weil sie die alten Sagen lieber von der rein poetischen
Seite mit den Augen Homers betrachteten. Als sie sich aber
endlich , durch das Beispiel der Dorier und Aeolier angeregt,
entschlossen, die Geschichte ihrer Ahnen getreuer aufzuzeich-
nen, war auf dem Gebiete des Epos ihre produktive Kraft er-
loschen. Die Jonier wandten sich daher in ihrer Vorliebe für
das Neue einer neuen Art der Reproduktion zu, wobei sie der
günstige Umstand unterstützte, dass, seit Fsamraetich Ägypten
dem griechischen Handel eröffnet hatte, im Papyrus ein beque-
mes Schreibmaterial zugänglich wurde. Abgesehen von dem
Versuche des Asios fehlen daher in Jonien die versificierten
Chroniken gänzlich. Es ist also unrichtig, wenn gesagt wird,
die jonische Geschichtsschreibung sei aus dem Epos entstanden.^)
Man pflegt die alten Historiker Logographen zu benen-
nen, obgleich dieser Titel nur in seiner Zweckmässigkeit eine
Rechtfertigung hat;'^) denn die Alten verstanden unter diesem
Namen zuerst die Prosaiker überhaupt,^) dann die Leute, welche
anderen für Geld Gerichtsreden abfassten; korrekter wäre die
Bezeichnung 'ko-^oizoioi,'^) doch kommt sie auch Äsop^) zu.
Der feinsinnige Rhetor Dionysios^) schildert die Thätigkeit
1) Strabo I p. 18. 20; Creuzer die bist. Kunst der Griechen S. 25 ff.
176 ff.
2) Creuzer historische Kunst der Griechen ^265 ff.; Krüger zu Dion.
Hai. histor. p. 496; G. Curtius über zwei Kunstausdrücke der alten Litera-
turgeschichte, Berichte der sächs. Ges. der Wiss. 1866 S. 141 ff.
3) Thuc. 1, 21.
4) Von Hekataios Herod. 2, 143. 5, 36. 125, von ihm und Herodot Arr.
anab. 5, 6,5; "ko-^oKoibc; o 6(p' -rifJLcüv lotopixöt; XsYÖfAsvo? Harpokr. (s. dazu die
Erklärer) u. s. w.
5) Herod. 2, 134.
6) lud. de Thuc. 6.
344 11- Kapitel.
der älteren Historiker in folgenden Worten : „Sie legten in
der Wahl der Gegenstände einen ähnlichen Plan zu Grunde
und standen sich ihrem Können nach ziemlich gleich ; die einen
schrieben hellenische, die anderen barbarische Geschichten und
sie verknüpften diese nicht untereinander, sondern sonderten
die Ereignisse nach Völkern und Städten und trugen sie ge-
trennt vor, wobei sie einen und denselben Zweck verfolgten,
alle Erzählungen des Volkes und die Aufzeichnungen in
Heiligtümern und Archiven unverändert ohne etwas hinzu-
zusetzen oder wegzunehmen, zum Gemeingute zu machen.
Darunter waren auch einige seit langer Zeit geglaubte P\ibeln
und manche tragische Verwicklungen , die jetzt wenig be-
achtet werden.^) Alle wandten ungeföhr denselben Stil an;
er war klar, einfach, korrekt, kurz, den Vorgängen angemes-
sen und ohne rhetorischen Schmuck." Ueber letzteren Punkt
äussert er sich in c. 23 ähnlich.
Die Heimat der Geschichtsschreibung — wo sollte sie an-
ders als bei den Joniern gewesen sein, deren geistiger Horizont
im Vergleich mit den übrigen Griechen am weitesten war?
Von hier ging der lebhafteste Handel nach allen Gegenden.
Die milesischen Seefahrer erschlossen den Norden, durch den
Binnenverkehr und vielleicht noch mehr im Solddienste der
Barbarenfürsten drangen unternehmungslustige Jonier in das
Innere Asiens ein. So besass ein wissbegieriger Mann eine aus-
gezeichnete Gelegenheit, Erkundigungen über alles möghche,
sei es auffallende Ereignisse oder geographische Dinge, einzu-
ziehen. Daher waren (vielleicht mit Ausnahme des Akusilaos)
alle älteren Historiker Jonier; doch steht es bei Chalkedon,
welches die Heimat des Amelesagoras gewesen sein soll, nicht
fest, ob die Bevölkerung gleichfalls diesem Stamme angehörte.
Der als erster Historiker genannte Kadmos von Milet*)
ist ohne Zweifel eine mythische Person. Suidas schreibt ihm
eine xtiot? MtXTfjTou xal r^c 2Xy]c 'Iwvtac sv ßtßXioic 8' zu, identi-
ficiert ihn aber nach Abstammung und Vaterland mit dem
thebanischen Könige Kadmos. Vermutlich ist die ganze Sache
blos eine Verschmelzung der Meinungen, dass Kadmos die
1) Vgl. c. 6. 7. Daher sagt Thukydides 1, 21 : ^ov^d-eoav inl zh itpoaa-
YoiyoTepov xij üxpoa^et if| aX-rjö-eoTepov.
2) C. Maller fragm. hiflt. 11 p. 2 ff.
Anfänge der Prosa. 345
Buchstaben erfand und dass Milet die Wiege der Geschichts-
schreibung war. Daher betrachteten manche Kadnios nicht
blos als den ersten Historiker,^) sondern auch als den ersten
Prosaiker überhaupt.^) Jene Schrift aber muss in den Biblio-
theken wirklich existiert haben; denn es heisst, dass sie Bion
von Prokonnes in seinem Buche excerpiert habe,^) und Diony-
siüs bezweifelt ihre Echtheit.'') Wahrscheinlich ist auch der
jüngere Milesier Kadmos des Suidas nichts als ein Doppelgän-
ger, obgleich sein Vater Archelaos heisst; hier war eben die
Fälschung gar zu plump , als dass sie nicht jeder Gelehrte er-
kannt hätte. Denn wer glaubt, dass ein so früher Autor
aXoat? spwTtxwv 7ra9-/j[j.dT0iv^) und 16 Bücher attischer Geschich-
ten^) geschrieben habe?
Auch die meisten anderen Logographen'') sind blosse Schat-
tengestalten: Eudemos von Faros wird nur einmal genannt ;**)
vielleicht ist er identisch mit dem gleichnamigen Naxier, der
nach Clemens von Alexandria,'') wie Gorgias von Leontinoi,
Bion, Hekataios, Hellanikos und andere, Melesagoras benützte.
Dieser ist wohl eine Per.son mit A melesagoras von Chalkedon,
dem Verfasser einer Atthis,^") und vielleicht auch mit Melesa-
goras von Eleusis.'^) Offenbar ging die Schrift aus einer Fäl-
1) Plin. nat. b. 7, 205.
2) Plin, nat. h. 5, 112. v.Mtq bei Suid. v. ^epcxüSf]-:. Wenn Josephus (c.
Ap. 1, 2) sagt, Kadmo.s habe nicht lange vor den Perserkriegen gelebt, so
verdient er als tendenziös hierin keinen Glauben.
3) -dem. AI. ström. 6, 267 S. 752 P; also benützte der Fälscher Bion
sehr stark.
4) lud. de Thuc. 23, ebenso Suid. v. 'Exataloc ^'Xr^o'.or aus Porphyrios
iRohde Rhein. Mus. 33, 171 A. 1). Strabo 14, 635 schweigt deshalb von
ihm.
5) Rohde der griechische Roman S. 347 A. Müller p. 4 vermutet
unwahrscheinlich xxtati; lcovix(Jüv (xpfjTtxojv) iiöXecuv.
6) Nach C. Müller II p. 4 und v. Gutschmid in Flachs Hesych. p. 114
ebenfalls erotischen Inhalts.
7) Verzeichnis bei Dion. Hai. iud. de Thuc. 5.
8) Dion. Hai. a. O.
9) Strom. 6, 267 S. 752 P; vgl. Vossius histor. Gr. p. 440 und C.
Müller II p. 20.
10) Dionys. a. O. Apolld. 3, 10, 3, 12, Antig. Car. 12. (C. Müller II.
p. 22 IV p. 1740.).
11) Max. Tyr. or. 28, nach C. Müller II p. 21.
346 11- I^apitel.
scherfabrik hervor, wo mehrere echte Bücher zu einem unechten
kompiliert wurden. Deiochos (Deilochos) von Prokonnesos
entspricht dem Deiochos von Kyzikos, der über Kyzikos
schrieb.^) Demo kl es aus dem jonischen Städtchen Pygela in
Lydien^) verfasste ebenfalls eine Lokalgeschichte , aus welcher
Demetrios von Skepsis dem Strabo ein Fragment über Erdbeben
vermittelte ; der Geograph selbst las sie nicht mehr.
Wenn wir die Schriften dieser mit den Chroniken ver-
gleichen, so gibt es andererseits auch Annalen oder, wie der
griechische Ausdruck lautet, wf/ot. Der älteste der Horographen^)
ist Eugaion von Samos, welcher Jahrbücher seiner Vaterstadt
verfasste ; sie dienten gewiss den späteren Horographen von
Samos, Duris, Aethlios, Alexis, Potamon von Lesbos und einem
Anonymus, als Quelle.*)
Ueber Akusilaos von Argos hören wir mehr, aber einzig
und allein unverbürgtes. Dem späten Altertum lag eine Schrift
des Akusilaos, YsvsaXoYiat betitelt, vor, welche hauptsächlich
aus den genealogischen Dichtungen des Hesiod geschöpft war,
in einigen Punkten sie aber ,, verbesserte".^) Sie mass von
manchen geschätzt worden sein , weil Sabinos unter Hadrian
Kommentare dazu verfasste;^) Porphyrios'') verwarf sie indes als
unecht. Auch die Historiker weisen dem Akusilaos unter sei-
nen Genossen einen geringen Platz an.^) In der Vorrede des
Werkes teilte der Fälscher das mit, was Suidas als Biographie
gibt : Des Akusilaos Vater, der Argiver Kabas, fand zu Kerkas
bei Anlis'-') eherne Tafeln in der Erde , die er dem Sohne zur
1) Steph. Byz. v. Ari(j.'}axo(:; die Apolloniosscholiasten citierea ihn an
mehreren Stellen für kyzikenische Sagen ; für die Identität spricht C. Müller
II p. 17 ft". Schneidewin Ztsch. f. Alterthumsw. 1843 Sp. 918 unter-
scheidet beide.
2) C. Müller 11 20 f.
3) Stichle die griechischen Horographen. Phil. 8, 395 ff.
4) Drei Fragmente, von denen höchstens diis erste und dieses nur mit
grosser Wahrscheinlichkeit hiehergehört, stehen bei C. Müller II 16.
6) Cleni. AI. ström, a. O. Jos. in Ap. 1, 3.
6) Suid. V. ilajiivo;.
7) Said. V. 'Exatatoc MiX-fjoioc und ooy^ pa^feic,, vgl. Rohde Rhein. Mus.
88, 171 A. 1. •
8) Dionys. Hai. iud. de Thuc. 5. .Joseph, ant. lud. 1, 4.
9) So entstand, denke ich, die Notiz des Suidas: Kaßa oloz, 'Apyetoc
äitb Rtpxdc^o«; rtoASüx; oua"r)i; A6Xt8o(; nX-rjoiov. Akusilaos heisst immer Ar-
Anfange der Prosa. 347
Verwertung hinterliess. Diese Fiktion war ein beliebter Kunst-
griff, den man bereits in der alexandrinischen Zeit in praxi
ausübte.^) Jedenfalls kannte bereits der Halikarnassier Dionys
die gefälschte Schrift.^) Wenn ich nicht irre, war der wirkliche
Akusilaos überhaupt kein Historiker , sondern eine ähnliche
Figur wie Eumelos, mit dem er mehrmals zusammen genannt
wird. Er gehörte vielmehr dem Kreise der genealogischen Dichter
an ; aber seine Gedichte gingen, wie die des Eumelos, nur noch
früher, verloren und wurden, wiederum wie diese durch ein ge-
fälschtes Prosabuch ersetzt. Aus einem solchen genealogischen
Epos , das mit der Erschaffung der Welt begann , etammt das
Citat des Plato;^) darf ich die Vermutung aussprechen, dass
der Philosoph unter seinem Namen die Phoronis^) citierte? Da-
mit entfernen wir den Eindringling aus dem Kreise der jonischen
Historiker,
Jene schrieben alle jonische Lokalgeschichten ; die Spezial-
geschichte eines barbarischen Staates behandelte zuerst der
Lyder Xanthos, aber dieser lebte schon unter Artaxerxes ^),
wird also im zweiten Teile zu besprechen sein.
Von einem höheren Standpunkte fasste in dieser Periode
nur Hekataios von Milef^) die Geschichtsschreibung auf.
Ein Sohn des Hegesandros ^) und vornehmer Famihe^) entstammt,
giver, was sich nicht auf ein angebliches böotisches Argos (Unger Theb.
parad. p. 301) beziehen kann.
1) Roh de der griechische Roman S. 272 A. 2 gegen Hercher Jahrbb-
Suppl. 1 (1856) S. 278, welcher behauptete, diese Fiktion komme nicht vor
dem ersten christlichen Jahrhunderte vor.
2) Nach Fr ick Beiträge zur Chronologie, Höxter 1880 rührt sie von
einem jüngeren Platoniker her. Harpocr. v. '0}xf]pt3at und Schol. Apoll.
Rhod. 4, 1147 eitleren das dritte Buch. Die Fragmente stehen bei C. Müller
I 100, 597.
3) Symp. p. 178b.
4) S. 190.
5) Eratosthenes bei Strabo 1, 49.
6) C, Müller I p. IX ff., Fragmeute p. 1 ff., dazu Stiehl e Philol 8, 590 ff.
Die Fragmente hatte vorher R. H. Klausen (Berlin 1831) gesondert herausge-
geben, Ueber Homonyme vgl. Müller p. IX adn. 3, Stiehle Philol. 8, 59 ;
Gottl. Röper über einige Schriftsteller mit Namen Hekatäos, Danzig 1877 —
78, dazu Bursians Jahresber. 1879 III 161 f.
7) Herod. 5, 125. 6, 137. Suidas.
8) Herod. 2, 143.
348 11- Kapitel.
bildete er sich teils durch Reisen, teils durch seine politische
Thätigkeit yauxi Geschichtsschreiber vortrefflich aus. Wie weit
ihn sein Forschungsdrangin der Welt herumführte^), vermögen
wir nicht mehr sicher anzugeben, weil seine geographischen
Kenntnisse selbstverständlich besonders auf Erkundigungen bei
den stammverwandten Seefahrern beruhten. Heketaios konnte
in seiner angesehenen Stellung am sichersten und besten dazu
gelangen; er trat auch, als der Aufstand geplant wurde, auf,
um seine Landsleute durch Schilderung der persischen Macht,
die er mit eigenen Augen geschaut hatte, von dem tollkühnen
Unternehmen abzuhalten. Was er ferner vorschlug, als seine
Ansicht nicht durchdrang, die Jonier sollten die Tempelschätze
verwenden und Schiffe damit bauen , zeigt ihn uns als einen
gewiegten Staatsmann ^); nachdem der Krieg sich zum Un-
glücke der Jonier wandte, riet Hekataios seinen Mitbürgern,
auf der Insel Leros eine Festung als Zufluchtsstätte zu erbauen.^)
Die Perser selbst schätzten ihn so hoch, dass auf seine Bitte
Artaphernes 494 den jonischen Städten gegen einen bestimmten
Tribut die Autonomie zurückgab. "*)
Das hervorragendste Werk des Hekataios, in welchem er
seine reichen auf den Reisen gesammelten Erfahrungen nieder-
legte, war eine ^-^c 7r£pio5o? (auch TrepnrjYT^oeic genannt) ; sie gab
eine Beschreibung der ganzen den jonischen Handelsleuten be-
kannten Welt, wobei Hekataios allerlei merkwürdiges über die
Geschichte hervorragender Städte und, was sonst einen Griechen
interessieren konnte, mitteilte. Von _^den beiden Hauptteilen
Europa und Asien zweifelten manche Gelehrte, z. B. KalH-
machos an der Echtheit des letzteren ^) und wahrscheinlich mit
Recht, da das Zeugnis des Eratosthenes ^) nur den ersten Teil
1) Agathem. 1, 1 avTjp itoXoreXavY)«;.
2) Herod. 6, 36.
3) Herod. 6, 126.
4) Diod. 10 fr. 50 Kekker = 25, 2 Dindorf.
6) Athen. 2, 70b, vgl. 9, 4lOe. Arr. exp. Alex. 5, 6, 5 bezüglich Ägyp-
tens. Vgl, A. von Gut8«:hmid Philol, 10, 525 ff., welcher die Echtheit ver-
teidigt; Herrn. Holländer de Hecataei descriptione terrae qnae creditur,
Bonn 1861. Nach Schwanebeck Mcgastheuis Indica (Bonn 1846 p. 6) gehen
die Berichte (iber Indien (Fr. 174—7) wie die des Herodot (3, 98-106) auf
Skylax zurück.
6) Strabo 1, 7.
Anfänge der Prosa. 349
schützt. Der Fälscher benützte Herodot zum Teil wörtlich.^)
(J. Müllers Vermittlungsversuch, der neben dem echten Werke
eine untergeschobene Schrift über Asien annahm ^), ist verfehlt.
Es fragt sich nur, ob wirklich die ganze Asia unecht oder nicht
etwa blos die Beschreibung Ägyptens, Libyens und Indiens ein
späterer Zusatz war. Hekataios fügte seinem Werke nach dem
Vorgange des Anaximandros eine Karte bei^), welche zu rekon-
struieren nicht mehr möglich ist. ^)
Während er hier selbständig verfuhr, soll er in den vier
Büchern ^evsaXo^tai die von den Dichtern behandelten Sagen
bearbeitet haben. ^) Aber dieses Werk erregt grosse Bedenken.
Schon die Vorrede^) passt nicht recht für die Zeit: ,, Hekataios
von Milet spricht also: Ich schreibe dieses, wie es mir wahr
zu sein scheint; denn unter den hellenischen Erzählungen gibt
es nach meiner Ansicht viele lächerhche." Dass der Verfasser
dieses ,, lächerliche" durch den kahlsten Rationahsmus zu ent-
fernen suchte , ersehen wir aus einem Citate des Pausanias ''),
wonach er das Heraufholen des Kerberos als Sieg über eine
giftige Schlange deutete. Aus dieser allgemeinen Auffassungsart
und weil Herodot Hekataios einmal so citiert, als ob er ein ein-
ziges Werk geschrieben habe^), geht die Unechtheit der Genea-
logien ziemlich sicher hervor; damals ks man ja noch lieber
die Gedichte selbst, bis in der alexandrinischen Zeit der
poetische Schmuck ein unnützes Beiwerk schien.
1) Porphyrios (1)ei Said. u. Euseh. praep. ev. 10, 3 p. 166b) uud Herinog.
18. 2, 12, 6 meinen das umgekelirte. Beispiele gibt Cobet Muemos. 1883
S. 5 ff. ; dieser will S. 1 ff. beweisen, dass alle Schriften des Hekataios unecht
seien, aber wer 7A\ viel beweist, beweist gar nichts.
2) Fragm. bist. I p. XIV.
3) Agathemeros 1, 1. Eust. prooem. in Dion. I p. 73 Beruh., vgl. Eratosth.
bei Strab. 1, 13. Nach E. Curtius Gesch. Griechenlands I* 490 ging das
Anfertigen der Karten von den Heiligtümern aus.
4) Gegen Klausen Rob. Müller die geographische Tafel nach den An-
gaben Herodots mit Berücksichtigung seiner Vorgänger, Reichenberg 1881.
5) Strabo 1, 34.
6) Demetr. n. spfXYjv. § 12.
7) 3, 25, 5.
8) 6, 137 £v xoiz Xci-^otc- Die erwähnte Stelle des Eratosthenes, in welcher
manche eine Erwähnung der Genealogien finden wollen , ist augeuseheinlich
konupt.
350 1^. Kapitel.
Hermogenes ^) urteilte über den Stil des Hekataios, er
schreibe in reiner jonischer nicht mit epischen Formen ge-
mischter Mundart und zeige nicht so viel Sorgfalt und Ge-
schmack wie Herodot. In der Form stand er weit hinter diesem
zurück, obgleich seine Rede rein und klar war und an mehreren
Stellen der Anmut nicht entbehrte. ^) Nach dem Autor xspl
u(|;ou<; fiel er gerne aus der indirekten Rede plötzlich in die
direkte. Demetrios^) endlich rechnet ihn unter die Vertreter der
8ti(]pY][idvTr] XiiiQ. Hekataios gehörte zwar nie zu den Klassikern
seiner Nation, immerhin fehlte es ihm nicht an Verehrern ; der
Megalopolitaner Geschichtsschreiber Kerkidas schätzte ihn sogar
unter allen Geschichtsschreibern am höchsten*) und Hermogenes
(a. 0.) empfahl ihn neben den drei berühmtesten Historikern
zur Nachahmung.
Hekataios' Werk bildet einen würdigen Abschluss der ersten
Periode und ist zugleich ein Vorläufer der klassischen Geschichts-
schreibung, indem hier der Uebergang von der lokalen Historio-
graphie zur Universalgeschichte gegeben ist.
Mit der Erforschung der Geschichte ging die Naturge-
schichte und die Untersuchung der Welt Hand in Hand. Hier
waren es wiederum die Jonier, welche den anderen Stämmen
die Bahn brachen und mit Anlehnung an die theogonischen
und didaktischen Gedichte eine Sprache für den Ausdruck
philosophischer Gedanken schufen.
Der erste philosophische Schriftsteller war nach allgemeiner
Annahme Pherekydes 6 Sopto«;^), obgleich die Alten seine
Zeit offenbar nicht kannten und diesen Mangel*') durch die
willkürhchsten Vermutungen zu bedecken suchten; die einen
setzten ihn mit bequemem Synchronismus den sieben Weisen
gleichzeitig. ApoUodor dagegen verband seine Blütezeit mit
1) n. i?£o)v 2, 12, 6, vgl. Ps. Longin. ^epl u-^ouc 27, 2.
2) Wie Herodot und Thukydides begann er mit Nennung seine.s Namens
(Dion Chrys. 63 § 9).
3) De eloc. 12.
4) Ael. V. h. 13, 20.
6) Vgl. die Prolegomena von Sturz Pherecydis Lerii fragmenta, Lpg.
1824 und Joh. Conrad de Pherecydis Syrii aetate et cosmologia, Coblenz
18Ö6 (Diss. von Bonn).
6) Rhode Rhein. Mus. 33, 201 ff.
Anfänge der Prosa. 351
der seines Landsmannes Pythagoras^), dessen Lehrer er nach
anderen war. Da sein Vater den ungriechischen Namen Babys
trägt und er selbst ein Schüler der Phöniker heisst, ist als
Heimat des Pherekydes wahrscheinlich ursprünglich Syrien ge-
meint. So berichten in der That einige. '^) Es existierte von
ihm eine Schrift ,,über die Natur und die Götter", welche
'\lTzx6,]XMyoQ ,, siebenfaltig" hiess ^) und unverständlich wie das
Werk des Herakht war. ^) Davon ist die Theogonie oder Theo-
logie des Pherekydes von Leros^) in zehn Büchern wohl zu
unterscheiden. Der Inhalt jenes ohne Zweifel gefälschten
Buches liegt ziemlich im Dunkeln, aber als Archegetes der
Philosophie war sein Name noch später berühmt. Es soll sogar
Bildnisse des Mannes gegeben haben; Christodor will eines im
Zeuxippos gesehen haben und eine Statue*') und eine Büste'')
tragen noch (freüich ohne Grund) seinen Namen.
Die wirkhch wissenschaftlichen Versuche, die sichtbare
Natur zu erklären, gehen von den jonischen Physiologen ^) aus.
Der erste derselben, Thaies, der Sohn des Examyes , hinter-
liess, wie sicher feststeht, nichts schriftliches. ^)
Erst Anaximandros^") Sohn des Praxiades ^^) aus Milet,
eröffnete die eigentliche philosophische Schriftstellerei. Nach
Apollodor^^) war er, wie dieser offenbar aus einer historischen
1) Diog. L. 1, 121 und Eusebios (armenisch Ol. 60, 1, bei Synkellos Ol.
62, 1 neben Pythagoras [im arm.], Hier. Ol. 60, 4, P Ol. 60, 1, A 59, 4);
Cicero setzt ihn daher richtig unter Servius Tullius (Tusc. 1, 16, 38).
2) Sturz p. 2. Er starb angeblich an der Phtheiriasis oder den Tod
des Äsop.
3) Diog. L. 1, 116 ff. Suidas. Isid. orig. 1, 38 scheint zu meinen, dass
sie in Hexametern geschrieben war.
4) Clem. AI. ström. 5, 244 S. 676 P.
5) Preller ausgewählte Aufsätze S. 350 ff.
6) Aus Tivoli im Madrider Museum (bei Fea in der üebersetzung von
Wiuckelraanns Kunstgeschichte III p. 416, vgl. Hübner antike Bildwerke in
Madrid S. 110 Nr. 176; Michaelis Arch. Anz. 1863 S. 123). Vgl. hier und
im folgenden P. Schuster über die erhaltenen Portraits der griechischen
Philosophen, Lpg. 1876 mit 4 T.
7) Mus. Worsl. cl. 2 pl. 4.
8) K. Fr. H e r m a n n de philosophorum lonicorum aetatibus, Göttingen 1849.
9) Dies verbürgen Aristoteles, Diogenes (1, 23) und andere (z. B. Themist.
or. 26 p. 383 D.).
10) Jos. Neuhäuser Anaximander Milesius, Bonn 1883.
11) Diog. L. 2, 1. Simpl. comm. in Arist. phys. lib. I p. 3.
12) Diog. L. 2, 2.
352 11- Kapitel.
Andeutung seines Buches schloss, Ol. 58, 2 (547 d. h. wohl,
als Kyros den Kroisos besiegte) vierundsechzig Jahre alt, also
Ol. 42, 2 (611/10) geboren.^) Daraus ist die eusebianische
a%[i7] berechnet.^) Weil Anaxirnandros eine milesische Kolonie
nach dem pontischen Apollonia führte^), war er jedenfalls ein
vornehmer Mann. Er schrieb ein Buch mit dem gewöhnhchen
Titel der älteren philosophischen Werke Tiepl (pbGio<; in jonischem
Dialekte, wobei er sich einer so poetischen Ausdrucksweise
bediente, dass ihn von Xenophanes, Parmenides und Empe-
dokles imr das Versmass trennte.*) Dem späteren Altertum
lag die Schrift nicht mehr vor, doch las sie noch Apollo-
doros. ^) Weil Anaxirnandros zuerst eine Karte der ihm be-
kannten Welt entwarft), dichtete ihm Suidas eine y"^«; TcspioSoc
an. Die astronomischen Schriften itspl aTtXavwv, otpatpa und
ähnliche waren Fälschungen.
Anaximenes von Milet, Sohn des Eurystratos, war un-
gefähr mit ihm gleichzeitig; dagegen hat nicht viel Bedeutung,
dass ihn mehrere einen Schüler des Anaximandros nannten
und einige zum Hörer des Parmenides machten. '') Er galt
wenigstens als Zeitgenosse des Krösus *), nach dessen Regierungs-
antritte (Ol. 55)'') oder Sturze (Ol. 58)^") seine Zeit bestimmt
wurde. Nach Apollodor starb er Ol. 63, d. h. als Pythagoras
berühmt wurde. Die Schrift des Anaximenes Tcspl ^öaioq war
ebenfalls jonisch und in ungeschmückter Rede abgefasst^^);
1) Diog. L. 2, 2, vgl. Orig. cff.Xoaofp. I p. 12 Miller. Diogenes setzt
fälschlich hinzu, er habe unter Polykrates gelebt.
2) Statt Ol. 52, 2 (Hieron. B) nennen Synkellos und der armenische
Uebersetzer Ol. 61, 4, Hieronymus Ol. 51, 3 (50, 3 F, 61, 1 P).
3) Ael. V. h. 3, 17.
4) Fragmente in Mullachs Fragmenta philos. Graec. I 240; wir kennen
überhaupt nur drei.
5) Diog. L. 2, 2.
6) Diog. L. 2, 2. Eratosth. bei Strabo 1, 7; Schiek über die Himmels-
globen des Anaximander und Archimedes, Hanau 1843.
7) Diog. L. 2, 3. Suidas.
8) Da üb Jahrbb. 121, 24 f.
9) Porphyrios bei Suid. (Kohde Rhein. Mus. 33, 206); ebenso Ol. 55, 4 ,
Synkellos und Hieronymus, Ol. 66, l Hier. AP, Ol. 64, 3 F, Ol. 64, 4 S.
10) So Apollodoros nach Diels Rhein. Mus. 31, 27 und Rohde a. O.
(Ol. 58, 1 nach Orig. philos. p. 13 Miller).
11) Fragmente fehlen (Mal lach fragni. philos. Gr. I 241 f.).
Anfange der Prosa. 353
vielleicht oder wahrscheinlich ging sie der des Anaximandros
zeitlich voraus, weil sonst, wenn die Nachrichten der Alten
glaubwürdig sind, Anaximenes' Philosophie als ein Rückschritt
zu bezeichnen wäre. ^)
Der letzte bedeutende jonische Philosoph , der in Asien
nicht blos geboren wurde, sondern auch lehrte, war Hera-
klei tos von Ephesos, ein Sohn des Blyson aus könighchem
Geschlechte. ^) Seine Zeit lässt sich aus den polemischen Stellen
leicht bestimmen , denn er selbst greift bereits Hekataios an ^)
und wird seinerseits von Epicharmos*) und Parmenides gekannt.
Apollodor setzt ihn daher mit Recht an den Beginn des jonischen
Aufstandes Ol. 69 ^) oder 70. ^) Schuster möchte die Abfassung
der Schrift noch weiter herabdrücken , weil Herakleitos die
Ephesier wegen der Verbannung seines Freundes Hermodoros
schilt ; da aber dieser an der Decemviralgesetzgebung Teil ge-
nommen habe, sei er erst nach der Schlacht von Mykale ver-
bannt worden. '^) Diese Beweisführung ist keineswegs zwingend,
zumal es wohl gestattet sein dürfte, an jener gesetzgeberischen
Thätigkeit des Hermodoros zu zweifeln. Nach Aristoteles wurde
K^'-aklit sechzig Jahre alt. ^) Glaubwürdige Lebensnachrichten
fehlen bei diesem Philosophen vollständig. Einen weniger
anekdotenhaften Charakter Js andere hat die Erzählung, er
habe eine Einladung des Königs l^arius abgelehnt ^) ; doch hört
man von einem solchen Hellenismus Jieses Fürsten sonst nichts
und wenn er ihn aus politischen GrÜDv^en nach Susa berufen
hätte, dann würde ihm die Weigerung sicher das Leben ge-
kostet haben. Wir wollen also dieses Histörchen zu den an-
deren legen, welche seine Wunderlichkeiten in ein grelles Licht
stellen wollen. ^°) Eher Hesse sich hören , dass Herakht den
1) Christodoros V. 50 f. will seine Statue im Zeuxippos gesehen haben.
2) Schuster Acta philol. Lips. 3, 362 ff.
3) Fr. 23 Schuster.
4) Aristot. met. 3, 5 p. 1010a 5.
5) Diog. L. 9, 1 und Suidas ; Ol. 69, 3 Euseb. arm. vgl. Diels ßhein.
Mus. 31, 29 ff.
6) Ol. 70, 1 Hierou., 70, 4 Hier. B, 71, 1 Synkellos.
7) Schuster a. O. S. 80, 2.
8) Uiog. L. 8, 52.
9) Cleni. AI. ström. 1, 130 S. 854 P.
10) Schuster a. O. S. 361 f. Zu den Fabeln gehört auch, dass er sein Buch
nicht veröffeqtlichte, sondern der Arterais weihte.
Sittl, Gescliichte der griechischen Literatur. 23
354 1 ' • Kapitel.
ephesischeii Tyrannen Melankomas zur Abdankung bewog^);
aber nach aller Wahrscheinlichkeit nahm er trotz seiner könig-
lichen Abkunft an dem politischen Leben überhaupt nicht
Teil. ^) Darum blieb er trotz der mamiigfachen Umwälzungen
immer unangefochteu in seiner Vaterstadt, deren Mitbürger ihn
für einen ungefährlichen Philosophen halten mochten.^) Hera-
klit sprach freilich seine aristokratischen und antireligiösen Sätze
nur selten klar aus, sondern versteckte sie absichtlich *) in ausser-
ordentlich dunkle und geheimnisvolle Reden, die oft nicht
weniger schwer als die Orakel zu deuten waren ^); alles, was
er sagt, ist pointiert und voll von Antithesen.
Wir haben uns hier nicht mit den philosophischen Sätzen,
welche Herakleitos in seiner Schrift zspi 'fmioQ niederlegte, zu
beschäftigen. Wichtig ist uns jedoch einerseits sein Verhältnis
zur älteren Literatur, andererseits die Thätigkeit der Späteren.
Herakleitos stellt sich als echter Sonderling in allen Dingen
auf einen Standpimkt, welcher dem der Majorität der Mensch-
heit diametral entgegengesetzt ist. Was also den Griechen als
klassisch gilt, ist ihm ein Gegenstand des Spottes: „Gelehr-
samkeit schaft't an sich keinen Verstand. Sonst müsste sie ja
dem Hfcsiod und Pythagoras dazu verholfen haben und auch
noch dem Xenophanes und Hekataios." ^) „Bei den meisten
gilt Hesiod als Meister. Von dem sind sie überzeugt, dass er
das meiste weiss — er, der nicht einmal von Tag und Nacht
eine richtige Erkenntnis hatte! Denn beide sind im Grunde
dasselbe."') „Pythagoras, Mnesarchos Sohn, forschte am meisten
unter allen Menschen und aus seinen Aufzeichnungen sachte
1) Cleiu. AI. Str. a, O.
2) Schusters 7. Excure S. 77 ff. ist ohne reale Grundlage. Er trat sogar
die ererbtet Rechte eines Opferkönigs an seinen jüngeren Bruder ab.
3) In der Kaiserzeit brachten sie sein Bild auf ihren Münzen an
(Schuster a. O. 8. 366 f.; Ztsch. f. Numism. IX. T. 4, 21).
4) Bei Clem. AI. ström. 5, 252 S. 699 P äXXa xa |j.£v r?jc -("^(üztoiz ßä8-Yj
XpUJttetV ftlCtOTlT) U-(rxd"T^.
6) Aristot. rhet. 3, 5 p. 1407 b 14; ebenso Dem. de eloc. 192 und Theon
prog. p. 81, 30; Tinioii nannte ihn atvtxrfj-;. Sokrates soll gesagt haben,
man bedürfe, um in die Tiefen .seiner Philosophie einzudringen, eines delischen
Tauchers.
6) Fr. 23 Seh.
7) Fr. 26 Seh.
Anfänge der Prosa. 355
er sich dann seine eigene Weisheit zusauiuiiiu, Vielwisserei,
Pfusclierei". *) Die Aeusserungen über Xenophanes und Heka-
taios kennen wir nicht mehr, obgleich gerade bei jenem eine
P>läuterang sehr wünschenswert wäre; jedenfalls ist die V^iel-
wisserei auf philosophisch -physikalischem Gebiete zu suchen.^)
Heraklit legte aber auch den Massstab der Moral an die Literatur
an; darum sagte er: ,, Homer hätte verdient, vom Kampfplatze
der Sänger hinausgetrieben und mit Ruten gestrichen zu werden
und ebenso Archilochos." ^) Jenem warf er sogar Neigung zur
Astrologie vor. ^) Die Poesie verachtete Heraklit durchaus und
die Redekunst gefiel ihm ebenso wenig ^); daher legte er in
seinem eigenen Werke auf die Form nicht den geringsten Wert.
Herakleitos' Philosophie machte zu ihrer Zeit und während
der attischen Periode kein besonderes Aufsehen, wenn auch
mehrere Philosophen teils ablehne: id teils günstig zu ihr Stellung
nahmen. Er.^t die Stoiker widmeten ihr das fleissigste Studium
und kommentierten ihn mehrfach, so Herakleides Pontikos.'') Aus
ihren Kreisen gingen aucli die gefälschten heraklitoischen Briefe,
wahrscheinlich dem ersten Jahrhunderte nach Christus ange-
hörig, hervor, welche von fleh^-^igem Studium seines Werkes
zeugen.^) Auch die älteren Kirci.-^uväter liefern zahlreiche
Fragmente.
Eine brauchbare Sammlung der Fra^^mente^) liegt vor in
der umfänglichen Monographie P. Schusters ,, Heraklit von
Ephesus, ein Versuch, dessen Fragmente in ihrer ursprünglichen
Ordnung wieder herzustellen"^), der zugleich den Versuch
machte, den Gedankengang des Buches zu rekonstruieren.
Trotz des blendenden Scharfsinnes und der reichen Gelehrsam-
keit ist dieser Versuch nicht gelungen. Den Vorzug verdient
1) Fr. 22 Seh.
2) Schuster S. 372 f. denkt an mythologische oder antiquarische Ge
lehrsamkeit.
3) Fr. 134 Seh.
4) Fr. 135 Seh.
5) Gomperz Rhein. Mas. 32, 476 f.
6) Schuster a. O. S. 351 flf.
7) Jakob Bernays die heraklitischen Briefe, Berlin 1869.
8) lieber die ältere Literatur Schuster S. 355 ff. Unter den mehr philo-
logischen Arbeiten ist Jakob B e r n a y s Heraclitea, Bonn 1848 hervorzuheben
9) Acta societatis philologae Lipsiensis III (1873) S. 1 — 398.
23*
356 11- Kapitel.
die Ausgabe von J. Bywater (Heracliti Ephesii reliquiae, London
1877); ein neues Fragment teilt er aus Albertus Magnus im
Journal of pliilology 9, 230 ff., ein anderes Gomperz im Rhein.
Mus. 32, 476 f. mit. Jetzt ist auch A. Patins Schrift ,, Quellen-
studien zu Heraklit. Pseudohippokratische Schriften, Würzburg
1880 (in der Festschrift für Urlichs) beizuziehen.
In Unteritalien war gleichzeitig ebenfalls ein reges geistiges
Leben aufgeblüht, aber teils blieb es ohne literarische Frucht,
indem die Lehren von Mund zu Munde sich fortpflanzten, teils
wählten die Philosophen lieber das poetische Gewand, sei es,
dass ihnen die Prosa noch nicht geläufig war oder dass sie
ihren Sätzen durch rhapsodischen Vortrag in weiteren Kreisen
Eingang verschaffen wollten. Die Eleaten wählten die dich-
terische Form, weil ihnen Xenophanes hierin vorangegangen
war; doch haben wir über Parmenides und Zenon hier noch
nicht zu sprechen.
Die Pythagoreer dagegen zogen das mündliche Wort
vor; denn alles, was von Pythagoras selbst oder seineu nächsten
Schülern herrühren soll, ist unecht. Von den „goldenen Ver-
sen" des Pythagoras war bereits oben die Rede;^) es mag ver-
schiedenes davon auf alter Tradition beruhen. Die Späteren^)
sammelten ja derartige Sentenzen des Pythagoras (lloO-aYopixal
a;ro'f doste); Mullach stellt im ersten Bande der Fragmenta phi-
sophorum Graecorum p. 485 ff. einen Teil der Ueberreste
zusammen. Vieles ist noch in syrischer Uebertragung erhal-
ten.^) Direkte Fälschung liegt dagegen in den angeblichen
Schriften des Pythagoras über Erziehung (TcaiSsoTtxöv) und über
den Staat (TcoXtnxdv) vor. Kein grösseres Zutrauen verdient die
Schrift des Lukaners Okellos irspl rfic: toö rtavTÖg ^öasw«;;*) sie
ist im attischen Dialekte abgefasst und wird zuerst von Philon^)
angeführt. Dieses Buch sowie ein Bruchstück des Okellos Tiepi
vö(iö> gehören wahrscheinlich zu den unechten pythagorischen
Schriften, mit denen der pythagorisierende König Juba von
Mauretanien von literarischen Betrügern getäuscht wurde ;^) in
1) 8. 231.
2) So Aristoxeno» nach Stobuios.
8) Gildemeister Hermes 6, 81 fl'.
4) Zuletzt in MullachH fragm. phil. Graec. 1, 383 ff. abgedruckt.
5) Incorr, mund. 3.
6) David in Aristot. categ. p. 28 Bekker.
Anfange der Prosa. ' 357
einem unechten Briefe des Archytas^) kommen Schriften des
Okellos Tispl ßaaiXirjtaf: und Trspl oo'.ötyjto? vor. Der erste beglau-
bigte Schriftsteller der Pythagoreer ist Philolaos. ein Zeitgenosse
des Sokrates.
Unteritalien nimmt somit an der Gründung der griechi-
schen Prosa keinen Anteil; Theagenes von Rhegion soll frei-
lich schon unter Kambyses über Homer geschrieben haben,
aber eine solche Schrift war offenbar vor der Zeit der Sophistik
überhaupt nicht möglich und überdies erst durch die Angriffe
des Xenophanes und Herakleitos hervorgerufen. Jene törichte
Zeitangabe entsprang blos aus dem Synchronismus des ersten
Prosaikers von Unteritalien mit dem ersten Philosophen dessel-
ben Landes — mit Pythagoras.
Bei so früher Zeit ist es auch nicht möglich, dass die
Architekten Theodoros , Chersiphron und Metagenes wie
Vitruv (7 praei. p. 12) behauptet, über die von ihnen er-
bauten Tempel Schriften herausgaben. Von Fälschung dai'f
hier keine Rede sein; Brunn''*) dachte früher an praktische Auf-
zeichnungen. Semper^) vergleicht aber einen sehr wichtigen
Bauplan des Klosters Sankt Gallen, der mit Namen und Mass-
angaben versehen ist. Solche waren also aus dem Nachlasse
berühmter Tempelarchitekten überliefert und wurden von den
späteren fleissig studiert und kommentiert. Daher citiert Pollux
(10, 188) slxs 4>iXtöv £iT£ 0£ö5(rtpoc, indem er schwankt, ob die
Regel von dem Kommentator oder dem Baumeister selbst her-
rühre.
i) Hercher epistolographi Graeci p. 132.
2) Geschichte der griechischen Künstler I 37.
3) Der Stil II 445.
12. Kapitel.
Schluss.
Das Ende dieser Periode bezeichnet, wenn wir die politi-
schen Ereignisse lieranziehen wollen, die Herrschaft der Peisi-
stratiden und der jonische Aufstand. Das geistige Leben Grie-
chenlands hatte bisher von Asien her die schöpferischen An-
regungen empfangen. Von dort her waren alle Neuerungen
gekommen und wenn auch die eigentlichen Hellenen sich
in dem Geleisteten ohne Scheu mit den Ostgriechen messen
konnten, der Ruhm der Originalität gebührte doch den letzte-
ren. Daran änderte die Herrschaft der persischen Satrapen
anfangs wenig, aber sie übte nach und nach einen zersetzen-
den Einfluss aus, indem die Jonier die Waffen bei Seite legten
und in schwelgerischen Vergnügungen den Trost für ihre ver-
lorene Freiheit suchten. Die Energie des Scliaffens entschwand
und machte einer gewissen geistigen Dumpfheit Platz, welche
den frischen Aufschwung hinderte. Ein vernichtender Schlag
traf vollends die Kultur der Jonier, als die Perser ihren Auf-
stand nierlerwarfen und den Rebellen die jedem Griechen' not-
wendige Bewegungsfreiheit raubten. Die jonischen Refugies
nalimen, wohin sie kommen mochten, einen hohen Rang in
der geistigen Welt ein, aber sie mussten empfinden, dass sie
nicht mehr allein den Ton anzugeben hatten.
Wenn wir fragen , in welchem Staate bisher die Literatur
die freundlichste Aufnahme und die verständigste Pflege ge-
funden hatte, so müssen wir ohne Bedenken Sparta nennen.
Der spartanische Staat leidet noch immer unter dem Vorurteil,
er sei eine gegen aussen streng abgesperrte Kaserne, in welcher
die Disciplin als das einzige ideale Moment ohne Nebenbuhler
herrschte, gewesen ; zu diesem Zeiträume wenigstens passt die-
ses düstere von attischen Rhetoren und Komikern herstam-
Schluss. 359
mende Gemälde nicht im geringsten. Sparta war vor allem
der Mittelpunkt der chorischen Kunst, da das Fest der Kar-
neen aus allen Gegenden Meister herbeizog und das Volk von
Natur einen ausserordentlich feinen Sinn für Musik besass;*)
denn bei ihm hielt, wie sein Dichter sagte, das schöne Kithara-
spiel dem Eisen die Wage.'^) Sparta war somit, wenn auch
nicht durch aktive Bethätigung , der Vorort der griechischen
Literatur. Athen dagegen erscheint vor Solon und den Peisi-
stratiden blos als ein grosses Bauerndorf. Nachdem Solon die
jonische Elegie nach Attika verpflanzt hatte, thaten Peisistratos
und seine Söhne ausserordentlich viel für die Erweckung eines
höheren Sinnes. Sie führten die dramatischen Aufführungen
und den vollstän^'igen Vortrag der homerischen Epen ein und
sammelten bereits bJ.'"'^'^''. Damals etwa^) erstand, nachdern
der Peloponnes schon eine iNIenge von Kunstwerken hervorge-
bracht hatte, in Endoios endlich der erste attische Künstler.
Den eigentlichen Impuls des bhtzgleichen Emporschiessens gaben
aber die Perserkriege, welche durch die ungeheuere Bedrängnis
die ganze Fülle der Energie, welche den Athenern verliehen
war, entwickelten.
Warum treten aber von nun an die Dorier und ÄoHer
so sehr zurück? Aus dem einfachen Grunde, weil ihr Haupt-
talent der Lyrik und Musik zugewendet war; in dieser leisteten
sie allerdings noch hohes, aber allgemeinerer Anerkennung er-
freute sich nun die Redekunst. Den Doriern (besonders den
Spartanern und Argivern) fehlte jedoch von Natur die Rede-
gewandtheit, welche den Athenern angeboren war. Es ist also
nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, diese schnellfertige
Zunge habe Athen an die Spitze der griechischen Literatur ge-
bracht. Auch in der Poesie trat der rhetorische Zweig des
Dramas am meisten hervor; zudem entsprang dieser aus den
in Athen so sehr gepflegten Kulten des Dionysos und der
Demeter, welche die meisten Dorier nicht kannten.
1) Arist. rep. 8, 5 p. 1339b 2 oä [xavöavovtE^ Sjxux: oovavxai xptvetv öpi)-iiüc,
üj«; 'f aoL, zä -^pr^zzä. xal xä (xyj ypYjaxä twv [xsltüv. Aristandros von Faros stellte
daher Sparta als eine Frau mit Lyra dar. (Paus. 3, 18, 8).)
2) Alkman fr. 35.
3) Brunn Kunst bei Homer S. 44 ff. nimmt die siebzigste Olympiade
an.
Zio
Berichtigungen :
S. 12 A. 6 gehört „besonders — nennt'' zu A. 5.
S. 203 Z. 23 lies „fällt" statt „fehlt",
S. 264 Z. 2 lies „Gnomologie" statt „Genealogie"
GESCHICHTE
DER
GRIECHISCHEN LITERATUR
BIS AUF
ALEXANDER DEN GROSSEN
VON
D« KARL SITTL.
ZWEITER TEIL.
MÜNCHEN
THEODOR ACKERMANN
KÖNIGLICHER HOFBUCHHÄNDLEK
1886.
fl^
Vorrede.
Es ist nicht mehr 7a\ früh, wenn ich beim Erscheinen des
zweiten Bandes die Grundsätze, welchen ich gefolgt bin, zur
Beurteilung vorlege. Durch den Titel des Werkes habe ich
mich verpflichtet, die klassische Literatur bis zur Zeit Alexan-
ders darzustellen, womit übrigens nicht gesagt sein soll, dass,
falls mir Kraft und Freude bleiben, ich auf die Behandlung der
nachklassischen Literatur verzichte. Natürlich kann als Grenze
dieser beiden Hauptperioden nicht ein bestimmtes Jahr be-
zeichnet werden, sondern es ist in jeder Literaturgattung sowohl
ein passender Abschluss der klassischen Periode als auch ein charak-
teristischer Anfang des Nachklassischen anzustreben. Aristo-
teles darf selbstverständlich die klassische Periode nicht schliessen,
weil er der w^ahre Archegetes des gelehrten Zeitalters ist und
unendlich viele emsige Schüler Jahrhunderte lang von seinen
Ideen zehren. Andererseits gehört das Verkommen der ein-
zelnen Arten nicht mehr unserer Zeit an; die Periode darf
nicht mit einem Missklang enden, darum habe ich z. B. Dei-
narchos und die phrasenhafte Geschichtsschreibung der Iso-
krateer von der Klassicität ausgeschlossen.
Ueber die Einteilung des so begrenzten Stoffes dürfte in
der Hauptsache jetzt keine tiefgreifende Meinungsverschieden-
heit bestehen. Die bloss historische Darstellung ist ja bei der
griechischen Literatur so gut wie unmöglich, während die eido-
graphische zwar den konservativen Zug der hellenischen Literatur
und das Zurücktreten des Individualismus beleuchtet, aber der
EinheitUchkeit ermangelt. Es sind daher beide Methoden hier
IV Vorrode.
verschmolzen, freilich dürfte es keine Darstellungsart geben,
welcher nicht einige Unbequemlichkeiten anhafteten; die beste
ist gewiss die, welche die wenigsten mit sich führt.
Gemäss dem Titel ,, Geschichte'; ist eine mögliclist zusammen-
hängende geschichtliche Erzählung versucht, weshalb die Para-
grapheneinteilung wegfallen musste, zugleich konnte die ge-
wohnte Art, die Bibliographie mitzuschleppen, nicht fortbestehen.
Der Verfasser musste den Versuch machen, ob nicht die wüsten
Massen von Büchertiteln mit der Literaturgeschichte in orga-
nische Verbindung gesetzt werden könnten ; es ergab sich leicht
ein Grundprincip, welches dies ermöglichte. Hat doch die
Literaturgeschichte jetzt nicht mehr in der Biographie der
Autoreu, sondern in der Analyse der Schriftwerke ihren Schwer-
punkt, und sie muss noch weit mehr eine Geschichte der
Bücher werden.
Die Entstehung einer Schrift, ihre Wirkung auf die Zeit-
genossen und das Fortleben samrat der Beehiflussuug der fol-
genden Literatur und den Arbeiten der Gelehrten, verdient
ohnehin gewiss mehr Beachtung als die nicht immer dem An-
sehen förderlichen Lebensumstände des Schriftstellers und wird
dem ästhetischen Urteil nicht selten den richtigen Standpunkt
anweisen. Freilich stehen nur dem Erforscher der neueren
Literaturen die Materialien für die Geschichte eines Buches in
der erforderlichen Fülle zu Gebote. Hinsichtlich des Altertums
sind alte Quellen und neuere Vorarbeiten gerade für die inte-
ressanteren Seiten der Aufgabe recht spärlich. So darf ein
erster Versuch, das Nachleben der Schriften zu schildern, auf
eine milde Beurteilung rechnen.^)
Für die Darstellung der betreteneren Gebiete waren sowohl
die alten Quellen als auch die ungeheure philologische Literatur
beizuziehen. In Bezug auf die Kritik ersterer mag es in einer Mono-
graphie nicht zu grossen Schaden anrichten, wenn hier etwas
geleugnet, da etwas festgehalten und breitgeschlagen, dort ein
') In diesem Bande sind die Bildnisse der Schriftsteller nicht mehr er-
wähnt. Früher um einen p:i.sseuden Platz verlegen, freue ich mich jetzt auf
Baumeisters Denkmäler des khissischen Altertums verweisen zu können; ausser-
dem seien genannt .1. Hernoulli die erhaltoncn Bildnisse berühmter Griechen,
Basel 1877; Bürchner Ztsch. f. Numismatik 9, 109 ff; Imhoof-Blumer
Portraitköpfe auf antiken Münzen, Leipzig 1885 S. 68 f.
I
Vorrede. V
drittes umgedeutelt wird , wie es gerade dem scharfsinnigen
Verfasser zu seinem Vorhaben passt; bei einem grösseren Werke
müsste eine solche Art naturgemäss zu Schanden werden.
Während des letzten Jahrzehnts hat sich aber eine wissenschaftliche
Methode im Stillen herausgebildet, wenn sie auch vorläufig nur
auf dem Gebiete der Chronologie Dank den Arbeiten von Diels
und Rohde in weitere Kreise gedrungen ist. Aber dasselbe
kritische Prinzip muss auf l.'-;* o-esammte Ueberlieferung, welche
sicii auf die voralexandrinische Liternu^r bezieht, angewendet
werden. Vergegenwärtigen wir uns nur die Quellen der alten
Literarhistoriker! ürkundhches Material war, abgesehen von
Ehrendekreten oder Aufschriften von Statuen, nur für scenische
und lyrische Agone vorhanden. Die Gelehrten waren also haupt-
sächlich auf das angewiesen, was die Klassiker (ot TtaXatot,
ap/alot) entweder über sich selbst mitzuteilen für gut fanden
oder von einander zu Lob und Schimpf sagten. Solche Notizen
wurden ziemlich fleissig gesammelt und verarbeitet, ohne dass
der Grammatiker erwog, ob ein boshafter Gelegenheitswitz eines
Komikers denselben Wert habe wie das Zeugnis eines angesehenen
ernsten Mannes. Ausserdem schoss das Unkraut der Anekdoten
üppig auf, sei es, dass ältere anonyme Anekdoten auf berühmte
Männer bezogen wurden oder dass die Philosophenschuleu
durch allerlei parteiische oder gehässige Erfindungen einander
zu überbieten oder anzufeinden versuchten. Endlich hat die
Kombinationssucht und das Etymologisieren auch in der Lite-
raturgeschichte viel Unheil angerichtet. Da nun die Ueber-
lieferung so beschaffen ist, kommt es darauf an, ihr Gewebe
in die verschiedenen Bestandteile aufzulösen und womöglich die
Nachrichten der klassischen Zeit selbst hervorzusuchen. Können
wir für irgend eine Notiz eine solche primäre Quelle auffinden,
dann bedürfen wir aller derer nicht, welche sie daraus direkt
■oder mittelbar abgeschrieben haben. So genügt z. B. Pia tos
Zeugnis vollständig und es kann uns gleichgiltig sein , ob
Diogenes, Suidas und wie sie alle heissen mögen dieselbe Stelle
wie wir gelesen und notiert haben. Was dagegen die Späteren
selbst dazugethan haben, das gehört den Anmerkungen, damit
die Beschaffenheit der literarhistorischen Quellen dem, der sehen
will, vor Augen trete. Da für den zweiten Band die zeitge-
nössischen Quellen reichhcher fliessen, prägt sich hier die be-
VI Vorrede.
schriebene Methode deutlicher aus; es waren deshalb die alten
Quellen vollständiger anzuführen.
Die grossen äusseren Schwierigkeiten, mit denen der Ge-
schichtsschreiber der griechischen Literatur zu kämpfen hat,
beruhen vornehmlich auf den unendhchen Bücherreihen, welche
berücksichtigt werden sollen. So viel vier Bibliotheken Münchens,
deren Vorständen und Beamten ich öffentlich für ihr Entgegen-
kommen zu danken die Pflicht habe, liefern konnten, habe ich
excerpiert; manches Citat und manchen Titel (besonders von
Gymnasialprogrammen) musste ich trotzdem aus zweiter Hand
übernehmen. Auch mögen 15rmüdung und Ueberdruss in den
Excerpten gelegentlich Fehler verursacht haben, die ich, nicht
über eine sehr umfangreiche eigene Bibliothek verfügend, bei
der Revision passieren Hess. Aber wer selbst schon auf dem
dornigen Felde der Bibliographie sich abgemüht hat , wird
hierüber billig urteilen. Wertloses blieb weg, dagegen wurden
ältere Schriften angeführt, um an die Priorität zu erinnern.
Wiederholt habe ich einfach auf Schriften, wo man die ältere
Literatur verzeichnet findet, verwiesen. Uebrigens sei , um
Missverständnisse zu vermeiden bemerkt, dass die Anführung
eines Buches nicht besagt, der betreffende Absatz im Texte
sei daraus entnommen. Ich verweise dadurch nur den Leser,
welcher der Sache genauer nachgehen will, auf eine ausführ-
lichere Erörterung, mag auch der betreffende Verfasser ein dem
meinigen entgegengesetztes Resultat daraus gezogen haben.
Denn so vieles ich aus jenen Vorarbeiten verwerten konnte,
so notwendig war es, in dem Gewirre der entgegengesetzten und
vermittelnden Ansichten die Selbständigkeit des ürteiles zu
wahren. Wer von den offiziellen Lernjahren her eine bestimmte
Anschauung mitbringt und um die Hterarische Produktion sich
wenig bekümmert, pflegt die Vorstellung zu haben, eine Ge-
schichte der griechischen Literatur kominlitjre der, welcher nicht
ein älterer angesehener Gelehrter ist , aus einigen Dutzend
Schriften zusammen.
Bequem wäre dies freilich, aber wie viele der wichtigsten
Fragen sind denn so geklärt, dass sich eine bedeutende und
gewichtige Majorität für eine bestimmte Ansicht entschieden
hat? Ist nicht vielmehr der Normalzustand gerade der, dass
die Ansichten extrem und unversöhnlich sich gegenüberstehen?
Vorrede. VII
Wenn man nun weder für „Gebildete" schreibt, noch seine
eigene Ansicht hinter schwülstigen Phrasen verbirgt, hat man hier
überall Partei zu ergreifen. Glücklich wer einer bestimmten
Schule angehört ! Er macht es wenigstens Lehrern und Freunden
recht. Ich selbst glaube, ^^on dem Gedanken ausgehend, dass die
Kritik der neueren Leistun^'^n nicht minder notwendig ist als
die der alten Ueberlieferung, alie A^^ sichten nüchtern und un-
parteiisch geprüft zu haben.
Mit Rücksicht auf den Raum habe ich nach Kürze und
Klarheit des Ausdrucks gestrebt, zumal es mir persönhch nicht
zusagt, einen Panathenaikos oder Olympikos, den die leidigen
Thatsachen Lügen strafen, zu deklamieren. Der Literarhistoriker
der klassischen Zeit soll dem Leser nicht geistreiche Schlag-
wörter, welche oft nur falsche Vorstellungen erzeugen, an die
Hand geben, sondern die Lektüre der Werke selbst erleichtern
und zu selbständigem Urteil anregen, indem er getreuhch dar-
legt , was wir bereits wissen , noch nicht wissen und nicht
wissen können. Die moderne Fertigkeit, politische und
literarische Ereignisse mit spielender Hand zu verknüpfen —
man nennt das , glaube ich , pragmatische Darstellung — ist
mir leider nicht zu eigen. Nicht der Staat ist es , denke ich,
dessen Schicksale die der Literatur bestimmen, sondern was
man mit dem Worte ,, die Gesellschaft" bezeichnen kann. Selbst
die Perserkriege sind ja an der griechischen Literatur spurlos
vorübergegangen , aber das Luxusleben , das der daraus ent-
springende grosse Aufschwung des Handels mit sich führte,
war für die griechische Bildung von ausserordentlicher Be-
deutung.
Noch manches hätte ich auseinander zu setzen , was in
bestimmter Absicht geschehen ist, doch darf ich die Vorrede
nicht ungebührlich verlängern, denn auch der zweite Band im
besonderen fordert einige Vorbemerkungen.
Er ist der Prosa und nicht der Poesie der athenischen
Blütezeit gewidmet, weil die Sophistik sowohl das klassische
Zeitalter insgesammt beherrscht als auch für die folgenden Perioden
eine unvergleichlich grössere Bedeutung als die gleichzeitige Poesie
besitzt, wie durch diesen und den folgenden Teil hoffentlich darge-
than werden wird. Die Prosa ist so viel als möglich im Anschlüsse
an die alten Rhetoren gegliedert, wie ich mich überhaupt be-
VIII Vorrede.
müht habe, an die Griechen den Masstab ihrer Zeit und ihres
Landes anzulegen. Für die Geschichte der Beredsamkeit ist
Blass' Werk grundlegend, aber ich glaube, meine volle Selb-
ständigkeit bewahrt zu haben ; vor allem erscheint die Anord-
nung des Stoffes verändert, nicht als ob ich dadurch still-
schweigend gegen Blass' Disposition polemisieren wollte, sondern
weil es mir förderlich erschien, den Gegenstand auch von einer
anderen Seite zu betrachten. Die Geschichte der Philosophie,
wie überhaupt aller Wissenschaften ist bei Seite gelassen , ab-
gesehen von einigen Bemerkungen , welche auf die Persönlich-
keit eines Gelehrten Licht werfen. Indem ich noch bemerke,
dass dem dritten Bande ein ausführhcher Generalindex beige-
geben werden wird, erübrigen mir nur ein paat persönliche
Bemerkungen,
Vor zwei Jahren, als der erste Band dem Abschlüsse nahe
war, erfreute mich der verewigte Bursian, der durch die Aus-
hängebogen mit dem Buche bekannt war, durch die Annahme
der Widmung und das Versprechen, ,,mit Wort und Schrift ein
'treuer patronus" desselben zu werden ; genau sechs Wochen,
nachdem er das Dedikationsexemplar entgegengenommen hatte,
wurde seine Leiche bestattet. Gleichwohl hat sein Urteil, wie
das anderer unbefangener und vorurteilsloser Männer der
Wissenschaft mich freudig an die Fortsetzung des Werkes
gehen lassen. Allerdings hat es an Angriffen nicht gefehlt,
aber man weiss, dass sie von Persönhchkeiten ausgingen, die
an der Sache nicht uninteressiert sind ; zwei haben sich sogar,
indem sie aus sehr durchsichtigen Gründen mit der dürftigen
Verklausulierung ,,cum grano salis" oder „anscheinend" sich
deckten, nicht gescheut, meine persönliche Ehre anzugreifen.
Auch diesem Bande gegenüber werden dieselben ohne Zweifel
da.sselbe Verfahren einzuschlagen sich beeilen. Ich kann mich
leicht darüber trösten, nachdem schon der erste Band eine un-
verhoftt rasche und weite Verbreitung gefunden hat. Möge der
zweite die Zahl der Gönner und Freunde noch vermehren. Es
fällt mir nicht ein, auf Grund meines Alters eine andere Be-
urteilung zu erbitten als eine gerechte, aber ich vertraue da-
rauf, dass es in der Wissenschaft keine lex annalis gibt, auf
Grund deren Jüngere, das Streben, ihr nach Kräften zu dienen,
unterdrücken müssten.
München, im September 1885.
Karl Sittl.
/x
Inlialts-Uebertelcht.
Seite
Einleitung i
Erziehung und Bildung; politische Veränderungen; Volks-
versammlung und Gericht in Athen ; Buchhandel und
Lesen; die Sophisten.
(Kapitel: Die ersten Sophisten 14
Protagoras ; Stesimbrotos und andere Homeriker ; Pro-
dikos und Hippias.
2. Kapitel : Die älteren Prunkredner (Gorgias und seine Schule) . 33
Goigias; Polos, Likymnios, Alkidamas und die übrigen
Gorgianer; Stofle der Prunkreden.
3. Kapitel : Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit .... 56
IvoraxundTeisias; Thrasymachos; Theodoros; Antiphon ;
Polykrates und Zoilos; Rückblick.
4. Kapitel: Die Anfänge der politischen Beredsamkeit ... 78
Perikles und seine Nachfolger; Fälschungen (IV. und
III. Rede des Andokides); die Aristokraten: „Vom
Staat der Athener", Theramenes, Kritias, Andokides.
S.Kapitel: Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates .... 96
Isokrates : Leben ; gerichtliche Reden ; Reden gegen die
Sophisten, Helena und Busiris, über das Gespann;
die politischen Reden (in chronologischer Folge) ; „über
den Vermögenstausch" ; Fälschungen (Nikokles, Briefe,
Schreiben an Demonikos); Verlorenes; Stil und Ge-
dankeninhalt; Freunde und Feinde; Schüler; Fort-
leben der Schriften des Isokrates ; Handschriften und
Ausgaben.
6. Kapitel: Lysias und isaios 141
Lysias: Leben; Schulreden und Rhetorik ; Gerichts-
reden, ihre Zeit und Echtheit; Charakter der lysiaui-
schen Beredsamkeit; Geschichte der Schriften, Hand-
schriften und Ausgaben. Isaios: Leben; Reden;
Stil und Ethos ; äussere Geschichte bis auf unsere Zeit.
T.Kapitel: Demosthenes 166
Biographien; Leben und Wirken (mit Einschluss der
Staatsreden) ; Charakter und Politik ; die unechten
Staatsreden; die für öffentliche Processe verfassten
Reden; Privatreden; die Kunst des Demosthenes;
äussere Geschichte seiner Schriften vom Altertum
bis auf unsere Zeit.
8. Kapitel :
9. Kapitel
10. Kapitel
II. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Seite
Die Zeitgenossen des Demosthenes 246
Aischines; Hypereides; Lykurgos; Polyeuktos ; Aristo-
geiton; Pytlieas; Philinos und Kallikrates.
Der Dialog (Plato) 270
Die Eristiker: Zenon und Melissos, die ^v/.rj\ o'.aXE|Ei<:;
Sokratischer Dialog: Die Dialoge von zweifelhafter
Echtheit, Kebes, Antisthenes, Aischines; Plato:
Leben, Charakter und Wissen, unechte Schriften,
chronologische Ordnung, Abfassungszeit, die echten
Werke geordnet nach der äusseren Form, Charak-
teristik des Dialoges, Stil, Nachahmer, Kritik und
Erklärung bis auf unsere Zeit.
Die kunstlose Geschichtsschreibung 352
Städtechroniken ; Hippeus von Rhegion ; Antiochos von
Syrakus ; Xanthos ; Genealogien (Pherekydes) ; Charon
von Lampsakos, Hellanikos, Skamon und Damastes;
geographische Werke (Skylax).
Herodot und Ktesias 368
Plerodot: Lebensgeschichte; Weltanschauung; Studien
und Kritik; Komposition des Werkes; Schluss und
alhnälige Entstehung desselben; Stil; äussere Ge-
schichte; Kteeias, Deinonund Herakleides von Kyme.
Thukydides und Philistos 401
Thukydides: Biographien, Leben, Abfassungszeit
seines Buches, religiöse und politische Ansichten, Zu-
verlässigkeit, Komposition des Werkes, Reden, Stil,
Wertschätzung bei den Späteren, Schoben, Hand-
schriften und Ausgaben; Philistos und Athanas.
Xenophon 432
Biographie und Charakter ; Anabasis (Sophainetos), Hel-
lenika, Agesilaos ; Kyropädie und sokratische Bücher ;
über den spartanischen Staat und die athenischen
Finanzen; Schriften über den Reiterdienst; Jagdhuch;
Hieron; Reihenfolge der Schriften; der jüngere Xeno-
phon; Stil; Wertschätzung; Handschriften u. Ausgaben.
Die Fachliteratur . .476
Naturforscher: Anaxagoras, Archelaos und Diogenes;
Leiikippos und Demokritos; Ion und Andren; Pytha-
goreer (Timaios, Okelos, Philolaos und Archytas).
Mathematiker, Astronomen und Mediciner. Militärische
Literatur.
Einleitung.
Erziehung und Bildung; politische Veränderungen ; Volksversammlung und
Gericht in Athen; Buchhandel und Lesen; die Sophisten.
Vor den Perserkriegen bewegte sich das Leben der griechischen
Staaten in einem beschränkten Kreise. Adel und ererbter
Reichtum waren die leitenden Mächte ; selbst wo freiere Ein-
richtungen bestanden, lag in der Sitte der Väter ein gewichtiges
Hindernis durchgreifender Aenderungen. Der Bürger that sich,
wenn anders ihn seine Geburt den bevorrechteten Ständen zu-
teilte, durch natürliche Klugheit oder die Erfahrung eines
langen Lebens hervor. Gebildete und Ungebildete waren noch
kaum geschieden, denn wenig war, was zu erlernen notwendig
oder nützlich schien: Die körperlichen Uebungen in den
Gymnasien förderten die Wehrhaftigkeit des jungen Bürgers,
während die Musik nach der allgemeinen Ansicht der Griechen
seine Gefühle und Leidenschaften regelte und mässigte. Wenn
der Knabe ausserdem in einigen Dichtersprüchen die sittlichen
Anschauungen seines Volkes kennen gelernt hatte, war die
Erziehung, soweit die Eltern sie fremden Lehrern überliessen,
abgeschlossen. Die Einführung der Schrift vermehrte den Lehr-
plan um Lesen und Schreiben ; denn der Bürger bedurfte dieser
Kunst, um Gesetze oder öffentliche Ankündigungen verstehen
und Handelsgeschäfte abschliessen zu können. Alles ward ja
auf den Staat bezogen.
Ueber die trostlosen Wirren des politischen Streites erhob
den Griechen der Gedanke an die Götter. Auch das kleinste
Städtchen setzte seinen Stolz darein, sie in glänzender Weise
zu feiern. Alle Schöpfungen der älteren griechischen Kunst
standen unmittelbar oder indirekt mit dem Götterdienste in
Bittl, Geschichte d«r griechischen Literatur. II. 1
2 Einleitung.
Verbindung. Ebenso verbanden viele Fäden die Poesie mit dem
Kultus ; denn man wusste keinen schöneren Schmuck der Feste
als die öffentliche Recitation oder Aufführung von Dichtungen.
Darum stand keine griechische Regierung, am wenigsten die
Tyrannis, zurück, wo es Künstler, Musiker und Dichter zu
ehren und zu belohnen galt. Von der öffentlichen Meinung
begünstigt, ja oft verwöhnt und durch die langjährige Tradition,
welche vom Aelteren auf den Jüngeren, oft auch vom Vater
auf den Sohn sich vererbte, ungemein gefördert, mussten jene
der Vollkommenheit immer näher kommen. So war es vor
den Perserkriegen gewesen und so blieb es auch im klassischen
Zeitalter.
Unter ganz anderen Bedingungen wuchs die klassische
Prosa heran. Die spärlichen Inkunabeln, die am Ende des
ersten Bandes eine Stelle fanden, besassen blos für die Geschichte
der Wissenschaften einen gewissen Wert; es gab vor den
Perserkriegen noch keine Prosaschriftsteller, sondern nur Ge-
lehrte, welche, wiederum für Gelehrte, die Früchte ihrer Studien
formlos aufzeichneten. Die Masse des Volkes blieb davon un-
berührt, sie redete vielmehr von gelehrtem Müssiggang, den
sich nur reiche Leute aus Laune gestatten köimten. Die
Naturforscher verfielen wegen ihrer unpraktischen Thätigkeit
dem Volkswitze ^) und imponierten ihren Landsleuten bloss
dann, wenn sie den Bauern das Wetter vorhersagten oder durch
Ankündigung von Naturerscheinungen abergläubische Furcht
verhüteten. Herakleitos ist der beste Repräsentant dieser
menschenscheuen Gelehrten, welche nicht für ihr Volk, sondern
für sich und ein paar Schüler schrieben.
Eine Aenderung aller dieser Verhältnisse konnte nicht
von dem damaligen Vororte Griechenlands ausgehen, weil in
Sparta die militärische Dressur alle übrigen Interessen einengte.
Die Jonier dagegen waren von jeher die neuerungssüchtigsten
unter den Griechen ; welcher andere Zweig dieses Stammes
aber hatte im fünften Jahrhunderte noch Macht und Energie
zu Neuerungen gewahrt als die Athener? Welche Kraft der
weise Solon und die hochsinnigen Peisistratiden dem kleinen
1) Ausser den Wolken des Aristophaues .sind z. B. Plat. Theaet. 174 a.
Xeuopb. couv ü, 8. Biou bei Pluturch. de lib. educ. 10 unzuführen.
Einleitung. 3
Staate, von dem man ehedem kaum sprach, eiiigeflösst hatten,
trat mit einem Male nach der Vertreibung der Tyrannen hervor ^).
In kürzester Zeit erhob sich Athen, das niclit lange Vorher nur
mit äusserster Anstrengung den Sieg über Aigina errangen
hatte, zu einer Seemacht. Die Eroberung von Chalkis, die
Unterstützung der jouischen Stammesgenossen, welchen die
mächtigen Spartaner kurzsichtig ihre Hilfe verweigert hatten,
die Anlegung des Piräushafens und der erneute Krieg mit der
Nebenbuhlerin Aigina folgten sich Schlag auf Schlag, augen-
scheinlich um desselben Zieles willen bewusst ins Werk gesetzt. Die
Perserkriege, weit entfernt die natürhche Entwicklung Athens
aufzuhalten, beförderten sie vielmehr in erstaunlichem Masse.
Dank der Schwerfälligkeit Spartas fiel den rührigen Athenern
mit dem grösseren Teile des Ruhmes zugleich der volle materielle
Gewinn zu. Seitdem Athen durch den Anschluss der Seestädte
die griechischen Meere und den gesammten Handel beherrschte,
strömte ein ungeheurer Reichtum dort zusammen, welcher den
Athenern gestattete, ihre Stadt zur schönsten und prächtigsten
in Griechenland zu erheben. Die Steuern der Bundesgenossen
und Unterthanen kamen in gleicher Weise den Götterfesten
zu Gute ; denn in prächtigen Tempeln, Bildwerken und Festen
zeigte jede hellenische Stadt ihren Reichtum. Nun waren auch
die materiellen Grundlagen für die herrliche Entfaltung der
Poesie und der übrigen Künste gegeben; doch unterscheidet
sich die Periode, welche der Sturz der Peisistratidenherrschaft
und die Perserkriege einer-, die Schlacht von Chaironeia anderer-
seits begränzen, auf diesem Gebiete nicht prinzipiell von der
älteren Zeit.
Als aber das befreite Athen allmälig zu einem Handels-
und Industriestaate wurde, musste es seine Verfassung immer
mehr demokratisieren ; war es doch billig, dass die Bürger, auf
deren Arbeit die Macht des Staates ruhte, zum mindesten die
gleichen Rechte wie die Grundbesitzer erhielten. Stufenweise
ging daher Athen zur reinen Demokratie über und das ganze
Volk wurde souverän. Jeder beliebige, mochte er reich oder
arm, vornehm oder von niederen Eltern sein, konnte nun eine
l)Herod. 5,78 'AS-Tjvaloi TupavvEü6fj.£vot p.Ev oüSafiwv Tuiv otflac neptoixeovTwv
ijoav td noKi\iia djielvotx;, «TCaXXaj^ä-svtEC 8e xupävvcov jj.axp(i) itptiüxot syevovxo.
1*
4 Einleitung.
politische Rolle spielen, wenn er seinen Mitbürgern imponierte.
Was eröffnete aber dazu am sichersten den Weg in einer Stadt,
wo die Bürger rasch dachten und rasch sprachen ^), wo die Kinder,
wie die Griechen scherzend behaupteten, um einen Monat früher
als anderswo zu reden begannen ^), wo man kaum ein grösseres
Vergnügen kannte, als bald selbst zu sprechen bald andere
sprechen zu hören ^)? Selbstverständlich Beredsamkeit. Der
Buchstabe der Verfassung räumte freilich jedem Bürger das
Recht öffentlich seine Meinung zu sagen (loYjYopta) ein*), aber
wo eine aufgeregte lärmende Volksversammlung mit beissendem
Witze alles, was ihr lächerlich schien, sofort rügte und den
Redner, der nicht gefiel, am Weitersprechen hinderte ^), konnte
der Unerfahrene nicht ohne weiteres die Rednerbühne besteigen.
Wer aber nicht in Verwirrung geriet und den rechten Ton an-
zuschlagen wusste, erreichte mit dem lebendigen Worte alles.
Die grosse bunt zusammengesetzte Volksversammlung beriet,
zumal in aufgeregten Zeiten, mit wenig Ueberlegung und
schwankte häufig zwischen Extremen hin und her. Der Redner
stand hier also nicht, wie unsere Parlamentarier, geschlossenen
Parteien mit vorgefassten Meinungen gegenüber, sondern vor
einer Zuhörerscliaft, die er zu Gunsten seiner Ansicht zu
stimmen hoffen durfte. Weil demnach das Volk in der Regel
nach dem augenblicklichen Eindruck, den es durch eine ge-
schickte Rede empfangen hatte, stimmte, lässt sich in der
athenischen Geschichte selten eine konsequente Politik wahr-
nehmen. Durch die Redekunst also wussten die Staatsmänner
1) Dicaearch. vit, Graec. 1,4. Ps. Demosth. 10,3 u. A. ; Herod. 1, 60
xoioi npcütotot XsYOjJLEVotot elvat *EXXT|va)v ootpifjv. Lsocr. 8, 52 ixpooTco'.oüfjiEvcii
84 oo^ptutaTot xü)v 'KXX4jvu>v eivai. Plat. Protag. 319 b.
2)Tertulliau. de auima 20.
3) Plato leg. l,(341e tyjv moXiv Sitavtsi; 4]}jlü)V "EXXtjvec 6jcoXajjißovouoiv
(«C ^tXoXoYÖC t4 satt xal koX6Xoi('o<;. Die Wandlungen, welche das Wort
<ftX6XoYo<; dnrchzumachen hatte, beleuchtet K. Lehrs de vocabulis tptXöXoYoc
YpajtjiaTixoi; xpiTixö^, Königsberg 1838 (abgedruckt hinter Herodiani scripta
tria emendntioru, Königsberg 1848).
4) K. Hermann griechische Staatsalterthümer § 66, 6; z. B. Demosth.
15, 18. 21, 124.
5) Wie es selbst in der Volksversammlung einer kleinen griechischen
Stadt zuging, schildert Dion Chrysoatomos 7, 24 fi".; Lucian (Prometh. in
verb. 1) erwähnt den ^Lü%'zr^^ ''Axtixöc.
Einleitung. 5
Athens die Souveränität des Volkes für ihre Politik auszubeuten ^),
durch die Beredsamkeit allein erhielt sich Perikles Jahrzehnte
lang sicherer an der Spitze des Staates als ein Gewaltherrscher
mit einem grossen Söldnerheere vermocht hätte.
Die Demokratie gestaltete in Athen sogar die Gerichte um.
Es gab hier keine geschlossenen Gerichtshöfe, sondern Volks-
gerichte. In jenen hätte die gerichtliche Beredsamkeit nie ihre
Blüte erlangt, denn Richterkollegien würden die sachliche Führung
Von Anklage und Verteidigung erzwungen haben. In Athen
selbst überdauerte nur das geheiligte Gericht auf dem Areopag
die demokratischen Reformen und hier bestand noch die alte
Satzung in Kraft, dass beide Parteien blos über das zum Falle
selbst gehörige sprechen sollten ^); widrigenfalls gebot ihnen
der Herold Einhalt^). Die gleiche Geschäftsordnung galt in
mehreren — man darf wohl sagen, in allen oligarchischen
Staaten Griechenlands *). Wie nützlich solche Bestimmungen
waren, zeigten die gewöhnHchen Gerichte Athens. Die Mangel-
haftigkeit der Gesetzgebung hätte durch geübte Richter aus-
geglichen werden können, aber wahrhaft verhängnisvoll wurde
sie bei den grossen Schaaren von Geschworenen, welche eine
oberflächliche Kenntnis der Gesetze mitbrachten und zum grössten
Teile den niederen Klassen der Bürgerschaft angehörten, denn
solche lockte der Richtersold. Wie sich dem entsprechend die
Geschworenen nicht gerade würdig benahmen^), so trugen die
streitenden Parteien ihren Neigungen Rechnung, wenn sie sich
gegenseitig mit Schmähworten überschütteten. Den meisten
Richtern fehlten die zur Entscheidung einer schwierigen Streit-
frage notwendigen Kenntnisse. Da ihnen jedoch die Gesetze
von den Parteien vorgelesen und erklärt wurden, hätten auf-
geweckte. Köpfe danach ohne grosse Mühe ein Urteil fällen
können, wenn nur die Zeugenvernehmung viel mehr als eine
1^ Isocrat. 15, 230 ff.; vgl. auch Plato com, fr. 50. Ps. Lys. entxatp. 19.
Noch später, als die Beredsamkeit nicht mehr dieselbe Bedeutung hatte, klingt
dies nach (z. B. Tacit. dial. 5. Dio Chrys. XVIII. Procop. epist. 80).
2) Antiph. 6, 9. 14. Lys. 3, 46. 7, 42. Lycurg. Leoer. 12 u. A., s. Spengel
Aristo telis ars rhetorica II p. 14 f.
3) Lucian. Anachars. 19 (von Quintilian 4, 1, 7 falschlich verallgemeinert),
4) Aristot. rhetor. 1,1 p. 1354 a 18.
5) Aristoph. Vesp. 622 ff.
ß Emleitnng.
blosse Form gewesen wäre. Denn die Bürger trauten sich
untereinander so wenig Glaubwürdigkeit zu, dass die Aussagen
der freien Zeugen wenig galten^). Man zog ihnen die auf der
Folter erpressten Aussagen gemeiner Sclaven vorl Unter solchen
Verhältnissen war den Processierenden ihr Verfaliren klar vor-
gezeichnet. Es galt, nicht blos sein Recht durch sachgemässe
Beweise darzuthun, da ja, wer an der Wahrhaftigkeit der
Zeugen zweifelte, dem in eigener Sache Sprechenden noch
weniger traute, als die Richter in die rechte Stimmung zu veV-
setzen ^). Der Ankläger pflegte in der Regel die Geschworenen
dadurch zur Erbitterung zu reizen, dass er ein Zerrbild von
dem Charakter des Angeklagten entwarf und ihm womöglich
Versäumung einer Bürgerpflicht oder undemokratische Gesinnung
nachzuweisen versuchte. Der Angeklagte hingegen bemühte
sich um das Mitleid der Richter, zu welchem Zwecke er Thränen
und Bitten, mit Schmeicheleien vermischt, nicht sparte ^) und
zum Schlüsse oft die weinenden Kinder^) oder den alten Vater
vorführte^), oder er wagte durch Schmähung des Gegners die
Aufmerksamkeit von den Klagepunkten abzulenken^). Auch
konnte es nicht schaden, wenn man die Richter durch Fabeln
oder Witze in vergnügte Stimmung versetzte ''). Schon zu
Üdysseus' Zeiten hatte den Griechen die wohl ersonnene Lüge
besser als die ungeschmückte Wahrheit gefallen ; nicht umsonst
war die Beredsamkeit, gerade wie der Betrug, dem Hermes
geweiht **). Man gab sogar im Notfalle die Gesetze ungenau
an^). Dabei ist übrigens nicht zu vergessen, dass die allgemeine
Anschauung dem Feinde mit allen möglichen Mitteln zu schaden
geradezu gebot.
Kein alter Rhetor hat deshalb den klassischen Rednern
1) Die hieher gehörigen Stellen der Redner dürften bekannt sein. Ari-
stophanes bekräftigt sie (Vesp. 782).
2) Vgl. Aristot. rhetor. 1, 1 p. 1364 b 16 ff.
3) z. B. Aristoph. Vesp. 664 f. Demostb. 21, 75.
4) Aristoph. Vesp. 568 ff.
6) Aeschin. de falsa legat. 179.
6) Aeschin. Timarch. 178.
7) Vgl. Aristoph. Vesp. 566 ff.
8) Lucian. Herc. 4; über 'Kpix-rj'; XÖYtoc Preller griechische Mytho-
logie V 340. 342.
9) Bärmann Rhein. Mus. :i2, 383 f.
Einleitung. 7
trotz ihrer Künste alles geglaubt; sie brachten ihnen ebenso
wenig naive Gläubigkeit entgegen, wie die Athener, zu welchen
jene gesprochen hatten ^). Diese verhehlten sich nicht, dass oft
der blendende Schein oder die Leidenschafthchkeit des Wortes
über die Gerechtigkeit der Sache den Sieg davon trug ^). Der
athenische Staat glaubte die Gleichstellung aller Bürger herbei-
zuführen, wenn er von jedem verlangte, dass er seine Sache
vor Gericht selbst vertrete; nur für die Frauen sollte ein Ver-
wandter einstehen. ■^). Dank dieser Massregel war der Unschuldige
verloren , wenn er , selbst ungeübt , einem nichtswürdigen
Rabulisten gegenüber stand. Der Gesetzgeber erreichte daher
nichts anderes als dass ein lästiger Schwärm von Sykophanten
heranwuchs , welche die wohlhabenden Bürger mit frivolen
Processen verfolgten. Indem solche Menschen „beinahe ihre
Wohnung in den Gerichtssälen aufschlugen",*) erwarben sie
sich, bald anklagend bald bei anderen Processen zuhörend,
eine grosse Uebung in den beUebten Schlagworten und Finten.
Die ruhigen Leute wurden dadurch genötigt, bei Männern,
welche durch genaue Kenntnis der Gesetze und durch Er-
fahrung hervorragten, Hilfe zu suchen. Ein solcher Rechts-
konsulent war wegen der argen Processiersucht der Athener
eine vielumworbene Persönlichkeit. ^) Seine Ratschläge erstreckten
sich wohl zunächst auf die allgemeinen Gedanken der Rede; es
ging aber aus diesen Kreisen vielleicht auch manche halb
1) Griechische Belege sind überflüssig; einige römische stellt Teuf fei
röm. LG § 43,2 zusammen, unter den Plin. epist. 2,3 (nos enim qui in foro
verisque litibus teriniur mnltum malitiae, quamvis nolimus, addiscimus)
Beachtung verdient. Eine unbefangene Würdigung der antiken Beredsamkeit
fand man im vorigen Jahrhunderte bei Gillies (Uebersetzung des Lysias und
Isokrates), Eeiske (Uebersetzung des Demosthenes und Aeschines) und Herder
(Ideen zur Philosophie der Geschichte XIH 4 S. 429 Kurz); in neuerer Zeit
hatte sie besonders an L. Spengel einen sachkundigen Beurteiler.
2) Eurip. fr. 67 N: d.-(X(uaaicf. 81 KoWä-n-K: XYjtp^slc öcvijp Bixata Xe^a«;
Tiaoov zh-^lMoaoo (pepet; Ps. Andocid. 4,27. Vgl. Demosth. 24, 156. Aeschin 3,248.
3) Meier u. Schümann, der attische Process S. 707 ff.
4) So drückt sich Isokrates 15, 38 aus; vgl. Plat. Theaet. 17, 2 c: sv
StxaaTfjpio'-c £x vecuv xuXtv?o6|j.£voi, auch Aristoph. Nub. 1003 f.
5) Aristoph. Nub. 469 ff. Von Antiphon sagt Thukydides 8, 68, 1 : xouc
ftY«)VtCofJ.Evouc xal ev 8'.-/caoxY]pt({) xal Iv S-rjutp ^Xeiot« elz ivfjp, Satte
4o}ißoüXe6aaix6 xi Soväjxevoc üxpsXelv.
3 Einleitung.
rhetorische Regel hervor, z. B. dass man am Schlüsse die be-
sprochenen Hauptpunkte kurz zusammenstellen solle ^). Ganz
besonders aber ist ihnen wahrscheinlich ein Teil der sogenannten
Gemeinplätze zu danken, welche die Komiker schon früh zur
Parodie reizten ^). Man schritt von der blossen Beihilfe der
Rechtskonsulenten dazu fort, dass sie ihren Klienten die Reden
vollständig aufsetzten; letztere hatten dann blos das Koncept
auswendig zu lernen. Aber diese Unterstützung trug einen
durchaus privaten Charakter; Advokaten in unserem Siime
duldete das Gesetz nicht. Doch fehlte es nicht an Mitteln, es
zu umgehen. Schon dass ein Anderer für Geld die Rede
schrieb, widersprach, weil der reiche Bürger dadurch dem
ärmeren überlegen war, dem ganzen Geiste der Gesetzgebung.
Auch die Erlaubnis, Fürsprecher (ouvYjYopot) beizuziehen, führte
zur faktischen Aufhebung des Gesetzes; denn es kam vor,
dass der Ankläger oder Angeklagte nur um der Form willen
wenige Worte sprach und dem angeblichen Fürsprecher die
Hauptrede Überhess ^). Erst in der Jugendzeit des Demosthenes
kam die Sitte auf, derartige Fürsprecher für Geld zu mieten*),
doch durfte die Oeffentlichkeit nicht wissen, dass sie nicht aus
Ueberzeugung und Freundschaft, sondern für Geld auftraten.
1) riat. Lysis 222e.
2) Aristoph, Vesp. 950 f. Kratinos bei Clem. ström. 6, 748 (Diels
Sitzungsber. der Berliner Akad. 1884 S. 367 u. U. v. Wilamowitz homer.
Untersuch. S. 312 A. 9 nehmen an, er parodiere ein bestimmtes Handbuch,
vgl. auch Aristot. rhetor. 3, 7 p. 1408a 34 mit Spengels Note. Die Volks-
redeu blieben ebensowenig von solchen Allgemeinheiten frei (parodiert bei
Aristoph. Thesmoph. 383 flf.). Genauere Untersuchungen über die Gemeinplätze
sind zu wünschen; Abhandlungen, wie Gust. Gebauer de praeteritionis
Ibrniis apud oratores Atticos, Leipzig 1874 (Festschrift von Zwickau) und de
hyjwtacticis et paratacticis argunienti ex contrario formis quae reperiuntur
apud oratores Atticos, Zwickau 1877; K. Schepe de trausitionis formuJis
quibus oratores Attici praeter Isocratem Aeschinem Demosthenemque ntuntor,
Pr. V. Bückeburg 1878, auch Mor. H.E.Meier opuscula academica II (1863)
p. 307 ff. streifen das Gebiet nur.
3) So geschah es bei den Reden für Phormion, und gegen Neaira,
wahrscheinlich auch im Krauzprozesse.
4) Demosth. 61, 16. Lycurg. Leoer. 138. Dinarch. 1, 111; vgl. Plat.
leg. 11, 938 b. Nach Ps. Plut. 848 e war Hypereides der erste, dem wider-
spricht aljer die Stelle bei Plato.
Einleitung. 9
Demnach darf man nicht einmal diese als Advokaten in unserem
Sinne bezeichnen.
Für die Verhandlungen in der Volksversammlung war
fremde Beihilfe nicht üblich. Wahrscheinlich genügten , wie
jetzt in Frankreich , die pohtischen Klubbs (sratpiai) dem
dringendsten Bedürfnisse ; aber die Strebsamen begehrten eine
förmliche Vorbildung, welche ihnen nicht, wie wir meinen
möchten, historische, geographische und uationalökonomische
Kenntnisse, sondern Beredsamkeit und Schlagfertigkeit gäbe^).
Anaxagoras konnte ihnen das noch nicht bieten, was sie be-
gehrten, wiewolil er durch die Annahme eines ordnenden Welt-
geistes gewissermassen den ersten Schritt von der Naturkunde
zur Staatswissenschaft machte und zuerst Dilettanten zu Schülern
hatte. Wenn auch die Pythagoreer für das bürgerliche Leben
erzogen wurden, widersprach doch ihr Cliquenwesen und ihre
Geheimniskrämerei dem demokratischen Geiste allzu sehr.
In Athen bereiteten also die reine Demokratie und die
schlimmen Zustände der Rechtspflege den günstigsten Boden
für einen Mann, welcher ehrgeizige Jünglinge zur Teilnahme
am öffenthchen Leben heranbilden wollte; hier besassen auch
die Bürger die notwendige Begabung'^) und Regsamkeit, um
das Neue rasch zu durchdringen und bald selbstthätig zu ver-
vollkommnen. In den nicht demokratischen Staaten konnte
die neue Bildung keine festen Wurzeln fassen, weil sie mit
dem öfifentHchen Leben kaum in Zusammenhang stand, sondern
mehr die augenblickliche Laune reicher Aristokraten, die bald
wieder zum Pferdesport zurückkehrten, ausmachte; darum hatte
zwar Gorgias in Thessalien noch grössere Erfolge als in Athen
aufzuweisen und doch hinterliess sein Aufenthalt dort keine
Spuren. Die Böoter und Eleer waren wegen ihrer schweren
Zunge verrufen , den Spartanern und Argivern fehlte es zwar
weder an Schlagfertigkeit noch waren sie für Beredsamkeit
unempfänglich ^), aber wortreich und schön zu sprechen ver-
1) Ti av stitotfJiEV a^töv (töv oocptoxYjv) eivat, du ScüxpatEC? ^ EiriOTaxfjv
Toö TCOfTjoai Seivöv XeYetv; sagt der junge Hippokrates auf dem Wege zu Pro-
tagoras (Plat. Protag, 312 c).
2) Plato leg. 1, 642 c xo xs ötzo ttoXXcüv XeYOfisvov, wc 8oot 'AS-vjvatwv
slalv afot%-oi, Stacpopovxtu? elal zoiobzoi, Sonsl äXr^d-iora.xa Xifso^-at.
3) Darauf deutet die Erzählung bei Aeschin. 1, 180 f.; daher sind
] Q Einleitung.
standen sie nicht und begehrten auch nicht danach. Die
Fürsten interessierten sich für Poesie und Musik, die ihrer
Herrschaft Glanz, ihren Unterthanen Zerstreuung gewährten,
aber Sophisten waren selten an den Höfen zu finden, ausser
wo, wie auf Cypern und Makedonien der Zusammenhang mit
der Bildung Griechenlands demonstrativ zu wahren war oder
wenn, wie in Syrakus, ein Freund der Philosophie des Tyrannen
Launen bestimmte.
Neben den grossen Ereignissen, welche die Weltgeschichte
bewahrt, üben auch scheinbare Kleinigkeiten oft einen nicht
unbedeutenden Einfluss aus. Dichtungen kann man leicht
auswendig lernen und der Grieche hörte sie noch in der
klassischen Zeit Heber recitiert oder gesungen als er den blossen
Text in einem Buche las. Die Prosa dagegen ist an die schrift-
liche Aufzeichnung gebunden ; oder will man Märchen, Fabeln
und andere Erzählungen, wie sie selbst das ungebildetste Volk
besitzt, zur Prosa rechnen? Wenn es also vor Erfindung der
Schrift keine Prosa gibt, so ist auch das Material, auf das ein
Volk schreibt, nicht gleichgiltig ; denn solange man Stein oder
Metall benützte, war ebensowenig eine Prosaliteratur möglich,
man müsste denn trockenen Inschriften die Ehre dieser Be-
zeichnung erweisen. Erst die Seeherrschaft Athens verhalf den
Griechen zu dem unscheinbaren, aber unentbehrlichen Hilfs-
mittel, dem Papy ros ^); wenn sich auch der Handel gewiss schon
früher dieses Artikels bemächtigt hatte, kam jedenfalls erst,
seit Athen mit Aegypten in engen Verkehr getreten war, das
Papier in solcher Masse nach Athen, dass es allgemein zu-
gänglich wurde. Nun entstand auch ein Buchhandel und
dieser hatte naturgemäss seinen Centralsitz in Athen. Im
Qnintil. 2, 16, 4 und Porphyr, abst. 4, 3 p. 160, 26 N übertrieben. Die
richtige Mitte ist Plat. Hipp. maj. 283eflf. angedeutet. Ob am Grabmal des
Leonidas und Pausanias schon in alter Zeit Gedächtnisreden gehalten wurden
(Pausan. 3, 14, 1), ist sehr zu bezweifeln.
1) Ueber Papyro.s und Buchhandel in Griechenland: Becker Charikles I
207 ff. TI 113 flf.; Egger lettre ä M. Didot sur le prix du papier dans l'antiquitö,
Paris 1857; Rieh. Schöne Jahrbb. f. Phil. 101, 802 f.; W. S c h m i t z Schrift-
steller und Buchhändler in Athen und im übrigen Griechenland, Heidelberg 1876;
Th. Birt das antike Buchwesen, Berlin 1882.
Einleitung. 11
fünften Jahrhunderte konnten bereits Privatleute Bibhotheken ^)
anlegen — freilich Bibliotheken von so beschränktem Umfange
als vor der Erfindung der Buchdruckerkunst einem einzelnen
möglich war. Wenn man aber die Schriften des Anaxagoras
um höchstens eine Drachme kaufen konnte^), befremdet es
nicht, dass am Ende des fünften Jahrhunderts Bücher in aller
Händen zu finden waren ^) ; selbst nach den Kolonien gingen
grosse Büchersendungen ab*). Einen grösseren Leserkreis mögen
freilich nur Verordnungsblätter, Prophezeiungen und Koch-
bücher gehabt haben ^) ; Aristoteles meinte, verschiedene Volks-
redner hätten blos das gastronomische Gedicht des Philoxenos
gelesen und auch dieses nicht ganz ^). Immerhin konnten aber
die Sophisten, welche Musterreden herausgaben, auf Absatz
rechnen. Historische und fachwissenschaftliche Werke dagegen
beschränkten sich auf gelehrte Leser ^) ; sonst wäre es nicht
möglich, dass die Schriften des Herodotos und Thukydides so
wenig Beachtung fanden und bei Atliens Rednern historische
Fehler eine gewöhnliche Erscheinung sind. Die Gebildeten
lasen in der Regel nur rhetorisch geschriebene Bücher, welche
sie unterhielten und zugleich in die kunstreiche Handhabung
der Sprache einführten; doch ist das Wort ,, lesen" eigentlich
nicht einmal hier am Platze. Im allgemeinen galt die Nieder-
schreibung nur als ein Surrogat des lebendigen Wortes, das
sie wohl äusserlich festhalten, aber nicht ersetzen könne; diese
Ansicht, welche noch Plato im Phaidros ausdrückte, spiegelt
I
1) Der locus classicus über die Bibliotheken ist Athen, epit. I p. 3a;
Euripides Aristoph. Kau. 943. 1409, vgl. Eurip. Erechth. fr. 370, 6 N; Euthy-
demos Xenoph. memor. 4, 2, 1; über Eukleides E. Curtius griechische
Geschichte III ^ S. 755 A. 32. Das Wort ßtßXioö-fjxf] kommt zuerst bei dem
jüngeren Kratinos (fr. 11 Mein, bei Pollux 7, 211), ßißXioirojXfjc bei den
Komikern Aristomenes (Pollux a. O.) und Theopompos (Zonar. lex. s. v.) vor.
2) Plato apol. p. 26 de. Das Papier w^ar bereits so wohlfeil, dass die
Weihrauchhändler es zum Einwickeln verwendeten (Anekdote au« Chamaileon
bei Athen 8, 374 b).
3) Aristoph. Ran. 1114 ßtßXiov x' e/wv sxaoTOi; fiavA-avei xa. Ss^tä.
4) Xenoph. Anab. 7, 5, 14.
5) Ueber die beiden ersten Arten ist Aristophanes in den Vögeln (wo
ein ({^•fjcpiafi.aTOTCcüXTjc auftritt) und Kittern zu vergleichen.
6) Aristot. bei Athen, 1, 6d.
12 Einleitung.
sich in der griechischen Bezeichnung (avaYiY^w'^xsiv) ,, wieder er-
kennen". Damm las man nicht, sondern Hess sich vorlesen.
Selbst Isokrates, der doch nie öffentlich auftrat, bestimmte
seine Reden nicht dazu, mit den Augen gelesen zu werden.
Vielmehr las, wer ein Exemplar einer Schrift erlangte, dasselbe
seinen Freunden vor oder übertrug dieses Geschäft einem
Sklaven ^) ; eifrige lernten auch wohl die Abhandlung aus-
wendig, um des Buches entraten zu können ^). Aus diesem
Grunde achteten die Schriftsteller ungemein auf den Wohl-
klang, indem sie stets an Hörer, nicht an Leser dachten. Noch
weniger spielte die Schrift bei den Werken der Dichter eine
bedeutende Rolle ; man las sie blos, um Stellen zu memorieren
und auch die sogenannten Lesedramen waren nicht für Leser
bestimmt, sondern sie wurden in Privatcirkeln vorgelesen.
Diese äusseren Momente wirkten mit, um jene eigenartige
Kulturbewegung, welche man mit dem Namen derSophistik
zu belegen pflegt, zu fördern ; hervorgerufen aber ward sie,
wie wir oben gezeigt haben, durch die pohtischen und gericht-
lichen Zustände Athens; der attische Staat hat selbst die
Sophisten herangezogen ^). Da die Gründe der Entstehung
nicht durchweg die reinsten waren, konnte die Sophistik nicht
eine ethisch befriedigende Form annehmen , zumal seit die
Stürme des peloponnesischen Krieges auf das Rechtsgefühl zer-
setzend einwirkten^). An sich war sie jedoch der Moral nicht
feindlich, sondern ignorierte sie einfach. Wer aber deshalb
mit ihr rechten will, muss dann auch mit Plato die Poesie
oder wenigstens mit Rousseau das Theater verwerfen. Die
Sokratiker jedoch, welche alles auf die Moral bezogen, kämpften
natürlich gegen jenen Indifferentismus erbittert an, wobei sie
aber gera<ie durch ihre unermüdliche Polemik bezeugten, wie
tief die sophistische Denkweise in die gebildeten Kreise einge-
drungen war. Das gewöhnliche Volk hasste die Sophisten als
Atheisten und als Erzieher von Sykophanten, zugleich ver-
achtete es au ihnen die fremde Abkunft und den Gelderwerb,
wegen dessen sie, wie die Aerzte, mit den geringgeachteten
1) DicH ist in Plato« Theaitetos der Fall.
2) So handelt der platonische Phaidros.
8) Vgl. Isoer. 15, 296 f.
4) Thnkydid. 3, 82.
Einleitung. 1 3
Handwerkern zusammengeworfen wurden. Der allgemeine
Name der Sophisten, der ursprünglich jeden, welcher irgend
eine Kunst gründlich verstand, kennzeichnete, galt blos dem
gewöhnlichen Volke und den Piatonikern als Schimpf. Seit
der perikleischen Zeit kommt er im besonderen den Lehrern
7A1, von welchen die nächsten Kapitel handeln sollen ^).
1) Ueber die Sophisten: Lud. Cresollius theatrum veterum rhetorum
oratorum declamatorum quos in Graecia nominabant aocpioxac, Paris 1620,
abgedruckt in Gronovs antiquitatt. Graec. vol. X. (als Materialsammluug
noch immer brauchbar und wegen der Verbindung der alten nnd späten
Sophisten wichtig ; da die Sophistik der Kaiserzeit mit der älteren grosse
Verwandtschaft hat, ist E. Roh de der griechische Roman und seine Vor-
läufer Leipzig 1876 III. Buch auch für diese Periode sehr wichtig); von der
neueren Literatur, welche Ueberweg Geschichte der Philosophie P 85 f.
verzeichnet, erwähne ich nur: Jac. Geel historia critica sophistarum qui
Socratis aetate Athenis flomerunt, Trajecti 1823; Wilh. Röscher de historicae
doctrinae apud sophistas majores vestigiis, Göttingen 1838 (Diss.); J. Frei
Rhein. Mus. 7, 527 ff. 8, 268 ff. ; Fr. Suse mihi Jahrbb. f. Philol. 97, 513ff.
Nik. Wecklein die Sophisten und die Sophistik nach den Angaben Piatos,
Würzburg 1866; Mart, Schanz Beiträge zur vorsokratischen Philosophie
aus Plato I. Die Sophisten, Göttingen 1867; H. Sidgwick Journal of
philology 4, 288ff. 5, 66ff. ; Alph. Emminger die vorsokratische Philosophie
nach den Berichten des Aristoteles, Würzburg 1878.
Erstes Kapitel.
Die ersten Sophisten.
Protagoraa; Stesimbrotos und andere Homeriker; Prodikos und Hippias.
Das Verdienst, die Bedürfnisse der Zeit erkannt zu haben,
gebührt nicht einem Bürger Athens; denn trotz der raschen
Auffassungsgabe, welche sie auszeichnete, haben die Athener
auf sehr wenigen Gebieten den Ruhm der Erfindung oder der Be-
gründung. Ihre Sache war es vielmehr, die Mängel des Neuen
scharfsinnig zu erkennen und es dadurch zur Vollendung zu
führen. In einem Städtchen der thrakischen Küste wuchs der
Mann auf, welcher zu der grossartigen Umgestaltung der helle-
nischen Bildung berufen war.
Die jonischen Kolonien am Nordrande des ägäischen Meeres
erfreuten sich, dank dem Reichtum, den ihnen der Handel mit
den Barbaren und die Aufdeckung edler Metalle eintrugen, einer
blühenden Kultur. Schon seit Archilochos' Zeit war die Pflege
der Musik und des Gesanges hier heimisch; nicht umsonst
führten die chalkidischen Städte die Lyra als gemeinsames
Münzzeichen. Zur Zeit der Perserkriege begannen die thrakischen
Jonier sich auf dem Gebiete der Kunst hervorzuthun. Aus
Thasos kam Polygnotos, der Begründer der klassischen Malerei,
wie der realistische Bildhauer Paionios aus dem chalkidischen
Lande, nach der Bundeshauptstadt. Nicht lange Zeit verging
und derselbe Teil der Jonier, welcher durch die kurze Perser-
herrschaft nicht so entnervt wie seine Stammesgenossen war,
machte sich in noch höherem Grade um das geistige Leben
von Hellas verdient.
Protagoras von Abdera*) unterschied sich anfangs,
1) L. F. Herbst in Petersens philologisch-historischen Studien, Heft 1
Die ersten Sophisten. 15
wie es scheint, von den älteren Naturphilosophen keineswegs;
er studierte die exakten Wissenschaften, wobei er auf eine
technische Erfindung verfiel ^). Skeptisch geworden, sah aber
Protagoras auf sie, zumal wenn er sie, wie die Astronomie nicht
auf den Menschen zu beziehen wusste, mit Verachtung herab ^).
Was er lehrte war nicht unpraktisches Wissen, sondern die
apstr] und das xaXöv %al aYa^öv ^) ; deutsche Wörter können die
griechischen Begriffe nicht wiedergeben, auch dem ebenso vagen
Ausdruck ,, Humanismus" fehlt der politische Beigeschmack
der griechischen Wörter. Protagoras lehrte eben, wodurch sich
ein Grieche unter seinen Mitbürgern auszeichnen könnte; sich
selbst benannte er aber mit dem althergebrachten Namen
(Hamburg 1832) S. 88flf.; Job. Frei quaestiones Protagoreae, Bonn 1845, mit
Nachtrag Rhein. Mus. 5, 596 ff.; A. J. Vitringa de Protagorae vita et philo-
sophia disquisitio, Groningen 1852. Für Ab der a .spricht Plato Protag. 309 c.
republ. 600c, mit ihm die meisten späteren; da aber Abdera eine Kolonie
von Teos war, durfte Eupolis den Sophisten nach dieser Stadt benennen
(fr. 159 M bei Diogen. Laert. 9, 50, vgl. Steph. Byz. v, Tetu? und xiviq bei
Suida.s). Dieselbe Variante findet sich bezüglich des jüngeren Hekataios
Strab. 14,644. Der Vater des Protagoras heisst bald Artemon (Diog. L. 9,50.
Schol. Plat. p. 217 B. Suid.) bald Maiandrios (Deinon und Apollod. bei Diog.
9, 50, vgl. Eudocia), Maiandrides (Suid. v. 1.) oder Maiandros (Philostr. vit.
.soph. 1, 10; cod. h , hat MsvavSpo?, v^ie Epiphan. adv. haer. III. vol. II p.
1088 b; bei Suidas NsavSpiou). Nach Philostratos a. O. (aus Deinon?) bewirtete
er Xerxes, wofür die Magier den jungen Protagoras unterrichteten ; andere
erzählen da.sselbe von Demokrit.
1) Er erfand die xüXt] (Aristot. bei Diog. 9,53 u.Suid. v. xoxuXfi), womit
Aristoteles schwerlich den Wulst, welchen die La.stträger auf die Schulter
nahmen, meinte. Epikur benützte aber die übliche Bedeutung, um Protagoras
zu einem Lastträger zu machen; Demokrit soll sein Talent erkannt und aus-
gebildet haben (Diog. 10, 8. 9, 63. Athen. 8, 354 c. Schol. Plat. p. 217 B.
Gell. 5, 3. Suid. v. U^Mza^^ö^az und tpopp-otpopoc, vgl. Gramer Anecd. Paris. I
172, 1 ; Schüler des Demokrit Aristokles bei Euseb. praep. ev. 14, 17, 8.
Diog. 9, 50. Philostr. vit. soph. 1, 10. Clem. Alex. 1, 301). W^enn diese bos-
hafte Erfindung widerlegt zu werden braucht, führe ich Plutarch adv. Colot. 4.
Diog. 9, 42. Sext. Empir. 8, 389 f an, wonach Demokrit gegen seinen angeb-
lichen Schüler polemisierte.
2) Plat. Protag. 318 e. Aristoteles erwähnt met. 2, 2 p. 998 a 3, dass er
sich gegen die Astronomen wandte. Eupolis (fr. 159 M bei Diog. 9, 50, vgl.
Eustath. p. 1547, 53) wirft ihn trotzdem mit den Naturphilo.sophen zusammen.
3) Protagoras versprach ßsXtiooc ■jroielv (rratSeüetv) zobc, avd-ptÜTzooc; Plat.
Protag. 317 b. 318 a und lehrte eüßouXtav sowohl uspl tcüv olxeiaiv als Kspl ta
xr^q TCÖXscuc ibid. 318 e.
16 Erstes Kapitel.
oo^tan^«:. Wer darin zu unterweisen versprach, wonach alle
ehrgeizigen Jünglinge demokratischer Staaten strebten, musste
ungeheuren Erfolg erzielen. Weit entfernt, Schüler suchen zu
müssen, drängten sich so viele zu ihm, dass er nicht alle an-
nahm ^). In Athen rechnete es sich der reichste Bürger zur
Ehre, den Sophisten beherbergen zu dürfen ^) ; trotzdem blieb
er nicht in jener Stadt, sondern besuchte viele griechische Städte
bis nach Sicilien hin, überall mit Enthusiasmus aufgenommen
und wie ein Fürst von einer Schaar Bewunderer begleitet^).
Mit stolzem Selbstgefühle verlangte Protagoras, der erste welcher
sich für seinen Unterricht bezahlen liess*), nicht ein bestimmtes
Honorar, sondern überliess es seinen Schülern, nach dem Ende
des Unterrichtes den Preis des Gelernten selbst zu bestimmen^).
So glänzend der Ruhm des Sophisten bei seinen Lebzeiten war,
so rasch erlosch er nach seinem Tode; darum liegen über seine
Lebensschicksale nur wenige Angaben vor. Dass Protagoras
der älteste Sophist war, darin stimmen alle überein ^). Plato
erzählt ferner, dass er Sokrates an Alter überragte und, ungefähr
siebzig Jahre alt, nach mindestens vierzigjähriger Lehrthätigkeit
stai;b'). Aber die erstere Angabe darf ebensowenig verleiten,
ein bestimmtes Jahr anzusetzen ^) als die Scenerie des platonischen
1) Plato Protag. 310 de. 311 d.
2) Im Hause des Kallias spielt der platonische Protagoras; auch Eupolis
verspottete die dortigen Zustände.
3) Sicilien Plat. Hipp. maj. 282 e, Begleiter Protag. 316a.
4) Plato Protag. 349 a.
5) Arist. etil. Niconi. 9, 1 p. 1164 a 24, etwas ungünstiger Plato Protag.
328 b. Das Honorar von hundert Minen ist von Zenon entlehnt (Diog. 9, 62.
Schol, Plat. 217, Suid. entstellt Anon. vit. Plat. p. 8, 46 West.; 10000 Denare
wurden von Qnintil. 3, 1, 10 als Preis der te^vai bezeichnet). Den bei Korax
und Teisias zu erwähnenden Prozess um das Honorar übertrug man auf Pro-
tagoras und Euathlos, seinen Ankläger (Diog. 9, 66, der § 65 unter den
Schriften Six-rj önip fiiaS-oö anführt. Apul. Hör. 4, 18. Gell. 6, 10. Walz
rhetor. IV 180 adn., vgl. Quintil. 3, 1, 10).
6) Plato Euthyd. 286 c versteht unter den ol tzi itaXatitepoi die Eleateu.
7) Protag. 317 c oüSsvic 8too ob navttov äv ojicüv xaö-' -fiXtxiav itaf»jp sTfjv
(vgl. Theaet. 171c). Meno 91 e; die Schollen p. 217 B (über die Lesart vgl.
TengHtrüm und Stahlberg, super dial. Piatonis qui Protagoras inscribitur, Abö
1824 p. 16 Anm. e) und evioi bei Diog. 9, 66 scheinen hier Ivevrjxovta et*»]
statt iß3ojj.Y|xovxa gelesen zu habeu.
8) Wenn ihn Apollodor Ol 84 (Diog. 9, 56, vgl. Euseb. Ol 84, 2 armen,
n. Hieron., 86, 4 Synkell.) ansetzt, legt er dabei die Angabe des Herakleides
Die ersten Sophisten. 17
Dialoges, bei welcher sich Plato starke Anachronismen gestattete.
So viel mag aber daran richtig sein, dass Protagoras nach
langem Zwischenraum Athen zum zweiten Male besuchte^).
Dort zog er aucli Porikles' Aufmerksamkeit auf sich^); dessen
Sohn Xanthippos warf dem Vater vor, er hätte mit dem Philo-
sophen einmal einen ganzen Tag über eine spitzfindige Streit-
frage disputiert^), und Protagoras setzte in einer Schrift seinem
Gönner ein Denkmal, indem er die Standhaftigkeit, mit welcher
Perikles den Tod seiner Söhne ertrug, feierte^). Es scheint dem-
nach, dass der Sophist zur Zeit der grossen Pest (430/29) sich in
Athen aufhielt.- In den Jahren 424 und 423 weilte er nicht
dort; dagegen brachte ihn der Komiker Eupolis 422/21 als
Schmarotzer des reichen Kallias auf die Bühne ^). Dieser grobe
Spott war ein bedeutungsvolles Anzeichen der Abneigung, welche
viele Athener gegen den fremden Sophisten hegten. Als er
vollends in einem Buche den verwegenen Satz aufstellte : ,,Von
den Göttern kann ich, weder ob sie existieren, noch ob sie
nicht existieren, mit Bestimmtheit sagen", nötigte ihn die An-
klage, welche Euathlos^) erhob, aus Athen zu fliehen^). Die
(Diog. 9, 50), Protagoras habe den Thurieru die Gesetze entworfen, zu Grunde
(Herbst a. O. S. 89).
1) Plat. Protag. 310e; über die Anachronismen Athen. 5, 218bc,
auch 11, 505 f.
2) Dasselbe wird von Euripides und Megakleides berichtet, in deren
Wohnungen er Vorträge gehalten haben soll (Diog. 9, 54).
3) Stesimbrotos bei Plutarch. Pericl. 36.
4) Frg. 3 bei Plutarch. cousol. ad Apoll. 33.
5) Der Komos des Ameipsias und die Wolken des Aristophanes, welche
424, resp. 423 zur Aufführung kamen, erwähnten ihn nicht; vgl. Athen.
5, 218 bc.
6) Aristot. bei Diog. 9, 54 (Gramer Anecd. Paris. I 172, 7); nach anderen
klagte ihn Pythodoros, einer der Vierhundert au. Auch wenn dies richtig
wäre, genügte es nicht, um seine Verurteilung gerade in das Jahr 411 zu
setzen, vgl. Müller-Strübing Jahrbb. f. Phil. 121, 84 f.
7) Philochor, bei Diog. 9, 55. Timon bei Sext. Emp. 9, 57 und viele
Spätere, ausgemalt bei Philostrat. vit. soph. 1, 10. Timon sprach als frommen
Wunsch aus, man hätte die Schriften des Protagora» verbreuuen sollen (v.
47 Mullach: s^eXov 8e xscfpYjv aoYYpä|J.|J.aTa tJ'siva'.). Spätere erzählteu dies
»Is wirkliche Thatsache (Cic. nat. d. 1, 23, 63 [Minuc. Fei. 8, 3. Lactant.
de ira dei 9, 2]. Aristokles bei Euseb. praep. ev. 14, 19, 7. Diog. 9, 52.
Schol. Plat. p.217. Suidas); aber die Schriften waren ungehindert im Umlauf
(vgl. Plat, Theaet. 152 a). Merkwürdig ist, dass Plato Menon 91 de so spricht,
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. H. 2
j[8 Erstes Kapitel.
Rache der beleidigten Götter soll Protagoras auf dem Meere,
als er nach Sicilien fuhr, ereilt haben ^). Ob er wirklich im
Meere ertrank, ist ebensowenig sicher festzustellen als das Jahr,
in welchem der Process stattfand; gewöhnHch verbindet man
ihn mit dem Hermokopidenprocess ^), obgleich in diesem Falle
die Vögel des Aristophanes gewiss darauf anspielen würden.
Jener Satz über die Götter entsprang der Weltanschauung
des Protagoras. Sein Gebiet war die Wissenschaft vom Menschen;
deim der Mensch ist ,,das Mass aller Dinge", eine ohjective
Wahrheit gibt es nicht. Um die skeptische Philosophie gegenüber
den herrschenden Ansichten beweisen zu können, war ihm
blendende Dialektik und darum auch die volle Herrschaft über
die Sprache unentbehrlich. Protagoras hätte ja gewiss nicht
„wie Orpheus alle Hörer bezaubert", wenn er nicht durch
klangvolle Worte und poetische Bilder ihren Ohren geschmeichelt
hätte ^). Er vermass sich über denselben Gegenstand bald
ausführlich, bald mit gesuchter Knappheit, bald in diesem,
bald in jenem Sinne zu sprechen^). Zu seinen rednerischen
Erfolgen, die ihm den Stichnamen Aöyoc eintrugen ^), führte
aber den Philosophen nicht blos eine bedeutende durch Uebuug
gebildete Anlage für wissenschaftliche Dialektik, sondern er
beschäftigte sich als der erste unter den Griechen und vielleicht
als der erste unter den Menschen überhaupt mit der Theorie
der Sprache, die durch ihn aufhörte, ein blosses Werkzeug der
Gedanken zu sein. Es mutet uns jetzt seltsam an, wenn wir
hören, dass der gelehrte Mann die Wortgattungen und die
als ob der Process nie vorgefallen sei; ich kann nicht glauben, dass in Theaet.
171 d eine plumpe Anspielung auf Flucht und Tod des Protagoras liegt.
1) Philochoros bei Diog. 9, 65 (anders eviot; vgl. Philostr. vit. soph. 1,10.
Sext. Emp. 9, 56).
2) zuerst Meier de Andocidis oratione contra Akibiadeni VI p. 37.
3) Plato scheint, wie schon Philostratos und Porphyrios annahmen,
seinen Stil in allgemeinen Zügen nachzubilden ; Wernsdorf (ad Himerinm 20,
10) u. A. hielten sogar den Mythus 320c— 322d für wörtlich entlehnt.
4) Plato Protag. 329 b. 334 e. 335 b (|j.axpoXoYia und ßpa/uXoYia, vgl.
Aristoph. Thesm. 177f.).
5) Aelian. var. bist. 4, 20. Schol. Plat. p. 217. Snidas mit efifjucjä-oc
(wohl aus einem Komiker). Favorinus bei Diog. 9, 60 verwechselt ihn mit
Demokritos, der icfia geheissen haben soll. Dem Protagoras gilt vielleicht
■JjSuXoYoc oo<ft« des Kratinos (bei P>ekk. Anecd. 335).
hie ersten Sophisten, J^
Aussageformen bestimmte*); aber damals waren dies grosse
Entdeckungen, welche nur Schritt für Schritt erweitert wurden.
Unser Sophist mussto die Sprache von seinem Standpunkte
aus wie das Ergebnis menschlicher Uebereinkanft betrachten,
zu dessen Vervollkommnung jeder besser Wissende berechtigt
und berufen war. So wagte Protagoras, als er die Gesetze des
grammatischen Geschlechtes untersuchte, im Widerspruche mit
der Umgangssprache das Richtige (6p8-öv) festzusetzen, eine
pedantische Gleichmacherei, welche die Komiker sich nicht
entgehen liesen '^- Nicht einmal den Dichtern gestattete der
Sophist eine gewisse Freiheit ; was für ein ungeschliffener Mensch
schien ihm Homer zu sein, weil er nicht im höflichen Optativ
die Muse seine Helden zu besingen einlud ^) !
Wie die Wolken des Aristophanes zeigen, kam diese Sprach-
theorie auch beim Unterrichte vor, indes war Uebung im Dis-
putieren ohne Zweifel die Hauptsache*). Da Protagoras eine
objektive Wahrheit nicht anerkannte, waren nach seiner Ansicht
zwei entgegengesetzte Reden über jede Sache möghch. Er
machte sich also kein Gewissen daraus, seine Schüler über den
nämlichen Gegenstand pro und contra disputieren zu lassen, was
1) Er bestimmte appeva S"fj).ea axeuvj (was sicher bezeichuender als
oüSexspa war, Aristot. rhetor. 3, 5 p. 1407 b 7) und su/iuX-f] epojTfjatc: ccko-
xptai? EVToX-f] (Diogeu. 9, 53. 64. Said. v. flptuTaYop^C nnd uüO-fAYjv. Quiutil.
3, 4, 10); vgl. Schanz die Sophisten S. 142. Für die älteste Geschichte
der griechischen Grammatik sind ausser den allgemeinen Werken (L. Lersch
die Sprachphilosophie der Alten H. I. II. Bonn 1830; A. Gräfenhan Geschichte
der classischen Philologie im Alterthum, Bd. I. Bonn 1843; H. Stein thal
Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, Berlin 1863) zu
vergleichen : J. C lassen de grammaticae Graecae primordiis, Bonn 1829 und
G.F. Schömann die Lehre von den Redeteilen nach den Alten, Berlinl862.
2) Aristot. sophi.st. eleuch. 14 p. 173 b 19; darauf deutet Plato Cratyl.
391c. Seine Manier verspottet Aristophanes in den Wolken V. 658 fif.
3) Aristot. poet. 19p. 1456b 16.
4) Suidas und die Platoscholien schreiben ihm die Begründung der
Eristik zu; nach dem Dialektiker Artemidoros fährte er tac tzpbc, xäc, d'kzsK:
Ent/^f tp-fjaetc ein (Diogen. 9, 53), d. h. Disputationen über allgemeine Themata
nicht über bestimmte Fälle (oTzo^izziz, vgl. Cic. top. 21, 79. Walz rhet.
iudex p. 713). Vgl. Timon bei Diog. 9, 52 IlpoutaYÖp-rj? x' eüifA'.xxoc ep:l^i\isvai
tu eISui;.
2*
20 Erstes Kapitel.
die Feinde des Philosophen zu dem Vorwurfe, er verspreche
der schlechteren Sache zum Siege zu verhelfen (töv TJTxova Xö^ov
xpeiTTo) TTOtslv), ausnützten ^). Freilich war seine Methode für
den Wahrheitssinn seiner Schüler nicht gerade förderlich,
zumal da zur Lösung der gestellten Aufgaben künstliche Trug-
schlüsse unvermeidlich waren ^) ; auch musste jeder weiter
Denkende fürchten, dass Jünglinge von nicht festen Grund
Sätzen das erlernte im wirklichen Leben zur Obstruktion ihrer
Gegner anwendeten. Protagoras disputierte aber nicht bloss pro
et contra, sondern überhaupt über alles, was Spitzfindigkeit er-
forderte. Mit Perikles stritt er z. B., ob bei einem fahrlässigen
Todschlage im Agon der Wurfspeer, der, welcher ihn geworfen,
oder der Leiter der Uebungen die Schuld trügen. Da ferner
die Griechen in den Aussprüchen ihrer Dichter gleichsam den
Codex der nationalen Sittenlehren erblickten, knüpfte Protagoras
an auffällige Sittensprüche Erörterungen , wobei zum ersten
Male ethische Fragen besprochen wurden; so discutiert er bei
Plato^) ein Gedicht des Simonides, welches einen Widerspruch
mit einer anderen Sentenz desselben Dichters zu enthalten
schien. Neben solchen praktischen Disputierübungen gab er
vielleicht seinen Schülern einige dialektische Gemeinplätze zum
Auswendiglernen *). Während Protagoras auf solche Weise den
Geist und die Zunge derselben möglichst gelenkig zu machen
suchte, blieb das Gebiet der eigentlichen Rhetorik noch unbe-
rührt; denn seine Mahnung, man solle auf den rechten Augen-
blick achten, gehört eher zur Psychologie^). Mit dem aber,
was er lehrte, nahm es der Sophist höchst ernst und sprach
1) Mullach stellt unter fr. 6 und 6 die Belege zusammen; vgl. auch
Euripid, fr. 180 N.
2) Aristot. metaph. 8, 3 p. 1047 a 6. Diog. 9, 62.
8) Plat. Protag. c. 26 ff. p. 339 — 347.
4) Statt TE/vf] eptoTtxüiv (Diog. 9, 56) sagt Quintilian 3, 1, 12 loci com-
munos; er schöpft aus Cicero (Brut. 12, 46), der aus Aristoteles übersetzt:
rerura illustrium disputationes, dies aber durch den eigenmächtigen Zu-
satz verdirbt: quae nunc communes appellantur loci.
5) Diog. 9, 62 xatpoä Sövafiiv e4E5eto; was vorhergeht, itpcüToc jjLepv)
Xpovoo 3iu)ptoE, ist nicht sicher zu deuten. Petersen (bei Herbst S. 166) bezieht
68 auf die dem Kedner notwendige Benützung der Zeit; dagegen denkt C. F.
Hermann Ztsch. f. Allerthumsw. 1834 Sp. 881 an die grammatischen
Tempora.
Die ersten Sophisten. 21
vernünftige Ansichten über den Unterricht aus: „Die Theorie
ist nichts ohne die Praxis, wie die Praxis niclits ist ohne die
Theorie'; ,, der Unterricht verlangt Talent und Fleiss und auch
so muss man frühzeitig zu lernen beginnen'^ ^).
Die Schriften des Protagoras ^), in denen er sich deg
jonischen Dialektes seiner Heimat bediente ^), hingen mit seinem
Unterrichte eng zusammen. Auf die Lebensführung bezogen
sich die Abhandlungen Tcept ^ikonixiac, t:b[A apstwv und Ttspl twv
oox opO-w? xolc, av^pcoTcot? ;rpaooo[j-£V(j)v TTpcaiaxTcxöc, auf den
Unterricht im Allgemeinen die Schrift Trspl xwv [xa^yj[j-drwv,
Homers Nekyia gab wohl Protagoras die Veranlassung, Tispl iwv
SV ''AlSoo zu schreiben ; dieser Titel lehrt uns den Humor der
Schilderung, welche Plato im Protagoras von der Sophisteu-
gesellscliaft entwirft (315 b), erst recht würdigen. Das Haupt-
werk des Philosophen war aber der Dialektik gewidmet. In
zwei Büchern handelte er von Göttern und Natur, von Staats-
einrichtungen und Künsten in der Weise, dass er zuerst einen
Satz bewies und ihn hierauf widerlegte; der skeptisch gemeinte
Titel lautete ,, Wahrheit'"*). Protagoras bekämpfte darin unter
anderem die eleatische Philosophie; man warf Plato vor, er habe
das Werk in seinem ,, Staate" ausgenützt.
1) Stob, floril. 29, 80; Gramer Auecd. Paris. I p. 171.
'2) Fragmente bei Frei a. O. p. 176 ff. und Mullach fragmeuta philo-
sophorum Graecorum II 130 ff.
3) Frg. 3 bei Flutarch. consol. ad Apoll. 33.
4) 'AX-fj^sia Plat. Theaet, 161 c u. ö., auch ä.vxiko-fiv.a (Aristoxenos bei
Diog. 3, 37. 57, vgl. auch Plato soph. 225 b, äviiko-^lrxi Diog. 9, 55) oder
xataßaXXovtsf; (Sext. Empir. 7, 60, ein Titel wie uTCSpßäXXovxJC oder ünoKop-^l-
CovTE?, Diels Sitzungsber. der Berl. Akad. 1883 S. 489), oder ixs^a? Xö^o?
(Gramer Anecd. Par. I 171, 31), vgl. Jak. Bernays Rhein. Mus. 7, 464 ff. =
gesammelte Abhandinngen I 117 fF. Die vier Teile deutet Plato sophist.
232 cd au; d sagt er: Td '(£ fx-rjv Tztpl naocüv xz xal xatä jj.iav exdtaxvjv xi'/yqv,
a. Sst jrpöc ixaGTOv aüxöv xöv OY]|ji.toopYÖv ötvxe'.Trelv, 8£8f)[JLoatü)[j.£va tzoo
xaxaßeßXfjxat '(Sfpa^s.^iva. X(I) ßouXo|j.Evcu \i.ad-slv. — Ta IIpcuxaYopEia [JLOt
(paivst nepl xY)c näX-qz (daher hat Diogenes die angebliche Schrift uspl
irdX'rjc) y-o^l xwv aXXcuv xeyvcüv EipYjviEva'.. Den ersten Abschnitt des
zweiten Teiles machte icEpl TroXixetac aus, wofür Aristoxenos den Haupttitel
ftvxiXoYtxd gebrauchte. Den ersten Teil bildeten Tcepl d-z&v (Diog. 9, 54, wo
npdixov xojv X6yü)v nicht zu übersehen ist. Euseb. praep. ev. 14, 3, 6) und
jtepl xYi<; jv ap-^/rfi xaxaaxdaecoc von Herbst S. 148, Frei S. 183 und Bernays
I 119 A. verschieden erklärt) oder Tcspl xoü wzoq (Porphyr, bei Euseb, praep,
ev. 10, 3, 17 = de natura rerum Ciq. de orat, 3, 32, 128),
22 Erstes Kapitel.
Bemerkenswerte Schüler hat Protagoras nicht hinterlassen ;
von seinen Zuhörern, welche den Beruf ihres Lehrers ergriffen,
heht Plato den Antirnoiros von Mende hervor'), welcher uns
sonst völlig unbekannt ist. Der l)erühniteste unter ihnen,
Theodoros von KjTene wandte sich den mathematischen Wissen-
schaften zu ^. Erst späte Philosophen sprachen von einer
Sekte der Protagoreer ^). Ebensowenig gelingt es jetzt, bei den
Klassikern bestimmte Spuren seines Einflusses nachzuweisen.
Wir müssen uns mit der allgemeinen Thatsache begnügen, dass
Protagoras die Aufklärung in Griechenland begründete.
Doch ist es möglich, dass Protagoras seine jonischen Lauds-
leute vorzüglich auf ihren Lieblingsdichter hinwies und sie an-
regte, an auffallenden Stellen [anoplai), die zum Teil noch jetzt
die Erklärer belästigen, ihren dialektischen Scharfsinn zu üben*).
Dieses Spiel des Witzes begegnete sich mit einer religiösen
Richtung; die konservativeren Philosophen, vielleicht auch die
Anhänger der Mysterien suchten den vielfachen moralischen
Bedenken , welche die Lektüre Homers und Hesiods erweckte,
dadurch zu begegnen, dass sie die Göttermythen allegorisch
erklärten. Der erste war angeblich Theagenes von Rhegion,
den manche mit Rhegions altem Dichter Ibykos zusammen-
stellten, während andere gewiss richtiger Anaxagoras für älter
ansahen ^). Diese symbolische Deutung floss bei Homer mit
der dialektischen Lösung von Schwierigkeiten zusammen; man
geheimnisste sogar den ganzen Voirat des damaligen Wissens
in die homerischen Epen hinein ^). Den Gebildeten waren
1) Plato Protag. 315 a.
2) Plato Theaet. 166 a. Die Schülerschaft des Prodikos und Isokrates
(Schol. Plat. 217. Bnid. Upuixn.-föp'x':) ist unbegründet; Suidas rechnet sogar
Hekataios dazu. Auffallend bestimmt sagt Diogenes 9, 54, dass Archagoras
seine Schriften im Lykeion vorlas.
8) Procl. in Tim. p. 78 b. Heracl. Pythag. Fabricius-Harles bibl. gr.
Vin 349.
4) Bd. I S. 134; Lobeck Aglaophamus p. 155 ff.
6) Neben Theagenes kommt die Form Bto-(ivr^r vor (vgl. Wecklein
carae epigraphirae p. 39 f.). Nach Tatiaii. or. adv. Graec. 4fi lebte er zor
Zeit des Kambyses, d. h. des Polykrates; über Anaxagoras Favorinns bei
Diogen. 2, 11. Vgl. auch Porphyr, zu II. Y 67. vSchol. Aristoph, Av. 822
(entstellt Pax 928). Bekk. Anecd. 729. Fragmente fehlen.
6) Plat. republ. 10, 698 de.
Die ersten Soi>histen. 23
derartige Untersuchungen von hohem Interesse, weil für den
Griechen Homer das Grundbuch der Religion und Sitte war.
Wie wir sahen , knüpfte schon Protagoras Abhandlungen und
Disputationen an Dichterstellen an, wodurch er die thrakischen
Jonier speziell auf dieses Gebiet hinwies.
Unter diesen beschäftigten sich zumal die Bewohner von
Thasos gehie mit deu homerischen Gedichten. Es gab dort
viele Rhapsoden *), was aber noch weit besser die wirkliche
Popularität Homers beweist, sind die possierlichen Parodien,
welche den Thasier Hegemon berühmt machten. Auch Ge-
lehrte versuchten sich an dem alten Dichter: von Hippias^)
ist wenig mehr als der Name bekannt. Weit berühmter
war Stesimbrotos von Thasos^), der sich vermass,
den verborgenen Sinn der homerischen Gedichte (oirövota) deu
Griechen aufzudecken und frappierende Worte des Dichters
zu rechtfertigen '^). Aus dem Buche, das er über dieses
Thema herausgab^), erfahren wir, ausser dass er Smyrna
als Homers Vaterlaud betrachtete ^), durch die Scholien des
Porphyrios und warum der alte Nestor allein den schweren
Humpen heben konnte (A 636) und inwiefern Lykaon zuerst
bei Achilleus Demeters Frucht gegessen habe (<I> 76) '). Zu
seinen Schülern gehörten der Dichter Antimachos und Nikeratos
von Athen ^), Mit Stesimbrotos' Unterricht hängt in gewissem
Sinne die Schrift ,,über die Mysterien" (Trepl twv TeXsTwv) zu-
sammen, worin er von deu Kabiren, Daktylen und anderer
Mysterieimiythologie handelte ^) Allgemeineres Interesse ver-
dient aber ein Parergon „Erinnerungen an Kimon, Thukydides
1) Hegemon bei Athen. 15, 698 d ff.
2) Aristot. poet. 25 p. 1461 ii 22 (vgl. Scholia p. 299 b 45). Osann
Khein. Mus. 2, 510 änderte ohne Grund Qüoioq in 'HXeloc.
3) Ed. Heuer de Stesinibioto Thasio ejusque reliquiis, Diss. v. Münster
1863; C. Müller fragmenta histovicorum Graecorum II p. 52 — 58.
4) Plat. Ion 130d. Xenoph. conviv. 3, 6.
5) Tatian. or. adv. Graec. 48.
6) Vita Hom. VI p. 31, 7 W^estermann.
7) Textkritische Bemerkungen anzunehmen, nötigt Scho!. AO 193, wo
das Citat aus Krates entlehnt scheint, keineswegs.
8) Antimachos Suid. v. 'Avxtj;.ayoc; Nikeratos Xenoph. conv. 3, 6.
9) Der Titel steht Etym. M. p. 465, 30; vgl. fr. 13—17. Müller,
5 — 9 Heuer.
24 Erstes Kapitel.
und Perikles"^); wer erwägt, dass Stesirabrotos , weit entfernt,
Geschichte schreiben zu wollen, nur wie Ion seine Erinne-
rungen aufzeichnete , wird weder die Irrtümer ^) die man
übrigens gewöhnlich übertreibt, noch seine parteiischen Urteile
als genügende Gründe gelten lassen , um die Echtheit der
Schrift anzuzweifeln^). Man dürfte besonders die Erinnerungen,
welche die jetzigen Griechen ihrem Freiheitskriege widmeten,
sammt den sich daraus entspinnenden Zeitungspolemiken mit
Nutzen vergleichen. Den schweren Vorwurf, den Stesimbrotos
gegen Perikles' Moral erhoben haben soll, sprach er nicht selbst
aus, sondern führte ihn unter den Anklagen, welche Xanthippos
gegen seinen Vater zu schleudern wagte, auf"^); dagegen war
Stesirabrotos gegen Kimon , den Bezwinger seiner Heimat
Thasos, augenscheirdich gereizt^), weshalb er ihm vielleicht auch
einen Platz im Titel versagte. Der V^erlust des Buches, welches
uns gezeigt hätte , was die Athener von ihren berühmten
Staatslenkern und die Jonier von ihren Zwingherren hielten, ist
fast mehr zu bedauern als der Verlust der anderen alten Ge-
schichtswerke % Die Fragmente dieser Memoiren lehren über
das Leben des Stesimbrotos, dass er Kliraon noch kannte und
die berühmte Pest überlebte ^). Die Mannigfaltigkeit der Schrift-
stellerei darf bei einem Zeit- und Stammesgenossen des geistreichen
Dilettanten Ion, der ebenfalls pikante Memoiren schrieb und
sich zugleich in Mystik vertiefte, nicht im mindesten be-
fremden.
1) 'Ev T(I> ejtiYpa^o}JLev(}) nepl 0c}j.ioxoxXeou«: xal 0ouxü5t8oo xal riepiiiXeoo?
Athen. 13, 189 e; es sdieint also nur ein Buch gewesen zu sein.
2) Z. B. Diincker Geschichte des Altertums VIII 188, 1. *
3) Gegen Bursians verwerfendes Urteil literarisches Centralblatt 1860
Sp. 621), welches Rühl die Quellen Plutarchs im Leben des Kimon 1867
S, 37flf. ausführt, vgl. Heuer S. 31 ö., Ad. Schmidt das Zeitalt«r des
Terikles I S. 183—278. II 8. 1—364 (welcher Stesimbrotos zur Quelle des
Thukydides und vieler anderer macht), H. Sauppe Abhandl. der Göttiug.
Ges. der Wissensch. 1867 S. 1 ff, U. v. Wilamowitz Hermes 12, 361 ff.
4) Plut. Per. 36, 5 ist augenscheinlich genauer als Plut. c. 13, 14 und
Athen. 13, 689 de; fragm. 4 verrät eine andere Stimmung.
6) Frag. 2. 3. 5. 6.
6) Das Citat bei Fulgent. de abstrus, serm. v. sandapila ist erfanden.
7) Fr. 11 bei Plut. Per. 36, 5. Als Zeitgenossen der von ihm geschil-
derten Männer bezeichnen ihn Pluturch (Cim. 4) und Athenaios (13, 569 d).
Die ersten Sophisten. 25
Lehrer homerischer Weisheit waren ferner Anax im an-
dres^) und Glaukon^); Metrodoros von Lampsakos
soll nach dem Vorgange des Auaxagoras die Mythen der Epiker
zuerst physikalisch erklärt haben ^). Sonst heisst es , dass
Dionysios von Olynth und der Dichter An timac hos von
Kolophon^) über Homer schrieben. Demokrit verband, wenn
die Schrift izspi '0{i7]poo t) opfl-osTtetTj? xal YXwaaswy echt ist, mit
dem Homerstudium grammatische Forschungen. Wenn man
aus diesen dürftigen Notizen einen allgemeinen Satz ableiten
darf, beschäftigten sich im fünften Jahrhundert blos die Jonier
aktiv mit dem Homerstudium. Gänzlich verschwand diese
Richtung freilich nie; bei Antisthenes werden wir verschiedene
mit Homer zusammenhängende Schriften zu verzeichnen haben
und die Dutzendsophisten liebten zur Zeit des Isokrates noch
immer, Verse aus Homer und Hesiod öffentlich zu recitieren
und ihren Witz dabei zur Schau zu tragen ^).
Aus jenen speziell Homer erforschenden Kreisen gingen
ohne Zweifel sowohl manche Aenderungen des Textes ^) als
auch jene strenge Kritik aus, welche dem alten Dichter nur
Ilias und Odyssee beliess ; denn, wie Herodots Beispiel zeigt,
wurden die Gelehrten durch Beobachtung der Widersprüche
auf solche skeptische Urteile geführt. Für Plato steht das
Resultat bekannthch schon fest.
Ueber ähnliche Studien und Schriften, die sich auf
Hesiod und andere Lieblingsdichter der Nation bezogen , ist
1) Xenoph. conviv. 3, 6; möglicherweise ist er eine Pei-son mit dem
Historiker. Einem Kollegen des Stesimbrotos würde die Schrift ,,ao}j.ßoXd)V
HoO'aYCipöicov E^-fjYYjaK;" (Suidas) nicht übel anstehen.
2) Plat. Ion 530 d. Aristot. poet. 25 p. 1461 b 1; rhet. 3, 1 p. 1403 b
26 erwähnt er einen Teer Glaukon, welcher den rhetorischen Vortrag lehrte.
Ueber rXaöxor Schol. II. A 636, vgl. Sehrader Porphyrii quaestt. Hom.
rell. p. 385.
3) "Plat. Ion 530 cd. Favoriuus bei Diog. 2, 11 ; eine Probe bei Hesych.
V. 'Af^fJLEfivova.
4) Beide erwähnt Tatiauos or. ad Graec. 48 unter den jrpsoßotaToi (statt
Antimachos bietet Euseb. praep. ev. 10, 12, 2 KaXXi}j.a)(oc). Dionysios ist
vielleicht der, welchen Porphyrios zu II. B 308 iv xü> s tcüv öcTcoptov citirt.
5) Isokrat. 12, 18.
6) Z. B. Aristot. soph. el. 4 p. 166 b 3 oiov xal t6v "0|i7jpov tnoi
StopO-oövtat ivpöc -zohiz eXeYj^ovxat; cot; äxöncDC elpYjxöta u. .«. w.
26 Erstes Kapitel.
keine einzige nähere Angabe erhalten ; aber Isoicrates (15, 45)
sonderte als eine besondere Literaturgattung aus : ol Ss rcspi zobc,
Tzoifizaq S'ftXooöfpyjaav.
Diese halb dialektisch halb allegorisch gefärbte Richtung
darf man auf Protagoras zurückführen ; die Sophisten aber,
welche im eigentlichen Griechenland nach ihm auftraten, waren,
wiewohl von ihm angeregt, doch im einzelnen ziemlich unab-
hängig. Für viele Jonier begann durch Protagoras die alte
Naturphilosophie ein überwundener Standpunkt zu werden,
während sie im eigentlichen Griechenland fast ebenso neu wie
die Wissenschaft des Protagoras war. Daher neigten die Ge-
lehrten von Hellas zu einer Vereinigung beider Richtungen,
was zu Polyhistorie führte.
Prodikos von Keos*) war jünger als Protagoras, scheint
aber ein wenig älter als Sokrates, der sich mit leichter Ironie
seinen Schüler nannte, gewesen zu sein ^). Der Philosoph unterhielt
zu Prodikos freundlichere Beziehungen als zu einem anderen
Sophisten, weshalb er ihm, wie Plato, allerdings spöttisch sagt,
viele Schüler überliess ^) ; ebenso stellte ihn Antisthenes dem reichen
Kallias vor*). Prodikos war nicht wie Protagoras Sophist von
Beruf, sondern weil ihn die Vaterstadt wegen seiner Rede-
fertigkeit oft mit diplomatischen Aufträgen betraute, hielt er in
den Städten, wohin ihn seine Amtsgeschäfte führten, gegen
hohes Eintrittsgeld wissenschaftliche Vorträge^). In Athen war
er eine stadtbekannte Persönlichkeit, die zwar von den Komikern
viel zu leiden hatte ^), aber den Ruf grosser Gelehrsamkeit ge-
1) Welcker Prodikos von Keos Vorgänger des Sokrates, Rhein. Mus.
1 (1832) S, 533 flf. 4 (1836) S. 355 flf. = kleine Schriften 2, 393 flf. Schon der
Titel deutet die übertriebene Meinung an , welche Welcker von den Ver-
diensten des Sophisten hatte, vgl. dagegen Schanz a. O. S. 38 ff. Beweist
Plat. Protag. 339 e wirklich, dass er gerade aus der Stadt Julis stammte?
2) Plat. Meno 96 d. Hipp. maj. 282 c. Cratyl. 384b (Axioch. 366 c); jünger
als Protagoras war er nach Prot, 317c; apol. 19 e beweist schwerlich, dass
er Sokrates überlebte, vielmehr stellt ihn Plato im „Protagoras" wohl nicht
ohne Grund als kränklich dar. Da«s er den Tod des Sokrates erlitt (Suid.),
dürfte auf einem dtirch den keischen Schierlingstrank veranlassten Missgriff
beruhen (Welcker kl. Sehr. 2, 503).
8) Plat. Theaetet. 151b.
4) Xenoph. conviv. 4, 62.
6) Plat. Hipp. maj. 282c.
6) Aristoph. Nub. 361. Av. 692. fragm. 482.
Die ersten Sophisten. 27
noss^). Wiewohl Prodikos durch das Auftreten des Protagoras
oliiie Zweifel die Anregung empfing, seine Kenntnisse in ähn-
licher Weise zu verwerten, war er doch keineswegs von jenem
Sophisten unmittelbar abhängig^). Seine Natur war nüchtern
und eitler Wortverschwendung abgeneigt, üeber jede Sache
l)eliebig lange disputieren zu können, hielt Prodikos für wert-
los; man solle über einen Gegenstand weder kürzer noch länger
als angemessen sei sprechen ^). Auf Schmuck der Rede scheint
er dementsprechend weniger gesehen zu haben als auf treffende
Ausdrücke ■*). Dieses Streben führte ihn zur Begründung der
Synonymik, indem er die eigentliche Bedeutung jedes Wortes
festzustellen und es gegen verwandte Bezeichnungen abzugrenzen
suchte, z. B. schied er rjSovirj y.apd xsptjji? und eufppoaovT] ^). Die
Resultate dieser Forschungen , welche für die Bildung des
Stiles, wie für die Festsetzung der Begriffe gleich wichtig waren,
teilte Prodikos in einem berühmten Vortrage mit, den Plato
spöttisch die Fünfzigdrachmenvorlesung nannte ^). Die mora-
lische Richtung, die den Sophisten mit Sokrates verband, be-
thätigte er durch erbauliche Vorträge über Herakles und andere
Heroen ^), die sich die Zuhörer zum Muster nehmen sollten ;
besonders behebt w-ar ,, Herakles am Scheidewege", eine Parabel,
welche von ihm selbst erfunden scheint ^).
1) üpoStxoo ootpoitspo«; (wohl ans einem Komiker) Apostol. proverb. 14, 76
mit Schneidewius Note.
2) Suidas von flpcuTaYÖpa:; und Hpöocxoc; (verderbt Schol. Plat. 217 B),
der ihn einen Schüler des Protagoras nennt, wird durch den platonischen
Dialog widerlegt,
3) Plat. Phaedr. 267 b.
_. 4) Plat. Eutbyd. 277 e Tzptäxov irepl 6vo|j.aTtMV ipS-oTYjto? |j.a^£lv Sei.
W 5) Tä öv6|i,aTa Siatpelv Plat. Charmid. 163 d und Laches 197 d. Protag.
337ab. 341b. Aristot. top. 2, 6 p. 112b 22; vgl. Schanz S. 151 ff.
6) Plat. Cratyl. 384 b (Die „Volksausgabe" für einen Drachme wird man
für nichts anderes als einen Witz halten dürfen). Aristot, rhet. 3, 14 p.
1416b 15.
7) Plat. syrapos. 177 b.
8) Xenophon erzählt sie memor. 2, 1, 21—34 und zwar, wenn er auch
nach § 21 ein Buch benützte (Philostr. vit. soph. l, 12 ist erfunden), ohne
den Wortlaut wiederzugeben ; er wendet bloss, um das Werk als sophistisch
zu kennzeichnen, den gorgianischen Stil (Blass attische Bereds. I 30 f.) an.
üeber die Parabel vgl. Böttiger Hercules in bivio e Prodici fabula et monu-
mentis priscae artis illustratus 1829.
28 Erstes Kapitel.
Diese Rede veröffentlichte Prodikos mit drei anderen; die
Vierzahl veranlasste den preciösen Titel ^üpc(.i ^). Darin war
wohl auch die Abhandlung ,,über die Natur des Menschen"
einbegriffen^). Sie lehrt, dass auch tue Naturphilosophie dem
Sophisten nicht fremd geblieben war.
Während die Schriften des berühmten Sophisten rasch
verschollen, übten seine Vorträge einen erheblichen und nach-
haltigen Einfluss auf die Entwickelung des Prosastils aus, ja
der Keer hat die Bildung einer wahrhaft klassischen Prosa
vielleicht mehr gefördert als Gorgias. Denn er lehrte nicht
die kunstreiche Verschnörkelung der Sprache, sondern die strenge
Zucht des Stils. Prodikos forderte einen richtigen und scharf
bezeichnenden Ausdruck. Wenn hiebei auch manche Spitz-
findigkeit mit unterlief, gewann doch die Klarheit und Sorgfalt
der Sprache ausserordentlich ; daher zeigten fast alle Erzeugnisse
der attischen Literatur, welche während des peloponnesischen
Krieges entstanden, Spuren der prodikeischen Synonymik.
Die Alten haben sie bereits bei Thukydides^) und Euripides*)
beobachtet. Antiphon hält sich ebenfalls nicht davon frei.
Plato lässt im Symposion Pausanias , einen Zuhörer des
Prodikos ^), dessen Lehren befolgen. Von Kritias*') und Thera-
menes '') könnte, wären ihre Schriften erhalten, dasselbe gezeigt
werden. Einige lassen auch Isokrates bei ihm in die Schule
1) Xenophon sagt ev ty ouYYpajJ.fi'XTi xü) irspl 'IlpaxXeouc; nach Schol.
Aristoph. Nub. 3ö0 (vgl. Av. 693 Said. v. IIpoS'.xoc und ^ßpai) gehörte sie
zu den 'üpai. Ebenso nuuute mau die drei Reden des Aischines Xdiptte!;.
Andere Vermutungen über den Titel bei Welcker S. 4(')6f.
2) ITepl (püaEtu-: ävO-pcoTCou Galen II p. 130K., vgl. Cic. de orat. 3, 32, 128;
hierher gehört wahrscheinlich das von Di eis Hermes 13, 1 aufgefundene
Fragment. Der Vortrag über die Seele, welche dem „Axiochos" zu Grunde
liegt, ist ebenso bedenklich wie ein '0\o|jl7:ix6? (Lucian. Herod. 3).
3) Marcellin. vit. Thuc. 36.
4) Vit. Eurip. I Z. 10 (II Z. 9), III Z. 7 (aus einer ähnlich lautenden Quelle
Gell. 16,20, 4); vgl. Aristoph. Ran. 1154 flf. (wo 1181 speziell der Ausdruck
ipfrör»)? t&v ej:d>v steht), auch Fragm. 801.
6) Plat. Protag. 316d.
6) Plat. Charmid. 163 (b) d.
7) Aeschines Socrat. bei Athen. 6, 220 b (vgl. Suid. QvjpaftlvTjc). Aristp-
phaneis Kan. 970 spottet deshalb, er sei oü Xioi; aKkä Keio^.
Die ersten Sophisten. 29
gellen ^). Eigentliche Schüler hat aber Prodikos gewiss nicht
gehabt, da ja die Sophistik nicht sein Lebensberuf war.
Die encyklopädische Richtung tritt noch mehr hervor bei
Jlippias von Elis^). Er war gleichfalls nicht ein blosser
Sophist, sondern diente seiner Bürgerschaft häufig als Gesandter^).
Bei diesen Gelegenheiten hielt er in Griechenland und Sicilien^)
für teueres Geld Vorträge in geschlossenen Cirkeln; natürlich
kam Hippias gelegentliclv auch nach Athen, wo er mit Sokrates
verkehrte.^) Plato stellt ihn in zwei nach ihm benannten Dialogen
so dar, als ob er sogar unter den selbstbewussten Sophisten
durch seine Eitelkeit aufgefallen wäre; aber Plato übertreibt
ohne Zweifel *'). Um so mehr ist, was er ihm an Vorzügen
zugesteht, glaubwürdig. Ein wunderbares Gedächtnis '^) gestattete
nämlich Hippias, eine ausserordentliche Fülle von Kenntnissen,
deren sich kein anderer seiner Zeitgenossen rühmen konnte,
spielend zu erwerben ^) ; er eignete sich sogar eine Menge von
praktischen Fertigkeiten an, so dass, wenn wir Plato glauben
dürfen, die reiche Gewandung, in der er zu Olympia vor der
Festversammlung auftrat, vollständig von seiner Hand gefertigt
war ^). Sonst erzählt niemand etwas über Hippias. Jedenfalls
war er ungefähr ein Zeitgenosse des Prodikos ^*').
1) Bionys. Hai. und Ps. Plut. in den Biographien des Redners.
2) Osann Rhein. Mus. 2, 496 ff. ; Geel Rhein. Mus. 3, 132 ; Mähly Rhein,
Mus. 16, 614 ff, 16, 38 fl'.
3) Plat. Hipp. maj. 281 ab.
4) Plat. apol. 19 e. Hipp, maj. 281 be. 283eff.
5) Xenoph. mem. 4, 4, 5 ff.
6) Schanz a. O. S. 61 f.
7) Plflt. Hipp. maj. 286 e. Verschiedene behaupten, er habe es wieder
Dichter Simonides durch Zaubertränke erworben (Animian. Marc. IG, 6, 8).
Ein Sophist sollte überhaupt ixvYjjjLovtxoc sein (vgl. Aristoph. Nub. 414. 483.
Aeschin. 2, 112): s. Morgenstern de arte veterum mnemonica, Dorpat
1835; Val. Rose Aristoteles pseudepigr. p. 140; Roh de der griech. Roman
S. 296 A. 2.
8) Uo\oii.ad"fi(: nennt ihn Xenophon mem. 4, 4, 6.
9) Plato Hipp. min. 368 b ff.
10) Auf ihn zielt Aristophanes Nub, 638; der Hippias, dessen Wittwe
oder Tochter Isokrates heiratete, war tfotz Suidas (v. 'Atfapsuc) nicht unser
Sophist, sondern ein Athener.
30 Erstes Kapitel.
Der Vielwisserei des Hippias entsprach die Mannigfaltigkeit
seiner Vorträge. Vor allem unterrichtete er in den mathematischen
und musikalischen Wissenschaften (Arithmetik, Geometrie
und Astronomie, Musik, Rhythmik und Harmonik ') ; ahor er
entwarf auch, wie Prodikos, von den Helden der homerischen
Epen farhenreiche Bilder oder liess den unerfahrenen Neoptolemos
durch Nestor belehren ^). Hippias' Wissen ging aber mehr in
die Breite als in die Tiefe; denn er förderte, soviel wir wissen,
weder eine einzelne Wissenschaft noch die allgemeine Bildung,
weshalb ihn Aristoteles ignorieren durfte. Selbst die '(pc(.^\Lanv.ri
im älteren Sinne, die Lehre von dem Klange der Bachstaben,
welche mit der Rhythmik und Harmonik zusammenhing,
scheint Hippias dem Demokritos abgelernt zu haben, wenn
anders derselbe Trspl su^wvwv xat a^tovwv Ypa{jL[i.dTüiv geschrieben
hatte ; übrigens hatten schon die Lyriker auf den Wohlklang
der einzelnen Buchstaben geachtet und Lasos deshalb zwei
Gedichte, in denen der Buchstabe o nicht vorkam, verfasst^).
Doch empfing der athenische Staatsmann Archinos, als er
die Einführung des jonischen Alphabetes beantragte, wahr-
scheinlich von Hippias die Anregung, sich mit der Lautphysiologie
zu beschäftigen^)- Hippias selbst wurde einerseits von der
Musik und Metrik aus andererseits, wie die Poetik des Aristoteles
zeigen mag ''), durch das Studium der Dichter auf dieses Gebiet
geführt. Was seine Stellung zur Redekunst anlangt, huldigte
Hippias ähnlichen Grundsätzen wie Prodikos ^), wiewohl er ihn
anscheinend an Beredsamkeit übertraf; er rühmte sich ja, jede
Sache immer neu behandeln zu können ^) und Plato legt ihm
im Protagoras (337 c ff.) eine volltönende Rede in den Mund,
1) Plat. Prot. 318 e. Hipp. maj. 285 d. Hipp. min. 366 c. 367 de. 368 d.
2) Plat. Hipp. min. 363a — c. Hipp. maj. 286 ab; eine genauere Be-
trachtung dieser Stellen wird abhalten, die Vorträge zusammenzuwerfen.
3) Vgl. Athen. 10, 465 cd.
4) Ein Fragment der Schrift, welche .\rchinos darüber veröffentlichte,
wies Usener Kheiu. Mus. 25, 691 f. nach; vielleicht stand Kullias' bekannte
Ypa|jL|jittTixY] tpuYtuSia damit in Zusammenhang.
6) Aristot. poet. c. 20. 21.
6) Plat. Phaedr. 267 b.
7) Xenoph. mem. 4, 4, 6.
bie ersten Sophistert. 31
welche eine grosse Vorliebe für Verbindung von Synonymen
und für bildliche Ausdrücke zeigt ^).
Obgleich sich Hippias in allen Gattungen der Poesie und
1^-osa versuchte ^), war den Alten ein einziges in attischer Mundart
— Hippias konnte doch nicht elisch schreiben — abgefasstes
Werk, welches die buntscheckigen Kenntnisse des Verfassers
vor Augen stellen sollte, bekannt. Die prahlerische Voirede
der aDva^cioYi] ^) verkündete dem Publikum, dass Hippias aus
allen möglichen prosaischen und poetischen Werken der Griechen
— ■ und Barbaren eine Auswahl zu geben gedenke. Hippias
hatte also seine mannigfaltigen Kenntnisse nicht, wie die übrigen
Gelehrten des fünften Jahrhunderts, auf weiten Reisen mühsam
erworben, er war vielmehr der erste Vielleser, der erste Stuben-
gelehrte; beispielsweise memorierte er, auch nach dem ßeifalle
der Lakedämonier begierig, in Eile allerlei merkwürdiges über
die griechische Vorzeit, was sie interessieren konnte. In
einem Buche handelte nun Hippias, wofern die enthaltenen
Fragmente sännntlich dazugehören, von berühmten Dichtern,
Philosophen, Gesetzgebern und Hetären, über Sternbilder, die
Argonautensage, die früheste Belegstelle des Wortes „Tyrann",
die Namen der Weltteile und des eleischen Ephyra^); Hippias
muss wahrlich aller Gewandtheit seiner Zunge bedurft haben,
damit er alle diese Dinge in Zusammenhang brachte. Als dem
berühmtesten Eleer legten ihm manche auch die Liste der
olympischen Sieger^) bei und die örthche Tradition schrieb ihm
das Epigramm einer Siegerstatue zu ^). Bei Hippias sind weder
Schüler noch Spuren seiner Schule nachzuweisen.
1) Besonders 338 a, vgl. Schanz S. 144. Die Bemerkung des Philostratos
Vit. soph. 2, 21 litittaCovTt xs etuxst %a\ YopYtdCovxi beruht, was Hippias anlangt,
gewiss nur auf Plato.
2) l'lat. Hipp. min. 3*38 cd.
3) Diesen Titel gibt Athen. 13, 609a an; das bei Clem. Alex, ström.
6, 265 S. stehende Fragment bildete augenscheinlich einen Teil der Vorrede.
4) Diese Fragmeute sind bei C. Müller fragm. histor. Graec. II 59—63
zusammengestellt; zwei von Stobaios angeführte Sentenzen veranlassten Geel
bist. crit. sophist. p. 192 eine besondere Schrift irepl apsxcüv anzunehmen.
5) Phit. Nnma 1 am Ende; Meziriac wollte hier 'HXeIov in A-fjXtov
ändern. Es gab nämlich einen 'ir^rdaz h A-riXio? (C. Müller will 'HXeloc),
der nach Schol. Apoll. Rhod. 3, 1079 si^vwv övo^iaaiat schrieb; frg. 4und5M.
haben damit nichts zu thun.
32
Erstes Kapitel.
Wie wir sehen, trotzte in dem eigentlichen Griechenland
kein Gelehrter dem Vorurteile so sehr, dass er als unabhängiger
Wanderlehrer auftrat; zugleich brach man nicht so entschieden
wie es Protagoras gethan hatte, mit den frülier alleinberechtigten
Wissenschaften , sondern strebte eine Vermittlung zwischen
jenen und den Bedürfnissen des praktischen Lebens an.
Zweites Kapitel.
Die älteren Prunkredner (Gorgias und seine
Schule).*)
*) Die Geschichte der Beredsamkeit wurde von dem feinsinnigen Hardion
(sur l'origine et les progres de la rhetorique dans la Grece, in den M^moires
de l'academie des iuscriptions t. IX — XIX) eröffnet ; an David Ruhnkens
historia critica oratorum Graecorum (im VIII. Bande von Reiskes oratores
Graeci ahgedruckt) ist jetzt wenig zu rühmen. In unserem Jahrhundert
waren die Arbeiten der Franzosen, unter denen ich G. P e r r o t l'eloquence politique
et judiciaire ä Athenes, Paris 1873 und Jules Girard etudes sur l'eloquence
Attique. Lysias Hyperide Demosthene, Paris 1874 hervorhebe, auf die ästhe-
tische Würdigung der alten Redner gerichtet; A. Westermann Geschichte
der Beredsamkeit in Griechenland und Rom, Bd. I. Leipzig 1833 entwarf zuerst
eine philologische Darstellung. In dem umfixssenden Werke von Friedrich
Blass, die attische Beredsamkeit, Bd. I. von Gorgias bis Lysias, Leipzig 1868
(2. Aufl. augekündigt). II. Isokrates und Isaios 1874, III. 1. Demosthenes 1877
2. Demo.sthenes' Genossen und Gegner 188Ü sind zum ersten Male nicht bloss
die äussere Geschichte erörtert und allgemeine Urteile gegeben, sondern auch
die Eigentümlichkeiten jedes Redners und die einzelnen Denkmäler auf das
sorgsamste und genaueste analysiert. R. C. Jebb the Attic orators from
Antiphon to Isaeos, London 1876, 2 Bde. ist mir nicht bekannt.
Die ältere Geschichte der Theorie der Beredsamkeit behandeln L. Spengel
ouvaYWY"'] t£)(vtuv sive artium scriptores ab initiis usque ad editos Aristotelis
de rhetorica libros, Stuttgart 1828 und Benoit sur les premiers manuels
d'invention oratoire, Paris 1846.
An Sammelausgaben der attischen Redner werden folgende wiederholt
genannt werden : die Aldusausgabe der Attiker mit Gorgias, Alkidamas, Anti-
sthenes, Lesbonax und Herodes, Venedig 1513 3 Bde. fol.; Oratores Graeci,
(ausser Demosthenes) von Henr. Stephanus, Paris 1575 ; Oratorum Graecorum
quorum princeps est Demosthenes, quae superunt monumenta ingenü ed.
J. Jac. Reiske, Lipsiae 1770 — 75, 12 Bde. (Isokrates fehlt); Oratores Attici
ex rec. Imm. Bekkeri, Oxonii 1822—28 4 tom. und Berolini 1823 — 84 5 tom.;
Oratores Attici recogn. ... lo. G. Baiterus et Herm. Sauppius, Turici 1838
— 60 9 fasc. (mit den SchoUen und Fragmenten), kleinere Ausgabe Turici
1838 — 43; Oratores Attici . . . cum translatione reficta a C. MüUero, Paris
1846 — 47 (mit Schollen und Fragmenten).
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. U. 3
34 Zweites Kapitel.
Gorgias; Polos, Likymnios, Alkidamas und die übrigen Gorgianer ; StoflFe der
Prunkreden.
Bei jenen älteren Sophisten war die Beredsamkeit nur
Mittel zum Zweck; sie begründeten dieselbe nicht, sondern be-
reiteten nur ihr Aufblühen vor. Wenn kein Athener diese Lücke
ausfüllte, so konnte kein anderer als ein sicilischer Grieche
dafür eintreten. Den hellenischen Bewohnern von Sicihen waren
ja Geschwätzigkeit und unerschöpflicher Witz angeboren^); zudem
erhielt ihre Sprache durch Personifikationen und Metaphern,
an die sie sich vielleicht im Verkehr mit den Puniern gewöhnten,
einen poetischen Anstrich^). Nicht umsonst hiess ,,Herr und
Frau Rede" (Aö^oc xai Ao^iva) eine Posse des Epicharmos.^)
Der erste Sicilier nun, von dem Aristoteles sagen durfte,
er habe zur Rhetorik „den An stoss gegeben"*), war der bekannte
Philosoph und Arzt Empedokles, der am Krankenbette, mit
den unvollkommenen Heilkünsten der Empirik nicht zufrieden,
auch die Seele seiner Patienten durch den Zauber seiner Rede
stärkte und hoffnungsvoll stimmte oder sie zu unangenehmen
Heilmitteln überredete^). Weil dies gewiss viel zu seinen an-
geblichen W^underkuren beitrug, pries er in seinen Gedichten
die Macht der Peitho^).
Empedokles verdient jene Anerkennung des Aristoteles auch
deshalb, weil ohne Zweifel Gorgias von Leontinoi'), der
erste Rhetor, von ihm die wichtigsten Anregungen empfing.
1) Schon Pindar (Pyth. 1, 42) nannte sie ntpif\u>a-zof.', vgl. Lorenz
Leben und Schriften des Koers Epicharmos S. 94.
2) Vgl. Plat. Gorg. 493 a, der vielleicht auf Tiraokreon, frg. 6 (Bergk
III* 639) anspielt.
3) Lorenz a. O. S. 146.
4) Diog. 9, 25. Sext. Empir. 7, 6 (xEX'.VY)xEvat wird durch „movisse aliqua
circa rbcloricen" Quintilian. 3, 1, 8 als Originalausdruck erwiesen); Plethons
Citat bei Walz rhetor. VI 688 ist erdichtet.
6) Vgl. Satyros bei Diog. 8, 58; im allgemeinen Plato leg, 4, 720 d.
Gorgias unterstützte so seinen Bruder Herodikos und andere Aerzte Plat.
Gorg. 466 b.
6) Bei Clem. Alex, ström. 6, 694 S, 686 P.
7) Heinr. Foss de Gorgia Leontino commentatio, Halle 1828, Deuschle
in seiner Ausgabe des platonischen Gorgias, Susemihl Gorgias and die
attische Prosa, Jahrbb. f. Phil. 115, 793 ff. Blass 144 ff.
Die älteren Prunkredner (Gorgias nnd seine Schule). 35
Gorgias, der Sohn eines Charmantides ^) und Bruder des Arztes
Herodikos, tritt uns in den Geschichtsbüchern Ol. 88, 1 oder 2
(427) entgegen, als er mit anderen Gesandten seiner Vaterstadt
nach Athen kam, um dessen Hilfe anzurufen^). Dort erregte
er durch das Neuartige seiner Reden, welche er im Privatkreise
hielt, das grösste Aufsehen ^). Dieser Erfolg veranlasste vielleicht
Gorgias, den Lehrerberuf zu ergreifen. Ohne irgendwo festen
Wohnsitz zu nehmen, zog er in Griechenland umher, überall
auf das ehrenvollste aufgenommen und von lernbegierigen
Jünglingen umdrängt. Am hebsten hielt sich der Rhetor in
dem reichen Thessalien auf, wo das Fürstengeschlecht der
Aleuaden ihn begünstigte *) ; ob er nach Athen ein zweites Mal
kam, ist sehr zweifelhaft, Plato's Worte scheinen es auszu-
schhessen^). Gorgias endigte sein Leben im höchsten Alter,
nachdem erden ausserordentlich reichen Ertrag seiner Thätigkeit '')
in egoistischer Müsse und Einsamkeit, keiner Bürgerschaft ver-
pflichtet und ohne Famihe, massvoll genossen hatte').
1) So die Inschrift von Olympia Archäol. Ztg. 35, 43 (ebenso Suidas,
zu dessen Artikel man E. Rohde Rhein. Mus. 33, 185 A. 1 vergleiche); falsch
KapiiavTi^Y)? Pausan. 6, 17, 8, vgl. H. Keil analecta epigraphica p. 208.
2) Plat. Hipp. maj. 282 b. Timaios bei Dionys. Lys. 3, vgl. Diodor. 12
53, 2. Pausan. 6, 17, 8.
3) Timaios a. O.; die späteren Rhetoren wussten allerlei davon zu er-
zählen (Walz rhetor. 4, 15. 5, 216. Olympiod. in Plat. Gorg. Jahns Archiv
14, 109).
4) Plat. Meno 70 b. Isoer. 15, 155 (ausgesponnen Cic. orator 52, 176,
Philostr. epist. 73, 2, auf Jason übertragen Pausan. 6, 17, 9). In Böotien
hatte Gorgias den bekannten Proxenos zum Schüler (Xenoph. anab. 2, 6, 16).
5) Plat. Meno 71c. Der platonische Dialog Gorgias ist für die Chronologie
natürlich unbrauchbar. Susemihl a. O, S. 797 f. nimmt an, dass er 4! 8 oder
419 noch einmal nach Athen kam.
6) Das Honorar von hundert Minen finden wir, wie Protagoras, so auch
Gorgias beigelegt (Diod. a. O. Suid.). Nach Isoer. 15, 166 hinterliess er 1000
Statere (nominell 200 Minen).
7) Isoer. 14, 156; nach § 165 lebte er tiXecotov j^povov. Spätere wollten
die Zahl seiner Jahre genauer wissen: 108 Plin. nat. h. 7, 156. Philostr. vit.
soph. 1, 9. Ps. Lucian. jj-axpoß. 23 (nach diesem starb Gorgias durch freiwilligen
Hungertod). Censorin. de die nat. 15; 109 Apollodor. bei Diog. 8, 58 (Quiutil.
3, 1, 9, Olympiodor. Jahns Archiv 14, 112. Suid.). Anekdoten aus dem 106.
oder 107. Jahre Plut. defect. orac. 20 und Val. Max. 8, 13 ext. 2; diese
erzählend teilt ihm Cic. de senect. 5, 13 ungenau 107 Jahre zu. Vereinzelt
steht Pausan. G, 17, 9 mit 106 Jahren. Vgl. auch Klearchos bei Athen. 12,
3*
3g Zweites Kapitel.
Gorgias wollte, wie die übrigen Sophisten für das öffentliche
Leben erziehen, aber er war der erste, welcher die Beredsamkeit
in den Vordergrund stellte. In der Redekunst schienen ihm
alle Wissenschaften zu gipfeln, weil durch sie jene zum Ausdrucke
gelangen und der Mensch ohne rohe Gewalt den Sinn seiner
Mitbürger nach seinem Willen lenkt ^). Darum nannte er sich
nicht Sophist, sondern R h e t o r, in welchem Worte dem Griechen
der politische Einfluss miteingeschlossen war^). Damit war ein
erheblicher Schritt vorwärts gethan, um die allgemeine Auf-
merksamkeit auf die Sprache selbst zu lenken, mochte auch
Gorgias als Lehrer noch höchst unvollkommen sein und seinen
pjrfolg zum grossen Teil dem Eindrucke seiner Persönlichkeit
verdanken. Weil Empedokles seinem klugen Schüler gezeigt
hatte, wie sehr der Erfolg beim Publikum von Aeusserlichkeiten
abhängig sei, imponierte Gorgias seinen Zuhörern, indem er wie
ein Fürst im Purpurgewande vor sie trat^). Damit er hinter
Protagoras nicht zurückstehe, rühmte er sich etwas reklamenhaft,
wie er über alles erdenkliche reden und jedem Antwort stehen
könne und nichts weniger fürchte, als dass ihm die Worte aus-
gingen*). Dazu bedurfte er aber mannigfaltiger Kenntnisse;
648(1. Jene 108 oder 109 Jahre scheinen nur aus Plat. apol. p. 19e errechnet;
denn man nahm, wie Quintiliau 3, 1, 9 andeutet an, dass Gorgias damals
(Ol. 95, 1) noch lebte. Wenn man nun an der Hand von Aristoteles (Cic.
Brut. 12, 46) den Beginn der siciliachen Beredsamkeit und damit auch die
Blüte des Gorgias Ol. 78 ansetzte, so ergaben sich 108 oder 109 Jahre, sobald
man Gorgias in demselben Jahre wie Sokrates oder im folgenden sterben Hess.
I'orphyrios (bei Suid.) nennt Ol. 80, wo Perikles auftrat. Schlimmer war
das kindische Verfahren, den Rhetor wegen seiner patriotischen Reden zum
Zeitgenossen der Perserkriege zu stempeln (Ps. Plutarch. Antiph. 83*2 e und
Vita Antiph. p. 236, 3 West.), woraus Plin. 83, 83 LXX. circiter Olympiade
und Suidaa' Worte aXXd )(p-r) voelv TCpeoßöxepov aotov eivat zu erklären sind.
Vgl. Diels Rhein. Mus. 31, 39f. Plut. Socrat. daem. 13 ist für die Chrono-
logie wertlos.
1) Plat. Gorg. 452de. 466aff. u. ö. Phileb. 68ab.
2) Plat. Gorg. 449 a. Mit ^-rjxopec setzt Plat. Protag. 329 b die Gorgianer
Protagoras entgegen.
3) Aelian. var, bist. 12, 82, was im Hinblick auf Empedokles und Hippias
glaublich ist; sonst kJmnle man denken, da.ss die Bemerkung von der Sitte
der spiUeren Sophisten (Roh de der griechische Roman S. 307 A. 2) ent-
lehnt sei.
4) Plat. Gorg. 447 c. 46üc. 467 ab. Arist. rhet. 3, 17 p. 1418a 34.
Die älteren Priinkredner (Gorgias und seine Schule). 37
doch hört man bloss, dass Gorgias sich mit Naturphilosophie
eingehend beschäftigte, wobei er in die Fussstapfen seines
Lehrers Empedokles trat^). üer platonische ,,Menon" zeigt,
dass der Empedokleismus nicht ein später überwundenes Stadium
in der geistigen Entwicklung des Gorgias war ; der Rhetor
scheint auf diesem Gebiete niclit unbedeutendes geleistet zu
haben, weil ihn Isokrates als Metaphysiker erwähnt^) und ein
Aristoteliker seine Philosophie zu recensieren nicht verschmähte.
Wie Gorgias durch seine glänzende Erscheinung die Augen
der Zuhörer blendete, so suchte er auch hinsichtlich der rhe-
torischen Durchbildung seiner Reden ihre Sinne (das Wort im
weiteren Sinne genommen) durch starke Mittel zu reizen. Vor
allem glaubte er die gewöhnlichen Redner überwunden, wenn
er der ungebundenen Rede die Freiheiten der Poesie zuteilte^);
denn damals ahnten die Gebildeten noch nicht, dass man auch
mit den jedem offen stehenden Mitteln über das Alltägliche
sich erheben könne. Schwulst und Uebertreibung galten zu
jener Zeit noch für schön, weil sie fremdartig und phantastisch
klangen. Gorgias setzte also die Wörter der Umgangssprache
gegen poetische und veraltete Ausdrücke hintenan^), doch war
er nicht so erfiudungsarm wie die Sophisten der Kaiserzeit ^),
dass er die Dichter hätte plündern müssen. Wenn er sie auch
kannte und feinsinnig beurteilte ''), wetteiferte er selbständig
sogar mit den Dithyrambendichtern'), an welche gewichtige
\
1) Plat. Menon 76c, vgl. Satyros bei Diogeu. 8, 59. Olympiodor (Jahns
Archiv 14, 112) vereinigt die Abfassung der philosophischen Schrift chrono-
logisch mit der Blüte des Empedokles (Ol. 84 Diogen. 8, 74). Vgl. Suse-
mihl Jahrbb. f. Phil. 73, 40 ff. Di eis Sitzungsberichte der Berliner Akad.
1883 S. 343 ff.
2) Isokr. 15, 368.
3) Aristot. rhetor. 3, 1 p. 1404 a 24 ff. Dionys. Halle. Walz rhetor,
Gr. V 446.
4) Blass 160.
5) Philostrat. vit. soph. p. 221, 6. 244, 13. 257, 2. 271, 9 K.
6) Aischylos' Sieben gegen Theben nannte er [xeotöv "Apscuc (Plutarch.
quaest. symp. 7, 10, 2 vgl. Ovid. amor. 1, 1, 12).
7) Dionys. Halle. Ijys 3 oh icoppcu 8t^upa{j,ß(«v evta tpO-EYYOfJ-svo? l^gl-
Max. Planud. Walz rhet. V 446, 1), vgl. Hardion Memoires de l'acad. des
inscr. 19, 203; U. v. Wilamowitz homer. Untersuch. S. 313,
38 Zweites Kapitel.
Komposita^) und kühne Uebertragungen , wie ,,der Zeus der
Perser" (Xerxes) oder ,, lebende Gräber" (von den leichen-
fressenden Geiern) erinnerten^). Wohl bekannt mit der Vor-
liebe, welche das hellenische Volk für den musikalischen Klang
empfand, schmeichelte Gorgias dem Ohre durch gleich oder
ähnlich tönende Wörter und Formen, sei es dass er sich ver-
schiedener Ableitungen desselben Stammes im gleichen Satz-
gliede bediente, oder dass er die Periodenteile durch den Reim
auf das engste verknüpfte. ^) Im weiteren Sinne mag man den
Parallelismus der Gheder ebenfalls als rhythmisch bezeichnen.
Gorgias erweiterte nämlich die Sätze in höclist einfacher Weise
dadurch, dass er statt der einfachen Aussago die antithetische
Vergleichung mit einem zweiten setzte*); er ging dabei von
der richtigen Beobachtung aus, welche später Aristoteles for-
mulierte, Lob und Tadel beruhten hauptsächlich auf der Ver-
gleichung mit einem anderen. Durch die Antithese wurde daher
zugleich an Stelle eines einfachen Gedankens eine geistreiche
oder geistreich sein sollende Pointe gewonnen und ein voller
harmonisch gebauter Satz erzielt. Aber die Masslosigkeit seines
Talentes riss Gorgias über die Grenzen des Schönen weit
hinaus. Der Rhetor Demetrios '') erhebt den Vorwurf, er wende
ohne Abwechslung die breiten Perioden zu häufig an. Ferner
häufte Gorgias zu viele Antithesen in einen einzigen Satz zu-
sammen^), wovon Dionysios aus dem Epitaphios ein wahrhaft
groteskes Beispiel anführt''). Es ist für die Geschichte des
griechischen Prosastils von solcher Wichtigkeit, dass wir uns
eine kurze Zergliederung nicht versagen können : Den Anfang
1) Aristot. rhet. 3, 3 p. 1406b 37; zu den StirXä vgl. Vahlen Rhein.
Mus. 21, 146.
2) Ilepl ü<|^ooq 3, 2; anderes Aristot. rhet. 3, 3 p. 1406 b 8, vgl. Dionys.
Lys. 3. Isae, 19 (itavxa^oö rtatSapnoSYj fi-c^öiLevov).
8) Dionys. de vi Demosth. 6. 26. ad Ammae. II 2. 17. Cic. orator 12,
39.52, 175. Diodor. 12, 53, 4. Plato parodierte diese Gleichklänge im „Gor-
gias" wiederholt, z, B. 462 e.
4) Dionys. u. Diod. a. O. Cic. orator 12, 38. Quintil. 9, 3, 74 (Gorgias
in hoc immodicns). Demetr. n. fepjiYiv. 29.
5) Ilepl fep}i"rjveiac 12, 16 \L-i\zt neptoSotc 8Xov tov \6fov auvEtpeoO-ai tix;
6 FopYtot).
6) Plat. Phaedr. 267 b Änstpa {t-fix-r;.
7) Bei Maximos Planudes Walz Ehetor. V 648 flf.
Die älteren Prunkredner (Gorgias nnd seine Schule). 39
macht ein Paar gleichgebauter antithetischer Fragen, dem ein
antithetisciies Satzpaar verbunden mit einer Antithese von zwei
Participien folgt. Nun erhebt sich Gorgias zu einer unförm-
lichen Periode: Auf einen mit einer kurzen Antithese verbun-
denen Hauptsatz folgt ein Particip mit Antithese, ein anderes,
das drei verbundene Infinitive regiert, dann ein mit ,,und"
angereihtes Particip, zu dessen Erläuterung wieder zwei parti-
cipiale Antithesen dienen, ferner nach einem kurzen Gegensatze
nicht weniger als sieben asyndetisch neben einander gestellte
Attribute, so dass das Subject des Hauptsatzes dreizehn nominale
Bestimmungen hat. Der folgende Satz enthält wieder drei
Antithesen und vier durch outs — oute — eingeleitete Glieder.
Mögen auch solche ungeheuerliche Perioden selbst bei Gorgias
nicht viele ihresgleichen gehabt haben, so berechtigen sie doch im
Verein mit dem übrigen zu dem Urteile, dass Gorgias von dem
klassischen Maasse weit entfernt war. FreiHch hat Gorgias
gewiss nicht so geschrieben wie er sprach, denn derartige
Perioden hätten den Redner ebenso erschöpft wie die Zuhörer
ermüdet. Die Künsteleien des Gorgias mussten auf den Leser
einen weit geringeren Zauber ausüben als auf den Hörer, weil dem
Prunke der Worte der Gedankeninhalt wenig entsprach^); er
verschleierte eher die Gedanken als dass er sich verständlich
zu werden bemühte^). Das bunte Farbenspiel seiner Reden
war übrigens nicht immer ernst gemeint.^)
Gorgias erscheint jetzt an der Spitze der epideiktischen
Beredsamkeit ; doch dürfte er thatsächlich nicht der Bahnbrecher
gewesen sein. Die Nachrichten über Empedokles und Epicharms
Fragmente ^) gewähren vielmehr der Ansicht einer gewissen
Berechtigung, dass die Geschichte der gorgianischen Manier
in Sicilien weit höher hinaufreicht; sogar die Gleichklänge sind
schon bei jenen Vorgängern nachzuweisen^).
1) Dionys bei Maxim. Planud. Walz rhet. V 551.
2) Plutarch. recta rat. aud. 7.
3) Aristot. rhetor. 3, 7 p. 1408b 20 fiet ' dpaiveiac. tuonsp Topfia^
iitotst xal tot ev $at8p({),
4) Lorenz Leben und Schriften des Koers Epicharmos S. 95.
6) Epicharm. bei Etym. M. 725, 5 noXXol axatYjpec, ftTCoSox-rjpsc obhe
el?. Dem Empedokles schrieb man ein mit ähnlichen Wörtern spielendes Epi-
gramm zu (Diogen. 8, 65).
40 Zweites Kapitel.
Die Kunst des Gorgias kannten die Alten aus mehreren
Reden ^), welche aller Wahrscheinlichkeit nach in jonischer Mundart
geschrieben waren. Denn für einen Jonier war damals kein
Grund vorhanden, eine Mundart, welche zur Zeit des archi-
damischen Krieges kein anderer nichtathenischer Gelehrter als
höchstens der Eleer Hippias annahm, statt der ausgebildeten
seines Stammes anzuwenden, zumal wenn er, wie Gorgias, sich
nur ein- oder höchstens zweimal in Athen aufhielt.^) Gorgias
ist, wenn ihm Prodikos nicht zuvorkam, der erste, welcher die
von ihm gehaltenen Reden nachher schriftlich herausgab, um
seinen Ruhm auch in die Städte, wohin er persönlich nicht
kam, zu verbreiten und der Nachwelt zu bewahren. Das höchste
Ansehen genossen unter diesen Reden die Pythische, die Olympi-
sche und die Leichenrede. Von der ersten kennen wir nichts
mit Ausnahme der Anekdote, dass Gorgias sie von dem Altare
herab, auf dem später sein vergoldetes Bild stand, an die
pythische Festversammlung gerichtet habe^). Der 'OXo^jltcixö?*)
1) Fragmente bei Sauppe Oratores Atticill. 129 ff. (C. Müller Orat. Alt.
II), vgl. Mullach fragm. philos. Graec, II 143 ff.
2) Auf Grund der Annahme, dass Gorgias die attische Mundart an-
wendete, machte U. v, Wilamowitz über die Eatstehung der griechischen
Schriftsprachen, Verhandl. der Wiesbadener Philologen vers. Leipzig 1878
S. 36 ff. (modificiert homer. Untersuchungen S. 311 ff. u. S. X) geistreiche
Korabinationen über Gorgias' Einfluss ; vgl auch Susemihl Gorgias u. die
attische Prosa, Jahrbb. f. Phil. 115,793 ff. Das Fragment des Epitaphios
beweist jedoch nichts, da Dionysios auch Herodot in das Attische umsetzte
(vgl. de compos. verb. 4). Ein Rest des Jouischen dürfte aber p. 649, 11 W.
geblieben sein, wo «Lv S-fj (8' el. Sei) = wv S-fj steht. Niceph. Gregor, ad
Synes. p. 409, der Gorgias zur otp^^ata 'Atfl-tt; rechnet, verdirbt nur Philo-
stratos. Entscheidend ist wohl, dass die Atticisten dieseu berühmten Khctor
ignorierten, während sie z. B. sogar den weit weniger berühmten Thrasy-
machos berücksichtigten.
3) Philostr. vit. soph. 1, 11, 2. Er weihte nach der olympischen In-
schrift (arch. Ztg. 35, 43, ebenso Hermippos bei Athen. 11, 505 d) die Sta-
tue selbst, nicht die Griechen (Cic. de orat. 3, 32, 129). Sie war vergoldet
(Pausan. 10, 18, 7), nicht aus massivem Golde (Hermipp., Cic, Plin. 33, 83). Sein
Nachkomme Eumolpos errichtete ein anderes Bild in Olympia (Pausan. 6,
17, 7), dessen Inschrift die deutsche Expedition auffand (Archäol. Ztg.
86, 43).
4) Ein Fragment trug J. Bernays Rhein. Mus. 8, 432 f. = gesammelte
Abhandl. I 121 f. nach.
Die älteren Prunkredner (Gorgias und seine Schule). 41
eröffnet eine lange Reihe von ähnlichen Vorträgen, welche die-
selbe Idee mit der gleichen Resultatlosigkeit, abgesehen von
dem rauschenden Beifalle, den die Zuhörer aus der augen-
blicklichen Begeisterung heraus spendeten, vor den Wallfahrern
von Olympia behandelten; Gorgias war ja, so viel wir wissen,
der erste, welcher die Griechen von der heiligen Stätte aus
mahnte, sie sollten ihre endlosen Zwistigkeiten ruhen lassen
und sich von neuem gegen die Perser erheben. Der Beifall,
den der ßhetor dadurch erntete, erweckte zahlreiche Nachfolger,
welche mehr oder weniger die gleichen Gedanken in derselben
Reihenfolge aussprachen. Eine merkwürdige Parallele geben
die glänzenden Deklamationen ab, welche deutsche Humanisten
an den Reichstagen gegen die Türken hielten ^) Die dritte Rede
entstand, indem Gorgias zu Athen bei einer öffentlichen Leichen-
feier, natürlich nicht vom Staate beauftragt, sondern nachdem
der offizielle Redner gesprochen hatte, auftrat und die Glanz-
punkte der athenischen Geschichte, besonders die Perserkriege
verherrlichte, während er den peloponnesischen Krieg nur flüchtig
streifte; er verfolgte dabei jedenfalls den Zweck, die Athener
durch die Bebandlung ihres Lieblingsthemas für Leontinois
Wünsche zu gewinnen. Eine Lobrede auf die Stadt Elis
würdigte Aristoteles einer kurzen Erwähnung ^), da der Redner
auf ehi Proömium verzichtete; ein Enkomion des Achilleus
erregte den Tadel des Philosophen, weil Gorgias, statt jenen
zu preisen, erst Peleus, dann den Ahnherrn Aiakos, hierauf
die Gottheit und endlich die Tapferkeit verherrlichte ^). Auch
vor paradoxen Gegenständen schreckte er nicht zurück^). Mit
Gerichtsreden hat sich Gorgias nie befasst.
Der Charakter der gorgianischen Beredsamkeit läge viel klarer
vor uns, dürfte man die zwei Reden, welche einige Handschriften
dem berühmten Redner beilegen ^), für echte Werke gelten lassen.
1) L. Geiger Renaissance und Humanismus S. 373 f.
2) Rhetor. 3, 14 p. 1416 a 1; er beginnt sofort mit dem Gleiehklang
^RXic, nÖKiq,
3) Aristot. rhet. 3, 17 p. 1418a 34.
4) Philostr. v. soph. 1, 9 p. 208, 21 Kays., vgl. S. 54 A. 6. Cicero Brut. 12, 47
eagt allgemein: singularum rerum laudes vituperationesque.
5) Die erste Rede ist in ziemlich vielen Handschriften überliefert, welche
in drei Klassen zerfallen; von diesen können zwei auf je eine Stammhand-
schrift reduciert werden. (Nachträge zum Apparat gibt H. Sehen kl Wiener
42 Zweites Kapitel.
Dicljobrede auf Helena (KlivriQ £Y/.w[itov)bezeic]inet der Redner
selbst am Ende als Spielerei (jcatYviov). Nachdem er in der Einlei-
tung gemäss der Schablone der Enkomien die edle Abkunft Helenas
erhoben, sucht er ihre Untreue zu entschuldigen, indem er
nachweist, dass Helena, ob nun durch das Geschick, mit Gewalt
oder durch Ueberredung zu dem verhängnisvollen Schritte be-
wogen, Verzeihung verdiene. Diese Disposition führt er mit
grosser Genauigkeit, für die er sich selbst belobt, geistreich
durch, ohne sich um die gewöhnliche Moral zu bekümmern.
Wiewohl die zahlreichen Gleichklänge und Antithesen an die
Manier des Gorgias erinnern, ist sie doch schon bedeutend ge-
mildert. Fülle verwegener Bilder, Auftürmung von Antithesen,
auch die philosophisch klingen sollenden Neutra an Stelle der
Abstrakta sucht man, wenige Stellen ausgenommen, vergebens.
Auch in einem anderen Punkte zeigt die Rede einen Fort-
schritt gegen Gorgias. Denn während derselbe, wie aus dem
Schvi^eigen der Alten hervorgeht, dem Rhythmus keine Auf-
merksamkeit s(;henkte, dürfte man in unserer Rede schon einen
bewussten Tonfall am Anfange und Schluss der Perioden nach-
weisen können ^). Da der Verfasser andererseits für den Hiatus
kein Ohr hat ^), ist er schwerlich nach Isokrates zu setzen.
Nun erwähnt dieser bekannthch in der Einleitung zu seiner
,, Helena" (§ 14) eine Rede auf dieselbe so als ob sie kurz zuvor
herausgegeben worden wäre. Isokrates begrüsst sie als eine
erfreuliche Erscheinung gegenüber dem Ungeschmacke vieler
Sophisten, tadelt aber die Art und Weise, wie der ungenannte
das Thema bearbeitete. Während derselbe nämlich eine Lob-
rede auf Helena geben wollte, schrieb er eine Verteidigungs-
rede. Dies passt genau auf unsere Rede, in welcher der Preis
I
Studien 3, 86). Die Handschriften der zweiten Rede gehen säramtlich auf
ein Original zuriick. Die „Helena" veröffentlichte Aldns 1518 mit dem Iso-
krate«; der „Pulamedes" sl-eht in den Sammlungen von Aldus und H. Stephanas,
beide bei Keiske vol. VIII., Bekker vol. IV. resp. V,, Sauppe, fasc. VH. u. C.
Müller II., zuletzt von Bla8.s mit dem kritischen Apparat hinter dem Antiphon
(p. 'I50flf.) herausgegeben. Die „Helena" ist nach Burges bei Dobree adver-
saria I 666 sehr lückenhaft überliefert.
1) Häufig kommen päonische Ftisse vor; deren Eiufiihrung wird Thrasy-
machos zugeschrieben.
2) Benseier de hialu p. 168.
Die älteren Prunkredner (Gorgias und seine Schule). 43
der Heroin auf die Einleitung beschränkt ist *). Den Verfasser
nennt Isokrates leider nicht; die Grammatiker rieten auf
Anaxinienes, Polykrates und Gorgias, aber Isokrates' Ton zeigt,
dass weder sein Gegner Polykrates ^) noch der alte Meister
Gorgias ^) gemeint ist. Anaxinienes die Rede beizulegen *),
hindert die Chronologie.
Die zweite Rede, ,,Palamedes", eine fingierte Verteidigung,
welche Palamedes vor den achäischen Fürsten hält, hat kein
alter Rhetor als Werk des Gorgias betrachtet ^). Sie weicht
auch völlig von seiner Art ab : Die gorgiaiiischen Figuren kommen
nicht häufig vor und es mangelt die Wortfülle; statt des
rauschenden Stromes gorgianischer Perioden liebt dieser Rhetor
kleine kurze Sätzchen. Zudem führt die gegen den Hiatus
sich kundgebende Abneigung auf die Zeit nach Isokrates ^).
Wenn man an dem Namen, welchen jene eine Stammhand-
schrift der Rede vorsetzt, fest halten will, steht vielleicht nichts
im Wege, an den jüngeren Gorgias zu denken; für diesen
spricht der Satzbau, welcher an die Richtung der asianischen
Rhetoren erinnert, denn zu diesen neigte sich der jüngere Gor-
gias hin '').
Eine eigentliche Rhetorik verfasste Gorgias für seine
Schüler nicht; abgesehen von einigen mündüchen Regeln, deren
1) § 3—5, vgl. § 5—6 und 21.
2) TivEC im Argument der Kede (vom Busiris entlehnt), ebeuso Spengel
ouvaYcuY'T) t£)(V(«v p. 271 fl'.
3) Im Isokratesargnnieut erwähnt und Lexicon Vindob. p. 149, 13 citiert.
Reiske orat. Graec. VIII 191, Sauppe und andere verwarfen beide Reden,
die „Helena" wird aber von Foss a. O. p. 78 flf., C, Schönborn de authentia
declamationum quae Gorgiae Leontini nomine exstant, Breslau 1826 und
Benseier de hiatu p. 168 f. mehr oder weniger bestimmt verteidigt. Blass
der I 64 flf beide verworfen hatte, nahm sie II 221 f. 314 Anm. III 2, 326 f. in
Schutz. Morawski Ztsch. f. österr. Gymn. 1879 S. 161 flf. weist sprachliche
AehnUchkeiten mit Alkidamas nach.
4) Machaon im Argument der Rede ; die Identität beweist der Zusatz :
tpepetat 8' evceivou Xö^oc ^EXsvyjc anoko^ia fxäXXov oooa T^^ep i'^v.üyiiiov.
5) Quintil. 2, 4, 41 bezieht sich freilich wohl nur auf erdichtete Rechts-
fälle, welche dem täglichen Leben entnommen sind.
6) Beuseler de hiatu p. 167 f.
7) Blass die griechische Beredsamkeit in dem Zeitraum von Alexander
bis auf Augustus S. 97 f.
44 Zweites Kapitel.
einige in der Tradition fortlebten ^), erteilte er ihnen keinen
systematischen Unterricht, sondern stellte ihnen eine Sammlung
von Gemeinplätzen zusammen, welche sie auswendig lernen
mussten ^).
Trotz der Mangelhaftigkeit dieses Unterrichtes hat kein
Grieche, nicht einmal ein Athener, auf die attische Literatur
einen so tief gehenden Einfluss ausgeübt wie Gorgias. So
lange er lebte, war seine Manier in allen Gattungen der Erosa
massgebend. Von der Gattung, welche er begründete, ist dies
selbstverständlich, aber auch die Gerichtsreden des Antiphon
zeigen, wie diese Art gleichfalls nicht unberührt blieb. Selbst
der herbe Thukydides verschmähte nicht vieles von ihm an-
zunehmen ^). Die ältesten Schriften der sokratischen Schule
entstanden gleichfalls unter dem gorgiauischen Einflüsse. Nicht
einmal die Tragödie blieb von dem Gorgianismus frei, da der
gezierte Agathen die Antithesen und Gleichklänge seines
Meisters auf die Bühne brachte*); deshalb trifft ihn Piatos
Spott im ,, Gastmahl", wo Agathou am Schlüsse seiner Rede
in die Manier des Gorgias verfällt ^). Sogar das Epos seiner
Zeit soll nicht unbeeinflusst geblieben sein ^). Am deutlichsten
1) Aristot. rhetor. 3, 18 p. 1419 b 3 (etp-r]), vgl. Plat. Phaedr. 267 a
(ähulich Ammian. Miircell. 30, 4, 3).
2) Arist. soph. elench. 33 p, 183 b 37 (vgl. Quintil. 3, 1, 12), vgl. l'lat.
Phaedr. 261c (Schanz die Sophisten S. 129 ff.), Satyros bei Diog. 8, 58;
xe^vai Ttvec Dionys. Halic. bei Maxim. Plan. Walz rhet. V 648 adnot., Diodor.
12, 53, 2 xr/vac ^Yitopixäc itpüixoc s^eöps, Sopatros Walz rhet. V 7, 11, Vgl,
Bakius scholica hypoinnemata UI 74 ff. Morawski Jitsch. f. Österreich.
Gymn. 1879 S. 163. Ein hi.storisches Werk wäre anzunehmen nach Clem.
Alex. Strom. 6, 267 MeXeoaYopoa exXetl'e FopYiat; 6 Asovxlvoc xotl Eu8yj|i.o? 6
Nd^io?, wenn nur dieser Schriftsteller nicht so nachlässig kompiliert hätte,
3) Dionys. ep. a<l Amm. 2, 2. Lys. 3, jud. de Thucyd. 24. Marcellin.
Vit. Thucyd. 36 (aus Antyllos), 61. Philostrat, ep, 73 (13), 2. Der letzte
nennt ausserdem Kritias; wenn er auch „Perikles oder Aspasia" anführt, so
denkt er wohl an den tliukydideischen Epitaphios und den Meuexenos.
4) Spengel oava-iMf-ri p. 91 f. Aristophanes am Anfange der Thesmo-
phoriazusen und frg. 317 M. xax"AYä*a>v' ävx-.S-Exov e^eopYjfJLevov, vgl. Aelian.
var. bist. 14, 13. Die Komiker parodieren diese Sonderbarkeiten oft, z. B.
Eupolis fr. 240. 248 und bei PoUux 3, 77. Aristoph. Vesp. 466. Plato com.
fr. 224. Phryn. fr. 1, 6 u. ö.
6) Plat. sympos. 194 e— 197 e. 198c (vgl. Schanz a. O. S. 147 ff.)
6) FhiloBtr. epist. 73 (13), 3; meint er Antimachos?
I
Die älteren Pmnkredner (Corgias und seine Schule). 45
zeugt aber der Umstand, dass man in der Volksversammlung
Gorgianisches vorbringen durfte, von der Herrschaft dieser
Mode; kein geringerer als Alkibiades eignete sich die bilder-
reiche Sprechweise des Gorgias an ^). Auch die nächsten
Generationen hingen mehr als sie zugestehen wollten, von
Gorgias ab. Ohne ihn war kein Isokrates möglich und Plato,
obgleich er ihn bitter verspottet, vermochte seine Schule nicht
zu verleugnen, wie sich auch Antisthenes und Aischines an
Gorgias gebildet hatten. Der echte gorgianische Stil kam trotz
der Opposition des Isokrates bei den ,, Ungebildeten", wie
Aristoteles verächthch sagt ^), nie ganz aus der Mode; z. B.
schrieb der Verfasser der ,,hippokratischen" Schrift Tcspl ^oawv
in dieser Weise ^).
Dieses Fortleben seines Ruhmes hatte Gorgias einigen
Schülern, welche ihm fort und fort treu blieben, zu verdanken ;
wiewohl ein einziger zu dauerndem Ansehen gelangte, waren
mehrere zu ihrer Zeit nicht so unbedeutend, dass Plato und
Aristoteles sie hätte totschweigen können. Polos von A krag as,
ein junger Begleiter des Gorgias von aufbrausendem Charakter ^),
zog sich Piatos Gegnerschaft durch eine rhetorische Schrift zu,
in welcher er die Redekunst, deren Ziel ihm das wahrscheinliche
war, auf Uebung begründete; Polos drückte diesen Grundsatz
in echt gorgianischer Weise aus : ri {isv £[X7r£tpta xiyyrf^ l;cot7]0£y,
ri S' äzeipia xbyriv ^). Da er nach eosTrsia strebte, fand er Gefallen
daran, die Theorie seiner Kunst mit neuen technischen Aus-
drücken zu bereichern ; so war er, wie Plato ironisch erzählt,
der Ei'finder der SizXaatoXoYia, YV(ojj.oXoYta und elxovoXoYta "). Gleich
1) Thukydides sucht hierin, wie der Scholiast zu 6, 18 bemerkt, die
Manier seiner wirklichen Reden nachzubilden.
2) Ilberg studia Pseudippocratea p. 23 flf.
3) Khet. 3, 1 p. 1404 a 26 ol uoXXol tdiv anai^söxuiV.
4) Plat. Gorg. 463 e o^u?, so zeichnet ihn Fiat, überhaupt im Gorgias.
Herodikos (?) sagte zu ihm: öceI ob ntüloq et (Aristot. rhet. 2, 23 p. 1400 b20).
5) Aristot. met. 1, 1 p. 981a 3, vgl. Plato Gorg. 462 c, über das ekoc
Phaedr. 267 a. Suidas nennt die Schrift willkürlich Tispl Xs^scuc.
6) Plato Phaedr. 267 c. Der erste Ausdruck bezeichnet schwerlich das-
selbe wie elc 8uo Xi'^siv Rhetor. ad Alex. 24, sondern Komposita (wie SitcXcuok;
Aristot. rhet. 3, 3 p. 1406 b 6, SwXoIc öv6fj.aoi 1405 b 35). Plato nennt alles
{i.oüO£la Xö'(U)v (zu erklären nach }j.oootx*f] Prot. 340 a, „Tummelplätze von
Reden" nach Blass 174 u. Rud. Hirzel Commentatt. in hon. Momms. p.
21 A.).
4ß Zweites Kapitel.
seinem Lehrer beschäftigte sich Polos neben der Rhetorik mit
Naturphilosophie ^). Die Späteren wissen nichts verlässiges von
ihm ^). Nach Suidas legten ihm manche, die sonst dem Damastes
zugeteilte Schrift, welche von den Geschlechtern der Belagerer
Trojas handelte, bei.
Polos hatte nach Plato jene schönen Wörter von dem
ChierLikymnios erhalten^), welcher ebenfalls eine Rhetorik
verfasste. Sie erregte durch ihre seltsame Terminologie den
Spott des Aristoteles % dagegen führt er billigend den Ausspruch
desselben an, die Schönheit eines Wortes entspringe aus dem
Klange oder aus der Bedeutung^). Likymnios gab wie es
scheint Reden heraus^); nebenbei schrieb er Dithyramben für
die Leetüre. Die Identität des Sophisten und des Dichters ist
ja doch wohl durch das Beispiel des Euenos gesichert.
Einen dauernden Ruhm gewann unter den Gorgianern
allein Alkidamas aus dem äolischen Elaia'), des sonst
unbekannten Sophisten Diokles Sohn *), dessen Leben vollständig
1) Plato Gorg. 466 d.
2) Das angebliche Citat der Rhetorik bei Syrian. in Hermog. (Spengel
oüva-c- p. 87) ist aus Plato Gorg. 448 c entnommen. Maxim. Planud. in
Hermog. Walz V 514, 16 bezieht sich gleichfalls auf das, was Polos bei
Plato sagt. Philostr. vit. soph. 1, 13 und Lucian. Herod. 3 sind unglaub-
würdig.
3) Plat. Phaedr. 267 c övojidtiuv te Aixüjivsicuv a exsivw sSwp-fjoato irpi?
«ot-rjoiv zhtmlaz; deshalb macht ihn der Scholiast zum Lehrer des Polos,
was Suidas (v. I1ü>Xoc) in das Gegenteil verkehrt.
4) Rhet, 3, 13 p. 1414 b 17 enouptuot?, &ito7tX(ivv)oi(;, oCoi; über die
Wortklassen Schol. Plat. p. 131; vgl. Schol. II. B 106.
6) Aristot. rhet. 3, 2 p. 1406 b 7.
6) Dionys. de vi Demosth. 26 (vgl. Gomperz Sitzungsber. der Wiener
Akad. 83, 693 f.).
7) Vgl. Schneidewin Götting. gel. Anzeigen 1846 S. 112 ff. Die Frag-
mente der Dithyramlien (in Bergks poetae lyr. Graec. III* p. 698 ff.) sind zu
geringfügig, um mehr als ein Beispiel der gorgianischen Figuren zu enthalten
(fr. 2, 1 'A^eptuv äf^ea).
8) Joh. Vahlen der Rhetor Alkidamas, Sitzungsbericlite der Wiener
Akademie, hist.-phil. Cl. Bd. 43 (1801) S. 491—628; Blass II 317 ff. Fragmente
bei Sauppe II164ff. u.C. Müllerorat. Att. II 316. Elaia nennen Athen. 13,
692 c, Suidaa und Tzetz. Chil. 11, 747. Quintilian 3, 1, 10 bringt, obgleich er
das richtige Elaites hat, den olcatischen Palamedes Piatos herein.
9) Nach Suidas schrieb dieser )iouoix(i(, wenn nur nicht [louoixi fe-^fafföxoz
ein Miaa Verständnis von iq p.ououä (d. h. ^ouoeiov) eYpat}'^ ^^^-
Die älteren Prunkredner (Gorgias und seine Schule). 47
im Dunkel liegt, ausser dass er gelegentlich auf die Thaten
des Epaminondas und Pelopidas anspielt^). Da Alkidamas im
platonischen Gorgias nicht vorkommt, dürfte er jünger als
Polos und Likymnios gewesen sein ^).
Als getreuer Schüler des Gorgias studierte Alkidamas niclit
bloss Rhetorik, sondern auch Naturphilosophie, die er einmal
zum Gegenstande einer Rede nahm ^). Sonst hatte Alkidamas
eine gewisse Vorliebe für paradoxe Themen; so veröffentlichte
er ,,ein Lob des Todes" ^) und eine Rede auf die Hetäre Nais '*),
Demgemäss mag eine Streitschrift (MsaoYjvtaxöc), die er gegen
den „Archidamos" des Isokrates richtete ^), zu beurteilen sein.
Der Verfasser fingierte, wie es scheint, in der spartanischen
Volksversammlung aufzutreten, damit sie an den Messeniei'n
Gerechtigkeit übe und sie freigebe. Alkidamas stand hier an-
scheinend sittlich höher als der athenische Rhetor, denn er
sprach zum ersten Male unter den Griechen, wenn auch seine
Stimme ungehört verhallte, den denkwürdigen Satz aus : ,,Frei
hat Gott alle Menschen geschaffen; niemand hat die Natur
zum Sklaven gemacht" ^). Aber wer weiss, ob dieser edle Spruch
nicht blos als ein Aufsehen erregendes Paradoxon gemeint
war. Wie Alkidamas auf dem Gebiete der epideiktischen Rede
durch die geflissenthche Aufsuchung des Paradoxen Gorgias zu
überbieten strebte, so erweiterte er den Kreis der Themen,
indem er auch die anderen Schulhäupter der Beachtung würdigte.
Bei Protagoras fand er die Anfänge einer Theorie der Sprache
und versuchte Verbesserungen ^), die er wahrscheinlich in einer
1) Fragment bei Aristot. rhet. 2, 23 p. 1898 b 18.
2) Wenn Suidas sagt (v. TopYta^), da.ss er die Schule des Gorgias über-
nahm, so ist dies ein Anachronismus.
3) $uc'.7iöc Diog. 8, 56 (Foss de Gorgia p. 17 will ev t(L jj.ouaix(|)).
4) Cic. Tusc. 1, 48, IIG. Meuauder TztrA sittSsixT. 2, 1 p. 346, 18 Sp.
Tzetz. Chil. 11, 747 ff.
5) Athen. 13, 592 c.
6) Die Rede des Isokrates ist die ältere, weil sie keine Spur von Polemik
enthält (Bruno Keil analecta Isocratea p. 6 adn. 2). Alkidamas scheint also
das Jahr 360 überlebt zu haben.
7) Fragment bei Schol. Aristot. rhet. 1, 13. Aristot. rhet. 2, 23 p.
1397 a 11 durfte den Namen des Verfassers als bekannt voraussetzen.
8) Nach Diogen. 9, 54 unterschied er (fäaic, ücTCotpaatt;, epaiXTjoci; und
npooaYopeucK;.
4y Zweites Kapitel.
rhetorischen Schrift niederlegte^). Dagegen erinnert das am
öftesten genannte Buch „Museion" an die Sammelarbeit des
Hippias. Der gesuchte Titel dieser Schrift rief zahlreiche
Hypothesen hervor ^). Wenn Alkidamas den Namen nicht in ganz
allgemeinem Sinne nahm % mag er darin die jtouatxoi (Dichter
und Musiker) als Liebhnge der Götter gefeiert haben; deshalb
erzählte er z. B. die Strafe, welche die Götter über die Mörder
des Hesiod verhängten*), auch die Anekdoten von Arion und
Archilochos werden hier eine Stelle gefunden haben.
Hinsichtlich des Stiles schloss sich Alkidamas ganz der
Richtung seines Lehrers an, ja er scheint dessen Manier noch
übertrieben zu haben, da Aristoteles in seiner Rhetorik (III 3)
die Beispiele der „Frostigkeit" ((})0'/pdTY]<:) mit Vorliebe aus dem
jüngeren Rhetor entlehnt. Alkidamas liebte also zusammen-
gesetzte ^) und veraltete") Wörter, sowie gesuchte Vergleiche '')
im Uebermasse. Besonders charakterisierte aber den Rhetor
eine grosse Vorliebe für unnötige Beiwörter und Umschreibungen ^).
Auch in dem vollen Periodenbau schloss er sich an seinen
Lehrer an. Doch während jenem bei der Nachwelt der Ruhm
des Begründers förderlich war, stand die Konkurrenz desisokrates
der Fortpflanzung von Alkidamas' Reden im Wege, obgleich
er als Aeolier natürlich attisch schrieb.
1) Vgl. Quintil. 3, 1, 10.
2) Nach Bergk analecta Alex. I 21 feierte er den Musentempel auf
dem Helikon; Sauppe zu fr. 8, 3 bezeichnet das Buch als promptuariura
qnoddam rhetoricum.
3) Wie bei Aristot. rhet. 3, 3 p. 140Ga 24 zb tyjc (püoewc fioooelov.
4) Certamen Homeri et Hesiodi p. 323 (42); nach Nietzsche Rhein.
Mus. 26, 636 ff. soll der ganze Agon daraus entlehnt sein, weil Stobaios flor.
120, 3 die bekannten pessimistischen Verse öpx*'!'^ H-^^ l*-^ «püvat u. s. w. aus
dem Museion anfuhrt. Sauppe meint, diese Verse seien im ifv-ünt-iov tJ-avdxou
vorgekommen (so schon Wyttenbach ad Plutarch. de consol. p. 116), welches
einen Teil des fiooaecov gebildet habe.
6) P. 1406 a 2 iroplxpcuc» x£Xeo<p6poc (poetisch), xt)av6xpu>C (aus Enripides)
6) P. 1406 a 9 aO-upjjia, fttaa^aXia (beide episch und lyrisch), ^"rifui
(poetisch und bei Xenophon).
7) P. 1406 b 11. Er nannte die Philosophie eniteixiop.« xwv voficuv, die
Odyssee xaXiv avS-ptojttvou ßloo xaxonTpov.
8) P. 1406 a 18 z. B. xov u^pöv ISpwta, xouc xwv noXecuv ßaotXet? vofioo?,
KavÖTjfiou yi^äftixoz u. A.; Zusatz von Genitiven : ib t-rj? füoecuc fiouaetov, tolc
T7j< o).Y)c xXdfJoic; Umschreibungen elc tyjv twv 'loO'p.ttuv rtavrj'^opiv, 3pop.aia
Die älteren Prunkredner (Gorgias und seine Schule). 49
Auch Alkidamas' Name steht in einigen Handschriften an
(ier Spitze von zwei Reden :
Die eine davon ,,über die Sophisten" überschrieben^)
und nur durch eine originelle Handschrift, welche auch die
Helena des ,, Gorgias" enthält, überliefert^), gilt den Verfassern
geschriebener Deklamationen. Staramte sie wirklich aus dem
vierten Jahrhundert % dann würde sie uns in die literarischen
Kämpfe jener Zeit einfüliren. Sie müsste gegen Isokrates,
welcher seine Reden nicht frei vortrug, sondern in Abschriften
vorlas oder verbreitete ■*), gerichtet sein. Die angeblichen Be-
ziehungen auf Isokrates sowie die vermeinthche Rephk desselben^)
sind jedoch so unbestimmt, dass sie die Echtheit nicht beweisen
können. Glücklicherweise liegen bestimmte Indicien für das
Gegenteil vor. Alkidamas soll Isokrates angreifen ! Fas est
et ab hoste doceri mag ein schöner Spruch sein, aber der soge-
nannte Alkidamas schreibt die Polemik in der gleichen Form
wie einer, der Isokrates' Lehren befolgt. Während der wirkliche
Rhetor als Gorgianer gegen den Hiatus noch unempfindlich
war '^), soll er ihn hier im Kampfe gegen den Feind des Hiatus
sorgfältig meiden; er soll ferner seine Rede nach den Vor-
schriften des Isokrates disponieren '') und auch im Stile mehr
dessen zwar voller aber verhältnismässig einfacher Schreibart
als dem gorgianischen Schwulste nachstreben, wenn auch die
Rede mit mannigfachen bildlichen Ausdrücken aufgeputzt ist.
1) ÜEpl Tüiv Touc '{fia.Tzxobe^ Xö^ouc fpafO'nmv Y| Ttepl aotpioTÄv.
2) Sie erschienen zuerst bei Aldus (im dritten Bande seiner Sammel-
ausgabe von 1513, dann bei Isokrates 1534); die andere Rede steht im ersten
Bande der AJdina und bei H. Stephanus. Die neueren Sammlungen stellen
sie hinter Gorgias; die neueste kritische Recension befindet sieh in Blass'
Ausgabe des Antiphon p.^ 193 ff.
3) So meinen Speugel ouvaYüJY"'] P- 173 flf. (aber s. zu Aristot. rhet.
p. 419), Welcker kleine Schriften 2, 448f.,Vahlen a. O. S. 607 ff. und
Blass II 325 ff.
4) Dieser dachte übrigens selbst über die Nachteile geschriebener Reden
verständig (5, 25. 26).
5) Paueg. 11 soll sich auf § 12 f. beziehen (C. Reinh ardt de Isocratis
aemulis p. 15 ff.), aber letztere Stelle gilt den Verfassern von poetischen oder
gerichtlichen Deklamationen.
6) Vgl. fr. 1,2? 3, 2 siebenmal, 5,21?
7) Spengel Isokrates und Plato, Abhandl. der bayer. Akademie VII
3, 739 ff.; Reinhardt a. O. S. 22 ff.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur, n. 4
50 Zweites Kapitel.
Ebenso möchte man von einem Schüler des Gorgias häufigere
Antithesen erwarten ; der Redner gebraucht dagegen die Kon-
junction ,,und" mit lästiger Häufigkeit. Nicht einmal die
gorgianischen Figuren sind häufig. Erweist also die Technik
der Rede, dass sie erst nach der Zeit des Isokrates entstand '),
so weist uns zugleich eine Stelle deutlich auf die nachklassische
Zeit. Der Verfasser denkt sich nämlich (§ 4) den Reden-
schreiber, wie er in Mitten vieler Bücher, welche Reden älterer
Sophisten enthalten, sitzt und die schönsten Stellen zu seinem
Flickwerke aussucht. Dies passt gewiss eher auf eine Zeit der
Reproduktion als für die klassische Periode^). Der Verfasser
erscheint, wenn anders sein überaus grosses Selbstgefühl (§ 29 ff.)
berechtigt war, als 'ein angesehener Redner und bekennt sich
zu recht gesunden Ansichten, die man einem Gorgianer nicht
ganz zutrauen kann ^).
Dieselbe Handschrift, sowie die zweite Stammhandschrift,
worin die „Helena" überliefert ist, enthalten eine von jener
Streitschrift völlig verschiedene Rede ,,Odysseus klagt
Palamedes des Verrates au"^), welche die Verteidiger der
ersteren gewöhnlich verwerfen ^). Diese fingierte Anklage, welche
Odysseus in den Mund gelegt ist, ein dürftiges Sophistenkunst-
stück mit wenig Witz und nicht ohne aufdringliche Gelehrsamkeit
(§ 24 f.) enthält nichts, was gegen die Echtheit spräche. Die
gorgianischen Figuren treten zurück, weil die Rede den gericht-
lichen Verhältnissen angepasst ist, auch der Abschnitt über
die Erfindungen, so wenig er herein passt, befremdet nicht bei
einem Zeitgenossen von Skamon und Ephoros, welche sich
1) Dies nehmen auch Sauppe Orat. Att. 11 p. 156 nnd Bcnseler de
hiata p. 1701*. an.
2) Zur Zeit der Rede wurden auch öffentliche Wettreden gehalten
(§ 18. 22) ; vgl. dazu z. B. R o h d e der griechische Roman S. 306.
3) § 12. 33.
4) 'Oou3'3tu5 ■f.rx-za. II«),a|x-fj8ou(; upoSooia?.
6) Gegen die Echtheit sprachen sich Hardion Memoires de l'acad.
des inscr. 19, 216, Poes de Gorgia S. 84 ff., Vahlen a. O. S, 622ff. und
Blass II 331 ff. (der S. 343f. an Polykrates denkt) aus; Benseier de
hiatu p. I69f. und O.Jahn Palamedes S. 15 f. verteidigen sie. FuhrRheiu.
Mus. 33, 582 bringt ein sprachliches Moment für die Verschiedenheit.
Die älteren Prunkrettner (Gorgias und seine Schule). 51
lait diesem Gegenstande ernstlich beseliäftigten. Wäre nur
die liandschriftliche Beglaubigung besser!
Zu den Gorgianern scheint auch der Sophist Lykophron^)
gehört zu haben; Aristoteles, der allein ihn erwähnt, entnimmt
nämlich aus ihm zugleich mit Gorgias und Alkidamas Proben
für den ,, frostigen" Gebrauch zusammengesetzter und poetischer
Wörter^); offenbar erklärte sich Lykophron zur Improvisation
bereit, denn der Stagirit lobt die Geistesgegenwart, mit welcher
er, als ein Enkomion auf die Lyra gefordert wurde, die Rede
auf einen anderen Gegenstand überlenkte ^). Aristoteles teilt
auch einige geistvolle Aussprüche des Sophisten mit^). Jene
dürftigen Fragmente scheinen, da von Tiiescus und den Perser-
kriegen die Rede ist, aus einem Epitaphios und vielleicht noch
anderen Produkten des attischen Patriotismus entlehnt. Lyko-
phrons Thätigkeit mag zum Teil noch dem fünften Jahrhundert
angehören. Auch Menon^) ist vielleicht hieher zu rechnen.
Ueber die stilistischen Grundsätze ist bei Gorgias und
Alkidamas, was wir wissen, auseinandergesetzt; damit sie die
nötige Klärung und Mässigung erfuhren, die ihnen durch
Isokrates zu Teil wurde, war es notwendig, dass vorher die
Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit die Sprache des täglichen
Lebens einer strengen Stilisierung unterzogen. Isokrates und
seine Schule können also erst nach diesen behandelt werden.
Ein erheblicher Unterschied zwischen Gorgianern und Isokrateern
beruhte ferner in der Wahl der Stoffe und in dieser Beziehung
dürfte es nützlich sein, die meist allgemein gehaltenen Notizen
zu einem Gesammtbilde zu vereinigen.
Die Wahl der Themen hing vor allem davon ab, was die
Redner anstrebten. Gorgias lehrte nicht die praktische Bered-
samkeit, welche in der Volksversammlung und den Gerichts-
höfen zur Ausübung kam ; daher bezogen sich auch seine
Reden nicht auf das tägliche Leben. Da es sich also nicht
1) Vahlen Rhein. Mus. 21, 143 ff.
2) Rhet. 3, 3 p. 1405 b 36. 1406 a 7 töv noXüKpoawirov oupavov, -cyjc
y.f(u\oY.opö^oo Y'^JCj Cf.v.xr^v axEvoiropov; TisXwpoc, atwic»
3) Aristot. Sophist, elench. 15 p. 174 b 32.
4) Aristot. frg. 82 bei Stob. flor. 86, 24. metaph. 8, 6 p. 1045 b 10.
phys. 1, 2 p. 185 b 27. pol. 3, 9 p. 1280 b 10.
5) Hermogeu. iv. lö. II p. 395, 21 Sp.
4*
'!
52 Zweites Kapitel.
darum handelte, einen bestimmten Zweck zu erreichen und die
Zuhörer zu überreden, sondern ihnen zu gefallen und ihren
Beifall zu ernten — nannte man doch die Vorträge Schau-
stellungen (sTTtSsi^st? oder Sst^stq) — stand die schöne Form,
nicht der Inhalt im Vordergrund, etwa wie bei Liedern die
Melodie die Hauptsache zu sein pflegt. Die Redner wollten
lieber an Worten als an Gedanken üeberflu«s haben; das
Pubhkum erwartete ja auch von ihnen keine Belehrung, sondern
die Hellenen liessen eine epideiktische Rede wie eine Dichtung
unbefangen und ohne Reflexion auf sich wirken ^). Darum
gestatteten sie auch den Rednern in Lob und Tadel arge
Uebertreibungen ^), wofern sie geistreich waren. Alles erst zu
beweisen und dann zu widerlegen, war seit Protagoras jedem
Sophisten geläufig und unentbehrhch. Geringeren morahschen
Bedenken unterliegt es, wenn die Rhetoren über jede Sache in
beUebiger Länge sich ergingen ^) und das Grossartige gleich-
giltig und das Gleichgiltige grossartig, das Traditionelle neu
und das Neue traditionell behandelten ^). Eine besondere
Kunstfertigkeit bestand in der Improvisation; Gorgias beant-
wortete jede Frage ohne Vorbereitung in wohlgesetzter Rede
und von Lykophron wird ausdrücklich erzählt, dass man ihm
ein Thema zur Improvisation vorlegte ''). Alle Verhältnisse
entsprachen fast genau dem Sophistenleben der Kaiserzeit ^').
Da also, was man sagte, bei weitem weniger wichtig war,
als wie man es sagte, fiel die Wahl eines Themas einem ge-
übten Deklamator nicht im mindesten schwer. Freihch erkannte
man sogleich, der epideiktischen Rede eigentfiches Gebiet sei
Lob oder auch Tadel ''). In dem aber, was gepriesen oder
verurteilt wurde, legten sich die Sophisten nicht die mindeste
1) Thukyd. 3, 38, 7 dirXüii; te ixoTjc -JjSovg •/jootup.Evoi xal ootpiotJ»v
deaTaic eoixots?; Isoer. 15, 46 f.; Aristot. rhet. 3, 1 p. 1404 a 19 ol -fäp Yp«fö|JLSvoi
KÖfoi jjLeiCov lo'j^üooai 8ia x-rjv Xi^iv vj 8ia ttjv Sictvoiav.
2) Aristot. rhet. 1, 9 p. 1368 a 27 "^ a5$7)Oi<: ertifrjSeiotäTYj xolq irtiheiv.-
Tixotc (XoYot?).
3) Plat. Gorg. 449 c. Rhetor. ad Alexandr. 22.
4) Plat. Phaedr. 267 a.
6) Auch vou Isokrates setzt die bei Galenos XIV 672 K mitgeteilte Anekdote
die Fertigkeit der Improvisation voraus.
6) Roh de der griechische Roman 8. 308 f.
7) Aristot. rhet. 1, 3 p. 1358 b 12.
I
Die älteren Prnnkredner (Gorgias und seine Schule). 53
Beschränkung auf. Sie sprachen über Götter (Eros) ^), Heroen
(Achilleus und Herakles) ^) und berühmte SterbUche der Ver-
gangenheit (wie Aristeides oder Sokrates) ^). Hie und da
machten sie den Inhalt dadurch mannigfaltiger, dass sie zwei
Personen mit einander verglichen, z. B. Penelope mit Klytaim-
nestra oder Paris mit Hektor^); das gab ja Stoff für eine lange
Reihe der beliebten antithetischen Pointen. Ausser den Indi-
viduen wurden auch hervorragende Städte, die zwei ,, Augen"
Griechenlands oder Eli.s, Olympias Beschützerin verherrlicht^).
Für jene fand man eine beliebte Form des Enkoraions in dem
,,Epitaphios". Aber auch Tapferkeit, Gerechtigkeit, Eintracht
und andere abstrakte Tugenden hatten ihre Lober ^).
Die Sophisten wurden bald der Ehiförmigkeit dieser Themen,
für deren Disposition nach und nach eine gewisse Schablone
in Gebrauch kam, überdrüssig und suchten „paradoxe" Stoffe;
an der Bezwingung der sprödesten, selbst widerwärtigsten Auf-
gaben ihre dialektische Kunst zu üben waren sie stolz. Am
wenigsten bot das Problem, bei einer Person von üblem Rufe
die guten Seiten hervorzuheben und das Schlimme zu ver-
tuschen, Schwierigkeiten. Man verherrlichte nicht bloss eine
Helena, die Rhetoren machten sich sogar an Polyphemos und
Busiris '') und auch der verhasste Kritias blieb nicht ohne Für-
sprecher ^). Hingegen bekämpfte Polykrates die Verehrer des
Sokrates durch eine Anklage des Philosophen ^). Damit be-
gnügten sich aber die extravagantesten Rhetoren nicht ; Alkidamas
1) 'EpcuTixoi gab es schon vor Lysias Plat. Phaedr. 235 cd ; Götter im
allgemeinen Philodem, rhetor. 4, 35.
2) Achilleus; Gorgias' Rede und Aristot. rhet. 1, 3 p. 1359 a 3. 3, 16 p.
1416 b 27; über Herakles sprach Prodikos.
3) Aristeides Aristot. rhet. 3, 14 p. 1414 b 36. Sokrates Isoer. Busir. 6,
wenn xcuv tKaivelv autöv etO'iafJLEVwv auf Reden geht,
4) Philodem, rhetor. 4, 36 f.
5) Athen Plat. Tim. 24 de. Isoer. 15, 61; Sparta Isoer. 12,41; über Elis
redet Gorgias selbst.
6) Philostr. vit. soph. praef. p. 202, 16 SisXey^'^o H"^^ T^P '^^P^ ftvSpiac,
SisXeYEto §£ itspl SixatoxfjTO? ; Gerechtigkeit Aristot. rhet. 2, 22 p. 1396 a 32,
Ttjpl 6}xovo'.cx? hiess eine Rede Antiphons (wie später eine des Aristeides).
7) Wie Polykrates (der nicht der erste auf diesem Gebiete war, Isoer.
11, 46) und Isokrates.
8) Aristot. rhet. 3, 16 p. 1416 b 28.
9) Isoer. 11, 4. 5.
54 Zweites Kapitel.
pries den Tod und die Armut, Polykrates die Mäuse. Selbst
der Bettlerstand und die Verbannung 0, das Salz ^j und die
Bohnen ^), die Hunde ^) wie die ßrummfliegen '") reizten die
verschrobene Phantasie. Wie es scheint, missbrauchte schon
Gorgias, wenn auch in sehr beschränktem Masse, die Redekunst
zu solchen „Spielereien" (TcaiYVta) ^). Diese Paradoxensucht
verdient aber eine milde Beurteilung, denn dieselbe Mode trat
unter der Kaiserherrschaft''), bei den Byzantinern^) und
während der Renaissance immer von neuem wieder auf und
erzeugte manch' witzigen Einfall, z. B. Lukians Scherze über
das Podagra und die Mücke oder unseres Pirkheimer laus
podagrae; nur sind die Griechen nie zu den Themen eines
Fracostro und Strascino herabgesunken.
Wiewohl Lob und Tadel immer der Hauptgegenstand der
epideiktischen Reden blieben, verschlossen sich die Sophisten
nicht gegen andere Stoffe. Von der älteren Stufe der Wissen-
schaft hatten sie die Naturphilosophie übernommen und wid-
meten ihr Reden oder besser gesagt, Vorträge ^). Die Politik
wurde vor Isokrates kaum berührt, wenn man nicht die „olym-
pischen" Reden, welche Gorgias' Vorbild hervorrief^''), anführen
will. Dagegen machten die epideiktischen Reden zu Piatos
Zeit den Liebesgedichten Konkurrenz, indem Jünglinge die
1) Isoer. 10, 8. Aristot. rhet. 2, 24 p. 1401 b 25.
2) Plafc. symp. 177 b (er erwähnt einen ganzen Band solcher Spielereien).
Isoer, 10, 12.
3) Demetr. tc. Ipjxvjvsiac 170.
4) Arist. rhet. 2, 24 p. 1401 a 15. Menander eittSeixT. 2, 1 p. 346, 18.
Sp. ; von Tieren überhaupt spricht Philodem. rhet. 4, 36.
5) Bo|j.ßo).'.o': Isoer. 10, 12.
6) Sehol. Fiat. p. 130 B. |Xf)8£vö(: epwxojvtö? noxt (puXXov Xaßwv elitev
sl<; xh (p u X X 0 V \ö'(ov t'.va, elxa el«; tyjv 'Afl-tjväv xod 7ta}AjJ.-rjxY) Xöyov
^meteivaxo.
7; Cresollius theatrnra veterum rhetorum p. 200 f., vgl. z. B. Gell.
17, 12. Fronto schrieb über Rauch, Staub und Faulheit.
8) Z. B. Michael Psellos Fabricius-Harles bibl. Gr. X 72.
9) Im allgenu'inen Philostr. vit. »oph. p. 202, 17 87tY| aiTeo)(Y)|iäxt(3Tat 4j
lUa. xoö x6a}j.oo; die s[»äleren Sophisten folgten darin den Gorgianeru (Dio
Chrys. or. 33, 44 6|j.£i(; Taux; |j.e nzpl äoxpwv y.al y*^? e?oxecxs liaXiitad'ixi,
auch § 4).
10) Vgl. Isoer. 4, 3.
Die älteren Prnnkredner (Gorgias und seine Schule). 55
Neigung der geliebten Knaben auch durch dieses Mittel sich
7A\ verschaffen suchten ^).
Die Phantasie erfordernde Kunst, welche darin bestand,
dass der Rhetor sich in eine Situation lebhaft hineindachte und
eine Rede im Namen einer anderen Person fingierte, war vor
Demetrios von Phaleron wenig entwickelt. Die fingierten Reden
von Helden des troischen Krieges, welche unter dem Namen
des Gorgias, Antistheues und Alkidamas überliefert sind, erregen
7Aun Teil grosse Bedenken; die einzige ,,Alexandros" betitelte
Rede '^), deren Echtheit Aristoteles garantiert, war seinen Lesern
so wohl bekannt, dass er den Namen des Verfassers weglassen
koimte. Jedenfalls war bis auf Demetrios^) die Heroengeschichte
das einzige Gebiet, auf dem man derartige Stoffe suchte.
Die Erhebung zu würdigen Gegenständen, die mit dem
gebührenden Ernste zu behandeln waren, blieb Isokrates vor-
behalten.
1) Plato Lysis 204 d. 205 a; Lysias hat diese Gattung ausgebildet.
2) Bruno Keil Hermes 19, 649 weist aus Aristot. rhet. 3, 14 p. 1414b
38 nach, dass die Kede Paris selbst in den Mund gelegt war.
3) Sauppe orat. Att. 11 223 und Vahlen Rhein. Mus. 21, I47f. dachten
an Polykrates, Bruno Keil analecta Isocratea p. 132 wegen des Artikels (ev
TU) "AXs^ävSfX})) an Gorgias.
Drittes Kapitel.
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit.
Korax und Teisias ; Thrasymachos ; Theodoros ; Antiphon ; Polykrates und
Zoilos; Rückblick.
Während Gorgias und seine Anbänger gleich den vorher
besprochenen Sophisten die allgemeine Bildung ihrer Schüler
im Auge hatten, wünschten viele lieber einen direkten Unter-
richt, welcher ihnen die Kunst des Prozessierens und Dispu-
tierens enthüllte, wodurch die Besseren sich und ihre Freunde
zu schützen, die Schlechteren Reichtum und Ansehen zu er-
werben hofften; denn es stellte sich bald heraus, dass jener
allgemeine Unterricht vor den Geschworenen wenig half, im
Gegenteil den Unerfahrenen, welcher das Erlerute auskramte,
eher lächerlich machte ').
Auch für diesen Mangel kam die Abhilfe aus Sicilien,
dessen Bewohner an Streit- und Prozesssucht hinter den Athenern
keineswegs zurückstanden. Als vollends nach der Vertreibung
der Tyrannen, welche 466 in Syrakus begann und dann über
die ganze Insel hin erfolgte, arge Anarchie auf Sicilien herrschte^),
hatten die Gerichte, wie Aristoteles gewiss richtig annahm ^),
mehr als je mit zahlreichen leidenschaftlich geführten Prozessen
zu thun. Ein scharfsinniger und erfahrener Mann konnte
bei einer solchen Lage der Verhältnisse durch belehrende Rat-
schläge grosses Ansehen gewinnen. Insoweit sich die daraus
entspringenden Anfänge einer Theorie der praktischen Bered-
1) Plat. Theaet. 172 c.
2) Vgl. H. Mu88 de Syracusanoruni statu qualis fuit Thrasybulo mortuo
usque ad Ducetii intcritum, Jena 1867.
8) I^i Ci('«*ro Bnit. 12, 46 (variiert und ausge.sponuen Walz rhet. II
140, 12ff. IV 11, Hfl. VI 12, Hfl-. 48, 26 ff".).
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 57
samkeit auf Sicilien beschränkten, waren sie den übrigen
Griechen kaum bekannt und wir würden nicht einmal einen
Namen zu verzeichnen haben, wäre nicht die älteste rhetorische
Schrift, ein Lehrbuch des Korax von Syrakus^), in die
Hände des Aristoteles gekommen ; der Philosoph zieht daraus
das Urteil, dass bereits Korax nicht auf die objektive Wahrheit
sondern auf das wahrscheinliche (eixdc) ausgingt); z. B. sollte
bei einem Misshandlungsprozesse der Schwache auf seine
Schwäche, wegen welcher die That physisch nicht glaublich
sei, der Starke hingegen auf seine Kraft, die sofort den Ver-
dacht auf ihn lenke, hinweisen. Da ihn Aristoteles zu den
Eristikern rechnet ^), scheint er bloss eine Sammlung von
dialektischen Formeln, zu welcher ihn wohl die eleatischen
Philosophen mittelbar anregten, angelegt zu haben *). Späte
Rhetoren prunkten gerne mit dem alten Namen, benutzten aber
im besten Falle eine gefälschte Rhetorik %
Da Korax nach Griechenland nicht kam, wusste Plato
nichts von ihm; der älteste, den er anführt, ist der Syrakusaner
Teisias^), welcher offenbar Athen mit Erfolg besuchte, sonst
würde Plato seine Theorie der WahrscheinHchkeit nicht be-
kämpft haben''). Auch Aristoteles kannte des Teisias rhetorische
Schrift*), welche, wie es scheint, von der seines Vorgängers
nicht viel verschieden war''). Die Vorbereitung für die gericht-
liche Thätigkeit war ihm aber nicht die Hauptsache, weil er
auch bald kurz bald lang zu reden versprach. Teisias unter-
1) Usener Ehein. Mus. 28, 434 f.
2) Ehet. 2, 24 p. 1402 a 17.
3) Ibid. Z. 14, Aristoteles sagt soph. elench, 33 p. 183b 31 vorsichtig:
Teioiac fJ^EV [leta xobq jrpcuxouc.
4) Cic. Brut. 12, 46 übersetzt mit „artem et praecepta" offenbar rkjyac,
Ttvä? (p7]top'.y.ac).
6) Der bekannte Prologist der „Ehetorik an Alexander" empfiehlt dem
König das Buch des Korax neben seinem eigenen ! Angaben machen Doxo-
patris Walz rhet. II 119, 16ff. VI 13, lOf., Maxim. Planud. V 215, 22f.
Anonym. III 610, 6 f. 611, 10, Syrianos IV 575, 7, Schol. Hermog. V 12, 2fif.,
Troilos VI 49, 1 flf.
6) Die gewöhnliche Form Ttoiat; ist spät.
7) Phaedr. 273 a (SoxeI Se toöto TCOtfifiaY« swat tot? irepi taöxa) — d (nplv
xal o£ itapeXfl-elv) ; auch 269 d vermutet Krische Ttoia?.
8) Soph. elench. 34 p. 183b 31.
9) Nach S n s e m i h 1 genetische Entwicklung der platonischen Philosophie
58 Drittes Kapitel.
schied sich viehnehr, wie seine Nachfolger, hauptsächhch nur
darin vonGorgias, dass er ausser der allgemeinen Bildung auch jene
praktischen Lehren vortrug. Die Rhotoren der Kaiserzeit
kannten die Lehren des Teisias nicht im geringsten, halfen
dieser Lücke auch nicht durch Fälschung ah, sondern waren
damit zufrieden, ihm Schüler i) und eine Anekdote^) anzu-
dichten. Nur Pausanias spricht von Reden, unter denen eine
für eine Syrakusanerin geschriebene besonders überzeugend ge-
wesen sein solP).
Dem Teisias reiht Aristoteles Thrasyraachos von Chal-
kedon*) an, welcher seine Thätigkeit in Athen entfaltete. In
diesem bedeutenden Manne vereinigten sich sicilische Rhetorik
und Dialektik mit der Gelehrsamkeit von Hellas ^); er beschäftigte
sich mit der Philosophie, was ihm, da er seine Ansichten oben
drein ohne attische Urbanität auszusprechen gewohnt war ^),
bittere Angriffe von Seiten Piatos zuzog. Seine wahre Bedeutung
4
I S. 485 war die xiyyyi des Teisias von der des Korax nicht verschieden ;
Verrall Journal of philology 9, 197 If. lässt beide znsanjmen das Buch
schreiben.
1) Isokrates nach den Biographen (s, u.), was Anon. vit. Isoer. p. 254,9
W. verdirbt ; Lysias Ps. Plut. 835 d (in Thurioi, wobei zugleich ein Syrakusaner
Nikias, dessen Namen Spengel ouv^yiuy*^ p. 38 für eine Doublette hält,
erwähnt wird) und Suidas ; sogar Gorgias Schol. Hermog. Walz IV 14, 27
(aus Plat. Phaedr. 267 a erschlossen).
2) Aus dem Sprichwort ex xaxoö v.6pav.rjq y.fxv.b\i wov entstand die be-
kannte Erzählung, wie Korax mit seinem Schüler Teisias um das Honorar
disputiert (Sext. Empir. 2, 96 f. Walz rhet. IV 13 f. V6f. 65. 215 f. [Die 1000
Drachmen sind von Isokrates entlehnt]. VI 13 f. — Schneidewin, paroemio-
graph. Graec. I p. 107 zu 82, II p. 73 zu 34, p. 466 zu 20, Proverb. Lau-
rent. Rhein. Mus. 38,408 W, Schol. Plat. p. 130 B.).
3) 6, 17,8; er gibt den Syrakusaner dem Gorgias auf seiner Gesandt-
schaft zum Begleiter! Nach Diodor. bei Clem. Alex. Strom. 1366 war Antiphon
der erste, welcher eine gerichtliche Rede veröffentlichte.
4) K. Fr. Hermann de Thrasymacho Cbalcedonio sophista, ind, lect.
hib. Gott. 1848; Chr. Petersen Philol. 4, 243fl'. Seineu Kollegen und
Landsmann Demetrios, welcher älter gewesen sein soll, nennt bloss Dio-
genes 5, 83.
6) Da er nicht ^"qTUjp, sondern oo(p'.offi<; sein wollte, hiess es in seiner
Grabschrift (Athen. 10, 454 f. Anthol. app, 359): vj U xiyyri oo(pit). Auch
der „KJeitophon" kennt ihn als Rivalen des Sokrates.
6) Herodikos sagte zu ihm: äü ^•paaüfiay/i': t\ (Aristot. rhet. 2,23 p. 1400b
20); 80 wird er von Plato im „Staate" geschildert.
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 59
lag aber auf dem Gebiete der Rhetorik, in welcher Thrasymachos
bei den Athenern sich so grossen Anseljens erfreute, dass ihn
Flato im Phaidros unermüdlich bekämpfte nnd sogar mit
Odysseus verglich ^).
Als Lehrer der Rhetorik verfasste Thrasymachos ein theore-
tisches Buch, das in der Geschichte der Rhetorik Epoche machte;
dieses umfangreiche Werk ^) behandelte nicht mehr bloss die
gerichtliche Dialektik, es erstreckte sich bereits auf die eigent-
liche Rhetorik, wobei Thrasymachos über den Stil (z. B. den
Periodenbau) Anweisungen gab ^) ; da man vor Gericht in der
Regel mehr das Gefühl als den Verstand der Geschworenen
einzunehmen hatte, begründete er ferner die Theorie des
studierten Vortrags (Djrdxpiat?) und lehrte, wie man Mitleid,
Leidenschaft und Gehässigkeit künstlich hervorrufen kömie^).
Thrasymachos war ja ein Zeitgenosse des Euripides, Melanthios
und der gleichgesinnten Musiker, welche in Drama und Musik
der Sentimentalität Rechnung trugen. Die Lehrsätze waren
durch Sammlungen von Musterstücken, z. B. Einleitungen und
rührenden Abschnitten erläutert^).
Praktisch mag Thrasymachos seine Kunstfertigkeit gar oft
bewiesen haben, indem er athenischen Bürgern Reden ver-
fasste, aber er gab keine derselben heraus ^), weil dies damals
noch kaum gebräuchlich war. Dagegen trennte sich Thrasy-
machos insofern nicht entschieden von Gorgias als er über
philosophische Gegenstände sprach ^) ; mit praktischem Blicke
eröffnete er jedoch der Beredsamkeit ein neues Gebiet. Dem
1) 261c. 266 c. 267 c, 269 d. 271a.
2) MeyaXf) zsyyfi Schol. Arist, Av. 880 (das Citat ist aus einem Master-
stück), xiyyt] ^Y)xopix-fj Suid.
3) Dies ist der Sinn von Suidas o<; ^pw-cot; mpiohov v-azehtt^z xat tov
vöv TTjc ^fjTop'.x-fjc xpörtov elof)Y*f]aaTO.
4) Plat. Phaedr. 267 cd.
6) Suidas nennt neben der T£-/vri &cpop[i,al pTjtopixai; an Abteilungen
kennen wir icpootixta Athen. 10, 416a, oTtspßäXXovcc^ Plut, quaest. conviv. 1,
2, 3, eXeot Aristot. rhet. 3, 1 p. 1404a 15 (Quintil. 3, 1, 12), vgl. Schanz
die Sophisten S. 132 f.
6) Dionys. Isae. 20; wegen des vorhergehenden Satzes kann die
Stelle nicht geändert werden. Auch Suidas erwähnt bloss uat-fvia und
au{j.ßooXeuTtxo6c.
7) Plat. Phaedr. 271a; Cic. de orat. 3, 32, 128 (de natura rerum et
disseruit et scripsit) deutet auf einen <pootx6i;.
60 Drittes Kapitel,
Fremden war die Rednerbühiie in der Volksversammlung unzu-
gänglich und ein Mann in öfFentlichem Amte wagte damals
schwerlich sich der Diskretion eines Sophisten anzuvertrauen,
jedenfalls hätte dieser die gelieferte Arbeit später nicht ver-
öffentlichen dürfen. Aber niemand verwehrte dem Rhetor, zum
Besten seiner Schüler über politische Fragen der Gegenwart
Reden auszuarbeiten, die natürlich den Anschein hatten, als
ob sie in der Volksversammlung gehalten würden^); so be-
schweren sich in einer Rede, deren Anfang Dionysios erhielt,
die Bewohner von Larissa über den makedonischen König
Archelaos ^). Der Verlust dieser Reden^) ist die traurigste Lücke,
welche die Zeit in die Denkmäler der alten Beredsamkeit riss;
denn Thrasymachos gebührt das Verdienst, den Stil der klassischen
Prosa angebahnt zu haben.
Den Schwulst und die poetischen Floskeln des Gorgias
verschmähend, wählte er lieber eine scheinbar schlichte aber
gewählte Rede und befleissigte sich der Gedrungenheit und
Kürze. Er wurde somit der ,,Archeget" des mittleren Stiles^).
Aber Thrasymachos dämmte nicht bloss das Uebermass des
Gorgias in geregelte Bahnen ein, sondern er ersann zugleich
einen neuen Schmuck der Sprache, von dem der Sicilier noch
nichts gewusst hatte. Mit dem Reize, den die Poesie an dem
Versmasse besass, wetteiferte er durch den rhythmischen Fall
der Sätze ^) ; im besonderen fand Thrasymachos Nachahmer,
als er für die Anfänge und Schlüsse der Perioden den päonischen
Rhythmus empfahl ^). Wer mag es dem Redner verargen,
wenn er in der frischen Freude des Finders jenes Kunstmittel
im Uebermasse anwendete?
1) Dionys. de vi Demosth. 3 (e4 fevöc xdiv 8Y)(i,Y)Yoptx(I»v Xo-ftov) widerspricht
also der eben angeführten Stelle nicht.
2) Blas 8 III 2, 330 f. bemerkte, dass eine Deklamation des Herodes
Attikos dasselbe Thema behandelt.
3) Die düjftigen Fragmente stehen bei Sauppe II 162 f. und C. Müller
II 244, ein Denkmal der Beredsamkeit des Thrasymachos versuchte Petersen
Philol. 4, 244 flF. nachzuweisen.
4) Theophrast. bei Dionys. de vi Demosth. 3 und Lys. 6 ; Dionys.
Isae. 20 xaftapöc |i-cv xal XtKibz xal Seivö? eöpelv xe xal eiTceiv OTpo^YU^ux; xal
■Ktfiixx&ro ßciöXetai; ungenau Cic. orator 12, 39.
6) Cic. orator 62, 176 cujus omuia nimis exstant scripta numerose.
6) Aristot. rhet. 3, 8 p. 1409 a 2.
I
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 61
Thrasymacbos war, wenn auch schwerlich der erste Nicht-
athener, so doch der erste Dorier, welcher die Sprache Athens,
ohne kleinliche Eifersucht, annahm, weil er sich dauernd in
Athen aufhielt und mit seinem Heimatdialekte weder Zuhörer
noch Leser gefunden hätte. Dass er attisch schrieb, steht fest,
da Vestinos die Reden des Thrasymachos in seinem attischen
Würterbnche berücksichtigte ^). Daraus ersehen wir zugleich,
dass sie auch nach der Zeit Ciceros ^) noch gelesen und studiert
wurden; aber keiner der nach Dionysios lebenden Rhetoren
nennt auch nur seinen Namen.
Leider ist die Zeit dieses einflussreichen Redners nur an-
nähernd zu bestimmen; soviel steht fest, dass er älter als
Lysias war^) und bis in das vierte Jahrhundert hinein lebte ^).
Ohne Thrasymachos war kein Lysias möglich.
Weder so vielseitig, noch so bedeutend wie Thrasymachos
war Theodoros von Byzanz, der, vielleicht von jenem, dem
Bürger einer engverwandten Stadt, nach Athen gezogen, dort
mit grösserem Erfolge als Lysias lehrte ^). Anderes ist über
seine Lebensumstände nicht bekannt.
Seine Rhetorik behandelte die Enthymeme "), aber auch
die Komposition der Reden, die er durch spitzfindige Zerlegung
der Glieder kompliciert machte, z. B. schied er die Erzählung
des Thatbestandes in Vorerzählung, P^rzähhmg und Nach-
erzählung'). Plato spottete daher über den Wortdrechs-
1) 'Suidas V. OoTjaTlvoi;; auch Herodes Attikos scheint sich mit ihm
beschäftigt zu haben (S. 60 A. 2).
2) Cic. orator 52, 175.
3) Dies zeigt sowohl Piatos Staat, auch wohl der „Kleitophon" als der
Ansatz des Aristoteles (soph. elench. 34 p. 183 b 32), der ihm die Stelle
zwischen Teisias und Theodoros anweist; wenn Dionysios Lys. 6 (vgl. 3)
beide tür Zeitgenossen oder gar Lysias für älter hält, beweist er nur seine
Voreingenommenheit für Lysias.
4) Der Komiker Ephippos (bei Athen. 11, 609 c) spottete: Bpuawvo-
S-paaD[j.«-/^o-X7j4icxepfj.aTtuv. Aristoph. Daital. fr. 211, 8 M. (vom Jahre 427)
bezieht sich nicht auf deu Rhetor, sondern auf eine Person des Stückes.
5) Aristot. bei Cic. Brut. 12, 48.
6) Aristot. rhet. 2, 23 p. 1400b 16 (TiTtpöxspov 9cO?u>poo tex^^ ist
unverständlich).
7) npoStYjOfjotc SffjYvjati; etccöitiyyjoi? Aristot. rhet. 3, 13 p. 1414 bl4 (die
Rhetoren der Kaiserzeit gerieten auf ähnliche Subtilitäten, Walz rhet. III
463 mit N. 28). Die Angaben in der anonymen Rhetorik bei Spengel I
62 Drittes Kapitel.
ler^); Theodoros setzte jedoch nur seine eigene Theorie ins Werk, da
er in seinem Buche lehrte, man solle neue Wörter gebrauchen ^),
eine Forderung, welche dem Geschmacke seiner Zeit entsprach.
Für die Entwicklung des Prosastiles war l'heodoros ohne Be-
deutung^). Dionysios ^) tadelte an seinen Musterstücken und
den Kedeu die Nachlässigkeit der Arbeit. Theodoros gab nämlich
Gerichtsreden heraus, welche nach Aristoteles nüchterner als
die lysianischen waren ^). Alte Kritiker, die Lysias die Reden
gegen Thrasybulos und Andokides absprachen, teilten sie
seinem Konkurrenten zu, gewiss aus keinem anderen Grunde
als weil sie keinen anderen Zeitgenossen kannten ; die zweite
derselben ist bekanntlich erhalten. Von den nach Aristoteles
lehrenden Rhetoren berücksichtigte ihn nur üionysios ^).
Weder Theodoros noch Lysias waren die ersten, welche der
öffenthchen Meinung den Affront anthaten, Reden, welche sie
processierenden Athenern geschrieben hatten, lierauszugeben.
Wenn wir von Teisias absehen, wagte diesen dem Geiste der
Gesetze zuwiderlaufenden Schritt zuerst Antiphon.
Diesen Namen führten im Altertum zahlreiche Schriften
verschiedener Art, unter welchen Gerich tsre den die grösste
Zahl ausmachten. Harpokrations Quellen erkannten die Echt-
heit von dreizehn derselben, zu denen die erhaltenen Reden
,,über die Ermordung des Herodes"(V.) und „über den Choreuten"
(VI.) gehörten, an ''), während er zwei für zweifelhaft er-
427 ff. beziehen sich, wie p. 440, 1 zeigt, auf Theodoros von Gadara (vgl.
über diesen Blass die griechische Beredsamkeit von Alex, bis auf Augustns
S. 158 f.), ebenso wahrscheinlich, was ixepi u'^ouc 3, 5 und in den Rhetores
Latini steht.
1) AoYoSaioaXoi: Phaedr. 266 e.
2) Aristot. rhet. 3, 11 p. I4l2a 25.
3) Vgl. Dionys. de vi Dem. 8.
4) De Isaeo 19 oote ev xat? TE/vat(; (vgl. Bakiu.s scholica hypoinn. III
78) axptßY] ooTE s^sxaoiv Ixocvrjv ev tote Eva^w^vioit: SeSoixoxa Xo^otc ; er gehörte
übrigens zu den c. 20 aufgeführten lieduern.
5) Cic. Brut. 12, 48 (jejunior).
6) Cicero keimt ihn bloss aus Pluto und Aristoteles,
7) Upi? xöv A-rjjjLCioö'Evoui; -fpatf-rjv oder üvxtfpoKf'lv (Harpocr. v. "AvSpcuv
= napavo|iüJv xaxTjYopia fr. 46 bei Suid., vgl. Ps. l'lut. 833 d), upö; 'Kpa-
oioxpaxov nepl xawvwv (xatLv), npb'z xyjv KaÄXioü EvSst^tv, ejrtxpoirtxöi; [xaxa]
KaXXioxpaxou oder KaXXioxpaxi}), xaxä AaiorcoStoü, nf>bz NtxoxXea ^epl opu>v,
tncxponixö': Tt|j.oxp«xjt, xaxä ^cXivou, itepl z-qq eic; xbv eXeöS-epov italSa
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 63
klärte^). Andere erwähnen weitere sechs, darunter die „Anklage der
Stiefmutter wegen Giftmord" (I.)^). Die Zeit, in welcher diese
Reden entstanden, erstreckt sich von spätestens 425 bis in die
dem sicilischen Feldzuge unmittelbar folgenden Jahre %
Antiphon schrieb aber nicht bloss auf Bestellung Reden,
sondern er bereitete, wie die bisher besprochenen Sophisten,
für die gerichtliche Thätigkeit vor ^), wobei er seinen Schülern
ein mit Musterstücken ausgestattetes Lehrbuch an die Hand
gab-''); dazu gehörten ohne Zweifel, obgleich kein altes Citat
für sie Bürgschaft leistet, die erhaltenen drei Tetralogien,
dialektische Erörterungen von drei schwierigen Kapitalprocessen,
in je zwei Anklagen und Verteidigungen ausgeführt.
Gerade wie Thrasymachos, verhüllte Antiphon seine Kunst
dem grösseren Publikum durch den Vortrag epideiktischer
Keden^); davon werden die Titel Tispl ©[lovota? (fr. 106 — 119)
[ößpetu?], uEpl Toü Atvoiüiv (?) (f/opou und Tispl toü ilajJLOiJ-pav.ojv cpöpou (^«fj-o-
vl'paxixö;;).
1) Kaxa TcpüxavEcuc und rcpo? 4>tXi7C7iov UKoXo'^i.a.
2) Kax' 'AXxißtaSou XotSopiac (Athen. 12, 525 b, während Plutarch Alcib. 3
titiert £v Tai? 'AXxißidoou Xo'.Sopiatc, an denen es in jener Anklagerede sicher
lüclit fehlte; xatä '^iTZTzov.^äzotiz tou oxpaxYjYOü (interpoliert taxpoö Ps. Plut.
S33d); o.Ko\o'(ia. xoö Müppou fr. 34. 35 Bl. ; npöi; lloXusoxxov fr. 47; icepi
ü/opaKoSiGfioti fr. 7. Der von Studeraund Hermes 2, 434 tf. veröflfeutlichte
\inglaubwürdige Pinax, den ich hier probeweise anführen will, gibt Antiphon
50 ßeden.
3) Die Rede gegen Hippokrates niuss vor 424, wo er fiel, geschrieben
sein. Die Eeden über die Tribute von Lindos und Samothrake hängen wohl
mit der Ol. 88, 4(425) erfolgten Regelung der Tribute (U. K öhler Urkunden
und Untersuchungen zur- Geschichte des delisch-attischen Bundes S. 150)
zusammen. Die Rede über den Choreuteu (vgl. § 11) und gegen Philiuos
(fr. 61) sind nach dem sicilischen Zuge verfasst (Sauppe orat. Att. 11 144).
Vgl. auch F. Kirchner de temporibus orationum Antiphontearum, Frank-
furt a. O. 1864.
4) Plutarch. de gloria Athen. 8.
6) Fr. 71—76, vgl. Quintil 3, 1, 10; Pollux 6, 143 spricht sich zweifelnd
aus. Sopatros Walz V 7, 12 ff. kennt das Buch nur mehr vom Hörensagen.
Bei Ps. Plut. 832 e ist aber icpwxoc ok Vop^iac, zu schreiben wie Neaxwp zeigt.
Aristoteles bezeugt wenigstens Gemeinplätze (Cic. Brut. 12, 47); im besonderen
werden upoot}j.'.a (fr. 68. 69) und snlXo-j^oi (fr. 70) augeführt.
6) Hermogen. p. 414, 9 fl". Philostr. vit. soph. 1, 15, 4 aocpcaxtxol Ss y«al
exepo'. Q\ö'(oi) |j.£v, cotptaxixwxspoi; ?£ 6 unep f'qc, ofjLovoiac, £v ö» YvcufAoXoYiat ts
Xa[jL7:pat v.al (f'.KÖao^oi a£}j.vfj xs cmu-^^s\'ia xal äii7jv^ic[j.£VYj tcocyjxcxoIc ovofxao;
xal xä airoxdSYjv Ep[j.Yjv£u6jj.Eva TCapaTrXrja'.a xd)V neSiiuv xoic; Xsioi^^
64 Drittes Kapitel.
und ;roXtnxö(: (fr. 120—124) angeführt^). Der Natnrphilosoplne,
welche ja auch der Chalkedonier behandelte, waren zwei Essais
„über die Wahrheit" (fr. 80— 105 a), deren Titel der Redner
von Frotagoras entlehnte, gewidmet. Aristoteles schenkte ihnen
nicht mehr Beachtung als denen des Thrasymachos, ausser dass
er Antiphons dialektische Quadratur des Cirkels erwähnte ^).
Endlich existierte ein altertümliches Buch „über die alten
Dichter und Sophisten", welches gewöhnlich unter dem Namen
des Glaukos von Rhegion ^) angeführt wird, manchen jedoch
aus uns unbekannten Gründen für ein Werk des Antiphon galt.
Alle diese Schriften heissen also Werke Antiphons, aber
welcher dieses Namens hat sie verfasst? Der berühmte Anti-
phon^), des Sophilos Sohn aus dem Demos Rh am nus^), ge-
hörte zu den Aristokraten, welche sich mit den durch Perikles
geschaffenen Zuständen nicht versöhnen konnten , sondern
grollend das öffentliche Leben mieden, indem sie eine Gelegen-
heit zur Wiederherstellung der alten Verfassung abwarteten.
Antiphons Name würde daher in den Jahrbüchern der attischen
Geschichte fehlen, wenn er nicht im Jahre 411 geglaubt hätte,
jene Gelegenheit sei gefunden. Er stand damals mit Phrynichos
an der Spitze der antiradikalen Bewegung und büsste, weil die
spartanische Hilfe ausblieb, mannhaft im Lande bleibend, wäh-
rend die meisten Verschworenen flohen, den Misserfolg mit
dem Tode; der zur Verurteilung führende Autrag, den Andron,
1) Aristides schrieb itepi &p.ovoiac, Dion Chrysostomos einen itoXtxtxi?
iv exxX-rjofa (XLVIII.). U. v. Wilaniowitz Hermes 11, 296 identificiert
die Bürgerrede mit der Anklage des Alkibiades.
2) Aristot. <pua. dxp. 1 p. 185a 17, vgl. soph. eleuch. p. 172a 3.
3) Fragmente in C. Müllers fragm. histor. Graec. II p. 23 f.; b e4 'ItoXtac
Plutarch. mus. 4, aus Rhegion und Zeitgenosse des Demokrit Diogen. 9, 38;
nEpl (^nip) tüiv apy^aioiv notTjtiJüv te xal |jiou!3ix<iiv Plut. mus. 4. 7 (hier als
avai'pa<f/-f) bezeichnet), nepl not-rjxdv Ps. Plutarch. 833 d, itepl toü ßlou xdtv
erc' (ev) ("■fttTQ zptoxeuodvTUJv Porphyr, vit. Pyth. 7 und Diogen. 8, 3 ; Glaukos
eitleren Apollod. bei Diogen. 8, 62, der angebliche Plutarch „über die
Musik'' und Harpocr. v. Mouaaloi;, Antiphon bloss Porphyr, und Diog. a. O.,
vgl. Ps. Plut. 833d. Nach Nauck Philo). 5, 677 soll ;cEpl AlaxuXou fio^tov
(Argum. Aeschyl. Pers.) ein Abschnitt des Buches gewesen .sein.
4) Alb. Dryander comm. de Autiphoutis Rhamuusii vita et scriptis
capita selecta, Halle 1838.
6) Dekret bei Ps. Plutarch. 834 a.
I
Die Lehrer der gericlitlicheri Beredsamkeit. 65
einer seiner früheren Genossen, gestellt hatte, ist noch erhalten ^).
Vor dem Tode sagte Antiphon zu Agathon , er kümmere sich
mehr um das Urteil eines Wackeren als vieler Wichte ^). Anti-
phons unvergänglicher Ruhm wird der warme Nachruf bleiben,
den ihm der sonst mit Lob so geizende Thnkydides widmete
(8, 68): ,, Antiphon stand hinter keinem einzigen Athener au
Tüchtigkeit zurück und war durch Beredsamkeit wie durch
Scharfsinn ausgezeichnet ; in der Volksversammlung trat er nie
auf, ebenso wenig, so weit es von ihm abhing, vor Gericht,
sondern, dem gewöhnlichen Volke durch den Ruf der Gewandt-
heit verdächtig, unterstützte er nach Kräften den, der vor den
Richtern oder dem ganzen Volke zu reden hatte, durch Rat-
schläge und er selbst verteidigte sich, als ihm nach dem Sturze
der Vierhundert der Prozess gemacht wurde , so gut wie kein
anderer vor ihm." Diese Rede gab Antiphon natürlich nicht
selbst heraus ; da die Alten aber eine Rede ,,über den Staats-
streich" eitleren ^), müssten seine Freunde dies besorgt haben,
wenn nicht eine absichtliche Fälschung vorliegt. Antiphon
erteilte also (seinen Gesinnungsgenossen, dürfen wir einfügen)
Anleitung, worüber Plato sich spöttisch äusserte*); da er ihn
aber mit Aspasia zusammenstellt, war ihm Antiphon nicht ein
Lehrer wie Gorgias oder em anderer Sophist. Die Stelle des Thu-
kj^dides bezieht sich gleichfalls nur auf freiwillige Ratschläge;
denn die bezahlte Abfassung von Reden durfte der Historiker
nach den Anschauungen seiner Zeit nicht loben.
Warum setzen nun Plato und Aristoteles ^) dem Namen
des Antiphon das Demotikon „aus Rhamnus" bei? In Athen
lebte zur Zeit des Sokrates nicht bloss jener Aristokrat, sondern
auch ein Traum- und Zeichendeuter desselben Namens^), welcher
zugleich als Sophist auftrat und Sokrates anfeindete. Xenophon '^)
1) Bei Ps. Plutarch. vit. dec. orat. 833dflf. (aus Krateros' Urkunden-
sammlung, vgl, Harpocr. v."Av8pa)v).
2) Aristot. eth. Eudem. 3, 5 p. 1232 b 6.
3) Vgl. Sauppe orat. Att. II 138.
4) Menexen. 236 a.
5) bei Cic. Brut. 12,47.
6) H. Sauppe commeutatio de Antiphonte sopbista, ind. lect. GfÖt-
tiugen 1867; A. Croiset Annnaire pour l'encour. des etudes gr. 17, 143 ff.
7) Memorab. 1, 6.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. 11. 6
66 Drittes Kapitel.
stellt ihn als einen nur auf Gelderwerb und Wohlleben be-
dachten Menschen hin, der Sokrates seine Zuhörer abspenstig
machen wollte. Die Identität des Sophisten und Zeichendeuters
wird durch Aristoteles bezeugt ^). Von diesem Manne rührte
bestimmt ein berühmtes Traumbuch her'''). Ferner war er es
ohne Zweifel, welcher in Korinth gleich Empedokles (hu*ch
seine Beredsamkeit sympatlietische Kuren verrichtete ^). Wen
die Komiker wegen Armut, Frechheit, Habsucht*) und als
,, Wortkoch"'') verspotteten, ist nicht sicher auszumachen.
Für die alten Gelehrten existierte eine förmliche Antiphon-
frage; ein Kompilator wie der angebliche Plutarch brachte es
freihch fertig, in seiner Biograpliie den Politiker, den Sophisten,
einen nicht literarisch thätigen Athener und sogar den Tragiker
Antiphon zu einer Person zusammenzuwirren ; aber die Kritiker
waren vorsichtiger : Hephaistion untersuchte die Frage, welcher
Antiphon bei Xenophon gemeint sei, in einer besonderen
Schrift*^) und Hermogenes') fand den Stil der Werke nicht
gleichmässig, weshalb er sie zwischen dem Staatsmann und dem
Sophisten verteilen wollte. Jenes hat nicbt viel zu bedeuten,
da doch Antiphons Klienten vor Gericht nicht wie Kunstredner
sprechen durften ; vielmehr findet man bei genauerer Betrach-
tung in den erhaltenen Gerichtsreden mehr Spuren des epideik-
tischen Stiles als in den gleichartigen Werken anderer Redner.
Die Ansicht des Hermogenes zu prüfen, gestattet uns der Ver-
lust der meisten Werke nicht. So viel aber wird feststehen,
daas der reiche^) Aristokrat Antiphon das selbst später noch
anrüchige Gewerbe eines Redenschreibers nicht ausgeübt hat ;
1) bei Diogen. 2, 46 (er sagt ausdrücklich b TepaToaxoiroc).
2) Citate bei Sauppe a. O. p. 17 f.; war es in Versen, weil Suidas
Antiphon xepaTOOXÖito? xal enojtotoc nennt? Melampiis nsp\ TtaXfjiwv citirt
Antiphon.
3) Ps. Pluüirch. 8iJ3c.
4) Aristoph. Vesp. 1270. 1301. Plato com. bei Ps. Plut. 833 c (Wenn
Philostr. Vit, soph. 1, 15 genauer ist, war der Redenschreil)er gemeint).
5) AoYO|x«Yeipo<; Suidas v. 'AvtupAv. Aristophanes wendet im Frieden
V. 44 das antipbonti-sche Wort SoxYjocoocpo? zum Spotte an.
6) Athen, 16, 673 e f. *
7) Ilepl ISeÄv *2, 11.
8) Was hätte ihm sonst der Staatsstreich genützt? Dass der Vater Schul-
meister war (Ps. Plutarch. 832 b), bezieht sich gewiss auf den Sophisten.
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 67
Thukydides kann nur mündliche Unterweisung von Freunden
meinen.
Die erhaltenen Reden, welche sich nur um Mord oder
Todschlag drehen (Xö^ot ^ovtxot)^), zerfallen, wenn ich nicht
irre, in zwei Gruppen ; für den wirklichen Gebrauch waren
nur die Reden ,,«ber die Ermordung des Herodes"
(TTspi Toö 'HpcpSou (pövoo V.)^) und „über den Choreuten"
{Tispl TOÖ /opsoToö VI.) ^) bestimmt, welche, wenn auch die fünfte
Rede etwas mehr Streben nach Variation zeigt, wahrscheinlich
von einem Verfasser herrühren'*).
Die erste Rede hingegen „über den Giftmord" und
die drei sogenannten Tetralogien sind bloss Uebungsstücke,
welche für den Unterricht bestimmt waren ^). Bei den Tetra-
logien liegt dies auf der Hand; das rhetorische ist bei Seite
gesetzt, die Sprache im allgemeinen schlicht, aber gelegentlich
mit pathetischen Ausdrücken verziert"). Das Hauptgewicht
liegt vielmehr auf den Enthymemen, welche der Rhetor für
seine Schüler zusannnengestellt hat. Es fehlen daher individuelle
Züge, höchstens von F 4 abgesehen, wo ein Freund statt des
entwichenen Angeklagten spricht, und die Paare von Anklagen
und Verteidigungen treten nicht lebenswahr heraus. Die drei
Probleme waren schon zur Zeit des Antiphon nicht neu ; wenig-
stens disputierte Perikles mit Protagoras über einen der zweiten
Tetralogie sehr ähnhchen Fall. Die Sprache weicht in manchem
von der der übrigen Reden ab').
1) Zur Erklärung A. P h i 1 i p p i der Areopag u.die Epheten, Berlin 1874,
2) Ueber den Rechtsfall M. Sorof Jahrbb. f. Phil. 127, 105 fif.
3) Unecht nach A. Wagen er Revue de Instruction publique XIII,
(1870) Nr, 2; über die Zeit s. S. 63 A.3.
4) Auch die Anrede an. die Richter stimmt überein : Gewöhnlich sagt
Antiphon u) avSps?, nur je einmal tu av^pec Stxaaxai 5,84. 6,1. Auffallend ist
jedoch, dass das altmodische touto ]jlev — toöto U — elfmal in V., aber nie in
VI. vorkommt. Wenn in V. fünfzehn aa und 1 xt (§ 91.) überliefert sind,
während in VI. immer xx steht, zeigt dies bloss die gesonderte Ueberlieferung
des Textes.
5) Jo. Jonsius de scriptoribus historiae philosophicae p. 325 sah in
allen Reden Deklamationen.
6) Blass I S. 147 A. 4. 153 A. 6. 161.
7) Vgl. H. van Her wer den Mnemos. n. s. 9, 203 f. (nach ihm sind
sie von einem Späteren jonischer Abkunft verfasst); Dittenberger Hermes
16,321 A. 329; Phil. Weber Entwicklungsgeschicht« der Absichtssätze,
6*
gg Drittes Kapitel.
Aber auch die erste Rede kann nicht für einen bestimmten
Fall aufgesetzt sein^); Zeugnisse fehlen, wo man sie erwartete,
und werden durch bloss dialektische Kombination ergänzt; der
Ankläger, der beim Tode seines Vaters vierzehn Jahre alt war
(§ 1. 30), Hess nach der Fiktion auch erst seinen leibhchen Bruder
volljährig werden, bis er die Anklage einbraoiite. Im Ausdruck
findet man gewisse Uebereinstimmungen mit den Tetralogien,
so dass sich die Uebungsreden von den eigentlichen Gerichts-
reden absondern^); überdies verdient die mehr poetische Anrede
„o Richtende" Beachtung ^),
Der Umfang des Erhaltenen ist zu gering als dass ein
sicheres Urteil über Echtheit und Unechtheit aus der Sprache
möglich wäre; denn jede der erhaltenen Reden hat ihre be-
stimmte Eigentümlichkeit. In den Tetralogien finden wir,
weil Enthymerae klar aneinander zu reihen sind , meist einen
knappen und präcisen Ausdruck; die sechste und fünfte Rede
sind beide ziemlich weitschweifig, aber unter sich im Satzbau
verschieden; die erste Rede sondert sich von allen durch Ge-
ziertheit, die besonders in der manierierten Wortstellung zu
Tage tritt, ab. Immerhin zeigt der Stil*) ein gewisses einheit-
liches Gepräge, welches allerdings vielleicht nicht einen und
denselben Verfasser, sondern überhaupt die Anfänge der attischen
Würzburg 1885 II S. 16. Die Echtheit verteidigt J. Hartman studia
Antiphoiitea, Leiden 1882. Vgl. Phil. Both de Antiphoutis Rhamnusii tetra-
logiis, Oldenburg 1876.
1) Mätzner in seiner Ausgabe (Berlin 1838) S. 125; Meier und
Schömann der attische Prozess S. 311; bestritten von P. G. Ottsen de
rerum inventione et dispositione quae est in Lysiae atque Antiphontisorationibus,
Flensburg 1847 und Fr. Wieden hofer Antiphontis esse orationem quam
editiones exhlbent primam demonstratur, Pr. v. Wien 1384. Für unecht halten
die Rede L. Spengel oovaYWfri p. 118, Schmitt de oratione in novercam
quae Antiphontis iertur, Fulda 1853 u. F. Pahle die Reden des Antiphon,
Jever 1860 S. 12ft.; auch Blas» I 181 ff. urteilt, wenn die Rede echt sei,
stelle sie „eine sehr primitive Stufe der Entwicklung des Antiphon" dar,
was Hoppe Antiphonteorum specimen, Halle 1874 billigt.
2) Vgl. was Fuhr Rhein. Mus. 33,675 über das Tempus bei |jieaXu>
und S. 678 über ts xal bemerkt.
3) 'ü S'.xiCovTe«: § 7 (allerdiugs in einem Satze, der angefochten wird).
4) Joh, Becker de sophisticarum artium vestigiis apud Thucydidem,
Berlin 1864; Ad. Hoppe Antiphonteorum specimen, Halle 1874 p. 32—63;
Phil. Bot h de Antiphontis et Thucydidis genere dicendi, Marburg 1876.
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit, 69
Beredsamkeit kennzeichnet. Es fehlt die Einfachheit und Un-
gezwungenheit, welche Thrasy machos und Lysias ihren Reden
zu geben verstanden. Weil der Verfasser noch nicht weiss,
wie er dem Publikum seine Künste verhüllen soll, schwankt
er zwischen der Unbehilfliclikeit eines gewöhnlichen Bürgers
— beispielsweise wird dasselbe Wort nicht selten in kurzen
Zwischenräumen gebraucht ') — und sophistischem Prunk. Wie-
wohl der Gleichklang nicht häufig vorkommt ^), ist durchweg
die Schule des Gorgias fühlbar. Am meisten tritt dies natürlich
in den Fragmenten der epideiktischen Schriften hervor, aber
auch in den Deklamationen etwas mehr als in den praktischen
Reden. Antiphon vermeidet einfache und schlichte Bezeich-
nungen und greift gerne zu veralteten und poetischen Wörtern^).
In dem Lehrbuche (fr. 76) empfahl er ausdrücklich Neubildungen
und bereicherte selbst die Register der Lexikographen mit
seinen Ableitungen und Zusammensetzungen. Da ein breiter
Ausdruck den Vorzug vor einem kurzen zu verdienen schien,
kommen Pleonasmen und Umschreibungen ^), unter denen das
philosophisch klingende Neutrum mit dem Genitiv hervor-
sticht^), sehr häufig vor. Im Periodenbau nahm Antiphon von
Gorgias die Vorliebe für symmetrisch gebaute durch korre-
spondierende Partikeln gegliederte Sätze an, wobei er auch vor
überlangen Perioden nicht zurückscheute ^); die Form der
Antithese kam besonders oft vor^). Die rhetorischen Figuren
waren bereits entwickelt (z. B. tritt die Epanaphora wiederholt
auf)^), dagegen die advokatischen Kunstgriffe erst im Werden ^).
Die volle Wirkung wird durch die in allzugrosser Fülle ver-
wendeten Gemein[)lätze, welche den docierenden Theoretiker
verraten, etwas beeinträchtigt; der Redner hat noch nicht ge-
lernt, sie mit dem speciellen Falle in innigere Verbindung zu
1) Becker a. O. S. 30; auch 1,25 codd.
2) Hoppe a. O. S. 52.
3) Both a. O. S. 15 ff. 24 f.
4) Both a O. S. 26 ff.
5) Both a. O. S. 36ff. ; das kühnste ist xö twv Ix^P'»^ ßouXofxsvov 5,73.
6) Z. B. 6. 2 f. 23. 45.
7) Becker a. O. S. 19f. Both a. O. S. 27 f. 29; Ed. Belling de perio
dorum Antiphontearura symmetria, Breslau 1868.
8) Becker a. O. S. 22 f.
9) Caecilius bei Phot. biblioth. 259 p. 485 b 14 ff.
70 Drittes Kapitel.
setzen. Was das Verhältnis der Redeabschnitte anlangt^) so
pflegt die Einleitung mit altertümlicher Breite angelegt zu sein ^).
Die Beweisführung ist schwächlich und lässt in sännnthchen
drei Reden wichtige Punkte unaufgeklärt. In allen Beziehungen
kann man sich keinen grösseren Unterschied denken als er
zwischen Antiphon, dem ersten in seiner Art, und Demosthenes,
den zu überbieten unmögHch war. Dort Unbeholfenheit, hier
die raffinierteste Kunst; dort eine etwas gezierte pompöse
Würde und Feierlichkeit''), wie sie dem Geschmacke des thuky-
dideischen Zeitalters entsprach, hier ein leidenschaftliches Pathos,
welclies damals für ungeziemend gegolten hätte.
Die Altertümlichkeit der Reden Antiphons verhinderte,
dass er unter die eigentlichen Schulautoren Aufnahme fand;
wie jedoch die Blutgesetze Drakons neben den Gesetzen Solons
fortdauerten, so genoss Antiphon als Specialist für Kapital-
sachen bei den Späteren einiges Ansehen. Als einer der zehn
Attiker wurde er von den Grammatikern behandelt, wenn auch
nur in den allgemeinen Schriften, die sich auf alle zehn Redner
erstreckten ^). Dagegen lasen ihn die Rlietoren wenig ^) und
nur Gajus Harpokration schrieb eine Monographie über Anti-
phon ^). Begreiflicherweise fehlen SchoHen, doch enthalten die
Handschriften eine Biographie des Redners und Inhaltsangaben
der einzelnen Stücke ').
Die handschriftliche Ueberlieferung Antiphons ist
nicht selbständig; man stellte nämlich die fünf weniger be-
1) Car. Li u der de rerura dispositione apud Antiphontein et Andocidem
oratores Atticos comin., Upsala u. Göttingen 1859.
2) Auch die archaische Beredsamkeit lionis hatte diese Eigentüuilicli-
keit (Tacitus dialog. 19. 22).
3) Toü zhKptKoöz liäXtaxa otoxaCofisvoc Fliot. bibl. 269 p. 486 b 14.
4) So wahrscheinlich schon im Kommentar des Didymos vgl. Hermogeu.
It. 18. p. 414,5 Sp.
6) Spengels Khetoren citieren ihn nie (nur Denietrios rtepl fepjjifiv. 53
eine verlorne Rede). Die Tetralogien werden bei Walz 11 33, 29. 378, 9. VII
11, 2. 1310, 19 von Byzantinern angeführt. Cicero scheint nichts gelesen
zu haben.
6) llepl TÄv 'AvTi(pd)vxoc fjyfiiLäxuiv 8uid.; nach einer Vermutung von
Toupius (zu Suid. Aoöjtepxoc) behandelte Lupercus die berühmte Pfaueurede.
7) Nach argum. VI. hatte derselbe Verfasser Inhaltsangaben zu Demos-
thenes geschrieben.
Die Lehrer der gerichtlichen Bererlsanakeit. 71
rühmten Attiker Andokides, Isaios, Deinarchos, Antiphon und
Lykurgos, m einen Band zusammen. Diese Sammlung ist
uns in zwei unabhängigen Handschriften überliefert, von welchen
die eine vollständige, der codex Crippsianus A des brittischen
Museums , im dreizehnten Jahrhundert auf dem Athos ge-
schrieben ist; der codex Oxoniensis N hingegen, wahrscheinlich
aus dem folgenden Jahrhundert stammend, enthält jetzt nur
die drei letzten, wobei der Schluss des Ijykurgos fehlt. Es sei
mir gestattet, ein für alle Mal den lebhaften Streit, der sich
über die Vorzüglichkeit der einen oder anderen Handschrift
entsponnen hat, hier kurz zu skizzieren. Bekker und Baiter-
Sauppe (Oratores Attici 1 p. 1 ff., Fragmente H p. 138 ff.) war
bloss die Handschrift A, deren Vortrefflichkeit sie entdeckten ^),
bekannt; erst Mätzner machte in seiner Ausgabe des Antiphon
(Berlin 1838) auf N aufmerksam und gab ihm den Vorzug.
So viel ist nun klar, dass beide Handschriften aus einer Quelle
stammen ; aber die schwierige Frage besteht darin, ob A (in
der ersten Hand, deren Lesarten später an vielen Stellen korri-
giert wurden) oder N dem Originale näher stehe, mit anderen
Worten welche von beiden Recensionen durch einen Gramma-
tiker überarbeitet wurde. Die meisten Gelehrten haben sich zu
Gunsten von A entschieden ''). Doch auch N fand Verteidiger^);
Blass vermutet, dass bereits im Archetypus doppelte Lesarten
vorhanden waren*), und befolgt demgemäss in der neuesten
Ausgabe des Antiphon (Leipzig 1881) eklektische Grundsätze.
In der That ist noch nicht genügend nachgewiesen, dass N
1) Doch verwertete sie schon Dobree in seinen adversaria I 167 ff.
2) Ausser H. Sauppe quaestiones Antiphonteae, ind. schol. Göttingen
1861 vgl. Briegleb zur Kritik des Antiphon, Anclam 1861; Arn. Hug comm.
de arte critia in Anliphoutis orationibus factitanda, Zürich 1872 (Univ.-Progr.) ;
Ad. Bohlmann Antiphontea, Breslau 1882 cap. 1; Eosenberg Jahrbb. f.
Phil. 107, 97 ff. (zu Deinarchos); Th. Thalheim zu Lykurgos, Jahrbb. f.
Phil. 115, 673 ff.; Graffunder de Crippsiano et Oxoniensi Antiphontis
Dinarchi Lycurgi codicibus, Berlin 1882.
3) Fr. Franke neue Jenaische Literaturztg. 1842 Nr. 249 f. u. Ztsch. f.
Alterthumsw. 1843 Sp. 259 ff.; Blass in der ersten Ausgabe des Antiphon;
Jernstedt in seiner Ausgabe, Petersburg 1880 (die eine genaue Kollation
von N enthält); Paul Job. Vo gel in Dinarchum curae grammaticae rhetoricae
criticae, Leipzig 1877.
4) Zur Kritik des Antiphon, Rhein. Mus. 27, 92 ff. und in der Vorrede
zur zweiten Ausgabe.
72 Drittes Kapitel.
wirklich Interpolationen erfahren habe ^) ; zudem haben neue
genauere Kollationen ^) gezeigt , dass das vorhandene Material
bisher nicht zuverlässig war, auch sprachliche Beobach-
tungen sind vorläufig zu wenig herangezogen. Wäre es un-
möglich, dass ein verderbtes Original in doppelter Weise emen-
diert wurde?
Ueber die Ausgaben bleibt nach dieser Auseinander-
setzung weniges beizufügen. Die Reden Antiphons erschienen
zuerst in den Sammlungen des Aldus und Stephanus ^), dann
bei Reiske (VIII 199 ff.), ßekker und Baiter-Sauppe ; der kritische
Apparat ist am besten bei Jernstedt und Blass mitgeteilt. Ein
Kommentar wurde den Reden Antiphons seit Mätzner (Berlin
1838) nicht mehr beigefügt, so viel auch in den das griechische
Recht behandelnden Schriften dafür vorgearbeitet ist.
Eine ähnliche Figiu- wie Thrasymachos, Theodoros und
Antiphon war der Rhetor Polykrates von Athen*), welchen
widrige Verhältnisse ausserhalb seiner Heimat Unterricht in der
Beredsamkeit zu erteilen nötigten^). Indes hatte er wenig
1) Hug a. O. p. 19 f. verzeichnet die angeblichen Interpolationen von N ;
aus Antiph. 6, 90 u. 6, 23 scheint mir gerade hervorzugehen, dass die beiden
Schreiber selbständig unverständliche Stellen änderten; dort stand wohl im
Archetypus mit Dittographie <pY](peioafj,evot)(;-
2) Für Antiphon Jernstedts Ausgabe; für Lykurg Thalheim a. O.
Isaios Bürmann, Hermes 17, 384flf. und in seiner Ausgabe. Wa« die übrigen
Handschriften anbelangt, so wird die Unabhängigkeit des codex B behauptet
von Hug a. O. und Herrn. Eeutzel exercitatt. criticae in Antiphontis
orationibus, Giessen 1879, geleugnet von Thalheim Jahrbb. f. Phil, 116,
673flf. u. Jernstedt a. O. p. XIX— XXII; auf Grund einer genaueren
Kollation wies nun Bürmann Hermes 17, 384flf. und Rhein. Mus. 40, 387flf.
nach, da.s8 B direkt aus A abgeschrieben ist. Die Handschriften LMZP bilden
eine Gruppe, welche das Fehlen von Isae. 1, 22—2,47 gemeinsam hat; nach
Jernstedt a. O. p. XVI A, 8 ist das Original L, nach Reutzel S. ISff. B.
Die Handschrift Q bietet für Isaios und Andokides eine selbständige Ueber-
lieferung (Bürmann Rhein. Mus. 40, 390 ff.).
3) Die Ausgabe von Hannover 1619 zählt sechazehn Reden, weil die V.
zerlegt ist.
4) J. Vahlen der Rhetor Polykrates, Rhein. Mus. 21, 146ff.; Blass
n 336 flf. Fragmente bei Sauppe, Orat. Att. II p. 220 flf. u. C. Müller II 312.
Athener nach Aischrion von Samos bei Athen. 8, 335 d.
6) Isoer. 11, 1. 2. Erdichtet ist natürlich, dass er auf Kypros lehrte
(Argum. Isoer. XI.).
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 73
Glück : die Thessaler zogen ihm Gorgias vor ^), schlimmer aber
war, dass er von den athenischen Rhetoren angefeindet wurde.
Seiner Anklage des Sokrates setzte Lysias eine Verteidigung
des Philosophen entgegen, wie auch Xenophon in den „Er-
innerungen an Sokrates" gegen den Eedner auftrat ''^), und
1 sokrates suchte an des Polykrates „ßusiris" in hochfahrendem
Tone die Unfähigkeit seines Landsmannes nachzuweisen. Jene
Anklage war nach 393 verfasst, weil die neuen Mauern Konons
darin vorkamen ^), kann also nicht für die wirkliche Anklage
geschrieben worden sein *).
Polykrates hatte ja eine grosse Vorliebe für frappierende
Themata; wie er Sokrates angriff, weil ihn die Gebildeten ver-
ehrten, so verteidigte er den verrufenen Menschenfresser Busiris ;
der Sophist mag sich dieser Aufgabe nicht mit Geschick ent-
ledigt haben, doch wer glaubt seinem Gegner, dass er zuerst ^)
ßusiris, den er doch preisen wollte, zu einem Kannibalen machte ?
Dieser Schrift stellt sich ein Enkomion auf Klytaimnestra würdig
an die Seite ^) ; ausserdem verfasste Polykrates scherzhafte Reden
auf die Mäuse ^), die Töpfe und die Stimmsteine'''). Einmal
verglich er, man weiss leider nicht wen, in humoristischen
Antithesen mit Agamemnon^).
Diese Reden waren nur Parerga (juaiYVia), sein eigentlicher
Beruf hingegen wies den Rhetor auf die gerichtliche Rede.
Ob Polykrates ein Handbuch dieser Gattung verfasste ^"), steht
nicht fest; jedenfalls gab er aber Gerichtsreden heraus, da ihn
1) Pausan. 6, 17, 9.
2) K. Fr. Hermann Geschichte der platonischen Philosophie S. 629
bezieht Plat. Euthyd. 306 d f. auf ihn.
3) Favorinus bei Diogeu. 2, 39, vgl. Suid. v, noXüy.päT-r]<;.
4) Diese unrichtige Ansicht hatte Hermippos von Smyrna (bei Diogen.
2,38, vgl. Qnintil. 2, 17, 4 dicitur. 3, 1, 11. Aelian. var. hist. 11, 10. Argura.
Isoer. orat. XI. Themist. orat. 23,296 p. 357, 20 D. Epist. Socrat. 14,3 Suid.),
s. Meier quaestioues Andocideae III p. XIV. Auch Polydeukes von Nau-
kratis schrieb unter Commodus eiue Anklage des Sokrates (Suidas).
5) Dies ist ebenso unwahr wie was Isokrates (11, 5) über Alkibiades sagt.
6) Quintil. 2, 17, 4.
7) Aristot. rhet. 2, 24 p. 1401 b 16.
8) Alexander in Spengels rhet. III p. 3, 10.
9) Demetr. it. epfjLYjv. 120.
10) Quintil. 3, 1, II.
74 Dritte« Kapitel
Dionysios mit Antiphon, Thrasymachos, Kritias und Lysias
zusammenstellt ^). Zu diesen älteren Rednern gehörte Polykrates
in der That, weil er nach Isokrates' eigener Angabe (11, 50)
älter als dieser war. Dionysios lässt als Verehrer des Isokrates
nichts gutes an dessen Gegner: Seine Gerichtsreden sollen
inhaltslos, die epideiktischen frostig und schwulstig (was auf
Nachbildung des Gorgias schliessen lässt), die Scherzreden ohne
Witz gewesen sein ^).
Im vierten Jahrhunderte entstand ein Schandbuch, welches
schon der Philosoph Clirysippos als Werk der Hetäre Philainis
bezeichnete-^), aber der Satiriker Aischrion behauptete, Polykrates
habe es ihr in böswilliger Absicht untergeschoben*).
Schüler des Polykrates hiess der bekannte Rhetor Zoilos
von Amphipolis ^), der wahrscheinlich zur selben Zeit wie
Isokrates in Athen lehrte ^). Er verfasste gleichfalls scherzhafte
Aufsätze, z. B. Lobreden auf Polyphemos und die öde Insel
Tenedos ''). Seine ernste Thätigkeit war den Gerichtsreden
zugewandt ^), aber niemand achtete sie einer Erwähnung wert.
Eine Rhetorik war nicht vorhanden'-').
Wenn aber auch Zoilos hierin Polykrates an die Seite
trat, brachte er aus seiner Heimat das Interesse für ein anderes
1) Dionys. Isae. 20. Vgl. Epist. Socrat. 14, 3.
2) Dionys. Isae 20.
3) Athen. 8, 335 de.
4) Athen. 8, 335 b — d (itepl öcppo8totu>v ist der Titel). Aehnliche Fälle
weist E. Rohde der griechische Roman S. 3471". nach.
6) Porphyr, zu II. E 7 nennt Zoilos irrlünilich Ephesier wie den Zenodot;
das richtige steht K 274. Ueber Zoilos vgl. Bd. I S. 157 und BlassII 344 ff.
6) Nach Ktesibios studierte der junge Deraosthenes seine Reden (Ps.
Plutarch, Demosth. 844 c); Schüler des Polykrates Aelian. var. hist. 11, 10.
7) Polyphemos Schol, Plat. p. 142 B; Tinedos Strab. 6, 271. Diodor,
welcher behauptete, Zoilos habe nur das Buch über Homer geschrieben (fr.
ine. 2 bei Tzetz. schol. exeg. II. p. 126, 4), wird durch Ktesibios widerlegt.
8) Dionys. Isae. 20.
9) Phoibammou Speng, III 44, 2 und Quintiliau 9, 1, 14 werden auf
einen jüngeren Zoilos bezogen. Wenn jedoch Vitruv 7 praef. 8 ihn mit dem
ersten Ptolemäer zusanimenbringt, meint er keinen anderen (Hardion
Memoire« de l'acad. d. inscr. VIII 178ff.) — er sagt ja ex Macedonia — ,
sondern irrt in der Zeit; ebenso falsch rechnet ihn Porphyrios II. K 274 zu
den Isokrateern.
Die Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 75
Studium mit. Der Leser wird sich erinnern, dass besonders
die Anwohner der thrakischen Küste ihren Scharfsinn an den
homerischen Gedicliten übten, indem sie teils das ilmen auf-
fallende tadelten, wie z. B. Protagoras that, teils wirkliche oder
vermeintliche Schwierigkeiten durch spitzfindige Lösungen zu
heben suchten. Die erste umfassende Leistung auf diesem
Gebiete war des Zoilos Werk „Homergeissel' (0\u]po\fÄ'3zii) ^),
welches durch seinen Umfang — es enthielt neun Bücher — sich
als ernst gemeint erweist und nicht für eine poetische Deklamation
gehalten werden darf '''). Zoilos ging mit dem natürlichen
hausbackenen Verstände, jeglichen Sinnes für Poesie haar, an
die Beurteilung Homers ^). Wo also der Dichter seiner Phantasie
die Zügel schiessen Hess, fragte Zoilos nach der realen Möglichkeit,
z. B. spottete er, weil die Gefährten des Odysseus, obgleich von
Kirke in Schweine verwandelt, weinten, über die weinenden
Ferkel, oder: die Seele des Patroklos kann nicht wie Rauch in
die Unterwelt enteilen {W 100), denn — der Rauch steigt in
die Höhe. Hauptsächlich rief das Fabelhafte ([lö^oi) der Epen
Angriffe von Seiten des Zoilos hervor '^) ; aber auch die Sprach-
formen entgingen seinem unverständigen Tadel niclit ^).
Durch dieses Buch wurde Zoilos für die Nachwelt niclit
ganz unverdient das Prototyp hämischer und thörichter Kritik
und die Homerenthusiasten rächten den Dichter durch alberne
Anekdoten an des Kritikers Andenken ^). Seine Werke gingen
natürhch unter; hatte er sich doch auch den Platonikern durch
eine Streitschrift, die er als getreuer Schüler des Polykrates
gegen Piato richtete, verhasst gemacht ^), wie den Isokrateern
! ) Diesen Titel darf man aus dem lateinischen Ciceromastix und Aeneido-
mastix erschliessen (Lehrs a. O. S. 208 A.). Ueberliefert ist nur, dass man
dem Redner selbst diest-n Namen beilegte (Vitra v, a. O. Porphyr, zu IL K 274.
Suidas),
2) Wie schon Porphyr, zu II. K 261 meinte.
3) Heraclit. alleg. 14. Porphyr, E 7. 20. S 22. Plut. quaest. couv. 6, 4,2.
Ihpl ü<^ouq 9, 14.
4) Strabo 6, 271.
5) Wie Chrysippos hielt er Scüai A 129 für den Plural (Schol. A).
6) Vitruv. VII praef. 8. Aelian. var, bist. 11, 10 (nach diesem hiess er
xuojv pfjtopixoc, Suidas macht daraus einen Kyuiker: p7]Ta>p 8s -rjv v.al tptXöaocpO!;).
Suidas. Vgl. Ovid. remed. am. 365.
7) Dionys. ad Cn. Pomp, de Plat. 1 (zweimal). Aelian, var. bist. 11, 10.
76 Drittes Kapitel.
durch einen Angriff auf ihren Lehrer ^). Zoilos soll auch gleich
Anaximenes historische Schriften, ausserdem Grammatisches
geschrieben haben ^).
Aus der Schule des Zoilos ging Anaximenes von
Lampsakos^), einer der Lehrer und Begleiter Alexanders,
hervor, welcher als rhetorischer Geschichtsschreiber nicht mehr
unserer Periode beizuzählen ist ; das gleiche gilt von der ihm
beigelegten Rhetorik.
Neben diesen berühmten Lehrern der gerichtlichen Bered-
samkeit gab es ohne Zweifel viele, welche nichts schriftliclies
hinterliessen, z. B. das chiische ßrüderpaar Euthydemos und
Dionysodoros, welche Plato im „Euthydemos" zur Zielscheibe
seines Spottes machte ^); ausserdem entstanden im vierten Jalir-
hunderte viele Schriften ^), welche, von kaum bekannten Rhe-
toren verfasst, rasch verschollen; so hört man gelegentlich von
der Rhetorik eines Boton, welche in Wirklichkeit von Thera-
menes hergerührt haben soll ^).
Vergleichen wir die in diesem Kapitel behandelten Redner
mit Gorgias und seiner Schule, so zeigt sich, dass diese Rich-
tungen nach vollständig verschiedenen Zielen führten ; die
Gorgianer wollten für das öffentliche Leben überhaupt erziehen,
während die anderen, wiewohl sie scheinbar die allgemeine
Ausbildung nicht vernachlässigten, Fertigkeit in der praktischen
Rede anstrebten. Da bei den verworrenen Justizverhältnissen
Athens ihre Schulen mit Notwendigkeit Pflanzstätten von
Sykophanten wurden, unterlagen sie dem allgemeinen Hasse
des Volkes, das zugleich, um feineie Unterschiede unbekümmert,
gegen jene anderen Rlietoren dieselben Beschuldigungen erhob.
Ein Bild dieser Zustände gibt besonders die isokrateischo Rede
1) Suidas, vgl. Aeliau, a. O. 6 xal ez "Oiifjpov fpä>^a.<; xal £<; nXäxtuva
xal Iz fiXXouc-
2) Suidas: tffia'J^t (ievtoi xiva xal ■■(pai).\t.a'ziY.ä • . . , loxoptav aizb ^eo-
Yovia? iüx; xyji; ^iXiiritoo teXeütY|i; ßißXta y' (sie, richtig 8exa Eudokia), itepl
'Afi'f titöXeux; (hier setzt Eudokia ßtßXia xpia bei).
3) H. Usener quaestiones Anaxinieneae, Göttingen J 856; Blassn349ff.
4) Plat. Euthydera. 272a. 27:?«;.
6) Vgl. Aristot. sophist. elench. 34 p. 183 b 33.
ö) Ps. Plutarch. Isoer. 837 a. Statt ß6xu»v ist wohl Mätu)v, der Nanu'
eines Sophisten, den der Komiker Antiphanes verspottete (Athen. 8, 342 cd.
343 a) herzustellen.
I
I
l)ie Lehrer der gerichtlichen Beredsamkeit. 77
,,über den Vermögenstausch". Die Schriften des Isokrates zeigen
auch, wie sehr er bei jeder Gelegenheit bestrebt war, die Ge-
meinschaft mit den verhassten Praktikern abzulehnen ; gegen
die ,, politischen" Rhetoren und Dialektiker polemisiert er daher
nur, gegen jene drückt er seine Verachtung aus. Auch die
Sokratiker bekämpften diesen Zweig - der Beredsamkeit am
scbärfsten ^), weil in den Lehrbüchern offen erklärt wurde, es
sei nicht die Wahrheit, sondern die Wahrscheinlichkeit anzu-
streben.
Der Verschiedenheit die Ziele entspricht der Verschiedenheit
der literarischen Produktion. Von Korax höchstens aligesehen,
hielten wohl alle Redner den Zusammenhang mit der höher
stehenden Richtung des Gorgias dadurch fest, dass sie gleichfalls
Deklamationen über frei gewählte Themata verfassten ;
doch bevorzugten sie dabei solche, welche mit dem eigentlichen
Unterrichte zusammenhingen, als paradoxe Gegenstände, welche
Gelegenheit zur Entwicklung von Scharfsinn und Spitzfindigkeit
gaben, und politische Fragen ihrer Zeit. Diese Klasse von
Rhetoren beschränkte sich ferner nicht auf mündliche durch
Musterstücke erläuterte Anweisung, welche bei den Gorgianern
üblich war, sondern es gab beinahe jeder einen förmlichen
Leitfaden heraus ^). Damit aber das Publikum sähe, dass die
darin gegebenen Vorschriften von wirklichem Nutzen seien,
veröffentlichten sie als Proben ihrer Kanst besonders gelungene
Reden, welche vermögende Bürger sich für ihr Geld hatten
ausarbeiten lassen.
Die Rücksichtnahme auf das praktische Leben musste auch
dazu führen, dass der pompöse Stil des Gorgias gemässigt wurde
und die ümgangsspraclie zu ihrem Rechte kam ; in dieser Be-
ziehung hat Thrasymachos die grössten Verdienste. Auf seinen
Schultern stehen Isokrates und Lysias.
1) Plat. Phaedr. 260a. 272 de. Lach. 196 b. Theaet. 172 cd ff. besonders
leg. 11, 937 d £f.
2) Vgl. Fiat. Fhaedr. 261 b und Aristoteles iu der Einleitung zur Rhetorik.
Viertes Kapitel.
Die Anfänge der politischen Beredsamkeit.
Perikles und seine Nachfolger; Fcälschuugen (IV. nntl III. Rede des Andokides) ;
die Aristokraten: „Vom Staat der Athener", Theramenes, Kritias, Andokides.
Die berühmten Staatsmänner Athens dankten, wie in der
Einleitung dargelegt ist, ihre Stellung wesentlich der Macht
hinreissender Beredsamkeit; selbst Eerikles wäre es trotz aller
ausgezeichneten Eigenschaften nicht gelungen, so lange Jalire
die Leitung des Volkes zu bewahren, wenn seine Worte nicht
auf die Zuhörer einen wahren Zauber ausgeübt hätten. Eupolis
schildert die Beredsamkeit des Perikles in den berühmten
Versen unübertrefflich (fr. 94 M):
A. KpdTiotoc ooTOC sy^vst' avö-pitoTctov Xs^siv,
OTTOTS TtapsXdot 8\ WOTTSp OCYa^ol 5pO[i.'^C
ix Ssxa TtoSwv -^pst Xsywv xouq pTjtopac.
B. Ta/DV XsYsit: |xsv, Tzpbc, 8i 7' aotoö xC^ xd/si
7csiii-(ü Ttc STuexä'ö-tCsv STrl zoic, ^(siXsatv.
OoTWC ixTjXst Xat [JLÖVOC TWV pTjTÖpMV
TÖ xdvTpov SYxaTsXstTTE tot? axpocDjiivotc.
Aristophanes verglich ihn sogar mit dem donnernden und
blitzenden ülynjpier^), und doch sprach Perikles nicht leiden-
schaftlich , sondern mit unzerstörbarem Ernste und begleitete
seine Worte nicht wie die späteren Redner mit lebhaftem
Geberdenspiel ^). Feierliche Langsamkeit hätte das ungeduldige
Volk allerdings nicht ertragen, Perikles musste es durch ge-
läufiges und schnelles Sprechen mit sich reissen. Das Geheimnis
seines Erfolges lag gewiss zum grossen Teile darin, dass die
Zuhörer sich bewusst waren, der Staatsmann spreche nur in
1) Ariatoph. Acham. 630 f., in einer anderen Komödie hiess es (Plutarch.
Pericl. 8): itivbv xepaovöv ev ^Xtuocij «p^peiv.
2) Plut. Per. 5. Aeschin. 1, 25. Mau übertrug von Demosthenes auf
Perikles die Erzählung, das« er sich vor dem Spiegel übte (Ailios Dionysios
bei Eustath. II. K 385.
Die Anfange der politischen Beredsamkeit. 79
bedeutungsvollen Momenten und nie unüberlegt; um diesen
Eindruck hervorzurufen, erklärte Perikles zuweilen mit kluger
Berechnung, wenn ihn das Volk auf die Rednerbühne forderte,
dass er nicht vorbereitet sei '), und betete vor jeder Rede zu
den Göttern, es möchte ihm kein ungeeignetes Wort entfallen.
Perikles' Beredsamkeit war eine Naturgabe, wenn er auch im
Umgänge mit Anaxagoras und Protagoras seine dialektische
Schlagfertigkeit, durch die er jeden Gegner ins Unrecht setzte ^),
erworben oder vervollkonmmet haben mag. Die Philosophen
behaupteten freilich, nur jener wissenscliaftliche Unterricht habe
Perikles seine Redegewalt verliehen % und die Spötter liessen
ihn von Aspasia lernen^).
Nach dem Tode des gewaltigen Staatslenkers vollzog sich
ein gewaltiger Umschwung. Auf der einen Seite kam mit
Ivleon die volkstümliche Beredsamkeit in der Pnyx zur Herr-
scliaft, Stimme und Geberde unterlagen nicht mehr dem edlen
Maasse, das Perikles beobachtet hatte. Kleon imponierte der
lärmenden Menge durch seine Stentorstimme und begleitete,
während die früheren Redner die Hände unter dem Ueberrocke
gehalten hatten, seine Worte mit leidenscliafthchen Gesten •^).
Doch ging er nicht von des Perikles Sorgfalt ab, sondern teilte
sogar Freunden den Entwurf seiner Rede vorher mit ^). Auf
der anderen Seite war durch den sophistischen Unterricht die
Unbefangenheit des Ausdrucks dahin. Alkibiades wollte durch
neue Wendungen frappieren und überlegte, wie er sich wohl
am gebildetsten ausdrücke, weshalb er, wenn Improvisation
notwendig war, nicht fliessend sprechen konnte '^). Jungathen
liebte überhaupt die eben gewonnene Bildung durch künstlich
1) Flutarch. de liberis educaudis 9. Ans der Erzählung, dass Perikles
f<(!hriltliche Koucepte anfertigte (vgl. Arist. bei Cic. Brut. 12, 46), machte
Suidas; Ttpwxoc '^(tOLnxbv Xoyov ev SixaoxYjpto) siTts xwv npb ahxoii o^^sStaCovxujv.
2) Vgl. Plut. Per. 8 (offenbar ans Stesimbrotos).
3) Plato Phaedr. 270 a.
4) Plat. Menex. 235 e. Aeschin, Socrat. u. Plato com. bei Schol. Plat.
p. 185 B.
5) Plutarch. Nie. 8. Tib. Gracch. 2. Quiutiliau. 11, 3, 123, vgl, Schol.
Aeschin. 1, 25.
6) Aristophan. Equ. 347 ff.
7) Theophrast. bei Plut. Alcib. 10 am Ende.
gO Viertes Kapitel.
erfundene Wörter zu zeigen ^), unter denen die Bildungen auf
txöc wegen ihres gelehrten Anstrichs besonders in der Mode
waren ^).
Diese Skizze gründet sich bloss auf gelegentliche Notizen
der Komiker und Historiker; denn alle Staatsmänner des
fünften Jahrhunderts, also sämmtHche Vertreter der Glanzzeit
Athens haben es verschmäht, ihre Reden in Abschriften zu
verbreiten^), damit man sie nicht Sophisten schelte'*). Es
drängte sie ja nichts zu einer solchen Neuerung; denn hatte
die Rede Erfolg, dann erfuhr die Nachwelt das Verdienst des
Sprechers durch den Volksbeschluss ; hörte aber das Volk nicht
auf ihn, wozu die Erinnerung an die Niederlage erhalten?
Nichtsdestoweniger pflanzten sich gewisse Bonmots und Schlag-
wörter durch mündliche Tradition fort^); denn es war beiden
hervorragenden Politikern üblich, ihre Reden durch auffallende
Aussprüche und Wendungen interessant zu machen, wie z. B
die Tradition des englischen Parlaments eine ähnliche Würze
grosser Budgetreden verlangt. In der Zeit des Demosthenes
verschmähte mau auch Komikerwitze nicht ^). Von solchen ge-
flügelten Worten teilt Aristoteles eine erhebliche Anzahl in seiner
Rhetorik mit, darunter den berühmten Vergleich, den Perikles
in einer Leichenrede anbrachte: ,,Wie der FrühHng im Jahre
dahingeht, so entschwinden die Jünglinge aus der Stadt" '').
Die meisten Bonmots legte man Demades, dem Gegner des
Demosthenes bei, welcher, obgleich er aus niederem Stande
entsprossen war, alle übrigen Redner an Witz und Schlagfertigkeit
1) ^Ap'{Ofionia':i]pt<; Xö-^Oi\> Kratinos hei PoUnx 7, 103 ; e6pfjoiE7i'J](; Aristoph.
Nub. 447; f-Yiiiaxiotot xatvoic; il). 943; Ir. 211 (Daital.), auch (J77M.
2) Vgl. Aristoph. Eqn. 1378 ff.
3) Plnt. Pericl. 8. Ps. Plut. Autiph. 832 d. Luciuu. Demosth. eucom. 20.
Proleg. in Aristid. panath.
4) Plat. Phaedr. 257 d.
6) Das 8;leiehe geschah in Rom (Tacit. dialog. 20).
6) Vgl. Aristot. rhet. 1,15 p. 1376 a 9.
7) Aristot. rhet. 1,7 p. 1365a 31 xov ETrixd'fiov Xs^wv, wahrscheinlich
als er nach dem saraischen Kriege am Grabe der Gefallenen sprach ; er rief
damals eine solche Begeisterung hervor, dass ihn die Frauen , als er geendet
hatte, bewundernd kränzten (Plut. l'er. 28, vgl. ? Philodem. rhet. 4, 7).
Derselbe Vergleich steht auch llerodot 7, 162 (offenbar unabhängig). Euripid.
Suppl. 447 flf. Demades (?) bei Athen. 3, 99d. Cicero senect. 19,70.
Die Anfange der politischen Beredsamkeit. 81
j
übertraf; die Sammlung seiner Witze, welclie aucii durch be-
rühmte Worte anderer Redner vermehrt wurde ^), war in der
Kaiserzeit so beliebt, dass man sogar vollständige Reden des
Demades daraus fälschte^).
Da die Späteren mit der betrübenden Thatsache, dass kein
Staatsmann des fünften Jahrhunderts ein Denkmal seiner Be-
redsamkeit hinterliess, sich keineswegs zufrieden geben wollten,
fanden Fälscher hier ein ergiebiges Feld ihrer Thätigkeit. Sie
begannen mit Dämon ^), der, wie es heisst, Ferikles in der
Musik unterwies ; in dieser Kunst vorzüglich ausgebildet, setzte
er sie mit der Politik in Verbindung. Es gab nun später eine
Rede, welche er angebUch vor dem Areopag über die Musik
hielt ^). Die Aussprüche, welche Flato von ihm anführt^),
dürften aus mündlicher Ueberlieferung stammen. Vor allem
aber lud der Ruhm des Perikles zur Fälschung ein ^) ; auch
von Alkibiades konnte man Reden kaufen''). Selbst von
dem „bronzenen" Dionysios verzeichnete Kallimachos in den
alexandrinischen Katalogen eine Rede, worin er den Athenern
die Einführung von Bronzemünzen anriet^).
Durch das Zeugnis des platonischen Phaidros wissen wir,
dass die Abneigung gegen die VeröfFentüchüng von Reden
1) H. Diels Kheiu. Mus. 29, 107 ff. Hermes 13, 9. Sie wurde von Deme-
trios nspl k^^T^wxc, 282 ff. benützt.
2) E. Scholl Hermes 3, 277 ff. teilt ein Verzeichnis von vierzehn solcher
Reden mit; vgl. Suidas v. A7j}j.a8"irjc 3. und Tzetz. Chil. 6,119. Erhalten
ist noch ein Bruchstück irepl ttjc SwSsxasTtai; , welches auch Suidas s. v.
nennt (herausg. in den Sammlungen der Redner und hinter der Ausgabe des
Diuarch von Fr. Blass, Leipzig 1871). Die angeblichen „Excerpte aus der
vollständigen Rede des Demades" (Herm. Haupt Hermes 13, 489 ff.) sind nichts
als eine Spruchsammlung und älter als die Rede.
3) Fr. Buche 1er Rhein. Mus. 40, 309 ff.
4) Philodem. mus. 4, 33 f., vgl. Athen. 14, 628 c. Aristid. Quiutil
2 p. 95.
5) Plat. rep. 3-400. 4, 424 cd. Wahrscheinlich gab letztere Stelle zur
Fälschung Anlass.
6) Cic. Brut. 7, 27 (cuius scripta quaedam feruntur). de erat. 2, 22, 93.
Aus den gefälschten Reden schloss Ailios Dionysios oder vielmehr, die er mit
tpaai meint, dass Perikles zuerst tx statt aa gebraucht habe (Eustath. 11. K 385).
7) Cic. de orat. 2,22,93. Ps. Flut. Antiph. 832 d.
8) Athen. 15, 069 de; echt waren gekünstelte Elegien (Bergk, poetae lyr.
Gr. n* 262 ff.).
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur, n. 6
g2 Viertes Kapitel.
auch nach dem peloponnesischen Kriege noch nicht geschwunden
war. Also muss, was an der Grenze des fünften und vierten
Jahrhunderts geschrieben sein soll, gleichfalls den Verdacht
erregen. Wenn die Vermutung richtig ist, dass Archinos
dem Lysias die Ausgabe von Reden zum Vorwurfe machte,
dürfte er selbst schwerUch einen Epitaphios veröffentlicht haben^).
Alle Wahrscheinlichkeit spricht überhaupt dafür, dass eine be-
kannte platonische Stelle zur Fälschung Anlass gab^); der
Verfasser beutete, um sich die Arbeit zu erleichtern, den Pane-
gyrikos des Isokrates aus ^).
Kein Zweifel wird über die Unechtheit der Reden des
Kephalos möghch sein, von welchem Suidas berichtet, er
habe zuerst Proömien und Epiloge der Staatsrede beigefügt; in
dieser Redegattung waren sie nämlich nicht notwendig. Die Notiz
ist offenbar aus gefälschten Reden gezogen ^). Man legte Kephalos
sogar ein Enkomion auf die Hetäre Nais bei, welche mit Lysias
bekannt war^).
Auch die erhaltenen Staatsreden, welche Andokides
gehalten haben soll, sind Deklamationen später Sophisten, Wie
wir bald sehen werden, war Andokides nicht im geringsten
ein Schriftsteller, sondern er veröffentlichte nur die zwei Reden,
welche er in eigenen Angelegenheiten gehalten hatte, um die
öffentliche Meinung zu seinen Gunsten umzustimmen. Von der
vierten Rede ,, gegen Alkibiades'*'') sollte es jedem sofort
klar sein, dass sie Andokides nicht gehalten haben kann ;
schon ein alter Kritiker vermutete daher, Lysias habe sie einem
1) Phot. bibl. 260 p. 487 b 32, vgl. Ps. Plut. Antiph. 832 d. Ein Fragment
bei Clem. Alex, ström. 6, 627 S.
2) Plat. Menexen. 234 b.
3) Vgl. Porphyr, bei Clem. Alex, ström. 6 p. 627 S. Phot. bibl. 260
p. 487 b 34.
4) Ein Fragment bietet Suidas v. eirit[p,ia.
5) Athen. 13, 592c. Ruhnken historia critca p. 41 f. nimmt einen
jüngeren Redner desselben Namens an.
6) Die Unechtheit erkannte zuerst Taylor lectiones Lysiacae p. 260ff.,
den Ruhnken vergeblich bekämpfte; vgl. Mor. Herm. Ed. Meier de Andocidi.s
quae vulgo fertur contra Alcihiadem, oratione Halle 1886 — 1843 (I. III.— V.
VI. 1—13) = Opusculii academica I. (1861) p. 74—343. IL (1863) p.
1—170; Vater Jahrbb. f. Phil. Suppl. 9 (1843) S. 166 flF. 11 (1846) S. 426 H.;
Blass I 326 ff.; O ravenho rst quaestiones Andocideae spec. I. Helmstedt 1878.
Die Anfange der politischen Beredsamkeit. 83
Staatsmanne auf Bestellung geschrieben ^). Es handelt sich
in der Verhandlung, wo die Rede gehalten sein soll, darum, ob
der Ostrakismos Nikias, Alkibiades oder den Sprecher trifft.
Wenn schon die Möglichheit nicht zu läugnen ist, dass jedem
Kandidaten vor der Abstimmung eine Verteidigungsrede gestattet
war und dabei jeder so viel als möglich seinen Nebenbuhler in
Verdacht der Staatsgefährlichkeit bringen wollte, so lässt sich
dadurch doch die Seltsamkeit nicht rechtfertigen, dass der
Redner — mag er nun die Maske des Phaiax ^) oder eines andern
Konservativen tragen — die politische Laufbahn des Alkibiades
bloss beiläufig berührt und nur sein Privatleben angreift. Alle
Zweifel werden jedoch durch die Betrachtung der chronologischen
Verliältnisse gehoben; denn der Redner erwähnt die Vernich-
tung der Melier, welche im Sommer 416 stattfand, wie ein
schon einige Zeit vergangenes Ereignis und doch hat er keine
Ahnung davon, dass Alkibiades den Staat in das Abenteuer
einer sicilischen Expedition stürzen will 1 Obendrein berichten
die Historiker, dass der Ostrakismos zuletzt Hyperbolos traf,
und dieses Ereignis fiel in das Jahr 418 oder 417^). Dies ist
der stärkste, aber nicht der einzige historische Verstoss ^). Auch
formell erscheint die Rede wegen des Mangels einer Anrede als
Deklamation.
Trägt diese Rede den Namen des Andokides ohne irgend
welchen Grund, so knüpft die dritte ,,für den Frieden"^)
an ein wirkhches Ereignis aus dem Leben des Redners an.
Wie nämlich Philochoros berichtet, ging er während des korinthi-
schen Krieges an der Spitze einer Friedensgesandtschaft nach
1) Athen. 9, 408 c ; an Lysias dachte man, weil unter dessen Schriften
auch eine Anklage des jüngeren Alkibiades stand.
2) Diesen nannte schon Taylor.
3) Vgl. zuletzt Beloch die attische Politik seit Perikles, Leipzig 1884 S.339f.
4) § 13 ist falsch; die Vermutung atpaxsüovto?, welche Ludwig M ende
index lect. Gryphisw. aest. 1821 p. 5 n. 9 aufstellte, ist unwahrscheinlich.
Ueber die Erhöhung der Tribute (§ 11) vgl. Ulr. Köhler Urkunden und
Untersuchungen zur Geschichte des delisch-attischen Seebundes S. l50 f.; § 12
8Y|Xu»asi — ixöXsjxoc ist eine vaticinatio ex eventu.
5) Ueber den Stil Walth. Francke de Andocidis oratione, quae est de
pace, Halle 1876. Er ist für die Echtheit, ebenso Blasa I 324 f. und Mo-
rawski Ztsch. f. österr. Gymn. 1879 S. 402; vgl. auch Walther Frenze!
de Andocidis de pace oratione, Königsberg 1866.
g^ Viertes Kapitel.
Sparta, ohne etwas auszurichten ^). Die vorliegende Rede, welche
er bei dieser Gelegenheit in der athenischen Volksversammlung
gehalten haben soll, erweckte bereits bei den Alten Verdacht^,
wenn auch vielleicht nur deshalb, weil sie, die Geburt des
Andokides fälschlich Ol. 78, 1 (468/7) setzend, an der physischen
Möglichkeit zweifelten. Doch kamen sie auf falschem Wege
zu dem richtigen Resultate^), Der Rhetor, welcher die Rede
verfasste, ist über die Zeitverhältnisse sehr ungenau unterrichtet.
Er beginnt, obwohl er die Schlacht von Knidos voraussetzt (§ 22),
mit der unwahrscheinlichen und unbewiesenen Behauptung,
dass kein Athener an der Rätlichkeit des Friedens zweifle; der
Demos soll jedoch davon den Umsturz der Verfassung befürchten,
als ob ein solcher damals in Aussicht gewesen wäre. Was
thut nun der Redner um diese Furcht zu heben? Er gibt eine
detailHerte Schilderung (§4— 9) der Vorteile, welche die Friedens-
perioden dem athenischen Schatze und Arsenale gebracht haben ;
dass die Verfassung unangetastet bHeb, kommt bloss nebenbei
zur Sprache. Da dem Rhetor also das Verständnis der allge-
meinen Zeitlage mangelt, wird man von ihm noch weniger
Kenntnis der verwickelten Chronologie jener Zeit erwarten. In
der That weiss er nicht einmal, dass im Jahre 391, welches
zweimal vorausgesetzt wird^), die Mauern Athens wieder auf-
gebaut waren ^). Ein Athener jener Zeit musste ferner über
die § 18 erwähnten Kämpfe anders denken als ein Rhetor, der
sein Wissen aus Xenophons parteiischen Hellenika schöpfte.
Fügen wir dazu noch, dass der Redner den Hiatus mehr be-
achtete, als bei einem Praktiker jener Zeit glaubhch ist ^).
1) Philochoros im Argument der Rede.
2) Dionysios im Argument; Harpocr. v. 'EXXTjvotajJiiat, veiopta, iziy^ai.
3) Für die Unechtheit traten ein Taylor (in den lectiones Lysiacae),
Markland, Hemsterhuis und Andere.
4) Lechaion ist genommen (§ 18) und die Böoter kämpfen seit vier
Jahren (§ 20).
6) § 12, 14 ; ebenso sind die Lakedäraonier noch unbesiegt (§ 19). Ueber
die verschiedenen Ansichten, welche die Verteidiger der Echtheit (z, B.
K. W. Krüger historisch-philol. Studien Bd. II.) über die Zeit aufstellten,
vgl. Frid. Kirchner de Andocidea quae fertur tertia oratione, Berlin 1861,
dazu BlassI282f. und Bursians Jahresber. 9, 266, K. Fuhr animadversiones
in oratores Atticos, Bonn 1877 p. 6 fi".
6) Benseier de hiatu p. 173 ff.
Die Anfänge der politischen Beredsamkeit. 85
Diesen Momenten würden wohl die meisten nachgegeben haben,
wäre nicht die Meinung verbreitet, dass Aischines (2, 172 ff.)
unsere Rede benützte oder besser gesagt plünderte ^). Es handelt
sich um jenes Bild der Segnungen des Friedens, das bei ,,An-
dokides" wenigin den Zusammenhang passt; die kleinen Varianten
sprechen nicht zum Vorteile des angeblichen Andokides. Insbe-
sondere charakterisiert den unpraktischen Rhetor, was er § 5 über
den Bau von Kriegsschiffen sagt. Ich glaube sogar zeigen zu können,
dass er ein verderbtes Exemplar des Aischines benützte ^). Jeden-
falls hat kein klassischer Redner ein längeres Stück aus einer
veröffenthchten Rede entlehnt. Auch im Ausdruck weichen
beide Fälschungen, indem sie unter sich übereinstimmen, von
den echten Reden des Andokides ab ^).
Somit besassen die Alten aus der vordemosthenischen Zeit
keine einzige echte Staatsrede; es gab, wie Aristoteles aus-
drücklich bemerkt, auch keinen Lehrer dieser Redengattung.
Nichts von der Hand der alten Staatsmänner war vorhanden,
als ihre Anträge, welche ohne rhetorischen Schmuck im Kanzlei-
stil abgefasst waren.
Während die demokratischen Staatsmänner , denen die
Volksversammlung offen stand, keinen Grund zur schriftlichen
Ausgabe ihrer Reden hatten, sondern im Gegenteil hiebei mit
der öffentlichen Meinung zu kämpfen gehabt hätten, waren
beide Gesichtspunkte bei den Konservativen nicht vorhanden.
In der Volksversammlung wollten die Führer derselben nicht
auftreten, damit sie sich nicht dadurch mit der damaligen
Verfassung einverstanden erklärten, sie konnten es aber auch
nicht, weil das Volk sie hasste. Andererseits war es den Aristo-
kraten natürlich gleichgiltig, wenn sie die Masse Sophisten
schmähte. Die ohgarchischen Clubbs *) hatten daher ihre besondere
1) Krüger historisch-philologische Studien IL (1851) S. 239 ff.
2) MtXx'.aSoo Toö Ktii-ojvo? Aeschin. 2, 172 konnte leicht aus dem rich-
tigen K[|j.(MVo<; Toü Mik-ziä^oo entspringen ; daraus stammt MiXxtd§Yjv töv Kt|Xü)VO(;
Andoc. § 3. Auch vai § 24 scheint dem Aeschines (3, 22. 28) abgelernt.
3) Te xai kommt I. II., aber nicht m. IV, vor (Fuhr Khein. Mus. 33,
578 f.). Auch die Orthographie ist gesondert: I. 11. haben nach den besten
Handschriften xt, III. 33 und IV. 41 oa.
4) Ueber die Ixaiptat vgl. W. Vi scher die oligarchische Partei und
die Hetärien in Athen, Basel 1835 und H. Büttner Geschichte der politischen
Hetärien in Athen, Leipzig 1840.
gß Viertes Kapitel.
Literatur, politische Flugschriften, die vor dem Volke geheim
gehalten wurden ; sie kamen nur, wenn sie von einem berühmten
Manne herrührten oder wenigstens einen bekannten Namen
trugen, auf die Nachwelt.
Der ältesten uns bekannten, welche an Xenophons Schrift
über den Staat der Lakedämonier angefügt ^) sich erhielt, pflegt
man den Titel ,,vom Staate der Athener" zu geben. Da
sie unverkennbar Ende 425 oder Anfang 424 geschrieben ist ^),
kann sie von Xenophon, dessen das Werk in stilistischer Be-
ziehung unwürdig ist, unmöglich herrühren ^). Den wirklichen
Verfasser möchte man um so lieber nennen können als uns
hier ein Staatsmann von durchdringendem Blicke entgegentritt.
Die Flugschrift hat nicht ein Philosoph nach der Schablone
seiner Theorie verfasst, sondern ein praktischer Politiker setzt,
obgleich er mit der Verfassung Athens nicht zufrieden ist,
einem auswärtigen Aristokraten , welcher sich in Athen eine
bei beherztem Angriff sofort zerfallende Pöbellierrscliaft vorstellt,
die Folgerichtigkeit der demokratischen Einrichtungen und
ihre daraus entspringende Stärke ruhig und leidenschaftslos
auseinander, wobei er häufig Beispiele aus den letzten Jahr-
zehnten der athenischen Geschichte anführt. Er entwickelt
seine Sätze in aller Schlichtheit, ohne irgend welche Verbrä-
mung; hie und da durchzieht eine leichte Ironie seine Dar-
1) Beide stehen iu den drei besten Pariser und fünf italienischen Hand-
schriften zusammen; in anderen sind sie getrennt.
2) Vgl. 3, 2 irepl To5 iroXE|j.ou. 2, 14. 16. Vor 01.91, 4 muss sie verfasst
sein, weil die Bundesgenossen noch Steuern zahlen (2, 1. 3, 2. 5) und ihr
Recht in Athen suchen müssen (1,16); 2, 15 ist vor der E-xpedition des Bnisidas
(Ol. 89, 1, Sommer 424) geschrieben, 2, 18 bezieht sich anf die Besetzung von
Pylos und Methone (Anfang Ol. 88,4). S. Röscher Klio I 172, genauer
Kirch hoff über die Abfassungszeit der Schrift vom Staute der Athener,
aus den Abhandlungen der Berliner Akademie 1878, vgl. auch O. Hempel
quaestt. de Xenophonti.s qui fertur libello de republica Atheniensium , Halle
1882, Cap. 1 (p. 17 ff. über die Sprache). Mor. Schmidt Memoire eines
Oligarchen in Athen über die Staatsmaximen des Demos, Jena 1876 und
Gustav Faltin quaestiones de libello 'A6-7]vatu)V iroXixeia, Breslau 1872 p.
46 ff. kommen auf das Jahr 430/29.
8) Schon Demetrios Magnes (Diogen. 2, 67) erkannte die Unechtheit.
Die ältere Literatur, welche Karl Morel quaestt. de libello qui dicitur
Xenophon tis de republica Atheniensium, Bonn 1868 p. 3 f. verzeichnet, ist
antiquiert.
Die Anfange der politischen Beredsamkeit. 87
Stellung^). Man wird unwillkürlich an den principe des Re-
publikaners Macchiavelli, wiewohl dieser ein ganz verschiedenes
Ziel vor Augen hatte, erinnert ; durchmustern wir aber die Schrift-
steller des Altertums, so zeigt sich der Verfasser am meisten dem
Thukydides verwandt, wenn dieser auch nicht selbst die Schrift
verfasst hat^). Den eigentlichen Obligarchen kann man ihn
nicht zurechnen, dazu ist er zu vorurteilslos. Die Grundan-
schauung des Verfassers gipfelt ja offenbar in den Worten
(III 1): „Mit der athenischen Verfassung bin ich nicht einver-
standen; da sie aber einmal die Demokratie wollen, führen sie
diese Staatsform mit Glück durch". Wenn er von den Parteien
die Worte XP'*]'^'^^'^ ^^^ TrovTjpoi gebraucht, ist dies durch die
Adresse leicht zu erklären. An den leidenschaftlichen Aristo-
kraten Kritias^) darf man also gewiss nicht denken. Da wir
den Verfasser leider nicht bestimmen können, richtete sich die
Forschung in neuerer Zeit auf die Form der Schrift. Weil
wiederholt eine einzelne Person angeredet wird, denkt man seit
Röscher an ein Sendschreiben, welches für einen nicht athenischen
Aristokraten bestimmt war ; der Schreiber wollte dadurch vielleicht
ihn und seine Genossen von einem Abfallsversuche abmahnen %
Die Schrift liegt jedoch jetzt in wahrhaft traurigem Zustande
vor, indem sie durch Wiederholungen und Lücken entstellt ist
und des Zusammenhanges ermangelt. An der Herstellung des
letzteren haben mehrere Gelehrte ihren Scharfsinn versucht.
Bald wurde die Schuld einem Excerptor zugeschrieben % bald
1) Manche (so Reiske, Aug. Fuchs quaestt. de libris Xenophonteis
de repiiblica Lacedaemoniorum et de republica Athenienslum, Leipzig 1838,
G. Schneider proleg. p. 92, Thirlwall history of Greece IV 258) hielten
die Schrift überhaupt für ironisch. Kein Wunder! Hatte doch Macchiavelli
dasselbe Schicksal.
2) Wie Röscher Klio I 172 wegen gewisser Aehnlichkeiten (z. B. I
19 f. II 4f. Uff. mit Thucyd. 1, 143) meinte.
3) Böc kh Staatshaushaltung der Athener I'* 433 ff. u. A. Pia ten de auctore
libri Xenophontei qui est de republica Athenienslum, Breslau 1843 entschieden
sich für diesen, weil PoUux 8, 25 StaSixdCetv, welches HI 4 vorkommt, aus
Kritias citiert.
4) U. V. Wilamowitz bei Susemihl, index lect. aest. Greifswald
1884 p. 21; ähnlich Schjött vgl. Berliner philol. Wochenschrift 1881 Sp. 56.
5) So H. Müller-Strübing Phüol. Suppl. 4, 1—188.
yg Viertes Kapitel.
auf eiue im Archetypus vorgekommene Verwirrung geschoben *)
Es trat sogar die Vermutung auf, die Zerrüttung des Textes
rühre davon her, dass man einen Dialog zu einer Abhandlung
bearbeitet habe ^). Doch passt ein Dialog über einen politisclien
Gegenstand für das fünfte Jahrhundert nicht.
Besser steht es um die Wortkritik; nachdem nämlich die
Abhandlung lange Zeit im Xenophontischen Corpus wenig be-
achtet mitgeschleppt worden war, erschienen im Jahre 1874
gleichzeitig zwei vortreffliche Separatausgaben von Ad. Kirch-
hoff (Berlin 1874) und Curt Wachsmuth (in seiner commentatio
de Xeuophontis, qui fertur libello 'A^Tjvaiwv TzoXizdcn, Programm
der Universität Göttingen 1874).
Die Oligarchen, welche schon während des archidamischen
Krieges im Stillen thätig gewesen waren ^), scheinen nach dem
Frieden des Nikias, welcher den Gemässigten zu Gute kam,
sich eifriger gerührt zu haben. Damit hing das Erscheinen einer
Flugschrift, welche die Späteren für ein Werk des Andokides
ausgaben, zusammen. Da sie vor 418 oder 417 abgefasst war^),
rührte sie schwerlich von dem damals noch jungen Andokides
her; man sollte ausserdem erwarten, dass sie ein Gegner in
i
1) Kirch hoff über die Schrift vom Staate der Athener, aus den Ab-
handlungen der Berliner Akad. 1874, welcher annimmt, dass die Trümmer
des zerfetzten Archetypus falsch zusammengesetzt wurden, stellt neunzehn
Abschnitte her, muss aber mehrere Lückeu zugeben; Moritz Schmidt a. O.
nimmt die Verschiebung einer Blattlage an. Nicht so kühn geht L. Lange
de pristina libelli de republica Atheniensium forma restituenda comm. I.
Progr. V. Leipzig 1882, 11. Leipziger Studien 5, 396 — 428 vor. Vgl. auch die
Separatiiusgabe von Belot, Paris 1880. Gottfr. Hermann und Sauppe hatten
bedeutende Interpolationen angenommen.
2) Cobet Mnemosyne 7, 387 fi'. = novae lectiones 738 flf.; Fr. Pankow
zu der Schrift vom Staate der Athener, Berlin 1866 (Pr. von Gnesen);
C. Wachsmuth comm. de Xeuophontis qui fertur libello 'A^Yivaiiov iroXtieia,
Göttingen 1874, bekämpft von Faltiu quaestiones de libello 'A{>^vai(uv
itoXiTEia, Breslau 1872 und F. G. Ret t ig über die Schrift vom Staate der
Athener, Zeitschrift f. Österreich. Gymn. 28, 24111. 401 ff. 56lff. (der sich
auch gegen Kirchhoff und Schmidt wendet). Die Hauptstütze der Hypothese
ist fioc III 10, welches Faltin in oot, Dindorf in xot ändert.
3) Aristoph. Equ, 861 ff.
4) Kirchhoff Andocidea, Hermes 1, 1 ff. Plut. Themist. 32 citiert ev
T<j) npb(; xot)<i Itaipooc; Fragmente in Sauppes Orat. Att. U p. 166f. Mü Her-
st rübin g Aristophanes u. die historische Kritik S. 569 A. findet, was
über Hyperbolos gesjigt wird, zu arg und bestreitet die Echtheit.
Die Anfänge der jwlitischen Beredsamkeit. 89
den bekannten Processen gegen Andokides, wenn dieser der
Verfasser war, verwendet hätte. Wahrscheinlich wurde die
Broschüre von dem Führer eines oHgarchischen Rings anonym
herausgegeben.
Die Oligarchen waren zu klug, um bloss mit Intriguen
und Flugschriften die Reaction vorzubereiten. Von Sykophanten
welche die Parteistellung für ihren persönlichen Vorteil aus-
nützten, mit Anklagen unermüdlich verfolgt, mussten sie auf
die Erwerbung rednerischer und juristischer Fertigkeit bedacht
sein. Vor allem hatten die Führer die Aufgabe, die jüngeren
und unerfahrenen Leute ilu-er Partei durch Ratschläge und
vielleicht auch durch förmlichen Unterricht gegen derartige
Angriffe zu schützen. Ich erinnere daran, wie Antiphon seinen
Parteigenossen, wenn sie wider ihren Willen öffentlich zu sprechen
luitten oder auch in der Volksversammlung sich hervorwagten, hilf-
reich an die Hand gii^g. Aus demselben Grunde machte man T h e r a-
menes^), dem der Umgang mit Prodikos den Spitznamen
,,Keer'' eingetragen hatte"), zum Verfasser tecli nischer Schriften'*).
Der bedeutendste unter den Reaktionärern war jedoch
Ivritias, der Führer der Dreissig*), welcher, als er noch auf
heimliche Konspirationen beschränkt war, eine lebhafte lite-
rarische Thätigkeit entfaltete. Von den Sophisten trefflich
unterwiesen, gab er Musterstücke zur Uebung in der prak-
tischen Beredsamkeit heraus ^) und verfasste dazu einige Muster-
reden, über welche wir das Urteil des Rhetors Hermogenes
hören wollen ^): „Er ist, ähnlich wie Antiphon, würdevoll,
1) Ueber sein Leben vgl. C. PÖhlig der Athener Therameues, Jahrbb-
i. Phil. Suppl. 9, 265 ff.
2) Aristoph. Kau. 968 ff., für Suidas ein Anlass, um zwei Theramenes
aufzustellen.
3) Suidas s. v. [aeXcTojv (pfjToptxouv) ßißXta y' nämlich : uepl cixoccuaecuc
Xofoü, Tcspl slxovoiv r^xo'. napaßoXwv, itcpl a)(^Y]}idcTü)v. Ueber die xEyvYj des
Boton s. S. 76.
4) Fragmente seiner Schritten in den Fragmenta historicortim Graecorum
ed. C. Müller II 68 ff.
5) Dazu gehörten irpooijxta hrni'qfopiv.ä Hermogen. n. t§. p. 416, 3 Sp.
(wo xal [jiäXtata nicht zu übersehen ist).
6) Hermogen. k. lo. p. 415, 25ff. ; Dionysios de Isae. 20 (vgl. Lys. 2)
stellt ihn mit den im vorigen Kapitel behandelten llednern zusammen. Der
Reden waren nicht viele (Cic. de orat. 2, 22, 93 uonnulla).
90 Viertes Kapitel.
schwulstig und zur apodiktischen Ausdrucksweise geneigt, doch
ist seine Sprache reiner und bei Umschreibung bleibt er klar
und verständlich. Es liegt in vielen Stellen, zumal in seinen
Einleitungen, etwas ungekünsteltes und überzeugendes. Ob-
gleich er auf Sorgfalt sehr bedacht ist, zeigt er sie doch nicht
so offen wie Antiphon, sondern strebt nach Natürlichkeit. Auf
diese ist er mehr als auf die anderen Arten des Ethos bedacht."
Aus der schwulstigen Schilderung des Philostratos ^) ist nach-
zutragen, dass Kritias poetische Wörter mied, nichtsdestoweniger
sich jedoch gewählt auszudrücken verstand. Kritias strebte
zugleich nach frappierenden Wendungen und Gedanken, wes-
halb er Wörter (namentlich zusammengesetzte) neu bildete ^).
Aus diesen Urteilen dürfte hervorgehen, dass unserem Schrift-
steller die Neuerungen des Thrasymachos nicht fremd gebHeben
waren. Da er aber doch noch zu den archaischen Rednern
zählte und der Abscheu gegen das Haupt der dreissig Tyrannen
das Hterarische Interesse überwog, bheb Kritias aus dem Kanon
der Attiker weg; erst Herodes Atticus führte ihn in den Kreis
der Musterredner ein"^), weshalb der Atticist Phrynichos'^) und
Herraogenes seine Reden berücksichtigten, während Aristeides,
wie gegen die Prinzipien des Hermogenes überhaupt, auch gegen
seine Verteidigung des Kritias ankämpfte ^). Philostratos war
der letzte, welcher Kritias beachtete.
Neben diesen Schulschriften arbeitete Kritias auch politische
Broschüren aus, welche sich auf die zwei Stützen der griechischen
Oligarchie, Sparta und Thessalien bezogen^). Die Fragmente
sind so einseitig überliefert, dass sie bloss das Urteil gestatten,
Kritias habe unter anderem die örtlichen Lebensgewohn-
heiten mit eingehender Gründlichkeit behandelt. Zwei die
athenischen Staatsmänner betreffende Bemerkungen sind nicht
1) Vit. Sophist. 1, 16, 4.
2) Julius PoUux 7, 196.
3) Philostr. vit. sophist. 2, 1, 14 p. 244, 6 K; Cicero las uiclits (Brut.
7, 29), auch Harpokrations Quelleu berücksichtigten ihn nicht.
4) In der oo^ptattx-}) irapaoxeuYj Phot. bibl. cod. 158 p. 101 b 9.
6) P. 517,20 oder 530, 13 Sp. (vgl. Spengelll p. XlXf.); daraus erhellt
die Zeit de« Rhetor». Auch PoUux äussert sich unfreundlich (7, 196 Kpittoo . . .
xal tÄv jxäXXov aüToö xexpifi^vujv).
6) MoXiTela .\.axE5ai|j.oviu)v (Blass I 262 A. 3 gibt einen Nachtrag zu
C. Möller) und 8sTtaXüv.
I
Die Anfänge der politischen Beredsamkeit. 91
sicher unterzubringen ^); die zweite, welche Kimon wegen seiner
unpatriotischen Unterstützung der Lakedämonier tadelte, muss
aus einer Zeit, wo die Gegensätze der Parteien noch nicht un-
versöhnlich waren, stammen.
Kritias lebte aber nicht bloss für die Politik, sondern er
hat sich die volle sophistische Bildung angeeignet und selbst-
ihätjg verwertet''*). Für ihn war sie nicht bloss Mittel zum
Zwecke, durfte sich doch Kritias zu den Gelehrten zählen ^).
Wie er Sokrates nahe stand '^), so erwarl) er sich die Achtung
Piatos, der ihn stets mit Wohlwollen behandelt '^) und ihm eine
bedeutende Rolle im Charmides anweist. Ein anderer Sokratiker
Hess ihn im ,,Eryxias" auftreten. Kritias schrieb sogar über
philosophische Gegenstände nicht ohne Glück % denn Aristoteles
würdigte eine Ansicht von ihm der Erwähnung ''). Nach dem
Vorgange des Protagoras beschäftigte sich Kritias endlich mit
den berühmten Dichtern der Nation, natürlich mit Homer *^),
doch auch mit Archilochos '•').
Diesen Oligarchen will ich einen Mann anreihen, der einst
ihr Genosse, sie verriet und seinen Abfall durch ein unstetes
Leben büsste; seiner Erziehung und Bildung nach gehörte
Andokides zu jenen, aber er wusste sich später auch bei den
Demokraten vorzudrängen. Alle politische Reden , die man
ihm zuschrieb, sind als unecht erschienen und er würde wie
die anderen Politiker Athens ausserhalb der Literaturgeschichte
1) Aeliau. var. hist. 10, 17. Plut. Cim. 16.
2) Dem Alexandei- von Aphrodisias (bei Philopon. zu Alistot. de aniiua
1,2 p. 8c) erschien dies so unerhört , dass er einen zweiten Kritias als Ver-
lasser der prosaischen Schritten erdichtete. Mehrere Spätere geljcu Kritias
den Namen aocp:aT'f](;.
3) Plat. Charraid. 161b. 162 be.
4) Xenophon mem. 1, 2, 2911. versucht dies umsonst ganz zu leugnen.
Plato zeugt wider ihn.
5) Z. B. Timae. 20a Kpixiav oe noo Ttävts? ol t-^3' Tojjisv ooosvbc, lhnuxt]v
ovxa CUV \i'(oii.sv. Daraus ist das bekannte Bonmot (Proklos in Tim. p. 22)
ausgesponnen, Kritias sei nuter den Philosophen ein Laie, unter den Laien
ein Philosoph.
6) Suidas führt an: jtspl (puoscoc spcuzoz, jrpuiTOi; otcpoptajjLoi; und zwei
Bücher ojAtXiai.
7) Aristot. de an. 1, 2 p. 405 b 5.
8) Philostr. vit. soph. prooem. p. 201, 5 K. vgl. Tzetz. exeg. II. p. 8 H.
9) Aelian. var. hist. 10, 13, 1.
92 Viertes Kapitel.
stehen, wenn ihn nicht sein eigentümliches Schicksal zu einem
his dahin unerhörten Schritte getrieben hätte.
Das uralte Geschlecht der ,, Herolde", welches in Hermes
und Odysseus seine Ahnherren verehrte ^), wurde zur Zeit des
Perikles von einem Manne vertreten, dessen Schwelgerei ihm
dank dem Komödienspotte eine traurige Berühmtheit sicherte^);
Leogoras — so war sein Name^) — und sein noch nicht er-
wachsener*) Sohn Andokides^) wurden, weil die vor ihrem
Hause stehenden Herme unversehrt geblieben war, in den
berüchtigten Hermokopidenprozess verwickelt ; Andokides rettete
sich und seine Angehörigen, obgleich er seine eigene Beteiligung
zugestehen musste^), durch die Anzeige der Schuldigen und
das Versprechen , dass sein Vater grosse Vermögenshinter-
ziehungen aufdecken werde. Trotzdem machte ein Volksbe-
schluss, welcher den Rehgionsfrevlern die Betretung des Marktes
und der Heiligtümer untersagte, die Straflosigkeit illusorisch '^).
Andokides entfernte sich daher in Handelsgeschäften, um das
vom Vater sehr verringerte Familienvermögen wieder zu heben, fli
und verweilte besonders in Makedonien und Cypern ®). Erst "
im Jahre 411 versuchte er die Gunst der Athener wieder zu
erringen, dadurch dass erder vor Samos liegenden Flotte wohlfeile 1
1) Hellanikos bei Plut. Alcib. 21 (Ps. Plutarch. Andocid. 834 b. Suid.);
vgl. Bossler de gentibus et familiis Att. sacerdotalibus , Darrastadt 1833 p.
29ff. Vater quaestionum Audocidearura particula, Halle 1840. Das Geschlecht
gehörte zum Demos Kydathen (CIA. II 553 und Androtion bei Schol. Aristid.
in 486 D; nicht 0op(at)e6?, wie eine Quelle von Ps. Plut. 834 b hat).
2) Aristoph. Vesp. 1269. Nub. 109. Plato com. bei Athen. 9, 387 a.
3) CIA. TI 553 steht er in der Form Ati(»-(6par,.
4) Andocid. 2, 7.
6) Jan. Ott, Sluiter lectioues Andocideae, Leiden 1804, bearb. von
C. Schiller, Leipzig 1834. Die Quellen seiner Lebensgeschichte sind seine Reden
(gegen deren Glaubwürdigkeit J. J. Hart manu de Hermocopidarum mysteri-
onimque profanatorum judiciis, Leiden 1881), die angeblich von Lysias (VI.)
verfa.s8te Ankluge und die Historiker. Daher stammen die Nachrichten in der
Biographie des Pseudoplutarch (vgl. Phot. bibl. 261 p. 488) und dem dürf-
tigen Artikel des Suidas.
6) Thucyd. 6, 60, 4. Andokides sucht sich 1, 61flf. 2,26 hinauszuredeh.
Nach Kratippos (I*s. Plut. 834 cd) hatte er sich schon früher wegen eines
ähnlichen Frevels zu verantworten.
7) Andocid. 1,71; Straflosigkeit 2,23.
8) Ps. Lys. 6, 26, vgl. Andoc. 2, 11.
Die Anfange der politischen Beredsamkeit. 93
Lieferungen machte^); hierauf wandte er sich sofort nach Athen,
(loch da hier indes der Staatsstreich erfolgt war, wurde er,
wie er behauptet^), wegen jener Förderung der Demokraten
verhaftet. Warum Andokides nacli seiner Befreiung Athen
wieder verHess, lässt er im Unklaren ; nachdem er sich ein paar
Jahre in Elis aufgehalten hatte ^), wurde ein neuer Versuch
gewagt, indem er dem Rate wichtige politische Mitteilungen
machte und eine grosse Sendung von kyprischem Getreide ver-
inittelte'*). Trotzdem konnte der Renegat durch seine Rede ,,über
die Rückkehr" (II.) nicht erreichen, dass man ihn von der oben
( rwähnten Verordnung des Isotiraides ausnahm. Er verliess daher
Athen von neuem und befuhr als Kaufmann das östliche Mittel-
meer, wobei er intime Verbindungen mit Fürsten und vornehmen
Männern anknüpfte und grosse Besitztümer, besonders aufCypern,
gewann^). Erst als die Dreissig gestürzt waren und Andokides
die Hermokopidengeschichte vergessen glaubte, kehrte er etwa
402 aus Cypern nach Athen zurück ^) und übte hier alle Rechte
eines Bürgers aus'). Nach drei Jahren erst klagte ihn Kephisios,
von Kallias und anderen unterstützt, der unberechtigten Teil-
nahme an den Mysterien an; aber der aus Mysten zusammen-
gesetzte Gerichtshof sprach Andokides, welchen die angesehenen
Staatsmänner Anytos und Kephalos verteidigten*), frei. Er
war damals etwa vierzig Jahre alt, also um 440 geboren^).
1) Andocid. 2, 11 ff.
2) 2, 13 ff., vgl. Ps. Lys. 27.
3) Ps, Plat. 835a nennt Elis, schweigt aber von dem V^ ersuche; Blass
I 278 setzt die Rückkehr etwa in das Jahr 409. Philippi Jahrbb. f. Philol.
1 19, 686 meint dagegen, sie habe frühestens 407 stattgefunden, weil er über
die Seetreffen von 411 und 410 mit ev x(|) xoxs Xp6v(}) (§ 12) spricht.
4) Andocid. 2, 19 ff.
5) Ps. Lys. G; Andoc. 1,145. Ps. Lys. 48; Andoc. 1,4. 144. Ps. Lys. 48.
6) 1,4. 132; über das Jahr Blass I 279, vgl. Ps. Lys. 38 f.
7) 1, 132. 133ff. Ps. Lys. 33. 11. Man sah in Athen einen Dreifuss, den
er als Chorege geweiht hatte (Ps. Plut. 835b), vgl. CIA. II. 553.
8) Andocid. 1, 150.
9) Ps. Lys. 46. Nach Ps. Plut. 835 a ist er Ol. 78,1 geboren; nach Blass
I 271 und Müller-Strübing Aristophanes S. 599 ist dies aus der Strategie,
weUhe sein Grcssvater Andokides vor Samos bekleidete, errechnet. Diese
ansprechende Vermutung ist anfechtbar geworden, seit ein in schriftlich er
Fund gezeigt hat, dass Thukydides 1, 51, 4 nicht 'AvSotiiSyjc, wie schon Ps.
Plutarch. 834c las, sondern ApaxovxtS-rjc: schrieb (vgl. Müller-Strübing
Aristophanes und die historische Kritik S. 599 ff. u. Stahl Rhein. Mus.
94 Viertes Kapitel.
Später wurde er während des korinthischen Krieges mit einer
Gesandtschaft, welche über den Frieden unterhandehi sollte,
nach Sparta geschickt, erzielte aber kein Resultat ^). Damit
schliesst dieses wechselvolle Leben ab.
Andokides war kein Sophist; so lange er der oHgarchischen
Partei angehörte, war er noch zu jung und zu wenig angesehen,
um durch Flugschriften wirken zu können. Seit er aber zur
Regierungspartei übergegangen war, müsste er die Vorurteile
des souveränen Volkes achten. Wie also aus jener Periode
seines Lebens keine echte Schrift vorhanden war (die Rede
gegen Alkibiades ist sicher unecht, ebenso wohl auch der
Aufruf an die Oligarchen), so veröfifentlichte Andokides, seit er
zu den einflussreichen Bürgern gehörte, seine politischen Reden
so wenig als seine Genossen; wir haben ja gesehen, was von
der Gesandtschaftsrede ,,über den Frieden" zu halten sei. Da-
gegen gab er die Reden, welche er in jenen beiden Prozessen
hielt, heraus, um die öffentliche Meinung für sich zu stimmen
und auch die Bürger, welchen der günstige Spruch der Ge-
schworenen nicht alle religiösen Bedenken genommen hatte, zu
bekehren, nicht aber, damit Schüler und Klienten angelockt
würden. Echt^) sind also nur die zwei Reden 7:spl zfi<; laotoö
%a^ö8oo (11.)^) und die längere Tcspl xwv [luaTTjpiwv (I.,
ungefähr im Jahre 399 gesprochen)*).
Da Andokides weder ein Rhetor war noch seine Reden
als Musterstücke herausgab, repräsentieren sie die Art, wie die
gebildeten Männer Athens um das Jahr 400 zu sprechen pflegten.
Weil es sich jedoch um die heiligen Mysterien handelt, flndet es
40, 439 ff.). Es ist aber möglich, dass die Blüte die Andokides 01.88, l,d. h. gleich-
zeitig mit Gorgias gesetzt wurde. Vgl. Völcker de auno quo natns sit Ando-
cides orator, Meppen 1872. Zu veotvjxt vergleicht Fuhr animadv. in oratore^
Att. p. 18 adn. 1 mit Recht Thucyd, 6, 17.
1) 'AupaxTOü? ftveXö-eiv Philochor. im Arg. orat. III.; der Verfasser der
dritten Rede scheint die Schuld den Athenern beizumessen, Ps. I'lut. 835 ü
dog^en tugt bei: ftStxelv 36$ac efOY^-
2) Reibst dies bestreitet S. A. Naber de fide Audocideae oratiouis de
mysteriis, Leiden 1860 und Audocidis oratio de reditu, Mneraos. III (1864)
p. 60 ff.
3) riepl T7J? äiSsiac Harpocr. v. ÄppioSstv.
4) Der Titel lautet auch nepl ttji; evSei^swc; gegen Sauppe, der daraus
mit Ps. Plat. 836u eine besondere Rede machte, s. Blass I 284 f.
Die Anfänge der politischen Beredsamkeit. 95
Andokides für passend, die Sprache des täglichen Lebens durch
poetische Wendungen höher zu stimmen ^); Selbständigkeit
dürfte dabei nicht zu rühmen sein, sondern er verwendete, was
ihm aus den populären Tragödien erinnerlich war. Der Satz bau
ist kunstlos und von Schwerfälligkeit oft niclit frei. Auch in
der Ordnung^) und der Auswahl der Gedanken zeigt sich nichts
von Kunst. Die Beweise sind selten bestechend geformt und
arrangiert; wenn Andokides erzählt, ermüdet er durch Weit-
schweifigkeit und Einschiebsel. Auch an rhetorischen Künsten,
mögen sie der blossen Zierde oder auch der Belebung dienen,
sind die Reden arm. Kurz, es spricht ein gebildeter Mann,
aller kein Rhetor.
Aus dem persönlichen Motive, das die Veröffentlichung
der zwei Reden veranlasste, ist nicht bloss ihre geringe Kunst-
fertigkeit, sondern auch die Einleitung von Urkunden zu er-
klären. Während nämlich die Kunstredner bei der Veröffent-
lichung gerichtlicher Reden die Urkunden und Zeugenaussagen
nur zu markieren pflegten, da sonst die Einheit des Stiles zer
stört worden wäre, war dieser ästhetische Grund bei unserem
Redner nicht wirksam, im Gegenteil wollte er durch die Bei-
gobung von Zeugnissen und anderweitigen Belegen seine Glaub-
würdigkeit erhöhen. Wenn auch nicht alles, rührt doch das
meiste von dem Redner selbst her ^).
Immerhin scheint eine fremde Hand dabei thätig gewesen
zu sein*) und dies führt auf die Frage, wie Andokides von
den Rhetoren bearbeitet wurde. Da er weder berühmt noch ein
eigentlicher Fachmann war, verdankt er seine Aufnahme unter
die Zehn gewiss nur der Verhasstheit des Kritias. Wem, wie
1) Blass I 291.
2) K. W. Linder de rerum dispositione apud Antiphontem et Andocideni,
IJpsala u. Göttingen 1859.
3) Die Namenverzeichnisse sind von Kirrihhoff Jahrbb. f. Phil. 1860
S. 838 u, Mouatsber. der Berliner Akademie 1865 S. 545 u. U. Köhler
Jahrbb. f. l'hilol. 81, 238 f. gerechtfertigt. Ueber die drei Beschlüsse Joh.
Droyseu de Demophanti Patroclidis Tisameni poj)nli scitis, Berlin 1873, be-
richtigt von Rad. Scholl Jenaische Literaturztg. 1874 S. 186.
4) Die Benützung einer voreuklidischen Inschrift zeigt U. v. Wilamo-
witz horaer. Untersuch. S. 305 A. 15 an einem Irrtum, den Andokides selbst
schwerlich begangen haben kann.
96 Viertes Kapitel.
dem Halikarnassier Dionysios die Zehnzahl gleichgiltig war,
ignorierte infolge dessen Andokides ^). Die Rhetoren der Kaiser-
zeit pflegten auf ihn verachtungsvoll wie auf einen Eindringling
herabzusehen ^) und citierten ihn nie. Nichtsdestoweniger schrieb
Valerius Theon über Andokides ^) ; auch sind den zwei unechten
Reden Einleitungen vorgesetzt.
Die Ueberlieferung des Textes ruht hier ungefähr auf den
gleichen Grundlagen wie bei Antiphon % doch fehlt bei diesem
Redner die Oxforder Handschrift. Vor Bekkers Ausgabe sind
bloss die Sammlungen von Aldus, Stepharms und Reiske zu
nennen. Erst I. Bekker (Oratores Attici 1822 f.) zog bessere
Handschriften heran ; auf seiner Recension ruhen die Ausgaben
von K. Schiller (Leipzig 1835) und Baiter-Sauppe ; den besten
Text bietet die Separatausgabe von Fr. Blass (Leipzig 1871.
^1880). Die Erklärung wurde durch Alb. Gerh. Beckers kom-
mentierte Uebersetzung (Quedlinburg 1832) gefördert; Dobsou
hat in den oratores Attici I. u. XIII. viel Material zusammen
getragen.
Als Schriftsteller hat Andokides die grösste Aehnlichkeit
mit Aischines. Beide sind Schriftsteller wider Willen, welche
bloss zu ihrer persönlichen Verteidigung Reden veröffentlichen,
beide nicht professionsmässige Redner, sondern im Vergleich
mit den übrigen der Zehn Dilettanten. Aischines würde daher
am passendsten neben Andokides seine Stelle finden, wenn er
nicht aus praktischen Gründen hinter Demosthenes zu stellen
wäre; zudem ist er doch nicht ganz von der weiteren Ent-
wickelung der Beredsamkeit unbeeinflusst.
1) Er verwarf (wohl beiläufig?) die Friedensrede (Argum. or. III.).
2) Qniutilian. 12,10,21 non igitur jam usqiie ad Coccuiu et Audocidem
reraittemur; im zehnten Buche erwähnt er ihn nicht einmal. Herodes Atticns
sagte: 'Av8oxi8ou fxiv ßeXxtcuv Eijii (Philostr. vit. soph. 2, 1, 14).
3) Suidas v. ö^wv.
4) 8. S. 71.
i
Fünftes Kapitel.
Die Vollendung der Kunstrede; Isokrates.
Isokrates: Leben; gerichtliche Reden; Reden gegen die Sophisten, Helena
und Busiris, über das Gespann; die politischen Reden (in chronologischer
Folge) ; „über den Vermögenstausch" ; Fälschungen (Nikokles, Briefe, Schreiben
an Dcmonikos); Verlorenes; Stil und Gedankeninhalt; Freunde und Feinde;
Schüler; Fortleben der Schriften des Isokrates ; Handschriften und Ausgaben.
Wiewohl die Schule des Gorgias für die Entfaltung der
griechischen Literatur von der grössten Bedeutung war, Hess
sie doch viel vermissen. Der verschnörkelte und verkünstelte
Stil der Gorgianer konnte die Athener eine Zeitlang blenden,
aber ernüchtert, mussten sie einen Meister wünschen, der die
siciHsche Kunst mit attischem Geschmacke veredelte. Den
wahren Philosophen waren andererseits die Spielereien der
Gorgianer ein Greuel und in der That kornite der Sinn für
das Wahre und Gute bei diesem Treiben nicht gedeihen.
Im Zeitalter des peloponnesischen Krieges hatten die Athener
die fremden Lehrer bewundert und umdrängt, aber aus ihrer
Mitte war keiner erstanden, der zu den Hauptvertretern der
Sophistenbildung gezählt werden konnte. Erst an der Scheide
des fünften und vierten Jahrhunderts traten zwei Athener auf,
welche ihrer Stadt auch in der Prosa den ersten Rang sicherten ;
es ist aber eine eigentümliche Erscheinung, dass beide unfrei-
willig, nur durch äussere Umstände genötigt den Weg ein-
schlugen, der sie zur Unsterblichkeit führte.
Der eine, welcher die Kunstprosa vervollkommnete, war
Isokrates^). Die chronologischen Grenzen seines langen
1) J. G. Pfund de laocratis vita et scriptis, Progr. des Joachimsthal'-
schen Gymn. Berlin 1S33 (vgl. H. Sauppe Ztsch. f. Alterthuraswissenschaft
1835 Sp. 403flf.); W. Oncken Isokrates und Athen, Beitrag zur Geschichte
der Einheits- und Freiheitsbewegung in Hellas, Heidelberg 1862. Nachrichten
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. II. 7
Ö^ Fünftes Kapitel.
Lebens sind durch die eigenen Angaben des selbstgefälligen
Mannes und Nachrichten seiner Schüler ziemlich genau fest-
stellbar: Isokrates wurde um Ol. 86, 1 (436/5) geboren*) und
starb, ungefähr achtundneunzig Jahre alt, bald nach der Schlacht
von Chaironeia (338), welche dem greisen Patrioten das Leben
verleidete ^). Bis zu seinem Tode hat er unermüdlich geschaffen
und gelehrt.
Als Isokrates geboren ward, dachte niemand daran, dass er
die damals von wenigen geachtete Laufbahn eines Sophisten
ergreifen werde. Sein Vater Theodoros, ein Mitglied des Demos
boten die Reden des Isokrates und die Schriften seiner Schüler, namentlich
des Theopompos und Kephisodoros , welcher den Lehrer gegen Aristoteles
verteidigte. Erhalten sind Biographien von dem Rhetor Dionysios von Hali-
karnass (de Isocrate c. 1), dem angeblichen Plutarch (s. Bruno Keil analecta
Isocratea p. 89 ff., vgl. Photius biblioth. 260) und einem anonymen Apologeten
(in welchem Westermann ad Plut, dec. orat. p. 9 Zosimos vermutet;
dieser schrieb nämlich, wie er in der Biographie des Demosthenes angibt,
auch über Isokrates. Zuerst veröffentlicht von Mustoxydis auXXof^ olko-
onao|j.axü>v övexSotcuv III p. 9 — 23, am besten in den Züricher Oratores Attici
n p. 3 ff. und Westermanns Bto^pacpoi p. 253 ff.), Philostratos (vit. sophist.
1, 17) und Suidas.
1) Die Rede über den Vermögenstausch verfasste Isokrates nach seiner
eigenen Angabe im Alter von 82 Jahren (§ 9); nun ist sie kurz nach 355
geschrieben. Die Alten, welche Synchronismen liebten, setzten sie gerade
354/3, wo Demosthenes zum ersten Male auftrat. Dann war Isokrates Ol. 86, 1
geboren (Dionys. Ps. Plut. 836 e. Diogen. 3,3, vgl. Suidas. Das Verfahren
fühlt man noch bei Ps. Plut. 837 f durch) und wurde 98 oder fast 99 Jahre
alt (ersteres Dionys. Quintilian, 3, 1, 14. Pausan. 1, 18, 8. o\ 8e bei Anon.
Z. 42, letzteres Lucian. }j.axpoß. 23 mit rrspl, Tod im 99. Jahre Cic. senect.
5, 13; abgerundet 100 Jahre xtvec bei Ps. Plut. 837e u. ol }jlev Anon. Z. 41).
Alle beruhigten sich aber dabei nicht : Argum. or. XIV. nimmt Ol. 87, 3
oder 2 an. Auch die Blütezeit wird verschieden bestimmt: Mit Sokratea ist
Isokrates, wie so oft, verwechselt, wenn ihn Eusebios im Jahre der Anabasis
ansetzt. Beim zweiten Ansatz (Ol. 101, 2 Synk. 101, 1 Hieron. und Armen.)
bezog man den Panegyrikos auf den Frieden von Ol. 101,2. Spidas gibt
dem Redner 106 Jahre, weil er das berühmte Jahr des Eukleides Ol. 94, 2
als Blütezeit annahm.
2) Aphareus und Demetrios bei Anon. Z. 142 ff. (Dionys. Ps. Plut. 837 e.
838b. Pausan. 1,18,8. Ps. Lucian. (j.axp6ß. 23. Philo^r. § 4). Der Verfasser
des dritten isokratischen Briefes weiss davon nichts (vgl. Fr. Blass Rhein.
Mus. 20, 109 ff.). Die Anekdote, da.s8 der Redner vor seinem Tode drei Dauaos,
Pelops und Kadmos betreffende Prologe des Euripides deklamiert habe (Ps.
Plut, 837 e. Anon, Z. 146 ff., vgl, Ps. Lucian. a. O.), entsprang aus Isoer,
panatb. 80.
Die Vollendung der Knnstrede : Isokrates. 99
Herchia^), welcher eine Flötenfabrik besass^), Hess ihm eine
ungewöhnliche Erziehung erteilen, wie sie wenige der jungen
Athener damals genossen^) und so trug er schon als Knabe
einen Sieg davon. Später hörte Isokrates den berühmten Gor-
gias^); auch bezeugt Plato, das er mit Sokrates, der sich viel
von ihm versprach, umging"). Ein eigentlicher Sokratiker
wurde aber Isokrates nicht, weil ihn Naturanlage und Neigung
auf die Beredsamkeit hinwiesen.
Da führte der dekeleische Krieg den Ruin vieler athenischer
Familien, darunter auch der unseres Redners herbei und Iso-
krates, der noch drei Geschwister hatte, musste auf die Ver-
wertung des Erlernten bedacht sein ^). Weil er am ehesten von
dem Redenschreibeu Geldgewinn hoffen durfte, bequemte sich
Isokrates, wiewohl ihm die Gerichtshändei widerstrebten, mehrere
Jahre lang dazu, anderen Leuten für Geld Anklage- und Ver-
teidigungsreden aufzusetzen, eine Thätigkeit, deren er sich später
so schämte, dass er sie gänzlich verleugnete^); seinen Gegnern
bot sie aber einen erwünschten Angriffspunkt.
1) Biographen, Themist. orat. II p. 28 b, IV p. 60a. Tzetz. Ciiil. 11,652.
Die Mutter soll Hedyto geheissen haben (Anon.. Z 2).
2) Aristophanes u. Strattis bei Ps. Plut. 836 e, Halbertsma Mnemos.
1855 p. 218 If. meint, Isokrates habe dieses Gespräch fortgeführt; in der That
gab Strattis ihm selbst den Namen ahkotpoKfi^ (Anon. Z. 82). Philostratos § 4
bestreitet es.
3) Isocrates 15,161; Siegerstatue auf der Akropolis Ps. Plut. 839 b, vgl.
Plat. Phaedr. 279a nXeov y| TccxiSoiv o'.svi'^Y.oi,
4) Aristoteles bei Quintil. 3, 1, 13; auch auf dem Grabdenkmale des
Isokrates war er abgebildet. Dionysios, Plutarch 836 f und Suidas nennen
ausserdem Prodikos (auch Anon. Z. 85), Teisias und Theramenes (auch Anon.
u, Schol. Aristoph. Pax 541). Eine den letzteren betreffende Anekdote steht
Ps. Plut, 836 fu. Anon. Z. 18 ff. (vgl. Bakius schol. hypomnemata III 48 flf.)
aber statt Isokrates ist Sokrates' Name einzusetzen (Diodor. 14, 5, 2, vgl.
Harles zu Fabric. bibl. Gr. II 777 f.) wie in der Erzählung bei Ps. Plut. 839a.
Suidas zählt ausserdem einen Erginos auf; Kuhnken bist. orat. p. 42 und
Blass II S. 13 denken an den redegewandten Staatsmann Archinos.
6) Plato Phaedr. 278 e. 279a, Anekdote Ps. Plut. 838 e und Olympiod.
in Plat. Gorg. p. 392. Spuren sokratischer Denkweise weisen nach C. Aug.
Krook Isocrates ställning til sofisterna och Sokrates, Helsingfors 1856 und
H. Schröder quaestiones Isocratsae duae, Utrecht 1859 p. 1 — 41.
6) Isoer. 15, 161 f.; über die Geschwister Ps. Plut. 836 e.
7) Isoer. 12,11. 15, 161 f., wie auch sein Schüler Kephisodoros; Aristot.
warf ihm „ganze Konvolute" von Gerichtsreden vor (Dionys. 18). Vgl. Bakius
schol. hypomu. III 60 f. Rehdan tz Gott. Gel. Anz. 1872 S. 1173.
7*
100 fünftes Kapitel.
Aus dieser Periode seines Lebens stammen die erhaltenen
drei Gericlitsreden (XVII. — XIX.), von denen zwei über
fingierte Fälle geschriebenen Deklamationen XX. und XXI.
und die nur die äussere Form von Gerichtsreden festhaltenden
Stücke XV. und XVI. zu sclieiden sind ^).
Den Anfänger, der sich in die ihm peinliche Aufgabe noch
nicht mit Anstand zu schicken weiss, führt uns die Rode gegen
Kallimachos (XVIII.) vor. Isokrates verfasste sie nach dem
Erlasse der Anarchie (§ 1), vielleicht noch vor 400^) für einen
ungenannten Athener, welcher die Klage des Kallimachos durch
Erhebung der Paragraphe zu parieren versuchte. Die Rede
schleppt sich in einförmigem Flusse, von keiner Abschweifung
unterbrochen, dahin; die häufigen rhetorischen Fragen können
das Fehlen der Frische und Lebendigkeit nicht ersetzen. Nur
hie und da wie § 11 rafft sich der Redner zu kräftigeren Aus-
drücken auf^).
Dass aber Isokrates auch in dieser Redegattung der Meister-
schaft allmälig nahe kam, thun zwei recht hübsch gearbeitete
Reden dar, welche ein ziemlich langer Zeitraum von jenem
Versuche scheidet. Den Trapezitikos (XVII.) sprach der
Sohn eines vornehmen Skythen, nach dessen Behauptung der
angesehene Banquier Pasion ein Depositum unterschlagen hatte.
Der Frozess, welcher in die Jahre nach der Schlacht von Knidos
(395, § 36) und vor dem Tod des bosporanischen Königs
Satyros (§ 57 u. ö., äusserstenfalls 387)^) fällt, lag für den
Sprecher, der keine Zeugen hatte, sehr misslich, zumal da der
Angeklagte in hohem Ansehen stand ; diese Bedenken konnten
aber keinen griechischen Advokaten abschrecken, im Gegenteil
bot der gewiss das grösste Aufsehen erregende Prozess Isokrates
1) Nach Kyprianos tot in^ppfjta zoö 'looxpatou? S. 22 Aura. u. Eni.
Havet iutroductioa au discours d'Isocrate sur l'antidosis, i'aris 1863 p. 222
wurde keiue dieser Gerichtsreden wirklich gehalten.
2) Blas.s II 196 mit Anm. 4 bestimmt nach § 27 ff. 45 If. als terminus
ante quem das Jahr 397; Dobree adversaria I 281 setzt die Rede Ol. 95 an.
3) Deshalb wahrscheinlich zweifelten Dobree adversaria I 281 u. Hal-
bertsma Mnemos. 1865 S. 221 II. die Echtheit an, dagegen Fulv. Ursinus
Virgilius cum üraecis scriptoril)us collatus p. 230, weil er in seiner Hand-
schrift des Harpokratiou v. 'l'ivtov ^l^aio'; statt 'iGoxpätYji: citiert fand.
4) Den Tod dieses Königs setzte man früher Ol. 96,4 (393/2); vgl. aber
jetzt Arn. Schäfer Rhein. Mus. 23, 418ff.
Die Vollendung der Knnstrede : Isokrates. 101
Gelegenheit, wenn er durch die Anwendung aller Kniffe und
Sophismen seiner Sache den Schein des Rechtes lieh, seine
Klientel zu vermehren^).
Während man bei dem Lesen dieser Rede die Rabulisterei
unangenehm empfindet, erweckt der Aiginetikos (XIX.) einen
günstigeren Eindruck. Denn der vornehme Siphnier , für
welchen Isokrates dieses Mal arbeitete, verteidigt nicht bloss
vor einem äginetischen Gerichtshofe seine Ansprüche auf das
Erbe eines Freundes mit grosser juristischer Gewandtheit, sondern
er entwirft auch zugleich ein hübsches Bild der Freundschaft,
die ihn mit dem Erblasser verband , und stellt die tödliche
Krankheit wie auch die von ihm geübte unermüdhche Pflege
anziehend dar. Wenn auch der Redner selbst keinerlei An-
deutung über die Zeit, wo der Prozess zur Verhandlung kam,
bietet, muss die Rede wegen ihrer Vollendung in die letzte
Zeit seiner Advokatur gehören ^) ; es darf dabei nicht ver-
schwiegen bleiben, dass Isokrates, wie diese Rede am besten
zeigt, von seinem Gegner Lysias vieles zu lernen wusste. Sein
eigener Ruf war damals offenbar schon über die Grenzen seines
engeren Vaterlandes hinausgedrungen.
Man darf annehmen, dass Isokrates in jenen Jahren zu-
gleich Reden schrieb und, wie Thrasymachos und die Anderen,
junge Leute an sich zog, um sie für den Gerichtssaal vorzu-
bereiten. Denn von zwei Uebungsstücken, welche zu Schul-
zwecken fingierte Fälle behandeln, scheint wenigstens das eine
echt^). Der Rhetor stellt in Form eines Epiloges (XX.) Ge-
meinplätze über Körperverletzung zusammen ; individuelle Züge
fehlen so sehr, dass sogar der Name des Angeklagten, Lochites
1) Wegen der Misslichkeit der Sache leugnen Cobet, Halbe rtsma
a. O. und Benseier Ausgabe p. X a. 1. XI a. 1 die Echtheit und G r o s s e
über Isokrates' Trapezitikos, Arnstadt 1884, der p. 8—16 die Sophismen aufdeckt,
hält sie für eine Schulrede, wie auch Hier. Wolf gedacht hatte. Aus formalen
Gründen sucht Kays er Jahrbb. f. Philol. 73, 356 ff. die Unechtheit zu be-
weisen. Dagegen verteidigt L. Galle de Isocratis oratione trapezitica,
Dresden 1884 (Diss. v. Leipzig) den isokratischen Ursprung.
2) Blass II S. 215 nimmt wohl richtig an, dass sie frühestens 390
geschrieben ist; Benseier hatte an das Jahr 402, Pfund an 397 gedacht.
O. Müller Aeginetica p. 131 setzt sie gar nach Ol. 104,4 (361). Halbertsma
verwirft auch diese Rede.
3) Harpokration citiert keines von beiden.
102 Fünftes Kapitel.
auf den Gegenstand der Klage anspielt. Für die Echtheit der
Rede spricht die Abneigung gegen den Hiatus'); auch erinnert
die Fülle dos Ausdrucks an Isokrates.
Da hingegen die Rede gegen Euthynos (XXI.) in
beiden Beziehungen von den Grundsätzen des Isokrates ab-
weicht^), kann sie nicht von ihm herrühren-'*). Es steht aller-
dings sowohl durch das Zeugnis des Aristoteles als durch die
Gegenschriften des Antisthenes und Speusippos fest*), dass
Isokrates eine Rede entwarf, worin ein ähnliches Thema be-
handelt war, wie das wirkliche Leben im Trapezitikos bot; er
nannte auch bereits den Angeklagten, der Rechenschaft (eo^uva)
über ein unter vier Augen anvertrautes Depositum ablegen
soll, Euthynos. Die Sachlage war für den Ankläger möglichst
schwierig gestellt, weil er durch blosse Schlüsse die Schuld des
Angeklagten nachzuweisen hatte. Wie man nun dieser auch
a^äpzopoQ genannten Rede im Namen seines Rivalen Lysias
eine Verteidigungsrede entgegenstellte ^), so befremdet es nicht,
dass ein späterer Rhetor denselben Gegenstand, die interessan-
teste Aufgabe der gerichtlichen Dialektik, von neuem be-
arbeitete.
Die literarische Debatte insbesondere, welche dieser Rede
folgte, mag Isokrates veranlasst haben, die Beschäftigung mit
der gerichtlichen Beredsamkeit aufzugeben und ein seinen
Neigungen mehr zusagendes Gebiet zu suchen^). Etwa um
1) Benseier de hiatu in oratoribus Atticis p. 60 f.
2) Benseier a. O. p. 56.
3) Die Echtheit verteidigen Usener Rhein. Mus. 25, 603 und Blass
II 203 f.; Weissenborn (in Ersch und Gnibers Encycl.) Isokrates 8. 67 ver-
mutet, sie sei unvollendet. Nach Blass ging der Schluss der Rede verloren ;
aber ein pathetischer Epilog passte nicht recht für eine Rede, welche bloss
ein Kunststück der Dialektik sein sollte.
4) Aristot. rhet. 2, 19 p. 1392b 11 (das angeführte findet sich in der
erhaltenen Rede nicht); Antisthenes schrieb jcpö? xbv 'laoxpatouc ftfidpTupov
(Diogen. 6, 16, nach Usener quaestion. Anaxim, p. 7 und Rhein. Mus.
35, 144f. mit dem Dialog irepl ^'.xofpä'ftuv ^) Aoata? xal 'looxpä-CTjc identisch).
Speu.sippo8 Ttpöc zbv öt(j.(ipxopov (Diogen. 4,5); auf diese Schrift bezieht sich
die ungeschickt gefasste Notiz : itpwtoc irapa 'laoxpdxQüi; xa xaXoüjxsva ftitöppfjxa
eir^\iv(nev, u»? «pYjol Kaivso? (Diogen. 4, 2).
5) Vgl. Sauppe oratores Att. II p. 199 = 187 (von Harpokration nicht
bezeugt).
6) Cic. Brut. 12, 48 entstellt« natürlich Aristoteles, als er ihn sagen Hess:
cum ex eo quasi committeret contra legem quo quis judicio circumvcniretur,
Die Volleudung der Kunstrede: Isokrates. 103
das Jahr 390, also uiigefälir fünfundvierzig Jahre alt begann
er junge Athener an sich zu ziehen, welche für das öffentliche
Leben im allgemeinen vorgebildet werden wollten ^) ; von ihnen
nahm später Androtion die einflussreichste Stelle ein, doch war
er so verrufen, dass Isokrates seinen Schüler verleugnete ^).
In diese Zeit-^) fällt die Programmrede „gegen die
Sophisten" (XIII.), worin sich Isokrates gegen alle seine
Konkurrenten wendete. Er bekämpft nicht Personen^), sondern
Richtungen, zunächst die Dialektiker (§ 1 — 8), hierauf die
Gorgianer (ot too? ttoXitlxodc Xöyodc D7:La^vo6[i£Vot, § 9 — 13),
worauf er als Programm seiner Schule aufstellt, mit der üebung
müsse natürliche Anlage der Schüler zusammenwirken (§ 14 — 18).
Was aber den Lehrer angeht, so hat er nicht bloss die Theorie
gründlich vorzutragen, sondern zugleich durch sein eigenes
Beispiel die Zuhörer zur Nacheiferung anzuregen. Nachdem
er mit verächtlicher Kürze die Lehrer der gerichtlichen Bered-
samkeit gestreift (§ 19. 20), wendet er sich nochmals kurz gegen
jene beiden Klassen seiner Gegner und hebt wiederum die
Notwendigkeit natürlicher Anlage hervor (20. 21) *''). Der Schluss
der Rede ist bis auf ein kleines Stück verloren gegangen.
saepe ipse in Judicium vocaretur (indes deutet auch das Gerücht Ps. Phit. 837a
auf gerichtliche Verfolgung); Usener Ehein. Mus. 35, 141 fl'. erkannte, dass
sich diese Worte ursprünglich auf die Polemik der Philosophen bezogen.
1) Vgl. die genauen Untersuchungen von Rehdan tz Gott. gel. Anz. 1872
S. 1174 ff. und Blass II S. 17 ff., wozu Isokrates' eigene Worte (15, 195
VEÜ)t£poc und (tv-iiäCuiv) passen. Chronologische Gründe (Susemihl index
lect. aestiv. Greifswald 1884 p. 15 f.) und die Vergleichung der Quellen (Br.
Keil analecta Isocratea p. 93 f.) sprechen gegen die Behauptung (tivei; bei
Ps. Plut. 837 b, nach dessen Worten die Abfassung des Panegyrikos vorher-
ging), dass er auf Chios lehrte und die athenische Verfassung dort einführte.
Zur Emendation der Stelle A. Schäfer Ztsch. f. Alterthumsw. 1848 Sp. 261.
2) 15, 93 erwähnt er ihn nicht.
3) Isoer. 15, 93 ox' y]P)(6[jly)v irspl taoxfjv elvat xtjv TTpaYfiaxetav, X6yov
SteScuxa Ypöt*}«?'
4) Man bemüht sich oft, die Angegriffenen näher zu bestimmen; mit
den Dialektikern sollen die Megariker (S p e n g e 1 Isokrates und Plato S. 747),
Antisthenes (Usen er quaestiones Anaximeneae p. 12f. Ueberweg Echtheit
und Zeitfolge der plat. Schriften S. 257), Plato (Bonitz platonische Studien
2, 40 und Conr. Fischer über die Person des Logographen in Piatons
Euthydera, Progr. v. Lemberg 1880; nach letzterem replicierte der Philosoph
im Euthydem) gemeint sein.
5) Aristoteles (a. O.) sagte daher spöttisch: primo artem dicendi esse
negavisse.
J04 Fünftes Kapitel.
Obgleich Isokrates bezüglich der Methode des Unterrichts
von den gewöhnUchen Rhetoren sich entschieden lossagte, ging
er in Bezug auf die Stoffe anfangs nicht so radikal vor. Die
älteren Reden zeigen nur Ansätze, sich von den hergebrachten
Formen zu emancipieren ; Isokrates kämpft gegen letztere an,
ohne dass er endgiltig mit ihnen bricht.
Viele Aehnlichkeiten mit seiner Antrittsrede weist die
„Helena" (X.)auf^), in welcher Isokrates die Eristiker (§ 1 — 6)
und die Rhetoren (§ 7 — 13) noch heftiger angreift; der Redner
beschränkt jedoch seine Polemik diesmal auf eine Gattung von ■1
Themen, indem er die Unsitte, an paradoxe oder unwürdige '
Themen den Scharfsinn zu verschwenden, mit scharfen Worten
tadelt und zur Wahl edler Stoffe auffordert. In dieser Beziehung
empfängt ein Ungenannter, der ein Lob der Helena geschrieben
hat, von ihm Anerkennung, indes tadelt Isokrates die Aus-
führung (§ 14. 15). Um aber nicht bloss abzusprechen, wie er
sagt, unternimmt der Redner selbst ein Enkomion auf die
Tochter des Zeus zu schreiben ; dieses ist so vollständig nach
gorgianischer Weise ausgeführt, dass Isokrates lange Exkurse
über die Schönheit und gar über Theseus (§ 21 — 38) ^), was
mehr dem Patriotismus als der Kompositionskunst des Redners
Ehre macht, einflicht. Am Schlüsse empfiehlt er noch seinen
Schülern ein Thema zur Bearbeitung.
Ein noch grösseres Selbstbewusstsein tritt in der Rede
„Busiris" (XI.) ^) zu Tage; diese richtet sich nicht mehr gegen
Schulen, sondern greift einen einzelnen Sophisten, den nicht
unberühmten Polykrates, an. Es macht einen peinlichen Ein-
druck zu sehen, wie Isokrates den älteren Mann, der ihn an-
1) Nach Welcker kleine Schriften 2, 428 ist sie in hohem Alter ver-
faset; auch .T. Zycha Bemerkungen zu den Anspielungen in der 13. und 10.
Rede des Isokrates, Pr. des Leopoldst. Obergymn., Wien 1880 und Br. Keil
anall. Isoer. p. 8, der sie um 366 ansetzt, rechnen sie nicht zu den Erstlings-
werken. Der Titel lautet in den Handschriften 'EXevyj'; eyx(Ö]X'.ov, in ver-
schiedenen Citaten bloss 'KXevy] (Keil a. O. p. 132 f.) Das Argument scheint
zn zeigen, djiss Polykrates gegen die „Helena" schrieb oder wenigstens dass
eine Streitschrift mit seinem Namen vorhanden war.
2) Lnciaa. encom. Demosthenis 10 nennt diesen Exkurs spöttisch
napE|JLiTÖpeo{x<'/.
3) Als die frülieste epideiktische Retle des Isokratea betrachtet sie
H. Sanppe Ztsch. f. Altertlmmswiss. 1886 Sp. 408.
Die Vollendung der Kunstrede : Isokrates. 105
scheinend nicht einmal gereizt hat, mit dem ausgesprochenen
Gefühle unendhcher Ueberlegenheit wie einen Schüler auf seine
Fehler hinweist. Polykrates mag in der Tliat Busiris mit wenig
Erfolg gelobt haben und auch mit der Anklage des Sokrates ^)
nicht glücklicher gewesen sein, aber wenn nun Isokrates das-
selbe Thema behandelt, damit sein Konkurrent sehe, wie er
es hätte machen sollen, liefert er etw^as anderes als ein sophistisches
Schaustück? Isokrates macht sich die Aufgabe dadurch recht
leicht, dass er das wunderbare Nilland mit klangvollen Phrasen
preist und Basiris nur oberflächlich (§ 30) damit in Beziehung
setzt. Ein langer Epilog (§ 44 ff.) führt Polykrates wiederum
seine ganze Unfähigkeit vor Augen und spricht ziemlich unver-
blümt aus, dass keiner so tief in die Beredsamkeit eingedrungen
sei als der Verfasser.
Die Rede ist vielleicht 383 oder bald nachher verfasst ^),
damals arbeitete Isokrates an einer Schrift, welche ihn zum
berühmtesten Rhetor Athens machte. Vor dieser sei aber,
weil sie bereits zur zweiten Periode seines Schaffens überleitet,
eine eigentümliche Rede eingeschaltet, deren Gegenstand Isokrates
später in völlig anderer Form ausgeführt hätte. Da die damalige
Sophistensitte Lob- und Verteidigungsreden fast nur bei Heroen
gestattete, musste Isokrates gleichsam auf einem Umwege Alki-
biades loben, wozu ihm vielleicht die von Lysias verfasste
Verteidigung des Nikias als Vorbild diente. So entstand die
Rede „über das Gespann" (XVI.); Isokrates nimmt zum
Ausgangspunkt die Fiktion, der Sohn des Alkibiades sei von
Teisias, welchem jener zu Olympia ein Gespann wegnahm, zum
Schadenersatz vor Gericht gefordert und entgegne, nachdem er
die Anklage zurückgewiesen, auf die Schmähungen, welche
Teisias gegen seinen Vater geschleudert habe. Die Rede er-
scheint also wie der zweite Teil einer vor Gericht gehaltenen
Verteidigung. Wann immer man auch jene Gewaltthat ansetzen
mag, in jedem Falle war die Sache verjährt. Der Anfang der
Verteidigung wurde demnach nie geschrieben, weil der Process nie
1) Auf diese geht Isokrates nicht ein, wahrscheinlich weil bereits die
Gegenschrift des Lysias erschienen war (Meier index lect. Hai. aestiv. 1831),
2) § 19 wirft Isokrates den Spartanern vor, dass sie sich an fremdem
Eigentum vergreifen.
1Q6 Fünftes Kapitel.
stattfand 0- Gegen wen ist ferner die Rede geschrieben ? Be-
kanntlich existiert eine gegen den jüngeren Alkibiades gerichtete
Rede des Lysias (XIV.), in welcher sein Vater § 30 — 40 scharf
mitgenommen wird ; dabei stimmt besonders § 30 auffällig mit
§ 10 unserer Rede überein ^). Nun nennt Isokrates den An-
kläger Teisias, während der Geschädigte nach dem Zeugnisse
der Historiker^) Diomedes hiess, und es gibt schwerlich ein
passenderes Pseudonym für Lysias als den Namen des syra-
kusanischen Gerichtsredners. Die 395/4^) gehaltene Rede des ^
Lysias gibt einen termirms post quem ab ^). Isokrates hat ■■
übrigens schon durch die äussere Form der Rede zu verstehen "
gegeben, dass sie nicht für einen wirklichen Fall bestimmt
war. Wir finden alle Ingredienzien des Prunkstiles mit vollen
Händen angewendet, Antithesen (die zum Teil geistreich sind),
umfängliche häufig durch Participien geschwellte Perioden (z. B.
16. 26 f), gewählte Worte, Paare von Synonyma, Vermeidung
des Hiatus ^) und sorgfältige Rhythmik, wobei die trochäischen
Schlüsse beliebt sind; historische Genauigkeit darf man eben-
falls in einer epideiktischen Rede nicht suchen ').
Isokrates wich also als Schriftsteller anfänglich von den sophist-
ischen Traditionen nicht viel ab ; er selbst war, wie gelegentliche
Aeusserungen ^) erkennen lassen, darüber nicht im unklaren. Als
I
1) Dass im codex Urbinas ein Stück des Anfangs fehlt, beweist nichts ;
es ist nur ein Blatt ausgefallen. Br. Keil auall. Isoer. p. 95 f. will in Athen.
5, 215 e (welche Stelle übrigens nicht mehr aus Demochares ist) einen Hin-
weis auf den verlorenen Anfang finden. Vgl. für die Vollständigkeit Zycha
Wiener Studien 6, 23 flf.
2) Blass II 206 A. 6. Nach Sachse quaestt. I^ysiac. spec. Halle 1873
p. 30 ff. bezieht er sich auch auf die lysianische Rede gegen Poliochos.
3) Diodor. 13, 74, 3. Plut. Akib. 12, vgl Ps. Andocid. 4, 26. Ueber
die Identität Starke de Isocratis oratione npbq KaXXi(ia)(ov et Ttepl xoü
CtüYOüc, Posen 1856 p. 16 ff.
4) Blass I 486.
5) Dazu passt § 4 ttüv Se vewtepcDV evexa oi t&v |iJv izpaf\t.äxuiv ootepoi
6) § 42 ist durch doppeltes yj entschuldigt; § 50 Suv-fjoetat, i-fiü steht
im Epilog.
7) Wegen der Verdrehung dcsThatbestandes beanstandet von C. Chr. M a u v e
de oratione Isocratea quae inbcribitur de bigis, Arnheira 1878 (Diss. v, Leiden).
8) Ich meine die Auseinandersetzung über die Paradoxa in der „Helena",
ferner 11, 9 önoO'eoiv xaittep ob ortouSatav ouaav obhi oep,voüC Xöfooc e^oooav.
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 107
athenischer Bürger hatte er aber bei seinem Rednertalente das
Recht und beinahe die Pflicht, als politischer Redner in der
Volksversammlung aufzutreten; doch besass Isokrates weder
eine starke Stimme noch Keckheit, zwei Eigenschaften, welche
unter den unruhigen Athenern dem Politiker unerlässlich waren ^).
Ueberdies gehörte Isokrates zu den Bürgern, welche die Rück-
kehr zur Verfassung des Kleisthenes wünschten und mit den
Regierungsmännern nicht einverstanden waren. Da er sich
jedoch den Staatsmännern seiner Zeit an Einsicht und Bered-
samkeit überlegen fühlte, begann Isokrates für seine Ideen
durch Flugschriften, welche die Form von Reden wahrten,
Propaganda zu machen.
Diesen Gedanken erfasste Isokrates nicht mit plötzHchem
Uebergange, sondern er knüpfte wieder an die Schablone der
älteren Sophisten an. Gorgias war vor der olympischen Fest-
versammlung aufgetreten mit der Mahnung, die Hellenen möchten
den Bruderzwist aufgeben und ihre vereinten Kräfte gegen den
Perserkönig kehren; dieselben Gedanken hatten sie nach ihm
an den heiligen Stätten von anderen Rednern zu hören be-
kommen. Isokrates eignete sich jene Ideen an, lagen sie doch
damals nach dem schmählichen Ende des korinthischen Krieges
den Patrioten besonders nahe ; er trat indes nicht als Festredner
vor die Menge, sondern er richtete seine Worte, indem die
Fiktion einer wirklichen Rede festgehalten wurde *), an ein
lesendes Publikum. Während er die beliebten Gemeinplätze
der olympischen und Leichen-Reden ohne Bedenken wieder-
holte ^), wie es die Epiker einst mit den Formeln gethan
hatten, erkannte der Redner mit richtigem BHcke, dass solange
keine Eintracht zwischen den Staaten Griechenlands herrschen
könne, so lange nicht die Frage der Hegemonie zum Austrage
gebracht sei. Darum wird für den athenischen Patrioten der
1) 5, 81. 12, 9. 10; übertrieben bei Ps. Plut. 838 de. Anon. Z. 33fiF.
2) Darum meinte der Khetor Menandros (Spengel III 391, 3 flf. Walz
IX 251), er habe seine Rede in Olympia vorgetragen; L. Prell er Demeter
und Persephone S. 71 dachte an die Panathenäen. Aber Isokrates 5, 84 sagt
ausdrücklich : TrapsxaXeoojj.'/jv xoli; axouoo(jLEVoic (nicht axououot).
3) Vor allem natürlich gorgianische (s. Blass 11 S. 240 A. 2), was
Ps. Plutarch. 8371 und Philostrat. § 2 übertrieben, vgl. Theon progymn. p.
63, 31 Sp.
108 Fnnftes Kapitel
erste Teil seines Pan egyrikos ^) zu einer begeisterten Schil-
derung der Verdienste, welche sich Athen seit der mythischen
Zeit um alle Hellenen erworben habe; darum gebühre ihm
wenigstens zur See die führende Stelle. Der zweite Teil gilt
dem Perserkriege, dessen Erfolg unzweifelhaft sei. Isokrates
deutet selbst an, dass er lange an der Kede gearbeitet hat (§ 14.).
Die letzten Ereignisse, welche er erwähnt, sind die Belagerung
von Olynthos und Phleius (§ 126), deren Uebergabe 379 erfolgte;
dagegen ist nicht mit Bestimmtheit festzustellen, ob die Spartaner i
gegen Ende des Jahres 381 oder im Frühjahre 380 gegen ■■
Phleius zogen. Letzteres wäre der äusserste Termin der ■
Herausgabe, weil der kyprische König Euagoras, der 380 unterlag,
sich noch gegen die Perser hielt ^). Ist es nun auch bloss eine
rhetorische Floskel, wenn Timaios sagte, Alexander der Grosse
habe in weniger Jahren die Eroberung Asiens als Isokrates den
Panegyrikos vollendet % so hat doch sein Lehrer jedenfalls die
Schrift unter ganz anderen Umständen (wahrscheinlich in den
Friedensjahren 385 — 383) begonnen als er sie vollendete. Die
spartanischen Angriffe auf Olynth und Theben riefen in Athen
eine gereizte Stimmung hervor, welche sich bei Isokrates in
einer bitteren Schilderung der lakedämonischen Säbelherrschaft
spiegelt*); der Redner verkennt selbst nicht (§ 129), dass sie
zu seinen versöhnlichen Absichten wenig passe. Er arbeitete
eben zu langsam als dass er nicht von den rasch sich drängenden
Ereignissen überholt worden wäre^). Obgleich demnach die
1) Mit diesem Namen bezeichnet ihn Isokrates selbst 6, 9 und 12, 172.
Für die rhetorische Beurteilung ist die Üebersetzung , welche Wieland im
Attischen Museum I 1 von der Rede gegeben hat, interessant.
2) § !41. Vgl. Blass II 230 f., der dem Diodor (15, 8) einen Irrtum
nachweist, s. jedoch III 2, 350 f.
3) llepl ß^J^ooc 4, 2; Pedanten errechneten daraus zehn Jahre (FI. otj^ooc
a. O. Dionys. compos. verb. 26 ü><; ol xiv e).a/taxov •;(p6vov YpäcpovTEi; ötTtotpatvooai
(Quintil. 10, 4, 4]. l's. Plut. 837 f; anders erklärt Keil anall. Isoer. p, 6
A. 1 die Zahl) oder fast drei Olympiaden (Plutarch. glor. Ath. 8 p. 350 e)
oder fünfzehn Jahre (ol U bei Ps. Plut. a. O.). Tzetz. Chil. 11, 672 übertrug
dies auf den Panathenaikos.
4) Nitsche Ztsch. f. Gymna.sialwesen, Jahresberichte 1874 S. 59 glaubt,
Isokrates bekämpfe die erste Ausgabe von Xenophons Hellenika.
6) W. Heinr. pjugel de tempore quo divulgatus sit Isocratis panegyricus,
Stargard 1861 und Rauchenstein in seiner Ausgabe S. 21 f. nahmen
w^en Diodor (s. Anm. 2) an, die Rede sei 385/4 abgeschlossen worden und
Die Vollendutig der Kunstrede: Isokrates. 109
Rede zu spät kam, war der Erfolg grossartig; Isokrates, der
schon zur Zeit der Abfassung ein angesehener Lehrer war *),
übertraf mit dem Fanegyrikos alle bis dahin aufgetretenen
Redner und er hat in rhetorischer Beziehung diese Höhe später
vielleicht nie mehr erreicht.
Bald nachher bot sich Isokrates eine Gelegenheit für
politisches Wirken, Euagoras von Salamis, welcher ohne selbst
gebildet zu sein , mit den Vertretern der hellenischen Bildung
Fühlung suchte, hatte seinen Sohn Nikokles zu Isokrates ge-
sandt ^). Als dieser durch den Tod des Euagoras Ol. 101, 3
(o74/3) die Herrschaft erhielt, glaubte sich Isokrates verpflichtet,
seinen Schüler über die Pflichten eines Fürsten zu belehren.
Die Rede an Nikokles (H.) ^) ist also ein Fürstenspiegel;
wie so häufig, ersetzt Isokrates den Mangel an Komposition
durch sorgfältige Ausführung des einzelnen. Doch lässt der
spröde Gegenstand seinen Redefluss nicht recht zur Entfaltung
kommen.
Etwas später"*) sandte Isokrates an seinen fürstlichen Zög-
ling ein zweites Sendschreiben , welches ein Enkomion auf
l^]uagoras (IV.) enthielt-''). Er hebt mit Selbstgefühl hervor,
<iass er damit der Redekunst ein neues Gebiet eröffne (§ 5 ff".)
und wirklich verherrlichten die Früheren ausser den mythischen
Heroen höchstens Helden der Perserkriege. Isokrates will nun
Isokrates habe § 125 — 132 erst später eingelegt, dabei aber § 141 zu ändern
vergessen. Wie mir scheint, wollte Isokrates auft^ngs nnr die üble Behand-
lung der ehemaligen Unterthanen Athens rügen, vgl. § 122 und 132.
1) Für Isokrates war ohne Zweifel Athen eine Bildungsstätte von Hellas
(§ 50) deshalb, weil er sich selbst iu hervorragendem Maasse daran beteiligt
wusste. — Nach Aelian. var. bist, 13, 11 begeisterte der Panegyrikos Philipp
und Alexander den Grossen zum Perserkriege ; er hätte deu „Philippos"
nennen sollen (Argum. V.).
2) Isoor. 9, 78.
3) Hpöc NixoxXea, auch mit dem Zusätze uspl xoü ßaatXeusiv oder Tcepl
yAZ'.Ktiaz. Harpocr. v. 0EOY''''^ • iv xalzTcpbf: ^iv.ov.Xia ()Tzo8"r\v.a.'.z, H.Stephanus
zweifelte, ob diese Rede von uuserem Isokrates herrühre.
4) § 78. Er war schon alt (§ 73). Nach § 78 ist die Rede vor 363
wo der Isokrateer Klearchos die Ty^nnis errang, geschrieben. Nikokles soll
Isokrates zwanzig Talente für die erste Rede geschenkt haben (Hermipp. im
Argum. IL, vgl. Ps. Plut. 838 a). Isokrates an seinem Hofe Ps. Plut. 838 f.
ö) Der Titel lautet einfach EüaY°P«'5-
HO Fünftes Kapitel.
auch den Männern der jüngsten Vergangenheit diese Ehre er-
weisen und wählt dazu Euagoras, wobei er nach dem übHchen
Schema sein Leben von der Geburt bis zum Grabe verfolgt.
Leider fehlte dem Rhetor die persönliche Bekanntschaft mit
seinem Helden, weshalb er individuelle Züge durch Allgemein-
heiten und Hyperbeln ersetzen musste ^).
Bald wandte sich Isokrates , dessen Erwartungen von
Nikokles nicht gerechtfertigt wurden, den Vorgängen in Hellas
zu und behandelte sie, vielseitig wie er war, wieder in neuer
Form. Es folgten zwei Reden, bei welchen er nicht selbst der
Sprechende ist. Die eine, die platäische (nXaxaixöc XIV.)
scheint Isokrates wirklich für eine Gesandtschaft der Platäer
geschrieben zu haben ^) ; denn wenn er auch das Schreiben von
Reden im Prinzip aufgegeben hatte, handelte es sich ja hier
um eine wichtige politische Angelegenheit. Die Platäer flehten
nämlich gleich nach der Zerstörung ihrer Stadt, welche 01.101, 4
(373/2) oder 101, 3 (374/3) 3) durch die Thebaner erfolgte, die
Athener um Schutz an, wobei sie die Aufgabe hatten, die Vor-
würfe der Thebaner zurückzuweisen, die beschworenen Verträge
anzurufen und in Athen eine günstige Stimmung für sich her-
vorzubringen. Isokrates musste hier die in der Volksversamm-
lung übliche Redeweise wählen und der sorgsamen Ausfeilung
entsagen, schon weil die Zeit der Vollendung nicht in seinem
Belieben stand. Trotz seinem geschickten Plaidoyer ver-
hinderten Gründe der Pohtik, dass die Platäer ihren Zweck
erreichten.
1) § 58 S. verschweigt er sogar die Hilfe, welche Euagoras von den
Athenern erhielt.
2) Dies nimmt Grote Geschichte Griechenlands V 437 M. an. Die
meisten Gelehrten (auch Bloss II 242) sehen in ihr eine Deklamation; aber
vaticinationes ex eventu sind thatsächlich nicht vorhanden, denn die Zer-
störung von Thespiai (§ 18) und den erneuten Krieg mit den Spartanern
(§ 17. 43.) musste jeder Politiker damals befürchten. Die Platäerrede des
Thukydides ist gar nicht benützt.
3) Ersteres gibt Tausanias 9, 1, 8 au, letzteres Diodor 15, 46 (mit Zu-
stimmung von Clinton, Benseier in der Ausgabe 8. 11, G. Busolt Jahrbb,
f. Phil. Suppl. 7, 786 und Blass III 2, #511'.); wegen oüvö-rjxai 10. 44 und
elfiTjv/jc § 14 (vgl. Weisseuborn Ztsch. f. Alterthumswiss. 1847 Sp. 921 und
E. Curtius Griech. Gesch. IIP 776 A. 24) war der Friede von 374 bereits
geschlossen.
Öie Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 111
Die Platäerrede dürfte also einem praktischen Zwecke ge-
dient haben, das Gegenteil jedoch steht bei dem Archidamos
VI.)*) fest; hier dachte sich Isokrates, der spartanische Kron-
prinz Archidamos ermahne im Jahre 365^) die Spartaner, die
Abtretung Messeniens um keinen Preis zuzugeben, sondern
lieber ihre Familien aus dem Lande zu senden und den Wider-
stand bis zum äussersten fortzusetzen. Weil Isokrates gerade
Archidamos und nicht seinen berühmten Vater auftreten lässt,
scheint die Rede erst nach dem Tode des Agesilaos (360) ab-
Liefasst zu sein^). Trotzdem war sie nicht ohne politische Be-
deutung, da die Spartaner auf Messenien nie verzichteten und
nach Epameinondas' Tode neue Hoffnungen schöpften; vor
allem aber wollte der Reder dem befreundeten Könige ein
Kompliment machen und den spartanischen Staat preisen *),
damit die herben Stellen des Panegyrikos vergessen würden.
Wir haben es also eigentlich mit einer kunstreichen Verschleier-
ung der panegyrischen Absicht zu thun. Darum hält sich
Isokrates nicht im mindesten an den Stil der Staatsreden,
sondern bietet seine ganze sophistische Kunst auf, wofür die
Alten der Rede das höchste Lob gespendet haben ^).
Isokrates hatte sich bisher, was die Verhältnisse seiner
Heimat betraf, jeder Einmischung enthalten; als jedoch nach
dem Sturze des Kallistratos des Redners Göimer Timotheos
grösseren Einfluss gewann und Eubulos mit der Partei der
vermögenden Bürger seine Friedenspolitik durchzusetzen ge-
dachte, war die rechte Gelegenheit für den Schriftsteller gekommen.
In zwei Reden setzte er seine und jener Staatsmänner Ansicht
über die innere und äussere Reform des athenischen Staates
auseinander. Von der auswärtigen Politik zu sprechen, gab
1) Analysiert von Volkmann Khetorik der Griechen S. 255 ff. ; nach
Dionys. Isoer. 9 wurde sie wirklich von Archidamos gehalten und Bruno Keil
versetzt sie in das tiugierte Jahr.
2) Nach der Wiederherstellung Messenes (28 f.) und vor der Schlacht
von Mautineia (56),
3) Ueber das Todesjahr des Agesilaos U n g e r Chronologie des Manetho
S. 311 ff. Wenn Demosthenes in der ersten philippischen Rede wirklich das
Proömium des Isokrates und nicht einen Gemeinplatz benützte, dann ist
auch die untere Zeitgreuze gegeben.
4) Isoer. panath. 239.
5) Philostrat. vit. soph. 1, 17, 3.
212 l^'ünfles kapitel.
der Abfall der Bundesgenossen Athens einen traurigen Anlass.
Isokrates versetzt daher seine Leser in die Volksversammlung,
welche über den Friedensschluss 7a\ entscheiden hatte. Doch
wird diese äussere Einkleidung der Rede über den Frieden
(VIII.) ^) nur flüchtig angedeutet (§ 16. 25), denn statt dass
Isokrates die Gründe, welche zum Frieden drängten, oder die
Bedingungen des Friedens prüft, will er die Ansichten des
Eubulos empfehlen. Dieser Aufgabe entledigte sich der Redner,
obgleich er selbst im Panegyrikos einer anderen Politik das
Wort geredet hatte, mit einer Schärfe des Ausdrucks, die er _^
nur einem gedemütigten und fast ruinierten Volke , wie es die ■■
Athener damals waren, bieten durfte. Isokrates war, als er
die Rede schrieb, schon über achtzig Jahre alt, welch' ehr-
würdiges Alter die Schwächen der Rede entschuldigen darf;
sonst verdienten die ermüdenden Wiederholungen Tadel, nach
§ 74 verliert nämhch der Redner vollständig den Faden.
Das athenische Volk war gegen eine scharfe Behandlung
der auswärtigen Angelegenheiten nicht allzu empfindlich ; aber
wie Demosthenes, der dem Volke über die Kriegführung bittere
Wahrheiten sagte, über die inneren Einrichtungen schwieg oder
sich mit der äussersten Vorsicht ausdrückte, so wählte Isokrates
den mildesten Ton, als er in der Rede vom Areopag ('Ape-
QTzoLfiziv.ör: VII.) die Verfassung Athens prüfte. Er versuchte
nämlich den Nachweis, dass Athen in das Unglück gekommen
sei, seitdem man die alte Verfassung des Solon und Kleisthenes
geändert habe, besonders aber, weil die Befugnisse des Areopag
geschmälert worden seien. Die Fiktion einer öfienthchen Rede
wird die ganze Schrift hindurch festgehalten; aber den Ilaupt-
1) llepl elp-fjvTjc; Aristoteles nannte sie oü|Xfia/tx6? rhet, 3, 17 p. 1418a
32. Vgl. Thirlwall histoi-y of Greece V 315 ff. Der Friede wurde wahr-
scheinlich am Anfang von Ol. lOG, 2 = 355 abgeschlo-ssen (U. Köhler Mit-
teilungen des deutschen archäologischen Institutes in Athen 6, 30 ft.).
2) Man begreift daher, daas viele die Rede längere Zeit vor den Ab-schluss
des Friedens setzten, nämlich an den Anfang des Krieges (Leloup Isocratis
oratio de pace, Mainz 182G; Schill bach de Isocratis oratione quae inscribitur
Tttpl Bip-fjVTj':, Progr. V. Potsdam 1868), in das zweite Kriegsjahr (Brequigny,
Auger, Clinton und Weissenboru, ungefiihr ebenso Eules über die Abfassungs-
zeit der isokrateischen Friedensrede, Pr. v. Corbach, Mengeringliausen 1833)
oder sogar vor den Abfall (Christian Isokrates' Werke Stuttg. 1832 I
S. 413 ff. Oncken Isokrates und Athen S. 180).
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 113
teil (§ 20 — 55) nimmt eine idealisierende Schilderung der guten
alten Zeit und des segensreichen Wirkens der Areopagiten ein,
womit er, um nicht in den Ruf eines Oligarchen zu kommen,
eine Lobrede auf die Demokratie verbindet (§ 56 — 70). Der
Redner haftet überall nur an der Oberfläche und dringt nicht
tiefer ein. Während die Rede im allgemeinen den Frieden mit
den Bundesgenossen und die 355 sich kundgebende Feindschaft
des Perserkönigs voraussetzt ^) und jedenfalls nach der Friedens-
rede geschrieben ist % stammen § 1 — 7 aus einer Zeit, wo die
Athener noch über zahlreiche Bundesgenossen geboten und
nichts zu befürchten hatten. Isokrates begann also die Rede
vor dem Bundesgenossenkriege und übersah später die Differenz.
Die Rede scheint von den Demokraten nicht wohlwollend auf-
genommen worden zu sein, denn Isokrates schweigt von ihr in
der Antidosis •'').
Seinen Gesinnungsgenossen war auch daran gelegen , dass
Athen zu Philipp von Makedonien in ein freundschaftliches
Verhältnis kam; nun konnte der berühmte Schriftsteller mög-
licherweise bei dem Fürsten, der Interesse an der hellenischen
Bildung vielleicht mehr zeigte als besass, leichter den Boden
für Verhandlungen ebnen als die offiziellen Vertreter des Volkes.
Wenn nur Isokrates nicht so langsam gearbeitet hätte 1 Ehe er
mit seinem Sendschreiben au Philipp (V.)*) zu Ende
kam, schloss Athen mit dem Könige notgedrungen Frieden ^),
Nichts destoweniger veröffentlichte er es nach rascher Umar-
beitung ^). Von Phihpp hoffte Isokrates jetzt die Ausführung
dessen, was er im Panegyrikos Athen zugedacht hatte, die
Versöhnung der Griechen und den Herserkrieg. Dem erfahrenen
Staatsmann und Feldherrn gegenüber spielte er dabei eine
etwas lächerUche Rolle, was ihm selbst nicht ganz entging
1) Vgl. Schäfer Demosthenes und seine Zeit I S. 151 A. 1.
2) Vgl. § 74—77 mit 9, 94.
3) Pfund de Isocratis vita et scriptis p. 21 schliesst daraus, sie sei
erst nach dieser Eede ausgegeben worden.
4) <i>iXcnT:oc, bei Harpokration meistens 4>tXiK7tix6(; genannt, lieber das
Schreiben vgl. Arn. Schäfer Demosthenes und seine Zeit II 221 ff.
5) Dies sagt er selbst § 7, vgl. 56.
6) Der phokische Krieg war noch nicht zu Ende (§ 54 f. 74), vgl.
Clinton fasti Hellenici zu 346.
S i 1 1 1 , Geschichte der griechischen Literatur. H. 8
114 i^nftes Kapitel,
(§ 105). Auch diese Rede leidet wieder an dem grossen Mang€
dass Isokrates nicht zur rechten Zeit zu schliessen wusste; in
Hinsicht auf die Detailausführung entliält sie eine merkwürdige
Aeusserung (§ 27): ,,Ich habe auf Wohllaut und Farbenspiel
der Sprache (tat? ■jcspi djv Xs^iv eoppo^jiiaiq v.cd TioixtXtaic) nicht
gesehen, die ich in jüngeren Jahren anwendete und meinen
Schülern empfahl , damit ihre Reden anmutiger und über-
zeugender seien, doch jetzt bin ich alt und kann es nicht
mehr, sondern es ist mir genug, wenn ich bloss die Gedanken
einfach darlegen kann." Aber was einer so viele Jahre Tag
für Tag geübt und gelehrt hat, wird, zumal in hohem Alter,
nicht leicht abgelegt. Die Technik unterscheidet also die Rede
nur wenig von der früheren ; dagegen fühlt der Leser das Alter
in dem Mangel harmonischer Klarheit.
Der nämliche Mangel entstellt noch mehr den P a n a-
thenaikos (XII.), der in der Literaturgeschichte einzig da-
stehen dürfte; wurde er doch von einem vierundneunzigjährigen
Manne (kurz vor den Panathenäen Ol. 109, 3=342) in Angriff
genommen und drei Jahre später (339) vollendet ^). Das Alter
machte sich freilich sehr bemerkbar. Das Vorgefühl des nahen
Todes treibt zunächst Isokrates (§ 1 — 35), seine Anschauungen
über Bildung in das rechte Licht zu stellen, worauf er, ganz
unvermittelt, eine Lobrede auf Athen beginnt, das auf Kosten
Spartas erhoben wird (§ 35 — 198); ein Agamemnon behandelnder
Exkurs (§ 74 — 87) wird auch durch die wortreichen Entschul-
digungen nicht gerechtfertigt und Isokrates gesteht selbst seine
Verwirrung ein ^. Statt nun die Rede mit einem passenden
Epilog zu beenden, wendet er sich zu einer persönlichen Ange-
legenheit": Isokrates las nämlich jene Schrift einigen Schülern vor,
die davon natürlich höchst befriedigt waren (§ 199. 200). Als aber
ein oligarchisch gesinnter Isokrateer, ein Bewunderer der Spar-
taner^), sein Urteil abzugeben hatte, geriet er mit seinem Lehrer in
1) Diese Angaben des Schriftstellers selbst sind bei Ps. Lucian. [lavipoß.
23 und Ps. Plut. 837 e entatellt.
2) § 88. Schäfer Deniostheues UI 6 und Blass 11 294 vermuten, er
habe Philipp vor Angen gehabt.
3) Vielleicht Dioskorides, welcher über den lakonischen Staat schrieb
(Plut. Lycurg. 11, 7. Athen. 4, 140 b f.); so meint Bergk fünf Abhandlungen
S. 26 A. 1.
Die Vollendnng der Kunstrede: Isokrates. 115
Streit, wobei sich der letztere zu heftigen Angriffen auf Spartas
Einrichtungen und Pohtik (§ 200 — 230) hinreissen Hess. Da
Isokrates jedoch bald seine Heftigkeit bereute, versammelte er
alle Schüler. Als sie die Rede mit lebhaftem Beifalle auf-
nahmen, erhebt sich jener Ohgarch und erklärt, er denke
jetzt über die Rede des Isokrates anders. Die Herabsetzung
der Spartaner sei nur scheinbar und sein Meister habe über-
haupt nur dem oft behandelten Thema, indem er Athen mit
dessen Nebenbuhlerin verglich, eine neue Seite abgewinnen
wollen. Nachdem er hierauf ein Enkomion Spartas skizziert
hat (§ 253 — 259), schlägt er vor, die Rede zwar zu veröffent-
lichen, aber den spartanischen Verehrern des Isokrates zu Liebe
jene Debatten beizufügen. Isokrates billigt diesen Vorschlag,
ohne wie er selbst geheimnisvoll bemerkt (§ 265), die Richtig-
keit jener Annahme zu erörtern. Aber die Gedanken und
Hoffnungen, welche ihn bewegten, sprach gewiss jener Schüler
aus, als er sagte (§ 260 f.): ,,Ich muss dich glückhch preisen,
denn, wie mir scheint, wird dir noch bei Lebzeiten zwar nicht
grösserer Ruhm als du verdienst — dies wäre ja kaum mög-
lich — aber bei mehr Menschen und mit geringerer Anfechtung
als bisher zu Teil werden, nach dem Tode aber ist dir die
Unsterblichkeit gewiss, wie sie ausgezeichnete Menschen, von
den kommenden Geschlechtern nicht vergessen geniessen, und
du verdienst sie; denn beide Staaten hast du herrhch und
würdig gelobt, die eine nach dem Sinne der Menge, welche kein
Vernünftiger missachtet, sondern auf alle Weise für sich zu
gewinnen sucht, die andere aber nach der Erwägung der tiefer
blickenden Männer, deren Beifall mancher dem der Menge vor-
zieht, mag auch diese weitaus zahlreicher als jene sein". Der
greise Redner wollte also in dem Andenken der Spartaner wie
der Athener als der ausgezeichnetste Lobredner ihrer Städte
fortleben; aber seine angebliche Neutralität, die er § 266 ff. in
gewundenen Phrasen entschuldigt, war eher beide zu verstimmen
geeignet; die starke Selbstgefälligkeit mag man dem gefeierten
Patriarchen der Rhetorik verzeihen. Wiederholungen und eine
gewisse Gedankenarmut, welche in der Benützung der früheren
Reden hervortritt^), sind bei dem hohen Alter des Verfassers
1) Nachgewieseu von Blass 11 298 A. 7.
116 Fünftes Kapitel.
begreiflich; aber die Schrift ist bei weitem mehr wunderlich
und seltsam als gelungen.
Dies sind in chronologischer Ordnung die politischen
Schriften, die uns aus der Feder des Isokrates überliefert sind ;
es bleibt somit nur eine echte Rede, welche unter keine der
bisher besprochenen Kategorien fällt, sondern gleichsam das
literarische Testament des Isokrates ist, übrig, die Rede über
den Vermögenstausch (xspl avtiSöoewt: XV.) ^). Die Volks
meinung legte Isokrates, dem Lehrer vieler reicher Fremder,
ein ungeheueres Vermögen bei ; da er sich aber nicht dazu be
kannte, war er Steuerprozessen ausgesetzt. Den ersten gewann
er ^), aber Lysimachos nötigte ihn durch einen zweiten Prozess
zur üebernahme einer Trierarchie ^). Da der Redner der An-
sicht war, dass zur Verurteilung wesentlich die über seine
Lehrthätigkeit verbreitete missgünstige Ansicht beigetragen habe,
entschloss er sich, wie er in einer förmlichen Vorrede aus-
führlich auseinander setzt, zweiundachtzig Jahre alt (§ 9) seine
Grundsätze öffentHch darzulegen. Isokrates wählte die Fiktion,
er sei, ähnlich wie einst sein Lehrer Sokrates, angeklagt, die
Jugend durch den rhetorischen Unterricht zu demoralisieren
und dem Unrechte zum Siege zu verhelfen (§ 30); so war er
gleichsam von den Umständen genötigt, sich selbst zu loben,
was man ihm sonst verdacht hätte. Deshalb behielt Isokrates,
auf seine neue Idee nicht wenig stolz, die Annahme einer
üerichtsrede sorgfältig bei und machte sie im Stile gelegentlich
fühlbar ^). Die eigentliche ohnehin schon sehr lange Vertei-
digung (§ 14 — 166) wird mit einer ebenso umfangreichen Rede
verbunden, in welcher die Grundsätze seiner Kunst [tpiKooo'f ia.)
entwickelt werden (§ 167 — 290); Isokrates wiederholt dabei
einige Glanzstellen aus älteren Reden. Die ungeheure Schrift
macht uns besser als eine andere seiner Werke mit dem
1) Em. Havet introduction au diseours d' Isocrate sur rantidosis,
Paris 1863; Georg Schlüter argumentum et structuram Isocrateae de per-
mutatione bonorum orntionis explan., Progr. v. Hildesheim 1869.
2) Ps. Plut. 839 c erzählt, dass ihn Aphareus gegen den Ankläger
Megakleides verteidigt«.
3) Isokrates wurde vor Gericht gewiss wieder von seinem Adoptivsohn
vertreten (B a k i u s scholica bypomnemata III 64).
4) Blass U 287 A. 4.
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 117
Menschen und dem Redner Isokrates bekannt; da nun seine
Persönlichkeit nicht viel interessantes hat, übt die Länge der
Rede eine bedenkliche Wirkung auf den Leser aus. Es gelang
ihm freilich ausnahmsweise, eine Disposition durchzuführen und
sich nicht auffallend zu wiederholen, aber was soll man denken,
wenn der Verfasser selbst (§ 12) den Rat gibt, die Rede in
Abschnitten zu lesen?
Diese Reden, die gerichtlichen ungerechnet fünfzehn an
der Zahl, machen den literarisclien Nachlass des Isokrates aus;
während ein echtes Werk dank den zahlreichen Bewunderern,
welche jedes Zeitalter ihm zuführte, nicht untergegangen zu
sein scheint ^) — denn die Menge von Gerichtsreden will im
Munde eines gereizten Gegners, mag er auch ein Aristoteles
sein, nicht viel besagen ^) — drängten sich vielmehr Schüler-
arbeiten in die Sammlung ein.
Das Sendschreiben, welches Nikokles von seinem Lehrer
empfing, belehrte ihn über seine Pflichten gegen die ünterthanen ;
war es nicht natürlich, dass ein Royalist auch in Erinnerung
brachte, welche Pflichten ein Volk gegen seinen Fürsten hat?
So entstand, wie ich glaube, der sogenannte Nikokles (III.).
Die Rede hält angeblich Nikokles an seine versammelten ünter-
thanen ^), welche vorher die von Isokrates ihrem Könige ge-
sandte Rede angehört haben sollen, und zwar nicht etwa, wie
man denken sollte, nach seiner Thronbesteigung, sondern nach-
dem er längere Zeit regiert hat (§ 31. 63). Welch' seltsame
Situation, über die uns ,, Isokrates" nicht einmal, durch eine
erläuternde Vorrede aufklärt! Obendrein weiss sich der Ver-
fasser nicht recht in sie zu schicken: Schon die Einleitung,
welche die Redekunst verherrlicht, passt für manche andere
Rede des Isokrates besser; und im weiteren hören wir weder
einen Ünterthanen des Perserkönigs (§ 23) noch den Beherrscher
eines kleinen Fürstentums (§ 57) sprechen^). Selbst wenn man
1) Ueber Sentenzen Br. Keil analecta Isoer. p. 101 flf. doch s. S 102.
2) Auch weiss man nicht, ob er den 9, 57 versprochenen Nachruf auf
Konon schrieb.
3) Der Verfasser der Inhaltsangabe gebraucht die dürftige Auskunft, er
habe sich an die Vornehmsten gewendet.
4) Für Isokrates passt auch die skeptische Auffassung der Götter (§ 26)
nicht. Ein formeller Beweis der Unechtheit liegt ausserdem in den Eingangs-
113 Fünftes Kapitel.
dies alles hingehen lässt, würde doch kein Athener, am wenigsten
der Verfasser des Panegyrikos, sich dazu verstanden haben,
Syrakus für die grösste der hellenischen Städte (§ 23) zu er-
klären; eher möchte dies die Heimat des Verfassers nachweisen,
zumal da er gleich darauf die Verfassung Karthagos der spar-
tanischen gleichstellt und daneben wohl auf die römische
Diktatur anspielt. Wenn auf das Schweigen des Harpokration
Gewicht zu legen ist, zweifelten auch alte Gelehrte an der
Echtheit der Rede ^). Diese ganze Deduktion wäre umsonst,
wenn Isokrates in der „Antidosis" diese Rede wirklich citiert
hätte; es spricht aber alles dafür, dass jener Rhetor die schöne
Stelle jener Schrift dem Proömium wörtUch einflocht ^).
Eine gelegentliche Aeusserung des Rhetors (5, 81), er habe
an den jüngeren Dionys ein Sendschreiben abgehen lassen,
führte zur Erfindung eines solchen, doch beschränkte sich der
Fälscher auf die Einleitung (jetzt als I. Brief bezeichnet), wie
er oder ein anderer von ähnlichen Sendschreiben an die
Kinder des lason (VI.Brief) und an Archidamos(IX. Brief)
auch nur die Einleitung verfasste. Davon unterscheiden sich
die eigentlichen Briefe, welche nach derselben Schablone wie
die anderer berühmter Griechen gefertigt sind. Die Diadochen-
zeit brachte Isokrates in vier Briefen mit Makedonien in Ver-
bindung; sie sind an Philipp (IL III. )^), Antipatros (IV.)
und Alexander den Grossen (V.) gerichtet. Dazu kommen
Schreiben an seinen Freund Timotheos (VII.; und an die
Beamten von Mytilene (VlIL). Der Verfasser hat sich den
Stil des Isokrates so zu eigen gemacht, dass hervorragende
Kenner an der Echtheit nicht zweifelten^). Naiv ist aber im
I
Worten, die aus der Helenarede entlehnt sind; jede Rede des Isokrates hat
sonst ihren eigenen originellen Anfang.
1) Em. Havet a. O. p. 235 setzt sie in die makedonische Zeit; auch
H. Stephanus und Auger verwerfen die Rede.
2) Abgesehen davon, dass das ganze Proömium zur Rede nicht passt,
beweisen die Worte des Isokrates Sreep xal iipoxepov elnov (§ 253) nichta ;
sonst citiert er ja die Reden ausdrücklich. Hier deutet er durch nichts an,
dass er eine ältere Rede citiert.
3) In einem ist der platonische Phaidros benutzt (Orelli antidos. 307);
den dritten kannte schon Hermippos (Argum. or. V. am Ende, wo das Zeugnis
älschlich auf den „Philippos" bezogen wird).
4) Sauppe Ztsch. f. Alterthumsw. 1836 Sp. 409 sprach zuerst Zweifel
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 119
sechsten Schreiben (§ 7) das Geständnis, dass die Gedanken
des Isokrates wiederholt werden^). Der letzte, an den jüngeren
Dionys gerichtete Brief gehört nicht zur Sammlung, sondern
ist mit anderen unzweifelhaft fingierten Briefen überliefert.
An den Nikokles übersandten Fürstenspiegel schloss sich
endlich eine zweite Rede (I.) an, welche, an Demonikos^),
mit dessen Vater Hipponikos der Verfasser befreundet war,
gerichtet, für den Privatmann Ijebensregeln zusammenstellt;
der junge Mann erhält in bunter Menge zahlreiche unge-
ordnete und ünverbundene Lehren, von denen der Verfasser
zuletzt selbst eingestehen muss, dass vorläufig nicht Alles für
den Adressaten passe. Die Rede an Nikokles, welche das allge-
meine Vorbild abgab, wird stark und nicht sehr geschickt be-
nutzt^); die Disposition ist des Isokrates nicht würdigt) und
die Sprache weicht vielfach von der isokrateischen ab % selbst
unattische Formen fehlen nicht *'). Diese in die Augen fallenden
Abweichungen entgingen auch den Griechen nicht, von denen
manche die Rede verwarfen ''); wenn aber ein Kritiker an den
r
aus; Frid. V ater quaestionum historic. fasc. I. de Isocratis qui fertur epistolis,
Kasan 1846 verwarf den ersten Brief; Aut. Westermann commentatio de
epistol. scriptoribus Graecis V., Leipzig 1854; Fr. Blass II 270 ff. 290 flf. u.
Rhein. Mus. 20, 10911. A^erteidigt die Echtheit; E. Heinr. Haupt de Isocratis
epistolis I. VI. VIII. Zittau 1873 (Diss. v. Leipzig) verzeichnet p. 29—39 die
Literatur; K. C. Jebb on the sixth letter of Isocrates, Journal of philology
V (1874) p. 266—68; über den vierten Brief Br. Keil anall. Isoer. p. 143 ff.
1) Epist. Socratic. 30, 13 wird Isokrates getadelt, dass er an jeden das-
selbe schreibe.
2) Upbz A7jfJL6vtv.ov (ü)i; sj^ei 6 noXbz y^ö-^oq, argum. war er ein Kyprier
nach Analogie des Nikokles, mit welchem ihn Constaut. Porphyr, them. 15
und Tzetz. Chil. bist. 382 verwechseln) ; die Rede wird gewöhnlich Jiapaiveasic
citiert (Keil S. 74, doch bezeichnen Hermog. II. p. 437, 21 und Argum. or. 1
damit die ganze Gattung); napaivEatc Dionys. rhet. 5, 1; eittoToX-rj s. Keil
p. 99 ff.
3) E. Albrecht Philol. 43, 244 ff.
4) W.Jahr quaestiones Isocrateae, Halle 1881 p. 28— 41 kann, obgleich
er viel ausscheidet, keinen tadellosen Zusammenhang herstellen.
5) Am besten handelt darüber Jahr a. O., wobei o6v § 16 und xaXo-
v.a.'fa.d-ia. § 6. 51 besondere Hervorhebung verdienen; vgl. noch Phil. Weber
Entwicklungsgeschichte der Absichtssätze II S. 25.
6) § 16 ouvEtSYjGEiC) 44 elS-fjaeiCj 52 vcaO'iCävouaav.
7) Anon. Z. 52 ff. (p. 255 Westerm.), vgl. Argum. or. I. Für echt nehmen
unter den älteren die Rede an Dionysios (Isoer. 8 xa^' ixaoTov avSpa t8i«
120 Fünfte« Kapitel.
jüngeren Isokrates dachte^), dürfte er mit dieser Vermutung
das Richtige nicht getroffen haben; denn da das Hiatusgesetz
des Isokrates mehrere Male verletzt wird ^) und die gorgianischen
Figuren mehr als gut ist zur Anwendung kommen"), ist der
Verfasser nicht unter den unmittelbaren Schülern des Rhetors
zu suchen. Mehrere Stellen treffen wohl nur deshalb mit der
Rhetorik ,,an Alexander" zusammen, weil er bei der Zusammen-
stellung der Sprüche ältere Quellen benützte. Er schrieb vor
dem Fälscher der Phalarisbriefe *).
Dionysios von Halikarnass hielt im ganzen 25 Reden, also
die erhaltenen 21 und vier Sendschreiben, für echt; sein
Genosse Caecilius liess drei mehr zu. Die Alten besassen aber
im Ganzen sechzig Nummern. Die von jenen Kritikern ver-
worfenen Reden wären spurlos untergegangen, wenn nicht der
anonyme Biograph (Z. 126 ff.) die Titel von 2J Reden erhalten
hätte. Ausserdem las Hermippos einen Nekrolog auf Gryllos^),
den Sohn Xenophons, der aus dem nämlichen Gau wie Iso-
krates stammte. Es kann nicht auffallen, dass die Reden des
jüngeren Isokrates unter die Werke des Meisters gerieten*').
u. 10 Ttpbq . . . IStmtai;, vgl. rhetor. 5, 1), Hermogenes irpoY- 3 p. 23, 25 Sp.,
und Chalcidius (Wrobel Ztsch. f. österr. Gyrau. 26, 743 f.). Von den Neueren
verwerfen die Kede H. Ferd. Beyer de oratione ad Demonicum quae vulgo
Isocratis esse dicitur indole et auctore comment. I. Leipzig 1831 ; Ben seier
Jahrbb. f. Phil. 1860 II 121 ff.; Blass II 254ff., vgl. III 2, 252; Lehmann
van Lehnsfeld de oratione ad Deraonicum Isocrati abiudicanda, Leiden
1879; W. Jahr quaestioneslsocrateae, Halle 1881 (Diss.) ; spätere Ueberarbei-
tung nehmen an Aug. Pauly aliquot quaestiones Isocrateae, Heilbronn 1828
(Progr.) und Benseier de hiatu p. 36 ff.; Verteidiger fand die Rede an
O. Schneider in seiner Ausgabe S. VIff. und 0£oS. 'ÄY^uXituv (Henkel)
Tü>v Jtepl 'laoxpäTT) C'flt'fjaEcuv ßißXiov npihzav, Rudolstadt 1877 (Progr.).
1) Harpocratio v. enaxTÖi; opv.oq.
2) Benseier de hiatu p. 36.
3) Lehmann a. O. p. 24—36.
4) Blass II 267 A. 2; Henkel a. O. p. 28; Jahr p. 28*.
6) Dobree advers. critica I p. 559.
6) Diogen. 2, 65. Ueberliefert ist freilich louxpdTYjc, wofür Godofr.
Olearius Naoxpätvji; vermutete. Suidas v. x^^Cetv citiert 'laoxpatfjc ev tote
itpi? ElSod'eav.
7) Suidas führt als Reden des jüngeren Isokrates auf: 'AjjL«pixxoovtx6c
and «potpeTtxixöc; vielleicht sind auch irspl toö xaxoixtajioü MiX-rjatoK; und
icEpl Toü {jLexoixiad^vai eine und dieselbe Rede.
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 121
Die „Inselrede" (NTrjatwTtxöc) mag den achten Brief nach sich
gezogen haben.
Auf Grund jener für echt anerkannten Reden ein Bild von
der Kunst des Isokrates zu entwerfen und seine Bedeutung ab-
zuwägen, ist für einen modernen Gelehrten und besonders für
einen deutschen eine bedenkliche Aufgabe, wenn er nicht den
Geschmack einer so völlig verschiedenen Zeit zum Schaden der
historischen Wahrheit urteilen lassen will. Ist doch das Gefühl
für die Behandlung der Sprache einem Nichtgriechen kaum
erlangbar und unser Ohr für die Harmonie der Perioden und
den rhythmischen Fall der Satzglieder abgestumpft. Wer nun
in den Reden des Isokrates einen bedeutenden Politiker, einen
originellen Denker, einen scharf ausgeprägten Charakter sucht,
wird in das strenge urteil Niebuhrs und Sauppes ^) einstimmen.
Die Natur hat ihn weder den Genies noch den grossen Charak-
teren beigesellt , aber es sollte nie vergessen werden , dass
Isokrates zu seiner Zeit trotz der grossen Konkurrenz^) der
angesehenste Rhetor von ganz Grieclienland war. Die Gattung
der Beredsamkeit, der er sich widmete, wurde von den Griechen
ebenso hoch geachtet wie wir sie gering schätzen, und niemand
wird leugnen können, dass Isokrates für ihre Vervollkommnung
viel gethan hat. Nicht einmal der Vorwurf ist gerechtfertigt,
er habe die Kunstrede in das Schulziinmer gebannt und ein
Publikum von Lesern erzogen; Isokrates war nicht der erste,
welcher seine Rede schriftUch herausgab ^), sondern die am
Ende der Einleitung auseinander gesetzten Motive veränderten
die Wünsche des Publikums, weshalb Isokrates' Gegner so gut
wie er selbst ihre Reden verbreiteten*).
Feines Gefühl für das Schöne und unermüdeter Fleiss
wirkten bei den Reden des Isokrates zusammen. Als Bürger
einer Stadt, in welcher der gesunde Sinn der Einwohner alles
übertriebene und unnatürliche rügte, musste Isokrates von der
Ueberschwänglichkeit des Gorgias und seiner Schule abge-
1) Ztsch. f. Alterthumswiss. 1835 Sp. 403 ff.; ebenso Schröder quaestiones
Isocrateae p. 153 ff.
2) Die neuesten Reden waren die beliebtesten (15, 82),
3) Er gebraucM die Ausdrücke 8:aSio6vai (15, 87 193) und exSiSöv«: (15, 9).
4) Vgl. Isoer. 10, 8 ToX|j.(Jüa: -(pä'iisi'^; 11 xwv xoioü-cüjv auYYpwfJ-fAaxcuv.
14 töv •^pä'^avza.. 15, 61 toüc te i^potepov '(pä<^a.vxa.z Tcepl ttjv UKÖ^eatv xaüxfjv.
122 Fünftes Kapitel.
stossen werden. Ihre Kunstmittel sind bei ihm in der Regel
so massvoll angewendet, dass sie harmonisch wirken^).
Um mit dem Wortschatze zu beginnen, so rühmten die
Alten an Isokrates die Reinheit der Sprache (xa^apöv), worin
nur Lysias mit ihm wetteifern könne; er bediente sich der
Konversationssprache der gebildeten Athener und vermied alle
veralteten oder dunkeln Wörter ^). Bei diesem etwas beschränkten
Vorrate war der Redner darauf angewiesen, die synonymen
Begrifife nach dem Muster des Prodikos präcis abzugrenzen ^)
und immer die genau bezeichnenden Ausdrücke zu gebrauchen*).
Da Isokrates überdies seine Lieblingswendungen, die ihm überall
in die Feder kamen, hatte ^), bedurfte er eines ausserordentlich
feinen Taktes in der Zusammenstellung (oDV^eatc), um nie ge-
wöhnlich zu werden ^). Gorgias' Beispiel verleitete ihn nicht
zu jenen kühnen Metaphern, welche später nur Lächeln erregten;
denn es entging ihm schwerlich , dass sie eher für das erregte
Pathos als für den gemächlichen Fluss des epideiktischen Stiles
passten ^). Selbst der gebräuchlicheren Tropen bedient sich
Isokrates mit Mass ^). Wo sich der Tön erhebt, treten lieber
volltönende gewichtige Ausdrücke und schmückende Beiwörter
ein"). Isokrates stellte sich hierin also zu Gorgias in ent-
schiedenen Gegensatz und folgte mehr dem Beispiele des Thrasy-
. machos. Doch hat er diese geläuterten Anschauungen nicht
von vornherein gehabt; „Helena" und ,, Busiris", dem Inhalte
nach sophistische Kunststücke, verraten vielfach die gorgianische
1) Blass II 98 flf. analysiert ausführlich den Stil auf Grund der Urteile
alter Rhetoren (zusammengestellt bei Gottl. Ben. Schirac h de vita et genere
8cril)endi Isocratis, Halle 1765 disp. II); vgl. auch Ernst O. Gehle rt de
elocutione Isocratea I. Leipzig 1874.
2) Dionys. Lys. 2. 3. Isoer. 2. 11. Dem. 4. 18 u. ö. Hcrmog. n. t?. p.
277, 19. Vgl. was Isokrates 5, 4. 9, 9. 10 selbst bemerkt. Etwas seltenere
Wörter verzeichnet Gehlert a. O. p. 22 f.
3) Kurcptavoi; xa öcTCoppfjxa xoö 'looxpdxooi; p. 18 f.
4) Dies hiess axpißlc, axplßsta (vgl. Isoer. 6, 4).
5) 8. z. B. Werfer Acta philol. Mouac. I 253.
6) Menander p. 339, 14 fr. Sp.
7) Dionys. Dem. 18. Hermog. n. 18. 1, 12 p. 332, 17 ff. Sp., vgl. Isoer.
orat. 9, 10.
8) Dionys. Isoer. 11. Gehlert a. O. p. 29—35.
9) Vgl. Aristot. rhet. 3, 7 p. 1408 b 10 ff.
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 123
Schule. Später machte er sich aber mehr und mehr selb-
ständig, wiewohl manches sophistische haften blieb ^). Man
pflegt Isokrates häufig eine breite pleonastische Schreibweise ^)
vorzuwerfen , aber von den besten Reden wenigstens dürfte
gelten, dass der Redner, wenn er Synonyma verband oder dem
einfachen Ausdrucke Umschreibungen vorzog, bald die Symme-
trie der Satzglieder, bald den angenehmen Tonfall im Auge hatte.
Bei der Zusammenfügung der Worter beschränkte Isokrates,
wie es scheint, als der erste den Zusammenstoss von zwei
Vokalen auf eine beschränkte Zahl unvermeidlicher Fälle ^),
während seine Vorgänger gegen diese Härte unempfindlich ge-
wesen waren ; doch hatte Thrasymachos sie etwas einzuschränken
])egonnen. Auch Isokrates gelangte erst allmählig zu einem
strengen Gesetze*). Erging soweit, harte Zusammenstösse von
Konsonanten zu vermeiden^). Er verbot ferner seinen Schülern
zwei gleichlautende Silben (wie in skoöaa oa(pfi) auf einander
folgen zu lassen, ohne sich selbst von diesem Missklange ganz
frei zu halten^). Isokrates hat überhaupt, was die Griechen
unter aovO-s^tc verstanden, zur höchsten Feinheit entwickelt '^)
und doch pflegt die Wortstellung ungeachtet aller Sorge um die
Euphonie ziemlich regelmässig zu sein^). Die Alten rügten
l)loss eine gewisse Einförmigkeit und übertriebene Sorgfalt, die
bei den Schülern noch auffallender hervortrat^).
1) Dahin gehört z. B. der häufige Gebrauch des Plurals von Abstrakten
(Gebiert a. O. p. 20 f.).
2) Ueber die Pleonasmeu Jos. Strange Jahrbb. f. Phil. Suppl. 3, 573 fi.
Gehl e rt a. O. p. 24 ff. Namentlich sind Umschreibungen mit elvat, -([-(wod-al,
jtoislai^ai beliebt. Ungerecht ist der Autor von lltpl ut];ooc, 38, 2 hiä x-J^v
xoö Tzävxa ah^'i]v.v.ü}z ^.i'^nv (piXoxtfxiav ; billiger sagt Dionys 2. (Xe^ic) yf.zyo\}.i\>t]
TzXooaiiwz, aber ßpaoutlpa xoö [xsxpioo.
3) Ben seier de hiatu in oratoribus Atticis et historicis Graecis, Frei-
berg 1841 I p. 3—61; Blass II 132 ff. Der Hiatus ist z. B. bei nepi und xi ge-
stattet. Isokrates setzt des Hiatus wegen gerne 8:öxt, r^-d-lmio-i]-T:sp, xoioöxov
{= TO'.OÖXO) u. dgl.
4) Karl Schwabe de dicendi genere Lsocrateo, Halle 1883 p. 15 f.
5) Dionys. compos. 23 p. 185 11.
6) L. Spengel auvaY">Y"'l '^^/"■''"V p. IX— XXIII; Strang'a. O. S. 608 ff.;
Blass III 2, 346.
7) Dionys. comp. verb. p. 170 f. 184. de vi Demosth. c. 20. 40.
8) Hermog. tx. loediv p. 283, 21 ff. Sp.
9) Dionys. comp. verb. c. 19. Quintil. 9, 4, 35. 10, 1, 79.
124 Fünftes Kapitel.
Auch der Periodenbau verdankt Isokrates eine wesentliche
Vervollkommnung , weil er von den Aggregaten zahlreicher
kurzer Glieder, an welchen Gorgias Gefallen gefunden hatte,
abging und sie durch eine ebenmässige Folge klar gebauter
und gewissermassen architektonischer Perioden von nicht allzu
grosser Länge ersetzte^). Er gewann dadurch den Beifall des
Aristoteles, welcher aus ihm die Musterbeispiele für den Satzbau
entlehnte^). Der Philosoph empfiehlt im Zusammenhang damit
die in zwei Glieder (xwXa) geteilte Periode und scheidet die
zwei Arten der mit einfachen Konjunktionen (Si-jjpTjtxsvrj) und mit
korrespondierenden Partikeln (avTtxEt[i£virj) gebildeten Periode.
Für die letztere hat Isokrates, wie alle epideiktischen Redner,
eine besondere Vorliebe, weshalb man in seinen Reden die
Figur der Antithese häufig angewendet trifft^). Die kunstvolle
Rede basiert ja, wie die dekorative Kunst der Griechen*), auf
dem Grundsatze der genauen Entsprechung. Isokrates ver-
schmäht sogar nicht, Parallelismen und Antithesen künstlich
herbeizuführen, indem er zwei gesonderte Bemerkungen zu einer
einzigen verbindet (was besonders im Panegyrikos oft vorkommt)
oder heterogene Dinge vergleichend zusammenstellt^). Daraus
entspringt der Nachteil, dass er, um das rhythmische oder
rhetorische Gleichgewicht zu erhalten , leere Füllwörter und
Dehnungen zulassen muss ^). Der Einförmigkeit aber tritt
Isokrates durch die Forderung entgegen, zwei einander folgende
Sätze sollten nicht in der gleichen Weise eingeleitet werden ').
Gelegenthch schreckt er auch vor ungebührlicher Ausdehnung
der Perioden nicht zurück ^), indes entwirrt sie der Leser un-
schwer. Für den Vortrag passen sie freilich nicht recht'').
1) Cicero orator 13, 40 unterscheidet die Stufen der Entwicklung besser
als Demetrio.s k. £p|j.7jv. 12.
2) Aristot. rhetor. 3, 9.
3) Dionys. ars rhet. 1, 8. Quintil. 9, 3, 74. Peter Henu de Isocrate
rhetore, Köln 1861 (Diss. v. Halle) p. 32—35.
4) H. Brunn Phein. Mus. 6, 321 ff. 480 flf.
6) Theon Ttpof ojiväafj.. p. 92, 24 flf. Sp.
6) Dionys. Isoer. 3.
7) Maxim. Planud. Walz V 469, 13.
8) Z. B. im Panegyrikos 43 u. 44, 47—49 u. 64—56.
9) Der Peripatetiker Demetrios (Philodem. rhet. 4, 17) tadelte ihn des-
wegen ; auch Hieronymos meinte, sie seien angenehmer zu lesen als vor-
zutragen (a. O.).
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 125
Solchen Stilfragen widmete Isokrates die mühsamste Arbeit;
weit entfernt, eine bestimmte gleichbleibende Manier sich anzu-
eignen, war er fortwährend auf Verfeinerung bedacht, so dass
selbst in Kleinigkeiten eine allmälige Veränderung des Sprach-
gebrauches nachgewiesen werden kann^).
Was den üedankeninhalt der Reden anlangt, führt Isokrates
alle Gedanken voll aus und beleuchtet sie nach allen Seiten;
darum bleibt dem Leser nichts hinzuzusetzen und schroffe
Uebergänge sind höchst selten. Der Redner kündigt die Dis-
position häufig ausdrücklich an und beobachtet sie sorgsam ^).
Die Uebergänge zwischen den einzelnen Abschnitten werden
breit und voll markiert, indem Isokrates meistens das vorher-
besprochene rekapituliert und durch eine Antithese gleichzeitig
den Uebergang zu einem neuen Punkte gewinnt^). Uns Neuere
stören hauptsächlich die mit dem Thema gar nicht zusammen-
hängenden Episoden, welche meist in der Verherrlichung einer
Person bestehen"*); aber die Alten dachten nun einmal, wie
Aristoteles selbst bezeugt ^), über die Zulässigkeit derselben
anders. Freilich verdient die Komposition mehrerer im höchsten
Alter geschriebenen Reden entschiedenen Tadel %
Dies sind gewissermassen die Grundlinien des isokrateischen
Stiles ; es bleibt also noch der eigentliche Redeschmuck, der
,, Pomadetopf" des Isokrates''), darzustellen übrig. Der rhetor-
ischen Figuren "°) bediente sich Isokrates natürlich mehr als
die übrigen Attiker, doch weder im üebermass noch unge-
schickt; die Rhetoren pflegten daher aus seinen Reden Muster-
I
1) Für -Ts-tj vgl. Fujir Rhein. Mus. 83, 594 f.; anderes Karl Schwabe
de dicendi genere Isocrateo, Halle 1883.
2) Hermog. n. 18. p. 284, 1 ff., vgl. Otto Kohl de Isocratis suasoriarum
dispositione, Progr. v. Kreuznach 1874.
3) Sam. Lj u ngdal de transitione Isocratea, Upsala 1871 (die gerichtücheu
Reden sind von den epideiktischen nicht geschieden).
4) X. 21 fi. Theseus, 41 ff. Paris; XI. 21 ff. die ägyptischen Priester und
Pythagoras; XII. 72 ff. Agamemnon.
5) Aristot. rhet. 3,' 17 p. 1418 a 32.
6) Vgl. auch Schol. Isoer. 3, 1.
7) MupoO-rixiov Cic. ad Attic. 2, 1.
8) Gehlert de elocutione Isocratea p. 36 — 43; Diouys. 3 axTqixaxtCst ts
(popttxcü?, xal T« TCoXXa Y^fvexai (]/u)(p6c vj x(i) itopptu^-sv Xap.ßdv£tv ^ xö) p.7j
«psTrovxa eivat xa oj^-Jjjiaxa zolq TCpaYfJiaotv.
126 Fünftes Kapitel.
beispiele zu entnehmen ^), wenn auch manche in diesem Punkte
wiederum den Mangel an Abwechslung tadelten '^). Wie sich
Isokrates hierin zu Keinen Vorgängern verhielt, ist nicht klar;
dagegen scheinen bezüglich des musikalischen Klanges der
Sätze die Grenzen seiner Originalität ungefähr bestimmbar zu
sein : Von Gorgias lernte er gleichküugende Wörter unmittelbar
zu verbinden oder an das Ende zusammengehöriger Glieder zu
stellen, wenn er auch dem Uebermass des Erfinders fern
blieb ^). Mehr bot ihm Thrasymachos , über welchen Isokrates
darin hinausging, dass er den Hiatus strenger mied; in Bezug
auf den rhythmischen Tonfall der Sätze verhielt er sich aber zu
ihm wie bei den Gleichklängen des Gorgias, insofern er die
Uebertriebenheit des Vorgängers milderte; nichtsdestoweniger
wird man gelegentlich an Verse erinnert*).
Wie die Neueren, fühlten sich viele der Alten mehr ange-
zogen von der Kraft und Energie des Demosthenes oder der
naiven Schlichtheit des Lysias als durch seine Sorgfalt und
Glätte^). Aber ein unbefangener Betrachter wird nicht den
Mangel an Pathos^) rügen, wenn er erwägt, dass in einer für
Leser geschriebenen Rede ein anderer Ton als vor einer leicht
erregbaren Volksversammlung angeschlagen werden musste.
Die Kompliciertheit der isokratoischen Regeln bedingte, dass
der Rhetor an seinen Schriften gewöhnlich lange arbeitete; aber
schwerlich würden viele diesen Vorwurf erheben, hätte er nicht
persönlich mit Rücksicht auf seine Feinde erklärt, dass die
1) Z. B. Spengels rhet. Graeci III p. 152, 30 flf. Clemens npbc, MsptovuiJLOv
««pl t&v 'looxpaTixüiv a)(Y)fj.axtov Suid. vgl. Phot. u. Etym. Magn. v. CäXfj,
Phot. V, "Hpa?, TcaXt[ißoXo(: (Suid.).
2) Dionys. Isoer. 3 und Philonikoa bei Dionys. Isoer. 13. Eine Liebliugs-
wendung ist z. B. die mit xaixoc eingeleitete rhetorische Frage (L. Spengel
Isokrates und Plato S. 740.).
3) Dionys. Isoer. 2 extr. 14. Hermog. p. 332, 25. Anon. Z. 118 flf. Henn
de Lsocnite rhetore p. 37 — 41, z. B. (pYj|x-r]v xal jxvtjjjltjv, y^pr^\i.azix xal xtYjjjLcuTa.
Lucilius (Gell. 18, 8, 2) hat daher nicht Unrecht, wenn er solche Reime als
sokrateisch bezeichnet.
4) Z. B. 11, 11 (mit Ausnahme der kretischen Basis besteht der Haupt-
teil des Satzes nur aus Spoudeen, Daktylen und Choriamben). Vergl.
Dionys. Isoer. 2. K. Peter de Isocratis studio numerorum (Festschrift zum
60jährigen Amtsjubiläum Raspes, Parchim 1883 S. 8 — 19).
6) Dionys. Isoer. 3. Hermog. n. 18. p. 834, 19 u. A.
6) Dionys. Isoer. 2 extr. und Hieronymos bei demselben c. 13.
I
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 127
scheinbare Einfachheit seiner Reden das Ergebnis langer mühe-
voller Arbeit sei. Decken aber nicht die Forscher in der
neueren Literatur oft unerbittlich auf, wie sorgsam scheinbare
Improvisationen gefeilt seien? Mögen der Laie und der
Aesthetiker unserer Zeit Isokrates abfällig beurteilen, der
Historiker wird zugestehen, dass Isokrates, wiewohl er nirgends
neue Wege eröffnete, aus den Errungenschaften der vorher-
gehenden Generation das Treffliche herauszufinden und erheblich
weiterzubilden verstand. Fünfzig Jahre früher geboren, wäre
Isokrates' Name der Vergessenheit anheim gefallen, aber sein
Zeitalter bedurfte eines solchen Mannes, dessen Talente weniger
für die Erfindung von Neuem als für die Kritik des Gegebenen
geeignet waren.
Wiewohl demnach Isokrates auf den Schultern des Gorgias
stand ^) und den Titel ,, Sophist" nicht verschmähte, wirkte doch
der Umgang mit Sokrates bestimmend auf seine Anschauungen.
Während es den Sophisten gleichgiltig war, über welchen Gegen-
i^tand sie sprachen, forderte Isokrates die moralische Güte und
Würde des Stoffes '^) und beschäftigte sich , von seinen ersten
\'ersuchen abgesehen, nur mit Stoffen, die für das bürgerliche
Leben von Bedeutung waren ; daher wurden seine Beden später
als Handbuch der praktischen Lebensweisheit empfohlen ^). Die
unpraktische Vielwisserei und die hohle Eristik verspottete Iso-
krates; gleich Plato setzte er die Dichter zurück, freihch weil
er seine Kunst als die schwierigere höher stellte, und verachtete
die Komödie^). Auch darin befand er sich mit Sokrates in
Uebereinstimmung , dass er nicht jeden Schüler ausbilden zu
können prahlte, sondern natürhche Anlage zur Vorbedingung
machte^); diese schätzte der Rhetor so hoch, dass er begabte
Schüler Götterkinder nannte ^). Aber in der Brust unseres
1) Vgl. Th. Klett das Verhältnis des Isokrates zur Sophistik, Progr.
V. Ulm 1880.
2) SirooSalat utco^eosk;, osp-voi ^oyot 11, 9.
3) Dionys. Isoer. 4; Dionysios schrieb eine besondere Abhandlung über
seine t^oXitixt] fikoGOfia.
4) 12, 26; 9, 9. 36, vgl. 12, 19; 2, 44. 8, 14.
6) 13, 17. 15, 187. Hermog. npoy. 5 p. 100, 14 ff, Sp. erzählt, Isokrates
habe gesagt, dass ein Schüler Tctvaxcoiou xatvoö (xal voö) brauche.
6) 6eä)V itaißei; Hermog. Kpo-^oiiv. 6 p. 97, 18.
128 Fünftes Kapitel.
Redners kämpften zwei Seelen, der Sokratiker, welcher das
Beste seiner Schüler, der Heimat und von ganz Hellas wollte,
und der Sophist, dem das schöne Wort lieber als die schlichte
Sache war. Einmal entschlüpfte ihm der von den Sokratikern
verabscheute Satz, dass die Redekunst in der Ueberredung be-
stehe (15, 249); dann erklärte er wie etwas allbekanntes, bei
Lob und Tadel sei Uebertreibung am Platze (11, 4). In der-
selben Rede drückt er Gleichgültigkeit gegen die objektive
Wahrheit aus (11, 33), wie er auch die doppelseitige und ver-
schiedenartige ßeliandlung eines Themas anerkennt (4, 8 ; vgl.
64). Dementsprechend gestattet sich Isokrates im Panathenaikos
eine schlimme Zweideutigkeit und Widersprüche sind nicht
selten^), da Isokrates vieles nach den Umständen gemodelt hat.
Er selbst charakterisiert die Zwitterhaftigkeit seiner Stellung
unbewusst dadurch, dass er ao^ioxf^c und ^tXöao<po?, ^tXoaotpsw
nicht nach dem Beispiele der Sokratiker scharf scheidet. Dass
Isokrates Honorar annahm, konnte ihm bei seinen Vermögens-
verhältnissen niemand verargen ''^) ; die Bezahlung betrug zehn
Minen ^).
HinsichtHch seiner politischen Anschauungen stand er der
sokratischen Schule nicht fern. Die Flugscliriften des Isokrates
sprachen die Wünsche der gebildeten und vermögenden Minorität
aus, welche ehrenvollen Frieden mit den griechischen Staaten
und Phihpp von Makedonien wünschte und, von der Ver-
worrenheit der iinieren Verhältnisse angeekelt, alles Heil in der
Rückkehr zur Verfassung des Solon und Kleisthenes erbhckte.
So dachte Phokion, der von Antipatros den traurigen Auftrag
annahm, diese Wünsche durchzuführen, so dachte Timotheos,
welchem Isokrates durch innige Freundschaft verbunden war*).
1) So wird der Friede des Antalkidas, den er 8, 16 für unübertrefflich
ausgibt, 4, 115 ff. getadelt; 8, 86. 96 wirft er den Athenern nud Spartanern
ihre Züge gegen die Perser vor, während er im Panegyriko.s und Philijipos
ander» darüber urteilt; vgl. auch 10, 60 mit 11, 41.
2) Eine Aeusserung 15, 164 veranlasste die Behauptung, er habe von
keinem Athener ein Honorar angenommen (Ps. Plut. 838 e. Anon. Z. 37 f.).
Nach der Erzählung seiner Freunde weiute er, als er das erste Honorar
empfing, weil er nun nicht mehr unabhängig sei (Ps. Plut. 837 b).
3) Demosth. 36, 42, also 786 Mark.
4) In der „Antidosis" (§ 101 — 139) ist ein Enkomion auf Timotheos,
dessen Freundschaft man ihm verargte, eingefiochten ; er soll den Sekretär
I
Die Vollendung der Kunstrede : Isokrates. 129
Mit den Piatonikern teilte Isokrates die Vorliebe für Sparta,
dessen äussere Politik er allerdings verurteilte ^), und für die
aufgeklärte Monarchie ^), woraus zugleich eine gewisse Sympathie
für Makedonien entsprang. Seine religiösen Ansichten gingen
nicht besonders tief^); beruht ihm doch die Rehgion auf der
Furcht (11, 24f.).
Betrachten wir nun die Zeugnisse über die äusseren Be-
ziehungen , welche Isokrates zu den Schülern des Sokrates
unterhielt, so muss den ersten Platz die berühmte Stelle Piatos
einnehmen; in seinem Phaidros stellt bekanntlich Sokrates dem
unphilosophischen Lysias den jungen Isokrates mit folgenden
Worten gegenüber (279 a): Aoxei (tot öcftsivwv t) xara tooc Trspl
Aoatav stvat Xö^ooc td xf^c '^oastdc, sti ts tjO-si YsvvtxcöTsptp xexpäodai
wate oöSsv av Ysvotro ^aa[i.aaTÖv rpotoDOT]«: X7i<; r[KixiaQ sl ;cepl ahzobz
re xoiic. Xöyod?, olc, vöv kmysipBi, ttXsov ri TratStov Slsvsyxoi töv
TKüTTOTS d(};a[xsva)v Xöycov, I'ti ts et aotcp {iyj aTio'/pTjast Taöta, IttI
[letCw Ss TIC auTÖv d'/oi 6p»i7] ^s'.OTepa • ^Dost ^dp, w ^iXe, sveoxt tt?
ipiXoao'fta T"^ Toö dvSpöc Stavoicj, Dieses Lob ist um so höher
zu schätzen als Plato strenge zu urteilen pflegt. Noch mehr,
eine Stelle des Phaidros (269 d) stimmt so sehr mit einer Be-
merkung der Rede ,, gegen die Sophisten" (17. 18) überein, dass
Plato damit die dort ausgesprochenen Grundsätze zu billigen
scheint *). Auch der Peripatetiker Praxiphanes muss sie als
Freunde gedacht haben, weil er in seinem Dialog „über die
des Timotheos gemacht und dafür bei der Einnahme von Samos ein Talent
als Lohn empfangen haben (Ps. Plut. 837 c, vgl. Epist. Socratic. 30, 13).
Der berühmte Feldherr errichtete ihm sogar im Eleusinion eine Statue (Ps.
Plut. 838 d); nach Cic. de orat, 3, 34, 139 und Ps. Plut. 837 c war er .sein
Schüler.
1) 7, 61. 11, 17 f., vgl. VI., anders 8, 58 eXeo*ep(uaavTe?.
2) 10, 34; bekanntlich stand er mit Euagoras und Nikokles in Ver-
bindung.
3) Schröder quaestiones Isocrateae duae, Utrecht 1869 p. 115 ff.; Rob.
Schaudau de Isocratis doctrina rhetorica et ethica, Breslau 1869.
4) Auch Phaedr. 268— 269c ist mit 19, 10. 16 zusammenzustellen. Vgl.
Jos, Werber die Rede des Isokrates gegen die Sophisten, Pr. des I. Gymn.
Teschen 1872; Usener Rhein. Mus. 35, 138; J. Zycha Bemerkungen zu
den Anspielungen in der 13. und 10. Rede des Isokrates, Pr. des Leopold-
stärdter Obergymn. in Wien 1880.
Slttl, Geschichte der griechischen Literatur. U. 9
iäö fünftes Kapitel.
Dichter" Isokrates in Piatos Hause weilen liess^) und unter
den unechten Reden des Isokrates befand sich eine mit dem
Titel „über Plato", nicht ,, gegen Plato"^). Erst nach dem Tode
des Philosophen trat eine offene Gegnerschaft zwischen den
Akademikern und Isokrateern zu Tage; Speusippos hatte wahr-
scheinlich schon früher Isokrates angegriffen (S. 102), nun be-
kämpften Theopompos und Kephisodoros Plato mit Heftigkeit ^)
und auch Isokrates machte in seiner letzten Rede (118) gegen
die Akademie einen Ausfall. Auf der anderen Seite feindete
Aristoteles den Rhetor an*), für welchen Kephisodoros eintrat,
aber als er seine Rhetorik schrieb, war der Streit vergessen und er
beurteilte Isokrates sogar eher mit Wohlwollen ^). Die Broschüre
des Antisthenes ,,7rpö? töv 'looxpaTooc aiiapropov" scheint bloss
eine Gelegenheitsschrift gewesen zu sein, weil Theopomp diesem
Sokratiker auffallendes Lob spendete^). Bei Xenophon endlich
war nie von einer Gegnerschaft die Rede, vielmehr glaubte
man, Isokrates habe dem tapferen Sohn seines Gaugenossen
einen Nachruf gewidmet. Dies ist der wirkliche Thatbestand,
befreit von den geistreichen, aber unbeglaubigten Versuchen
1) Diogen. Laert. 3, 8.
2) Isoer. Philipp. 12 ist weder beleidigend noch speziell auf Plato
beziehbar.
3) Dionys. ad Cn. Pomp, de Plat. am Ende von Kap. 1 ; Athen. 6, 608 c ;
vgl. Epist. Socrat. 30, 12. Arriau. Epictet. diss. 2, 17, 2.
4) Cicero orat. 19, 62 Aristoteles Isocratem ipsum lacessivit (d. h. er wett-
eiferte mit ihm), auch off. 1, 1, 4 quorum uterque suo studio delectatus con-
tempsit alterum geht bloss zurück auf die Nachricht (Cic. Tusc. 1, 4, 7):
cum motus esset Isocratis rhetoris gloria, dicere docere etiam coepit adules-
ceutes. Aristoteles soll eine Konkurrenzschule errichtet und dabei das
gehässige Citat gebraucht haben: ato)^p6v ohuküv, 'laoxpärrjv (statt ßap-
ßapov) 8' eäv li-(t'.v (Syriau. Walz IV 297, 26 ff., kürzer Quiutiliau. 3, 1, 14),
aber Diogen. 6, 3 bezieht es auf Xenokrates. Isoer. pauath. 17 ff. kann nicht
gegen Arist^teh-s (Bergk fünf Abhandlungen S. 25) gerichtet seiu, der damals
Athen bereits verla-ssen hatte. Vgl. Luzac lectiones .\tticae II 117 ff. Stahr
Ari8U)telia I 63ff. II 42 ff. 276 ff. M. G. Dimitsas 'Aö-rivatov VI (1877)
S. 393 ff.
5) Besonder« lallt anf (rhet. 1, 10 p. 1368 a 20): 8itep 'laoxpdtfi? etcoiec
iiä TTjv iouvYja-Etav toö BtxoXoifEtv, während er ihm früher seine Gerichtsreden
vorgeworfen hatte.
6) Diogen. Laert. 6, 14.
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 131
alter und moderner Gelehrten, Spuren literarischer Fehden in
den Schriften des Isokrates und des Plato nachzuweisen ^).
Hingegen steht es fest, dass Isokrates bei jeder Gelegen-
heit gegen die Nachfolger des Gorgias und des Zenon (die
Eristiker) polemisierte, wobei er sich mit den Sokratikern in voller
Uebereinstimmung befand ^). Lysias verachtete er jedenfalls wie
überhaupt alle Verfasser von gerichtlichen Reden ^) ; die Frage,
ob Lysias seinerseits ihm öffentlich entgegentrat, hängt von der
Echtheit der Reden gegen Alkibiades und für Euthynos ab.
Isokrates klagt nicht selten über Anfeindungen, welche er von
seinen Konkurrenten zu erleiden hatte; ohne Zweifel forderte er
sie selbst heraus, denn mit einem unverhohlenen starken Selbstbe-
wusstsein auftretend, versenkte er sich, je älter er wurde, immer
1) Athen. 5, 220d. 11, 507 a. Epist. Socrat. 30, 2 (wonach im „Philipp"
Plato angegriffen sein soll, nach Welcker kleine Schriften II 446 § 12).
Isokrates soll Plato angreifen in der Kede gegen die Sophisten (Bonitz
platonische Studien II 756) und „Helena" (Welcker a. O. Spengel a. O.
S. 766, vgl. Usener Khein. Mus. 25, 592); Plato soU sich gegen ihn wenden
im Euthydemos 304 e. 305b (seit Heindorf, Literatur bei Cornel Fischer
über die Person des Logographen in Piatons Euthydem, Pr. des 2. Obergymn.
in Lemberg 1880), Theaitetos (Bergk fünf Abhandlungen S. 18) und Gorgias
(Gotschlich über die Veranlassung des platonischen Dialoges Gorgias und
die Polemik in demselben, Prog. v, Beuthen 1871). Vgl. besonders Gustav
Teichmüller literarische Fehden im vierten Jahrhunderte v. Chr. I. Berlin
1881. Die Stelle im Phaidros bereitete daher viele Schwierigkeiten und
wurde viel besprochen: Ausser den den Dialog behandelnden Monographien
vgl. Joh. Bakius scholica hypomnemata HI. (Leiden 1844) p. 27 flf. ; Gottfr,
Stallbaum Isocratea ad illustrandas Phaedri Platonici origines, Pr. der
Thomasschule, Leipzig 1850; L. Spengel Isokrates und Piaton, Abhandl.
der bayer. Akad. hist.-phil. Cl. VH 3(1855) (S. 733 f. verteidigt er die Lesart
eixE sl der Platohandschriften statt ext el) und Philol. 19, 594 flf.; Leop. Kon-
V all na die Prophetie in Piatons Phaedrus und Isokrates' Rede gegen die
Sophisten, Pr, v. Marburg iu St. 1866; Em. Pluutke Piatos Urteil über
Isokrates I. Jena 1871; Th. Bergk fünf Abhandlungen zur Geschichte der
griech. Philosophie S. 29 flf.; H. Siebeck Jahrbb. f. Phil. 131, 241 flf.; anderes
bei Rehdantz Gott. gel. Anz. 1872 S. 1179**. Spöttisch ist das Urteil
Piatos nach Geel Rhein. Mus. 1838 S. 9 flf., Halbertsma Mnemos. 1855
S. 227 und Bakius a. O. Skeptisch verhält sich gegen die Kombinationen
K. Fr. Hermann gesammelte Abhandl. S. 302 A. 49.
2) Karl Reinhardt de Isocratis aemulis, Bonn 1873 (besonders p. 13flf,).
3) Isoer. 4, 11. 12, 1 u. ö. vgl. Anon. Z. 123 flf.
9*
132 . Fünftes Kapitel.
mehr in Selbstbewunderiing *), welche ihn gegen jeden Angriff
äusserst empfindlich machte.
Sein Selbstgefühl musste allerdings gehoben werden, wenn
er auf die zahlreichen durch edle Geburt und Reichtum aus-
gezeichneten Schüler^) blickte, welche fast aus allen Gegenden
griechischer Zunge zu ihm eilten und Jahre lang seinen Unter-
richt genossen. Das meiste Gewicht mochte er darauf legen,
dass seine Lehren in der Schultradition fortgepflanzt würden,
und wirklich ergriffen nicht wenige den Beruf ihres Meisters.
Die athenische Schule übernahm Isokrates von Apollonia^)
dem vielleicht die ominöse Namensgleichheit zu dieser Ehre
verhalf; in Athen lebte auch der Phaselite La kr i tos, zu dessen
Schülern der berüchtigte Archias gehörte*). Auf Chios lehrte
Metrodoros, aus dessen Schule der bedeutende Redner
Theokritos hervorgingt); wahrscheinlich gehörte auch Metrodors
Bruder, der Rhetor Kaukalos, zu den Isokrateern. Das
grösste Ansehen genoss aber bei den späteren Theoretikern der
Tragiker Theodektes von Phaselis^), weil er ein Lehrbuch
im Sinne des Meisters verfasste ''). T h e o p o m p o s und
Naukrates von Erythr ai ^) gaben, weil ihr Reichtum ihnen
ein unabhängiges Leben gestattete, keinen Unterricht, sondern
zogen von Stadt zu Stadt, nicht nach Geld, sondern nur nach
Ruhm begierig. Einen grossen Triumph feierte die isokrateische
1) 4, 4. 14. 5, 23. 12, 16. 260 f. 263. 15, 2 ff. u. s, w.
2) Hermippos schrieb ein besonderes Werk irspl tAv 'laoxpcttou«: |jLa^7jTtüv
(vgl. Dionys. Isae. 1), wovon das zweite und dritte Buch citiert werden
(Harpocr. v. 'laatoc, Athen. 8, 342 c, vgl. 10, 451 e). Man kannte gegen
hundert Namen (Ps. Plut. 837 c). Vgl. Bakius scholica hypoiunemata III p.
85 ff.; Paul Sanneg de schola Isocratea I., Halle 1867.
3) Suid. Epifet. Socrat. 30, 11.
4) Ps. Demosth. 36, 16. 41. 42. Ps. Plut. 837 d; Hermippos bei Plut.
Dem. 68.
6) Snidas v. öeoxpttoc.
6) Blas» n 410 ff. Er hielt sich in Athen auf, wo auch sein Gral)raal
war (Ps. Plut, Isoer. 837 c).
7) Spengel oüva-fui-fri te)^vwv p. 160; es wurde auch Aristoteles bei-
gelegt, weil mau sein Citat rhet. 3, 9 p, 1410 b 2 f. niissversland: al 8' ap/al
Ttüv Xoftuv oyeSöv ev toIi; BeoSExxeioti; e^Tfjpid-fiYjvTat (vgl. Val. Rose Aristoteles
peeudepigraphus p. 135 ff.).
8) Er scheint gleichfalls ein Lehrbuch verfaest zuhaben (Quintil. 3,6,8).
Die Vollendung der Knnstrede: Isokrates, 133
Schule, als die Wittwe des Königs Maussollos bei der Leichen-
feier auf die beste Trauerrede einen Preis setzte. Drei Schüler
des Isokrates rangen um den Sieg und Theopompos trug ihn
davon ^).
Auch die öffentliche Beredsamkeit, die in der Volksver-
sammlung und im Gerichtssaal ihre Stätte hatte, konnte sich
dem Einflüsse des Isokrates nicht entziehen ^), weil nicht minder
solche, welche im öffentlichen Leben hervorragen wollten, zu
ihm kamen. Kleinasien und andere entlegenere Gegenden
lieferten ihm jedoch mehr Schüler als seine eigene Heimat,
wiewohl zuerst angesehene Athener, welche er mit Stolz auf-
zählt (15, 93), seinen Unterricht suchten. Unter den zahl-
reichen Namen ^) verdienen nur Androtion, Leodamas und
der ßyzantier Python, welcher die Gunst des Königs Philipp
gewann, Hervorhebung. Ob die berühmten Redner des vierten
Jahrhunderts bei Isokrates persönlich Unterricht nahmen oder
die von ihm herausgegebenen Reden studierten und etwa vom
Hörensagen die eine oder die andere Regel sich aneigneten,
ist nicht zu entscheiden; jedenfalls kann man bei Isaios^),
Aischines ^), Hypereides ^), Lykurgos '') und selbst Demosthenes ^)
1) Gell. 10, 18, 6 (aus Hyginus ? , s. § 7). Einige Hessen Isokrates selbst
dabei auftreten (Ps. Flut. 838 b), was man gewöhnlich auf den jüngeren
Isokrates bezieht aber aus Porphyr, bei Euseb. praep. ev. 10, 3, 3 scheint
eher hervorzugehen , dass man eine übermütige Aeusserung des Theopomp
missverstand.
2) Dionys. Isoer. 1.
3) Vgl. Ps. Plut. 837 cd. Aision Suid. v. A7)|i,oaO'£VYj<: (vgl. Hermippos
bei Plut. Dem. 11); Kokkos Suid. s. v., vgl. Quintilian. 12, 10, 21; Hiero-
nymos von Megulopolis Schol. Demosth. fals. leg. p. 344; Klearchos von
Herakleia der spätere Tyrann (Memnon bei Phot. bibl. 224 p. 222 b 12). Der
Homonymiker des Diogenes führt aus Herrnippos an: Krates von Tralles 4,
23, Anaxagoras 2, 15, Straton 5, 61 und den Arkadier Aischines 2, 64. Vielleicht
gehörte auch Kallias von Syrakus zur Schule (Hermippos bei Plutarch.
Demosth. 5).
4) Schüler nach Hermippos (Harpocr. s. v. und Dionys. Isae. 1, vgl.
Anon. vit. Isoer. Z. 53. Suid. v. AT^fioa^lvf);;) ; zweifelnd Ps. Plut. 837 d.
5) Ps. Plut. 840a. ApoUon. vit. Aesch. Z. 34. Schol. Aesch. 2, 1 (vgl.
A. Schäfer Ztsch. f. Alterthumsw. 1848 Sp. 264). Philostr. vit. soph.l, 18,3.
6) Anon. vit. Isoer. Z. 63, vgl. Westermann zu Ps, Plut, 837 d,
7) Anon, Z. 53. Wie es scheint, rechnete ihn Hermippos zu den Isokra-
teern (Athen. 8, 342 c), jedoch zweifelnd (Ps. Plut. 837 d).
8) Bekannt ist die Erzählung, dass ihn Isokrates abwies, weil er das
134 Fünftes Kapitel.
manche Spuren isokrateiscber Technik walu*nehmen. Was aber
unter der Sammlung des Demosthenes in dem Stile des Rhetors
geschrieben ist, nämlich die Rede über den trierarchischen
Kranz, der Erotikos und der Brief Philipps rührt von dem be-
rühmten Staatsredner ganz und gar nicht her.
Der Einfluss des Isokrates erstreckte sich nicht bloss auf
die Beredsamkeit; wer den Stil des Isokrates für die voll-
kommenste Gestalt der griechischen Sprache ansah, konnte,
wenn ihm wirkliches Stilgefühl abging, leicht verleitet werden,
jene Mustersprache auch anderen Gattungen, vor allem aber
der Geschichtsschreibung aufzuzwingen. Seit Isokrates gilt das
toTopixov Ysvo? als die vierte Art der Beredsamkeit^); diese
Richtung vertraten Theopompos, Ephoros von Kyme und
Kephisodoros ^), wodurch sie verschuldeten , dass der wahre
historische Stil verschwand und die Behandlung des Stoffes
mehr auf geistreiche Antithesen und Pointen als auf Ver-
ständniss und Anschaulichkeit gerichtet war. Zu den Historikern
gehörten in weiterem Sinne auch Asklepiades von Tragi los,
welcher die von den Tragikern bearbeiteten Sagen (TpaYC|)So6{JLsva)
untersuchte % und D i o s k u r i d e s *), der Verfasser von Memoiren
und einer Darstellung des spartanischen Staates.
Wie endlich Gorgias' Richtung in Agathon auch die
athenische Bühne erfasste, so dürften die Grundsätze des Iso-
krates gleichfalls auf die tragische Sprache übertragen worden
sein und hier sogar dominiert haben; denn seine Schüler
Honorar nicht bezahlen konnte (xtvE? bei Plut. Dem. 5, von einem Jsokrateer
persifliert Ps. Plut. 837 d). Nach Ktesibios (Hermipp. bei Plut. Dem. 6, vgl.
Ps. Plut. 844 c. Suid. ATiiioofl-lvv)!; 1.) verschaffte er sich heimlich die Regeln
des Isokrates; missverstauden Ps. Plut. 844 ah. Schon die Alten wiesen
Aehnlichkeiten nach (z. B. Schol. Isoer. 4, 136. 139). Vergl. Funkhänel
Ztfich. f. Alterthumsw. 1837 Sp. 485ff. Schäfer Demosthenes I292fif. Dionys.
ad Ammae. I 2 (vgl. Philostrat. vit. soph. 1, 17, 1) fasst alle diese Redner
zusammen.
1) Citate bei Gros Philodem, rhetor. p. lOOf.
2) Der Historiker ist gewiss mit dem Isokrateer, welcher Aristoteles
bekämpfte, identisch; Dionysios ad Ammae. 1, 2 scheint Reden von ihm
gekannt zu haben.
3) C. Müller fragmenta historicorum Graecorum II 301 flF.
4) C. Müller ». O. II 192 ff., berichtigt von E. Hillcr Rhein. Mus.
40, 204 ff.
Die VoUendnug der Kunsfrede: Isokrates. 135
Theodektes, Aphareus, der Adoptivsohn des Rhetors ^) und
Aphareus zählten zu den hervorragendsten Tragikern der
Epigonenzeit.
Aus der Schule des Isokrates gingen nach dem berühmten
Ausspruche Ciceros^) „wie aus dem trojanischen Pferde lauter
Fürsten (meri principes)" hervor. Dieser grossartige Erfolg ist
jetzt schwer verständHch, weil wir Isokrates als Lehrer nicht
kennen ^). Der Unterricht muss sehr gründhch gewesen sein,
denn er dauerte drei bis vier Jahre ^); aus Isokrates' eigenen
Schriften erfährt man nichts darüber als dass er seine Reden
vorlas (5, 26), sie vor der Veröffentlichung mit Vorgerückteren
besprach (12, 200) und den Schülern Abschriften überliess(12, 251).
Seine Theorie hielt er aber dem PubUkam verborgen, und gab
eine Rhetorik nicht heraus^), denn die in der Kaiserzeit citierten
Regeln sind apokryph*'). Die Erzählung, dass Isokrates jeden
Monat unter seinen Schülern einen Wettkampf veranstaltete'),
ist raöghcherweise mehr als eine Anekdote.
Seit dem Erscheinen des Panegyrikos war Isokrates ohne
Zweifel der gefeiertste Redner Athens*) und Athen bedeutete
damals schon die ganze gebildete Welt hellenischer Zunge;
1) Ueber die Familienverhältnisse des Isokrates, vgl. Schäfer Ztsch.
f. Alterthumsw. 1848 Sp. 262.
2) De oratore II 22, 94 (benützt Quintilian. 12, 10, 22).
3) Matthiessen einige Andeutungen über die Richtung und den Einfluss
der isokrat eischen Schule, Pr. v. Plön 1865.
4) Isoer. 15, 87. Klearchos war vier Jahre bei ihm (Memnon bei Phot.
bibl. 224 p. 222 b 12).
5) Vgl. Isoer. 12, 16, womit die Anekdoten über Demosthenes (S. 133
A. 8) und Speusippos (S. 102) zusammen/ustellen sind; die an: öppY|xa wurden
von A. KoTTpiavöc, xä &TC6pp-f]ta xoö 'looxpdxouc, Athen und Berlin 1871
paradox gedeutet.
6) Cic. de inv. 2, 2, 7 u. Alt. 2, 1, 1 beweisen nichts; Isoer. epist. 6,
8—10 sind apokryph. Quintilian 2, 15, 4. 3, 1, 14, Ps. Plut. 838 e. Anon.
Z. 137 fif. stellen die Echtheit in Zweifel. Sonst erwähnen Sext. Emp. 2, 62,
späte Scholiasten des Hermogenes und Tzetzes die Rhetorik (vgl. Rehdantz
Gott. gel. Anz. 1872 S. 1201 £F); die Echtheit derselben behauptete L. Spengel
ouvaYWYYj p. 182 (bekämpft von Bakius scholica hypomnemata III 67flf.).
7) Menander IniUiv.x. p. 398, 9 ff. Sp.
8) Daher nennt ihn Aristoteles rhet. 3, 17 p. 1418 a 30 unter allen
ol 'Aö-fivrja'. pTixope? allein mit Namen; Anon. Z. 65 fabelt, dass ihm die
Ehre eines ößentlichen Begräbnisses zu Teil wurd«.
136 Fünftes Kapitel.
seine Reden waren überall verbreitet und wurden in den ge-
bildeten Cirkelu mit Vorliebe gelesen '). Als der Philosoph von
Stagira die Gesetze der Beredsamkeit aufstellte, wusste er keine
besseren Beispiele der epideiktischen Rede zu finden als die ihm
die Schriften des Isokrates boten ; letzterer sprach also nicht
die Unwahrheit, wenn er behauptete (12, 6), dass selbst den
Konkurrenten seine Reden als Musterstücke dienten. Gewiss
hat die Schule des Isokrates neben Athens politischer Bedeutung
das meiste dazu beigetragen , dass der attische Dialekt die
,, gemeinsame" Schriftsprache von ganz Griechenland wurde,
wie der Rhetor auch im Verein mit Plato und dessen Schule
Athen zum Mittelpunkte der griechischen Bildung (rtpotavelov
'EXXdSo?) ^) erhob und ihr, als sie die politische Macht verlor, die
Stelle der ältesten und gesuchtesten Universitätsstadt rettete.
Auch die folgenden Jahrhunderte haben keinen hervorge-
bracht, der dem attischen Redner in seiner Gattung gleichkam^),
und eine Anzahl von Lehrern bewahrte die Tradition seiner
Schule*); auch die sogenannte Rhetorik an Alexander lehnt
sich teilweise an die Normen des Isokrates an^). Trotzdem
waren der Tadler nicht wenige : Nicht bloss der alte Cato warf
der isokrateischen Art Greisenhaftigkeit vor^), auch der Philo-
soph Kleochares meinte, seine Reden glichen den Körpern von
Athleten, die demosthenischen hingegen denen von Soldaten '').
Hieronymos vermisste Pathos und männliche Kraft; Isokrates
spreche über die bedeutendsten Gegenstände mit der Stimme
eines Knaben^). Auch die radikalen Wortführer der attischen
Renaissance, denen Demosthenes und Lysias besser zusagten,
sparten den Tadel nicht ^). Mehr Glück hatte Isokrates bei
I
1) Vgl. Isoer. 9, 74, StateO-puXYjjj.evot 15, 66.
2) Theopomp, bei Athen. 6, 254 b,
3) Cicero Brut. 8, 32.
4) Qnintilian. 4, 2, 31.
6) Bla&s II 363 f.
6) Plutarch. Cato major c. 23.
7) Photius bibl. cod. 176 p. 121 b 9 flf. (dem König Philipp in den Mund
gelegt Ps. Plut, 846 c).
8) Philodem, rhetor. 4, 17 ff.
9) Brtitns bei Cic. Brut. 13, 40.
Die Vollendung der Kiinstrede: leokrates. 137
den Kunstrednern der Kaiserzeit *), von denen , wer sich nicht
/AI Gorgias verirrte, ihn als Vorbild betrachtete ; so verfasste
Aelius Aristeides ^) einen Fanathenaikos und überhaupt galten
nun Panegyrikos und Fanathenaikos für stehende Formen der
Lobrede ^). „Helena" schwebte bei dem lukianischen Chari-
demos vor. Die Gelehrten dagegen gaben sich wenig mit Iso-
krates ab; Suidas erwähnt nur einen Kommentar von Aelius
Theon und Didymos*) behandelte Isokrates mit den übrigen
zehn Rednern.
Da also wenige exegetische Vorarbeiten vorhanden waren,
sind die einer vatikanischen Handschrift beigeschriebenen
Schollen dürftig und von geringem Ertragt); auch die In-
haltsangaben bieten ausser der Erörterung einiger Probleme ^)
wenig brauchbares und erstrecken sich nicht auf die Gerichts-
reden. In der christlichen Zeit las man Isokrates seiner
Sentenzen wegen, nebenbei auch weil ihm der Polytheismus zu
missfallen schien ^), und bevorzugte deragemäss die drei ersten
Reden ^). Diese wurden auch in den Spruchsammlungen aus-
gebeutet*) und die Rede an Demonikos schon im siebenten
Jahrhunderte, wenn nicht früher, von einem syrischen Christen
in seine Muttersprache tibersetzt; diese Uebersetzung deckt
Interpolationen des griechischen Textes auf und weicht vom
Codex Urbinas erhebhch ab ^*^). Isokrates wurde in den Sen-
tenzenverzeichnissen zu einem stehenden Namen, so dass er
1) Isokrateer zur Zeit des Gellius noct. Att. 18, 8, 1 isti apirocali qui
Äe Isocratios videri volunt.
2) Vgl. Phot. bibl. cod. 246 p. 400 b 8 ff. Tzetz. Chil. 11, 662.
3) Auson. Professor, 1, 13 f.
4) Harpocratio v. iito {xiaS-tufjLdttcuv.
5) Zuerst von Korais in seiner Ausgabe I 440 — 448 veröffentlicht (nach
p. Tcä der Einleitung rühren sie von zwei Schreibern her), dann bei Dobson
III p. 785 ff., Sauppe II p. 8—11 und C. Müller II 486—88.
6) Wie zur XI. Xm. und XIV. Rede.
7) Schol. Isocrat. 3, 26,
8) Schon der Kaiser Julian stellt ihn mit Phokylides und Theognis
wegen seiner 7:apaivsaei<; Salomo entgegen (Julian, bei Cyrill. contra Julian.
7, 224).
9) Alle testimonia veterum sind von Bruno Keil analecta Isocratea,
Prag und Leipzig 1885 zusammengetragen.
10) Gedruckt bei Paul Lagarde analecta Syriaca p. 167—177, vgl.
138 Fünftes Kapitel.
mit Deraokritos und Epiktetos häufig in deren Ueberschrift
erscheint ^).
Weil die Reden des Isokrates eine beUebte Schullektüre
abgaben, war die Textesüberlieferung vielen Konjekturen
und Interpolationen ausgesetzt ; die durch mehrere Hand-
schriften 2) repräsentierte Vulgata weicht von dem Texte, den
Dionysios von Halikarnass und andere bei ihren Citateu be-
nutzten^), an nicht wenigen Stellen ab und ist obendrein durch
allerlei Einschiebsel entstellt*). Dagegen steht der codex
Urbinas F, die Kopie einer Uncialhandschrift, der alten Ueber-
lieferung näher, weshalb Bekker und Sau[)pe auf ihn ihren
Text basierten^); aber diese Handschrift macht die Vulgata
keineswegs entbehrlich. Auch ein altes Papyrusstück, das
§ 1 — 30 der zweiten Rede enthält, hefert keinen besseren Text %
Victor Kyssel über den textkritischen Wert der syi-ischen Uebersetzungen
griechischer Klassiker II. (Leipzig 1881, Progr. des Nikolaigymn.) S. 29 ff.
1) Curt Wachsmuth Stndien zu den griechischen Florilegien S. 121 ff.
2) Was für die Erforschung derselben geleistet und noch zu leisten ist,
setzt Blass in seiner Ausgabe I^ p. Vf. auseinander; vgl. jetzt H. Bür-
mann die handschriftliche Ueberlieferuug des Isokrates I. die Handschriften
der Vulgata, Pr. des Friedrichsgymn. in Berlin 1885, wo eine Kollation der
wichtigsten Handschriften für den „Philippos" gegeben ist.
3) K. Fuhr Rhein. Mus. 23, 325 ff., vgl. 'A-^v-oUmv a. O, p. 9 f.; Keil
a. O. S. 80 ff. (dieser nimmt für alle drei Recensioueu einen einzigen Arche-
typus an).
4) Bruno Keil a. O. S. 146 ff. auch Ryssel a. O. ; über II § 14—39
= XV 73 vgl. Benseier de hiatu p. 37 ff. Jahr quaestiones Isocrateae
Halle 1881 p. 26. 41 ff., Lehmann a. O. p. 61, C. A. F. Brückner de
locis in Isocratis ad Nicoclem oratione propter ea quae in oratione de antidosi
ex illa referuntur falso suspectus, Pr. v. Schweidnitz 1852, Blass II 249 f.
6) Genau beschrieben von Albert Martin le mauuscrit d'Isocrate
Urbin. CXI. de la Vaticana, Paris 1881 (bibl. des ecoles franj. fasc. 24);
leider teilt er vorläufig nur eine Kollation des „Euagoras" mit. Die Angaben
Bekkers, welcher selbst in den Monatsberichten der Berliner Akademie 1861
S. 1034 ö. Nachträge gab, sind nämlich nicht genau. Neue Kollationen
sind sonst nur für die Briefe (in Herchers epistolographi Graeci) und die
XVI. Rede (Fuhr Rhein. Mus. 33, 566 ff.) veröffentlicht. Ueber die Sticht
metrie sprach zuletzt Fuhr Rhein. Mus, 37, 468 ff. Im Urbinas fehlen, wi.
in anderen Handsthrilten die XVIII. und XXI. Rede.
6) A. Schöne de Isocratis papyro Massiliensi, Melanges Graux, Paris
1884 p. 481 — 504 (nach ihm in der Ptolemäerzeit geschrieben, während Blass
Jahrbb. f. Phil. 1884 S. 417 ff. und Br. Keil Hermes 19, 696 ff. für die
spätere Kaiserzeit stimmen). Die Ueberschrift lautet itapatveaecov Xöyoc B.
•
Die Vollendung der Kunstrede: Isokrates. 139
Auf tief greifende Unterschiede deutet die in den Handschriften
verschieden gestaltete Ordnung der Reden, wobei die Klassen
der Enkomien (X. XI. XIII. IX.), der Paränesen (I. IL III),
der symbuleutischen und endlich der gerichtlichen Reden zu
Grunde liegen ^).
Die eigentliche Renaissance beachtete Isokrates wenig, doch
blieb er nicht unübersetzt. Den griechischen Text gab zuerst
Demetrios Chalkondylas zu Mailand 1493 heraus, aber er wurde
erst durch die Ausgabe des Aldus (Venedig 1513) recht bekannt,
welche man in Italien und Deutschland mehrmals nachdruckte.
Besonders Joli. Lud. Vives wirkte für die Lesung des Isokrates,
von dem er sagte: Isocrate simplicius ac purius cogitari non
potest. Die erste wahrhaft kritische Ausgabe verdanken wir
Hieron ymus Wolf; sie erschien zuerst 1551 zu Basel, verbessert
1565 und beherrschte, teils einfach nachgedruckt teils wenig
überarbeitet, bis in das vorige Jahrhundert hinein die Gestalt
des Textes; auch für die Erklärung legte Wolf durch die Aus-
gabe von 1570 den Grund. Er wurde auf diese Arbeiten hin-
gewiesen, weil Excerpte des Isokrates wegen ihres moralischen
Gehaltes gerne beim griechischen Unterrichte verwendet wurden ;
ich nenne nur Mich. Neanders phraseologia Isocratis Graecolatina
(Basel 1558) und die beliebte Anthologie Facciolatis monita
Isocratea (Padua 1737 u. ö.), welche auch in Deutschland Ein-
gang fand. Neues Material brachten nach Wolf erst William
Battie (Isocratis orationes septem, epistolae, Cantabrig. 1729,
dann opera quae nunc quideni extant omnia, Ijondini 1749
2 Bde.) und Athanase Auger (Isocratis opera omnia, Paris 1782
H Bde.) bei. Auch W. Lange (Isocratis quae exstant omnia,
Halle 1803) und besonders der berühmte Hellenist Adamantios
Korais ('lao/patoDC Xö^oi %al iTciaxoXal [leta a)(oXicov TraXawöv, Paris
1807 = Bl^Xlo^v.'fl 'EXX7]vaY] I. IL) förderten die Emendation.
Eine neue Periode begann mit Bekkers Entdeckung, dass die
Urbiner Handschrift den Vorzug verdiene; seine Recension
(Oratores Attici t. IL 1823) bildet daher die Grundlagen der
Neueren, unter denen Baiter und Benseier (Leipzig 1852, 2 Bde.,
1) Vgl. ßr. Keil analecta Isocratea p. 75 flf. Schol. Demosth. p. 155, 8
Dind. setzt voraus, dass die Rede gegen Lochites hinter dem Trapezitikos
steht, wie es im Urbinas wirklich der Fall ist.
140
Fünftes Kapitel.
«
2. Aufl. von Blass 1878) hervorzuheben sind. Die sachliche
und sprachliche Erklärung beschränkt sich auf die gelesensten
Reden, hier sind aber tüchtige Leistungen zu verzeichnen :
Ausgewählte Reden, Panegyricus und Areopagiticus , erklärt
von Rauchenstein, Berlin 1849. ^1882; ausgewählte Reden,
erkl. von 0. Schneider, Leipzig 1859—60. 2 1874—751. Demo-
nicüs, Euagoras, Areopagiticus; IL Panegyricus und Philippus.
An Einzelausgaben sind zu nennen: Areopagiticus von J. ;
Theod. Bergmann, Leiden 1819, wiederholt und vermehrt von SB
Gust. Ed. ßenseler, Leipz. 1832; Euagoras von P. J. Leloup,
Mainz 1828 und Gust. Ed. Benseier, Leipz. 1834; Oratio de
pace ed. P. J. Leloup, Mainz 1826; Panegyricus ed. Fr.
A. Spohn, Leipz. 1817, 2. Aufl. von Job. G. Baiter, Leipz.
1831; Antidosis Job. Casp. OrelH, Zürich 1814 und Ernest
Havet, Paris 1863.
I
Sechstes Kapitel.
Lysias und Isaios.
Lysias: Leben; Schulreden und Rhetorik; Gerichtsreden, ihre Zeit und
i;(;htheil ; Charakter der lysianischen Beredsamkeit ; Geschichte der Schriften,
ilaudschriften und Ausgaben. Isaios: Leben; Reden; Stil und Ethos;
äussere Geschichte bis auf unsere Zeit.
Während das Verhältnis des Isokrates zu seinen Vorgängern
ungefähr bestimmbar ist, waltete über der älteren Geschichte
der Gerichtsreden ein solcher Unstern , dass der Weg von
Antiphon zu Lysias im Dunkeln liegt. Für uns ist der letztere
der erste klassische Vertreter seiner Gattung; es ist ein eigen-
tümliches Zusammentrefifen , dass Lysias seiner Abstammung
nach ein Sohn des redegewandten Siciliens, wo die ersten Lehrer
der gerichtlichen Beredsamkeit auftraten, aber durch die Er-
ziehung ein Athener war. So glich er selbst der von ihm ge-
förderten Literaturgattung ^).
Ferikles hatte einst den reichen Syrakusaner Kephalos,
der aus politischen Gründen seine Heimat verliess, bewogen,
1) Biographien des Lysias schrieben Dionysios (de Lysia c. 1), Pseudo-
plutarcli (vgl. Photios bibl. 262) uud Suidas; vgl. A. Schöne Jahrbb. f.
l'hil. 103, 761 ff. A. Zucker Acta semin. Erlang. I 288 ff. Die Haupt-
quellen waren seine Reden „über .seine Verdienste" und die erhaltene zwölfte,
deren Angaben mit Vorsicht zu benützen sind (Herrn. Stetefeldt de Lysandri
l'lutarchei fontibus, Bonn 1867 p. 5—22 u. Philol. 29, 237 ff., Otto Hirt
«ommentatt. Lysiacarum capita duo, Berlin 1881, anders Chr. Renner com-
uientatt. Ly.siac. capita duo, Göttingen 1869; zu den einschlägigen Ereignissen
»i»!. auch K. Fr. Scheibe die oligarchische Umwälzung in Athen und das
Archontat des Eukleides, Leipzig 1841; H. Luckenbach de ordine rerum
a pugna apud Aegospotamos commissa usque ad trigintaviros gestarum,
Stra-ssburg 1878; G. Lübbert de amnestia anno CCCHI a. Chr. n. ab Ath.
(lecreta, Kiel 1881). In neuerer Zeit schrieben über das Leben des Lysiaa
Taylor (in Reiskes oratores Attici VI p. 100 — 158) und L. Hölscher de
i.ysiae oratoris vita et dictione, Berlin 1837; s. Blass I 331 ff.
]42 Sechstes Kapitel
dass er nach Athen übersiedelte '). Hier wohnte er im Besitze
des Privilegiams der Jsotelie ^) dreissig Jahre lang^) ; nach seinem
Tode, der in hohem Alter'*) eintrat, ging sein fünfzehnjähriger Sohn
Lysias mit dem älteren Bruder Polemarchos nach der athenischen
Kolonie Thurioi, wo sie blieben, bis die Stadt von den Athenern
abfiel; dies geschah Ol. 92, 1 (im Winter 412/1) ^). Die Brüder
begaben sich darauf nach dem Piräus und lebten hier in den
behaglichsten Verhältnissen *^). Lysias hatte bei dem Dialektiker
Euthydemos und dem Rhetor Thrasymachos Unterricht ge-
nommen''), doch trat er, so lange er dazu nicht gezwungen
war, nie öffentHch auf^). Aber bald wurde er in eine andere
Lage versetzt ; die Dreissig richteten, durch den Reichtum des
Hauses angelockt, Polemarchos hin und Lysias entging nur
durch die Flucht nach Megara dem gleichen Schicksale.
Nach dem Sturze dieser Schreckensherrschaft klagte er sofort
II
1) Lysias 12,4; „einige'' (Ps. Plut. 835 c) behaupteten, dass er vor Gelon
floh. Dies ist freilich kaum möglich, aber politische Gründe spielten jeden-
falls mit.
2) Blass I 337 A. 3.
3) Lysias 12, 4.
4) In Piatos Staate tritt er als hoch betagter Greis auf. Ps. Plut. 835 cd
scheint genauer als Dionysios zu berichten.
5) Die Biographen folgen offenbar seinen eigenen Angaben. Da die
Chronographen willkürlich annahmen, dass Lysias gleich bei der Gründung
nach Thurioi ging, errechneten sie daraus das Geburtsjahr Ol. 80, 2 = 459
(Ps. Plutarch. 835 c. 836 a cpaaiv, vgl. Andocid. 835 a. Dionys. Lys. 1 u>c «v
TIC elxdaetsv, Isocrat. 1). Auch das Todesjahr i.st kombiniert (Ps. Plut. 836 a
gibt ihm 83, 76 oder über 100 Lebensjahre, d. h. er starb Ol. 101, 1 (also
ISuiv A7j|j.ooi*)-EV7jv jjLEtpaxiov ovx«), Ol. 99, 2, weil die jüngste anerkannte Rede
ungefähr 380 fiel) oder Ol. 106, 1 (wo Deraosthenes zuerst auftrat). Da
Piatos Staat weder sicher zu fixieren ist, noch überhaupt massgebend sein
darf, ist sein Alter nicht zu bestimmen, auch das Gedicht des Philiskos
(Bergk poet. lyr. II* 327) gewährt keine zuverlä.ssige Stütze; der Phaidros
zeigt aber, dsiss er älter als Lsokrates war. Vgl. über die verschiedenen An-
sichten der Früheren Beruh. Pretzsch de vitae Lysiae oratoris temporibua
definiendis, Halle 1881 p. 3— 5 und A. Weineck das Geburtsjahr des Lysias
und die sich daran knüpfenden Fragen, Mitau 1881.
6) Lysias XII.; Piräus wahrscheinlich Plat. Phaedr. 227 b.
7; Vgl. die Sceuerie in Piatos „Staat" I. Polemarchos war nicht w"
praktisch ; er interessierte sich für Philosophie Plat. Phaedr. 267 b.
8) Dies lieweist Lys. 12, 3; Plat. Phaedr. 257 c zeugt nicht dagegen
vergl. d.
I
Lysias und Isaios. 143
Eratosthenes, einen der Dreissig, an, konnte aber die Verur-
teilung nicht durchsetzen ^). Gleichzeitig traf ihn ein neues
Missgeschick. Weil er nämlich mit grossem Eifer die Rückkehr
der Patrioten gefördert hatte^), beantragte Thrasybulos, er solle
zum Danke das Bürgerrecht erhalten. Aber wiewohl Lj'^sias
selbst eine Rede „über seine Verdienste" hielt, brachte Archinos
den verfassungswidrigen Antrag zu Fall ^), An Ei-satz für die
materiellen Verluste war noch weniger zu denken; wollte also
Lysias wieder reich werden, so bUeb ihm nichts übrig als dass
er das Beispiel des Gorgias oder des Thrasymachos nachahmte.
Er entschloss sich zu letzterem.
Diesem gleicht Lysias hinsichthch der Ausdehnung seiner
Schriftstellerei. Sein Verehrer Fhaidros hörte bei ihm nach
der Fiktion des platonischen Dialoges einen Erotikos, welchen
Plato seiner Schrift beifügt % um strenge Kritik daran zu üben.
Das Lob, welches er daneben (234 e) der Rede zukommen lässt,
kann, wenn Sokrates nicht rein ironisch spricht, nur der
schlichten Klarheit und der sorgfältigen Ausführung gelten ;
denn die Rede ist ziemlich trocken und der Satzbau, wenn
auch einfacher als bei Gorgias, zugleich einförmiger^). Be-
sonders folgen kurze Antithesen in zu grosser Fülle auf
einander.
Dieser Aufsatz gehörte zu einer Gruppe von Reden, mit
denen Lysias der Beredsamkeit ein neues Gebiet eröifnete; er
verfasste nämlich sieben Sendschreiben (sjutaToXi/ol XöYot), mit
1) Vgl. Raucheustein Philol. 10, 599 flf.
2) Ps. Flut. 836 e f. aus Lysias.
3) Ps. Plut. 835 f. Max. Planud. Walz V 343, U W. (Der Rat war
damals Doch nicht gebildet). Nach Scheibe Jahrbb. f. Phil. 31, 359 f. ist
die Erzählung aus Aeschin. c. Ctesiph. 195 geschöpft.
4) Wegen Phaedr. 228 de ist die Authenticität unzweifelhaft; obendrein
1 adelt Plato Einzelnheiten 262 e. 263. Vgl. besonders Aug. Kr ische Göttinger
Studien II 1 S. 953 ff. und Leop. Schmidt Verhandlungen der Wiener
rhilologenvers. (1858) S. 93 ff. E. Egger Aunuaire de Tassoc. pour l'encour.
des etudes grecques 5, 17 ff.; den lysiauischen Ursprung leugneten K. Fr. H e r-
111 an n Abhandlungen und Beiträge zur klassischen Litteratur und Alterthums-
kunde, Göttiugen 1849 S. 1—21, Steinhart Piatons Leben S. 62—74 und
Aug. L. J. Schmidt commentationis de Piatonis Phaedro particula, Berlin
1858 p. 18 ff.
5) Die sonst nicht sehr häufigen Verbindungen xal fxev 8-rj und ett S-rj
wendet er zum Ueberdruss an.
144 Sechstes Kapitel,
Ausnahme eines einzigen erotischen Inhalts, welche an schöne
Knaben und Hetären gerichtet waren ^). Er führte damit den
Brief in die Literatur an.
Einen ähnlichen Stilcharakter hat die olympische Rede
('OXofi-Tttaxöc:, jetzt XXXIII.), von welcher der Rhetor Dionysios
den Anfang erhielt. Lysias forderte die zu Olympia ver-
sammelten Griechen in einer an Antitliesen reichen, aber wenig
prunkvollen Rede auf, vom Bürgerkriege abzulassen; statt dessen
wies er sie nicht auf den Perserkrieg hin. Er hatte gewiss
nicht vergessen, dass sein Vater einst in Syrakus zu den ange-
sehensten Bürgern gehört. Darum bat er die Griechen und
vor allem die damals (Ol. 98)^) mächtigen Spartaner, die er
durch Schmeicheleien zu gewinnen suchte, sie möchten den
älteren Dionysios vertreiben und den Siciliern die Freiheit
wiedergeben.
Neben diesen epideiktischen Reden scheint Lysias gleich
Thrasymachos politische Musterreden ^) verfasst zu haben ;
wenigstens teilt Dionysios ein Stück einer solchen (jetzt mit der
Nummer XXXIV. bezeichnet) mit, als deren Inhalt er angibt,
was unsere Ausgaben an Steile des Titels setzen: Tuspl toö (iy]
xataXöoat ttjv ^rarptov TroXitetav 'A^yjvYjat, welche sich
Lysias gleich nach der Rückkehr der Demokraten gehalten
dachte *). Der Stil ist nicht der der Praxis, sondern sophistisch
gefärbt.
Insoweit gleicht also Lysias Thrasymachos ; ausserdem gab
es aber zwei Schulreden, welche der Richtung des Gorgias an-
gehörten. Die Verteidigung des beklagenswerten Nikias
kennen wir bloss aus Dionysios (c. 14) , welcher sie dem
Lysias wegen ihres gorgianischen Charakters absprach, obgleich
Theophrastos die Echtheit bezeugte; warum soll Lysias nicht
anfangs in der Technik unselbständig gewesen sein? Bezüglich
I
1) Vgl. Suidas, Ps. Plut. 836 b. Der Platoscholiast Herraeias (p. 77 A»\
rechnet den Erotikos dazn. Lysiaa hatte viel mit Athens Demimonde zu
thun, vgl. Ps. Demosth. in Neaer. 21. Athen. 13, 592 b c. 693 f.
2) So Diodor (vgl. A. Schäfer Philol. 18, 187fr.); Ol. 99 nach Grol.
3) A-r)|ji-riYoptai Ps. Plut. 836 b.
4) Kritisch bearbeitet von H. Usener Jahrbb. f. Phil. 107, 145 Ö.;
vgl. Grosser ebend. 101, 693 ft'. ; nach Lübbert a. O. S. 68 ff. ist die
Bede nach der Einnahme von Eleusis verfasst.
I
Lyslas und Isaios. 145
der Art der Verteidigung ist jedenfalls anzunehmen, dass sie
der Rede des Isokrates „über das Gespann" glich.
Anders ist über den Epitaphios (II.) zu urteilen, eine
Rede, die wie das gleichnamige Werk des Gorgias bei einer
öffentlichen Leichenfeier gehalten sein will. Die Ueberschrift
sTzizä^pioQ Tol? Kopiv^twv ßoYj^ol? ^) ist eine blosse Vermutung;
Athen war in der fingierten Zeit bereits von Konon wieder
umwallt (§ 63) und hatte einen Sieg aufzuweisen. An sich
müsste es schon auffallen, wenn Lysias später noch plötzlich
die Manier des Gorgias nachgebildet hätte; aber eine Stelle der
aristotelischen Rhetorik beweisst, dass der Verfasser auch einen
Epitaphios nachahmte , der den Gefallenen von Lamia galt ^).
Er benützte überhaupt seine Vorgänger, am meisten Isokrates,
ausgiebig ^).
1) Bei Band in i catal. codd. Graec. Laurent. I 555, 2 steht jedoch bloss
KÖ^fOZ lKt.räf'.oq sie touc sv itoXsfAio aTCoS-avovTa?.
2) Aristot. rhet. 3, 10 p. 1411 a 31 citiert mit oio^/ ev xü) entxafptcj)
(offenbar eines bekannten Redners) einen Satz von 2, 60, aber aus einer Rede
auf die bei Lamia gefallenen Athener ; denn die Emendation ev Aa|j.'.a ist
evident (vgl. Spengel im Kommentar p. 407). Citiert wird die Rede als
Werk des Lysias (Dionys.) rhet. 6, 1, Harpocr. v. Fspavia u. s. w.; in einer
Handschrift der Laurentiana (Bandini catal. codd. Graec. III 338, 9) steht
die Aufschrift Afjfj.oaö-Evtxöc Xo^oc. Schon Reiske orat. Graec. V 63 f.,
Valkenaer orationes p. 218 und F. A. Wolf ad Demosth. Leptin. p. 363
sprachen Verdacht aus, der gerechtfertigt wurde von Dobree Adversaria I
p. 3 ff. (der I 192 isokrateische Manier zu finden glaubt), Kölscher a. O.
p. 47 ff., Heinr. Eckert de epitaphio Lysiae oratori falso tributo, Berlin
1868 (p. 2 Literaturverzeichnis), Rieh. Richter de epitaphii qui sub Lysiae
nomine fertur genere dicendi, Greifswald 1881 (vom Gesichtspunkte der
Sprache aus); Reuss Rhein. Mus. 38, 148 ff., Br. Keil analecta Isocratea
p. 98; unter den Verteidigern der Echtheit sind G. Gevers de Lysia epitaphii
iiuctore Caput alterum, Göttingen 1839 (p. 44 — 64 über den Stil) und L. Le
Be au Lysias' Epitaphios als echt erwiesen, Stuttgart 1863 (p. 2— 4 testimonia
veterum [es fehlt Schol. Demosth. epitaph. 10], p. 4 — 10 Literaturangaben),
vgl. Jahrbb. f. Phil. 93, 808 ff.
3) Rud. Scholl Philol. 25, 167 und Reuss Rhein, Mus. 38, 149 (anders
Le Beau a. O. p. 62 ff.); über das Verhältnis zu Thukydides Blass I 432 ff.
437, zum Menexenos des Plato Carl Schönborn über das Verhältnis in
welchem Piatons Menexenos zu dem Epitaphios des Lysias steht, Breslau 1830
(Progr. V. Guben), K. W. Krüger hist.-phD. Studien I 238 ff., Vitus Lörs
quae ratio inter Piatonis Menexenum et Lysiae laudationem s, epitaphium
S i ttl , Geschichte der griechischen Literatur. II. 10
146 Sechstes Kapitel.
Zu den sophistischen Uebungen des Lysias gehörte endlich
eine Verteidigung des Sokrates\\ welche, da er dem
Philosophen keineswegs vertraut war, nicht aus wahrer Empfin-
dung entsprang, sondern bloss die paradoxe Anklageschrift
des Folykrates (S. 73) bekämpfen sollte ; ebenso schrieb
Lysias, wie es heisst, gegen die ,, zeugenlose" Rede des Isokrates
(S. 102).
Da er jüngere Leute in seiner Kunst unterwies, musste er
nach dem Brauche nicht bloss jene Musterreden verfassen,
sondern den Schülern auch Stücke zum Auswendiglernen an
die Hand geben ^); ein rhetorisches Handbuch war aber nicht
vorhanden. Der Grund dürfte darin liegen, dass er als Lehrer
sich mit Theodoros von ßyzanz nicht messen konnte ^) und
bald aufhörte, Unterricht zu erteilen. Nichtsdestoweniger fuhr
er fort, wie seine Verteidigung des Sokrates und Piatos Phaidros,
dessen Polemik sonst zu spät käme, darthun, epideiktische
Reden abzufassen und einigen Anhängern mitzuteilen.
Seine Hauptthätigkeit richtete aber Lysias auf die Abfassung
der gerichtlichen Reden, worin er Theodoros weit hinter
sich Hess. Wie beschäftigt der geschickte Anwalt war, zeigt
die blosse Zahl der überlieferten Reden ; nicht weniger als 425
trugen seinen Namen und auch strenge Kritiker erkannten
volle 233 Reden für echt an"). Wir kennen über 160
Titel von echten und unechten Reden-'*), die hier aufzuführen,
nichts nützen würde; dagegen muss die erhaltene Sammlung
intercedat I. Trier 1846, Pius Knöll sind Beziehungen zwischen dem Epi-
taphios im Menexenos und dem sogenannten Lysianischen nachzuweisen ?
Krems 1873.
1) Es bildete sich daher die Anekdote, dass er Sokrates eine Verteidig-
ungsrede anbot, ohne ihn zur Annahme bewegen zu können (Cic. de orat. 1
64, 231 [Quintil. 2, 16, 30. 11, 1, HJ. Diogen. 2, 40).
2) Marcellin. ad Hermog. Walz rhet. IV 362, 7 elol -(ap ol totoüxot ton&i
YEYUfivaojxevot tij) Auotqc ev Tale itapaaxEüatc-
3) Aristot, bei Cic. Brut. 12, 48 quod Theodorus esset in arte subtilior.
4) Ps. Plut. 836 a cod. B (vulg. 230) = Photios biblioth. cod. 262 p.
488 b 16. Die Kritiker werden oberflächlich mit ol uepl Acovuoiov xal Kat-
xtXtov bezeichnet. Da Dionysios (Lys. c. 17) von Staxooiouv ohv. eXdxTO'j-:
8txavixou5 Xo-fOüc spricht, scheint jene Zahl seine Ansicht wiederzugeben;
eine mildere Kritik (Suidas) beliess Lysias über 300 Reden.
6) Verzeichnet bei Blass 1 348 ff. III 2, 336 f.
I
Lysias und Isaios. 147
einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Wir besitzen noch
(Ireissig gerichtliche Reden , wozu die Rede gegen Diogeiton
(XXXII.) l<:omtnt, von welcher Dionysios einen grossen Teil
erhalten hat; dagegen ist die erste Rede „über die Tötung
des Eratosthenes" abzusondern, weil sie ursprünghch mit
dem Epitaphios (IL) eine gesonderte Ueberheferung hatte; sie
wurde, wie der Epitaphios, von den Alten anerkannt. Was
nun aber die eigentliche demnach aus neunundzwanzig Reden
1 )estehende Sammlung betrifft, so ergibt sich ein für das kritische
Ih'teil des Sammlers sehr ungünstiges Resultat. Von Dionysios
und Harpokration sind nämlich nur zwei Reden bezeugt:
XII. xata 'Epatoa^EvoD?^) ;
VII. TlSpt TOÖ OTj/OÖ ^).
Dieselben erwähnen sonst sechs Reden , bezeichnen sie aber
als verdächtig :
VI. xat' 'AvSoxiSoo aasßeia?;^);
IX. U7:£p (;:spl) von OTpattWTOO ^) ;
X. xata 0so[iV7JOTao d ^);
XIV. xata 'AXxtßtdSoo XeiTtota^too ^) ;
XXIV. oTtäp (TTspl) TOD aSuvdrou '') ;
XXX. xata Nixo[td5(oa (Nixo]xcL-/idoo) '{pa\i\LCLviiiiQ so^ovwv
xaTYjYopia ^).
1) Paradox Alph. Heck er de oratione in Eratosthenem trigintavirum
Lysiae falso tributa, Leiden 1848.
2) Gotth. Meutzner comment. de Lysiae oratione nspl toö aYjxoi),
Leipzig 1860 (Festschrift von Plauen).
3) Harpocr. v. v.aza-:z\r^t. und cpapjxaxo«; ; vgl, Sluiter lectiones Andocideae
ed. C. Schiller p. 111 ff.
4) Harpocr, v. oiv.aitoot(;.
5) Harpocr. v. aniXXsiv^ aitopp-fjta, T:£cpaG[j.sv7]i;, TCo3oxdxxf); vgl. Konr.
Herrmann zur Echtheitsfrage von Lysias' X.Rede und über das Verhältnis
zwischen Rede X. und XL, Pr. v. Hannover 1878. Er schreibt sie einem
späten Rhetor zu; Blass Bursians Jahresber. 1880 I S, 184 wei.st auf eine
merkwürdige Aehnlichkeit (§ 28) mit dem Epitaphios hin.
6) Harpocr. v. 'AXv.tßtärjYjc.
7) Harpocr. v. aSuvatot.
8) Harpocr, v. eitißoXv]. Die Anklageforra i.st streitig, vgl. Ott« Guide
quaeationes de Lysiae oratione in Nicomachum, Berlin 1882 p. 28 ff., F. von
Stoj entin Jahrbb. f. Phil. 121, 200 ff. und P. S c h u 1 1 z e de Lysiae oratione
trigesima, Berlin 1883.
10*
lAQ Sechstes Kapitel.
Zu dieser Gruppe gehörte auch die Rede xata Ntxt'Soo
apY^ac, welche aus der Handschrift ausfiel^).
Die übrigen einundzwanzig Reden aber sind von den
Kritikern in keiner Weise erwähnt:
III, Tcpöc S[[itova axoXoYia ;
IV. TTspl tpaDjJLatoc: Ix Tcpovotac ;
V. oTi^p KaXXtoo tspoaüXiac: aizoko'^la;
XI. xata ©soprjaTOo ß';
XIII. xata 'AYopatoo;
XV. xata 'AXxtßtaSoD aatpaTSia?;
XVI. iv ßooX-;] MaVTid-§(p 8oxL[i-aCo[JLSV(j> aTroXoYia^);
XVII. SYjiiootwv aSLXY][idT(öv (Sauppe xp7j[j.ato)v) ;
XVIII, Tcspi 8Y]{j.sDa£(ö(: Tcöv Toö Ntxioo aSsX^oö (Eoxpatooc nur
im Epilog^);
XIX. ;cspl Twv 'ApioTO^pavooc xpTrjjiatcov xpöq x6 Syitiöatov*);
XX. oTtsp noXuaTpaTOo ;
XXI. (XTtoXoYia SwpoSoxiac a7rapdoir][io<;^);
XXII. xata Twv otTOTrtoXwv ^) ;
XXIII. xaxa naYxXiwvoc Ott oox -^v riXataieoi:;
XXV. ÖYjtioo xataXoaswc aTuoXoYia (das Ende felilt);
XXVI. TTspl f^? EoavSpoo Soxt[i-aaia(; (der Anfang fehlt);
XXVII. xata 'ETCtxpdtoü? xal twv oojiTcpsoßsotwv kniko'^of: ax;
OeöSwpoc '') ;
1) Ilarpocr. v. SiaYpd^J'aofl'at, e5'6'5vai, h^oXoaxazei.
2) Volk mann Rhetorik S. 222 glaubt, es sei der Epilog verloren
gegangen.
3) Der Titel ist im Palatinus hinzugefügt, weil der Anfang verloren
ging; Galenos XVIII 2, 657 K citiert xaxcc IIoXiou/ou. Kölscher sah in der
Rede eine Deuterologie ; Emil Gotth. Sachse quaestionum Lysiac. specimen,
Halle 1873 behauptet, es handle sich um eine irapaYpatp-rj und hält die Rede
für überarbeitet; zur Sache vgl. Rud. Scholl qnaestiones fiscales juris Attici,
BerUn 1873 p. 17 ff.
4) ßakius scholica hypomnemata III 211fr.
5) Bakius a. O. lU 252 ff.
6) Bakius a. O. III 255 ff.
7) Job. M. Hentschel quaestionum de Lysiae oratione Epicratea capita
duo, Meissen 1874; Rud. Scholl a, O. p. 14 ff. Wenn die Rede nicht
verstümmelt ist, wie aus dem nicht aufzufindenden Citate bei Bekker Anecd.
103, 11 vermutet wird, dann muss sie eine Deuterologie sein; Hentschel hält
sie für eine peroratio. Nach U a m a ker quaestt. de nonnullis Lysiae orationibus,
Leiden 1843 p. 72 ff. ist die Rede aus zwei Fragmenten, von denen das eine
§ 1 Evfl-üjxeioö-ai — 9 Koic fäfi umfusst, zusamnieugesctzt.
I
Lysias nnd Isaios. 149
XXVnr. xata 'EpYOxXsooc sttiXoyoc;
XXIX. xaxa <I>iXoxpaToo? ItciXo^oc;
XXXI. xata 4>iX(ovoc 8oxi[j.aaiac:.
Eine besondere Stelle verdient die Rede ;cpö<: tooc oovoo-
Giaora? xaxoXoYtwv (VIII.), welche nicht vor Gericht, sondern
in einer Klubbsitzung gegen ein anderes Vereinsmitglied ge-
halten ist.
Die erhaltene Sammlung leidet an vielen Fehlern; nicht
der schlimmste vielleicht besteht darin, dass die Kritik des
Dionysios und Caecilius ignoriert wird , denn die kritische
Methode der Alten war nicht selten leicht anfechtbar. Aber
der Sammler mischte unter die eigentlichen Reden, in welchen
der Fall von Anfang an vollständig exponiert wird, mehrere
Epiloge (mindestens XVIII. XXVII— XXIX.) und Deuterologien,
welche der Sacherklärung grosse Schwierigkeiten bereiten. Was
soll man vollends von dem Urteile dessen denken, der zwei
Doubletten nicht verschmähte? Die Anklagen gegen Alkibiades
und Theomnestos wurden nämlich von späteren Rhetoren zur
Uebung umgearbeitet (XI. XV.), ohne dass dies bei der Zu-
sammenstellung bemerkt ward. Endlich lässt das lysianische
Corpus überhaupt Ordnung und Planmässigkeit vermissen , die
Privatreden sind z. B. nur durch wenige Proben vertreten.
Nehmen wir dazu noch, dass die Ueberlieferung des Textes
schlecht, teilweise sehr schlecht ist, so wird man die Schwierig-
keiten, mit denen die höhere Kritik bei Lysias zu kämpfen hat,
würdigen können.
Ein von dem Geschmacke des Einzelnen unabhängiges
Moment ist die Zeit der Reden ^): Wir wir sahen, kann Lysias
erst nach der Rückkehr der Demokraten, als er nicht mehr der
reiche Mann wie ehedem war, Rechtsanwalt geworden sein.
Daher darf über die Unechtheit der Rede für Polystratos
(XX.) kein Zweifel bestehen ^) ; denn der Prozess fiel zwar nach
1) Vgl. Stutzer Hermes 15, 22 ff. (über die Abfassungszeit der 7. 14.
18. 21. und 25. Rede).
2) Ol. 93, 2 nach Blass I 503, ol. 92, 2 Krüger zu Clinton, fasti
Hell. p. 85 u. Röhl Hermes 11, 378 f.; vgl. über den Inhalt der Rede, der
wegen vermeintlicher historischer Irrthümer Anstoss erregte, FranzK. Franke 1
de oratione pro Polystrato habita I. Berlin 1869; Walter Parow de orationis
quae inter Lysiacas lociim obtinet vicesimum bizkp IIoXüatpdTot) inscriptae
J50 Sechste« Kapitel.
dem Staatsstreiche der Vierhundert (§ 22), aber vor der Herr-
schaft der Dreissig vor. Vielleicht war die Arginusenschlacht
noch nicht geschlagen.
Lysias selbst hielt -/Aierst eine Rede in eigener Sache, als
er Eratosthenes für den Tod seines Bruders verantwortlich
machen wollte; dies geschah 403, als die Dreissig noch in
Eleusis waren ^). Bald darauf beginnt eine dicht geschlossene
Kette von Reden, die zwischen den Jahren 402 und 380 abge-
fasst sind. Dem fünften Jahrhunderte gehören noch an die XXV.
(403/2)2), XXI. (etwa 401)/^), XXXII. (bald nach 402)*), vielleicht
auch XXIV. (einige Jahre nach 403, s. § 25). In das nächste
Jahrzehnt fallen die VI. (etwa 399), XXX. (399/8, vgl. § 5),
XIII. und XXXI. (in den Jahren nach 400?) 5), XVII. (397,
vgl. § 3 und 5), XVIII. (vor dem korinthischen Kriege, § 15),
XIV. (395/4)6) ^^^ Yii (etwa 396/5, vgl. § 11). Diesen folgt
die XVI. (zwischen 392 und 389 geschrieben, vgl. § 10. 15)').
Noch späterer Zeit entsprangen die Reden XXVIII. (389) und
die daran anknüpfenden XXVII. und XXIX., ferner XIX. (387)«),
XXII (387 oder bald darauf) 9), X. (384/3, vgl. § 4) und XXVI.
(382) ^*'); die jüngste war die durch Dionysios uns bekannte Rede
„für Pherenikos", welche um das Jahr 380 fiel. Nach dieser
forma et auctore, Berlin 1870 (Diss. v. Halle); Th. Thalheim des Lysias
Rede für Polystiatos, Pr. des Elisabethgymn . Breslau 1876; Aug. Pobl de
oratioue pro Polystrato Lysiaca, Strassburg 1881.
1) Vgl. Frohberg er Jahrbb. f. Phil. 82, 408 ff.; Grosser Jahrbb.
f. Phil. 99, 193 ff. 465 ff.
2) Blass I 496, nach Stutzer etwas später.
3) Nach Blatts I 609 401 oder 400, nach Froh berger und Grosser a. O.
403, nach Stutzer 402, jedenfalls bald nach der Kestauratiou verfasst, wie
§ 17 zeigt.
4) Blass I 620.
6) Rauchenstein nnd Blass I 657 (etwa 398 oder noch später). 477
(etwa 398).
6) Alex. Falk (in der Uebersetzung), Kauch enst ein Schweiz. Mus.
1862 S. 273 ff., Blass I 486; unsicher nach Stutzer.
7) Bald nach 394 oder 393 Fr oh berge r Jahrbb. f. Phil. 82, 412 f.
8) Vgl. § 60 mit Xenoph. Hell. 6, 1, 25.
9) Blass III 2, 340 ff. wegen § 8 nnd 14, vgl. Falk p. 266, nach 389
C. Fuhr animadv. in orat. Att. p. 16 f. adn.
10) Sauppe epistola critica p. 19ff. ; Blass I 470 ff. Aus.serdem fällt
in. nach 394 (§46).
Lysias nnd Isaios. 151
Zeit gab Lysias entweder freiwillig sein Geschäft auf, um den
Erwerb in Müsse zu geniessen oder es hinderte ihn der Tod
an weiteren Arbeiten. Dionysios hatte daher gewiss Recht, als
er zwei für Iphikrates bestimmte Reden aus den Jahren 372/1
und 354, welche überdies im Stil abwichen, Lysias absprach ^).
Nächst der Zeit bleibt die Beobachtung des Hiatus nicht
rosultatlos; während nämlich Lysias um den Zusammenstoss
der Vokale sich natürlich nicht bekümmert hat, steht die
Klubbrede (VIIL) auf dem Standpunkte der isokrateischen
Gerichtsreden ^). Deswegen ist es aber nicht notwendig , dass
sie eine des praktischen Zweckes entbehrende Deklamation
eines späteren Rhetors war^).
Auf die zwei bisher verworfenen Reden wurde ein Mittel
angewendet, durch das manche in neuester Zeit die Probleme
der lysianischen Kritik mit einem Schlage lösen zu können
glaubten. Es liegt, wie oben angedeutet ist, auf der Hand,
dass die zweiten Reden gegen Theomnestos (XL) und Alkibiades
(XV.) ^) nichts anderes als verkürzte Variationen der vorher-
gehenden Originale sind. Ich gebrauche absichtlich diese
Wendung statt ,, Auszug", weil jene Uebungen nicht ausführliche
Inhaltsangaben vorstellen , sondern Bearbeitungen desselben
Gegenstandes sind, deren geringerer Umfang sehr einfach er-
klärt werden kann. Da nun in unserer Sammlung mehrere
Reden sehr lückenhaft überliefert sind oder über den Fall, für
welchen sie einst bestimmt waren , dürftige Andeutungen geben,
hielten es mehrere Gelehrte für angezeigt, statt dass sie die
allgemeine Mangelhaftigkeit der üeberlieferung in Betracht
zogen oder untersuchten, ob eine Deuterologie vorliege, die
1) Dionys. Lys. 12; vgl. über die Zeit der zweiten Eede A. Schäfer
Demosthenes und seine Zeit I S. 153 f. A. 4.
2) ßenseler de hiatu p. 183, berichtigt von Ernst Fritzsche de
Pseudo-Lysiae oratione octava, Jena 1877 (Diss. v. Kostock) p. 9 f. und Blass
III 2, 338. Schon Markland, Taylor und Eeiske bezweifelten die Echtheit;
vgl. Pert z quaestion. Lysiac. p. 16 flf., B 1 a s s I 655 flf., Kirchner quaestion.
Lysiac. specimen, Demmin 1869, Th. Gleiniger Hermes 9, 150flf. Die
Rede kann natürlich nicht eine Jugendschrift sein, wie Spengel ouvw-YtuY*»]
p. 125 und Audere vor Benseier meinten; nach Th. Bergk Philol. 14, 183
ist sie ein Scherz.
3) H. Bürmann Hermes 10, 347 ff.
4) Markland wollte XV. und XIV. zu einer Rede verbinden.
152 Sechstes Kapitel.
Schuld lieber auf einen excerpierenden Rhetor zu schieben ^).
Aus der Sprache die Unechtheit einzelner Reden zu ei
schliessen, wäre bei dem oben geschilderten Zustande ein ausser-
ordentlich schwieriges Unternehmen. Höchstens darf man aus
den juristischen Formeln Schlüsse zu ziehen wagen; so hat
Lysias für die Aufrufung der Zeugen drei bestimmte Formeln:
xai jJLOi avaßiTjTS, xai {AOi xaXst toüc [xaptopa': ^) und {Adpropa«;
:cap£to[jLat , was 12, 61 hübsch variiert wird. Hierin weichen
ausser der sicher unechten XX. Rede^) die XXXI. und be-
sonders die XXIII. Rede ab*); nicht so einfache Schlüsse sind
bei der Anrede an die Richter zu ziehen^) : Wenn der Sprechende
vor dem Rate steht, gebraucht er regelmässig die Formel w
ßooXT] ^), nur in XXVI. wechselt sie mit w avSpe? ßooXsotat
(§ 20). Es ist dies die letzte erhaltene Rede, so dass der
Unterschied vielleicht mit der Ciironologie in Zusammenhang
zu bringen ist. In Kapitalprozessen werden der Wichtigkeit
der Sache wegen die Richter auch als ,, athenische Bürger"
I
1) Schon Dobree adversaria critica I 198 verfiel bei der vierten Rede,
vFelche Taylor verworfen hatte, auf dieses Auskunftsmittel; indes ist hier
der Anfang verloren (Scheibe, Francken, Blass I 590) ; über • die VIII. Rede
Gleiniger Hermes 9, lölflf. Stutzer Hermes 14, 499 ff. ; über die IX.
Stutzer a. O. (Blass I 608 ff", bestreitet dies und nimmt die Unechtheit der
sehr schlecht überlieferten Rede an); von XX. behauptet Walter Parow de
orationis quae inter Lysiacas locum obtinet vicesimum . . . forma et auctore
Halle 1870, sie bestehe aus den Resten von zwei Reden (nämlich 11. 12. 19.
23 — 36 und 8. 21. 22), während das übrige epitomiert sei; letzteres dehnen
Emil Albrecht de Lysiae oratione XX., Berlin 1878 und Stutzer a. O.
auf die ganze Rede aus (Auch diese ist eine Dcuterologie, welche der älteste
Sohn des Angeklagten hielt). Die XXX. Rede ist epitomiert nach Albrecht
a. O. p. 65 thes. 3, Stutzer a. O. und Paul Schnitze de Lysiae oratione
XXX., Berlin 1883 (p. 37 — 42 über Stil und Sprache). Auch hier lösen sich
die Schwierigkeiten, zumal da ein Proömium fehlt, wenn man eine Dcutero-
logie annimmt (Blass I 460).
2) Bei einem einzelnen xdXeaov 21, 10.
3) Hier steht § 26 das seltene xa>.d> statt xdXst.
4) Erstere hat die Wendung „dsis lasst euch von den Zeugen sagen"
(§ 14. 23); in der XXIII. fügt der Redner jener dritten Formel regelmässig
(4. 8. 11. 14. 16.) bei: entXaße tö SScup.
6) C. F. Rocke 1 de allocutionis usu qualis sit apud Thucyd. Xenoph.
oratores Dionem Aristidem, Königsberg 1884 war mir noch nicht zugänglich.
6) III. IV. VII. XVI. XXIV. XXXI.
I
Lysias und Isaios. 153
angeredet^); nur die XXX. Rede gegen Nikomachos weicht
davon ab. Andererseits kommt letztere Anrede in der XXVIII.
Rede ausschliesslich und in der VI. mit einer Ausnahme vor.
Jene (gegen Ergokles gerichtet) muss ausserdem dadurch
unseren Verdacht erregen, dass Lysias gegen einen Freund des
Thrasybulos eine die Hinrichtung beantragende Rede geschrieben
und auch den Steirier selbst, der ihm dereinst das Bürgerrecht
zu verschaffen gedacht hatte, nicht besonders freundlich be-
handelt haben soll ; auch Harpokration bezeichnet die Rede als
verdächtig.
Für die Echtheit der VI. Rede gegen Andokides,
welche gleichfalls schon die Alten anzweifelten, tritt ohnehin
niemand ein'^). Sie ist ja nicht bloss des gewandten Advokaten
wegen der schlecht geordneten Masse unbewiesener Beschul-
digungen unwürdig, Lysias hätte auch die geschmacklosen
Bilder, welche für eine solche Rede nicht passen, vermieden.
Dafür aber, dass ein später Sophist das Thema zur LTebung
bearbeitet habe ^), ist der Beweis nicht erbracht.
Von den übrigen Stücken, welche die gewöhnliche Anrede
d) avSpsc Stxaarai bieten, sondern sich die XIX. Rede, wo § 34
bloss d) SixaoTai,' steht, und die durch Dionysios bekannte XXXII.
ab, w^elche ausser dem siebenmal gebrauchten üblichen Titel
dreimal den kürzeren und § 21 bloss d> avSpec anwendet.
Noch schwieriger ist alles, was den Stil betriö't, zu beurteilen :
Da Lysias wenig Pathos zu entwickeln pflegt, so sei bemerkt,
dass er selbst an Ausrufen sich höchstens Trpo? dswv 'OXu[x;rto)v
13, 95 und 19, 34. 54) gestattete; aber besonders die XIX.
ist verdächtig, weil dort (§ 34) noch «psps vorantritt ^). Nur
der Verfasser der VI. Rede sagt [la töv Aia (7. 32. 38), nur
der von VIII. [la todc d-Bobc, (18).
Der massvollen Forschung ist hier ein fruchtbares Feld
eröffnet; schablonenhafte Monographien dagegen werden bei
Lysias noch mehr als anderswo das Ziel verfehlen.
1) I. VI. XII. XIII. XXVII. XXVIII.
2) Vgl. Blass I 566 ff.
3) Francken p. 44 f., Falk in der üebersetzung S. 69; gegen Sluiter
lection. Andocideae p. 170. Vgl. Kirchhoff Hermes 1, 7 ff.
4) ^epe §Yj {'(äp) gebraucht er bIos.s in seiner ersten Rede § 34. 62. 94;
ausserdem steht es in den beiden unechten Reden VI. und VIII.
154 Sechstes Kapitel.
Aus der eigentümlichen Beschaffenheit des lysianischen
Nachlasses geht hervor, dass bei einer Charakteristik des
Redners^) die Urteile der Alten, besonders des Dionysios von
Halikarnass , welcher diesen Gegenstand in einer besonderen
Schrift behandelte, za Grunde zu legen und mit den vorhandenen
Denkmälern der lysianischen Beredsamkeit zu belegen sind.
An der Sprache des Lysias rühmen alle die Reinheit; er
gebrauchte weder veraltete oder dichterische Wörter noch stieg
er auf die Gasse herab, sondern seine Sprache war die der ge-
bildeten Leute jenes Zeitalters. Es versteht sich aber dabei
von selbst, dass Lysias, wenn es gerade der Ton eines Ab-
schnittes forderte und der Charakter des Sprechers damit
harmonierte, auch Ausdrücke des höheren Stiles, seltenere
Wörter, ungewöhnliche Zusammensetzungen und kühne Meta-
phern sich nicht entgehen liess^). So wurde die Einfachheit
der Sprache nicht zugleich zur Einförmigkeit. Lysias pflegt
sich knapp auszuaiücken, ist aber doch weit entfernt davon,
nur das notwendige zu sagen; wo er Eindruck machen will,
zumal in den Epilogen, kommen Paare von Synonymen^) gar
nicht selten vor und auch das allen Klassikern gemeinsame
Streben nach Symmetrie hat zu wiederholten Malen Satzglieder
gedehnt*). Immerhin liefert Lysias den sprechenden Beweis,
dass Klarheit nicht an Ausführlichkeit geknüpft sei; er bleibt
stets deutlich und verständlich, mag er gleich sich oft die Be-
quemlichkeit der Umgangssprache gestatten und die Personen, um
welche es sich handelt, nur mit „er" oder ,, dieser" bezeichnen^).
Auch Ellipsen lässt er zu ^), wenn dadurch der Sinn nicht
verdunkelt wird. Die Satzbildung des Redners ist ausser-
ordentlich einfach ; die zwei am häufigsten angewendeten Binde-
1) Ausser Blass und Girard (s. oben S. 33) vgl. Fiiedr. Berbig über
das genus dicendi tenue des Kedners Lysias, Pr. v. Cüstrin 1871; Gg. Carel
de Lysiae judiciali sernione sententiae vetcrum, Halle 1874.
2) Georg Carel de Lysiae judiciali sermone sententiae veterum, Halle
1874 p. 14 — 18. Glciniger Hermes 9, 171 (hier sind auch die wenigen
Personifikationen und Vergleiche aufgezählt).
3) Vgl. Carel a. O. p. 19.
4) Car. Forts ch comment. crit. de locis nonnullis T ysiae et Demosthenis,
Leipzig 1827 p. 27.
6) H. Eckert de epitaphio Lysiae oralori falso tribnto p. 39 flf.
6) Fritz 8 che de Pseudo-Lysiae oratione octava p. 6 flf.
Lysias nnd Isaios. 155
mittel sind die Konjunktion „und", sowie die antithetische
Verknüpfung zweier Sätze ^), wobei man bloss die Antithesen
des Isokrates zur Vergleichung heranzuziehen braucht, damit
klar wird, wie geringe sophistische Kunst in jenen liegt. Doch
sind natürlich die Epiloge, welche immer am meisten eine
rhetorische Färbung haben , kunstreicher ausgearbeitet. Die
Anakohithe ^) sind nicht durch Nachlässigkeit verschuldet,
sondern aus dem Bestreben, die Umgangssprache nachzu-
bilden, entsprungen. Rlietorische Figuren werden nur soweit
zugelassen , als sie auch im gewöhnlichen Leben vorkommen ;
daher liebt Lysias vor allem die lebhafte Frage an die Richter
oder an die Gegner^), während die an den Sprecher selbst
gerichtete Frage, weil sie manieriert ist, selten vorkommt^). Die
Anaphora und das Wortspiel können ebenso wenig für sophis-
tische Mittel gelten ; andererseits fehlen die symmetrischen
Gleicliklänge und ähnhche Zierrate der Prunkrede fast gänzlicli^).
Man darf jedoch dem lysianischen Stil nicht zu enge Grenzen
ziehen, wie z. ß. Favorinus kein einziges Wort des Lysias für
entbehrlich erklärte*'); Lysias verschmäht gelegenthch weder
derbe Witze noch selbst Dichtercitate ^).
Am meisten erlangte aber Lysias durch das-^do?, welches
er seinen Reden einzuflössen wusste, Bewunderung. Der athenische
Redenschreiber war in einer schwierigen Lage; denn die Richter
durften nicht ahnen, dass der Sprecher von einem professions-
mässigen Advokaten unterstützt wurde, sonst hätten sie ihn
mit Voreingenommenheit angehört und die schönste Rede ihre
Wirkung verfehlt. War doch selbst der Ruf der Fertigkeit und
Gewandtheit schädlich, weshalb so häufig die Redner beteuern,
sie seien nicht „dsivol X^y^^^"- Wenn also der Logograph seinen
1) Eckert a. O. p. 39 ff. ; Gleiniger Hermes 9, 170,
2) Friedr. A.Müller observationes de elocutione Lysiae I. de anacoluthis,
Halle 1877.
3) Gleiniger Hermcö 9, 170; sehr geschickt ist die Frage z. B. 12,
25 f. angewendet.
4) 13, 20. 8, 17 und 10, 26 gehören zu sicher unechten Reden.
5) Gleiniger Hermes 9, 170.
6) GeUius 2, 5.
7) Demetr. tc. Ep[j.fjv. 128 (abgesehen von der Eede öirlp xoü aSovdxou); Lys.
fragm. 182.
156 Sechstes Kapitel.
ganzen Scharfsinn und alle seine dialektische Geschicklichkeit
aufbot, nützte er dadurch allein seinem Klienten nicht viel,
niusste sich vielmehr zugleich in den Stand und Charaktei
desselben hineinleben und seine eigene Person vollkommei
zurücktreten lassen. So fasste wenigstens Lysias seine Aufgabe
auf und darum ist er, mag auch Plato seine philosophischei
Tändeleien verspotten, der grösste Psycholog unter den Prosaiker!
und von seltener plastischer Begabung. Wohl alle echten Redei
sind Genrebilder aus dem Leben der athenischen Bürger; dies<
erscheinen leibhaftig vor uns, freilich von der vorteilhaftesten'
Seite und gleichfalls im Feiertagsgewande , sie sprechen auch
nicht wie Advokaten , sondern wie es ein tüchtiger Laie zu
Stande bringen könnte, ohne entlegene Spitzfindigkeiten und
aufdringliches Arrangement der Punkte. Selbst der moderne
Leser vergisst, dass in der Maske dieser rechtschaffenen Bürger
ein Advokat steckt und obendrein ein raffinierterer als Isaios
und Deraosthenes. Denn diese sind so listenreich und ver-
schmitzt, dass man nicht selten die Absicht merkt, während
Lysias, ohne so viel Dialektik und Rhetorik aufzuwenden, durch
seine scheinbare Naivität und Harmlosigkeit das athenische
Schöffengericht noch sicherer gewann. Am ehesten ahnt man
an der XXIV. Rede, dass diese Unschuld nur Schein ist. Wie
geschickt präsentiert sich hier der Lahme als einen unbescholtenen
Bürger, wie weiss er das Lachen der Richter durch seine
burlesken Einfälle zu erregen ! Wer möchte ihm nicht gerne
die Unterstützung, die ja nur in einem Obolos tägHch bestand,
gewähren? Sieht aber ein Unbefangener näher zu, ob die
Anklagepunkte widerlegt seien, so scheint es eher, dass der
Krüppel keineswegs arm war und in seiner Stube allerlei vor-
ging, was das Licht des Tages zu scheuen hatte. Aber die
Richter wurden durch seine Possen vortrefflich amüsiert und
gewannen von dem Lahmen sicher die beste Meinung.
Dionysios (c. 18) wendet daher sehr richtig auf Lysias an,
was Homer von Odysseus sagt:
laxe (};e65ea ttoXX« X^ywv k6{xotaiv 6[i.ota. Seine rhetorische
Manier vergleicht derselbe Rhetor (c. 3) mit den Statuen der
attischen Meister Kaiamis und Kalli machos, welche in gleicher
Weise Einfachheit und Schlichtheit mit Anmut und Grazie zu
vereinen wussten. Würde und Pathos darf man bei Lysias
I
Lysias und Isaios. 157
freilich nicht suchen, er ist „eher einem klaren Quell als einem
grossen Strome vergleichbar"^); aber auf seinem beschränkten
Gebiete war er Meister und ist stets darin unübertroffen geblieben.
Niemand hat so wie er zu erzählen verstanden ^) und unter
seinen eigenen Reden ragt in diesem Punkte die I. ,,über die
Tötung des Eratosthenes" so sehr hervor, dass sie von den
Späteren als Musterstück aus dem Corpus aufgehoben wurde.
Es ist natürlich, dass die Griechen des vierten Jahrhunderts,
welche andere Forderungen an die Beredsamkeit stellten, Lysias
bei Seite schoben oder tadelten^). Doch erfolgte bald nach dem
Tode des Demosthenes eine Reaktion gegen dessen Richtung
wenigstens darin, dass Charisios auf den schlichten Perioden-
bau des alten Redners zurückgriff ^). Der Schwulst der asianischen
Schule, welche von Charisios' Schüler Hegesias ausging, rief
zur Zeit Ciceros wiederum eine Gegenströmung hervor. Während
dieser zu Demosthenes sich wandte, gingen Brutus und Licinius
Calvus zum anderen Extrem zurück^). Die Art des Lysias
erschien ihnen wie die Verkörperung des biederen ehrenfesten
Republikanismus, sie konnten sich aber auch auf die Zustimmung
der hervorragendsten Lehrer der Beredsamkeit berufen, von
denen CaeciUus noch mehr als Dionysios das Lob des Lysias
verkündete*'). Als jedoch der blütenreiche Stil der jüngeren
Sophistik in die Mode kam, verminderte sich dieser Enthusiasmus.
Wenn Lysias auch noch immer zu den gelesensten Rednern
gehörte, stand sein Ansehen doch weit hinter dem des Demo-
sthenes und Isokrates zurück und man studierte Lysias mehr
als Quelle des reinen Atticismus '^) denn wie ein Vorbild der
1) Quintilian. 10, I, 78.
2) Dionys. Lys. 18, Quintil. a. O.
8) So Tlieophrast; vgl. Dionys. Lys. 14.
4) Blass griechische Beredsamkeit von Alexander bis auf Augustus
S. 20 f.
6) Vgl. Cicero orator 9, 29. 30; Blass a. O. S. 132 ff.; später Plin.
epist. 1, 20, 4.
6) CaeciUus (vgl. Utpl ö^^ou? 32, 8) schrieb eine begeisterte Schrift uepl
Aooioü, Dionysios ausser der Analyse des lysianischen Stils, welche in der
Beurteilung der Attiker steht, eine Monographie über die echten und unechten
Eeden des Lysias.
7) Vgl. z. B. Plutarch. de recta rat. aud. 9. Hermogenes tc. 13. 2, 11
urteilt kühl darüber.
158 Sechstes Kapitel.
Rhetorik. Es gab daher nur wenige Schriften über Lysias^)]
die einzige bedeutende Leistung rührte von Paulos aus der
mysischen Städtchen Gernie ^) her, welcher sämmtliche Redei
erläuterte und ausserdem über die Echtheit der Rede xspl ttj?
'IipixpaTOoi; Swpsä? schrieb; er verwarf sogar die Rede über den
Stumpf und verschuldete, wie man ihm vorwarf, durch leicht-
sinnige Verdächtigung den Untergang zahlreicher Reden ^).
Daran mag indes eher die Scheu, welche die Byzantiner vor
allen umfangreichen Codices empfanden, die Schuld getragen
haben ; ausserdem sagte Lysias , obgleich er gelegentlich das
Vorbild für praktische Reden abgab ^), dem Geschmack des
griechischen Mittelalters wenig zu. Daher gingen die meisten
Reden unter, Schollen und ähnliche Hilfsmittel des Studiums
fehlen gänzlich und man verdankt die Erhaltung des jetzt vor-
handenen eigentlich nur einem Zufall.
Wiewohl nämlich anscheinend zahlreiche Handschriften
der lysianischen Reden vorhanden sind, ist nur der codex
Palatinus X % wie H. Sauppe in der berühmten epistola critica
ad Godofredum Hermannum (Leipzig 1841) nachwies, originell,
denn eine gemeinsame Lücke und das Auslassen unleserlicher
Wörter verraten, dass alle übrigen Handschriften aus der
Heidelberger abgeschrieben sind. Dieser Codex, dessen Text
sehr verderbt (z. B. besonders in der vierten Rede) ist, wurde
einst aus mindestens ^) zwei Handschriften abgeschrieben ; die
beiden ersten gehörten nämlich nicht zum Corpus, sondern zu
einer Miscellaneensamralung, weshalb sie, zumal der Epitaphios,
in unabhängigen Handschriften überliefert sind '').
1) Suidas erwähnt Oajus Harpokratiou nepl twv Titepeioou xal Auoiou
Xo^tuv und ein 67t4fiv^|j.a von Zenou und Zosiraos.
2) Nach Wyttenbach ist er der Zeitgenosse des Porphyrios, welchen
Eunapios I p. 11 nannte.
3) Phot. bibl. cod. 262 p. 489 a 35 flf.
4) Michael Psellos in Satbas' Meoactovtx-}) ßißXioö-rixY) IV^ 223.
6) Kollation in Scbeibes Ausgabe; Nachträge geben R. Scholl Hermes
10, 202 ff. und Spiridion Lambros Hermes 10, 257 ff.
6) Vielleicht bildeten nämlich die letzten Reden (von der 25. an) eine
besondere Handschrift.
7) Für die erste Rede zieht H. Sehen kl Wiener Studien 3, 81 ff. eine
Venediger Handschrift heran; die zweite ist in zahlreichen Sammlungen
überliefert, vgl. Mart. Erdmunn de Pseudo-Lysiae epitapbii codicibus, Leipzig
Lysias nod Isaios. 159
Auch die Renaissance beachtete Lysias wenig ^). Die älteren
Ausgaben, welche mit der Rednersaramlung des Aldus (1513)
und Stephanus (1577) beginnen, sind nach dem oben gesagten
nur hinsichtlich der darin enthaltenen Konjekturen zu beachten ^);
davon ist nicht einmal die Ausgabe Bekkers auszunehmen.
Erst Sauppe erkannte, wie gesagt, die Wichtigkeit des Palatinus ;
auf seiner Entdeckung sind die Recensionen von Scheibe
(Leipzig 1852. n874) und Cobet (Amsterdam 1863)3) aufge-
baut; letzterer ändert sehr viel, in der That, mag man auch
über seine Vermutungen nicht immer günstig urteilen, leidet
der Palatinus an vielen Verderbnissen.
Die Erklärung der Reden des Lysias hängt enge mit
der Erforschung der attischen Einrichtungen zusammen''); von
den Früheren hat höchstens Taylor etwas brauchbares geleistet.
Vortrefflich ist die Ausgabe von R. Rauchenstein (Berlin 1848,
nur von Fuhr L ^1884, IL ^1881), noch inhaltsreicher die
grössere von Herrn. Frohberger (Leipzig 1866 — 71, neu von
Gebauer 1880 — 81, 3 Hefte), welche das Rhetorische eingehend
Ijerücksichtigt.
Da Lysias keine Schule hielt, hatte er keine Schüler, aber
auch mittelbar können wir seinen Einfluss wenigstens in der
Literatur nicht sicher nachweisen ; der bedeutendste der zeitlich
ihm nahestehenden Redenschreiber wandte sich, sei es dass er
dem Zuge der Zeit oder den angeborenen Neigungen folgte,
einer neuen Riciitung zu.
1881 (Diss. von Strassbuvg), berichtigt von U. v. Wilamowitz Deutsche
Literaturztg. 1882 Sp. 462, K. Fuhr pbilol. Rundschau II Nr. 3 und K. S.
philol. Anz. 13, 713 ff. Erdmanu veröffentlichte im selben Jahre eine Separat
ausgäbe.
1) Der bekannte Filelfo versuchte eine Uebersetzung (Voigt Wieder-
belebung des class. Alterthums II '^ 180 A. 4).
2) Ich nenne noch die Au.sgaben von Jod. van der Heid (und Andr.
Schott), Hannover 1618, Taylor London 1739. Canterbury 1740, Reiske orat.
Graec. V. VI. 1772, Auger Paris 1783, Förtsch Leipzig 1829 und Joh. Franz,
München 1831.
3) Vgl. auch orationes selectae . . . ed. H. van Herwerden, Groningen
1863; Anton Westermann quaestiones Lysiacae III. Leipzig 1865 (Univ.-
Pr.) gibt den kritischen Apparat zur 12. Rede.
4) Vgl. besonders Rud. Scholl quaestiones fiscales juris Attici ex Lysia
illustratae, Berlin 1873.
160 Sechstes Kapitel.
Ueber die Lebensverhältnisse des Isaios ^) ist nichts anderes
mit Sicherheit bekannt als dass sein Vater Diagoras hiess^)»
der Rhetor Dionysios schloss ferner aus seinen Reden, dass er
nach dem peloponnesischen Kriege bis zur Zeit Philipps thätig
war^). Isaios war also vielleicht etwas jünger als Isokrates,
gewiss aber nicht dessen Schüler, wenn er auch in seinen
letzten Reden den Hiatusgesetzen des Isokrates massig Rech-
nung trug *). Wahrscheinlich war Isaios ein in Chalkis ^)
geborener Metöke; er gab sich nicht wie Lysias mit der Kunst-
rede ab, sondern verfasste ausschliesslich Gerichtsreden , wobei
er wegen seiner Kniffe gefürchtet und verrufen war^). Isaios
gab auch Unterricht, wenn anders er ein Handbuch veröffent-
üchte''); aber bei Demosthenes werden wir sehen, dass die Er-
zählung, er habe Isaios zum Lehrer gehabt, ein unbeglaubigtes
Gerücht ist.
Es gab unter dem Namen des Isaios 64 Reden , von
welchen die Kritiker 14 ausschieden; wir kennen noch 56 TiteP).
Von den bestimmbaren Reden betreffen 37 Civilsachen und
1) Kurz behandelt von Hermippos (unter den Schülern des Isokrates)
den Dionysios ausschreibt, auch von Demetrios Magnes (Harpocr. v. 'loaloc)
und anderen ttveg, exspoi Dionys., ttve? Ps. Plut.). Ausser den Bemerkungen
des Dionysios, welcher hauptsächlich über den rhetorischen Charakter des
Isaios handelt, ist die pseudoplutarchische Biographie erhalten. Das anonyme
Y^vos 'loaioü der Handschriften (in das sich Z. 6 — 14 eine Interpolation ein-
gedrängt hat) ist aus Harpokration und Dionysios zusammengestellt. Suidas
schreibt Philostratos und Harpokration ab ; ein Zusatz ist wertlos. Vgl. J. A.
Liebmann de Isaei vita et scriptis, Halle 1831; Blass II 452 ff.
2) revoc 'loatou.
3) Dien. 1. Im Anonymus steht xata töv IleXoTiovvfjataxöv rtoXspiov.
4) Ueber die Schülerschaft Hermippos, modificiert Benseier de hiatu
p. 192 f.; 8. dagegen Blass II 455. liioXaGaz Aoaia Ps. Plut. ist aus der
Aehnlicbkeit ihrer Beschältigung zu erklären. Ueber seinen anfreblichon Ver-
kehr mit Philosophen (Dionys.) Sadee Dissertatt, Argentorat. II 279 f.
6) So Demetrios nach Harpocr. (Suid.) und anderen (Dion. Anou.), vgl.
Ps. Plut. 844 b; ungenauere nannten ihn von seinem Aufenthaltsorte Athener
(Dion. Harp. Anon.). Liebniann vermittelt.
6) Vgl. Dion. Isae. 4.
7) Plut. glor. Athen. 8 p. 860 c. Ps. I'lut. Dem. 839 e; Ps. Plut. Isjh
839 f. ISiai; xiyya(i.
8) Verzeichnet bei Blass U 459 ff. Ill 2, 355.
Lysiaa unä Isaios^. 161
nur eine (xata AtoxXsooc ußpEw?) einen Kriminalprozess ^). Da
Isaios wegen seiner Behandlung der meist sehr verwickelten
Erbschaftsstreitigkeiten berühmt war, bildeten die darauf bezüg-
lichen Reden (xX'^ptxot') ^) die Plauptabteilung und diese ist allein
noch erhalten, wie bei Antiphon die ^ovtxoi; der Schluss der
Sammlung ging jedoch verloren, so dass von dreizehn Reden
nur zehn vollständig und der grössere Teil der elften vorliegen.
Ausserdem hat Dionysios mehrere Stücke bewahrt, deren grösstes
man als zwölfte Rede zu zählen pflegt. Sonst werden 43 Reden
angeführt, wovon zwei angezweifelt wurden ^) und zwei zwischen
Isaios und Lysias streitig waren ^).
Die erhaltenen Reden nun sind in chronologischer Ordnung
folgende :
V. Tcepi Toö AixaioYsvooc xXTjpoo, um 389 verfasst^);
X. TTpö? Esvat'vsTov TTspt Toö 'Apiatdp^oo xXyjpoo, nach 378*^);
IX. Tuspl Toö 'AoToiptXoü xXvjpoo, nach 371');
VI. ;cspl TOÖ 4>rXoxT'if][j.ovos xXT^poo, aus dem Jahre 364/3 (§ 14) ;
XI. irspl TOD 'Ayviou xXTJpoo, nach 361/0, wenn das Akten-
stück bei Demosthenes 43, 61 Glauben verdient^);
IL xepl TOÖ MevsxXsooc xXvjpoo, um 354 oder bald nachher^).
VII. TTspl TOÖ 'ATioXXoScüpou xXTjpoo, uicht vor 353 ^").
1) Der Titel ntfi xwv iv MaxeSovia pfj^-svituv ist unklar; xaxa M^'^apimv
wird angezweifelt.
2) Harpocr. v. xajj.iat: 'laaloc £v tivI tojv xXTjptxöiv.
3) Kat' 'ApioToxXsouc und xaxa Mt-^apiüiV,
4) Kaxa ^IxpatcuXeoü«; e4öüX7]c und irpo? 'AvSoxiofjv ftTtooxaaiou.
6) Scheibe in der Ausgabe p. XXV und Blass II 610, ähnlich Schömaun
in der Ausgabe p, V; 372 nach Dobree adversaria I 297 und Benseier
de hiatu p. 186 (auf derselben Grundlage Krüger ad Clinton fast. Hell.
p. 113).
6) § 22, vgl. gegen Schömann (p. 431), nach dem die Kede spätestens
884 gehalten sein soU, Blass II 528, 5.
7) Vgl. § 14 (Weissenborn in der hall. Encyclop. S. 300 und Blass 11
526) ; nach Schömann p. 406 kurz nach 390, nach Dobree (advers. crit. I 805.
874—71.
8) Nach Clinton, Böhnecke und Schömann (p. 452) 360/59, nach Scheibe
p. XLIII 860, nach Blass (II 581) 359 oder 358; A. Schäfer Demosthenes
in B 234 f. hält die Eede für älter.
9) Vgl. § 6 (Blass II 498); nach Schömann p. 198 f. um 360.
10) Scheibe p. XXXII; Blass II 517, vgl. Schömann p. 354; Ol. 105, 4
oder 106 Böckh Staatshaush. 11 101.
Slttl, Geschichte der griechischen Literatur, n. 11
I
jg2 Sechstes Kapitel,
Auch die Zeit von VIII. :c£pl toö Ktfpwvoc xXT^poo wäre
zu bestimmen, wenn die Rede wirklich von Demosthenes im
Vormundschaftsprozess benützt wurde ^); da es sich hier aber
um Gemeinplätze handeln dürfte, steht nur der terminus post
quem 383 fest ^).
Gar keine chronologische Bestimmung ist bei den drei
folgenden Reden möglich :
I. Tiepl TOÖ KXs(ovö[JLOo xXTjpoo ^) ;
III. Ttspl TOÖ IIoppoD xXijpoo, eine Rede, die wohl zu den
spätesten gehört, da Diophantos und Dorotheos (§ 22) noch
343 und 349 in Prozessen vorkommen '^).
IV. TceplTOö NtxoaTpaToo xXYjpoo.
Wie man sieht, sind etwa die Jahre 390 und 350 die
Grenzen, innerhalb welcher die erhaltenen Reden verfasst sind;
die Zeitfolge derselben noch genauer zu bestimmen, ermöghcht _^
vielleicht die Untersuchung einiger Gewohnheiten des Isaios, bei ^M
denen stufenweise Entwicklung hervortritt. Betrachten wir die
Anrede an die Richter, so finden wir, dass sie Isaios in der 2.
5. — 8. und 11. Rede konsequent mit w avSpsg bezeichnet. Auch
in der 1. 4. 9. und 10, Rede ist diese Ansprache gewöhnlich,
doch gebraucht der Redner im Epilog w 'Ad-qvoLloi (1, 47) oder
die volle Form w avSpsc ocxaatat''). Die dritte Rede schliesst
sich der Mehrzahl an, bietet aber, wie die zwölfte, unmittelbar ,
am Anfange das ungewöhnliche "AvSps«: StxaoTai. Die übrigen «Bj
durch Dionysios bekannten Reden enthalten w avSpsc Sixaatai.
Wichtiger ist die Vermeidung des Hiatus ^) ; denn als Isaios
seine Thätigkeit begann, kümmerte sich kein Redner der Praxis
um den Zusammenstoss der Vokale. Daher achtete er in den
ersten Reden 4. — 6. 9. 10. gar nicht darauf; aber seit etwa
360, als Isokrates' Lehren durch zahlreiche Schüler in die
Oeffenthchkeit drangen, musste er auf die Mode Rücksicht nehmen.
1) Blass II 621.
2) Scheibe p. XXXIV.
3) Zur Sache E. Alhrecht Jahrbb. f. Phil. 127, 167; J. Lunak
Philol. 42, 275 ff.
4) Dem. 19, 198. 59, 39 (A. Seh Ufer Df nioMhf nes I 182 f. Blass H 603
6) So 4, 80. 9, 37, 10, 25, ausserdem 9, 16.
6) Benseier de hiatu apud oratores Atticos p. 186 flf.
Lysias und Isaios. 163
um die Ohren der gebildeteren Richter nicht unangenehm zu
l)erühren. Die Anfänge dieser Wandlung liegen in der 7. 8.
und 11. Rede, von denen die letzte noch drei Hiate unmittelbar
hinter einander (§ 8) enthält, deutlich vor und in der ersten
fehlt der Hiatus beinahe ganz. Die zweite Rede zeigt keinerlei
Rücksicht auf den Zusammenstoss der Vokale, doch ergibt sich
daraus allein nicht, dass sie unecht sei; vielmehr mag Isaios
die Sprache dem Stande und Charakter des Sprechers, der
ein gewöhnlicher Bürger war und mit Schroffheit auftrat,
angepasst haben.
Dass die fünfte Rede die älteste ist, verrät ihre kunstlose
Form, weil ihr sowohl ein rhetorisches Proömium als auch der
Appell an die Richter ^) fehlt. Wie es scheint, lernte Isaios die
rhetorische Technik erst durch die Uebung und das Beispiel
des Lysias. Noch in der neunten Rede sind Proömium und
Epilog nur schwach entwickelt ; der zehnten, welche wenigstens
ein kurzes nicht rein sachliches Proömium enthält, fehlt der
Epilog überhaupt. Mit diesen Reden bildet die vierte eine
Gruppe; denn obgleich sie als Deuterologie im Bau nicht mit
ihnen verglichen werden kann, zeigen doch sowohl die oben
besprochene Anrede an die Richter als eine gemeinsame Eigen-
tümlichkeit der Sprache ihre Zusammengehörigkeit^).
Isaios steht nach dem treffenden Urteile des Dionysios^)
zwischen Lysias und Demosthenes. Er hat verschiedene Vor-
züge des Lysias aufgegeben und dafür eine Richtung einge-
schlagen, w^elche bei den engbegrenzten Stoffen, die er bearbeitete,
nicht zur vollen Geltung kommen konnte. Isaios steht in der
Sprache hinter Lysias kaum zurück; sein Ausdruck ist rein,
sorgfältig, deutlich und bezeichnend, der Redner entfaltet aber, ob-
gleich er dieselben Wendungen zu häufig bringt, mehr Kunst und
bedient sich öfter rhetorischer Figuren {a-/y]\i.a.xia]LoC). Aeusserst
1) Scheibe p. XXVIII: Videtur deesse epilogus.
2) Das schwerfällige 8}j.u>i; [xevtot hat Isaios bloss 4, 18. 9, 18. 10, 18.
3) Dionys. Isae, 20, vgl. Hermog. ir. 18. 2, 11 «uc ö^oXEiueotJ-ai p-sv xoö
AY)}j.oG^£vtxo5 ^la-ra xaüta ohv. hXl'ffü, oiiEpßctXXetv 8s itoXXil) töv Aooiav. Vgl.
Leon Moy etude sur les plaidoyers d'Isee, Paris 1876; Konrad See liger zur
Charakteristik des Isaios, Jahrbb. f. Phil. 113, 673 ff.; W. Eöder Beiträge
zur Erklärung und Kritik des Isaios, Jena 1880 (c. 6 Enthymeme); E. M.
Liucke de elocutione Isaei, Leipzig 1885.
11*
Jß4 Sechstes Kapitel.
wirkungsvoll wendet er z. B, Gruppen rhetorischer Fragen an.
Noch mehr konnte Isaios seine Advokatenkunst (Sstvorif]«;) in der
Komposition entfalten. Er behandelte die Argumente mannig-
faltiger als Lysias und verknüpfte sie geschickter, besonders
aber band sich Isaios durchaus nicht an die nächstliegende
Ordnung, sondern er wusste die Punkte geschickt so zu ordnen,
wie sie sich am vorteilhaftesten für den Sprecher darstellten ;
um die Richter aber über diese Kunstgriffe hinwegzutäuschen,
bedurfte es einer Darstellungsweise, welche ihre Sinne blendete ;
die Sprache durfte nicht so einfach und schlicht wie bei Lysias
sein, sondern musste mehr Schwung haben *). Vor allem aber
war der Ton mehr anzuspannen ; daher geht ein schneidiger
etwas pathetischer Zug durch die Reden des Isaios. Weil
jedoch die Geringfügigkeit des Stoffes mit der Fülle der auf-
gebotenen Mittel nicht recht harmoniert, fühlt man hier viel
mehr als bei Demosthenes die Absicht; Isaios kann zwar dialek-
tische Meisterstücke schaffen, aber er vermag, eben wegen seiner
allzu grossen Findigkeit , sich nicht gleich Lysias in die Lage
eines athenischen Bürgers von schlichtem Verstände zu versetzen.
Der grosse Abstand, welcher Isaios hierin von Lysias trennte,
ist besonders bei den Erzählungen fühlbar; wiewohl Lysias
gewiss nicht mehr Glauben als Isaios verdient, argwöhnten die
Richter bei den von ihm aufgesetzten Reden schwerlich, dass
etwas angelerntes vorgetragen werde, während in den Reden
des Isaios der Erfahrene überall den Advokaten vernahm. Der
Biograph sagt daher mit Recht: ,,Der Unterschied zwischen
Lysias und Isaios bestand darin, dass Lysias auch in ungerechter
Sache glaubwürdig schien, Isaios dagegen, selbst wenn er im
Rechte 'war, Misstrauen erregte".
So gross die historische Bedeutung von Isaios war, so
wenig wurde er von den Späteren gewürdigt. Denn entweder
las man lieber Demosthenes oder, wer sich für grössere Ein-
fachheit begeisterte, suchte Lysias auf. Seine Werke blieben
aber erhalten, weil ihn die Rhetoren in die Zehnzahl aufnahmen ;
Dionysios schwankte bei seinem Kanon von sechs Rednern
zwischen ihm und Lykurgos. Teils als einer der Zehn also
teüs als Specialist für Erbschaftssachen, vielleicht auch, weil
1) Isidor. Peius, epist. 4, 91 t><^yik6xe pov hk Auacoo.
Lysias und Isaios. 165
man in ihm den vermeintlichen Lehrer des Demosthenes achtete,
genoss Isaios ein gewisses Ansehen, doch wurde er sehr wenig
gelesen. Kein Rhetor schrieb über ihn ^) und selbst Citate sind
äusserst selten^). Doch erleichterte man das Verständnis der
erhaltenen Reden durch Inhaltsangaben, Die Handschriften
sind dieselben wie bei Antiphon (S. 70 f.), ausser dass ein nicht
sonderlich guter Codex eine unabhängige Tradition bietet.
Die älteren Ausgaben gehören zu den Sammlungen von
Aldus, Stephanus und Reiske (vol. VII.); sie enthalten nur
zehn Reden. Die elfte „über die Erbschaft des Kleonymos"
wurde zuerst von Angelo Mai aus einer Mailänder Handschrift
(Mailand 1815 und Auetores classici IV. 1831) herausgegeben.
Nächst der grundlegenden Recension Bekkers verdient Dobsons
Ausgabe (Oratores Attici IV.) wegen der Kollation englischer
Handschriften Beachtung. Durch die Bearbeitung von Baiter-
Sauppe (orat. Att. fasc. Hl.) und Scheibe (Leipzig 1860. n874)
wurde die Emendation gefördert; die neueste auf sorgfältige
Vergleichung der Handschriften gestützte Ausgabe verdankt
man H. Bürmann (Berlin 1883)^). Die Sacherklärung wurde
durch die Ausgabe von G. Fr. Schömann (Greifswaid 1831)
begründet *).
Gleichzeitig gab es noch verschiedene Redenschreiber,
welche wohl meist zur Klasse der Schutzverwandten gehörten;
aber keiner hat sich so ausgezeichnet, dass er die gelungenen
Reden mit seinem Namen veröffentlichen durfte^).
1) Didymos (Harpocr. v. YaiA"^^^«) behandelte ihn unter den Zehn.
2) In Spengels rhetores nur Theon TcpoYU|j,v. p. 63, 29.
3) Vgl. dazu Hermes 19, 325 flf. Die zahlreichen Konjekturen Cobets
(iMnemos. 9, 396 flf. 438 flf. 11, 113 flf. und variae lect. ed. IL wiederholt) haben
einen beachtenswerten Gegner an W. Röder über C. G. Cobets Emendationen
der attischen Redner, insbesonders des Isaios, Gnesen 1882, gefunden.
4) Vgl. Schömann de causa hereditaria in Isaei oratione de Philocte-
monis hereditate, Opusc. acad. I (1856) p. 272 flf.
5) Isocrat. 15, 41, vgl. 12, 1. Ps. Demosth. in Theocrin. 19 nennt
(nexouov KtTjoixXsa Xo'^o^pä^ov.
Siebentes Kapitel.
Demosthenes.
Biographien; Leben und Wirken (mit Einschluss der Staiitsreden) ; Charakt
und Politik ; die unechten Staatsreden ; die für öffentliche Processe verfassten
Reden; Privatreden; die Kunst des Demosthenes; äussere Geschichte seiner
Schriften vom Altertum bis auf unsere Zeit.
Die Quellen der Geschichte des Demosthenes sind vor allem seine eigen«
Reden sowie die seiner Gegner, ferner Urteile von Zeitgenossen, die aus ve
schiedenen Quellen stammten : Geschichtswerken, Memoiren (Demetrios voi
Phaleron) oder Lobreden (von Demochares, dem Neffen des Redners), zu deren
Nachrichten Komikerwitze und gelegentliche Bemerkungen (wie des Ktesibios
und Ariston) treten. Die Notizen aus Eratosthenes (Plut. Dem. 9. 30), Pappos
(Hennippos bei Plut. 30) oder gar die anonymen Aufzeichnungen, auf die sich
Hermippos berief, sind nicht zu classificieren. Diese Ueberlieferungen wurden
in den biographischen Sammelwerken des Hermippos (wiederholt bei Plutarch,
dann Suidas I.) und Satyros (Ps. Plut. 848 a) verarbeitet. Ausserdem gab
es zahlreiche Einzelbiographien des berühmten Redners (Plut. 30, vgl. Dionys.
ad Ammae. I 3. Dem. 53), weil alle Jünger der Beredsamkeit sein Leben
studierten, um ihm nachzustreben (Anon. vit. am Anfang, Lucian. encom. 17).
Erhalten sind noch eine Biographie des P luta r chos in den ßioi TiapäXXvjXot
(nicht viel mehr als eine Kompilation, wie besonders die verworrenen c. 7 — 11.
13. 14 zeigen; am besten von Ch. Graux, Paris 1881 herausgegeben; über die
Quellen Wilh. Sturm de fontibus Demosthenicae historiae, Halle 1881 p.
39 ff. und Gebha rd de Pltitarchi in Demosthenis vita fontibus ac fide, München
1880), der betreflfende Abschnitt in „Plutarchs" Biographien der zehn
Redner (woZ. 1—13.20—30.43—52. 81—86. 93—175. 183— 203. 241— 43 W.
den alten Kern bilden; über die Quellen A. Schöne Jahrbb. f. Phil. 103,
761 ff.), sehr übereinstimmend mit Photios' bibliotheca cod. 265 (dessen Ab-
hängigkeit A. Schäfer comm. de libro vitarum decem oratorum, Dresden
1844 uudBlass Bursians Jahresber. 1882 I S. 240 behaupten, während Rud.
Ballheim erde Photi vitis decem oratorum, Bonn 1877 und Wilh. Sturm
a. O. p. 29 if. mit grösserer Wahrscheinlichkeit eine gemeinsame Quelle an-
nehmen), sodann der erste und zweite Artikel im Lexikon des Suidas (von
denen jener nach Arn. Schäfer Philol. 6, 427 f gauzaus Hermippos stammt),
endlich eine wertlose Gruppe gebildet aus der Biographie eines Anonymus, der
des Rhelors Zosi mos und dem dritten Artikel des Suidas. Ich eitlere Zosimoa
I
Demosthenes. 167
und den Anonymus nach Westermanns Bio^päfoi. Vgl. im allgemeinen
A. Westermann quaestionum Demosthenicarum p. IV. Leipzig 1837;
S türm a. O.
In den letzten zwei Jahrhunderten war mau auf das Buch „vitae
comparatae Aristo telis et Demosthenis" des vlämischen Jesuiten Andreas
Schott angewiesen ( Augsburgl 603 vgl. R e i s k e Demosthenis und Aeschinis Reden
1764, in der Vorrede zum ersten Bande). Das eingehendere Studium wurde
von Alb. Gerh. Becker (Demosthenes als Staatsmann und Redner, Halle
1815 — 16, 2 Bde., Demosthenes als Staatsbürger, Redner und Schriftsteller,
Quedlinburg 1830, wozu 1834 noch eine Fortsetzung kam, ein Ver-
zeichnis der bis 1833 erschienenen Schriften, welche sich auf Demosthenes
beziehen) begründet. Der Staatsmann Demosthenes ist am besten bei Arn.
Schäfer Demosthenes und seine Zeit, Leipzig 1856 — 58, 3 Bde., freilich in
sehr günstigem Lichte dargestellt ; in des Redners Kunst führt uns B 1 a s s
die attische Beredsamkeit Bd. III. Th. 1. Leipzig 1877 am besten ein. Nach
diesen zwei grundlegenden Werken verdienen die geschmackvollen Apergus
von Girard (S. 33) und L. Bredif eloquence politique en Gr^ce-Demosthene,
Paris 1879 Erwähnung.
Die politische Beredsamkeit blieb, wie wir gesehen haben,
in der Glanzzeit Athens der Literatur fremd, wenn man von
den Flugschriften der Reaktionäre absieht. Aber die Publikation
zahlloser gerichtlicher Reden bereitete das Volk auf den Schritt
vor, den zuerst Demosthenes gewagt hat. Er war durch seine
Advokatenpraxis daran gewöhnt. Reden zu veröffentlichen, und
sah gewiss auch, welchen Erfolg die Broschüren des alten
Isokrates hatten. Warum sollte er mit seinen politischen Reden
nicht dasselbe wagen? Demosthenes wollte jedoch wahrscheinlich
w^eniger für seinen Ruhm sorgen , als zunächst in Athen eine
ihm treu ergebene Partei gründen und sodann, weil er einen
hellenischen Bund, der seine Spitze gegen Philipp richtete
plante, auch in anderen Städten Parteigänger seiner Politik
gewinnen. Um also die Reden, welche die ersten und wohl
auch die einzigen literarischen Denkmäler der Staatsrede aus
der klassischen Zeit sind, recht zu würdigen, ist es notwendig,
nicht bloss das Privatleben, sondern auch die Politik des grossen
Redners in den Hauptzügen zu zeichnen.
Ueber das Privatleben des Demosthenes ist wenig genug
überliefert. Sein Vater, der den gleichen Namen führte und zum
Demos Paiania gehörte, besass eine Waffenfabrik ^) und war, wenn
gleich er weder durch vornehme Herkunft noch persönlich hervor-
1) Demosth. 27, 9.
168 Siebentes Kapitel.
ragte, ein trefflicher Bürger, dem seine Feinde nichts nachsagen
konnten ^); von mütterlicher Seite mochte nordisches Blut in
den Adern des Demosthenes fliessen, denn Kleobule war: in der
Krim geboren ^). Ueber das Geburtsjahr des Redners geben
seine eigenen Schriften Auskunft. Danach war er unter dem
Archen Kephisodoros Ol. 103, 3 (366/5) nicht ganz siebzehn
Jahre alt, also etwa im Jahre 383 (Ol. 99, 1 oder 2) geboren-'^).
Schon im Alter von sieben Jahren traf ihn das Unglück, seinen
Vater zu verlieren. Dies that natürlich der regelrechten Aus-
bildung, wie sie damals der Sohn eines guten Hauses zu
empfangen pflegte, keinen Eintragt); aber als Demosthenes
I
1) Theopomp, bei Plut. 4 xäv xaXüiy xal afcad-M'^ avSpoiv, vgl. Aeschin,
3, 171; irpoYovot sind nicht da 2, 171.
2) Aeschin. 2, 78. 3, 171 f. vgl. 2, 22. 87. 93. 180. 183. Dinarch. 1, 15.
95. Den Namen der Mutter geben die Biographen (Ps. Plut. 844 a. Liban,
Z. 25. u. Argum. Dem. or. 27). Zosim. Z. 17. Suidas I.
3) Demosth. 30, 17, wodurch § 16 erläutert wird; fietä toui; Yajxooc ist,
wenn auch nicht sicher echt, so doch richtig. Die Vormundschaft dauerte
eher neun als zehn Jahre (27, 69 eist Ssxattu, vgl. § 19. 23). Vgl. Seebeck
Ztsch. ,f. Alterthumsw. 1838 Nr. 39—42; Droysen Rhein. Mus. 4, 406 ff.;
Schäfer Demosthenes III B 38 ff. und Jahrbb. f. Phil. 81, 864 (er errechnet
gleich Weil les harangues de Demosth^ne p. XXXIV ff. irrtümlich das Jahr
384); Blass 7 ff. Schon die Quelle des Suidas, welcher Demosthenes 62 Lebens-
jahre zuteilt, ging von Ol. 99, 1 aus. In der Midiana § 154 nennt sich der
Redner 32 Jahre alt (Schäfer korrigiert: Tpidxovxa xal 8'); da Dionysios jene
Rede Ol. 107, 4 setzte, musste er das Geburtsjahr auf Ol. 99, 4 verlegen (ad
Ammae. I 4), wozu Plut. 15 und Gell. 16, 28, 6 passen; diese Ansicht wird
von Böhnecke Forschungen auf dem Gebiete der attischen Redner I S. Iff.
verteidigt (bekämpft von Bakius scholica hypomn. III 340 ff.). Ol. 99, 3
erschliessen aus derselben Quelle Clinton ftxsti hell. II exe. 20, Brückner
König Philipp und die hellenischen Staaten S. 326 ff. u. K. F. Hermann
de Midia Anagyrasio p. 13 ff. epicrisis quaestiouis de Demosthenis anno natali
ind. lect. hib. Göttingen 1845. Pseudoplutarch gibt Ol. 98, 4 an (womit
Zosimos' Altersangabe Z. 142 stimmt), weil seine Quelle bloss Dem. 30, 16
berücksichtigte und falsch verstand (verteidigt von Böckh Abhandl. der
Berliner Akad. 1818/9 S. 60 ff. und Vömel Ztsch. f. Alterthumswiss. 1846
Nr. 9 f. 16 ff.). Hyperid. Demosth. col. 20 (19), 4, der mit touc ^i^^p ^^^iv-ovra
et Y) Demosthenes meint, ist für eine genaue Rechnung natürlich unbrauchbar,
Pseudoplutarch gibt Demosthenes 70 oder (105 S' ol xa eXaTXü)) 67 Lebens-
jahre (847 b).
4) Demosth. 18, 257; 27, 46 xoug StSaoxiXoo«; xobz jxiO'S'Oix: antazipt]-».*
wird bei Plut. 4 übertrieben.
Demosthenes. 169
mündig wurde und mit seinen Vormündern Abrechnung hielt,
war durch ihre Untreue das grosse Vermögen des Vaters auf
einen geringen Rest zusammengeschmolzen ; diese neue Prüfung
war für das Leben des Demosthenes bedeutungsvoll. Der
Jüngling sah sich gezwungen die Vormünder anzuklagen und
mit neunzehn Jahren Ol. 104, 1 (364/3) vor Gericht aufzu-
treten. Die zweijährige Frist, welche das Verschleppungswesen
der attischen Justiz ihm Hess, hatte er so wohl benützt, dass
er zur allgemeinen Ueberraschung die Verurteilung des Aphobos
durchsetzte ; was aber noch merkwürdiger war, niemand wusste
einen Lehrer, dessen Schule er besucht hätte, namhaft zu
machen. Der Stadtklatsch behauptete deswegen, Demosthenes
liabe durch indiskrete Schüler die Regeln der damals berühmten
Lehrer zu ihren öffentlich verbreiteten Reden bekommen ^), In
der That ist es in gleicher Weise selbstverständlich und nach-
weisbar, dass er die Reden des Isokrates und Isaios fleissig
studierte^), aber erst Spätere behaupteten, dass er Unterricht
von ihnen erhalten wollte oder wirklich erhielt ^). Das Studium der
Philosophie zog ihn nie an, obgleich die Philosophen nachmals den
berühmten Redner gerne zu den ihrigen gezählt hätten*); selbst
1) Ktesibios irspl ^tXooo^iaq nach Hermippos bei Plut. 5 und Ps. Plut.
844 c, vgl. Suid. I.
2) lieber Isokrates s. S. 134 A., Isaios Arn. Laudahn welchen Einfluss
liat Isaeus auf die demosthenischen Vormundschaftsreden ausgeübt? I. Hildes-
heim 1872, skeptisch Paul Hoffmann de Demosthene Isaei discipulo, Berlin
1872; über beide W. Herforth über die Nachahmungen des isaeischen und
isokrateischen Stils bei Demosthenes, Grünberg i. Schi. 1880.
3) Isokrates S. 133 A. 8; die von Dionys. Isae. 4 angeführte Stelle des
l'3^theas schreibt Demosthenes die Abgefeimtheit des Isaios zu. Hermippos
(Dionys. Isae. 1) machte daraus ein Schülerverhältnis, das später ausgeschmückt
wurde. Demosthenes nahm Isaios angeblich auf vier Jahre (d. h. entweder
nach Blass S. 15 von der Dokimasie bis zum Ende des Processes oder nach
dem Beispiele der isokrateischen Schule) in sein Haus (Ps. Plut. 844 b c) ; nach
Ps. Plut. 839 e widmete er für 10000 Drachmen sich ihm ausschliesslich,
während er nach Suidas v. 'laaloc nichts annahm.
4) Ueber Plato Hermippos aus aSeairoxa ÖTtojxvYjjjLaxa bei Plut. 5 und
Gell. 3^ 13, Ps. Dem. epist. 5, Mnesistratos bei Diogen. 3, 47 u. A. s. Funk-
hänel Acta societ. Graec. I 287 flf. Schäfer I 280 flf.; die Rhctoren wollten
Nachahmungen platonischer Stellen finden (Cic. Brut. 31, 121, Dionys. rhet.
8, 8. 10, 6. Quintüian. 12, 10, 24). Schol. Aristot. rhet. 3, 1 p. 1404 a 1
verwechselt Plato und Aristoteles. Gegen einen Peripatetiker, welcher Aristo-
teles den Ruhm der Lehrerschaft zuteilte (vgl. Lucian. 12), schrieb Dionysios
170 Sieljentes Kapitel.
in Bezug auf Geschichtskenntnis unterschied er sich von seine
Genossen nicht ^).
Da nun Demosthenes durch den Prozess den früheren"
Reichtum nicht zurückerhielt, sondern ein Vergleich ihm nur
einen Teil seines Vermögens wiedergab ^), entschloss er sich,
sein eben erprobtes Talent wie Isokrates und Lysias zur Er-
setzung der Verluste auszunützen; er schrieb also für andere
Leute Reden ^) und versammelte junge Athener zum Unterrichte
um sich*). Auch trat er als Fürsprecher vor Gericht auf. Aber
wiewohl Demosthenes durch diese Thätigkeit Ansehen und Besitz
gewann, begnügte sich sein Ehrgeiz mit einem derartigen
ruhigen Berufe nicht. Als Republikaner wollte er in seiner
Vaterstadt eine politische Rolle spielen. Während jedoch Iso-
krates aus seinem stillen Zimmer Sendschreiben ergehen Hess,
scheute sich der junge Mann nicht vor die Volksversammlung
selbst zu treten. Wann er den ersten Versuch machte, wissen
wir nicht; der Weg zur Berühmtheit wurde ihm nicht leicht
gemacht. Die Nachrichten über seine Misserfolge sind schlecht
den ersten Brief an Ammaeus. Den Dialektiker Eubulides, welcher ein Zeit-
genosse des Redners, wenn nicht gar jünger war (Diogen. 2, 109 ff. mit der-
Anmerkung des Menagius), machte man aus Missverständuis einer Komiker-
stelle (Diogen. 2, 108) zum Lehrer (Ps. Plut. 845 b. Luciau. 12. Apul. apol.
15. Suid. I.), An den Besuch der Akademie wird eine Anekdote geknüpft:
Demosthenes soll nämlich durch eine Rede des berühmten Politikers Kalli-
stratos für den Rednerberuf begeistert worden sein, entweder als dieser im
Jahre 365 sich glänzend verteidigte (Hermippos fr. 61 bei Gell. 3, 13. Suid. I)
oder früher, als er noch Knabe war ('HY^^jatac 6 Md^vfii; bei Ps. Plut. 844 b).
Beides vermengen Plut. 5 (tpast) und Liban. Z. 38 ff. ('ftxai); kurz Lucian.
12. Zosim. 29 f.
1) Die Fabel, dass er mit Begeisterung Thukydides studierte (Dionys.
rhet. 8, 7. 9, 10. Ps. Plut. 844b. Zosim. S. 45), ist ein Anachronismus; die
Scholisvsteu l)einühteu sich Ireilich, Aehulicbkeiten aufzufinden (s. Dindorfs
Index IX p. 838). „Demosthenische" Abschriften des Thukydidestextes (man
zählte deren acht) waren in der Kaiserzeit eine gesuchte Bibliothekenrarität
(Lucian. npbq xöv ai:al8. 4); er soll das Werk auswendig gewusst und als alle
Exemplare verbrannt waren, aus dem Gedächtnisse hergestellt haben (Zosim.
Z. 48 ff.).
2) Demosth. 21,80; Aeschin. 3, 173 ta naTp(})a xata-feXotOTax; 7tpoe|A6voc,
8) Aeschines 3, 173.
4) Aeschines 1, 117. 170. 173 ff. 2, 156. Daher nennt er ihn 1, 125.
176 ootptoffjc. Ein Procesa gegen seinen Schüler Aristurchos bereitete ihm
argen Verdrusa (Aeschin. 1, 171 f. vgl. Susemihl Jahrbb. f. Phil. 91,366ff.).
I
Demosthenes. 171
bezeugt uad ignorieren alle, dass Demosthenes nicht ein un-
kundiger Anfänger war, als er zum ersten Male die Eedner-
bühne der Pnyx bestieg ^). Aber der Redner erzählte selbst im
Alter, welcher Anstrengung und Energie es bedurft habe, damit
er sein Ziel erreichte '"*). Um seine Stimme für den weiten
Versammlungsraum zu stärken, trug er lange Reden aus den
Tragödien, gehend oder gar aufwärts schreitend, in einem Athem
vor^). Weil er nicht wollte, dass man ihn wie Alkibiades wegen
der lallenden Aussprache des Buchstaben R verspotte, nahm
er beim Reden Steinchen in den Mund *). Nichtsdestoweniger
blieb das Organ unschön und ohne natürliche Kraft ^). Selbst
das Geberdenspiel studierte Demosthenes vor einem hohen
Spiegel ein ^). Nach glaubwürdiger Erzählung übte er sich
besonders dadurch, dass er die Reden, welche er Tags über
in der Volksversammlung oder im Gerichtssaale gehört hatte,
zu Hause durchging und sowohl Gedanken als Ausdrücke
|)rüfte und besserte^). Demosthenes liebte überhaupt, im Zimmer
/AI studieren ^) statt an den Turnübungen seiner Altersgenossen
1) Plutarch. Dem. G. 7. an seni ger. 23. Ps. Flut. 845 a (tcoxe) ; Aischines
weiss nichts davon (Schäfer I 301 f.). Eunomos von Thria tröstete ihn durch
den Vergleich mit Perikles (Plut. 6. an seni ger. 23. Ps. Plut. 845 a, aber
s. Isoer. 15, 93.). Der Schauspieler Satyros, den Demosthenes 19, 193 erwähnt,
(Plut. 7) oder Andronikos (Ps. Plut. 845 a) machten ihn auf die Wichtigkeit
des Vortrags aufmerksam; letzterer (a. O. Anon. S. 82. Suid. III.) oder Neop-
tolemos (Ps. Plut. 844 e; hier erscheinen wieder die 10000 Drachmen) unter-
richtete ihn dnrin.
2) Demetr. Phal. bei Plut. 11. Die späteren Anekdoten sind in den
folgenden Anmerkungen bei den Nachrichten untergebracht, welche den An-
stoss dazu gaben.
3) Nach Cic. fin. 5, 2, 5 (ajunt). Ps. Plut. 844 e (vgl. Liban. 70 ff.
Zosim 76. Anon. 78. Vul, Max. 8, 7 ext. 1, wo caninam litteram zu
lesen ist, Quintiliau. 10, 3, 30. Mart. Cap. 5, 430) ging er an der Braudung
des Hafens von Phaleron, wohin die Gelehrten der Kaiserzeit spazieren zu
gehen pflegten (Philostr. vit. Apoll, p. 72 K), deklamierend auf und ab.
4) Nach Zosim. Z. 69 f. übte er sich an einem homerischen Verse (e 402).
5) Demosth. 19, 216 (tpaüXov). 208 (o^Ssvoc).
6) Er soll einen Dolch oder einen Bratspiess über der Schulter aufge-
hängt haben, um sich das Zucken abzugewöhnen (Ps. Plut. 844 d. Luciau.
14. Liban. Z. 85. Zosim. Z. 80; Lanze Anon. 74).
7) Plutarch. 8.
8) Zu Athen sah Plutarch ein unterirdisches Gemach, in dem er sich
nach der Sage übte (Plut. 7. Liban. 76. Anon. 46); von einer Höhle sprechen
j 72 Siebentes Kapitel.
Teil zu nehmen^); man warf ihm daher, zumal er elegante
Kleidung liebte, Weichlichkeit vor^), wie ihm auch der Durch-
schnittsbürger seine Nüchternheit verargte. Wasser zu trinken ^)
und beim Lichte der qualmenden Oellampe zu studieren ^), kam
den Athenern höchst läclierlich vor; aber der Menschenkenner
konnte aus den zusammengepressten Lippen, der straffen fast
steifen Haltung und den durchfurchten Zügen ^) die ungemeine
Ausdauer und Energie, zugleich aber die rücksichtslose Leiden-
schaft des Mannes ahnen.
Wann Demosthenes den ersten Schritt auf der politischen
Laufbahn wagte, wissen wir, wie gesagt, nicht*'); die erste Rede
aber (über die Symmorien XIV.) ^), die er veröffentlichte,
stammt aus dem Jahre 354 (Ol. 106, 3), als er 29 Jahre alt
war. Rüstungen des Perserkönigs hatten damals in Athen, wo
man sich verschiedener Uebergriffe schuldig wusste, teils Furcht
vor einem neuen Perserkriege, teils unüberlegte Kriegslust,
welche gewissenlose Redner durch Reminiscenzen an Marathon
und Salamis anfachten, hervorgerufen. Inmitten dieser allgemeinen
Verwirrung trat der jugendliche Redner mit merkwürdiger
Ps. Plut. 844 d und Luciau. 14. Er soll sich gar halb geschoren haben, um
nicht ausgehen zu können (Plnt. 7. Ps. Plut. 844 d. Liban. 76. Anon. 48 ff.
Aphthon. prog. 3 p. 24, 28 Sp. Lucian. 14. Suid. III., vom Bart Zosim. 86 ff.).
1) Aeschin. 3, 265. Man begründete dies mit Kränklichkeit (Plut. 4.
Liban. Z. 29. vgl. Zosim. Z. 61) oder schob die Schuld auf die mütterliche
Zärtlichkeit (Plut, 4),
2) Aeschin. 1, 131, vgl. 2, 179.
3) Demosth. 6, 30. 19, 46. Pytheas bei Athen. 2, 41 f.
4) Plut. 8 (vgl. 11). Liban. 78 ff. Lucian. 15; Ps. Plut. 844 d behauptet
sogar, er habe ein zu kleines Bett gehabt, um wenig zu schlafen.
6) So zeigen ihn die Bilder (H. Schröder über die Abbildungen des
Demosthenes, Braunschweig 1842; G. Scharff transactions of the royal
Society of literature n. s. IV.; vgl. Baumeisters Denkmäler des klassischen
Alterthums s. v.). Ueber seine Körpergrösse Aeschin. 3, 77.
6) Wenn Dem. 18, 18 streng zu nehmen ist, trat er erst nach Beginn
des heiligen Krieges (355) auf. Eusebios setzt Demosthenes Ol. 105, 1 (so
llieron., 104, 2 oder 3 A, 104, 4P, 105, 2 arm.) als Zeitgenossen Philipps an;
die zweite Zeitbestimmung (Ol. 108, 2 Hieron., 110, 1 Synk.) bezieht sich
auf den philokrateischen Frieden.
7) Demosthenes selbst citiert 16, 6 ihren Inhalt mit den Worten mkp
t<Bv ßaat/.txüiv. Ueber sämmtliche Staatsreden handelt L. Spengel die
Sfip.'/jYoptat des Demosthenes, Abhandl. der bayer. Akad. 9, 51 ff. 277 ff.
Demosthenes. 173
P>esonnenheit auf, indem er sowohl vor übereilter Offensive
(;J — 13) wie vor unwürdigem Kleinmut warnte ^) ; er empfahl
jodoeh Vorkehrungen za treffen und legte, wahrscheinlich durch
den Personenwechsel in der Finanzleitung dazu veranlasst, ein
detailliertes Programm zur Reform des Flottenwesens, dessen
Schäden der Bundesgenossenkrieg aufgedeckt hatte, dem Volke
vor. Doch fand dasselbe keinen Anklang, während der politische
Teil wohlgefällig aufgenommen wurde ^). Der Redner spricht
mit grossem Selbstbewusstsein (z, ß. § 24) und mit Recht,
aber vom rhetorischen Standpunkte ist er noch ein Anfänger.
Der Satzbau ist ebenso schlicht wie der Ausdruck, den er bloss
durch einige volkstümliche witzige Redensarten belebt ^).
Ein nicht weniger klares Urteil und zugleich eine kunst-
vollere Sprache weist die bereits im folgenden Jahre*) gehaltene
Hede „für die Megalopoliten" (XVI.)^) auf, welche, von den
Spartanern bedrängt, in Athen um Hilfe nachsuchten. Demosthenes
stellt sich ungleich den anderen Rednern auf den rein athenischen
Standpunkt und verwirft die Gefühlspolitik; um die Politik des
Nutzens, welche er predigt, nicht in ihrem nackten Egoismus
liinzustellen , verhüllt er sie mit dem charakteristischen Aus-
spruche (§ 11): ,,Man soll zwar immer das Rechte denken und
handeln, aber doch zugleich dafür sorgen, dass es auch nützhch
sei". Ebenso weiss Demosthenes die Punkte, welche für seine
Gegner sprachen, mit dem Geschicke, das ihm die Advokaten-
praxis verschafft habe, so zu gruppieren, dass sie nicht in
helles Licht zu stehen kommen (§ 11 — 13. 16 — 18 und 14 — 15.
27 — 29). Der Stil der Rede, welcher den der vorigen bedeutend
überholt hat, hält ungefähr die Mitte zwischen den grossen
1) Von Philipp, mit dem der wirkliche Krieg erst im folgenden Jahre
ausbrach, ist noch nicht die Rede, mag ihn auch Dionys. rhet. 9, 10 hinein-
iuterpretiren (ebenso Phil. Ditges Beziehungen der Keden über die Sym-
niorieu, für Megalop. und lihodus und gegen Aiistokrates auf die nationale
und antiphüippische Politik des Demosthenes, Pr. des kath. Gymn, Köln 1878).
2) Demosth. 15, 6.
V;: 'S) Taij/(i)8Ticouat 12, sie 68ov xaTaat^, xov Kpä'^\i.a eauxö) sup-fjast 23,
)(pv)0[i.ij)8ot£V 25, TtXeiüJV eatl f eXcmi; xo5 |ayj3£v6(; 27.
4) Dionys. c. Ammae. I 4; er nennt die Eede irspl ttj? Mz-foXonoXizuiv
6) J. Dreher Beiträge zur Erklärung von Demosthenes' Rede für die
Megalopoliten, Ehingen 1882.
174 Siebentes Kapitel.
Gerichtsreden und den Civilreden. Doch ist Demosthenes vc
der Meisterschaft noch erhebHch entfernt; es gehngt ihm nicht
immer, die Sätze klar und einfach zu bauen ^).
Demosthenes hatte mit seiner VerstandespoHtik damals
nicht mehr Glück als 351^), mit welchem Jahre er ,,für die
Freiheit der Rhodier" (XV.) sprach. Die Demokraten
von Rhodos, welche den Oligarchen unterlegen waren, baten
die Athener, die oligarchische Herrschaft zu stürzen ; der Redner
hatte dabei die Aufgabe, den Groll, welchen seine Mitbürger
vom Bundesgenossen kriege her gegen die ungetreuen Rhodier
empfanden, durch politische Gegengründe zu besänftigen und
die Vertragswidrigkeit seines Vorschlages zu eskamotieren.
Uebrigens hatte das Volk schon die Intervention beschlossen,
so dass dieses Meisterstück der Sophistik nur die Ausführung
jenes Beschlusses sichern sollte (§ 30 — 35). Aber, was der
Redner selbst befürchtete, trat ein; der Beschluss wurde nicht
ins Werk gesetzt^) und dies war gut für Athen, denn ihm
drohte ein gefahrlicher Feind.
Demosthenes und seine Mitbürger erinnerten sich bei diesen
Verhandlungen gar nicht daran, dass Athen mit Pliilipp im
Kriegszustand war. Ausser der Expedition, welche die Thermo-
pylen schützte, bemerkte man kaum etwas davon, weil Kaper-
schiffe und räuberische Söldnerschaaren Athens Flagge vertraten.
Da wandte sich im Jahre 352 Olynth vod König Philipp ab
und knüpfte mit Athen Verbindungen an *), worauf der König
sowohl diese Stadt als die athenischen Besitzungen bedrohte.
Da das Volk durch seine Züge in Besorgnis versetzt wurde-''),
hielt Demosthenes um die Wende des Jahres 352 oder Anfang
351 die erste philippischeRede (IV.)*'). Aber ist sie wirkhch
1) Z. B. ist § 8 sehr verwickelt, dann liebt er Infinitive, besonders enl)-
stantivierte, zn häufen und mit näheren Bestimmungen zu erweitern (z. B.
am Schlnss von § 24).
2; Nach Dionys. ad Amniae. I 4 (irepl 'PoSltov), wobei wir uns beruhigen
massen, obgleich Diodor andere Angaben macht, vgl. Schäfer I 486 ff.
3) Dies zeigt der Schluss der Friedensrede.
4) Demoath. 23, 109.
6) Demosth. 4, 17.
6) § 11, vgl. Schäfer II 66 ff. u. Jahrbb. f. PhiL 79 (1859) S. 667 ff.;
O.Haupt demosthenische Studien I S. 16 ff.; Fuchs über die Zeitbestimmung
Demosthenes. 175
eine einheitliche Rede? Dionysios von Halikarnass leugnete es
und betrachtete die ersten neunundzwanzig Paragraplien als
eine besondere Rede ^). In der That wird es der Apologetik
nicht gelingen, einerseits das bei Demosthenes unerhörte „wir"
(§ 30), andererseits den ungewöhnlichen Umfang der Rede,
welche, zumal wenn man die Aktenstücke einrechnet, unter den
älteren Reden ^) nicht ihres Gleichen hat, genügend zu recht-
fertigen ; ebenso ist es jedenfalls sonderbar, wenn Demosthenes
zuerst einen für Expeditionen geeigneten Plan ausführlich ent-
wickelt und dann plötzlich (§ 31 f.) dieses System zu Gunsten
eines ständigen Postens verwirft. Wie dem auch sein mag,
ohne Zweifel ist zwischen § 29 und 30 nicht bloss ein Akten-
stück oder ein Finanzplan ausgefallen , denn Demosthenes
würde dies, abgesehen davon, dass er in seine frühste Rede
das Finanzexposö klar einflocht, dem Leser deutlich gemacht
haben. Wenn aber, wie es scheinen möchte, zwei Reden anzu-
nehmen sind, waren sie gewiss durch keinen grossen Zwischen-
raum getrennt. Hier trat Demosthenes bereits als fertiger
Redner auf; beide Stücke sind mit reifer Technik ausgearbeitet
und zeichnen sich nicht sowohl durch die Regelmässigkeit der
Disposition als durch Schärfe der Gedanken, treffenden Ausdruck
und melodischen Rhythmus aus. Unter das Pathos mischen
sich anschauliche Vergleiche und witzige Wendungen ^); der
Wohllaut des Tonfalls ist so sehr angestrebt, dass Demosthenes
der ersten Philippischen Eede des Demosthenes, Urach 1875; W. Hartel
Commentatt. in honorem Mommseni p. 524 ff. und Sitzungsber. der Wiener
Akad. 87, 54 ff.; Ol. 107, 2 nach E. Kurz über die Zeitbestimmung der
ersten Rede des Demosthenes gegen Philippos, Pr. des Ludwigsgymn. München
1857, Ol. 107, 2 oder 3 nach H. Hädicke de prima Demosthenis Philippica,
Berlin 1858. Böhnecke wollte die handschriftliche Ordnung rechtfertigen
(vgl. L. Spengel Münchener gel. Auz, 1845 S. 324 ff'. Kurz a. O.).
1) Dionys. ad. Ammae. I 4. 10 (wo er die zweite Eede irrtümlich Ol.
108, 2 setzt), vgl. Schol. in Dem. p. 155, 3 D. (W. Christ die Atticusaus-
gabe des Demosthenes S. 173 leitet dessen Ansicht von der Beschaffenheit
seines Handexemplares ab). Vgl. J. H. Bremi Philol. Beitr. aus der Schweiz
I 21 ff. M. Seebeck Ztsch. f. ' Alterthumswiss. 5, 737 ff. Edm. Eichler
Demosthenes' I. Philippica doch eine Doppelrede? Pr. des II. Gymn. in Wien
1884; A. Bar an Wiener Studien 6, 173 ff.
2) Die dritte Philippica und die Rede über den Chersones sind für die
Hellenen bestimmte Flugschriften.
3) § 40, vgl. 26; 43. 45. 49.
176 Siebentes Kapitel.
nicht einmal Verse scheut ^). Man möchte jetzt bei der blossen
Lektüre glauben, das athenische Volk sei hingerissen worden
und jeder Widerspruch hätte verstummen müssen ; aber es
handelte sich um Geld, um viel Geld, und, was noch schwerer
wog, um persönlichen Kriegsdienst, während keine dringende
Notwendigkeit solche Opfer zu fordern schien ; Eubulos und
die übrigen Finanzautoritäten werden den Plan missbilligt
haben, vielleicht missfiel auch das schroffe Auftreten des
Demosthenes, der, wie später niemals wieder, dem Volke
Wahrheiten sagte. Kurz, man hört nicht, dass die Expedition
ausgeführt wurde.
Philipp war jedoch gewarnt und ging gegen Olynth erst
wieder vor, als er hoffen konnte, dass Euböas Aufstand die
Athener beschäftigen werde ^). Ol. 107, 4 (349) erschien eine
olynthische Gesandtschaft in Athen, um dringend rasche Hilfe
zu fordern. Diese wollen die drei olynthischen Reden
befürworten , welche rasch nach einander gehalten wurden ^) ;
denn alle beziehen sich auf einen und denselben Stand der
Dinge, auf den Anfang des Krieges. Zur Zeit der ersten
Rede handelte es sich noch darum, ob und in welcher Weise
das Volk Hilfe leisten solle (§ 2). Wälirend der Redner letztere
Frage nur flüchtig berührt (§ 17 — 20), dabei aber die kriegerische
Verwendung der Festgelder für wünschenswert erklärt, besteht
seine Hauptabsicht darin, das Volk zur Unterstützung zu be-
wegen. Als er die zweite Rede hielt, scheint bereits eine
Söldnerabteilung abgegangen zu sein; wenn der Redner also
auch seine Mitbürger zum kräftigen Plandeln ermahnt, will er
diesmal vielmehr den Mut der Athener heben, indem er die
augebliche Schwäche Makedoniens auseinander setzt. Beiläufig
1) Hexa meter § 3. 6 ; Daktylen, Choriamben nnd Anapäste sind
nicht selten.
2) Nach der bestimmten Angabe des Dionysios, welcher die Chronik des
Philochoros benützte, zogen die Athener Ol. 107, 4 gegen Euboia; dazu passt
auch Ps. Demosth. 69, 4. Hartel Sitznngsber. der Wiener Akad. 87, 21 fl'.
setzt dagegen den Zug in das Jahr 360; doch fällt nur der Einwand, dass
Dem. 3, 28 und Aeschin. 2, 71 dieselbe Summe der Kriegskosten angegeben
wird, recht ins Gewicht. S. 37 streicht Harl«l Ol. 3, 4 yj xstaptov und setzt
demgemüsN die Reden 360/49.
3) Ueber die Ordnung der Keden s. die Literatur in der Ausgabe von Rehdautz
S. 40 A. 1 : die gewöhnliche Ordnung der Reden verteidigen besonders
Demostbenes. 177
empfiehlt er mit den Thessaliern zu verhandeln ^), Zum Schlüsse
greift er die Staatsverwaltung des Eubulos an und wirft dem Volke
vor, dass es sich von den Professionsrednern und ihren Coterien
willenlos lenken lasse (§ 27 — 31). Das Eintreffen guter Nach-
richten (3, 25) drohte die Opferwilligkeit des Volkes zu mindern ;
Demosthenes wandte sich daher, weil der Grund der schleppenden
Kriegführung in den inneren Verhältnissen lag, noch energischer
gegen die damaligen Zustände des athenischen Finanzwesens.
Diesen ist mit Ausnahme der Einleitung die dritte Rede ge-
widmet; denn, mochte man auch mit dem grössten Eifer
kriegerische Beschlüsse fassen , die Ausführung scheiterte an
dem beständigen Geldmangel, da der attische Staatsschatz durch
den Bundesgenossenkrieg und die Besetzung Thermopylais völlig
erschöpft war. Demosthenes forderte daher jetzt offen auf, das
Verwendungsgesetz bezüglich der Verwaltungsüberschüsse auf-
zuheben. Diesem verständigen Vorschlage folgt das traurige
Geständnis auf dem Fusse, der Redner wage es nicht einen
Antrag zu stellen. Natürlich, er war in jenem Jahre zum
ersten Male Ratsherr und wollte durch einen unpopulären
Schritt seine politische Carriere nicht verderben. Aus dieser
A.West ermann quaestionesDemosthenicae I. Leipzig 1830 und ausgewählte
Reden desDemosthenesI^ 165ff.,Ziemann de hello Olynthico 1832,A. S chäfer
11 148 ff., L. Spengel ^i]\).'i]-(opia'. S. 67 ff., Weil harangues de Demosthfene
p. 163 ff. Blass 277 ff. Dionysios ordnete dagegen aus historischen Gründen
und wegen des Charakters des zweiten Proömiums 11. III. I. (wogegen Caecilius
von Kaiakte Einsprache erhob, Schol. Dem. p. 70, 1 ff. D.); ihm stimmen zn
Rauchen st ein de orationum Olynth, ordine, Leipzig 1821 und Dem. oratt.
selectae, Bonn 1829, Thirlwall history of Greece V AnhangS, Holzinger
Beiträge zur Erklärung des Demosthenes I. Prag 1856, Vömel Ztsch. für
Alterthumswiss. 1857 Nr. 21 — 23. Dagegen zeigt Hartel Sitzungsber. der
Wiener Akad. 87, 8 f., dass Dionysios die von Philochoros erwähnten Hilfs-
sendungen nur vermutungsweise an die drei Reden knüpft. Eine dritte
Ordnung II. I. III. stellte C. G. A. Stüve quaestiones de ordine trium
Olynth, orationum I. Osnabrück 1830, n. 1833 auf, nach welchem Grote
history of Greece XI (VI) Exkurs zu eh. 88, Jak. Purgaj die Reihenfolge
der Olynthischen Reden des Demosthenes, Marburg i. St. 1874 und F. G.
Unger Sitzungsber. der bayer. Akad. 1880 S. 273 ff. (nach ihm ist Ol. 11.
vor Sommer 352, Ol. I. Februar 35], Phil. I. Anfang Oktober 351, Ol. IH.
Anfang August 349 verfasst) übereinstimmen.
1) § 11—13 sind die Ausführung von I 24.. In der dritten Rede hat
er das Projekt, wie überhaupt die Offensive aufgegeben.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. H. 12
17g Siebentes Kapitel.
bedenklichen Situation zog er sich durch eine witzige Schilderung
der Friedenspolitiker und endete mit allgemeinen Phrasen.
Alle drei Reden sollten Stimmung machen, ohne von be-
stimmten Anträgen begleitet zu sein ^) ; die darin ausgesprochenen
Ansichten waren dem Sprecher keineswegs eigentümlich, aber
die Schwierigkeiten der Ausführung beruhten auf der Finanznot ^).
Da trat ein verhängnisvolles Ereignis ein, welches den Unter-
gang Olynths beschleunigte: Der Abfall von Euböa beschäftigte
den grössten Teil der attischen Streitkräfte; ApoUodoros (nicht
Demosthenes I) unternahm in dieser gefährlichen Lage den Angriff
auf das Theorikengesetz , der Antrag drang anfänglich durch,
um dann doch an der Vergnügungssucht der Massen zu scheitern.
Ol. 108, 2 (347) kam Demosthenes abermals in den Rat und
gehörte hier bereits zu den Führern. Er Hess Verstärkungen
nach dem Chersones senden^), war jedoch gleich den übrigen
Staatsmännern über die Notwendigkeit des Friedens einver-
standen^). Als Philokrates die Abschaffung des unvernünftigen
Beschlusses, der jede Unterhandlung mit Philipp verbot, bean-
tragte, verteidigte ihn Demosthenes gegen Lykinos, welcher
gerichtlichen Einspruch erhob ^) , und beantragte für den
diplomatischen Agenten Aristodemos eine Dekoration^). Philo-
krates bewog daher das Volk, unter die Gesandten , welche es
346 im Frühjahre an den König abordnete, auch Demosthenes
zu wählen'^). Nach der Erzählung des Aischines zeichnete er
sich dabei keineswegs aus, sondern blieb vor dem Könige
stecken, was bei seiner geringen Schlagfertigkeit in ungewohnter,
Umgebung wohl glaublich ist^). Immerhin änderte er seine
1) W. Hartel Commeotatt. in honorem Th. Mommseni p 529 flf.
2) Vgl. z. B. 1, 20. 3, 10 ff. 4, 23.
3) Diony«. ad Ammae, I 10 (aus Philochoros).
4) Ueber die Vorgeschichte des philokrateischen Friedens handelt Weidner
Philol. 37, 228 ff., doch unbillig gegen Demosthenes; unparteiisch legtW.Hartel
demosthenische Stud. n., Sitzungsber. der Wiener Akad. 88, 365 — 498 die
Lage dar.
5) Aeschin. 2, 14, 109. 3, 62.
6) Aeschin. 2, 17, vgl. 19.
7) Aeschin. 2, 18 (vgl. 19 jj-aptupiai),
8) Aeschin. 2, 34 ff., vgl. 62 ; die Alten zweifelten nicht daran, z. B.
Gell. 8, 9 lemm. Ael. var. h. 8, 12.
Demosthenes. 179
Ansichten nicht, sondern stellte nach der Rückkehr die zum
Friedensschlüsse nötigen Anträge^). Auch dem seltsamen An-
trage, man solle Kersobleptes , welcher nicht einmal Athens
Bundesgenosse war, in den Frieden einschliessen , stimmte
Demosthenes nicht bei 2), weil er, scharfblickend wie er war,
erkennen musste, dass Philipp darauf hin die Verhandlungen
abbrechen werde. Als aber die Gesandten Philipps, die bei der
Lage der Dinge selbstverständliche Forderung stellten, dass die
Garantie des status quo die Grundlage des Friedens bilden und
der Vortrag sich nicht auf die geächteten Phoker beziehen
solle, sagte sich Demosthenes plötzlich von Eubulos und Philo-
krates los. Wiewohl er der richtigen Ansicht war, dass Philipp
nicht nach Mittelgriechenland gelassen werden dürfe, hatten
doch die Athener damals nur die Wahl zwischen Philipps Be-
dingungen und einem Kriege, zu dem Geld, Truppen und
Bundesgenossen fehlten, während Philipp in der Nähe des
attischen Chersones stand und die Phoker ihre Festungen den
Athenern nicht anvertrauen wollten. Wir stehen hier vor dem
Dilemma, dass eine ausserordentliche Verblendung, welche bei
einem sonst so klar und nüchtern denkenden Staatsmanne be-
fremden müsste, Demosthenes damals erfasst hatte oder dass er
einen grossen Scharfblick hinsichtlich der Stimmungswechsel
seines Volkes entwickelte. Aus den folgenden Ereignissen dürfte das
letztere die grössere Wahrscheinlichkeit für sich haben. Auf der
anderen Seite waren Eubulos und Aischines keineswegs Verräter,
wenn sie den notwendigen Frieden erstrebten und Philipp von den
verhassten Thebanern abziehen wollten; damals war ja Demo-
sthenes' Idee ^), die Thebaner gegen Philipp auszuspielen, noch
aussichtslos. Es gelang jenen, die Empfindlichkeit der Athener
durch eine diplomatische Fassung des Vertrages zu beruhigen ;
über Phihpps Interpretation durfte nach, den ausdrücklichen
Erklärungen seiner Gesandten bei einem Einsichtigen kein
Zweifel bestehen. Der kluge Advokat konnte dies ebenso wenig
verkennen wie dass die Athener, wenn sie vor der vollendeten
Thatsache ständen, ausser sich geraten und nach Schuldigen
1) Aeschin. 2, 46. 63 ff. 61. 65.
2) Aeschin. 2, 84 (durch Zeugnisse belegt).
3) Aeschin. 2, 106, vgl. Demosth. 19, 138 ff.
12'
IgO Siebentes Kapitel.
suchen würden. Die Ereignisse, welche der Arginusenschlacht
folgten, zeigten den bequemsten Ausweg. Obgleich Kersobleptes
vom Frieden ausgeschlossen war und es sich nur um seine Städte,
nicht um athenische Besitzungen handelte, setzte Demosthenes
beim Rate durch, dass die mit der Ratifikation betrauten Ge-
sandten die Weisung erhielten, so rasch als möghch Philipp
aufzusuchen. Auf der Reise nach Pella hielten sich alle Kollegen
von Demosthenes ferne, der sie für Verräter erklärte und darauf
drang, man solle Philipp nachreisen um Kersobleptes zu retten.
Er hatte demonstrativ ein Talent zum Loskauf von Gefangenen
mitgenommen, indem er ignorierte, dass deren Freilassung ver-
sprochen war, und lehnte alle Gastgeschenke ab. Wie voraus-
zusehen war, verweigerte Philipp jede prinzipielle Abänderung
des Friedensvertrages, deutete aber an, dass er ihn mit Wohl-
wollen ausführen werde. Nach der Heimkehr, während Philipp
gegen die Thermopylen anrückte, trat Demosthenes sofort im
Rate gegen die übrigen Gesandten auf. In der Volksversamm-
lung beruhigte jedoch Aischines die Athener durch die Aus-
sichten, welche Phihpp und seine Günstlinge eröffnet hatten.
Gleichzeitig erkannte man aber wohl, dass Athen seine Sache
von der der Phoker trennen müsse, um nicht ebenfalls dem
Bannflüche der Amphiktyonen zu verfallen; zu diesem Zwecke
erging eine von Philokrates formulierte Erklärung^). Als jedoch
die Amphiktyonen zusammentreten sollten, lehnte das Volk
(jedenfalls von Demosthenes überredet) die Teilnahme an der
Exekution ab und verzichtete damit zugleich auf das Recht,
das Schicksal der Phoker zu bestimmen; aber die Friedens-
partei setzte durch, dass eine Gesandtschaft an die Amphiktyonen
abging, wobei Demosthenes die ihn treffende Wahl in auffallender
Weise ablehnte. Als nun der Bundesrat zu Gerichte sass,
wusste Philipp zugleich seine Rolle als Bundesfeldherr auszu-
nützen, also seine Verbündeten zu befriedigen und das harte
Urteil der Amphiktyonen zu mildern. Während die Spartaner
aus der Liga ausgeschlossen wurden, bewahrte er die Athener,
welche in derselben Schuld waren, vor dem gleichen Lose.
Diese ergriffen aber, ohne das Wohlwollen des Königs zu
würdigen, überstürzte Massregeln; erst wurde der Belagerungs-
I
1) Demosthenes 19, ßO.
Demosthenes. IgJ
zustand erklärt, dann nahm man die geächteten Phoker auf
und beschloss, obgleich Philipp alle Gefangenen freigelassen
hatte, die Feier der Pythien nicht zu beschicken. Hätte Philipp
wirklich, wie Demosthenes stets behauptete, das Verderben
Athens geplant, wann hätte er eine günstigere Gelegenheit dazu
gefunden als jetzt, da er als Feldherr der Amphiktyonen mit
den ihm verpflichteten Mittelgriechen und Thessaliern der
isolierten Stadt gegenüber stand? So aber wahrte er nur die
Form, wenn eine Gesandtschaft Ol. 108, 3 (Ende 346) die Athener
zur Rede stellte.
Demosthenes hielt bei dieser Gelegenheit die Rede vom
Frieden (V.), welche manche Bedenken erregt hat, einmal in
formaler Beziehung, weil das Proömium (1 — 3) ^) und die Rück-
blicke auf seine Thätigkeit (9 — 12) nicht recht zu passen
scheinen. Der Kern der Rede § 13 — 23 ist sorgsam ausgear-
beitet; er entwickelt den richtigen Gedanken: „Einen Krieg mit
Allen müssen wir vermeiden, hingegen eine Auseinandersetzung
mit Philipp oder den Thebanern allein im Auge behalten". Ueber
die Frage, welche Antwort die Gesandten empfangen sollen, eilt
der Redner mit einer geheimnisvollen Phrase weg ; ein Epilog
fehlt. Manche der Alten zweifelten den demosthenischen Ursprung
der Rede ^) an oder meinten, sie sei nicht wirklich gehalten %
weil sie Demosthenes unaufhörlich den Krieg predigend dachten.
Aber die Rede ist ein Meisterstück der Diplomatie, das der
augenblicklichen Zwangslage gerecht wird und doch die
bisherige Politik des Demosthenes nicht verleugnet. Ein
solches Lavieren thut der Rhetorik notwendig Eintrag; über-
dies liegt uns, da Demosthenes die Rede ihres Inhalts wegen
gewiss nicht selbst heraus gab, bloss eine Skizze derselben
vor *). .
1) L. Spengel SfjfXfiYOptac "Abhandl. der bayr. Akad. 9, 79 ff.
2) Schol. Dem. p, 158, 14; unter Spengels rhetores führt sie nur
Alexandros Tcspl a)cr]}j.äx(«v (III p. 10, 26) an. Hieronymus Wolf (in orat. de
falsa legatione p. 375) dachte an Aischines; Dem. 19, 111 ff. ist allerdings
höchst auffallend, aber s. Schäfer II 278 ff.
3) Liban. zur Eede (wegen jener Stelle des Demosthenes) und Photios
bibl. p. 492 a 14 ff., vgl. Joh. Doxopatris Anecd. Oxon. IV 156 ff.
4) Ausser dem oben erwähnten ist die Zweiteilung § 11 f. und 1 3 f.
etwas formlos.
182 Siebentes Kapitel.
Inzwischen war Demosthenes zu Hause nicht müssig ge-
bheben; kaum von der zweiten Gesandtschaft zurückgekehrt
(7. Juli), klagte er im Vereine mit Ti marchos Aischines, welcher
gleichfalls an beiden Gesandtschaften beteiligt war, des Verrates
an^). Wenn man erwägt, dass Aischines allerdings eine be-
deutende Rolle bei den Verhandlungen spielte, aber Philokrates
den Hauptanteil am Zustandekommen des Friedens hatte, so
kann man in der Wahl des Gegners nur eine persönliche
Rancüne erkennen, und die Anklagerede des Demosthenes selbst
stellte in gewissem Sinne eher eine Verteidigung seiner eigenen
Handlungsweise dar, welche ja den Chauvinisten viele Angriffs-
punkte bot^). Sowie Aischines von seiner pythischen Gesandt-
schaft zurückkam, erhob er gegen Timarchos die Gegenklage;
Demosthenes hatte nämlich den schlimmen Fehler begangen,
einen Mann des übelsten Rufes zum Genossen zu nehmen,
Aischines erlangte 345 leicht dessen Verurteilung; da das Volk
ausserdem im gleichen Jahre Aischines sein Wohlwollen dadurch
1) Schäfer H 263 f. 316.
2) W. Hartel demosthenische Studieu 11. S. 498. Die Alteu waren
keineswegs alle und unbedingt Demosthenes zugethan ; für Aischines trat am
entschiedensten Joannes Sikeliota (Walz VI 675, 23 ff.) ein. Bei den modernen
Philologen herrschte früher gegen den weniger beredten Politiker eine solche Ge-
reiztheit, dass man selbst Demosthenes' Angriffe hie und da überbot; eine
Ausnahme machte fast bloss Melchiore Cesarotti opere XXI. (Firenze 1806)
p. 133 ff. und E. Stechow de Aeschinis oratoris vita, Berlin 1841. Der
mit den Kniffen der alten Beredsamkeit wohl vertraute L. Spengel betrachtete
wie einst Reiske , das Pathos des Demosthenes kritischer, vielleicht zu kritisch
(die 8Y]|j.Y)Yoptai des Demosthenes, Abhandlungen der bayerischen Akademie
Bd. IX. 1860; Demosthenes' Verteidigung des Ktesiphon, ebend. 1863 Bd. X
1.); A. Weidner (Aeschinis in Ctesiphontem oratio, Lips. 1872; PhUol. 36,
246 ff. ; Aeschines' Rede gegen Ktesiphon, Berlin 1878) lässt sogar Demosthenes
dasselbe Schicksal, welches früher Aischines traf, zu Teil werden.. Spengel
hat den Erfolg erzielt, dass die meisten neueren Beurteiler die Frage ohne
Vorurteil behandelten (vor allen W. Hartel demosthenische Stvidien II.
Sitzungsber. der Wiener Akad. 88, 365 ff., dann J. Rohrmoser kritische
Betrachtungen über den Philokrateischen Frieden, Ztsch. f. österr. Gymn.
1874 S. 789 ff.; Jos. Bärwinkel de lite Cfesiphontea, Sondersh. 1878 (Diss.
V. Leipzig) und W. Fox Analyse und Würdigung der Rede des Demosthenes
für Ktesiphon, Feldkirch I. 1863 11. 1866 und die Kranzrede des Demosthenes,
Leipzig 1880). Weitere Schriften verzeichnen Fox a. O. S. VII ff. und Reich
die BeweisführuBg des Aeschines in seiner Rede gegen Ktesiphon I. Nürn-
berg 1884.
Demosthenes. 183
ZU erkennen gab, dass es seinen Bruder zum Strategen wählte,
war Demosthenes kkig genug, den Austrag der Klage auf eine
günstigere Zeit zu verschieben.
Schon im nächsten Jahre traten Ereignisse ein, welche die
Athener dem Drängen des Demosthenes zugänglicher machten.
Weil die Spartaner Messene hart zusetzten, rief dieses Philipp
zu Hilfe; dadurch erachteten die Athener das hellenische
Gleichgewicht für gestört und Demosthenes Hess sich mit einer
Gesandtschaft nach Messene und Argos senden , um diese
Städte Philipp abspenstig zu machen. Als diese Absicht jedoch
nicht erreicht wurde, unterstützten sie die Spartaner. Hierauf
beschwerten sich wieder die Peloponnesier in Athen, begleitet
von Vertretern Philipps, welche über Demosthenes' Gesandt-
schaftsreden Beschwerde führten und eine Revision des Friedens
anboten^). Die zweite philippische Rede (VI.)^), welche
sich auf dieses Ereignis bezieht, gleicht durch den Mangel
bestimmer Vorschläge der vorhergehenden, der Redner wagt
aber bereits eine kühnere Sprache; er warnt seine Mitbürger
vor Philipp und donnert hierauf gegen die Urheber des philo-
krateischen Friedens. Im Proömium stellt Demosthenes sogar
schon den Revanchekrieg in Aussicht.
Die Ereignisse des folgenden Jahres mehrten die Zahl
seiner Anhänger : Elis schloss sich an Philipp an und auch in
Megara wäre ohne Athens Hilfe ein Staatsstreich ausgeführt
worden. Dadurch wurde das Volk gereizt und nun war die
passende Gelegenheit gekommen, die Führer der Gegenpartei
zu beseitigen. Hypereides wandte das berüchtigte Gesetz,
welches den Politiker, der dem Volke zum Schaden sprach,
dem Tode überlieferte, auf Philokrates an, der mit richtiger
Erkenntnis der augenblicklichen Stimmung die Flucht ergrifif;
stand doch sein Name in der Friedensurkunde. Das Volk war
mit diesem Opfer zufrieden und wählte Aischines zu seinem
Anwalt, als das Anrecht Athens auf Delos vor den Amphiktyonen
verteidigt werden musste; der Areopag jedoch, der längst nicht
mehr die Hochburg des Konservativismus war, kassierte die Wahl
1) So berichtet Libauios aus Tlieopomp; Dionysios erwähnt die Ge-
sandtschaft Philipps nicht.
2) Vömel integram esse Deraosthenis Philippicam II. apparet ex dis-
positione, Frankfurt 1828.
184 Siebentes Kapitel.
und übertrug das Amt gleichsam zum Lohne Hypereides. Gleich^
zeitig erhielt Demosthenes das Ehrenamt eines Pylagoren. Die'
Stimmung Athens musste Philipps Aufmerksamkeit auf sich
ziehen; da er einen Krieg vermeiden wollte, bot er durch eine
Gesandtschaft den Athenern abermals eine Revision des Ver-
trages an. Demosthenes wusste das Volk wiederum mit Miss-
trauen zu erfüllen, so dass es den plumpen Demagogen Hege-
sippos an den König abordnete und Forderungen, wie nach
einem glücklichen Feldzuge stellte. Dadurch waren die Unter-
handlungen aussichtslos , ehe noch die Gesandten abreisten.
Von jetzt an (Sommer 343) beginnt der stille Krieg zwischen
Philipp und Athen. Als die Bürgerschaft durch Gerüchte, dass
ein makedonisches Heer auf Euböa stehe, in beständiger Unruhe
schwebte , schienen die Aussichten auf die Vernichtung der
Friedenspartei so vortrefflich wie nie zuvor. Die Verhandlung
über Demosthenes' Klage fand daher endlich Ol. 109, 2 (343)
statt; giltige Beweise für den Verrat Hessen sich natürlich nicht
beibringen und der ruhige Betrachter musste die Frage auf-
werfen, zu welchem Zwecke eigentlich PhiHpp sein Gold hätte
verschwenden sollen; aber die Wellen des Chauvinismus gingen
damals so hoch, dass Aischines vielleicht nur der Unterstützung
der angesehensten Bürger Athens, des Phokion und Eubulos,
seine Freisprechung, die bloss mit dreissig Stimmen Majorität
erfolgte, verdankte. Aber die günstige Stellung des Demo-
sthenes wurde durch diesen unerwarteten Ausgang nicht ge-
ändert. Er ging von neuem in den Peloponnes und, als
Philipp in Epirus stand, besetzten athenische Truppen Akar-
nanien. Im folgenden Jahre (342) versuchte der langmütige
König abermals die Versöhnung anzubahnen. Er machte sofort
einige Zugeständnisse und wollte einige Streitpunkte vor ein
Schiedsgericht bringen lassen. Aber die Athener widerstrebten
einem friedlichen Ausgleiche so sehr, dass sie auf des Demo-
sthenes' Antrag nicht einmal die Felsenkhppe Hälonnesos als
Geschenk annehmen wollten, wenn sie nicht Philipp, der sie
den Piraten abgenommen hatte, ,, zurückgäbe". Als bald darauf
der Thrakerkönig Kersobleptes sich abermals empörte (vielleicht
im Einverständnisse mit den Athenern), sandten die Athener
Verstärkungen unter Diopeithes nach dem Chersones ; dieser
fing 341 mit Kardia, welches die Athener seit langem bean-
I
Demosthenea. 1 85
spruchten, Streit an und verletzte die makedonische Grenze.
Dieser offene Friedensbruch zog begreiflicherweise eine Be-
schwerde Philipps nach sich und nun hatte Demosthenes die
Athener von friedlicher Nachgiebigkeit zurückzuhalten und
seinen Schützling Diopeithes zu verteidigen^).
In der Rede ,,über die Lage im Chersones" (VIII.)
stellte er mit mächtigstem Pathos die Sache geschickt so hin,
als ob Phihpp eigentlich der Friedensbrecher sei; denn dies
war der sicherste Weg, um die Athener zur Verweigerung der
(lenugthuung zu bewegen. Im ßewusstsein, welche Bedeutung
der Augenblick für seine Politik hatte, riss er die Zuhörer
durch die berechnete Lebhaftigkeit der Rede — er flicht förm-
liche Dialoge ein — fort und bezauberte sie durch die Kunst
der Sprache. Der bedeutende Umfang der Rede (77 §) zeigt
jedoch, dass er die Rede nicht so herausgab wie er sie hielt,
sondern sie als Flugschrift, welche auch die übrigen Hellenen
zum Kampfe aufreizen sollte, verbreitete.
In der That berief das Volk Diopeithes nicht ab, was
Demosthenes sofort ausnützte. Auch die dritte Philippische
Rede (IX.) ^) stellte den König als Friedensbrecher dar, aber
Demosthenes brauchte seinen General nicht mehr zu recht-
fertigen, es handelte sich vielmehr darum, dass die Athener
auf der betretenen Bahn fortschritten und offensiv auftraten
51. 52). Damit sie sich zu Rüstungen entschlössen, schreckte
er seine Mitbürger durch den Hinweis auf andere Städte, deren
l'\ahrlässigkeit den Untergang verschuldete (§ 56 — 69). Auch
diese Rede wurde für die schriftUche Verbreitung erweitert;
denn es ist ganz deutlich, dass Demosthenes den Ausfall gegen
die verräterischen Redner (§ 36 — 46), bei welchem er der grösseren
Feierlichkeit halber die ßlutgesetze und sogar eine verschollene
Achtserklärung hervorsucht, erst später einfügte. § 47 schKesst
1) Der Titel lautet daher iu den Scholien Ttepl tcüv sv X^ppov-fjoü) cxpa-
Timxöiv p. 217, 22. 247, 13 oder ordp ^•.o^z£i^•ooz p. 196, 27. 206, 22. vgl.
200, 12. S. auch Spengel Abhandl. der bayer. Akad. 9, 279 A. 1.
2) Gegen Vömel Demostheuis Phil. III. habitam esse ante Chersone-
siticam, Frankfurt 1837 und Droyseu, welche diese Rede vor die über den
Chersones setzten, Schäfer 11 438 und Spengel die 8Y]|X7]Yoptai S. 78. — .
Ludw. Drewes über die Kunst und den Charakter der III. philippischen
Rede des Demosthenes, Braunschweig 1866.
Igß Siebentes Kapitel.
«I
sich ja genau an § 35 an und in der einen Ueberlieferung be-
findet sieh hinter § 46 eine Lücke, welche ein findiger Rhetor
mit der Bemerkung ,,Er liest aus seinem Notizbuche vor"
verdeckte. Diese Rede ist nämlich nicht bloss, wie die übrigen
von kleinen Interpolationen, wie sie in den Rhetorsclmlen ein-
gefügt wurden, durchzogen, sondern die beste Handschrift ent-
hält ganze Sätze nicht, welche in den übrigen Handschriften
stehen^). Mehrere dieser Zusätze (32. 58. VI) bringen merk-
würdige Angaben, welche einem Interpolator nicht zuzutrauen
sind; § 6. 7. sind eine andere Redaktion für 4. 5. und ver-
dienen sogar vor ihr den Vorzug, weil bei dieser eine frühere
Stelle des Demosthenes (IV 2) benützt ist; § 46 endUch wird
der Uebergang zwischen dem oben erwähnten Einschiebsel und
der eigentlichen Rede hergestellt. Da überdies die angeblichen Inter-
polationen durchaus demosthenisches Gepräge tragen, können sie
doch wohl nur von dem Redner selbst herrühren. Am wahr-
scheinlichsten dürfte die Annahme sein, dass im Nachlasse des
Demosthenes zwei Fassungen der Rede sich vorfanden ^), von
denen der vollständigere Entwurf zur Veröffentlichung bestimmt
war; wahrscheinlich liess jedoch der Redner die Arbeit liegen;
denn er verzichtete, sobald ihm der erste Platz im Staate ge-
sichert war, fernerhin auf dieses Agitationsmittel.
Zum Unglücke Athens setzte Demosthenes seine Ansicht
durch; er selbst ging nach Byzanz und zu den Thrakern,
während Hypereides Chios und Rhodos zum Bunde aufforderte ;
schmachvoll war, dass eine dritte Gesandtschaft die Perser um
Unterstützung anging, wiewohl man Philipp für den künftigen
1) In S, mit -welchem L übereinstimmt, fehlen § 6. 7, ausserdem grössere
Stücke § 2. 20. 25. 32. 41. 44. 46, 58. 65 am Ende. 71. Nur in einigen
Handschriften steht ein Satz von § 65 und 75, ein Glied 48 und 73. Dionys.
Thuc. 54 £v r-jj \Le'f'i<3 ig t&v xaxa <E>tXiTCiroo 8Y)[jLYjYoptü)v scheint die längere
Fassung als üblich vorauszusetzen (anders Weil harangues 307, 2).
2) Die erste Recension wurde aus der zweiten vermehrt nach L. Spengel
Abhandl. der bayer. Akad. 3, 157 ff. 9, 112 flf. und H. Weil Jahrbb. f. Phil.
1870 S. 635 ff. harangues de Demosth^ne p. 310 ff. Die meisten, darunter
Blas 8 S. 331 ff., ziehen die kürzere Fassung von S vor, während W. Din-
dorf Oxf Ausg. V 178 diese für verkürzt hält. Die Stichometrie ist nach
der Recension von S gemacht (W. Christ die Atticusan ssjabe des Demosthenes
S. 205 ff.; er schreibt die zweite Recension einem Freunde oder Schüler zu).
Vgl. noch Joh. Dräseke Jahrbb. f. Phil. Suppl. 7, 97 ff.
Demosthenes. 187
ßekämpfer des Nationalfeindes ansah, und nur die Kurzsichtig-
keit des Ochos verhinderte einen Bund Athens und Persiens.
In Griechenland dagegen erreichte Demosthenes seinen Zweck ;
es gelang, auf Euböa den Demokraten zum Siege zu verhelfen,
er gewann auch Korinth , Achaia und die Kleinstaaten des
jonischen Meeres, dazu, was noch wichtiger war, Byzanz und
Perinthos, die bisher mit Philipp verbündet waren. Der König
wandte sich daher gegen diese Städte, welche den Bosporus und
damit Athens Getreidezufuhr beherrschten, und stellte in Athen
ein Ultimatum ; Demosthenes liess nun offen den Krieg erklären
(340) und reformierte, mit der Leitung der Flotte betraut, das
Seewesen. Da PhiHpp 340 und 339 vergebHch sich abmühte,
Perinth und Byzanz, welchen der hellenische Bund und persische
Gouverneure beistanden, zu erobern, waren die Athener frohen
Mutes und verliehen an den Dionysien 339 Demosthenes einen
Ehrenkranz. Nichtsdestoweniger war nicht viel gewonnen,
weil sie des Beistandes der Thebaner noch nicht völlig sicher
waren. Philipp marschierte vorläufig nicht nach Griechenland,
sondern schlug sich jenseits des Balkan mit Skythen und
Triballern herum.
Inzwischen (März 339) ^) war Aischines als Pylagore nach
Delphi abgegangen; da ein Teil der Amphiktyonen den Athenern
vom phokischen Kriege her nicht hold waren, suchten die
Lokrer von Amphissa, vielleicht weil sie Philipp einen Gefallen
zu erweisen glaubten, einen passenden Vorwand, um Athen
eine Verurteilung durch die Amphiktyonen zuzuziehen. Aischines
lenkte aber die Klage auf sie selbst zurück; als sich die
Amphissäer an der Synode vergriffen, war ein neuer heiliger
Krieg unvermeidUch. PhiHpp war im Skythenlande verschollen
und so wäre es den Griechen möglich gewesen, den Streit
unter sich auszumachen. Aber bei Demosthenes überwog die
persönliche Feindschaft die unbefangene Ueberlegung; er hielt
nicht nur die Athener von der Beschickung der ausserordent-
lichen Sitzung zurück, sondern setzte auch bei den Thebanern
dasselbe durch. Für ihn selbst war dies ein grosser Triumph,
1) Vgl. über diese Ereignisse Beloch die attische Politik seit Perikles
S. 224 fl.
18g Siebentes Kapitel.
weil die Thebaner, von welchen der Erfolg des Krieges abzu-
hängen schien, auf diese Weise zum ersten Male mit Philipps
Feinden gemeinsame Sache machten, aber er überschätzte den
Wert ihres Bündnisses und so Hess er Philipp wiederum nach
Hellas herein. Nachdem nämlich die anderen kleinen Staaten
gegen Amphissa nichts ausgerichtet hatten, übertrugen sie dem
Könige, sobald er vom Norden zurückgekehrt war, die Bundes-
exekution. So überliess ihm Demosthenes den grossen mora-
hschen Vorteil, dass der Makedonier im Namen des heihgen
Amphiktyonenbundes Mittelgriechenland betrat. Trotz der
Söldner, welche Theben und Athen sandten, war der Wider-
stand Amphissas schnell gebrochen und nun wollte Philipp ein
Ende machen. Da er die Stimmung der Thebaner wohl kannte,
forderte er nur den freien Durchmarsch nach Attika; doch
nicht einmal dieses Zugeständnis wollten die von Demosthenes'
Beredsamkeit aufgereizten Thebaner machen. Der Redner hatte
nun endlich sein Ziel erreicht: Athen und Theben standen vereint
und von dem grösseren Teil der übrigen Hellenen unterstützt
Philipp gegenüber ; tüchtigere Feldherrfi und ein disciplinierteres
Heer hätten in der That den Sieg erringen können. Nach
zwei günstigen Gefechten, wofür man Demosthenes voreilig
dekorierte, machte eine einzige Schlacht allen Hoffnungen ein
Ende. Theben war dem Sieger preisgegeben ; auch Athen würde
den provocierten Krieg schwer gebüsst haben, hätte nicht der
König seine Milde walten lassen^).
Der Redner, welcher persönlich an der Schlacht teilge-
nommen hatte, gebrauchte zunächst die Vorsicht, Athen in
diplomatischer Sendung zu verlassen^, während Hypereides
die zur Fortführung des Krieges notwendigen Anträge stellte.
Die Athener bereiteten sich auf eine Belagerung vor und erteilten
Demosthenes zum Zeichen ihres unerschütterten Vertrauens den
ehrenvollen Auftrag, die Leichenrede auf die bei Chaironeia
gefallenen Bürger zu halten. Indes dachte man bei diesen
Demonstrationen nur daran, bessere Friedensbedingungen zu
bekommen; die Thebaner wurden ihrem Schicksale überlassen,
weil Athen aus der Beute Oropos erhielt. PhiUpp ward hierauf
1) Polyb. 18 (17), 14, 14.
2) Aeachin. 3, 169. Dinarch. 1, 80 f.
Dem osthenes. 189
zum Leiter des Perserkrieges, den er seit dem phokischen
Feldzuge im Auge hatte, ernannt und nur der Dolch des
Mörders hielt ihn von der Ausführung dieses Planes ab. Demo-
sthenes hatte nach der Schlacht von Chaironeia eine kluge
Zurückhaltung beobachtet ^); als Philipp abgezogen war, bean-
tragte er, wie um auf einen neuen glücklichen Krieg hoffen
/AI lassen, die Ausbesserung der Mauern und wurde in die
damit betraute Kommission gewählt. Sein Freund Ktesiphon
wollte bei dieser Gelegenheit Demosthenes ein öffentliches Ver-
trauensvotum erwirken, indem er Ol. 110, 4 (Anfang 336)^)
dem Redner einen Ehrenkranz sowohl für jene besondere Mühe-
waltung als wegen seiner Verdienste überhaupt zu gewähren
beantragte; Aischines erhob sofort dagegen Einspruch. Kurz
darauf erfolgte PhiHpps Tod. Demosthenes verbarg seinen
Hass gegen den Makedonier so wenig, dass er, obgleich ihm
sechs Tage zuvor sein einziges Kind gestorben war, die Bot-
schaft, welche ihm seine Spione rasch zugetragen hatten, dem
Rate und der Volksversammlung im Festgewande verkündete^).
Der rasche Anmarsch Alexanders schreckte indes die Athener
von der geplanten Erhebung ab; nichtsdestoweniger unter-
handelte Demosthenes mit Alexanders Nebenbuhler Attalos ^)
und den Persern, welche ihm grosse Geldsummen zur Ver-
fügung stellten ^). Er unterstützte damit den Aufstand der
Thebaner und bcwog Athen zum Versprechen der Hilfe ^) ; aber
als Alexander abermals unerwartet heranrückte, hielt er es für
das geratenste, den König zu besänftigen, indem er die Pelo-
ponnesier von der Beteihgung am Aufstande abhielt ') und so
1) Er schob seinen Freund Nausikles bei Stellung von Anträgen vor
(Aeschin. 3, 159, vgl. Plut. 21).
2) Plutareh (c. 24) setzt die Klage unrichtig Ol. 110. 3 (338) an; noch
fehlerhafter Cicero orator 7, 22.
3) Aeschin. 3, 77.
4) Diodor. 17, 5, 1.
5) Aischines erzählt, dass Demosthenes 300 Talente erhielt und davon
70 unterschlug (3, 239 f. vgl. Dinarch. 1, 15. 18 ff. Hyperid. in Demosth. col
15, 12 ff. 23, 19); ausgesponnen Plut. 20. Sopatros Walz rhet. 5, 123, 22 ff.
vgl. Polemon bei Philostrat. vit. soph. 1, 25, 7. Ueber eine athenische Ge-
sandtschaft Arrian. 2, 15. Curt. 3, 13, 15.
6) Diodor 17, 8, 5. Plut. 23, vgl. Ps. Plut. 847 b. Justin. 11, 2, 7 f.
7) Ehrendekret Ps. Plut. 85 1 b, wozu Aeschin. 3, 240 und Dinarch. 1 .
20 passen.
190 Siebentes Kapitel.
ging Theben hilflos zu Grunde. Alexander forderte von Athen
als Bürgschaft des Friedens die Auslieferung des Demosthenes
und der übrigen, welche die antimakedonische PoUtik leiteten,
damit sie vor das Amphiktyonengericht gestellt würden ^). Das
Volk wurde von Demosthenes und Hypereides bewogen, diese
Forderung abzulehnen, und verdankte der Vermittlung des
Ehokion und Demades ^), dass Alexander nicht weiter darauf
beharrte. Als die Schlacht von Issos (333) die letzten Hofif-
nungen des Demosthenes zerstörte, machte er privatim seineu
Frieden mit Alexander^), wenn er auch noch 332 in Olympia
den Sophisten Lamachos, welcher die makedonischen Könige
auf Kosten von Olynth und Theben pries, niederdeklamierte ^).
Er war ja, nachdem nicht einmal die Katastrophe von Chaironeia
sein Ansehen erschüttert hatte, der unbestrittene Leiter des
athenischen Staates, was dadurch zum Ausdrucke kam, dass
er 337 die Aufsicht über die Budgetüberschüsse erhielt und —
in welchem Jahre, werden wir später untersuchen — Aischines
die Stadt verlassen musste. Demosthenes durfte also das Glück
nicht zum zweiten Male auf die Probe stellen, denn er hatte jetzt
nur mehr zu verlieren. Daher enthielt er sich bei jenem Streite
mit Aischines jeder chauvinistischen Aeusserung und schwieg,
als Sparta sich gegen Alexander erhob; sein Freund Ktesiphon
ging sogar im Namen des Staates zu Alexanders Schwester,
um ihr das Beileid über den Tod ihres Gemahls auszusprechen
und er selbst wendete gegen das Verlangen, dass Alexander
göttliche Ehren erwiesen werden sollten, nichts ein ^). Dadurch
entfremdete er sich jedoch die Eevanchepartei, an deren Spitze
Hypereides, sein früherer Anhänger, stand ^). Im Jahre 324
1) Aeschin. 3, 161. Demosth, 18, 322.
2) Nach Diodor 17, 16, 3 wurde er von Demosthenes bestochen.
3) Aeschin. 3, 162 wird durch Marsyas bei Harpocr. v. 'Ap'.otitov be-
stätigt; vgl. Hyperid, col. 18, 1 ff. Demosthenes schickte Aristion an Alexanders
Freund Hephaistion.
4) Plut. 9. Ps. Plut. 845 bc. Ol. 114 (Schäfer HI 289) kann er dies
aus politischen Gründen nicht jjewagt haben.
6) Hyperid. c. Demosth. 30, 14 ff. Dinarch. 1, 94.
6) Hermann Haupt zur Vorgeschichte des harpalischen Processes,
Rhein. Mus. 34 (1879) S. 377 ff. Seltsam ist die Bemerkung des Theon
(itpoY. p. 70, 6 Sp.), das» Demosthenes Konkurrenzredeu gegen Hypereides schrieb.
Demosthenes. 191
trat diese Gegnerschaft an das Licht: Harpalos, der ungetreue
Verwalter Alexanders, floh mit den unterschlagenen Schätzen,
von einem Söldnercorps beschützt, nach Griechenland. Demo-
sthenes, damals wieder der höchste Beamte Athens, Hess ihn
von der Strandwache bei Sunion aufhalten. Nachdem jedoch
Harpalos seine Schaaren nach dem grossen Söldnermarkte
Tainaron gebracht hatte, erlangte er durch das Ungeschick eines
Beamten Einlass. Demosthenes Hess ihn verhaften und die
Wertsachen auf der AkropoHs deponieren ^). Harpalos entkam
und bei der Berechnung des Geldes war nur ungefähr die
Hälfte von dem, was Harpalos zu Protokoll gegeben hatte,
vorhanden ^). Als das Volk behauptete , Demosthenes und
andere Politiker hätten sich das Geld angeeignet und Harpalos
entfliehen lassen, forderte er eine Untersuchung, welche dem
Areopag übertragen wurde ^). Während dessen langwierigen
Nachforschungen erhielt er noch den ehrenvollen Auftrag, den
athenischen Staat bei den olympischen Spielen zu vertreten, wobei
er mit Nikanor, dem Kommissär Alexanders, verhandelt haben
soll ^). Endlich veröffentlichte der Areopag eine Liste der vor-
gekommenen Bestechungen, auf der Demosthenes mit einer
grossen Summe stand. Er leugnete nicht, Geld genommen zu
haben, behauptete aber, dass Vorschüsse in der Verwaltung
damit gedeckt worden seien ^). Da Athen dem Könige natürlich
für die Summe haftbar war, wurde Demosthenes verurteilt,
wozu ausser Deinarchos '^) besonders Hypereides, der eine zweite
Gelegenheit zum Kriege versäumt sah, beitrug. Der gefeierte
Staatsmann sollte eine hohe Geldstrafe^) bezahlen und wurde
1) Dabei soll ihn Harpalos bestochen haben (vgl. Ps. Plut. 846 a.
Lynkeus bei Athen. 6, 245 f) ; Anekdote von ftpYupaYX'*!' ^^i^ auch von
Demades erzählt wird (Kritolaos bei Gell. 11, 9. Plut. 25. Pollux 7, 104).
2) Philochor. bei Ps. l'lut. 846 b.
3) Hyperid. c. Dem. col. 2, 12flf.
4) Dinarch. 1, 81 f. 103.
5) Hyperid. col. 13, Iff.; 50 Talente nach Timokles bei Athen. 8, 341 f.
6) Dass die erhaltene Rede (I.) unecht sei (Westermann quaestiones
Demosth. HI 85 ff. vgl. Reinh. Finke quaestiones Dinarcheae, Greifswald
1873), ist nicht bewiesen.
7) Die bestimmten Angaben über die Strafsumme sind kombiniert (50
Talente Plut. 27. Zosim. Z. 112 aus jener Stelle des Timokles; 150 Talente
l's. Piut. 846 cd aus Dinarch. 1, 70),
192 Siebentes Kapitel.
sofort verhaftet ^), entfloh aber nach Trotzen '). Nach dem
Tode Alexanders bewog Hypereides Athen zum Aufstand;
Demosthenes unterstützte die Gesandten seiner Heimat, welche i
den Peloponnes aufriefen, durch seine Beredsamkeit^); zum aH
Danke rief ihn die Bürgerschaft in der ehrenvollsten Weise ~
zurück, aber — das Urteil wurde nicht aufgehoben ! So fest
war man von der Gerechtigkeit desselben überzeugt. Demo-
sthenes musste vielmehr statt der fehlenden Summe den Altar
des Zeus Soter schmücken^). Auch gewann er das alte Ansehen
nicht wieder, die Leichenrede für die im lamischen Kriege ^
gefallenen hielt Hypereides. Wie gross die Schuld des Demo- IH
sthenes in dieser traurigen Angelegenheit war, steht uns nicht '
zu zu beurteilen; aber nach Erwägung aller Umstände kann
man Demosthenes auf keinen Fall gänzlich freisprechen ^). Er
soll die Hoffnungslosigkeit des Aufstandes durchschaut haben^)
und bald verwirklichten sich seine Befürchtungen. Wiederum
mussten Demades und Phokion intervenieren, aber Athen
hatte dieses Mal härter zu büssen. Die Führer der Freiheits-
bewegung wurden geächtet; Demosthenes floh erst in das
Aiakosheiligtum auf Aigina, dann in den ehrwürdigen Bundes-
tempel des Poseidon von Kalaureia ') , doch nicht einmal die
1) Vgl. Böckli Staatshaush. I^ 512; nach einigen (Appian. b. civ.
2, 16 cpaot, Ps. Plnt. 846 c) floh er schon vor der Verurteilung, wogegen die
erhaltenen Reden sprechen. Anekdote Hellad. bei Phot. bibl. 279 p. 534b4ff.
2) Ps. Demosth. epist. 2, 18 (die weitere Flucht nach Kalaureia ist von
der zweiten Flucht entlehnt), ausführlicher Plut. 26. Anon. Z. 151. Max.
Planud. Walz rhet. V 496, 6 if. (nach Troizen und Argos); Megara nennt
Justin. 13, 5, 9.
3) Plut. 27 (aus Phylarchos). Ps. Plut. 846 c. Justin, a, O.
4) Ps. Plut. 840 d. vgl. Plut. 27. Ju.stin. a. O. Ps. Luciau, 31. Appian.
b. civ. 2, 16. Anekdote Zosim. Z. 115 ff.
6) Die zahlreichen Gelehrten, welche sich mit dieser dunklen Geschichte
beschäftigt haben, stellten meistens Demosthenes als vollkommen unschuldig
hin. Vgl. Gg. Eys eil Demosthenes a suspicione acceptae ab Harpalo pecuniae
liberatus, Marburg 1836; Leop. Schmidt Rhein. Mus. 16, 211.; Schäfer
III 291 ff.; J. Girard etudes sur l'eloquence attique p. 235 ff.; E. v. Duhn
Jahrbb. f. Phil. 111 (1875) S. 33 ff. ; V. Tröbst quaestiones Hyperideae et
Dinarcheae, I. Progr, v. Hameln 1881; A. Cartault de causa Harpalica,
Petersburg 1881.
6) Ps. Plut. 846 d.
7) Ps. Plut. 846 e, vgl. R. Stichle Phil. 4, 391. Bis Aigina flohen
mehrere Leidenpgeföhrten (Ps. Plut. Hyperid. 849 b und Arrian. bei Phot.
bibL 92 p. 69 b 37).
Demosthenes. 193
heilige Stätte sicherte ihn vor den Schergen Antipaters. Als
ilm dei" Schauspieler Archias vom Altare riss, beschützten ihn
die Bewohner der Insel für den Augenblicke^; da rettete ihn
ein plötzlicher Tod, während er etwas in sein Notizbuch schrieb %
sei es dass er zu Gift seine Zuflucht nahm ^) oder dass „die
Götter ihn beschirmten"*). Demosthenes starb am 16. Pyanep-
siou (12. Oktober) 322; die Kalaurier bestatteten die Leiche
auf ihrer Insel •^). Zweiundvierzig Jahre später errichteten die
Athener ihrem berühmten Mitbürger auf Antrag seines Neffen
Demochares *'), welcher zugleich, weil Kinder nicht vorhanden
waren, dem Oheim zu Ehren Privilegien erhielt, eine Statue,
welche die Inschrift trug:
odttot' av 'EXXtjvcöv -^p^sv ^ApTj? MaxeSwv '^).
So urteilten seine Mitbürger unerschütterlich über Demo-
sthenes, obgleich seine Politik zum Verderben des Staates aus-
geschlagen war ; in Wahrheit hat der Redner altes, was in seinen
Kräften stand , gethan , um den Sieg Athens zu ermöghchen.
Er durfte mit Recht sagen (18, 246): 'AXXa [jlyjv wv y' av 6
pTJTwp uTcsu^uvo«: £17], Tcdcav l^staoiv Xd[jLßave • od ;capan;oö{iat. ttva
ODV loTi taöTa; ISstv xa 7rpdY{j,aTa 6Lpy^6\Leza. xal Tcpoaia^sa^ai xal
TiposiTTslv TOI? aXXoi? . xaözcf. TisTrpaxTai [lot . xal stt tac ev.a.Gza.'/ob
ßpaSoT^Tac oxvoüc a.'^wlac, (pcXovtxtac , a TcoXiTixa xal? TcöXeat
TipdoeaTiv ocTcdaat? xal avaYxala a.^a.pzri^axa., taö^' oac, ei<: IXd)(iaTa
1) Ps. Plut. 846 f.
2) Man wusste aber später nicht was : nach Pappos (Hermippos bei Plut.
30, vgl. Satyros bei Ps. Plut. 847 a) „Demosthenes grüsst Antipatros", nach
Demetrios Magnes (Ps. Plut. a. O.) das Epigramm, das später auf seiner
Statue stand.
3) Philochor. bei Ps. Plut. a. O. vgl. Strab. 8, 374. Pausan. 1, 8, 3
(4). Lucian. 49 u. A. Er hatte Gift in einem ftTCoSsoji-oc (Hermippos Plut. 30
aus Pappos, der sich auf die Aussagen der Häscher und einer Magd des
Demosthenes berief) oder in einem xpixoc am Arme (Eratostheues bei Plut.
30 u. Ps. Plut. 847 b), im Siegelringe (einige bei Ps. Plut. a. O. vgl. Zosim.
140. Anon. 173. Suidas I. HI.) oder im Schreibrohre (Satyros bei Ps. Plut.
847 a und Ariston bei Plut, 30). Plutarch (c. 30) kannte viele Varianten.
4) Demochares bei Plut. 30. Einige erzählten, er habe den Athem
angehalten (Ps, Plut. 847 b),
5) Zeit Plut. 30. Zosim. 149; Denkmal Pausan. 2, 33, 3. 5.
6) Ps. Plut. 850f, vgl. A. Schäfer Philol, 9, 166,
7) V, 1, ^tojjLYjv Yvt"lJLTff, Demetr. Magn. bei Ps. Plut. 847 a. Plut, 30.
Pausan. 1, 8, 2 (4). Aristides II 517. Zosim. Z. 146. Anon. Z. 178. Suid. H.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. U 1^
J94 Siebentes Kapitel.
aoateiXat xal Toovavrtov el? 6[AÖvoiav xal cpiXCav xal toö toc Seovta
TTOtsiv 6p(iY]V Tupoxpstjjai , xal taöToc {aoi 7:dvTa ;re7toi7]Tai xal odSsI?
jiTf^Tto^' £upi{j TÖ xat' s|X£ ooSsv iXXsi(pO-£v. Jedenfalls wollte er das
Beste seiner Vaterstadt und drängte es dem Volke auch wider
dessen Willen auf^). Mit dem guten Willen paarte sich ein
durchdringender Scharfsinn, der die Erfordernisse jeder Lage
sofort erfasste. Aber Demosthenes war durch und durch ein
Athener; daher hatte er für panhellenische Interesse keinen
Sinn, sondern gedachte nur die anderen Griechen dem Interesse
Athens auszunützen. Die Thebaner, welche er eigentlich nicht
leiden konnte^), dienten bloss als Werkzeug, das man nach
dem Gebrauche wegwarf. Während ein Politiker ihn darob
nicht tadeln kann, stürzte ihn sein Lokalpatriotismus anderseits
in verhängnisvolle Verblendung über die Machtverhältnisse der
Kriegführenden; der athenische Staat hat für ihn, sobald die
Bürger nur ihre Pflicht thun wollen, noch immer nicht seines-
gleichen. So sehr der Redner hingegen die Rührigkeit Phihpps
anerkennen muss, so ist ihm doch Makedonien noch immer
der barbarische halb von Athens Gnaden lebende Kleinstaat
des Perdikkas und Philipps Errungenschaften wie ein Karten-
haus; solche Urteile hörte das Volk gerne und Hess sich von
dem beredten Verkünder der athenischen Herrlichkeit dafür
manches gefallen. Die organisatorische Bedeutung Philipps hat
Demosthenes nie begriffen ; dazu fehlte ihm vor allem die Er-
fahrung im Militärwesen, was dem Vertreter einer Kriegspartei
freilich schlecht anstand. Ueberhaupt war Demosthenes weit
mehr ein Agitator als ein Staatsmann; seine Reden machten
in ausgezeichneter Weise Stimmung , dagegen waren sie an
positiven Vorschlägen auffallend arm. Nicht bloss seine Gegner
warfen ihm daher vor, er spreche zwar recht schön, stelle aber
keine Anträge ^). Die Moralität seiner Politik zu prüfen würde
mir nicht einfallen, wenn man nicht gerne vergässe, dass die
1) Theopomp, bei Plut. 14. Ueber die politische Theorie des Demosthenes
Arn. Hug Studien aus dem klassischeu Alterthum I. Freiburg und Tübingen,
1881 S. 61—102.
2) Leptin. 109 ; wie das Lustspiel 4>iXo9"rjßato? des Antiphaues zeigt,
gab es damals schon Freunde Thebens in Athen.
3) Demoeth. 8, 78, vgL 9, 70. 76. 18, 179. 302.
Demosthenes. 195
Geschicke der Völker mehr nach den Regehi Macchiavellis als
gemäss der christlichen Sittenlehre bei Heiden und Christen zu
allen Zeiten gelenkt wurden. Wiewohl also Demosthenes mit
Vorliebe moralische Sentenzen in seine Reden einflocht ^),
handelte er durchaus nach den Gesetzen des Nutzens und es
wird nicht zu leugnen sein, dass, während Philipp ein (wenig-
stens nach aussen) korrektes Verfahren gegen die Athener be-
hauptete, Demosthenes, als er sich der Thebaner sicher wusste,
den Krieg absichtHch provocierte ^). "Während er aber Rach-
sucht und Groll dem Gesichtspunkte des Nutzens untergeordnet
wissen wollte, wurde er dadurch nicht abgehalten, seine pohtischen
Gegner wie persönliche Feinde mit Schmähungen zu überhäufen
und sie mit Ausnahme des Phokion alle als bestochene Ver-
räter zu brandmarken ^). Selbst den Staatsmännern anderer
Städte , die seiner Politik nicht gefügig waren , warf Demo-
sthenes Unehrlichkeit vor. In seinem Hasse gegen PhiHpp
vergass er sich so weit, dessen sittlichen Charakter wie auch
den seines Sohnes anzutasten^). Der Redner sprach eben selten
sachlich, sondern benahm sich in der Volksversammlung gerade
so, wie wenn er im Gerichtssaale stände und die Feinde Athens
anzuklagen hätte.
Dem Privatcharakter eines athenischen Staatsmannes
gerecht zu beurteilen ist schwer, weil in Athen, wie in Amerika,
eine öffentliche Stellung die gehässigsten Angriff e nach sich zog, und
Demosthenes war diesen um so mehr ausgesetzt, als ihm Liebens-
würdigkeit versagt war und er selbst seine Gegner nicht schonte.
In Bezug auf sein sittliches Verhalten hat ihm der athenische
Stadtklatsch nichts bestimmtes nachzusagen gewusst; den Bei-
namen BdraXo? trug ihm vielleicht seine weichliche Kleidung ein ^).
1) Vgl. Maur. Croiset des idees morales dans Töloquence politiqne de
Demosthene, Montpellier 1874.
2) L, Spengel SvifjLfjYopiai S. 85, 1. 97 f.
3) Polyb. 17, 14.
4) Demosth. 2, 17 ff. Aeschin. 1, 167 ff.
5) Aeschin. 1, 131 (über die Bedeutung des Namens Schäfer 11 307;
Antiphanes schrieb gegen ihn eine Komödie mit diesem Titel, Plut. 4) ;
Aischines nennt ihn xivatSo? (1, 181. 2, 88) vgl. Duris bei Suid. v. u) xö
lepov. Jener Name BüxcaKoc; gab Veranlassung zu den Urteilen des Hermippoa
13*
196 Siebentes Kapitel.
Was Demostlienes' Uneigennützigkeit und Integrität betrifft, so
wollen wir von dem Harpalosprozesse hier absehen; die Be-
teiligung an der Regierung war, auch ohne dass man mit den
Gesetzen in Konflikt kam, sehr einträgUeh, So hatte Demo-
sthenes z. B, als thebanischer Konsul Einkünfte^) und nützte,
wie die anderen , seinen Einfluss zur Bereicherung aus *) ; er
war dabei so praktisch, sein Vermögen nicht in Grundbesitz,
welcher im Kriege entwertet war, anzulegen ^), sondern damit
zu spekulieren*). Daran nahm niemand Anstoss, im Gegenteil
betrachtete man Aristeides und Phokion, die dem allgemeinen
Beispiele nicht folgten, wie Merkwürdigkeiten. Hingegen erregte
seine gerichtliche Thätigkeit schweren Anstoss: Demosthenes
war bei seinen Zeitgenossen als der raffinierteste Advokat ge-
fürchtet und die erhaltenen Reden rechtfertigen dieses Urteil;
davon hatte er wahrscheinlich den Spitznamen 'Ap^äq ,, Natter".
Im besonderen verübelte man ihm, dass er eine Anklage gegen
seinen Freund Kephisodotos unterstützte ^) und, nachdem er
für Phormions Geld eine wahre Karrikatur von Apollodoros
entworfen hatte, in derselben Sache letzterem eine Rede (die
noch erhaltene gegen Stephanos) schrieb. In Angelegenheiten,
die ihn selbst betrafen, entwickelte der Redner wenig Mut:
Die Klagen gegen seinen Vetter Demomeles, der ihn am Kopf
verwundete % und gegen Meidias, von welchem er als Chorege
öffentlich eine Ohrfeige erhalten hatte, nahm er zurück und
begnügte sich bei letzterem mit einem Schmerzensgeld ''),
während er in dem unwissentlich erhaltenen Koncept der beab-
sichtigten Anklage "gegen eine solche Zumutung entrüstet
(npic tic "fj^ovotc äxoXaoToi; Suid. I.) und Idomeneus (Athen. 13, 692 f). Die
Anekdote Pb. Plut. 847 e wird Apostol. prov. 3, 19 a und Arsen. 8, 93 allge-
mein erzählt; Bonmot Gell. 1, 8, 8.
1) Aeschines 2, 141. 143.
2) Hyperid. in Demosth. col. 22, 26 flf.; Aeschin. 3, 103 ff. erzählt einen
bestimmten Fall. Anderes Gell. 11, 9.
8) Dinarch. 1, 70.
4) Plutarch. comp. Cic. et Dem. 3 ; daher besass er in Athens Hafenstadt
ein Haus (Dinarch. 1, 69).
6) Aeschin. 3, 62, vgl. 1, 131.
6) Aeschin. 2, 93. 3, 41.
7) Aeschin. 8, 52.
Demosthenes. 1 97
protestierte; mit Theokrines fand sich unser Redner bei einer
Paranomenklage gütlich ab ^). Persönlicher Mut war überhaupt
nie eine starke Seite des Redners '^). Wenn er musste ^), nahm
er an den Feldzügen Teil, aber ohne ßicli hervorzuthun ; seine
Gegner warfen ihm Feigheit vor^). Nicht einmal in der Volks-
versammlung war Demosthenes schlagfertigen Rednern ge-
wachsen, sondern der Improvisation abgeneigt^); auch bei seinen
Augriffen beobachtete er eine gewisse Vorsicht, daher kommt
die TupoStöp^-waif: ^) bei keinem Redner häufiger vor. Dem Volke
gegenüber versüsste er seine Anklagen durch Schmeicheleien ^).
Wir werden am besten thun, nicht ein idealistisches Bild
des Demosthenes in usum delphini aufzustellen , sondern dem
Urteile der Alten zu folgen; Demosthenes wurde mit den ge-
feiertsten Staatsmännern Athens, besonders in Bezug auf Inte-
grität, nicht zusammengestellt und als Redner bewunderte man
ihn, ohne seinen Behauptungen zu vertrauen^).
Dem klugen Gedanken des Demosthenes, durch schriftliche
Ausgabe seiner Reden sich in weiteren Kreisen bekannt zu
machen, verdanken wir es, dass sowohl Staats- und Gerichts-
reden erhalten sind. Wie oben hervorgehoben ist, war Demo-
sthenes der erste, welcher pohtische Reden veröffentlichte und
auch er bediente sich dieses Agitationsmittels nur in der ersten
Periode seines Wirkens (von 354 bis 341), so lange er Athens
Politik nicht unumschränkt beherrschte. Doch stellen die elf
vorhandenen Schriftstücke natürlich nicht die Gesammtsumme
der von Demosthenes in jenem Zeitabschnitte gehaltenen Reden
dar, er schritt ja gewiss nur zur Veröffentlichung, wenn ein
besonderer Zweck zu erreichen war.
1) Ps. Demosth. 58, 43. Ueber eine von Arist. rhet. 2, 23 p. 1397 b 7
erwähnte Anklage vgl. Spengels Note.
•2) Demetr. Phaler. bei Flut. 14.
3) Er hatte einen Prozess XetTCoxalioo (21, 103).
4) Aeschin. 1, 131. 3, 152. Dinarch. 1, 12. 36. 71. 81. Pytheas bei
Plut. 20; Anekdoten bei Gell. 17, 21, 31. Ps. Plut. 845 e. 847 f.
5) Plutarch. lib. educ. 9.
6) Beispiele im I. Index der Ausgabe von Rehdantz s. v.
7) Dionys. rhet. 10, 2 tö toü xoXaxsuovto^ (yj^-oi;).
8) Vgl. z. B. die Einleitung zur 35. Rede.
J98 Siebentes Kapitel.
Die Sammlung dieser echten elf Reden wurde später
durch einige vermehrt, welche in demosthenischer Sprache ge-
schrieben und eher Uebungen als Fälschungen sind. Drei
davon hängen mit den letzten echten Reden zusammen; eine
erlangte sogar die Ehre, als vierte philippische Rede (X.)
gezählt zu werden, obgleich sie nichts als ein kaum zusammen-
hängendes Gemengsei von demosthenischen Stellen, die haupt-
sächlich aus der Rede über den Chersones und der zweiten
Philippika stammen , und manierierten Imitationen demo-
sthenischer Ausdrucksweisen darstellt ^) ; der Verfasser hat
historische Studien, wahrscheinlich in dem Werke des Theo-
pompos, gemacht. Dionysios von Halikarnass, Hermogenes und
andere Rhetoren sahen dieses üebungsstück für ein demo-
sthenisches Original an, während einige andere die ünechtheit
erkannten ^).
Anders geartet und nur eine schwache Studie von Schüler -
hand ist die folgende Rede ,,gegen Philipps Brief" (XL),
deren Verfasser die demosthenischen Reden, einschliesslich
der über den Halonnes, mit Fleiss aber ohne Talent benutzte^);
geschichtliche Kenntnisse fehlen ihm. Als Anhang zu der
i
1) Z. B. § 6. 16. 41.
2) Joannes Sicel. Walz rhet. VI 253 aus dem Ephesier Anasinsios
(dieser scheint sich auf uvkz tcJüv xejyo'fpix^fiuy berufen zu haben); die Rhetoren
Alexandros, Dioskoros und Zenon beanstandeten wenigstens einzelnes (Scbol.
Dem. TCV p. 190, 2. 191, 7. 192, 14. 193, 28. 195, 22. 203, 18). Verworfen
wurde die Rede zuerst von Valckenaer orat. de Philippi indole p. 251 n.;
die Ünechtheit weisen nach Hub. Veersteeg oratio Philipp. IV. Demostheni
abjudicatur, Groningen 1818, Brückner König Philipp S. 353 fif., West er-
mann quaestt. Demosth. III 147 fif., A. Schäfer III B 94 ff., vgl. Cobe
Mnemosyn. IV 7. 13. Die Echtheit einiger Stücke behaupteten ausser Grote
Winiewski comment, chron. in Demosth. or, de corona p. 169. 190 n.,
Benseier dehiatup. 76ff. und de hiatu in Demosthenis orationibus, Freiberg
1848 p. 19 ff.. Weil harangues p. 356 ff. (zweifelnd) und Blass S. 339 ff.;
letzterer hält § 1—10, 28—34 und 70 ff. für echt, aber § 8 f. ist die Folge
der Ereignisse falsch angegeben und die persönliche Apostrophe am Schlüsse
ist gegea Demosthenes' Brauch. Bö h necke und Spengel ÖTjjjLYjYoptat
Abhandl. der bayer. Akad. 9, 286 ft. (nach dem sie vielleicht im Nachlasse
sich vorfand) treten für die Echtheit ein.
8) Verworfen von Taylor in Reiske's praef. ad anuot. p. 118 und den
übrige«, z. B. Larger Memoires de l'acad. des ins er. II (1816) p. 243 ff.,
Schäfer lU ß 103 ff. Blass S. 316 ff.; verteidigt wird die Rede nur von
Demosthenes. 199
Rede, aber ohne dass diese darauf Bezug nähme, da der
Fälscher den Brief in seinem Demosthenesexemplar offenbar
nicht hatte, bieten verschiedene Demostheneshandschriften den
angeblichen Brief des Philipp, welcher, wenn er auch gute
Kenntnis der Ereignisse, also wohl das Studium Theopomps
zeigt, in dieser Form doch nicht an die Athener abgegangen
sein kann ^) ; um von den Bedenken gegen den Inhalt zu
schweigen, ist es kaum wahrscheinlich, dass Philipp einem
Isokrateer die Abfassung dieses Ultimatums übertrug. Hingegen
könnte man daran denken, dass der Isokrateer Theopomp den
Brief mitgeteilt habe, wenn nicht ein Paar historische Versehen ^
diese Annahme bedenklich machten.
Die Unechtheit der Rede rspl oovTd^swf; (XIIl.) wird,
seitdem F. A. Wolf sie kurz konstatierte % von fast niemand
bestritten; Dionysios kannte sie ebenso wenig wie die Rede
gegen Philipps Brief ^). Es hegt auf der Hand, dass diese
Deklamation zu Gunsten der Aufhebung der Spielkasse, in der
man nicht bloss jegliche Spur einer bestimmten Zeit, sondern
sogar PhiHpps Namen vermisst ^), nicht von Demosthenes her-
Jiöhnecke Untersuchungen S. 462 ff. und Demosthenes, Lykurgos u. s. w.
S. 586 ff.; Winiewski comm. in erat, de corona p. 142. 191 und Weil
harangues p. 419 ff. halten das Proöraium für echt.
1) Verworfen von Taylor a. O., Benseier de hiatu p. 83 ff. und im
Programm p. 16 ff., Funkhänel quaestt. Demosth. p. 34 f., Schäfer III
B 11 Off, verteidigt von Böhnecke Untersuchungen S. 461 f. und Demosth.
S. 482f., Spengel 8Y]|JLYiYoptat 9, 313 f.. Weil a. O. p. 402 ff., W.Nitsche
König Philipps Brief an die Athener und Hieronymus von Kardia, Progr. des
Sophiengymn. Berlin 1876; Blass S. 348 ff. Dionysios kannte den Brief (ad
Amm. I 11 8ta zr^q snto'coX'fjt:), eben.so vielleicht die Quelle Diodors 18, 10,
1; wenn dieser den Passus aus Hieronymos von Kardia entnommen hätte,
wie Nitsche a. O. meint, wäre die Echtheit bekundet. Der Brief fehlt in den
Handschriften S und A.
2) § 9. 22.
3) Proleg. in Dem. Leptin. p. LXXIV, 51; Schäfer HIB 89 ff. Blass
S. 352 ff. Nur Böhnecke Forschungen I 230 f. macht eine Ausnahme, auch
O. Haupt demosthenische Studien I 28 ff. (vgl. über die Midiana, Posen 1857
S. 18 ff.) hält einen Teil für echt.
4) Erst Harpokration (an sechs Stellen) und Aristeides (rhet. 1, 3, 2 p.
362 W.), dann Libanios und den Byzantinern gilt sie als demosthenisch.
5) Die Scholien p, 217, 2 ff. D. setzen deshalb die Rede hinter die
Verteidigung der Rhodier (§ 8), aber vor alle philippischen Reden.
200 Siebentes Kapitel.
rühren kann. Der Verfasser ist auch in den Worten so
unselbständig, dass er mehrere demosthenische Stücke plündert^) ;
von athenischer Geschichte und Verfassung versteht er nichts,
weshalb man diese Rede und die gegen Philipps Brief nicht
demselben Autor zuteilen darf.
Von dem Verdammungsurteile nimmt man gewöhnlich
zwei Reden aus, indem man sie zwar Demosthenes selbst ab-
spricht, jedoch Zeitgenossen desselben imputiert. Von der Rede
über Halonnesos (VII.)^) glaubt man sogar einen bestimmten
Verfasser nennen zu können. Die Sache verhält sich folgender-
massen: 343/2 schickte PhiHpp eine Gesandtschaft, welche
unter anderem den Athenern die Abtretung der kleinen Insel
Halonnesos , welche sie beanspruchten , anbot ; Demosthenes
aber bewog die Athener, weil Philipp die Felsklippe ,, geben",
aber nicht „zurückgeben" wollte , das Anerbieten zurückzu-
weisen. Seine Gegner nützten diese Wortspalterei , welche
Demosthenes freilich nur vorbrachte, damit das athenische Volk
Philipp für nichts verpflichtet sei, weidlich aus *). Es Hegt nun
eine Rede über diese Angelegenheit vor, welche Dionysios, der
obendrein die bibhographischen Register des Kallimachos und
der Pergamener kannte, unbedenklich Demosthenes beilegte.
Aber dagegen sprechen viele Momente. Der Stil weicht voll-
kommen von dem demosthenischen ab und nähert sich mehr
dem Charakter des Lysias ^) ; man vermisst überall die sorgsame
Ausarbeitung. Den derben Schluss hätte Demosthenes nicht
zugelassen, am wenigsten hätte er, wie es der Redner thut, den
Brief des Königs Punkt für Punkt durchgenommen. Diese
Umstände bewogen spätere Rhetoren, die Rede dem Demo-
I
1) Schäfer a, O. S. 92 A. 2; Weil les harangues p. 437 and im
Kommentare. Günstiger beurteilt die Rede Spengel 8Y)|i7)Yopiat S. 307 flf.
2) Weidner Philol. 37, 246 flf. Blass attische Beredsamkeit III 2,
113 flf. Der Titel uitip 'AXovvfjoou fand Dionys schon bei Kallimachos (de vi
Dem. 13).
3) So Dionys. ad Ammae. I 10; Anfang 342 Schäfer II 404, 1.
4) Aeschin. 3, 83. Antiphanes bei Athen. 6, 223 e, vgl. Plut. 9.
6) Dionys. Dem. 9. 13. Auch der Hiatus ist vernachlässigt (Benseier
de hiatu p. 68 f.).
Demosthenes. 201
stheaes abzusprechen ^). Da man aber irgendwo ^) gefunden zu
haben scheint, dass Hegesippos den Kallippos einmal ange-
klagt habe, und darauf § 43 bezog, nannten einige^) den Ver-
fasser der Rede Hegesippos. Gegen diese Vermutung — denn
das Zeugnis des Kalliraachos und Dionysios zeigt das Fehlen
einer derartigen Tradition — spricht aber viel. Der Redner
tritt als Haupt der antimakedonischen Partei, mit einem Worte
als Demosthenes auf*), während Hegesippos^) nie besonders her-
vorragte ^). Es ist sodann wenig glaublieh , dass Hegesippos, ein
Demades ähnlicher Redner, von dem den Späteren nur geflügelte
Worte bekannt waren ^), eine Staatsrede herausgab, obendrein
in einer Angelegenheit, wo das Wort des Demosthenes das
Yo\k bestimmte. Der Verfasser dürfte daher ein Rhetor des
dritten Jahrhunderts sein, welcher bei Theopomp den Brief des
Philipp vorfand. Darum nimmt er nirgends auf mündliche
Aeusserungen der Gesandten Bezug '^).
Nicht besser kann ich die Rede ,,über die Verträge
mit Alexander" (XVH.)^) zu beurteilen. Wir haben nicht
die Rede eines Politikers, sondern eine aus historischen Studien
1) Libanios zur Rede; Schol. Dem. p. 254, 7. Harpokration bezeichnet
sie V. 'AXI^avopoi; und 'EXateta nur als unecht, v. '^li'f-i](siKT:o(: gibt er an,
fl;iss „einige" Hegesippos für den Verfasser hielten, ebenso Phot. biblioth.
'265 p. 491 a 2ff.
2) Etwa in Deinarchs Rede xaxa KaXXiTtxcoo (Sauppe orat. Att. II p.
338 b 35flf.).
3) Nach Vömel proleg. in or. de Halonn. p. 23 und Blass III 2, 113f.
wahrscheinlich Caecilius; alle Neueren teilen seit Vömel ostenditurHege-sippi
esse orationem de Halonneso, Frankfurt 1830 diese Vermutung, ausser
C. Matthiä Ztsch. für Alterthumswiss. 1834 S. 147 ff., der die Echtheit
verteidigt.
4) § 19. 25. 33.
5) Ueber ihn s. Demosth. 19, 331; Schäfer I 456, 2.
6) Sauppe orat. Att. II 258.
7) Die Stelle über Kassopia § 32 und das Epigramm § 40 schmecken
nach Büchergelehrsamkeit; die Behauptung (§ 12), Makedonien sei Athen
einst tributpflichtig gewesen, ist offenbar aus der Uebertreibung einer an sich
schon übertriebenen Stelle des Demosthenes (3, 24) entsprungen (auch die
Rede über Philipps Brief § 16 hat dieselbe Anschauung). Etwas manieriertes
hat der übertriebene Gebrauch der figura etymologica.
8) Ilepl xä)V npöc -'AXe^avSpov covö'fjxcüv.
202 Siebentes Kapitel.
gezogene Deklamation vor uns. Der Redner ruft zum Kämpft
gegen iVlexander von Makedonien auf und wie motiviert er'
dies? Durch die Aussicht, Bundesgenossen zu bekommen?
Theben existiert für ihn nicht, ebenso wenig aber, wenn die
Rede in das Jahr 330 zu verlegen sein sollte ^), der Spartaner-
könig Agis. Es herrscht ebenso Stillschweigen darüber, ob
Alexander zam Perserkriege rüstet oder ferne von Griechenland
steht. Der Redner hat, ohne ein bestimmtes Jahr der Regierung
Alexanders ins Auge zu fassen, aus einem Historiker einige
Funkte excerpiert, über welche sich die Athener oder auch
andere Griechen im Stillen hätten beschweren können; dabei
schwebte anscheinend die Rede über den Halonnes als Vorbild
vor ^), mit der die vorliegende auch die schulgerechten £;rty£'.p7j[iata
gemeinsam hat. Die Unechtheit haben bereits die Alten er-
kannt^).
Mit der politischen Beredsamkeit des Demosthenes hängen
die grossen Reden welche er für bedeutende öffentliche Prozesse
schrieb, innig zusammen ; denn hier bildete er sich zum Volks-
redner heran. Es ist gewiss kein Zufall, dass er gerade in dem
Jahre (355), bevor er seine erste politische Rede veröifentlichte,
in zwei bedeutsamen Prozessen thätig war. Mit der ersten Rede
gegen Androtion (XXII.) '^) stellte er seine Feder in den
1) So nach A. Schäfer III 191 f.; zwischen 333 und 330 Droysen
Alexander I '^ 242, 2. II 277, 1; 332 nach Kornitzer Ztsch. f. österr. Gymn.
83, 251 (weil Tenedos makedonisch ist), Oktober 333 nach G. Leue Philol.
43, 608 A. 3; 335 nach den Scholiasteu, Reiske, Böh necke Forschungen I
628 f., Grote history of Greece XII 21, 1, Spengel 8f]fjL-f)Yopiai S. 110 f.,
Weil harangues p. 464 f., Blass III 2, 122 f.; 334 A. G. Becker Demo-
sthenes S. 264.
2) Ausser der Disposition vgl, noch Blass III 2, 123 f. Einige Alten
dachten deshalb an llegesippos (Schol. Dem. p. 254 D.), wie auch A. Kor-
nitzer Ztsch. f. österr. Gymn. 33, 249 ff.
3) Dionys. Dem. 57. Harpocr. v. TrpoßoXdi;. Liban. arg. (nach ihm ist
die Rede mehr im Stil des Hypereides) Schol. a. O.; dass die Rede ein jüngeres
Ehiborat sei, nimmt auch Job. "NV indel de oratione quae est inter Dcmosthe-
nicaH XVII. et inscribitur itepl t<»v Kpot; 'AXe^avSpov ouvO-fjxdiv, Leipzig 1881. 4.
Dagegen halten sie Schäfer III 186 ft. und Blass III 2, 121 ft'. für eine
wirklich gehaltene Rede; Dobree advei-saria I 366 glaubte, sie sei ein Excerpt.
4) Diouys. ad Ammae. I 4, Schäfer I 316 ff. Blass 226 ff.
Demosthenes. 203
Dienst eines persönlichen Feindes des Angeklagten, welcher
von Eaktemon und Diodoros wegen eines gesetzwidrigen An-
trages belangt warde; es handelte sich jedoch keineswegs um
ein Gesetz von grosser Tragweite, sondern Androtion hatte bloss
den abtretenden Ratsherrn die übliche Anerkennung beantragt.
Dagegen ♦behauptete Diodoros, welcher die von Demosthenes
verfasste Rede an zweiter Stelle (nach Euktemon) hielt, der Rat
habe nicht für die gesetzlich geforderte Vermehrung der Flotte
;Tesorgt, und stritt Androtion wogen der Immorahtät seines Vor-
lebens überhaupt die Berechtigung, Anträge zu stellen, ab.
Die geringe Bedeutung der Frage und die unverholden einge-
standene Rachsucht des Anklägers beeinträchtigen die Wirkung
der gewaltigen Rhetorik, die Demosthenes hier zum ersten
Male entfaltet. Weil er mit dem Isokrateer Androtion zu
kämpfen hat, bedient er sich der sorgsamen Disposition, die
man bei Isokrates lernte, und bringt sogar in der Einleitung
manche ihm sonst ungewohnte Gleichklänge an ^).
Wiewohl dieser Prozess nicht glücklich verlief, schrieb man
die Schuld dieses Ausganges offenbar nicht Demosthenes zu;
schon im nämlichen Jahre '^) wurde er mit einer bedeutenderen
Sache betraut, bei welcher er als Fürsprecher des Ktesippos,
der den berühmten Chabrias zum Vater hatte, persönlich das
Wort führte. Leptines^) hatte nämlich beantragt, alle ße-
IVeiungen von Leiturgien (atlXstai)*) aufzuheben; das Gesetz
wurde zunächst von Apsephion , welcher gleichzeitig einen
( fegenvorschlag einbrachte , bekämpft. Nachdem für diesen
1) Walz rhet. Gr. 5, 613 (Max. Planud.). 6, 329. 7, 1038.
2) Es ist offenbar schon Frieden, aber Chabrias' Tod noch nicht lange
vergangen (§ 80 ff. vgl. Schäfer I 375 ff.). Dionysios' Ansatz ist also richtig
(ad Ammae. I 4).
3) Schäfer I 353 ff. Blass 231ff., speziell Schömann opuscula
academica I 237 ff. H. Weil Annnaire pour l'encour. des etudes grecques 1882
p. 150 ff. ; W. Nitsche de traiciendis partibus in Demosthenis orationibus,
Berlin 1863 p. 92—95 will § 8—10 hinter § 17 stellen.
4) Daher heisst die Rede (XX.) bei Dionys. ad Ammae. I 4, Plnt. Dem.
13. 16, Athen. 4, 166 b, Harpocr. (dreimal), Phot. bibl. 266 p. 492 a 28 i^spl
Tüiv äteXs'.üJv; auch Aelius Aristeides setzt mp\ (äsTeXstac zum Titel seiner
Gegenrede. Der volle Titel lautet in den Handschriften nzfi xf^z ateXetac
ivpö? Asntivrjv ; xata Asrctivou irepl ttjc atiXsia? Dionys. Dem. 45.
204 Siebentes Kapitel.
Phormiou gesprochen hatte, trat Deinosthenes im Namen des]
Ktesippos auf ^). Der junge Redner verzichtete diesmal auf
Pathos und Fülle des Ausdrucks und schloss sich mehr dei
Richtung des Lysias an ^). Demosthenes sprach ja zugleicl
persönlich und in einer fremden Sache ; jenes gebot ihm Voi
sieht, dieses hielt von heftiger Erregung ab, ausserdem war der'
Augeklagte ein unbescholtener Mann mit den besten Absichten,
dem die angesehensten Staatsmänner zur Seite standen, und
der Antrag dem Volke erwünscht, weil er die Steuerpflichtigen
erleichterte. Demosthenes durfte mithin den Antragsteller nicht
so derb wie einen Androtion angreifen •'^), sondern wenigstens
die anständige Form wahren. Um bei seinem ersten politischen
Debüt einen günstigen Eindruck zu erwecken , zeigte sich
Demosthenes, wie die Griechen von einem jüngeren Manne
wünschten, massvoll und trug in reichhchen Sentenzen die
edelsten Gesinnungen zur Schau, während er dem gehässigen
Verdacht sykophantischer Fertigkeit auswich. Der Redner ver-
sagte sich daher eine kunstvolle Anlage der Punkte und reihte
sie mit absichtlicher Nachlässigkeit an einander. Aus dem-
selben Grunde fehlt der rhetorische Schmuck, während Wieder-
holungen nicht selten sind. Schon die blosse Anrede, welche
an der Spitze steht, soll den Schein der Kunstlosigkeit hervor-
bringen; denn Demosthenes beginnt sonst nie sofort mit der
Anrede, sondern schiebt sie kunstvoll ein.
Obgleich die Klage allem Anschein nach abgewiesen
wurde*), war der Prozess für Demosthenes' Carriere förderlich^),
1) Der Klatsch sagte (Schol. Dem, p. 477, 12): t^ P-"')^?^ T^ ahzoö, vaq
yaot, oovfjv; angeblich heiratete er sie (Aristid. pro Leptiue 2 p. 611. Suidas
III.) oder er bewarb sich wenigstens um ihre Hand (Plut. 15).
2) Cicero orator 111 rechnet die Rede zu den ,,orationes subtiles";
nach Dionys. ad Ammae. I 4 ist sie yaptEOTaxoc tÄv Xo^cuv xal •^pa.tfi.v.vDZo.zoq.
Die Rede bereitete den klassificierendeu Rhetoren Schwierigkeiten (Phot. bibl.
266 p. 492 a 27 flf.). Die Authenticität der Rede wird übrigens gegen eine
etwaige Hyperkritik durch Dinarch. 1, 111 gestützt.
8) Maxim. Planud. (aus Dionys?) in Herinog. V 617, 23 ff.
4) Blass 8. 239. Dion Chrysostomos (31, 128) nimmt aus Bewunderung
für Demosthenes das Gegenteil an.
5) Die Rede wird mit den gegen Aischines gerichteten von Hermogenes
p. 400, 24 f. Sp. besonders hervorgehoben.
Demosthenes. 205
SO dass er schon im nächsten Jahre eine politische Rede zu ver-
öffentlichen wagte. Diodoros vertraute ihm im Jahre 353 aber-
mals die Bearbeitung einer Parauomenklage an, in welcher er dies-
mal zuerst zu sprechen gedachte ^) ; wiederum galt sie Androtion,
dem zu Liebe Tim ok rate s die Prolongierung der den Staats-
schuldnern gesetzten Termine beantragt hatte. Als jedoch
Androtion, um den Angriff zu parieren, seine Schuld zahlte,
Hessen Diodoros und Euktemon, wie es scheint, die Klage
fallen. Demosthenes hatte, als die Partei jenen geschickten
Gegenzug machte, die Anklagerede bereits entworfen, worauf
er die Rede der neuen Sachlage anzupassen begann. Da aber
die Kläger zurücktraten, vollendete er diese Arbeit nicht, so dass
von dem zweiten Teile der Anklage (§ 110 — 187) bloss der
Entwurf erhalten ist^).' In den ausgearbeiteten Abschnitten
zeigt sich Demosthenes in seiner wahren Gestalt, ähnhch wie
in der Rede gegen Androtion, doch hat er die isokrateische
Sorgfalt der letzteren natürlich aufgegeben.
Weil Demosthenes in jener Zeit, so viel wir wissen, der
einzig gewandte Redner war, welcher mit der Gewandtheit |des
Advokaten politischen Scharfblick verband, erhielt er schon
im nächsten Jahre wieder einen wichtigen Fall, welcher auf
die auswärtige Politik des athenischen Staates Bezug hatte.
Als der mit Olynth im Jahre 352 geschlossene Friede ^), dessen
die Rede (§ 109) gedenkt, die Aufmerksamkeit der sanguinischen
Bürgerschaft wieder auf die tlirakischen Küsten zu lenken be-
gonnen hatte, glaubte man, Charidemos, den Condottiere des
thrakischen Häuptlings Kersobleptes , durch ungewöhnliche
Privilegien an Athens Interesse ketten zu müssen. Nach dem
Antrage des Aristokrates sollte sein Leben unter den Schutz
1) Ueber die XXIV. Rede Schäfer I 328 ff. Blass S. 244 ff. Zur
Sache Car. L. Blume prolegomena ad Demosthenis orationem Timocrateam
tria capita priora, Berlin 1823.
2) Benseier de hiatu p. 123 ff. und im Programm p. 21 ff., Schäfer
m B 63 ff. Blass a.O., bestritten von L. Spengel Ehilol. 17, 613. Nitsche
de traiciendis partibus in Demosthenis orationibus, Berlin 1863 thesis 5 hält
§ 157 — 187, wo Androt. 47 — 78 benützt ist, für unecht.
3) Dieses Jahr nennt Dionys. ad Ammae. I 4. Nach Kumpf de
Charidemo Orita p. 22 ff', fällt die Rede vor Ol. 106, 4 wahrscheinlich Ol. 106, 4,
206 Siebentes Kapitel.
des athenischen Staates gestellt und etwaige Mörder mit der
Aechtung bedroht werden.
Ehe noch dieser Antrag an das Volk ging, erhob ein
Bürger *) Einsprache und Hess diese Protestrede von Denio-
sthenes ausarbeiten. Die Rede gegen Aristokrates
(XXIII.) '^) zeigt die Kunst des Demosthenes auf ihrer vollen
Höhe; trotz des bedeutenden Umfanges weiss er die Einheit
durch symmetrische Wiederholungen und Wechselbeziehungen
fortwährend festzuhalten. Da der Ankläger nicht, wie Diodoros
zum Prozesse durch Rachsucht getrieben wurde , fehlen die
herben persönlichen Angriffe ; nur gelegentlich (§ 146 f.) zieht
er gegen die feilen Politiker im allgemeinen los. Wie jenes
einen erfreulichen Eindruck macht, so muss jeden der Abschnitt,
welcher nach dem übhchen Schema die Nützlichkeit des An-
trages leugnet, in hohem Grade anziehen; handelt es sich doch
diethrakischen Angelegenheiten, welche später den Mittelpunkt
der demosthenischen PoHtik abgaben. Hier ist nun die merk-
würdige Beobachtung zu machen, dass Demosthenes, wenn
anders er nach seiner Ueberzeugung sprach, gleich den
übrigen Athenern die von Philipp drohende Gefahr noch nicht
vollständig erkannt hatte; man hoffte damals im Gegenteil
(§ 13 f.) durch Kersobleptes Amphipohs zu gewinnen. Einige
Monate später war Kersobleptes ein Vasall Philipps und dann
erst folgte die erste Philippica.
Seit Demosthenes in der Ekklesia eine angesehene Stellung
errungen hatte, befasste er sich mit derartigen Prozessen nicht
mehr. Die drei späteren öffentlichen Reden, die von ihm vor-
handen sind, wurden in eigenen Angelegenheiten geschrieben ^).
Die früheste derselben , gegen Meidias (xata MetSioo xspl
toö xovSöXot) XXI.) ■*) liegt uns unvollendet vor. Der reiche
1) Euthykles nach Dionys. Amm. 1, 4 und Argnm. or, 2.
2) Schäfer I 379 fl". Bluss 254 flf. Walter Herz de Demosthenis
Aristocrateae prima parte, Halle 1878.
3) Anton Westermann de litibus qiia.s Demosthenes oravit ipse,
Leipzig 1834.
4) Bückh die Zeitverhältnisse der demosthenischen Rede gegen Midias,
Abhandlungen der Berliner Akademie 1820 S. 69 fl'. = Ges. kleine Schritten
ß, 163 ff. Schäfer H 102 ff. HI B 58 ff. El ans 287 ff.
Demostbenes. 207
angesehene Meidias war mit Demosthenes verfeindet und ging
so weit, ihn, als er Choreg war, zu ohrfeigen ^) ; es geschah dies
bald nach dem euböischeu Feldzuge Ol. 107, 4 (348). Demo-
sthenes erwirkte sofort beim Volke ein Vorurteil (TcpoßoXTj), aber
erst 346^) sollte, wie die vorhandene Rede zeigt, die eigentliche
V^erhandlung stattfinden — da Hess er sich von Meidias mit
einem Schmerzensgelde beschwichtigen ^) , ein Verfahren , das
zwar in Athen nicht selten war, aber gerade auf Demosthenes
ein seltsames Licht wirft, weil er in dem Entwürfe der Anklage
gegen eine solche Zumutung pathetisch protestiert. An der
erhaltenen Rede, welche Demosthenes nach dem eben Gesagten
nicht selbst herausgab, treten zahlreiche Spuren der Unfertigkeit
hervor"*), Wiederholungen, Lücken (z. B. nach § 21 oder 22) und
mangelhafte Anordnung-''). Hätte sie aber der Redner ausge-
arbeitet, dann wäre sie vielleicht das gewaltigste Denkmal seiner
Beredsamkeit geworden; doch auch so ist besonders die Schil-
derung von Meidias' Uebermut mit wuchtiger Kraft geschrieben.
1) Eine ähnliche Geschichte erzählt Diogenes 6, 42 von Meidias.
2) § 13 TpiTov EToc toüxt, was der Scholiast und wohl auch Dionysios,
der diese Worte nicht in Anschlag bringt, falsch verstehen; Dionysios ad
Ammae. I 4 setzt daher die ßede schon Ol. 107, 4. Demosthenes nennt sich
§ 154 32 Jahre alt (86o v.a.\ xpiäxovxa stf] '(z-(ov6xa., was schon Plutarch c. 12
las); dies ist notwendig falsch. Vgl. ausser Schäfer, dessen Ansatz Droysen
Hermes 14, 10 verteidigt, Hartel Commentatt. in hon. Tb. Momms. p. 533.
Die Klage ist auf Grund der tz^o'^oK-'i] gestellt, während Meidias behauptet,
Demostbenes hätte ußpeiui; klagen sollen (§ 25), s. B 1 a s s S. 290, 2 und
Lipsius der attische Process S. 339.
3) S. S. 196.
4) Vgl. Phot. bibl. cod. 265 p. 491 a 40 ff.
5) Mit der Annahme von Böckb, Schäfer und Blass, da-ss Demostbenes
die Rede unvollendet liess, gibt sich L. Spengel Pbilol. 17, 606 ff. nicht
zufrieden. O. Haupt über die Midiana des Demosthenes, Posen 1857 und
Ztsch. f. Alterthumswiss. 1867 Sp. 661 ff., gemäss dessen Ansicht die Rede
nach Meidias' Tode erschien, fand Interpolationen und W. Nitsche de
traiciendis partibus in Demosthenis orationibus, Berlin 1863 p. 67 — 92 ver-
Kuchte durch Umstellungen Ordnung zu schaffen. Nach Wachendorf de
Demosthenis Midiana, Neuss 1879 ist die Rede aus zweien kompiliert. Van
den E s comm. de Demosthenis Midiana, Utrecht 1874 macht einen späteren
Ordner für die Unordnung verantwortlich. Petrus Bastgen de Demosthenis
Midiana, Münster 1884 koustruirt eine Disposition, zu welcher Demosthenes
vielleicht gelangt wäre, wenn er die letzte Hand an das Werk gelegt hätte.
208 Siebentes Kapitel.
Gemäss der Bedeutung der Sache — Demosthenes betont die
geheiligte Rolle eines Choregen — wählt er einen würdevollen
Stil, der in mächtigen Perioden dahinrauscht und von allem
möglichen rhetorischen Schmucke schillert und glänzt; wie ein
alter Rhetor bemerkt, wirkt ja die Verbindung von mehreren
Figuren pathetisch.
Es folgten nun die zwei um die ganze Politik des Demo-
sthenes sich bewegenden Prozesse, welche wir oben im Leben
des Demosthenes berührt haben. Im Jahre 344 ist die Rede
über die Truggesandtschaft (xat' Aloxtvoo TrapaTrpso-
ßsiai: XIX.) ^) geschrieben ; ich gebrauche dieses Wort mit
Dionysios, weil die Alten glaubten, die Rede sei nie gehalten
worden. Zu dieser Annahme bewog sie teils der offenbar un-
fertige Zustand der Rede teils das Schweigen, welches beide
Gegner beim Kranzprozesse über diesen ersten Kampf beob-
achteten ^). Freilich berichtete Idomeneus bestimmt, Aischines
sei bloss mit dreissig Stimmen freigesprochen worden , aber
sein Zeugnis galt nicht viel ^). Wenn auch in der That die
Anspielungen , welche bei dem zweiten Prozesse fielen ^), so
schwach sind, dass sie nichts beweisen, thut doch die Rede des
Aischines, welche nicht auf die erhaltene Form der Anklage
erwidert, dagegen auf das Benehmen der Richter Bezug ninmit,
unwiderleglich dar, dass der Prozess wirklich stattfand ^). Jene
zeigt nämlich ^), dass Demosthenes vor Gericht nicht so sprach,
1) flepl ^oo<: c. 20.
2) So Plut. Schol. Thucyd, 6, 91 wie Cic. orat. IJl contra Aescliinem
falsae legationis ; abgekürzt nspl ttjc irapartpeoßeiac Handschr., Harpocr. meistens
xat' Ala)(^ivoü (so oder Aloyivoo xaxYjYopia Dionys.), daneben erst ev tu) Ttapa-
npeaßetac, dann von v. SiexwScövioe an sv tcb icepl tyj«; Ttpeoßeiac (xaxa xyjc
itpeoßetac Philostrat. vit. soph. 1, 7); xax' AI. Max. Plan. Walz V 616. 580.
681. 682. 686.
3) Dionys. *ad Ammae. 1, 10 (aüvetd^ato vgl. Weil les plaidoyers polit.
p. 234 A. 2). Plut. 16. Phot. bibl. 491 a 40 flf. b 22 ö". Ps. Plut. 840 c (slol
8' oT ^aot) Argum. Aesch. or. 2 (evioi). '
4) Plut. a. O. (Ps. Plut. Aeschin. 840 c. Argum. a. O.).
5) Aeschin. 3, 64. 79 fl. Dem. 18, 142.
6) Fr. Franke prolegg. in Dem. orat. de falsa leg., Meissen 1846
S. 1 ff.; Mich. Schmidt quaestt. de Dem. et Aeschin. orat. de falsa leg.
Bonn 1861 S. 1 ff., Schäfer III B 68 ff. Blass S. 308 ff.
7) Aeschin. §. 6 10. 124. (160 f.) 166 f.
I
Demosthenes. 209
wie die Rede vorliegt; die schriftliche Fassung war vielmehr
kürzer. Wir können aber nicht annehmen, dass Demosthenes
bei der Herausgabe etwas weggelassen habe, weil die Anklage
augenscheinlich geraume Zeit vor dem Tage der Entscheidung
entworfen wurde. Philokrates war damals zwar bereits ange-
klagt, aber noch nicht verurteilt^). Auch diese Rede gab also
Demosthenes nicht selbst heraus und so ist das erhaltene nicht
das endgiltige Koncept der Rede, welche er wirklich vortrug.
Während die eigentliche Anklage (§ 1 — 200) sorgfältig ausge-
arbeitet ist, hat Demosthenes im zweiten Teile vielleicht manches
geändert. Freilich verhinderte ihn hier der Stoff, eine strenge
Disposition durchzuführen. Nachdem er nämlich die ihm
[fassenden Einwände des Gegners im ersten Teile schon abge-
fertigt und sogar geschickt zu seinen Gunsten gedreht hatte,
stand er nun vor der Notwendigkeit, die gewichtigen Bedenken,
welche jeder Unbefangene hegen musste, zu entkräften. Nach
seiner Gewohnheit half er sich aus der Verlegenheit, indem er
die Punkte nach seinem Beheben gruppierte und sie init
sentimentalen und leidenschaftlichen Reflexionen verflocht^).
Weil das Hauptgewicht auf der tendenziösen Erzählung der
Vorgänge ruht, erreicht die Rede an Pathos die Midiäna nicht,
sondern gehört der gemischten Stilgattung an ; sie genoss eines
bedeutenden Rufes ^).
1) Weil liest § 119 mit T6ji.oXoYec.
2) Seit Taylor nehmen die meisten an, dass Demosthenes die Rede
nicht vollendet habe; Interpolationen glauben O. Haupt Jahrbb. f. Phil.
83, 600 flf. und Fr. Franke prolegomena in Demosthenis orationem de fiüsa
legatione, Meissen 1846 zu finden, Umstellungen versuchen Dahms Jahrbb.
f. Phil. 91, 129 fi". und Kömheld Jahrbb. f. PhU. 107, 729 flf. Beide Mittel
verwenden L. Spengel Rhein. Mus. 16, 552 ff., Vömel, W. Nitsche de
traiciendis partibus in Demosthenis oratt. Berlin 1863 p. 1 — 66; Rud. Busse
de duplici recensione orationis Demosthenicae quae est de falsa legatione
Berlin 1880 nimmt die Kompilation von zwei Entwürfen an, zu deren zweitem
§ 1. 134—49. 182—91. 332—40 gehören soll. Für die überlieferte Ordnung
sprechen Schäfer III B 66ff., Blass S. 318f., Paul Sander zur XIX.
Rede des Demosthenes, Stralsund 1884, C. Kromayer de dispositione qua
Demosthenes in oratione Tiepl napaiipeoßeiat: usus sit, Stralsund 1863. § 201
hat S eine Notiz des Korrektors am Rande, dass dort in der verglichenen
Handschrift etwas fehlte.
3) Cicero orator 31, 111. Philostr. vit. soph. 1, 7,
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur, n. 14
210 Siebentes Kapitel.
Die letzte wirklich demosthenische Rede, die wir überhaupt
besitzen, ist zugleich sein berühmtestes Werk, weil er darin
seine ganze Beredsamkeit auf die imposante Schilderung seiner
politischen Thätigkeit koncentriert. Es handelte sich ja nicht
um einen einfachen Kranz, sondern um die führende Stellung
des Demosthenes; denn Aischines benützte den Antrag des
Ktesiphon, um ein Misstrauensvotum gegen den mächtigen
Staatsmann zu erwirken. Die sachliche Bedeutung der Kranz-
rede (XVIII.) ^) liegt in dem poHtischen Teile, weil die juri-
stische Verteidigung so schwach ist, dass ihr Demosthenes eine
geschützte Stellung in der Mitte angewiesen hat^). Vielleicht
fiel dieser Teil bei der wirklichen Verhandlung Ktesiphon zu %
was Demosthenes um der künstlerischen Einheit willen bei der
Herausgabe ignorierte. Es ist Demosthenes in der That ge-
lungen, ein glänzendes, doch freilich sehr idealisiertes Bild seiner
Politik zu entwerfen ; aber einen unerfreulichen Eindruck machen
die gehässigen Schmähungen gegen Aischines, dessen Eltern
der Redner so misshandelte, dass der Obelos der Grammatiker
eingreifen musste*). Diese Polemik erscheint noch unschöner,
wenn man denkt, dass Demosthenes solches wagte, weil er das
letzte Wort hatte und dem Gegner die Widerlegung nicht
möglich war. Wie es ohnehin selbstverständlich ist, berück-
sichtigte Demosthenes die vor Gericht gehaltene Anklagerede
des Aischines, bevor er seine Verteidigung herausgab^). Den
1) Der alte Titel, den Harpokration mit anderen ausschliesslich hat,
ist bnip Kx7)0t(pü)VT0<; ; weniger häufig ist nepl (6ir^p) toü ctstpdtvou, das auch
in S steht. Die meisten Handschriften enthalten beides zusammen.
2) Das bemerkten die Alten wohl (Spengel rhet. I 462, 11. Walz rhet.
VI 36. Argum. or. I. II. und Schollen zu § 110. 113. 126. Quintilian. 7, 1,2).
Strenge Kritik übt L. Spengel Demosthenes' Verteidigung des Ktesiphon,
Abhandl. der bayer. Akad. X 27 flF.
3) Die Widerlegung eines juristischen Einwandes Aeschin. 3, 13 flf. hat
bei Demosthenes kein Gegenstück; vgl. auch § 16.
4) Hermog. n. 18. 2, 3 p. 353.
6) Schäfer IH B 72 ff. Kirchhoff Abhandlungen der Berliner Akad.
1876 S. 69 flf. (vgl. R. Nadrowski de genuina Demosthenis pro corona
orationis forma, Thorn 1880) denkt die Rede aus zwei Entwürfen kompiliert,
was schon Taylor in seinen Noten p. 78 ff. ed. Harles und G. Fr. Seiler
Demosthenes für die Krone, Coburg 1768 S. 161 annahmen; die Hyjwthese
I
Demosthenes. 211
Scharfsinn und die Beweglichkeit des nie verlegenen Redners
rauss jeder bewundern, auch wer ihm nicht Glauben schenkt;
weiss er doch sogar das Selbstlob, welches die Sache notwendig
macht, so zu wenden, dass sich das Volk dabei geschmeichelt
fühlte. Die Rede ist trotz ihres grossen Umfanges lichtvoll und
symmetrisch angelegt, die Gedanken, wenn sie wiederkehren,
immer neu gewendet und der Redner hält durch den häufigen
Wechsel des Tones die Ermüdung fern. Das Ganze aber
wird durch das stolze Gefühl, das Beste des Vaterlandes gewollt
7A1 haben und nur der Gewalt unterlegen zu sein, verklärt; die
Alten haben deshalb dieses Werk mit Recht für das gewaltigste
des| Demosthenes erachtet '') und der Anklage des Aischines
weitaus vorgezogen ^). Eine bekannte Anekdote entspricht diesem
Verhältnisse: Aischines las den Rhodiern jene vor und sagte, als
sie ihn bewunderten : „Wenn ihr erst Demosthenes gehört
hättet 1" %
Von diesem Kunstwerke müssen wir zu Parasiten herab-
steigen, welche auch von dieser Klasse der demosthenischen
Reden nicht ganz fern blieben. Dass Lykurgos den Demagogen
Aristogeiton belangte, steht durch die erhaltenen Fragmente
der Rede fest; nun finden sich unter den öffentlichen Reden
des Demosthenes zwei gegen Aristogeiton (XXV. XXVI.),
welche beide Deuterologien zu der Anklage sein wollen. Die
erste Rede deutet zwar durch nichts an, dass sie von Demo-
sthenes sei, im Gegenteil spricht der ganze Stil und ein eigen-
tümlicher theologischer Beigeschmack, gegen die gewöhnliche
Ueberlieferung ^), andererseits ist sie schwerlich gefälscht, weil
ist -widerlegt durch Blass S. 375 f. und H. Weil Annuaire pour l'encour.
des etudes gr. 10, 170 flf.
1) Dionys. compos. 25. Cic. orator 8, 26. 28, 133. Die Rhetorik der
Kranzrede ist vortrefflich gewürdigt von W. Fox die Kranzrede des Demo-
sthenes, Leipzig 1880.
2) Ps. Plut. Aeschin. 840 d. Philostr. vit. soph. 1, 18, 4. Schol. Aeschin.
2, 1, verallgemeinert Phot. bibl. 61 p. 20 a 26 flf.; Cicero de or. 3, 56, 213
fügte de suo bei, er habe ihnen auch die demosthenische Eede vorgetragen
und mehrere Römer schrieben ihm dies nach.
3) Unter den Alten verwarfen sie einige (Schol. Hermog. VIT 1045, 29),
darunter Dionysios (c. 57), bekämpft bei Photios bibl. 265 p. 491 a 29 ff. Man
erklärte die Abweichungen des Stiles dadurch, dass Demosthenes seinen Vor-
gänger Lykurgos nachgeahmt haben soll (Schol. Hermog. Walz VIl 1044, 16).
14*
212 Siebentes Kapitel,
wir keineswegs eine inhaltsleere Deklamation, sondern bestimmte
individuelle Angaben lesen*); dass deren nicht mehr sind,
bringt der Charakter der Deuterologien mit sich. Wie Deinarchos
und wohl die meisten Redner der Zeit Alexanders, in welche
die Rede fällt ^, schhesst sich der Verfasser an Demosthenes an,
von dem er ausser manchen Stellen das Prinzip des Rhythmus
und der Hiatusbehandlung entlehnt^). Jenen Epigonen weist
ihn auch das Poetische und Manierierte seiner Spräche zu*).
Dieser Rede läuft eine zweite parallel, welche alle Kritiker
des Altertums verwarfen ; denn sie ist nichts weiter als eine
denselben Gegenstand behandelnde Deklamation , die weder
nach Inhalt noch nach Form Wert hat. Da der Stil des
Demosthenes nicht nachgeahmt ist, hat der Verfasser an eine
Fälschung nicht gedacht^).
Neben jenen grossen prunkvollen Reden stehen die unschein-
baren Arbeiten, durch welche Demosthenes seinen Ruf zuerst
gründete und sein Talent ausbildete ; ich meine die Privat-
r e d e n **).
Es werden Dike, Orpheus u. dgl. erwähnt (§ 10 f. 35. 37. 52 f. 77—79). Vgl.
Westermann quaest. Demosthen. III 94 ff. u. de litibus qua.s Demosthenes
oravit ipse p. 61 ff., Schäfer III B 113 ff., Blass S. 360ff., Reinh. Braun
de duabus adversus Aristogitonem orationibus quas Demosthenes scripsisse
fertur, Greifswald 1873. Gegen H. Weil Revue de philol, n. s. 6, 1 ff. s, J. Herrn.
Lipsius Leipziger Studien 6, 317 ff. Hugo Stier de scriptore prioris adversus
Aristogitonem oratiouis quae Demosthenis esse fertur, Halle 1884.
1) Möglich wäre es freilich, dass ein Fälscher die lykurgische Rede
benützte.
2) Dinarch. 2, 13.
3) Schäfer S. 122, 2. Blass S. 362, 6.
4) Der Umstand, dass der Eingang dem der Rede für Exixenippos gleicht,
beweist nicht die Autorschaft des Hypereides, an den Reiske und Co bat
miscell. crit. 1876 p. 669 ff. dachten.
6) Eine vermeintliche dritte Deklamation entfernt U. v, Wilamowitz
Index sohol. Gryphisw. hib. 1879 p. 10.
6) Albert Desj ardin 8 les phiidoyers de Demosthene, Paris 1862; Victor
Cucheval 6tude sur les tribunaux atheniens et les plaidoyers civils de
Demosthene, Paris 1803; Les plaidoyers civils traduits en fran9ais avec arguments
et notcs, par Rod. Dareste, Paris 1876 2 Bde.; R. Duncker inter privatarum
causarum orationes Demosthenicas quae pro genuinls habendae sint quaeque
pro falsis I. Berlin 1877 (Pr. v. Greiffenberg) ; Imm. Herrmann einleitende
Bemerkungen zu Demosthenes' paragraphischen Reden, Erfurt 1863.
Demosthenes. 213
Wir haben gesehen, dass Demosthenes gegen seine Vor-
münder gerichtheh einschreiten musste ; derartige Fälle dürften
in Athen sehr oft vorgekommen sein, ohne dass sich der Kläger
bemüssigt fülilte, die gehaltene Rede herauszugeben. Da jedoch
Demosthenes, wie es scheint, von Anfang an über sein Ziel
und die dahin führenden Wege im' klaren war, können wir
seine rednerische Laufbahn von Anfang an verfolgen. Es sind
im ganzen fünf Vorm undschafts reden (XXVII. — XXX I)
überliefert, von denen die beiden ersten die Schuld des Vor-
munds Aphobos nachweisen; die dritte verteidigt gegen ihn die
Glaubwürdigkeit des Zeugen Phanos und die beiden übrigen
sind gegen Onetor gerichtet, welchen Demosthenes beschuldigt,
er habe sich ein Gut des Aphobos zum Schein abtreten lassen,
um den Kläger zu schädigen. Da die Reden einen hohen
Grad von Fertigkeit aufweisen, hielten es viele der Alten für
unmöglich, dass ein neunzehnjähriger Jüngling die Reden selb-
ständig verfasst habe; nach den einen rührten sie gänzHch
von Isaios her^), nach den anderen unterzog sie dieser wenig-
stens einer Ueberarbeitung ^).
Die zwei Reden gegen Aphobos fallen Ol. 104, 1 (364/3)^)
Sie zeigen noch den Anfänger, freilich einen Demosthenes als
Anfänger; er bekundet bereits eine seltene Begabung für
gerichtliche Dialektik^) und eine grosse Belesenheit in den Ge-
meinplätzen der Gerichtsreden. Letztere drängen sich vielleicht
etwas zu stark vor und beeinträchtigen die Freiheit der Be-
wegung. Der Stil im allgemeinen hat etwas gebundenes, wie
1) T'.vec bei Ps. Plut. Isae. 839 f. Libaa. Z. 48 ff, Argum. or. II inOnet.
Zosim. Z. 43.
2) Liban. a. O.
3) Die Flottenrüstung, bei welcher Demosthenes zur Uebernahme einer
Trierarchie genötigt wurde (Ditte nberger über den Vermögenstausch und
die Trierarchie des Demosthenes, Rudolstadt 1872), fand wohl wegen des
Auslaufens einer thebanischen Flotte (364) statt.
4) Ueber den heikein Punkt, dass er trotz seiner angeblichen Mittel-
losigkeit die Trierarchie . bestreiten konnte, gleitet er geschickt hinüber; der
Kedner übersieht ferner nicht, bei den Eechnungen zehn volle Jahre in An-
schlag zu bringen. Ueber die Eechnung Vömel Rhein. Mus. 3, 434 ff.
Bürmann Jahrbb. f. Phil. 111, 801 ff. Zu beiden Reden Rieh. Förster
Jahrbb. f. Phil. 109, 345 ff. 706; auch A. Westermann quaestt. Demosth,3, 5ff,
214 Siebentes Kapitel.
der einzolne Ausdruck; dieser ist jedoch treffend und verrät
bereits Vorliebe für Kraftausdrücke. Aber Volkstümliches fehlt
fast ganz ^), ebenso Beschwörungen der Götter.
Aphobos wurde wirküch verurteilt; aber es gelang Demo-
sthenes nicht, das ganze Vermögen des untreuen Vormunds
mit Beschlag zu belegen, denn Onetor, der seine Schwester an
Aphobos verheiratet hatte, forderte, als sie sich von ihm trennte,
den Ersatz der Mitgift. Demosthenes hielt daher Ol. 104, 3
(362)^) die beiden Reden gegen Onetor^). In der Hauptrede
will er beweisen, dass weder die Mitgift ausbezahlt wurde noch
die Scheidung wirklich stattfand. Die Deuterologie erweckt
keinen guten Eindruck, weil der Redner jetzt plötzlich ein
wichtiges Moment, das er zu Anfang anführen musste, vor-
bringt; im Uebrigen kommt er über Allgemeinheiten nicht
hinaus, so dass Onetor offenbar mit der Behauptung, die
Scheidung sei vor dem Prozesse des Aphobos vollzogen worden,
Recht hatte. Schon in der ersten Rede hatte ja Demosthenes
(30, 17) keine genaueren Angaben über die Zeit gemacht, ob-
gleich alles darauf ankommt. Diese beiden Reden gleichen in
vielem den früheren; vielleicht ist eine geringere Knappheit des
Ausdrucks zu konstatieren. Auch darin ähneln sich die Jugend-
reden, dass der Redner überall sorgsam und schulgerecht die
Uebergänge markiert, indem er das vorhergehende rekapituliert
und die neuen Punkte ausdrücklich ankündigt.
Wie besonders die bedeutungsvollste Epoche in Demosthenes'
politischem Leben zu Deklamationen anregte, so hat auch sein
wichtigster Prozess die Rhetoren am meisten angezogen, i Aus
diesem Grunde entstand eine fünfte Rede bzep $ävoo izpbz
"A'foßov «|)eoSo|iapTopiü)v (XXIX.) ^), welche von folgenden
Annahmen ausgeht: Aphobos verlangte bei jenem Prozesse von
Demosthenes Milyas zur Folterung, dieser verweigerte aber,
1) 27, 66 xfiv eirc8pa|j.eiv.
2) XXX. 15. 38.
3) Böckh Staatshaush. II' 417 hielt sie für unecht, wohl weil sie der
Rede für Pbanos widersprechen.
4) Kich. Förster Jahrbh. f. Phil. 109, 357 ff.; Sigfr. Schaffuer de
tertia adversus Aphobum oraliore vulgo Demosthenis nomini addicta, Leipzig
1876, Bürmann Jahrbb. f. Fhüol. 115, 585 flf.
Demostbene«. 215
weil sein sterbender Vater jenen Sklaven freigelassen habe, die
Auslieferung, wobei er sich auf das Zeugnis des Phanos stützte.
Nach der Verurteilung soll nun Aphobos den letzten wegen
falschen Zeugnisses angekliagt haben. Von dieser Frage wissen
aber die Reden gegen Aphobos nichts, im Gegenteil scheint
die Freiheit des Milyas nicht angefochten (27, 19). Ueber-
haupt harmoniert die Rede mit der echten Anklage des Aphobos
nicht ^) und die Reden gegen Onetor wissen nichts davon, dass
Aphobos nach Megara verzog (§ 3); ist übrigens Aphobos bei
der Verhandlung anwesend oder nicht ? Man vermisst sehr die
klare Disposition der echten Reden und hört zwar viel von
dem früheren Prozess, aber sehr wenig von der eigentlichen
Sache, um die es sich angeblich handelt. Der Verfasser hat
jedoch den demosthenischen Stil gründlich studiert, freilich
mehr in den Staatsreden, deren Pathos er etwas manieriert
wiedergibt; natürlich ruft er mehrmals die Götter an und ge-
braucht übertrieben vulgäre Ausdrücke ^). Es dürfte daher
kaum einem Zweifel unterliegen , dass die Rede unecht ^)
und etwa derselben Richtung wie die vierte Philippika ent-
sprungen ist.
Der glückliche Erfolg des Vormundschaftsprozesses bahnte
Demosthenesden Weg zur Advokatur, welche ihn wieder bereicherte ;
er gab nach dem Vorgange der Aelteren die von ihm verfassten
Reden heraus, indes ist es klar, dass die vorhandene Sammlung
viel fremdes Gut enthält. Die Vormundschaftsreden und die
oben besprochenen Reden für Staatsprozesse abgerechnet, ent-
hält unsere Sammlung achtundzwanzig Reden, die wir für
Werke des Demosthenes ansehen sollen. Von jenen Reden
trägt aber ohne Zweifel eine nicht unbedeutende Anzahl den
Namen des berühmten Redners mit Unrecht. Bei der Beur-
teilung der Echtheit soll wieder dasselbe Verfahren wie bei
Lysias eingeschlagen werden.
1) § 16. 18. 34 ff. 58. Der Verfasser bezeiclinet § 56 Demon als
oovenitpoTCO«;.
2) Kav lTcc8pa|j.eIv 48 ist aus 27, 56.
3) Westermann quaestiones Demosth. III 10 f., Schäfer III B
82 ff. mit Zustimmung, von Sauppe und anderen, verteidigt von D a r e s t e
plaidoyers civils I 44 f. 66 ff. Blass S. 205 ff. S. Eei chenbe rge r Demo-
sthenis tertiam contra Aphobum orationem esse genuinam, Würzburg 1881.
216 Siebentes Kapitel.
Da es sich doch wohl von selbst versteht, dass Demosthenes
vor der Abwicklung seines Prozesses keine Reden schrieb,
können drei im Namen des bekannten Apollodoros verfasste
Anklagen ^) nicht von ihm herrühren : Die Rede gegen Kallippos
(LH.) ^) gehört zu den Prozessen, welche Apollodoros bald nach
dem Tode seines Ol. 102, 3 (370) gestorbenen Vaters, also 369
oder 368 ^), gegen dessen Schuldner anhängig machte. Nicht
viel später föllt die Rede gegen Nik OS trat OS (LUX. ;rspi avSpa-
^dSwv a7roYpa<p'^c: 'A ps^oDatou) *), welche in den Jahren nach 368
gehalten wurde ^). Einige Zeit nachher, wahrscheinlich im
Sommer 362 (Anfang Ol. 104, 3), sprach Apollodoros gegen
den Feldherrn Timotheos (XLIX. oTcsp )(ps(o?) ^),
1) Vgl. über die für Apollodoros geschriebenen Eeden im allgemeinen:
Imm. Herr mann de tempore quo oratioues quae feruntur Demosthenis pro
Apollodoro et Phormione scriptae sint, Erfurt 1842; W. Hornbostel über
die von Demosthenes in Sachen des Apollodor verfassteu Gerichtsreden, Ratzeburg
1851; Fr. Lortzing de orationibus quas Demosthenes pro Apollodoro
scripsisse fertur, Berlin 1863; Job. Sigg der Verfasser neun augeblich von
Demosthenes für Apollodor geschriebener Reden, Jahrbb. f. Phil. Suppl.
6, 397 ff.
2) Schäfer III B 134 flf., B 1 a s s 455 ff., D a r e s t e Annuaire pour
l'eucour. des etud. gr. 8, 75 ff.
3) So Schäfer, Sigg (S. 402 f.) und Blass gegen Lortzing p. 7, weil § 15
und 32 "fjjjLä?, 4]|jl(I>v, 4][xIv und § 29 •fjjj.sTepoo steht. Also war die Erbteilung
noch nicht erfolgt (§ 17 beweist nichts). Clinton fasti Hell. II app. 20
und J. Herr mann S. 16 f. nehmen, um die Echtheit nicht preisgeben zu
müssen, Ol. 104, 1 resp. 105, 1—106, 2 (355—50) an.
4) Schäfer HI B 143 ff. Blass S, 459 ö.; bei Harpokration lautet
der Tit«l itepl x&v 'ApeO-oooiou av8pan68(uv (v. ajtoYpacp-J] und nepiatotj^oi). An
der ersten Stelle bezweifelt er die Echtheit.
5) Der Prozess fand nach der sicilischen Trierarchie des Apollodoros,
welche er einer Inschrift zufolge (Kirch ho ff Philol. 12, 671 ff., vgl. dazu
Sigg a. O. S. 404) 368 leisten musste. Sigg S. 403 f. denkt an 866, Blass
S. 461 an 365, Unhaltbar sind die Ansätze von Droysen Ztsch. f. Alter-
thumswiss. 1839 Sp. 939 f. (Ol. 107, 1) und Böhnecke Forschungen I 675
(Ol. 107, 2).
6) Schäferin B 137 ff. Blass S. 463 ff.; Rehdantz vita Iphicratis
p. 196 f. nahm Ol. 105 an. Harpokration v. eveirtaxY]|i.fjia citiert xaia TtjioO-eou;
V. xaxoxexviÄv erklärt er sie für zweifelhaft, ebenso vielleicht Plutarch c. 15.
Vgl. F. C. Rumpf de oratione adv. Timotheura imp. quae a Demosthene
scripta esse fertur, Giessen 1821. Ueber das Juristische Philip pi Jahrbb.
f. PhU. 93, 611 ff.
Demosthenes. 217
Sind diese Reden vor Demosthenes' Auftreten entstanden,
so gehören andererseits mehrere einer so späten Zeit an, dass
sie von dem Redner nicht mehr verfasst sein können; denn
als er unbestritten an der Spitze des Staates stand, hütete er
sich ohne Zweifel, durch Fortfülu'ung der Praxis seinem Rufe
zu schaden. So ist denn der demosthenische Ursprung bei
drei Reden, welche in die Jahre des latenten Krieges fallen,
zweifelhaft: Die eine (XL VIII.) hielt Kallistratos gegen Olympi-
odoros wegen Schädigung (ßXdßyjc) etwa Ol. 109, 3 (341)^); die
Sache, welche er führt, ist so schlecht, dass der Verfasser sich
geschämt haben mag, seinen Namen der Rede vorzusetzen, aber
die Alten trauten sie Demostlienes zu. Sie hätten übrigens
auch an dem Stil die Unechtheit erkennen können, weil Demo-
sthenes nie so breit und schleppend schrieb, noch sich so oft
wiederholte ^).
Viele müssen auch, wenn sie nicht ganz gedankenlos waren,
geglaubt haben , dass Demosthenes für Geld nicht einmal sich
selbst schone; denn die Anklage des Theokrines (svSsi^tc
xaxa öcoxptvooc LVIIl.)^) enthält einen bitteren Ausfall gegen
den Staatsmann (§ 42). Das Jahr der Abfassung liegt jeden-
falls Ol. 109, 1 (344/3) näher als der Schlacht bei Chaironeia*).
Zwischen 343 und 339 hielt Apollodoros die Rede gegen
Neaira (Ypafpvj, LIX.), welche die Eigentümlichkeit hat, dass
der nominelle Kläger Theomnestos bloss die Einleitung spricht
und sodann seinem Schwager das Wort übergibt ^).
1) Schäfer III B 236 flf. Blass S. 497 ff., vgl. § 28.
2) Schäfer S. 240. Er vermutet wegen der Aehulichkeit mancher Wen-
dungen, dass derselbe Advokat die Keden gegen Makartatos verfasste.
3) Schäfer III B 266 flf. Blass S, 439 flt. Wilh. Rohdewald über
die psendodemostheuische Rede gegen Theokrines, Burgsteinfurt 1878. Die
Rede gehört wie die Anklage Neairas nicht zu den eigentlichen Privatreden.
Dionysios und Andere (Harpocr. v. a-(pa^[oo, wo A7]p.oo^£v*f)C eTte xal Ast-
vap^o? zu schreiben ist, und Gsoxpivf]?, Liban. argum.) bestritten die Echtheit.
4) Vgl. § 28. Schäfer bezieht § 35 ff. auf 342. W. Rohdewald über
die pseudodemosthenische Rede gegen Theokrines, Burgsteiufurt 1878 S. 29 ff.
entscheidet sich für das Jahr 343 ; S. 33 ff. v?eist er aus der Sprache nach,
dass Dionysios die Rede ohne Grund Deinarchos beilegte. Die Veranlassung
zu dieser Hypothese lag offenbar in jenem Ausfalle gegen Demosthenes.
4) Schäfer III B 179 ff. Blass S. 476 ff. W. Fittbogen orationis
contra Neaeram Demosthenes non est auctor, AUg. Schulzeitang 1831 II S.
218 Siebentes Kapitel.
Eitle Gruppe von fünf Reden fällt sogar in die Zeit
Alexanders: die Rede gegen Zeuothemis (TrapaYpatpYj XXXII.)^)
bot einen äusseren Anlass, um mit dem Namen des berühmten
Mannes geehrt zu werden. Der Sprecher ist nämlich Demon,
ein Verwandter des Demosthenes, welcher den Verdacht, dass
ihm der gefürchtete Redner heimlich beistehe, abzuwehren hat;
er erzählt daher (§ 31 f.), als er seinen Vetter um Fürsprache
ersuchte, habe dieser erwidert, dass er seit dem Beginne seiner
politischen Thätigkeit sich nicht mehr mit Privatprozessen
abgäbe. Wenn es auch möglich wäre, dass Demosthenes einen
Verwandten ausnahmsweise unterstützte, so zeigt doch sowohl
die Beschaffenheit der Rede, dass, mag auch Demosthenes seinen
Rat jenem nicht vorenthalten haben, Demon die Wahrheit
sprach, als auch konnte dieser, der selbst zu den Volksrednern
gehörte, einer fremden Beihilfe entraten. Die Zeit der Anklage
kann ungefa,hr bestimmt werden, weil der Name Demons vor
Alexanders Regierung nicht vorkommt. Der Schluss der Rede
ist verloren gegangen.
Nach der Schlacht von Chaironeia entstand auch die Rede
gegen Apaturios (XXXIH. zapoL^pafri)'^), welche die Friedens-
jahre voraussetzte. Durch die grosse Teuerung, welche zwischen
330 und 326 eintrat ^), werden drei Reden mit Sicherheit be-
273 ff. Im Jahre 343 kehrte wahrscheinlich Xenokleides nach Athen zurück
§ 26), dagegen waren die Festgelder noch nicht für den Krieg verwendet,
was Ende 339 geschah. Unecht ist die Rede nach Dionys. Dem. 13, Athen.
13, 573 b (vgl. 586 e). Harpocr. v. "^ippa p. 49, 8, SYipioTTotYjTo«;, StE^T"''!'^'^»
'luKap-^oi;, Phrynich. p. 255 L, Liban. arg. (otovtai), Phot. bibl. cod. 265 p.
492 a 23 (xiviz), Schol. Dem. p. 815, 22 (Trotzdem hielt Eeiske an der Echt-
heit fest).
5) Schäfer IH B 292 fi., Blass S. 433 flf. A. Philipp! Jahrbb. f.
Phil. 95, 577 flf. Arn. H u g de pseudodemosthenica oratione adversus Zeno-
tbemin, Pr. der Univ. Zürich 1871.
1) § 6, vgl. § 9 flf. mit Olympiod. 12. Verworfen von Benseier
de biatu p. 126 f. 151 (wegen der Nichtachtung des Hiatus), Schäfer III
B 297 flf., Blass S. 511 ff. und Ernst Rieh. Schulze prolegomena in De-
mosthenis quae fertur oratio adversus Apaturium, Leipzig 1878 (die Zeit be-
stimmt er auf 339), verteidigt von I. Herrmann einleitende Bem. zu Dem.
paragraphischen Reden S. 7 flf.
2) Schäfer III (A) 268 flf. U. Köhler Mitteil, des deutschen arcbäol.
Institutes VIII 211 ff.
Demosthenes, 219
stimmt, gegen Phormion (XXXIV. ;cept Savsioo) ^), von
dem Metöken Chrysippos gesprochen , gegen Phainippos
(XLII. Tuepl avTtSöaEü)?)^), in schwulstigem Stile geschrieben, und
vvahrscheinUch auch die Anklage des Dionysodoros (LVI.
xaia AiovoooSwpoo ßXaßy]?)^). Am Schlüsse derselben fordert der
Metöke Dareios Demosthenes zur Synegorie auf; da dies nach
dem obengesagten für den Redner nicht passt, muss man es
auf einen anderen dieses Namens beziehen oder den Zusatz als
unecht verwerfen. An eine Uebungsrede späterer Zeit zu denken,
hält die Beschaffenheit des Inhalts ab*).
Es wird geraten sein, die Zeitgrenze trotz jener Erklärung
des Demosthenes nicht bis zu seinem ersten Auftreten hinauf-
zuschieben, weil Aischines ihm noch beim Gesandtschaftsprozesse
die Abfassung von Reden vorwarft). Es bleiben somit siebzehn
Reden übrig, bei denen wenigstens die Chronologie gegen den
demosthenischen Ursprung nicht spricht. Der Zeit nach sind
sie folgendermassen zu ordnen :
LI. über den trierarchischen Kranz (Trepltoö crrs^avoo
ffl<; TpiTjpap/ta?) *^), bald nach 361 vor dem Rate gehalten'');
L. gegen Polykles (;rspi toö £jrtrptY]pap)(if]{AaTog) ^) sprach
1) Schäfer III B 300 flf. ßlass S. 515 ff. §'38 wird der Angriff auf
Theben erwähnt.
2) Schäfer III B 280 flf. Blass S. 446 ff. Schon im Altertume ver-
warfen sie einige, wie Libanios berichtet. Seit Markland ad Eurip. suppl .
V. 380 und B ö ck h Staatshansh. I 60 A. gibt man allgemein die Unecht
heit zu.
3) Schäfer III B 307 ff. (welcher den gleichen Verfasser für die Reden
gegen Apaturios und Phormion annimmt), Blass S. 520 ff. ; Sauppe orat.
Att. II p. XIV; Benseier de hiatu p. 143 f. 160 f.
4) G. A. S c h w a r z e de oratione xaxa AtovuooScupoo inscripta quae
inter Demosthenicas est LVI. Göttingen 1870.
6) Z. B. in Timarch. 1, 94.
6) Schäfer III B 152 ff. Blass S. 214 ff. Libanios nennt den Sprecher
ohne Grund Apollodoros.
7) Vgl. § 8 und 17 (nach Schäfer 360 oder 359, nach Blass S. 216 359,
Rehdantz Jahrbb. f. Phil. 70, 505 357; Kirchoff Abhandl. der Berliner
Akad. 1865 S. 86 f. setzt, weil der Redner meistens zwei Gegner hat, die
Rede nach der Einführung der Symmorien an, ebenso Sigg S. 405).
8) Schäfer III B 147 ff. Blass S. 468 ff. Vgl. § 3. 61. Schäfer und
Lortzing p. 11 erklären § 8 (xoxs ouxo) TtoXuxsX-ri ovxa) aus der Einführung
der Symmorien. Sigg S. 404 f. und ßlass S. 469 stimmen für 359 oder 358.
220 Siebentes Kapitel.
Apollodoros geraume Zeit, nachdem er Ol. 104, 4 (Februar 360)
von seiner Trierarchie befreit war.
Es folgt die Rede gegen Euergos und Mnesibulos
(XLVII. xaxa Eds'pyoü xat MvTjatßouXou (j^eoSoixapxDpiwv)^), wegen
§ 44 nach Ol. 105, 4 (356) abgefasst. Die Schwäche der Aus-
führung und die Dürftigkeit des Wortvorrates gestatten keinen
Zweifel an der Unechtheit, beweist aber nicht zugleich, dass
Apollodoros der Verfasser sei ^).
Gegen Apollodoros trug Phormion die vortreffliche
XXXVI. Rede (xapaYpa^yj) ^) Ende Ol. 107, 3 (349) vor ^). Der
Prozess hatte ein Nachspiel, weil Apollodoros gegen Stephan os
(XLV. XL VI.) Klage wegen falschen Zeugnisses erhob ; nach unseren
Begriffen ist es allerdings, gelinde gesagt, auffallend, dass Demo-
sthenes denselben Mann, von welchem er ein abschreckendes
Bild entworfen hatte, kurz darauf unterstützte. Da er jedoch
jene karrikierende Schilderung gewiss eben nur als Geschäfts-
sache behandelte, so steht der Identität des Verfassers nichts
im Wege, falls nicht Apollodoros, statt ilass er die Geschickhch-
keit des Advokaten bewunderte, die Sache persönlich nahm.
Ueberdies scheint eine Anspielung des Aischines die Authenticität
zu unterstützen^); vor allem aber wird berichtet, dass Demo-
sthenes von einem Zeitgenossen den Vorwurf zu hören bekam,
er handle wie ein Kaufmann mit Freund und Feind '^).
1) Schäfer ni B 193 fif. (wahrscheinlich vor 353). Blass S. 484 ff.
2) Daran dachten Reiske, heide Schäfer und Fittbogen. Harpokration
bemerkt v. exaXtaxpouv: 'laxöv 8' soxl xal ■zäyj' äv stv) Astvapj^oi;. xal outo?
Yotp ^Evtxoit; ovojxaot •/^pr^za.i, vgl. v. T^tY)|JL£V*rjv,
3) Schäfer III B 161 ff. Blass S. 404 ff.; W. Nitsche de truiciendis
partibus in Dem. oratt. Berlin 1863 p. 95—98 stellt § 28—32 hinter 62,
4) Ueber 20 Jahre (§ 38) nach Pasions Tode, der Ol. 102, 3 (370) er-
folgte; gegen Schäfer, der § 19 und 37 unrichtig erklärt, vgl. ausser Bliisa
Lortziug p. 15 ff. Sigg S. 406 (s. auch Beels diatribe in Demosth. oratt. I.
et II. in Steph., Lugd. B. 1825 p. 22). Es ist leicht möglich, dass der Sprecher
nicht wusste (§63), dass Kallippos Sicilien bereits verlassen habe; Sigg S. 408
athetiert die Worte.
6) Aesehin. 2, 165. 3, 173, ebenso Dinarch. 1, 111.
6) Plutarch. 16.
Demosthenes. 221
Die erste Rede gegen Boiotos (Trspi toö ovöfiatoc XXXIX.)*)
setzt den euböischen Feldzug von 349/8 (§ 16 f.) voraus ; gegen
denselben Maim , welchen jedoch der Kläger Mantitheos nach
dem unglücklichen Ausgang jenes Prozesses Mantitheos nennen
musste, ist einige Zeit später die Rede über die Mitgift
(XL.)') gerichtet.
Ungefähr in dieselbe Zeit (nach § 6 frühestens 346/5) fällt
die Einrede gegen Pantainetos (XXXVI.) ^), für deren Echt-
heit der demosthenische Rhythmus spricht.
Die Reihe schliesst mit der Appellation des Euxitheos
gegen Eubulides (Ifpsaic 7cpö(- EußooXiSTjv LVII.)^), welche
Ol. 108, 3 (345), als man die Bürgerliste revidierte, gehalten
wurde.
Bei sieben Reden ist leider kein Anhalt für die Zeitbe-
stimmung aufzufinden. Die Rede gegen Kono n (alxtac LIV.)^)
gehörte nicht hierher, wenn der Ausmarsch nach Panakton (§ 3)
wirklich derselbe wäre^ den Demosthenes in der Rede über die
Truppengesandtschaft (§ 326) erwähnt. In diesem Falle müsste
die Anklage etwa 343 ^) geschrieben sein, wodurch die Echtheit
bedenklich würde. Weil aber gerade bei dieser Rede der
demosthenische Charakter unverkennbar ist, möchte man lieber
jene Stelle auf einen früheren zufällig nicht überlieferten Aus-
marsch beziehen '^).
1) Schäfer III B 211 ff. Blass S. 415 ff. Einige legten diese Rede
Deinarchos bei (Dionys. Dinarch. 13) ; Dionysios setzt sie mit grobem Irrtum
Ol, 107, 2 oder 3 (Dinarch. 11. 13) an.
2) Man nennt sie aber gewöhnlich ebenfalls TzpoQ ßoitotov (auch Harpocr.
V. AeXcpivtov). Schäferin B 211 ff. Blass S. 450 ff. (er verwirft die Rede).
3) Schäfer III B 200 ff. Blass S. 419 ff.; Gotth. Krüger de oratione
exceptoria quam ferunt contra Pantaenetum scripsisse Demosthenem, Halle
1876 bestreitet die Echtheit, besonders weil man manches in den Reden gegen
Nausimachos und Phormioii wieder findet; die Verteidigung hat Ad. Hock
de Demosthenis adversus Pantaenetum oratione, Berlin 1878 übernommen.
4) Schäfer III B 257 ff. er zweifelt namentlich wegen der Häufigkeit
der Sentenzen die Echtheit der Rede an); Blass 427 ff.
6) Schäfer IH B 247 ff. Blass S. 399 fl. C.Zink Acta semin. Erlang.
III p. 75 ff.
6) Clinton fasti Hell. II 360 adn.; Ol. 109, 3 (341) nach Wester-
mann ausgew. Reden des Demosthenes III.
7) Schäfer a. O. S. 261 schlägt Ol. 106, 1 (356/5) vor.
222 Siebentes Kapitel.
Die übrigen zähle ich nach der Ordnung der Ausgaben auf:
XXXV. Tcpöc TTjV AaxpiTOo TuapaYpafpTjv ^) ;
XXXVIII. jrapaYpatpYj Tcpöc Naüot[ia)^ov xai Ssvottsi^tjv , im
Interesse der Söhne des Aristaichmos gehalten ^) ;
XLI. TTpöc XxooSiav TTspi Trpotxöc ^) ;
XLIII. jrpöc MaxdpraTOV Trspi toö 'Ayviou xXTjpou*);
XLIV. Tcpöc As(ö)(dpY] ^) ;
XLV. Tipöc KaXXtxXsa ;c£pi yMpioo ^).
Auf diese siebzehn Reden hat sich also die Untersuchung
der Frage, wie viele Privatreden von dem grossen Redner selbst
herrühfen, zu beschränken''); um dem subjektiven Geschmacke
mögHchst wenig Spielraum zu lassen, seien hier einige allge-
meine Gesichtspunkte angedeutet. Durch äussere Zeugnisse
steht nichts weiteres fest, als dass Demosthenes sowohl für
Phormion als für Apollodoros schrieb ^). Dies geht ohne Zweifel
auf die Reden für Phormion und gegen Stephanos (I.)
Bei einer unabhängigen Untersuchung verdient zunächst
Demosthenes' Verhältnis zum Hiatus herangezogen zu werden^).
Da er als praktischer Redner nie Isokrateer sein durfte, sind
ihm alle diejenigen Reden abzusprechen, in denen der Hiatus
1) Schäfer III B 286 ff. (welcher die Rede etwa 341, vor Ausbrach
des Krieges setzt), B 1 a s s S. 502 ff., v.azä Aaxpitoy Harpocr. v. 8ioire6(uv
und MevSf],
2) Schäfer III B 207 ff. Blass S. 423 ff.
3) Schäfer III B 227 f. Blass S. 219 ff.; xata SnooSioo Harpocr. v.
4) Von A. Schäfer III B 229 ff., dem Blass S. 489ff. beistimmt,
verworfen; vgl. W. Rohrmann oratio quae est contra Macartatum num
Demosthenis esse judicanda sit, Göttiugen 1876, juristisch Carl de B o o r über
das attische Intestaterbrecht, Hamburg 1838.
6) Von Sauppe orat. Att. H p. XIII, Schäfer HI B 241 ff., Blass
S. 607 ff. verworfen, vgl. Herm. Schwebsch de oratione quae oontra Leo-
charem a Demosthene scripta fertur, Berlin 1878; L. Spengel ist die demo-
sthenische Rede n. A. vollständig ? Rhein. , Mus. 16, 476 ff. Harpokration
und die Rhetoren erwähnen die Rede nie.
6) Schäfer IH B 262 ff.
7) Sigg Jahrbb. Suppl. 6, 401 A. 3 erkennt ausser den vier Vormund-
schaftsreden allein die Reden für Phormion, gegen Konon und Eubulides an.
8) S. S. 186.
9) Beuseler de hiatu apud oratores Atticos p. 131 ff. und de hiatu in
Demosthenis oratiouibus, Freiberg 1848; vgl. Schäiers Urteil III B 317.
Bemosthenes. 223
ängstlich vermieden wird ; so beobachtete der Fälscher der Rede
gegen Philipps Brief die Regel des Isokrates, aber auch der
Verfasser der Rede vom trierarchischen Kranze zeigt sich in
diesem Punkte als Schüler desselben. Demosthenes selbst übte
in den Vormundschaftsreden den Grundsatz, dass er in seinem
ersten Versuche den Hiatus zwar nicht überwuchern Hess, ihn
jedoch nur in der mehr rhetorischen Deuterologie erheblich ein-
schränkte, sodann aber beim Prozess gegen Onetor auch in
der eigentlichen Anklage den Hiatus nur in geringem Masse
zuHess. Wenn er demnach schon als Anfänger eine so feine
und doch nicht pedantisch übertriebene Empfindung für den
Wohlklang besass, darf man annehmen, dass die Reden, hi
welchen der Hiatus ungeregelt herrscht, nicht Demosthenes
zuzuschreiben sind, nämlich die Rede gegen Apaturios, ßoiotos
über die Mitgift, Dionysodoros, Euergos und Mnesibulos, Kallippos,
Lakritos, Leochares, Makartatos, Mnesibulos, Nikostratos,
Ülympiodoros, Phainippos, Phormion, Polykles, die H. gegen
Stephanos und Timotheos. Die übrigen Reden dagegen zeigen
den Hiatus möglichst eingeschränkt.
Die demosthenischen Reden bieten aber noch andere
Anhaltspunkte. Da Demosthenes durch seine Exklamationen^)
ein gewisses Aufsehen erregte, dürfte es geraten sein, auch
diese beizuziehen. Demosthenes selbst nun bedient sich in den
Erivatreden neben den üblichen Formeln vyj ((id) Ata oder [la
toüc '6-£0DC, ^pöc Atdi: oder Trpöc ■O-swv, die er auch zu einem
Doppelgliede verbindet, der etwas überschwänglichen w y'^ xal
■ö-Eot '^) oder w Zsö xal d-soi ^) und vtj töv Aia %cd ■9-soo? aTiavcac *),
Feierliche Formeln gebraucht er dagegen nur in öffentlichen
Reden, wo der Ton höher gespannt ist^). Diese wohl durcli-
1) Rehdantz Index s. v. Schwurformeln (s. auch Sigg Jahrbb. Suppl
6, 421), unvollständig.
2) 39, 21. 45, 73; nachgeahmt 34, 29. 40, 5. 55, 28.
3) 36, 61; nachgeahmt 32, 23. 43, 68.
4) 36, 61.
5) Ny] -cov Ata xbv 'OX6|X7tiov 24, 121, o» npbz toö Aioc 9, 15. 14, 12;
VY] (fjiä) X7]v A-f]|j.YjTpa 3, 32. 19, 262; fJiä xvjv 'A^-rjväv 24, 199; {xä xouc Iv
Mapa^cüvi npoxtvSüvsüoavxa? u. s. w. 18, 208; u) Ttavcec ■8'eot 6, 37. 9, 76, a»
Zeö 19,113, 'HpdxXstc 9,31. 21,66, u> Zsö nal Ttdvtet; •8^01 19, 15. zusammen-
gesetzt: jid zobg ö'EOüs xal tag •ö-edc 19, 67; vtj tov Aia xal tov 'AhoXXcu xal
224 Siebentes Kapitel.
dachte Abstufung zerst()reii die Zeitgenossen und Nachahmer
des Demosthenes, indem sie allerlei pathetische Varianten ein-
führen: [IOC TÖv Aia Tov [i^YiaTov (48, 2), \La. töv Ata xal töv
'ATTöXXwva (50. 13 wie Isae. 6, 61), [la töv Aia xal röv 'AuöXXwva
xal TTjv A7]{j.7]Tpa 52, 9, [la töv Ata töv avaxTa xal tooc ^sooc
aTiavTac-Sö, 40, v/j too? 0-souc xal Tac ■O-eag 42, 6 und Trpöc xwv
■ö-swv xal 8ai[i.öV(ov 42, 17. Alle diese Ausrufe haben ein fast
pietistisches Gepräge, das für Demosthenes nicht passt*).
Während sich diese Eigentümlichkeit auf den pathetischen
Charakter bezieht, äussert sich in einer Aeusserlichkeit die unend-
liche Mannigfaltigkeit des Redners. Beider Verlesung von Urkun-
den gab es zur Einleitung gewisse stereotype Formeln, indes nahm
sie Demosthenes nicht ohne weiteres in seine Reden auf, sondern
verlieh auch ihnen eine mit dem Texte übereinstimmende
Nuance, so dass sie die künstlerische Einheit des Stiles nicht
störten. Nicht einmal hierin ist ihm also die Wahl des Ausdrucks
gleichgiltig , sondern er variiert mit merkwürdiger Gewandtheit
die trivialen Formeln, weshalb die Einförmigkeit, zumal wenn
sie bei Formeln , deren sich Demosthenes selten bedient,
auftritt, ein unverkennbares Zeichen der Unechtheit abgibt.
So hätte Demosthenes in einer Rede nicht fünfmal (XXXIJI.
8. 12. 15. 18. 19) den ihm überhaupt fremden Ausdruck ge-
braucht „Vernehmt die Zeugnisse", er hätte nicht einmal an
drei Stellen desselben Vortrages gesagt: ,,ihr werdet es von
den Zeugen erfahren" (eioeo^e XL. 15. 44. 52). Mehrere schlechte
Redner ermüden in ähnlicher Weise den Zuhörer mit der An-
kündigung: „der Schreiber wird vorlesen", wie es in der 42.
(10. 32. 51. 61. 66. 67), 50. (10. 13. 28. 37. 68), 52. (16. 21. 31),
53. (18. 19. 20 zweimal. 21) und ähnHch in der 48. (3. 47.
49. 56.) Rede geschieht.
Diese Argumente stimmen zu dem Ergebnisse überein, dass
Demosthenes ausser den vier Vormundschaftsplaidoyers keine
T-zjv 'Aö-Tjväv 21, 198; vq tov Aia xal rbv 'AiroXXtu 9, 06; v-}] xiv 'HpaxX4o
xal itävtai; O'souc 18, 294.
1) Nicht nndemosthenisch sind dagegen u» irpic Aiö? 29,32 und jxa tbv
Aia TOV p.i'(iazov 48,2.
Demosthenes. 225
anderen Privatreden zustehen als die für Phormion XXXVI.,
gegen Pantainetos XXXVII., die erste gegen Stephanos XLV.
und Boiotos XXXIX., gegen Eubulides LVII., Konon LIV.
und Nausimachos XXXVIII. Was aber die übrigen Reden
anlangt, sind in neuerer Zeit mehrere Versuche gemacht
worden, einige derselben einem einzigen Verfasser zuzu-
teilen. So hat Schäfer alle für Apollodoros verfertigten Reden
diesem selbst zugeschrieben^), weil ersämmtliche als nicht demo-
sthenisch betrachtete und annahm , dass Apollodoros einer
fremden Beihilfe überhaupt niclit bedurft habe'^). Das letztere
wollen wir dahingestellt sein lassen, das erstere aber wird durch
die oben angeführten Zeugnisse von Zeitgenossen widerlegt.
Ausserdem weichen auch die dem Demosthenes abgesprochenen
Reden des Apollodoros abgesehen von einigen übereinstimmenden
Ausdrücken, wenn man bestimmte Punkte durchgeht, so sehr
von einander ab, dass die Einheit des Verfassers nichts weniger
als gesichert ist. Alle übrigen Kombinationen sind, nur Ver-
mutungen ^).
Demosthenes, der praktische Redner, würde uns eine neue
Seite seines Wesens zeigen , wären die ihm zugeschriebenen
epideiktischen Reden echt. Dass er auf die Toten von
Chaironeia den öffentlichen Nachruf hielt, ist bekannt; aber
schon die Alten*) fühlten, dass der vorliegende Epitaphios
(LX.) des grossen Redners unwürdig sei. Das Beste, was hier
1) III B 184 ff.; Blass S, 527 gesteht die Verfassereinheit zu, nimmt
aber statt Apollodoros einen unbekannten Logographen an.
2) Wenn die Alten einfach Apollodoros citierten (Tiberius ir. o^^yjja. 14 p
543, 9 W. vgl. Schol. Aeschin. 2, 165) kürzten sie damit breitspurige Citate
wie AYjfxoG'9'£VTjC o p-rjTtop iv tü) xaxa Nsaipac XoY'i^' ^^^ Yv-fjaioc, 3v 'AtcoXXo-
oüjpo? sTffjxe (Athen. 13, 573 b) ab.
3) Blass S. 526 f. äussert sich mit Recht vorsichtig; bestimmter be-
hauptet P. Uhle quaestiones de orationum Demostheni falso addictarum
scriptoribus I. Hagen i. W. 1883 (Diss. v. Leipzig), dass die 38. 43. 48. Rede
einem Verfasser, der von dem der apoUodorischen verschieden ist, zukommen,
4) Dionys. Dem. 44 (anders in der zweifelhaften Rhetorik 6, 1), Harpocr.
V. AiY£t8at und Ktv-poniz, Liban., Phot. bibl. p. 492 a 25 (xtvec), Bekk. Anecd.
354, 10, Syrian. Walz IV 44 adn. (t'.vec), Codex Laur. bei Bandini, catal. codd.
Graec. I p. 555, 3 AfjfjLocS-Evoui: <x>q iiviz (paat Xö^oc, vgl. Theon iipo-f. 2 p.
GS, 25 Sp., bestätigt von Taylor lection. Lysiac. p. 234 sqq. R. und Wester-
mann quaest. Demosthen. IL p, 49 ff.; vgl. H. Lentz der Epitaphios pseud-
epigraphos des Demosthenes, Pr, von Wolfenbüttel I, 1880, II. 1881.
S i 1 1 1 , Geschichte der griechischen Litteratur. II. 15
226 * Siebentes Kapitel.
geboten wird, entstammt älteren Leichenreden und sonst noch
mancher berühmten Schrift^). An eine eigenthche Fälschung
ist nicht zu denken, da der Redner, wenn auch bezüglich des
Rhythmus und Hiatus die demosthenischen Grundsätze gewahrt
sind, von einer wirklichen Nachahmung des Stiles sich ferne
hielt; der Epitaphios führt uns die sinkende Beredsamkeit des
dritten Jahrhunderts^) vor Augen. Mit der Nachlässigkeit des
Stiles ^) stimmt die Vernachlässigung der geschichtlichen Ver-
hältnisse überein.
Noch viel weniger zeigt der Erotikos (LXL), die Ver-
herrlichung des schönen Knaben Epikrates, eine Spur von
Fälschungsabsicht, weshalb man nicht begreifen kann, wie er
unter Demosthenes' Werke geriet, wenn er nicht etwa mit dem
Epitaphios zufällig vereinigt war*); augenscheinlich rührt der
Aufsatz von einem Isokrateer, vielleicht Androtion^), her. Die
Rede ist nach den Regeln des Isokrates geschrieben, nur dass
der Schüler hinter jenem weit zurückbleibt und gerne zu Ge-
danken des Meisters seine Zuflucht nimmt ^); ausserdem hat
ihm der platonische Phaidros manches, selbst den Namen des
Gepriesenen geliefert').
Während die epideiktische Gattung Demosthenes' Natur
ganz ferne lag, wäre es an sich möglich, dass er für Schüler
und jüngere Freunde Musterstücke zusammenschrieb. Nun folgt
auf die Reden in unseren Handschriften ein Anhang, welcher
eine Sammlung von mindestens 56 Proömien (Tipooifjua S7](j,Trj-
Yoptxd)*^) enthält. Von diesen sind einige aus erhaltenen Reden
1) § 27—31; vgl. ausser Westermann Blass S. 356 f. E. Albrecht
Berl. philol. Wochenschrift 1882 Sp. 841 flf.
2) Er entstand nach U. v. Wilamowitz phil. Untersuch. 1, 84 vor
dem chremonideischen Kriege, jedenfalls vor Kallimachos.
3) Anon. Walz rhet. VI 37 tadelt das ä}xeXeT7]xov.
4) Die Unechtheit wird bemerkt von Diouys. Dem. 44. Liban, PoUux 3,
144. Phot. a. O. vgl. Wester mann quaestt. Demosthen. II 74 flf. L.Spengel
Philol. 17, 621 flf. Blass S. 368 flf.
6) Aristides or. 48 II p. 311 Jebb; vgl. §60. Ueber die Zeit § 46,
6) Blass S. 368 A. 6.
7) Epikrates Phaedr. 227 b. Von dort rührt auch die Fiktion her, dass
eine fremde Rede vorgelesen wird.
8) In den Handschriften sind manche Proömien fälschlich zusammen-
gefasst (Blass 8. 282, 2).
Demosthenes. 227
entnommen, die übrigen bloss Variationen über die Themata
der demostbenischen Staatsreden. Es scheint daher, dass von
den Lehrern der Beredsamkeit demosthenische Proömien mit
Variationen zum Schulgebrau-ch zusammengestellt wurden ^).
Genauere Untersuchungen können zeigen, wie sehr die Proömien
von den strengen Gesetzen des Demosthenes abweichen ^).
Wirkliche Fälschungen dagegen sind die sechs Briefe,
welche Demosthenes geschrieben haben soll, abgesehen von dem
fünften an Herakleodoros gerichteten, in dessen Ueberschrift
Demosthenes' Name von den Abschreibern willkürlich gesetzt
wurde ^). Die übrigen wollen wirklich von Demosthenes und
zwar in der Verbannung geschrieben sein. Wie denn aber die
Fälscher von Briefen überhaupt mit der Geschichte nicht
sehr vertraut zu sein pflegten, so stiess dem Verfasser des
sechsten Briefes das Missgeschick zu, dass er die Schlacht von
Krannon hereinzog, obgleich Demosthenes damals schon zurück-
gekehrt war. Die übrigen sind Deklamationen ohne praktischen
Zweck ; denn wie konnte Demosthenes hoffen, durch einen
Brief seine Zurückberufuug zu erwirken (II.)*) oder als Ver-
bannter den Kindern des Lykurgos (III.) •'') förderlich zu sein?
Noch überflüssiger ist die Verteidigung gegen einen unbekannten
Theramenes (IV.) *^) und den Sophisten verrät unverkennbar das
1 ) Schon Photios (epist. 207) urteilte ungünstig darüber. Für die Un-
eclitheit stimmten Dobree, Westermann, Schäfer u. A.; Kiessling hallische
Literaturztg. 1832 S. 364 f. nahm eine Sammlung von Proömien verschiedener
Staatsmänner an. Unter den Neueren verteidigte die Echtheit Blass S. 283 if
(Vgl. jetzt P. Uhle de prooemiorum coUectionis quae Demosthenis nomine
tertur origine, Chemnitz 1885.)
2) Nehmen wir z. B. den beliebten Eingang — [aev, so sind die Anfänge
von 5. 14. 30. 83. 35. 36. 46. ans Demosthenes entlehnt, während sich dieser
nie wiederholt. Ferner gestattet sich Demosthenes vor {Jiev nie eine oder
zwei Kürzen, dagegen stimmen 33. 39. 56. mit den unechten Reden XI. und
XII. Eine Rede mit xat zu beginnen (wie 20. 54) wagte bloss der Verfasser
der vierten Philippika.
3) Hermippos kannte ihn noch nicht (Plut. 5), dagegen benützte ihn
Cicero Brut. 31, 121 (in quadam epistola) und orator 4, 15 (ex epistolis).
4) Er befindet sich auf Kalauria (§ 20) I Vgl. S. 192 A. 2.
5) Erwähnt Aeschin. epist. 12, 14. Ps. Plut. 842 d schreibt diesem Briefe
einen glücklichen Erfolg zu.
6) Dieser Brief schliesst sich an das Ende des zweiten an.
15*
^2g Siebentes Kapitel.
hohle Gerede des ersten Briefes ,,über die Eintracht."^). Jeden-
falls sind die Briefe vor Cicero entstanden und gehören nicht
zu den schlechtesten ihrer Gattung^).
Dies ist, was unsere Handschriften als Werke des Demosthenes
bieten, im Verhältnis zu den zahlreichen Reden, die er hielt,
nicht viel. Dennoch dürfen wir versichert sein, dass die Alten
an echten Reden nie mehr als wir besassen ^). Was zunächst
die Staatsreden anlaugt, so ist nicht sicher bezeugt, dass die be-
rühmte Rede gegen die Auslieferung der antimakedonischeu
Volksführer im Original überhefert war*), und über die Unecht-
heit der Rede Trspl xoü [ay] IxSoövai "ApTcaXov bestand kein
ZweifeP), wie auch bezügUch der Verteidigungsrede, die Demo-
sthenes im harpalischen Prozess gehalten haben soll ^). Ausser-
dem gingen mindestens drei Gerichtsreden unter '), doch keine
sicher echten. Endlich gab Demosthenes' Jubel über Phihpps
Ermordung zu einer Lobrede auf Pausanias^), seinen
1) Vorausgesetzt von Aeschin. epist. 11, 2.
2) Den 2. nnd 3. Brief eitleren Harpokration v. KaXaopia, epaviCovtec»
tp^oTjv und Hermogenes p. 385, 9 ff. Sp. Photios äussert sich epist. 46 un-
günstig über die Briefe. Über die Unechtheit A. Schäfer Jahrbb. f. Phil.
116, 161 ff., für die Echtheit Fr. Blass über die Echtheit der Demosthenes'
Namen tragenden Briefe, Pr. v. Königsberg 1875 u. Jahrbb. f. Phil. 116, 641 flf.
3) Ps. Plut. 847 e tpepoviat S'aütoö kö-^oi '(vr\Qioi i^'^xovxa izivxt ist nicht '
näher zu bestimmen.
4) Livius 9, 18 ist zu unbestimmt.
6) Dionys. Dem. 57, wahrscheinlich mit der Deinarchos beigelegten
identisch (Dionys. Dinarch. 11). Die deinarchische Rede AtcpiXü) SYjjifjYopixöc
altoövTi Scupeocc schreibt Dionysios (Dinarch. 11) nur vermutungsweise Demo-
sthenes zu.
6) Dionys. Dem. 67 auoXoYta ocuptuv, Athen. 13, 592 e uspl j^puaioo;
weniger bestimmte Citate sind Pausan. 2, 33, 4 und Isidor. Pelusiot. epist. 4,
206 (Migue 78, 1297 b).
7) ilpö? IlciXu2üv.Tov iiapaYpacpY] Bekk. Anecd. 90, 28; itpö? Kpttiav nepl
Tou tv87tC'3x-fj|i|j.aTCii;> von Dionysios verworfen (Harpocr. v. evE7rbxf)(j.]xa) ; xatd
MjSovTor PoUux 8, 53. Harpocr. v. OExaxEOEtv ; wahnscheinlieh irpöi; Ktyioctttcov
Bekk. [Anecd. p. 165, 20, weil dieser Grammatiker sonst nur Demosthonr>s
citiert (Sanppe erat. Att. II 346). Fragmente des Demosthenes Saup j"
orat. Att. II p. 260 ff. und Th. Vömel Didotausgabe p. 787 ff. Nur ver-
mutungsweise wird die Rede Satüptu irpöc Xapt8Tj|j.ov iTrttponTj«; ontoXoYta
Demosthenes zugeteilt, während sie Kallimachos dem Deinarchos gab (Phot.
bibl. p. 491 b 29 ff., vgl. Dionys. Din. 13).
8) Dionys. Dem. 44.
«
Demosthenes. 229
j
' Mörder Anlass. Das Urteil der massgebenden Kreise veran-
i lasste den Untergang aller dieser Reden ; wir ersehen übrigens
dabei, dass unser demosthenisches Corpus nicht direkt auf
Kallimachos zurückgeht ^); denn der gelehrte Bibliothekar be-
züichnete die zweite der verlorenen Gerichtsreden als echt.
Um die Beredsamkeit des Demosthenes zu verstehen, ge-
nügt es nicht, an seine Vorgänger, besonders Isaios, welcher zuerst
die §£ivÖT7]c in die Beredsamkeit einführte, zu erinnern. Demo-
sthenes ist ein Kind seines Zeitalters; ruhige Würde zog damals
nicht mehr an, die verwöhnten Athener wollten Aufregung
ihrer Sinne, was auf alle Gebiete des geistigen Lebens ein-
wirkte. Daher strebten die Bildhauer entweder nach sinnlichem
Reiz, wie Praxiteles, oder nach aufregendem Pathos, wie Skopas,
der Bildner dionysischer Aufregung. Den Malern genügten
die wenigen Farben und das gleichmässige Kolorit ihrer Vor-
gänger nicht mehr. Die Musik begann schon in den letzten
Jahren der berühmten Tragiker der Sentimentalität zu dienen.
Weder der Inhalt noch die Sprache der Tragödien vermochte
mehr die Zuschauer zu begeistern, wenn nicht ein Virtuose der
Schauspielkunst ilu'e Nerven erregte. Das Virtuosentum ver-
schonte auch die Rednerbühne nicht: Die scheinbar naiven
(ienrescenen des Lysias hatten ihren Reiz verloren, Isaios neigte
sich bewusst oder im Gefolge des allgemeinen Geschmackes
zum Pathos, doch sind bei ihm nur die Anfänge vorhanden,
während Demosthenes die pathetische Richtung der Rhetorik
auf ihrem Höhepunkte darstellt. Von diesem Gesichtspunkte
aus ist die Analyse seiner Beredsamkeit vorzunehmen .
In der Sprache schränkt sich Demosthenes nicht auf
den begrenzten Wortvorrat eines epideiktischen Redners oder
eines Advokaten ein ; denn seine Reden repräsentieren nicht
eine einzige bestimmte Stilgattung, sondern Demosthenes schlägt
l)ald diesen bald jenen Ton an. Selbst der Wortschatz ist nach dem
Orte, wo die Rede vorzutragen war, und der Bedeutung der
Sache geregelt; daher steht er in den Privatprozessen der ge-
wöhnHchen Umgangssprache nahe ^). Gemeinsam ist aber allen
Gattungen die (freilich verschieden abgestufte) Kraft und
1) H. Sauppe epist. crit. ad God. Hermannum p. 49 und alle Neuereu.
2) Dionys. Dem. 56.
230 Siebentes Kapitel.
Wucht des Ausdrucks^). Demosthenes liebt kühne Metaphern,
die nicht selten aus dem Tierleben genommen sind ^), und
Personifikationen unbelebter Dinge. Namentlich hat er an den
derben Wörtern und Bildern der Volkssprache Vergnügen, über
welche der etwas zimperhche Aischines die Nase rümpfte^);
auch Schimpfwörter wie dr]piov oder MapYitT]?, sind nicht aus-
geschlossen. Superlative pflegt Demosthenes durch Beifügung
eines allgemeinen Genitivs (wie av^pwTrwv), Negationen durch
Umschreibungen (z. B. ooS' oxiow für ooSsv)'^) zu verstärken ;
knappen Ausdruck lässt er hauptsächlich dann zu, wenn die
Kürze schroff kHngt^). Gewöhnlich dagegen erhöht er das Ge-
wicht der Worte durch mannigfache Mittel, zu denen auch die
Litotes gehört^). Ebenso achtet der Redner, wenn er zwei oder
gar drei Synonyma verbindet, mehr auf den sonoren Klang
und die aus der Häufung entspringende Energie als auf die
subtilen Unterscheidungen der Sprach meister''). Durch seine
pathetischen Schwüre zog er den Spott der Komiker auf sich ^).
Trotz seines hochgespannten Patlios vermochte Demosthenes
fast immer klar und verständHch za bleiben. Dies verdient
um so mehr Bewunderung, als Demosthenes mit der Wort-
1) Ein Rhetor sagt richtig, Demosthenes strebe nach za irXYjxtixa tdiv
Övojj.äTU)V (Max. Plan. Walz V 516, 16 ff.).
2) Z. B. II 9 &ve/aixias, III 31 Ti^aoeuouoi )(£tpo-fjfl'Eic autoi? notoövtec
oder aus anderer Sphäre III 31 Ixveveop ia[x.evot (vom Bogen entlehnt). Ueber
die demosthenischen Bilder Joh. LuJiäk observationes rhetoricae in Derao-
sthenem, Petersburg 1878 p. 22 ff. und besonders J. Straub de tropis et
figuris quae inveniuntur in orationibus Deraosthenis et Ciceronis, Aschaffen-
burg 1883.
3) Dieser führt aus den nicht herausgegebenen Reden an: II 21 nrifaz
\6fiuv, äiroppä(J(Etv to 4>tXt7tirou aT6|j.a 6Xoa)(^o[v(}> ccßpo^ü), 40 v.ipv.iu'^, Tiaiitd-
Xy)}!.«, iiaXi}j,ßoXov, 41 am Ende tcBv bizb töv y|Xiov ftviJpwTtiov icävTtuv Seivötatov,
112 anoffiäq xöv enatvov; III 72 ftTcopp-fj^at ttjc elp'fjvrjc t-fjv oofxfjia^^iav, 73
xaxanxüecv, 160 MapYixvjc (von Alexander), 164 xptXJOXEpcuc, noch mehr 166.
Dinarch. 1, 82 e^^^-^^'v ohZk xöv exepov noSa.
4) Ueber ähnliche Ausdrücke Lieberkühn Jahns Archiv 19, 140 ff.
6) Dann tritt oft ein schneidendes Asyndeton ein (H. B o s s e de asyndeto
Demosthenico, Sondershausen 1875, Diss. v. Leipzig).
6) Schol. Dem. 604, 19 D z. B. 21, lll oüx Jiv ooxe xuiv epYjfjioxixcuv
ooxe xcüv (anöpiuv v.o\ii^-q.
7) Getadelt wurde z. B. 2, 1 8at|xovia xtvl xal dsia Ttavxdnaoiv eoixev
tbtp^toia. Vgl. Sigg Jahrbb. Suppl. 6, 418 f.
8) Antiphanes und Timoklcs bei Ps. Plut. 846 b; vgl. auch Aeschiu. 8,99.
Demosthenes. 231
Stellung sehr frei schaltet! Denn er benutzt sie zuvörderst
zur Hervorhebung bedeutungsvoller Worte, indem er sie ent-
weder gegen den Anfang oder das Ende des Satzes verschiebt
oder wenigstens durch Einschiebsel hervorhebt. Auch liebt der
Redner die kraftvolle Inversion der Relativsätze, welche das
nachgestellte Demonstrativ noch energischer macht; natürlich
kommt die Anaphora ausserordentlich oft vor, während der ge-
messene Isokrates sie selten anwendet.
Obgleich Demosthenes also die Wortstellung dem pathetischen
Grundton dienstbar machte, wurde dabei der Wohlklang nicht
vernachlässigt. Er vermied den durch Isokrates' Autorität ver-
pönten Zusammenstoss der Vokale so sehr als es einem prak-
tischen Redner möglich ist, damit das Ohr der Gebildeteren
nicht durch allzuhäufige Hiate verletzt würde '). Isokrates lehrte
ihn auch auf den Rhythmus achten: Weil er leicht erkannte,
dass das häufige Vorkommen langer Silben und die Einschrän-
kung der kurzen die Wucht des Ausdrucks unterstützen musste,
vermied er die Aufeinanderfolge von mehr als zwei kurzen
Silben, wenn auch nicht mit der Peinlichkeit, wie etwa Iso-
krates diese Regel ausgeführt hätte ^). Von diesem Redner
unterschied sich Demosthenes auch darin, dass er die Satzkola ^)
nicht mit der genauen Entsprechung, welche dem epideiktischen
Satzbau seinen eigentümlichen Charakter verleiht, baute, sondern
an die Stelle des äusseren Gleichgewichtes das innere des
Sinnesund des Ausdruckes setzte; ebenso unterscheidet sich ein
dekoratives Relief von einem mit selbständiger Darstellung ausge-
statteten. Dagegen achtete Demosthenes nicht weniger als Iso-
krates auf den musikalischen Rhythmus, von dem er wohl
wusste, wie sehr er die für Musik so empfänglichen Zuhörer
bezauberte; wie die italienischen Redner den Schluss der Satz-
teile gerne volltönend sprechen, so liess Demosthenes besonders
das Ende der Periode rhythmisch auskfingen ; er hebte nament-
1) S. 222 f.
2) Das Verdienst dieser bedeutenden Entdeckung gehört Blass S. 99 flf.;
gegen eine apodiktische Formulierung erhob Fr. Rühl Rhein. Mus. 34, 593 ff.
Einsprache, s. jetzt M. Bodendorff das rhythmische Gesetz des Demosthenes,
Königsberg 1880.
3) S. die genauen Untersuchungen von Blass S. 105 ff. und Verhandl.
der Philologenvers. v. Trier 1879 S. 170 ff.
232 Siebentes Boipitel,
lieh die Klauseln -ü und - u - -*). Doch auch sonst ver-
nahm das geübte Ohr der Alten in den demosthenischen Sätzen
musikalischen Klang ^).
Das leidenschaftUche Pathos vertrug sich natürlich nicht
mit der alten Sitte, welche den öffentlichen Rednern die
Gestikulation verbot^); zugleich hörte der Vortrag not-
wendig auf, natürlich und ungezwungen zu sein und wurde
einstudiert und theatralisch. Die Erzählungen , dass Demo-
stheues bei Schauspielern in die Lehre ging *), sind nicht ohne
Grund; denn auf das Zeitalter des grossen Tragiker war die
Periode der grossen Tragöden gefolgt. Die Manier dieser
Virtuosen übertrug nun Deraosthenes in die Volksversammlung.
Dass er Aischines, einem Mann aus der alten Schule, missfiel ''),
ist selbstverständlich; indes meinte auch Demetrios von Phaleron,
sein Vortrag sei etwas weichlich und entbehre der Würde **),
heisst es doch, dass Demosthenes manchmal Thränen vergoss. '')
Eine Anekdote kennzeichnet die hohe Schätzung, welche der
Redner dem Vortrag erwies ; er soll nämlich die oTröxpiot?
(Deklamation und Gestikulation) als den ersten, zweiten und
dritten Teil der Beredsamkeit bezeichnet haben. ^)
Air das bisher erwähnte wirkte zusammen, um die S s t v ö t y] ?,
das unwiderstehliche Pathos, hervorzubringen, das die Alten,
wenn sie von Demosthenes sprechen, gewöhnlich im Munde
führen. Es war vorzüglich geeignet, um im Gerichtssaal den
Gegner nicht bloss zu widerlegen, sondern zu vernichten, und
in der Volksversammlung hätte keine andere Stilart für die
Kriegsrufe und Anklagen eines Chauvinisten besser gepasst.
1) Quintilian. 9, 4, 73.
2) Gell. 10, 19, 2 quasi quaedara cantilena rhetorica. Vgl. Maxim.
Plaaud. Walz V 445, 14. 471, 14.
3) S. 78.
4) S. 171 A. 1.
5) 2, 49 TEpateuadfjLEvoc tooTiep siuifl-eiTcb o/Y)|xatt xal tptt|/ai; zy\v xE(faX"f)v.
3, 97 i3E|J.V0iC TCÖtVU TZpOtKO-ÜiV.
6) Philodem. rhet. 4, 16 f. notxLXov (isv aütöv 6icoxp'.X7]V xal irEp'.xxöv,
ot)X 6inXobv 8i o68i xaxä xiv Ysvvalov xpoirov, aXk' hq xb jiaXaxiuxspov xal xa-
netvöxepov oiroxptvovxa. Theophrast erzählt, dass za seiner Zeit die Epiloge
fast singend vorgetragen wurden (bei Plut. quaest. conv. 1, 5, 2).
7) Aeschin, 2, 85. 3, 207.
8) Zuerst Philodera. rhet. 4, 16 (anderes bei Gros zu dieser Stelle p. 121),
vgl. auch 4, 12 fl.
Demosthenes. 233
Doch selbst das Feuer eines Demosthenes würde auf die Dauer
seine Wirkung verfehlen, hcätte der Redner nicht zugleich die
Gabe einer wunderbaren Mannigfaltigkeit besessen^). Bald er-
zählt er anscheinend gelassen, bald stürmt er zu den äussersten
G-renzen der Leidenschaft empor, jetzt reizt er das Volk durch
einschneidende Worte zur Erbitterung gegen seine Gegner,
dann erweckt er mit unwiderstehlichen Bitten Rührung und
Mitleid, er erschüttert das Selbstgefühl des Volkes durch herbe
Vorwürfe und plötzlich besänftigt er es mit Schmeicheleien und
sanguinischen Hoffnungen. Der Rhetor Dionysios, der Demo-
sthenes vergeblich in eine seiner Schulkategorien einschachteln
will, muss am Ende ausrufen, Demosthenes sei ein wahrer
Proteus. Die Bezeichnung ist ungemein treffend und gerade
diese Eigenschaft erschwert eine Charakteristik des Demosthenes
ausserordentlich. Denn man mag von wichtigen Dingen, wie
der Disposition des Ganzen, absehend irgend eine Nebensache heraus-
greifen, z. B. die oben besprochenen Formeln, welche die Zeug-
nisse einleiten, nirgends kann eine bestimmte Schablone, nach
welcher Demosthenes arbeitete, festgestellt werden. Selbst das
Kleinste passt er dem Zusammenhang so an, dass ein harmo-
nisches Ganze entsteht. Die Gemeinplätze, welche Demosthenes
von älteren Rednern entlehnt ^), weiss er stets durch eine feine
Wendung individuell und demosthenisch zu gestalten. Wenn
er manche Gedanken in den Gerichtsreden wiederholt ^), so er-
scheinen sie so umgebildet, dass dem Redner kein Vorwurf
daraus erwächst. In den grösseren Reden bringt er häufig
denselben Gesichtspunkt humer wieder vor *), z. B. in der
Kranzrede den Grundgedanken seiner PoHtik, in der Gesandt-
<chaftsrede die Lösung der Gefangenen, doch stets mannigfaltig
und mit bewusster Absicht, sei es auch nur um den Zuhörern
etwas tief einzuprägen. Aus Detailuntersuchungen wird hervor-
1) Scholia in Demosth. p. 5(58, 14. 614, 9. Lucian. encom. 6.
2) Vgl. Theon icpoY. p. 63, 27 Sp.
3) Theon Tzpo-^. p. 63, 31 ff. Sp. Cli. G. Gersdorf Synopsis repetitoium
Demosthenis locorum, Altenburg 1833; H. Brougham Edinburgh Keview
1821 XXXVI. Octob. ; Westermaun quaestion. Demosthen. III. de litlbns
(|uas Demosthenes oravit ipse, Leipzig 1834 p. 97 — 136.
4) Nach den Scholiasten zu 18, 14. 196 erhob Demosthenes nicht weniger
als 72 Mal den Einwand der Verjährung.
234 Siebentes Kapitel.
gehen, wie Demostheues auch das Kleinste nicht vernachlässigte
und keine Mühe scheute. Man sollte beispielsweise denken,
die Anrede könne nicht der Gegenstand des Aufwandes be-
sonderer Kunst sein, nichtsdestoweniger hat sie Demosthenes
nicht gespart. Während er vor dem philokrateischen Frieden
die Anrede nach längerem Zwischenraum (5 — 12 Silben) setzte
und in der ersten Philippika sogar den Fehler beging, das
letzte Wort des Satzes durch sie zu isolieren, stellte er die
Formel später immer schon nach der zweiten oder dritten Silbe ;
dadurch bestätigt sich wieder, dass die 7. 17. und namentlich
die 13. Rede unecht sind^). Von der Rede über den Halonnes
welche sofort mit der Anrede beginnt, ist es noch klarer. Genau
dasselbe Gesetz gilt von den übrigen öffentlichen Reden ^); die
Ausnahme, welche die Leptinea macht, ist oben gerechtfertigt wor-
den. Die beiden Reden gegen Äristogeiton zeigen sich als unecht,
die eine, weil sie gegen Demosthenes' Brauch mit zwei Jamben
beginnt, die andere, weil der Fälscher einen langen Satz
vorausschickt.
Trotzdem dass also Demosthenes seine Reden mit unglaub-
Hcher Sorgfalt feilte, ist kaum eine äusserlich sichtbare Spur
der emsigen Arbeit zu finden ; im vollen Gegensatze zu Isokrates,
der ausdrückhch auf seine mühsamen Studien hinweist, strebt
unser Redner alles, was den Eindruck des Künstlichen erwecken
könnte, aus den Reden zu entfernen; eine Probe seines Be-
lebungstalentes finden wir an den Sentenzen, welche trotz ihrer
Häufigkeit^) so frisch und natürlich vorgetragen werden, dass
sie von jeder Pedanterie frei sind. Demosthenes geht aber
noch weiter; er will bei den Zuhörern den Glauben hervor-
rufen, dass er improvisiere. P]in signifikantes Beispiel mag
genügen : Die Redner fordern häufig den Gerichtsschreiber zur
Verlesung einer Urkunde auf und haben ihm vorher die Doku-
mente in der gehörigen Ordnung bereit gelegt. Weil dies nun
Demosthenes zu sehr an Vorbereitung zu erinnern scheint,
I
1) An XL ist dies auszusetzen, dass sie mit drei kurzen Silben beginnt,
während Demosthenes höchstens zwei (VI.) zulässt.
2) XXIII. hat zwar nur vier Silben Einleitung, aber dicise sind sämmtlich lang.
3) Job. Lundk observationes rhetoricae in Demosthenem, Petersburg
1878 p. 9 ff.
Demosthenes. 235
bringt er ein paar Mal die Fiktion vor, der Schreiber müsse
erst in dem Aktenbündel suchen ^).
Durch solche Züge verliert sein Pathos den Schein des
Gemachten und die Reden wirken wie ein unmittelbarer Erguss
der Gefühle. Selbst jetzt noch, wo die Stimme des Redners
verstummt ist und wir in der Lage der Rhodier sind, zu denen
Aischines angebhch ^) sagte: ,,Wenn ihr den Kerl erst gehört
hättet!", haben die Reden ihre gewaltige Wirkung auf die
Gemüter nicht verloren. Wie wäre es sonst möglich, dass sie
in der neueren Zeit noch als politische Flugschriften dienten?
Als die Türken Europa bedrohten, veröffentlichte der Kardinal
ßessarion die erste olynthische Rede mit zeitgemässen Glossen
luid als die Pleere Napoleons Oesterreich überschwemmten, gab
Niebuhr eine Bearbeitung der ersten Philippika heraus (Ham-
burg 1805).
Freilich wäre es ungerecht gegen die älteren Redner, wenn
man nicht hervorheben wollte, dass diese Vorzüge, wie reiche
natürliche Anlage, unerkünstelte Naivität oder majestätische
Würde, besassen, welche Demosthenes mangelten; in seiner Art
berührte er selbst schon die äusserste Grenze des Erlaubten
und es war überhaupt nur einem solchen Talente möglich,
ungestraft so weit zu gehen.
Demosthenes kann unbedenlkich als der griechische Prosaiker
bezeichnet werden, der zu allen Zeiten nicht bloss am meisten
bewundert, sondern auch am fleissigsten gelesen und studiert
wurde. Wenn er öffentlich auftrat, strömten Zuhörer aus ganz
Griechenland /Aisammen, um den hinreissendsten Redner der
Zeit zu hören. Während er noch lebte, galten seine Reden
bereits Advokaten und Staatsmännern für Vorbilder; Deinarchos
ahmte ihn trotz der Verschiedenheit seiner Parteistellung in
so hohem Grade nach^;, dass er davon einen Spottnamen
(Arj[Aoa^£vr](: 6 xf^lö-tvoc) erhielt und gar manche Gerichtsrede,
die unter die echten Werke geriet, weist auf dasselbe Muster.
Andere unechte Reden lehren, welche Bedeutung das Demosthenes-
1) Fox die Kranzrede des Demosthenes S. 335. In dieselbe Rubrik ge-
hört Tooxl Y^P «" fitxpoü TiapYjX'O'S jxot tlntlv 21, 110.
2) Plin. epist. 2, 3, 10 xt oe, eI auxoö xoö •6"f)pioi) Yjxoüaaxe;
3) Westermanu CLuaestiones Demosthenicae III, 80 n. 118 ff.
236 Siebentes Kapitel.
Studium in den Rhetorenschulen der folgenden Generationen
hatte ; denn schon damals war es wie später ^) üblich Dekla-
mationen entweder über demosthenische Themata oder ungefähr
in der Manier des Redners zu schmieden, ohne dass man dabei
an Fälschung dachte. Wenn er auch bei den Asianern in den
Hintergrund trat, empfahlen doch die Pliilosophen (wie Panaitios)
die Reden wegen ihrer Gesinnungstüchtigkeit ^) und die Vater-
stadt blieb ihrem berühmten Bürger treu ^). Als Cicero nach
Athen kam, fand er unter den dortigen Professoren begeisterte
Verehrer des Demosthenes ; der römische Redner selbst bekehrte
sich von den Asianern zu ihm und übersetzte die Kranzrede.
Bald darauf verlieh die gemässigte Richtung der griechischen
Renaissance Demosthenes den ersten Platz unter den klassischen
Rednern und diesen hat er von nun an bei dem grossen
Publikum behauptet. Wie Homer 7roiY]T7j? hiess, so genügte
6 pyjTwp um Demosthenes zu meinen *) Schwülstigeren hiess
er ,, Abbild des Golles der Beredsamkeit" ^). Mit Plato war
der Redner die Quelle der gebildeten Sprache ^). Kein anderer
Schriftsteller wurde daher so oft citiert, so oft nachgeahmt;").
Unter Lucians Schriften steht ein Enkomion; Libanios ver-
fasste eine Apologie und schrieb mehrere Deklamationen in
sehiem Namen ^). Die Begeisterung stieg so hoch, dass Antonius
Polemon unter Hadrian im pergamenischen Asklepiosterai)el
ein ehernes Bild des Demosthenes aufstellte^) und Salustius,
1) Eine Probe bei Sopatros Walz rhet. 8, 19 ff.
2) Plut. Dem. 13. Aristoteles hingegen hatte seine Reden ignoriert und
Theophrast den merkwürdigen Ausspruch gethan, Demosthenes und Athen
seien einander wert, aber einen Demades verdiene die Stadt nicht (er sei als
^•f]Tüjp 6j:ep TY]v iroXtv Plut. 10).
3) Cicero de orat. 1, 19, 88, vgl. orator 30, 105.
4) 'Epftoö Kofloo xoTCoc (itapa8EiY|J.a), vgl. Graux Revue de philologie
n. 8. T 65 A. 19.
6) Vgl. Phrynichos p. 166.
6) Auf diesem Gebiete ist bisher wenig geleistet, vgl. z. B. verschiedenes
bei Dobree adversaria I 347 ff., Beruhardy zu Suidas v. 'lYYP<>u<3^a und
OiXittavo?, Gebet Mnemosyn. 1877 p. 1 ff., Silv. Dolega de Sallustio imi-
tatore ThucydidiH Demostheuis aliorumque, Breslau 1871, Karl Teuber
quaestiones Himeriauae, Berlin 1882 cap. 2. Über die Benützung der Pro-
ömien s. Lucian. Iui)it. tragoe<l. 14 extr.
7) Er scheint zur Ehre Demosthenes genannt worden zu sein, vgl. Suidas
V. 8i({jd> cod. A.
8) PhüoBtr. Vit. soph. 1, 22.
Demostbenes. 237
ein Zeitgenosse des Proklos, alle öffentlichen Reden auswendig
lernte ^).
Was die gelehrte Literatur anlangt, welche sich an Demo-
sthenes knüpft, so gilt der allgemeine Satz, dass sich die älteren
Philologen mit den Prosaikern überhaupt wenig abgaben. Kalli-
machos registrierte die Reden des Demosthenes, weil er eben
musste, so dass seine Arbeit kritisch wertlos war ^). Der einzige
Grammatiker, der einen Kommentar zu den zehn Rednern
schrieb, dürfte der unermüdliche Didymos sein^). Desto emsiger
waren die Rhetoren um ihren Heros bemüht. Die ältesten
Arbeiten waren wohl zugleich die bedeutendsten: Der Rhetor
Dionysios von Halikarnass, welcher Demosthenes in den Reden
seines Geschichtswerkes nacheiferte, machte sich mit grösserem
Glücke in mehreren Schriften ^) um die Analyse des Stiles, die
Ausscheidung der unechten Reden und die Festsetzung der
Zeit verdient; doch dürfen wir nicht vergessen, dass er ausser
der Chronik des Philochoros keine alten Quellen von Wert be-
nützte, sondern meist auf die eigene Kombinationsgabe ange-
wiesen war. Seine Annahmen bestritt in verschiedenen Punkten
Gaecilius von Kaiakte, welcher neben mehreren rhetorischen
Abhandlungen eine Untersuchung über die Echtheit der Reden
und das älteste rhetorische Wörterbuch, jedenfalls aus den zehn
Rednern geschöpft, verfasste. Diese beiden bedeutenden Kritiker
eröffnen eine lan,G,e Reihe von Gelehrten, welche während der
Kaiserzeit über Demosthenes schrieben. In loserem Zusammen-
hange stehen Lexika, wie das Harpokrations ; der Atticist Vestinos
fertigte zugleich aus Demosthenes Excerpte an^). Dagegen gab
es von Tiberios eine Monographie über die demosthenischen
Figuren ^) ; durch ein Büchlein des Sopatros ^) erfahren wir,
1) Damasc. vit. Isidori 250.
2) Eehdantz bei Schäfer III B 317 ff. Schon deshalb ist es bedenklich,
wegen Harpocr. v. ax-fj (Ygl. Blass die griech. Bereds. in dem Zeiträume
von Alexander bis auf Aug. S. 205 A. 5) ihm einen Kommentar beizulegen.
3) Bei Harpokration benützt.
4) Fr. Blass de Dionysii Halic. scriptis rhetoricis p. 13 ff.
5) 'ExXoY*»] Iv. Ta>v Ay)[j.og^Ivou? ßtßXituv Suidas.
6) Ilspi T(Juv Ttapa ATj[jioaö'sv£t ajcrjfxdtTtuv (hrsg. von Boissonade, London
1815; Walz rhetores Graeci VIII 520 ff.; Spengel rhet. III p. 59 ff.), zum
Teil aus Apsines geschöpft; da er öfter Caecilius anführt, hält Spengel p. VII
diesen für die Quelle.
7) MstaßoXal yal jj-ETanoiTjaeic lüJv AYjjxoG'&evtxwv ^topttuv Walz rhet. VII
1294, 7. Vm 622, 8.
238 Siebentes Kapitel.
dass man in den Schulen ausgewählte Stellen des Demosthenes
variierte. Alles übrige fällt unter den dehnbaren Begriff u;ropY]-
{jLata „Studien", welcher in der Regel exegetische Kommentare
bezeichnet. Höheren Wert darf man den Monographien über
einzelne Reden beimessen; so schrieb Apollonides von Nikaia
unterTiberius über die Rede von derTruggesandtschaft,Hermogenes
über die Anklage des Androtion, Longinos behandelte die Reden
gegen Leptines und Meidias ^). Auf Ueberreste ähnlicher Unter-
suchungen werden wir bei den Schollen zurückkommen. Die
im übrigen von den Soholien citierten^) oder sonst erwähnten
Erklärer des Demosthenes ^) machen eine grosse Zahl aus, aber
schon Hermogenes klagt über die ,,Jamraermenschen" (IdXsjtoi),
welche sich für Erklärer ausgeben und sogar Bücher, die in
den Rhetorenschulen nur Unheil anrichten, zu schreiben wagen.
Aus den allerdings nicht immer Gutes enthaltenden Arbeiten
dieser Erklärer, unter denen man die meisten der bekannteren
Rhetoren findet, erwuchsen die in zahlreichen Handschriften
überlieferten Scholien*), deren Hauptbestand nach der Ueber-
lieferung durch Zosimos von Askalon zusammengestellt wurde ^).
1) Ammon. v. o(pX(uv ; Hermogen. n. 18. 1, 12 p. 333, 3; Phot. cod. 265
p, 492 a 29 ; Suidas irspl xoü xata «I>£:8[oü codd.),
2) Dindorf Scholia in Dem. VIII. p. XVI ff. Allgemeine Verweisuugen
auf die Erklärer verzeichnet er IX. p, 834.
3) Aspasios von Byblos (Phot. cod. 265, Schol. und Schol. Aeschiu.),
Basileios (Joh. Sicel. in Hermog. Walz VI 435, 18), = Basilikos (Schol. Her.
mog. Walz YII 878, 16) Diodoros (Suidas), Dionysios (Joh. Sicel. a. O.), Gym-
nasios (Suidas unter Konstantin), Heron (Suidas), Menandros v. Laodikeia
(Bursian der Rhetor Menander S. 16 f.), Miuukianos (Joh. Sicel. a. O.),
Nnmenios (Suidas, Schol.). PoUion (Suidas), Salustios (Suidas), Aelius Theou
(Suidas), Zeuou (Schol. Hermog. VII a. O. Der konfuse Suidas verwechselte
ihn mit dem Philosophen von Kition) Polyainos (Excerpta Florent. ex Stob. 45)
urteilte wohl nur gelegentlich über Demosthenes.
4) Schollen wurden zuerst in der Aldina von 1503 (zu 18 Reden), dann Inder
Pariser Ausgabe von 1570 bekannt gemacht. Die Scholieu von zwei Münchner
Handschriften veröffentlichte Reiske (revidiert in Sauppes Oratores Attiei II
p. 48 ff. und Müller II.) Die vollständigste Ausgabe ist von W. Dindorf im 8.
nnd 9. Bande der Oxforder Ausgabe veranstaltet. Eine Handschrift von Patmos
brachte neue Schollen (hrsg. von J. Sakellion Bulletin de correspond. hellen. I
1877 p. 1 — 16. 137—155, vgl. C. Contos ib. 177—81, Riemauu 182—92, Th.
Oomperz Rhein. Mus. 32 477 f, Blass Bursiaus .Jahresber. 1878 1 117 ff.
Die lexikalisch-antiquarischen Bemerkungen behandeln W. Schunck de scholi-
orum in Demosthenisoratione 18. 19. 21. fontibus disputatio critica, Coburg 1879
und Emil Wan gri n quaestt. de scholiorum Demosthenic. fontibus I. Halle 1883.
5) Er wird im l'arisiuus Y und einer vatikanischen Handschrift (Dindorf
I
Demosthenes. 239
Sie beziehen sich meistens auf das Rhetorische und Sprachliche,
daneben kommen manche historische Notizen und sehr wenige
kritische Bemerkungen vor. Die Privatreden wurden kaum
beachtet. Was die Schohen an gelehrten Notizen bieten —
und diese sind leider sehr dünn gesät — , scheint auf Mono-
graphien zurückzugehen. Diese Klasse von Erklärungsschriften
ist neuerdings durch ein die Aristokratea betreffendes Fragment,
welches lexikalisch angelegt ist, bekannt geworden ^).
Eine Erwähnung verdienen die das Verständnis erleich-
ternden Inhaltsangaben der einzelnen Reden. Schon
Alexander Numeniu (unter Hadrian) und Poseidonios verfertigten
solche. Die erhaltenen, welche meist von Libanios herrühren, sind
mit Vorsicht zu benützen, da er wie wir bei seiner Arbeit auf
den demosthenischen Text und Schollen angewiesen war. Eine
allgemeine Einleitung trägt den Namen eines Ulpianos, dessen
Zeit nicht sicher bestimmbar ist ^). In Handschriften mögen
noch manches Glossar und ähnliche Produkte byzantinischer
Schulen liegen ^).
Ich glaube diesen verschiedenen Hilfsmitteln auch eine
eigentümUche Art von Interpolation beifügen zu dürfen. Während.
p. XXI) als Verfasser genannt, womit die Citate p. 30, 22. 33. 23. 676, 28.
742, 23 übereinstimmen. Zu beachten ist auch, dass Schol. Aeschin p. 28,
3 S. (Aspasios?) und Schol. Aristid. p. 44, 25 (Sopatros?) auf ihre Demosthenes-
scholien verweisen. W. Nitsche der Rhetor Menandros und die Schollen zu
Demostbenes, Berlin 1883 schreibt einen grossen Teil der Schollen Menandros
zu d. h. dem Verfasser der zweiten Schrift ^cpl STCtSeixxtx&v, welchem Doxo-
patris jenen Namen gibt; ein eingehenderer Beweis ist abzuwarten. Jedenfalls
sind die Scholien nach den Handschriften zu scheiden und spätgriechische
Ausdrücke, die in unseren mangelhaften Wörterbüchern fehlen, nicht als in-
dividuelle Eigentümlichkeiten zu bezeichnen, z. B. ist oi xpeiTTovei; eine
Wendung, die ich zufällig bei Plut. Cimon am Ende und Michael Psellos
(Sathas |jLEaaitov. ßtßX. IV. p. 190 Z. 8 v. u. p. 232 Z. 14) im Singular finde.
1) In eioem Fayümer Papyrusstücke der Berliner Bibliothek (B 1 a s s
Hermes 17, 148 ff.). Ebenso sind offenbar die Bemerkungen über die vierte
Philippika in TCV aus der Monographie eines sehr hochmütigen Verfassers
(vgl. p. 192, 14. 193, 28. 195, 22. 203, 18) excerpiert, wie auch die text-
kritischen Bemerkungen der Midiana.
2) Ulpianos von Antiochia könnte dieser nicht sein, wenn Zenon, den er
erwähnt, wirklich im vierten Jahrhundert lebte (Dindorf p. XI), aber letzterer
ist vielleicht der unter Commodus lebende Rhetor (Philostr. vit. soph. 2, 24,
vgl. Bernhardy Suidas II 1826). Seiner Einleitung gleichen die Vor-
bemerkungen zur 10.< 11., 13.— 17. Rede.
3) Bandini, catal. codd. Graec. Laur. II 419; Fabricius-Harlesbibl, Graec.VI 245,
240 Siebentes Kapitel.
nämlich die Redner bei Herausgabe ihrer Werke, die von ihnen
verlesenen Urkunden, welche ein unorganisches Element in
dem Kunstwerke gewesen wären, wegliessen und den Leser
durch ihre eigenen Worte über den Zusammenhang aufklärten,
finden sich in den viel gelesenen Reden nicht bloss die Lem-
mata wie Maptopta, sondern zahlreiche Dekrete, Zeugnisse, Ge-
setze und ähnliche Urkunden überhefert. Nachdem zuerst
Contarini ^), dann Brückner ^) gegen die Echtheit derselben Ver- [
dacht ausgesprochen hatten , verwarf Droysen ^) sämmtliche
Dokumente der Kranzrede. Aus der noch immer sich fort-
spinnenden Polemik, welche dieser weittragenden Aufstellung ■■
folgte, ist nur dieses Resultat mit voller Sicherheit zu ziehen, ^
dass die Dekrete der Kranzrede unecht und wahrscheinlich von
einem kleinasiatischen Rhetor angefertigt sind^); ebenso ist das
Epigramm derselben Rede (§ 289) eingeschoben und zwar irrtüm
lich^). Hingegen haben die epigraphischen Studien das abfällige
Urteil, welches man früher über die gerichtlichen Urkunden
fällte^), sehr verändert'); ein allgemeines Urteil kann nicht
1) Variae lectiones, Venedig 1604.
2) König Philipp und die hellenisclien Staaten , Göttingen 1807, Anhang
V S. 364 ff.
3) Die Urkunden in Demosthenes' Rede vom Kranz, Ztsch. f. Alterthiimsw.
1839 Nr. 68—75. 88—90. 100—103. 114—120 (auch separat), mit Nachtrag
1845 Nr. 2—4.
4) Fr. Franke de decretis Amphictyonum quae apud Demosthenem
reperiuntur, Lfdpz. 1844; Joh. Jak. Wortmann de decretis in Demosthenis
Aeschinea exstantibus Atticis libelloque Aeschinis, Marburg 1877 (wo der
kleinasiatische Ursprung nachzuweisen versucht wird) ; Max Schweitzer d
decretis in Demosthenis de corona orat. § 115. 116, Halle 1877; vgl. auch
Ahrens de dialecto Dorica p. 21 und Hultsch griechische und römische
Metrologie S. * 130 A. 1. Gegen Droysen traten Böhuecke und Vömel Rhein.
Mus. 1, 636 flf., die Aechtheit der Urkunden in des Demosthenes Rede vom
Kranze vertheidigt gegen Herrn Prof. Droysen, Frankfurt 1841, 42, 44; Nach-
trag zu der Abhandlung über die Aechth. der Urk. bei Dem., Frankfurt 1845 auf.
6) Literatur bei Bergk poetae lyr. Gr. II'' 332 ff., dazu Clenim Jahrbb.
f. Phil. 127, 15 ff. Saueressig de epigrammate sepulcrali in Atheni<'ns<'s
apud Chaeroneam interfectos, Oberehnheim 1882.
6) A. Westermann de litis iustrumentis quae exstant in Demosthenis
oratione in Midium, Leipz, 1844, Untersuchungen über die in die attischen
Redner eingelegten Urkunden, Abhaudl. der sächs. Ges. der Wiss. I 1 ff.,
comm. de jurisjurandi judicum Athen, formula quae exstat in Demosthenis
orat. in Timocratem p. L— III. Leipzig 1858 — 59.
7) U. Köhler Hermes 2, 27 f. Carl Curtius Philol. 26, 190 11.,
Demosthenes. 241
ausgesprochen werden, vielmehr müssen die Urkunden jeder
einzehien Rede für sich untersucht und geprüft werden und
vielleiclit wird sicli ein Unterschied zwischen Demosthenes und
seinen anonymen Zeitgenossen ergeben, insofern die letzteren
weniger delikat in der Aufnahme fremder Worte gewesen sein
dürften. Ferner müssen die äusseren Zeugnisse, vornehmlich
die Schollen und die stichometrischen Angaben, herbeigezogen
werden ^).
Da der Text der Reden nach dem oben gesagten den
Rhetoren anvertraut war und von den zünftigen Kritikern ver-
nachlässigt wurde, ist die Ueberlieferung nicht sehr gesichert.
Schon der Umstand, das Demosthenes manche Reden nicht
selbst herausgab^), kann der Zuverlässigkeit des Textes nur
schädlich gewesen sein; in den Rhetorenschulen vollends, wo
man die Theorie an Demosthenes einübte, indem z. B. demo-
sthenische Sätze variiert wurden (S. 237 f.), drangen Interpol a-
Philippi Jahrbb. f. Phil. 105, 577 flf. uiid adnotatiunculae ad legum
formulas quae in Demosthenis Midiaiia exstant nonnullae, Pr. der Univ.
Giessen 1878, Konrad Seeliger das Erbschaftsgesetz in Demosthenes'
Makartatea §51, Rhein. Mus. 31, 176 ff. und PhUol. 43, 417 ff., H. Bür-
luann die attische Intestaterbfolge (über dieselbe Urkunde), Rhein. Mus. 32,
354 ff., Paul Foucart snr Tauthenticite de la loi d'Evegoros cit^e dans la
Midienne, Revue de philol. n. s. 1 (1877) p. 168 fl., Wachholtz de
litis instrumentis in Dem. quae fertur oratione in Macartatum, Kiel 1878 ;
Joh. Ernst Kirchner de litis instrumentis quae exstant in Demosthenis quae
fertur in Lacritum et priore ad versus Stephanum oratione, Halle 1883, dazu
Rhein. Mus. 40, 377 ff. und (über die Zeugenaussagen der Neairarede) Rhein.
MuR. 40, 377 ff. geht in der Verteidigung von einem falschen Prinzipe aus;
C. Wachsmuth Rhein. Mus. 40, 301 ff", zeigt im Gegenteil, dass XXXV 10 ff.
unecht sind. O. Stak er de litis instrumentis quae exstant in Demosthenis
quae feruntur posteriore adversus Stephanum et adversus Neaeram orationibus,
Halle 1885; Ditten berger Hermes 20, 5 A. 1.
1) Auf das Epigramm Hai. 40 und die Gesetze der Timokratea beziehen
sich gute Schollen, während die Urkunden der Midiana übergangen werden
(Christ die Atticusausgabe des Demosthenes S. 196 ff.). Auch bei der
Stichometrie sind diese, sowie die der beiden Reden gegen Aischines nicht
mitgerechnet (Christ a. O. S. 192 ff.). Das Gesetz in der Aristokratea
citiert Harpokration v. •na^E/.tuv. Plutarch Dem. 24 benützte die Urkunde in
§ 54 der Kranzrede; ob sie in Ciceros Handschrift (orat. 19) nicht stand, ist
bei seiner Flüchtigkeit nicht zu entscheiden.
2) U. V. Wilamowitz homerische Untersuchungen S. 309 schreibt die
Herausgabe überhaupt dem Neffen Demochares zu.
Sittl, Geschichte der griecliischen Literatur. U. 1^
2^2 Siebentes Slapitel.
ionen verschiedenen Ursprunges und Umfanges ein^), hie und
da passte man vielleicht auch den Text den jeweihg geltenden
Regeln an. Leider schweigen die Schollen gewöhnlich über die
kritisch unsicheren Stellen ; nur zur Midiaua erwähnen sie einen
alten Text und eine Vulgata ^). Man schätzte besonders
Exemplare des sorgfältigen Kalligraphen Attikos, auf welche
zu Lukians Zeit, ob sie auch von Motten zerfressen waren,
von den Bibliophilen gefahndet wurde ^).
Die erhaltenen Handschriften scheinen zum Teil auf einen
gemeinsamen Archetypus zurückzugehen, weil das Ende der
Rede gegen Zenothemis in allen fehlt^) ; die Rücksicht auf den
Schulgebrauch bewirkte, dass zwei durch Hermogenes bekannte
obscöne Stellen fehlen^). Unter unseren Codices ragt die mit
S bezeichnete Pariser Handschrift aus dem zehnten Jahrhundert
hervor, welche auch für die Erkenntnis der Interpolationen
gute Dienste leistet"); Reiske hatte, weil er diese Handschrift
nicht kannte, in erster Linie eine Münchner Handschrift, den
Augustanus A, benützt''). Unter den übrigen Codices*)
4
i
1) Carl Meutzner de interpolationis apnd Demosthenem obviae vestigiis,
Plauen 1871. Mehrere Interpolationen unserer Handschriflen werden durch
die testinionia veterum aufgedeckt (H. Usener Rhein. Mns. 25, 597 ff.
Fr. Blass Khein. Mus. 38, 612 ff.).
2) 'H ap-^aia p. f>25, 13; 4) 87]}j.a)8fjc p. 618,2. Eine Variante wird noch
p. 149, 15 angeführt.
3) Lucian. adv. indoct. 2, vgl. 24. Aus dieser Stelle ergibt sich, dass
Attikos nicht ein Buchhändler (wie Ciceros Freund) war. Harpokration citiert
die 'Axttxiavdc v. exnoXe}i.ü)aai und votuxpapix« ; v. dveXoüoa führt er eine
doppelte Lesart an.
4) Vgl. liehdantz Jahrbb. f. Phil. 1868 S. 464 f.
5) II. i3. 2, 3 p. 353 (vgl. Z. 23).
6) Den Wert erkannte zuerst Dobree ; Bekker benützte sie in der Oxforder
Ausgabe von 1823 und der Leipziger von 1854 (vgl. Monatsberichte der
preuss. Akad. 1864 S. 252 ff.). Eine Kollation Dübners verwertete W. Diu-
dorf Oxford 1846 (revidiert in der Vorrede der Leipziger Ausgabe 1865). Die
beste Kollation liegt für die ersten zwanzig Reden in Vöniels contiones, Halle
1856, Leipz. 1862, 1866 vor. Dieser Handschrift steht eine Florentiner A
nahe, s. Ferd. Schultz de codicibus quibusdam Demosthenicis ad or. Philip-
picam IIL nondum adhibitis , Berlin 1860 (bei Vöniel zur 0., 8., 18.— 20.
kollationiert).
7; A. Spengel über die Handschrift codex Augustanus L Monac. des
Demosthenes, München 1872 (Kollation der Staatsreden).
8) AoBser Yömelfl contiones, dessen Kollationen ungenau sind, vgl. Reh'
Demostlienes. 243
verdienen die Handschrift F und der angeblich daraus ab-
schriebene Bavaricus ß besondere Beachtung, weil ihr Arche-
typus nach der Subscription aus zwei Attikosexemplaren
korrigiert wurde ^); ebenso enthalten sie gemeinsam mit E An-
gaben über "die Zeilenzahl^). Hie und da geben kritische
Zeichen von der Thätigkeit der Kritiker Kunde ^). Für die
Privatreden ist noch fast alles zu thun und selbst für die übrigen
Reden ist der Apparat recht mangelhaft.
Ein gewisses Interesse gebührt auch der Reihenfolge
der Reden, welche in den Handschriften wechselt*). Als fest-
stehende Gruppen existierten die oofi-ßooXsoxtxoi, die dri\L6oioi und
die iStwTtxoi, sodann die imdeixTi-Koi und endlich die Proömien
sammt den Briefen. Bei der ersten Gruppe schied man wieder
die ^iki'KTziv.oi aus und stellte sie chronologisch geordnet und
mit fortlaufenden Nummern versehen an die Spitze^); hierauf
folgten die übrigen *'). Die zweite Abteilung wird regelmässig
mit den unechten Reden XXV. XXVI. beschlossen, während
die Ordnung der übrigen schwankt. In S gehört zu ihr mit
dantz Jahrbb. f. Phil. 1857 S. 813 ff. 1858 S. 456 ff. 559 ff.; Th. H|eyse
Beschreibung der griech. Codices des Demosthenes in Rom, Frankfurt a. M.
1838; F. A. Faley on a uncollationed Ms. of Demosthenes of saec. XIV.,
Journal of philology V (1874) p. 28 ff.; Geron. Vitelli Pubblicazioni del r.
istituto degli studi superiori, sez. di filos. e filol. II. disp. IIa. Florenz 1876
(Kollation von 10 Handschriften der Laurentiana für die Halonnesrede).
1) Atwp'&cu'cai öcjrö Süo 'Axxtxiavoiv.
2) W. Christ die Atticusausgabe des Demosthenes, Abh. der bayer.
Akad. 1882 (S. 172 ff. führt er sie auf die Attikosexemplare zurück); Vitelli
Museo Italiano I p. 172 ff.
3) Christ a. O. S. 177 ff. (besonders in der Midiana) ; H. Weil Melanges
Graux p. 13 ff. Die Schollen erwähnen ausserhalb der Midiana (p. 587, 25.
590, 29) bloss p. 126, 3 7iapdaYj[j.a.
4) Weil harangues p. XXXVIH ff. ; Blass S. 48ff.; Christ a. O.
S. 213 ff.
5) Über die Zählung vgl. die Subskription in S unter der Halonnesrede,
Walz rhet. V 448, 18. VI 38, Excerpt. Flor, ex Stob. 69, die Citate beiSuidasu. a.
Die Ordnung unserer Ausgaben ist aus B, womit Harpokration und andere
übereinstimmen (BÖhnecke Forschungen I 232); S ordnet 5. — 8.: 8, 7, 5, 6 ;
A stellt 4 an den Anfang und vertauscht die beiden letzten. Die übrigen
ordnen die Eeden ganz äusserlich 1. — 4., 6., 9. — 11., 8, 7., 5.
6) Daher steht argum. XIII. 6 Xo-^oi; ooxoc oüxett ^tXtuTrixo? eaxt. In S
gerieten sie an das Ende der ganzen Handschrift, wobei der Schluss von XVII.
verloren ging. Aehnlich stehen in den Schollen der Aldina 13. — 17. hinter 18.— 24.
16*
244 Siebentes Kapitel.
vollem Rechte LIX. und Libanios fügt ebenso richtig LVII.
und LVIII. bei. Hinsichtlich der Privatreden befolgt S ein
verständiges Prinzip, indem die Tzapa.'^pcf.^iv.oi (in welche die
Reden gegen Stephanos eingeschoben sind) und die sTrtTpoTctxoi
gesonderte Gruppen bilden ^).
An Gesammtau sgaben sind aus dem sechzehnten Jahr-
hunderte die Aldina von 1504 (editio princeps fol, verbessert
1527) und die Venediger Ausgabe des Jo. Bern. Felicianus
1543 (3 Bde. Oktav) zu nennen; grundlegend aber wurde für
die folgenden Jahrhunderte die mit variae lectiones und einigen
Noten ausgestattete Recension des Hieronymus Wolf, die zu-
erst wahrscheinlich 1549, verbessert 1553, zuletzt 1572 (in sechs
Foliofascikeln) zu Basel erschien. Von den folgenden verdient
vor Reiske nur die Ausgabe von Guill. Morel, welche Dion.
Lambin 1570 zu Paris abschloss, Erwähnung. Das Studium
des Demosthenes war lange Zeit durch den Ciceronianismus
unterdrückt; erst die Blüte der französischen Kanzelberedsamkeit
führte Demosthenes begeisterte Freunde, unter denen F^nelon
hervorragt, zu, ohne die wissenschaftliche Bearbeitung zu fördern.
Eine imposante Leistung ist die Ausgabe Job. Jak. Reiskes,
welche den ersten Teil seiner oratores Graeci (Leipzig
1770) bildete und von Gottfr, Heinr. Schäfer (London
1823 — 26, 4 Bde.) revidiert und erweitert wurde. Auger brachte
Paris 1790 einen noch umfänglicheren Apparat zusammen.
Den Wust der alten Variantensammlungen entfernte die Aus-
gabe L Bekkers (Oratores Attici IV. V.), wo der Codex S zum
Führer erwählt wurde ^). Auf dieser Bearbeitung ruhen alle
neueren Ausgaben^). Für die Staatsreden hat J. Th. Vömel
(Demosthenis contiones, Halle 1856)*), den reichsten Apparat
1) Mit dieser Ordnung stimmt so ziemlich ein von Rud. Scholl Henues 3,
276 f. publiziertes Verzeichnis, welches am Anfange 59. und am Ende 13,
14, 16, 16 beifügt; die 17. Rede, von veelcher S bloss ein Stück hat, fehlt.
Über die Ordnung des Libanios belehren BF und ein Parisinus (Weil haran-
gues p. XXXVIII, 3), wo die Argumente zusammengestellt sind.
2) Noch konsequenter führte er dies in seiner letzten Ausgabe Leipzig
1864 f. durch.
3) Ich nenne bloss Baiter-Sanppe (Oratores Attici 1841), Job. Vömel
Paris 1843—46, 2 Bde. und 1868, Wilh, Dindorf Oxford 1846—51, 9 Bde.
(1.— 4. Text, 8. 9. Schollen) und Leipzig » 1865 3 Bde.
4) Ferner de Corona et de falsa legatione Leipzig 1862,adversus Leptinem 1866.
Demosthenes. 245
nach neuen aber ungenügenden Kollationen zusammengebracht ;
zu den Privatreden fehlt eine kritische Ausgabe.
Die Erklärung der demosthenischeu Reden beginnt mit der
Ausgabe Wolfs ; auch Job. Taylor (in der Ausgabe von Canter-
bury III. 1748) und Cesarotti (in seiner Uebersetzung, Bergamo
1781 — 82) verdienen genannt zu werden. Jacques de Tourreil
(preface historique seiner Uebersetzung, Paris 1691 — 1721,
und Lucchesini, welcher Rom 1712 dreizehn Staatsreden heraus-
gab, bahnten die historische Erläuterung an. Die ältere Periode
schliesst mit Reiskes Kommentar ab ^); Dindorf fasste im 5. — 7.
Bande der Oxford er Ausgabe die früheren Erklärer zusammen.
Eine kommentierte Ausgabe des Demosthenes fehlt in Deutsch-
land noch; dagegen weiss Henri Weil in ArjiJioaO-svooc: al Stj^xt]-
Yopiau Les harangues (Paris 1873. ^1881) und Les plaidoyers
politiques (I. Paris 1877. ^1883: Leptiue, Midias, Ambassade,
Couronne) Kritik und exakte, geschmackvolle Erklärung glück-
lich zu verbinden ^). Desto mehr ist für die Erklärung einzelner
Reden geschehen; ich erwähne: Orationes selectae comment.
iiistr. ab J. H. Bremi, 2 Hefte, Gotha 1829—34, 2. A. von
Sauppe I. 1845; Ausgewählte Reden, erklärt von Ant. Wester-
mann (neu von Emil Müller und Rosenberg), Berlin I ^1883
1.— 6. 8. 9. Rede, II. ^874 18. 20., UI. ^865 23. 54. 57; Ausge-
wählte Reden, erklärt von C. Rehdantz I. ^ (von Fr. Blass) 1. — 4.
IL* 5. — 9. und Indices (für das Verständnis der rhetorischen
Kunst sehr wichtig), auch select private orations by F. A.
Paley and J. E. Sandys, I. II. London 1875, dann die
Aristokratea von Ernst W. Weber, Jena 1845, Leptinea von F.
A. Wolf, Halle 1789, hrsg. von Bremi, Zürich 1831, Midiana
von Phil. Buttmann, Beriin ^ 1864 und E. Fennell, Lond. 1883
und against Androtion and against Timocrates, by W. Whayte,
Cambridge 1882.
1) Am bequemsten in Gottfr. Heinr. Schäfer apparatus criticus et exe-
geticus ad Demosthenem, Leipzig 1824—33, 6 Bde. Dobree adversaria I
627 ff. gibt Nachträge zu Reiskes wertvollem index Graecitatis.
2) Separat erschienen Les quatre Philippiques 1880 und Discours de la
couronne 1884.
Achtes Kapitel.
Die Zeitgenossen des Demosthenes.
Aischines ; Hypereides ; Lykurgos ; Polyeuktos ; Aristogeiton ; Pytheas ;
Philinos und Kallikrates.
Demosthenes kam dem Geschmacke seiner Zeit mehr als^
alle übrigen entgegen, welche gleichzeitig mit ihm das athenisch(
Volk zu leiten strebten. Gerade derjenige unter seinen Gegnern,]
welchen er am erbittertsten verfolgte, hatte statt der Med«
der eigenen Zeit die Redner der Glanzperiode Athens voi
Augen.
Atrometos, der Vater des Aischines,^) hatte im dekeleischei
Kriege sein Vermögen verloren und während der Herrschaf
der Dreissig als Söldner gedient^); die Familie musste siel
schlecht und recht durchschlagen und jedes Glied derselbe!
eine lohnende Beschäftigung suchen ^). Der 390 oder 389 geborene*]|
1) Die Hauptquellen seiner Biographie sind seine und des Demosthene
Reden; auch Demetrios von Phaleron (Schol. Aeschin. 2, 1) und Demochare
(Ps. Plut. 840 e. Harpocr. v. "lo/avSpoc = Auon. Z. 26 fi.) sprachen von ihr
Die Biographie des Dionysios ging verloren; die erhaltenen rühren von der
Rhetor ApoUonios und einem Anonymus her, ausserdem besprechen Pseudc
plutarch im Leben der zehn Redner (ähnlieh Photios bibl. 264 p. 490), Philo
Stratos (vit. soph. 1, 18), Photios (bibl. cod. 61 p. 20) und Suidas (in zwe|
Artikeln) Aischines' Leben. Vgl. Ewald Stechow de vita Aeschinis oratoris
Berlin 1841 ; A. Schäfer Demosthenes 1 191 flf. ; Blass att. Bereds. III 2, 129 flEiJ
2) Aeschin. 2, 147 f.; weitere Verwandtschaft 2, 78; er wurde 95 Jahr
alt 3, 191.
3) Der Vater war nach Demosthenes 19, 281 (vgl. 19, 249. 18, 258. 266,J
lügenhaft 18, 129 ff.) Schulmeister, die Mutter Glaukothea (Glaukis evioi be
Apoll. 8) übte das Amt einer Priesterin aus (19, 199. 249. 281. 18, 259. 284,|
unwahr 18, 129 f. 265). Dom Demos nach ist Aischines KoO-toxiSTj? Demosth..
18, 180.
4) So gibt er 1, 49 selbst au (daraus ist epist. 12, 1 errechnet, indem!
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 247
Aischines konnte daher den kostspieligen Unterricht der Sophisten
und Rhetoren nicht geniessen ^), sondern sah sich hinsichtlich
seiner Bildung auf den Vater, welcher eine Elementarschule
hielt, und den eigenen Fleiss angewiesen. Herangewachsen
nahm er die Stelle eines Sekretärs an^), ein Amt, das, wenn
es auch bei den vermögenden Athenern wegen der damit ver-
bundenen Besoldung wenig geachtet war, ohne Zweifel dem
Inhaber eine genauere Kenntnis der Verwaltung verschaffte als
die eigentlichen Beamten sich in der Regel aneignen konnten.
Doch befriedigte diese Stellung Aischines nicht, seine eigent-
liche Liebe war den schönen Künsten zugewandt. Wie sein
Bruder Philochares, der zur Zeit des Gesandtschaftsprozesses
schon das dritte Jahr Stratege war^), nebenbei die Malerei be-
trieb*), so machte Aischines selbst Liebesgedichte (1, 135 f.) und
spielte auf kleinen Bühnen Rollen dritten Ranges, bis ihm ein
entschiedener Misserfolg dieses Vergnügen verleidete^). Glück-
licher war er in seinem eigentlichen Amte, wo er das Vertrauen
der angesehensten Staatsmänner errang; schon Aristophon zog
ihn an sich, als er sein rhetorisches Talent erkannte, und Hess sich
in einem Prozesse von ihm unterstützen *'). Auch Eubulos wusste
den geschickten Mann zu schätzen ; unter seinem Schutze erhielt
er 348 den Auftrag, im Pelopoimes nach Bundesgenossen zu
suchen ''). In demselben Jahre vielleicht wurde er zum Staats-
cler Ausbruch des Krieges als seine axfXYj galt, wie auch ApoUon. Z. 63, wonach
er 75 Jahre alt starb).
1) 2, 41 xY]v cpüGtv. 3, 228 ebenso u. tyjv xuiv Xoywv £[j,TC£tplav. Trotzdem
dichtete man ihm Lehrer an : Leodamas (Caecilius bei Ps. Plut. 840 b wegen
Aeschin. 3, 138), Plato (Ps. Plut. 840 b und Apoll. Z. 33 ttvlc, Philostr. § 3,
Phot. p. 20 a 40; er benützte das Symposion nach A. Hug ßhein. Mus. 29, 440),
Isokrates (S. 133 A. 5) oder Alkidamas (Suid. I., verderbt Phot. p. 20 a 40).
Aus der häufigen Verwechslung von Isokrates und Sokrates entstand die Lesart
Apollon. Z. 34, die ausgedeutet wurde in einem übrigens gelehrten Scholion
zu 2, 1 (vgl. Westermann zu Apoll. 1. c.) ; dadurch erfahren wir, dass Kaikilios,
llermippos und Idomeneus (ol oe' Ps. Plut. 840 f) die Lehrerschaft des Plato
und Isokrates bestritten; an Siuupcctoü? ist Demetrios gewiss unschuldig.
2) Demosth. 18, 261. 19, 200. 237, 249.
3) Aeschin. 2, 149.
4) Demosth. 19, 237.
5) Demosth. 19, 246 flf. 337 (scheinbar bestimmter 18, 180 und Demo-
chares s. S. 246 A, 1).
6) Demosth. 19, 291, vgL 18, 162.
7) Demosth. 19, 10 f. 291. 302 ff. 310 f.
248 Achtes Kapitel.
Sekretär gewählt^) und durfte nach Ablauf seines Amtes dasselbe
seinem Bruder Aphobetos übergeben. Im Jahre 347 nahm
Aischines an der Gesandtschaft, welche mit Philipp unterhandeln
sollte, Teil und spielte dabei eine hervorragende Rolle; trotz
der Anklage, welche Demosthenes mit Timarchos gegen ihn
erhob, wählten ihn die Athener bald darauf zum Pylagoren;
in dieser Stellung wirkte Aischines zu Gunsten der Fhoker^).
Timarchos machte er durch eine geschickte Gegenklage rasch
unschädlich und auch Demosthenes konnte seine Verurteilung
nicht durchsetzen ; denn Eubulos und Phokion, die geachtetsten
Männer Athens, traten als Bürgen seiner Unschuld auf; immerhin
setzte es die Partei des Demosthenes durch, dass der Areopag
sein Veto einlegte, als Aischines das Volk vor dem Gerichtshofe
der Amphiktyonen vertreten sollte^). In den nächsten Jahren
hielt er sich, durch eine bedeutende Erbschaft in angenehme
Lage versetzt*), vollkommen ruhig ;^) 339 v^urde er wieder zum
Pylagoren ernannt und spielte die bekannte Rolle (S. 187 f.). Dass
Aischines kein bestochener Verräter war, beweist sein ferneres
Leben. Nach dem Siege der Makedonier nahm er an dem
öffentlichen Leben nicht mehr Anteil als in den vorhergehenden
Jahren, ausser dass ihn das Volk nach der Niederlage zu
Philipp, seinem Gastfreunde, als Friedensvermittler schickte'').
Seine letzte That war, gegen das Dekret des Ktesiphon, welches
Demosthenes' Pohtik glorificierte, Einspruch zu erheben ; aber
sein Gegner war damals zu mächtig. Als Aischines nicht
einmal den fünften Teil der Richter für sich hatte und somit
der teilweisen Atimie verfiel, wollte er in Athen nicht länger
bleiben '). Ging er nun etwa zu Antipatros? Keineswegs ! Die
1) Demosth. 19, 249.
2) Aesehin. 2, 142 f. (mit Zeugnis belegt; Demosth. schweigt).
3) Demosth. 18, 134.
4) Demosth. 18, 312; die Beschuldigung, er habe ev t^ xwv anoXwXötcuv
oo(i|i.a}(tuv X"»P? (19, 145 ähnlich 18, 41) ist so oberflächlich, dass sie keinen
Glauben verdient; Schol. Aesehin. 1, 3 spricht daher von Pydna.
6) Demosth. 18, 139.
6) Aesehin, 3, 227. Demosth. 18, 282 flf.
7) Von Demosthenesenthusiasten stammt die rührende Geschichte, dass
Aischines von seinem Gegner Trost und Keisegeld auf den Weg bekam (Ps.
Plut. 845 e. ol 8e nach Hellad, bei Phot. bibl. 279 p. 534 b 13 ff.) Nach einigen
(Ps. Plut. 840c) wurde er zur Abreise genötigt.
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 249
Ueberlieferung ist doppelt : Nach den einen ging er direkt nach
der Insel Rhodos ^); die anderen lassen ihn nach Ephesos gehen
nnd auf Alexander warten ! Als dieser nach mindestens sieben
Jahren starb, soll sich Aischines eine Zeitlang in Rhodos auf-
gehalten haben und endlich auf Samos gestorben sein ^).
Aischines^) war, wie aus den eben berichteten Lebens-
verhältnissen hervorgeht, weder ein Advokat noch ein Politiker
von Profession, sondern ein geschickter Verwaltungsbeamter,
dem seine Gönner hie und da auch politische Aufträge zu-
wandten; von seiner Mutter mag das Interesse für religiöse
Dinge stammen. Auch im Felde erfüllte Aischines vortrefflich
seine Pflicht und wurde sogar öffentlich ausgezeichnet (2, 170).
Vom Staatsmann forderte er persönliche Unbescholtenheit
(3, 78) und bethätigte, selbst nie von jemand ausser von Demo-
sthenes angeklagt (1, 1), diesen Grundsatz, indem er an Timar-
chos ein Exempel statuierte. Das Ideal des Redners waren die
Männer aus der alten Schule, deren Gemessenheit und Anstand
ihn anzogen; schon diese Neigung musste Aischines für die
Politik der gebildeten und reichen Bürger einnehmen, während
ihm Demosthenes mit seinen theatralischen Geberden, der
wenig wohlklingenden überanstrengten Stimme, seinem Pathos
und den Kraftausdrücken von vornherein widerwärtig war.
Aischines war weder ein bedeutender Politiker noch ein impo-
nierender Charakter, im Gegenteil ein etwas zimperlicher und selbst-
gefälliger Mensch, der das Wort Bildung allzu oft im Munde
führte^) und gerne mit seiner Kenntnis der Dichter prunkte^),
zum Verräter jedoch konnte ihn nur ein beklagenswerter Partei-
hass stempeln.
So sehr Aischines die Handlungsweise des Demosthenes,
1) Ps. Plut. 840 c. Ps. Aeschin. epist. I. V. VI. XI. 3; Besitzung auf
dem rhodischen Festland XII IJ. Er gründete auf der Insel angeblieh eine
rhetorische Schule (Ps. Plut. 840 d. Philostr. § 2. Phot. p. 20 a 26. Suid. I. n.
entstellt Anon. Z. 24 f.), was Anon. Z. 20 ff. leugnet.
2) Ol U bei Ps. Plut. 840d, Phot. 61 p. 20a 22 ff, vgl. Plut. Dem. 24.
Anon. Z. 17 ff.
3) Georg Marchand Charakteristik des Redners Aeschines, Kassel 1876
(Dias. V. Jena).
4) 'AxcaiSsoToc (z. B. 1, 166. 3, 130), ttTtaiSeuoia (2, 113. 153. 3, 241 u. ö.)
und rtai^sia kommen häufiger als bei einem anderen Schriftsteller vor.
6) A. H ug Rhein. Mus. 29, 438,
250 Achtes Kapitel.
darunter auch das Redenschreiben missbilligte, musste er sich
doch entschliesseii, die drei Reden, welche er bei seineu Kämpfen
gegen Demosthenes vor Gericht gehalten hatte, zu veröffent-
lichen, damit die Nachwelt ihn nicht nach den Reden seines
Gegners allein beurteilte.
Wie wir sahen, nahm Demosthenes, als er, von der Ge-
sandtschaftsreise zurückgekehrt , Aischines anklagte , unvor-
sichtiger Weise Timarchos zum Genossen ; Aischines benützte
diesen Fehler sofort, indem er nachwies, dass Timarchos nach ^
den Gesetzen wegen seines wüsten Jugendlebens die bürger-^l
heben Rechte verwirkt habe. Die Verhandlung, welcher die
erste Rede gegen Timarchos^) gilt, fand Anfang 345 unter
grossem Zulauf von Menschen statt ^) und hatte die Verurteilung
des Angeklagten zur Folge ^). Aischines hat den bedenklichen
Stoff in zugleich decenter und moralischer Weise behandelt
und sich gewiss bei allen, die auf Integrität eines Politikers
hielten, Dank verdient. Wir sehen aus Demosthenes' Gesandt-
schaftsrede, dass Aischines die Rede vor der Herausgabe lunar-
beitete *), offenbar damit auch die Einwürfe des Demosthenes
nicht unwiderlegt blieben. Denn letzterer hat gewiss , wie
Aischines in Aussicht stellt, Timarchos verteidigt; es war ja
eine Ehrenpflicht für ihn. Statt jedoch diese für ihn nicht
gerade ehrenvolle Verteidigungsrede herauszugeben , nahm er
lieber bei der Redaktion seiner Rede „über die Truggesandt-
schaft" auf diesen ersten Prozess Bezug ^).
Erst im Jahre 343, als die Verhältnisse für Demosthenes
sehr günstig lagen, kam der zweite Prozess zur Verhandlung;
dieser veranlasste die zweite Rede jrspi TcapaTcpeoßelac^).
1) Kaxä Ti|i.ap)(OD, argum. II. nspl StaipYjostoc.
2) Vgl. § 80 6t' sßouXeos nepoai und § 167 rtptpvjv ev zolz xax' ttypo^C
Aiovoaioi-;. You der grossen Zuhörerschaft spricht Aischines § 117 selbstgefällig.
3) Aus Demosth. 19, 2 schlössen Ps. Plut. 841a und Tzetz. Chil. 6, 59,
dass er sich erhängte (ebenso zv.oi im Argum. I mit dem Zusätze tY]v xpiaiv
o6x ^Ttofieivac).
1) Blass S. 176,2.
2) Schäfer U 321 (er zieht daraus den Schluss, Demosthenes sei nicht
aufgetreten).
3) Bei Harpokration ev tcb «apartpsoßeiac, wepl tyji; npeaßsiac, ev t-jj
KEpl xxfi (napa)7tpsaßstac aitoXo-ftot (auch v. ©epjiav herzustellen) ; anoXo-fia
Harpocr. v. Ixet-rjpia und Apsines p. 403, 6 Sj).
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 251
Auch diese, das Hauptwerk des Aischines, ist, wie das Pro-
ömium zeigt, erst nach der Verhandlung ausgearbeitet. An
rhetorischer Gewalt kann sie sich mit der demosthenischen
Anklage nicht messen; freilich ruht bei Demosthenes das Ge-
wicht auf der Ueberredung der Richter, während Aischines sie
durch Dokumente oder Schlüsse zu überzeugen sucht.
Auch die dritte Rede „gegen Ktesiphon" (scheinbar 330
gehalten)^) wäre an sich ein vortreffliches Werk, aber von Demo-
sthenes' Kranzrede wird sie tief in den Schatten gestellt; Aischines
wendet sich ja wiederum mehr an die Rechtskenntnis und den Ver-
stand als an das Gefühl und die Phantasie der Richter. Er
folgt eben dem Schema der Paranomenklagen, wie wenn er mit
einem weniger gefährlichen Gegner zu thun hätte, und so greift
er zuerst die Ungesetzlichkeit des Antrages und dann erst die
Motivierung an. Wenn wir aber volle Gerechtigkeit walten
lassen wollen, ist auch in Anschlag zu bringen, dass des Demo-
sthenes Rede in harmonischer Abrund ung, so wie der Ver-
fasser sie gelesen wissen wollte, erhalten ist, wogegen Aischines,
wie es scheint, die Rede nicht mehr selbst herausgab, obwohl
er dazu Vorbereitungen getroffen hatte. Man kann die älteste
Schicht der Rede noch in den Hauptzügen herstellen ; sie stammt
aus dem Jahre 336, als Demosthenes über sein Amt, das
Ktesiphon zum Vorwande des Antrages nahm, noch nicht
Rechenschaft abgelegt hatte. Anderes setzt aber diese voraus,
manches ist nach der wirklichen Verhandlung gegen Demo-
sthenes Verteidigungsgründe eingefügt und die historischen An-
spielungen reichen bis zum Jahre 330 ^). Ob aber der Prozess
erst in diesem Jahre stattfand, ist nicht sicher zu entscheiden.
1) Römheldt quaestiones de Aeschinis oratione contra Ctesiphontem,
Marburg 1869 ; N. J. Nils o n de rerum dispositione apud Äeschinem oratorem
Atticum I. Upsala 1877.
2) Vgl. § 189. 225 f. Ant. West ermann quaestt. Demosth. III 78, de
Aeschinis oratione adversus Ctesiphontem, Leipzig 1833 (nach p. 23 f. ist
dieses historische Beiwerk erst nachträglich eingefügt), Schäfer Demosthenes
HIB. 75 f.. Kirchhoff Abhandl. der Berlin. Akad. 1875 S. 64 ff., Blass III
2, 183 ff. Bruno Cämmerer de duplici recensione orationis Aeschineae
contra Ctesiphontem habitae, Arnstadt 1876 (Diss. v. Jena); Georg Gutt-
m a n n de ratione quae Aeschinis Ctesiphonteae cum ejus commentariis intercedit,
Breslau 1883 (er nimmt drei Schichten an).
252 Achtes Kapitel.
aber weder die Rede des Demosthenes noch überhaupt die
Wahrscheinlichkeit sprechen dafür.
Zu diesen drei echten Reden kamen einige Fälschungen ;
der delischen Rede des Hypereides stellte ein Rhetor einen
ATjXiaxög mit dem Namen des Aischines, welchem das Volk
jenen Auftrag zugedacht hatte, entgegen, indes war die Fälsch-
ung so plump, dass die Alten sie merkten ^), Hingegen zweifelten
sie nicht an der Echtheit der Briefe, deren man neun (Musen
betitelt) kannte ''') ; unsere Handschriften enthalten ausser diesen
neun, welche in sechs an Philokrates und drei an die Athener
gerichtete zerfallen und in der Verbannung geschrieben sein
sollen ^), noch drei, von denen der X. mit Aischines überhaupt
nichts zu thun hat und der IL und IH. gar an Ktesiphon
gerichtet sind *).
Wenn wir Aischines mit Demosthenes vergleichen, muss
jener weit hinter seinem Gegner zurückstehen ; während Demo-
sthenes seine Talente durch unermüdhches Studium der Theorie
und beständige praktische Uebung zur Virtuosität ausbildete,
fehlten Aischines diese beiden Förderungen. Er schrieb weder
Reden für andere Leute, wiewohl seine Vermögens Verhältnisse
dies ihm vielleicht mehr als Demosthenes wünschenswert machten,
noch empfing er einen anderen Unterricht als den seines Vaters,
sondern gleich den Staatsmännern des alten Athens beruhte
seine Redekunst auf natürlicher Anlage. Demosthenes selbst
erkannte an dem Feind ein bedeutendes Redetalent an ^) und
verglich ihn sogar mit den Sirenen % während er ihm die
spitzen Bemerkungen, welche Aischines gegen die manierierte
1) Ps. Plut. 840 e. ApoUoD. Z. 64. Philostr. § 4. Maxim. Plan. Walz V
48 2, 2. Phot. bibl. 264 p. 490a 34. Caecilius dachte an einen Namensvetter
(Phot. 61 p. 20 a 10).
2) Philostr. § 4. Phot. bibl. 264 p. 490 a 34. 61 p. 20 a 8.
3) An Philokrates scheinen gerichtet I., V. und VT., IV., IX. und VIII.,
an die Athener (mit Bezug auf die demosthenischen Briefe) VII. XI. XII. ; § 11
des letzten bezieht sich auf Vin. und IX., mit IV. 2 hängen Vn. und XII.
16 zusammen.
4) Über die Echtheit Taylor in der Vorrede, S am met Aeschinis rhetoris
epistolae, Leipzig 1771 und Fuhr Rhein. Mus. 33,680. Blass S. 160 nimmt ^
für alle einen Verfasser an.
6) Demosth. 19, 339 f. (cütpwvia), vgl. 18, 242. Aeschin. 2, 41.
6) Demosthenes bei Aeschin. 3, 228,
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 253
Gestikulation und Deklamation, die gesuchten Wörter und die
Rabulisterei seines Widersachers eiuflicht, nicht zurückgeben
konnte ; er spottete bloss über die Feierlichkeit der Worte ^) und
den Wohllaut der Stimme ^). Auch die unparteiischen Kritiker
heben gerade die Naturanlage, besonders die Geschicklichkeit
im Extemporieren hervor ^). Aus diesem Grunde dürften die
Reden des Aischines uns am besten die Weise vorführen, wie
gebildete Leute der demosthenischen Zeit zum Volke sprachen.
Der Ausdruck ist klar und natürlich, nicht so gepflegt, dass
nicht Formeln und Wiederholungen vorkämen ^) doch wenn es
die Sache erfordert, erhebt sich der Redner zu grossartigen und
feierlichen Worten. Der Periodenbau ist nicht kunstreich, sondern
ungezwungen und eher lässig. Die rhetorischen Figuren werden
nicht aufgesucht, sondern der Redner nimmt sie, wie sie der
Augenblick bietet. Das wuchtige Pathos und das raffinierte
Arrangement liegen ihm ferne; der Cbarakterzug seiner Reden
ist die gefällige Glätte, die jedoch weder Würde noch Spott ^)
und Bitterkeit ausschliesst. Wenn er auch seine Reden sorg-
fältig ausgearbeitet hat, vermeidet er doch, den Ansichten des
vorhergehenden Zeitalters getreu, den Schein der Künstlichkeit.
Es versteht sich von selbst, dass Aischines, welcher den
Beruf eines Lehrers nie ausübte, keine Schule machte ''), zugleich
aber auch dass er später, zu jenen Zeiten, wo die gekünstelte
Beredsamkeit blülite, in geringem Ansehen stand; ebenso that
die Verehrung des Demosthenes, die man auf dessen Charakter
übertrug, dem Ruhme des von diesem verfolgten Mannes Ein-
trag, z. B. veranlasste sie Caecihus zu einer ungerechten Be-
urteilung '), während Dionysios sich günstig über ihn aussprach.
1) Demosth. 19, 255 'ZB\i.voXo^(tl. 18, 133 oejxvoXoyoc, vgl. Dionys. vet. cens.
5, 5 ev §£ rjj xdiv Xelscuv Iv-Xo-^-^ tcofiTtixo?, Philostr. 3 dßpa oefivoXoYia.
2) Demosth. 19, 255 tpouvaax-fjaa?.
3) Dionys. Dem. 35. vet. cens. 5, 5. Caecil. bei Schol. 2, 1. Phot. cod. 61
p. 20 b 8 ff. Daher kam Philostratos auf den Einfall, Aischines habe das Im-
provisieren aufgebracht; Passow Hall. Encykl. II 77 meinte, Aischines habe
auch die erhaltenen Reden erst extemporiert und nachher niedergeschrieben.
4) z. B. cv' et?!YjTe und ähnliches (Phil. Weber Entwicklungsgeschichte
der Absichtssätze II S. 40).
6) z. B. 3, 159 über Demosthenes sIpTjvocpüXaxa ufiät; ahzbv hv-sltot ysipozovelv.
6) Deinarchos nützte bei der Anklage des Demosthenes seine Reden
sachlich aus (West ermann quaestiones Demosthen. III 88 adn. 120 ff.).
7) Bei Schol. Aeschin. 2, 1.
264 Achtes Kapitel.
Das Studium des Aischines wurde andererseits durch die rhodische
Rhetorenschule befördert, die unter anderem für Philostratos
Veranlassung war, dass er mit ihm die zweite Periode der
Sophistik begann ^). Verehrer nannten sogar die drei Reden
des Aischines Chariten ^).
Die gelehrte Bearbeitung war jedoch sehr beschränkt;
ausser Didymos wird ein Kommentar des Aspasios von Byblos
genannt und von der kirfcqGic, des Apollonios existiert noch ein
Fragment ^). Dank der geringen Zahl der Reden jedoch wurden
die Scholien fleissig abgeschrieben und sie sind jetzt die
besten, welche wir zu einem Redner besitzen *). Was die Do-
kumente betrifft, wurden nur wenige eingelegt ^). Die Hand-
schriften zerfallen in drei Klassen, über deren Wert die
Urteile auseinander gehen ^) ; auch streitet man über den Um-
fang der Interpolation ^), weil der Stil des Aischines zu wenigj
erforscht ist.
Eine anerkannte Textesrecension gibt es daher noch nichtj
Vor Reiske war der Redner, den zuerst die Aldiner Sammluni
1) Vgl. Phot. p. 20 a 30 ff. Suid. I. Auch Cicero verband einmal (oratorj
9, 29, vgl. Tacit. dial. 16) Aischines mit Damosthenes.
2) Phot. bibl. 61 p, 20 a 6. Nach Gellius 18, 3, 1 war er vel acerrimusl
prudentissimusque oratornm qui apud conciones Atheniensium floruerunt.!
Phrynichos stellte ihn den hervorragendsten Mustern zunächst (Phot. p. 20 b 24).j
3) Suidas, Schol. 1,83; Schol. 1, 56. Über die in den Scholien erwähnten!
Rhetoren F. Schultz Jahrbb. f. Phil. 93, 289 ff.; über die Benützung der]
Atticisten Theod. Freyer quaestiones de scholiorum Aeschineorum fontibus,
Leipziger Studien 1882 S. 238 — 392. Das Historische excerpierte A. Schäfer^
Jahrbb. f. Phil. 93, 26 ff.
4) Am besten in der Ausgabe von Schnitz veröffentlicht.
6) West ermann Abhandlungen der sächs. Ges. der Wiss. 1, 129 ff.,j
Bemh. Schmidt Rhein. Mus. 36,4 f.
6) Die Recension A, welche etwas kürzer ist, wurde von Bekker, Weidner,!
Cobet (dov. lect. 239. 864) und W. Hardt de Aeschinis emendatione, Halle 1882]
vorgezogen, hingegen B von Franke und Schultz. Die zwischen beideaj
stehende Klasse M, welche mit A in der grossen Lücke 3, 20 harmoniert, hält]
Weidner für kontaminiert; dem widerspricht Rieh. Büttner quaestiones]
Aeschineae I. de codicum Aeschinis auctoritate et generibus, Berlin 1878 (Diss.)
v. Göttingen, Progr. v. Gera). Nach Joh. Adam de codicibus Aeschineis,]
Berlin 1882 harmonieren BM oft zum Schlechten.
7) Weidner de Aeschinis emendatione atl Cobetum epistola, Pr.J
V. Giessen 1874; Ferd. Baker de interpolationibus orationis Aeschineae|
contra Timarchnm habitae, Berlin 1876.
t)ie Zeitgenossen des Demosthenes. 255
Venedig 1513 bekannt machte, sehr vernachlässigt, ausser dass
die zwei Reden gegen Demosthenes unter den Werken dieses
Redners oft gedruckt wurden. Nach Reiske (orat. IV. 1771)
begründete Bekker (oratores Attici III.) den Apparat. Aus der
neuesten Zeit sind neben der Textausgabe von Franke (Leipzig
^3873) die kritischen Recensionen von Ferd, Schultz, der einen
reichen Apparat zusammenbrachte (Leipzig 1865) und Andr.
Weidner (Berlin 1872) zu nennen. Der Erklärung dienen die
Ausgaben von Bremi (Zürich 1823 — 24, 2 Bde.) und Benseier
(Leipzig 1855—60, 3 Teile).
Von der Beredsamkeit des Eubulos, Phokion und der
übrigen Wortführer der Friedenspartei gilt gleichfalls, dass sie
von den Grundsätzen der älteren Zeit nicht abwichen; die
Fraktion des Demosthenes könnte hingegen als Advokatenfraktion
gekennzeichnet werden. Nächst ihrem Haupte war der beredteste
Hypereides ^), ein Sohn des Glaukippos, der, so viel wir
vermuten können, etwa gleichalterig mit Demosthenes war. Schon
bald nach dem Bundesgenossenkriege wagte er sich an den
mächtigen Staatsmann Aristophon, den nur zwei Stimmen Mehr-
heit vor der Verurteilung retteten ^). Eine Reihe von Jahren
verschwindet er dann unseren Augen. Bei dem Zuge nach
Euboia und Byzanz machte er durch patriotische Freigebigkeit
Aufsehen ^) ; wahrscheinHch ging er damals als Gesandter nach
Rhodus ^). Von nun an ist Hypereides der Sprecher der un-
versöhnHchen Kriegspartei, welche zunächst mit Demosthenes
Hand in Hand ging. Er beantragte für diesen ein demonstratives
Ehrendekret und setzte es trotz der Einsprache des Diondas
1) 'TirepEiSY)«;, nicht Tirspt^Yic ist durch die Inschriften (s. Blass in seiner
Ausgabe S. XXX) gesichert. Den Namen des Vaters und das Demotikon
KoXXuTEu«; geben die Seeurkuuden XIII c 102. XIV d 246 (nach Suidas nannten
andere den Vater Pythokles ; der Grossvater hiess Dionysios Ps. Plut. 848 a).
Über sein Leben s. F. G. Kiessli n g de Hyperide oratore Attico, 2 Progr. v.
Hildburghausen 1837, III. Posen 1846; Kabe comm. de vita Hyperidis,
Öls 1854; Blass III 2, 1 fl. und in der Einleitung zu seiner Ausgabe.
Pseudoplutarch (vgl. Bücheier Jahrbb. f. Phil. 111, 307 ff.) ist ausser Suidas
der einzige bekannte Biograph.
2) Schäfer Demosthenes I 159 f.
3) Ps. Plut. 848e. 849f (vgl. Schäfer a. O. II 463, 1) bestätigt durch
die Seeurkunden von Ol. 110, 1 XlIIc 98. XIV d 240 Tpi-fjpapxo«; e^tSoatjAoc,
dazu Böckh S. 189 ff.
4) Ps. Plut. 850 a.
256 Achtes Kapitel.
durch *). Die Unterwerfung unter Philipps Bedingungen sollte
durch die äussersten Massregeln verhindert werden; als man
gegen solche Vorschläge den Einwand der Gesetzwidrigkeit
erhob, fertigte er die Gegner mit den Bonmots ab: ,, Die Waffen
der Makedonier beschatteten mir die Gesetze", ,, nicht ich habe
den Antrag gestellt, sondern die Schlacht bei Chaironeia".^) Selbst-
verständlich verlangte Alexander auch seine Auslieferung und
Hypereides widerstrebte mit Demosthenes der Forderung des
Königs ^). Während aber nun letzterer mit den Makedoniern
Fühlung zu suchen begann, setzte Hypereides seine chauvinistische
Politik unentwegt fort und verstieg sich so weit, für den Leib-
arzt Alexanders, der den König vergiften wollte, eine Dekoration
vorzuschlagen *). Der Aufstand des Agis verschärfte die Span-
nung, die zwischen ihm, der den Krieg wollte, und Demosthenes
bestand. Als dieser auch in der Sache des Harpalos nicht
nach dem Sinne der Kriegspartei handelte, hielt er selbst gegen
ihn die Anklagerede ^) ; von nun an war Hypereides der ein-
flussreichste Politiker. Er war es, der nach Alexanders Tode
die Griechen zum letzten Freiheitskampfe aufrief; dafür erteilte
das Volk ihm die Ehre, den siegreich gefallenen Athenern die
Leichenrede zu halten. Aber der unglückliche Ausgang des
Krieges nötigte die Patrioten zur Flucht; Archias ereilte]
Hypereides auf Aigina ^) und er erlitt am neunten Pyanepsion
322 einen qualvollen Tod ^). Der Treue seiner Verwandten
dankte er ein ehrliches Grab in der FamiHengruft *).
1) Demosth. 18, 222 f.
2) Fr. 31, 32 Blass (32 Sauppe). Lycurg. c. Leoer. 3G f.
3) Ärrian. anab. 1, 10, 4. Plut. Phoc. 17.
4) Ps. Plut. 849 e, nach Schäfer III 322, 1 erdichtet.
6) S. 191; böswillige Anekdote Ps. Plut. 849 e.
6) Den Poseidontempel erwähnt Ps. Plut. 849 b, das Aiakeion Plut.
Dem. 28 ; nach Suidas floh er in den Demetertempel von Hermione.
7) Ps Plut. 849 b; nach Ps. Plut. 849 b c (schon bei llermippos, vgl.
Plut. Dem. 28. Luciau. Demosth. 31. Suidas. Sopatros Walz V p. 8) wurde
ihm die Zunge ausgeschnitten. Der Ort der Hinrichtung ist nicht zu be-
stimmen (Kleonai Plut. Dem. 28. Phoc. 29, ol 81 bei Ps. Plut. 849 c, ungenau
Korinth Ps. Plut. 849 b, Makedonien Hermipp. bei Ps. Plut. a. O., Athen?
Anon. bei Suid. v. ujiepoptov).
8) HeUodoros (? Diodoros) bei Pa. Plut. 849 c.
Die Zeitgenossen des DemostLenes. 257
Das Privatleben deä" Hypereides bot den Komikern reich-
lichen Stoff zu Angriffen. An allem, was die athenischen Lebe-
männer liebten, an Hetären ^), leckeren Fischen ^) und Würfel-
spiel^) fand Hypereides Gefallen. Jeden Morgen war er auf dem
Fischmarkte, welcher der Versammlungsplatz der Gastronomen
Athens war, zu sehen ^) und wiederholt trat er in Hetären-
prozessen auf So verteidigte Hypereides bekanntlich die Hetäre
Phryne, mit welcher er auf vertrautem Fusse stand, gegen
Euthias ^), aber die bekannte Anekdote, dass er sie vor den
Richtern entblösste, ist eine Erfindung ^). Als Staatsmann hin-
gegen blieb Hypereides frei von Angriffen, soweit dies in Athen
raöghch war; erst spätere behaupteten, er habe Demosthenes
deshalb angeklagt, weil er die Schuld von sich ablenken wollte ') ;
davon kann aber keine Rede sein. ^) Warum er seinen ehemahgen
Bundesgenossen so schroff verfolgte, hat er in der Anklagerede
mit genügender Deutlichkeit ausgesprochen.
Wiewohl Hypereides ungeachtet Demosthenes' Vorgang
seine politischen Reden nicht veröffentlichte — der Epitaphios
nimmt ja eine Ausnahmestellung ein und die Rede für Harpalos
ist gewiss unecht ^), — wurde er doch von Demosthenes dazu
ernmtigt, die Gerichtsreden, welche andere bei ihm bestellt
hatten, zu veröffentlichen; er ging sogar noch einen Schritt
weiter und übte das Amt eines Advokaten in unserem Sinne
aus ^°). Hypereides wurden zahlreiche Reden zugeschrieben,
doch erkannten die Kritiker unter 77 überlieferten nur 52 für
1) Idomeneus bei Athen. 13, 590 cd, vgl. Ps. Plut. 849 d.
2) Timokles bei Athen. 8, 341 e ff.
3) Philetairos bei Athen. 8, 342 a.
4) Hermippos bei Athen. 8, 342 c.
5) Ps. Plut. 849 d e. Aiciphr. epist. 30. 32.
6) Wie Poseidippos bei Athen. 13, 591 f. Stellen bei Bloss S. XXXV
(zur 2. Gruppe gehört noch Aiciphr. epist. 31).
7) Lucian. encom. Dem. 31. In gleichem Geiste ist Ps. Plut. 849 e
gedacht.
8) Ps. Plut. 848 f. Timokles bei Athen. 8, 342 a beweist nichts. Hypereides'
Integrität setzt die Anekdote bei Plut. Phoc. 10 voraus.
9) PoUux 10, 159 £i {XYj ^''"§"'1*^ ^ Xo-^oz. Darum kann ich auch die
ansprechende Vermutung, dass der 'PoStaxoc und Xtaxoc Xo^oi; mit seiner
Gesandtschaftsreise von 340 zusammenhängen (Böhnecke Forschungen
461, 3. 657 f. Schäfer Demosthenes II 452) nicht annehmen.
10) S. 8 A. 4.
S i 1 1 1 , Geschichte der griechischen Literatur. U. *■'
258 Achtes Kapitel.
echt an^). Durch Citate wenigstens sind 64 Reden bekannt,
von denen fünf angezweifelt wurden'''). Eine wichtige Gruppe
bilden unter ihnen die Reden, welche er vor heiligen Gerichts-
höfen oder in anderen internationalen Angelegenheiten hielt.
So vertrat Hypereides' durch den ATjXiaxö? die athenischen
Rechte auf Delos glücklich ; keinen Erfolg erzielte er, als er im
Jahre 332 vor den Eleern für den athenischen Athleten Kal-
lippos sprach^). Andere Titel (Ko^viaxö? *) , nXataixö? ^),
ToScaxdc, ? Xtaxöc^), Tipöc ©aotoDc'')) verraten nichts über den
Inhalt. Vielleicht gehört auch die Rede ,,über die gegen die
tyrrhenischen Piraten zu treffenden Vorbereitungen" hieher ^).
Während man früher die Eigenart des Hypereides nur aus
den Urteilen der Alten kannte^ kamen in unserem Jahrhunderte
wenigstens einige grössere Reste seiner Werke aus Gräbern des
ägyptischen Theben zu Tage. Ein Papyrus, welchen Harris M
und Arden in zwei Teile zerlegt 1847 nach England brachten,
enthielt grosse Stücke von xata ATrj[j.oa^svoo<; bzhp twv
'ApTraXsicov und ocTroXoYta onkp Aoxöfppovo?^), sowie die voll-
ständige Rede hnkp Eo^svithtoo a.'KoXofioL Tupö? ÜoXdsoxtov ^°).
Später fand man noch kleine Fragmente derselben Rolle. Im
Jahre 1856 kam eine zertrümmerte Rolle, welche den Ittitoc-
(pioc, zum grossen Teil enthält, gleichfalls aus Theben nach
1) Ps. Plut. 849 d ; 59 Reden zählt Suidas. Die Rede gegen Demades
ist nach der Schlacht von Chaironeia und vor Philipps Ermordung verfasst;
die Anklage des Pasikles fällt nach der Reform der Trierarchien 340/39 (fr.
137), vor dieselbe jedoch die Rede gegen Polyenktos (fr. 162). Ans der Zeit
der grossen Teuerung stammt die Verteidigung des Chairephilos (Schäfer III
270 A. ]).
2) Kaxa IloXueiixtoi) fr. 149 fF. und rzpbt; rioXoeuxTov fr. 161 f. dürften,
wie Schäfer annimmt, identisch sein.
3) Schäfer Demosthenes III 267 f.
4) Vielleicht 338 gehalten (vgl. Böhnecke Forschungen I 664;
Schäfer Demosthenes III 16 A. 1).
6) Nach einer Bemerkung des Plutarch (glor. Ath. 7) scheint Hypereides
die Schlacht von Plataiai darin verherrlicht zu haben.
6) So Böckh; vgl. Fabricius-Harles, bibl. Gr. II 859.
7) Vgl. Kiessling Lycurgi fragm. p. 216 ff.
8) Im Jahre 324 gehalten (Schäfer Demosthenes III 272 f.).
9) F. W. W i 1 1 i c h de persona Lycophronis ab Hyperide defensi,
Aschersleben 1864; Schäfer Jahrbb. f. Phü. 68, 27 flf.
10) Schäfer a. O. S. 30 flf.
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 259
London. Die glücklichen Entdecker veröffentlichten sofort ihre
Funde ^) und gaben damit der Konjekturalkritik viel zu thun;
die Ausgabe von Blass (2. Aufl. Leipzig 1881) bietet alles
wissenswürdige, so dass von den älteren Ausgaben nur die
Facsirailes heranzuziehen sind. Blass veröffentlichte nachträg-
lich ein kürzlich gefundenes Fragment der Rede gegen Demo-
sthenes ^).
Da die erste und zweite Rede zu sehr zerstört sind, als
dass der Leser eine deutliche Vorstellung ihres Ganges gewinnen
könnte, die dritte für Euxenippos ^) aber als Deuterologie kein
treues Bild der Gerichtsreden des Hypereides bietet, will ich
nur den Epitaphios kurz besprechen. Wenn wir auch noch
unter den Schriften des Thukydides, Lysias und Plato Reden
dieser Gattung besitzen, ist doch keine derselben wirkhch ge-
halten worden. Hingegen zeigt gerade der Epitaphios des
Hypereides, wie der von Staatswegen bestellte Redner zum
Volke sprach. Freilich war die Kraft des athenischen Staates
damals längst gebrochen und Hypereides feierte, wie Girard ^)
fein bemerkt, mehr als der republikanische Sinn der Athener
früher zugelassen hätte, die Person des Feldherrn; in dieser
Beziehung sprachen die Trauerredner des fünften Jahrhunderts
gewiss anders, sie waren aber auch nicht so sehr von der
Sophistik, zumal dem Gorgianismus beeinfiusst ; der Epitaphios
des Hypereides unterscheidet sich kaum von jenen sophistischen
1) Hyperides, fragments of au oration against Demosthenes respecting
the nioney of Harpalus, published by A. C. Harris, London 1848 fol. mit
11 Tafeln (die weit bessere Ausgabe von Churchill Babington, H. vcaxa Ayj}j.o-
oö-evoüc, London 1840, 4. bietet nur einen Teil facsimiliert), 'TirepeiSou Xo^oi
B', the orations of H. for Lycophron and for Euxenippus by Jos.
Arden and Ch. Babington, Cambridge 1853 fol. mit 16 Tafeln (vgl.
Discorso in favore d' Euxenippo . . . riprodotto .... da Dom. Comparetti,
Pisa 1861, 4. mit 11 Tafeln); TuEpsiSoo Xa-^oc, lutxatpio? . , . . by Ch. Ba-
bington, Cambridge 1858. ^1859 fol. mit 7 Tafeln; Photographien in Catalogue
of ancient manuscripts in the British Museum, I. Greek, London 1S81 pl.
4. 5. Die früher bekannten Fragmente stehen bei Sauppe, orat. Att. 11275ff.
2) Revue de philologie VIII. (1884) p. 167 flf.
3) Sie setzt die "Wiedergewinnung von Oropos 338 voraus (A.Schäfer
Jahrbb. f. Philol. 68, 30).
4) Er handelt über den Epitaphios sehr schön in den ^tudes sur l'elo-
quence attique p. 181 — 233; vgl. auch L. Spengel Münchener gel. Anz.
1858 S. 385 0".
17*
260 Acttes Kapitel.
Uebungsreden und ist, als eine solche betrachtet, unüber-
trefflich ^).
Die Ueberreste der hyperideischen Beredsamkeit sind so
gering, dass man bei der Beurteilung derselben die Aussprüche
der alten Rhetoren nicht entbehren kann. Die Sprache des
Hypereides^) erregte bei den strengen Atticisten der Kaiserzeit
grossen Anstoss, weil er die Wörter nicht sorgsam auswählte,
sondern alles, was die Komiker seiner Zeit gebrauchten, für
erlaubt hielt; denn jene engherzigen Grammatiker werfen ihm
selbstverständlich mit Unrecht vor, dass er „unattisch" schreibe.
Von der attischen Schriftsprache wich er freilich ab ; doch trugen
die bildlichen und sprichwörtÜchen Redensarten, die Hypereides
dem Volksmunde zu entnehmen liebte, (z. ß. sjro^ö-aXfitäv „be-,
äugeln" statt ,, wünschen", oßoXoaraTTjc „Pfennigwäger" statt!
„Geizhals) ^) ohne Zweifel zur Lebendigkeit und Frische des
Tones viel bei. Um so auffallender stachen die poetischen
Floskeln, welche Hypereides gelegentlich einfloclit, wie IttI Yvjpwc
ouS^ *), von ihrer plebejischen Umgebung ab. Der Satzbau
erinnert durch seine Kunstlosigkeit und die Anakoluthe an den
des Aischines, ist aber doch wohl mit grösserer Kunst ange-
legt. Auf den Hiatus achtete Hypereides nur im Epitaphios
etwas; auch die rhetorischen Figuren wendete er vielleicht
nicht häufig mit Bewusstsein an. Von den bedeutendsten der
älteren Zeitgenossen hat er etwas gelernt, von Isokrates manche
sophistische Regel ^) und ein wenig Rücksicht auf den Rhyth-
1) üepl ßtj^oüi; 34: töv eirixacptov eitiSetxxixÄi; ütz oüx ol8' ei xig
SXkoi 8ied>eT0. Schüler des Isokrates (S. 133A. 6, nach Hemiippos bei Athen.
8, 242 c, vgl. Philostr. Vit. soph. 1, 17, 4); wie alle Zeitgenossen, soll er auch
Platouiker gewesen sein (Chamaileon und Poleraon bei Diog. 3, 46, beides
Ps. Plut. 848 a. Suidas).
2) H. Hager de graecitate Hyperidea, Curtius' Studien III. S. 99 flf.;
zu Grunde liegt Ant. Westermann Index graecitatis Hyperideae, Leipzig
1860 — 63, 8 Teile. Dionysios Diu. 6 äussert sich noch massvoll; vgl. z. B.
Uermog. p. 411, 23 fl".
3) Tfia'fuyZirxz -(ftäi^ai pro Lycophr. 10, 20, 6jj.6oe eX^slv fr. 5, e4^8sipev
fr. 202, C^-foiiaytl fr. 245; sprichwörtlich fr. 3. 34. 60 (aus Hesiod). 262.
Deminntiva wie ecv8pa7t68ia 227.
4) I 20, 13; auch it(/ü xa xtöv xe^vvjxoxcuv öoxä fr. 52, xov önoXomov
ßiov önö 864vji; X.P'^l^'^^i^ JiapajtEjj.tfO-fjvai I 19, 16.
6) Auch in den Gerich tareden kommen Gleichklänge vor wie aSix-Jjoavtac j
%u\ diupoSoxY^oavxac in Dem. 33, 9.
Die Zeitgenossen des Demosthenes, 261
mus, von Lysias vielleicht die Feinheit der .Erzählung und die
geschickte Vorbereitung derselben, worin er nach dem Urteile
des Dionysios ^) seinen Meister teilweise übertraf; manches
wiederholte er fast wörtlich aus fremden Reden, welche Freiheit
er nicht minder sich selbst gegenüber nahm^). Was ist aber
nun der Grundzug seiner Beredsamkeit? Hypereides war nicht
leidenschaftlich erregt wie Demosthenes; er zeigte sich als
Mann von A¥elt, der nicht alles tragisch nimmt, sondern es
lieber mit feinem Spott und Witz abfertigt, der den Gegner
nicht zerschmettert, sondern dem Gelächter preisgibt und durch
ein wahres Kreuzfeuer wehrlos macht ^). Meisterhaft ist z. B.
die Persiflage eines Antrages von Demade^ (fr. 79), als dieser
die Belohnung eines Anhängers Philipps verlangte. Hypereides
wusste sich in jede Lage mit Grazie zu schicken und jeden
Ton anzuschlagen, bHeb jedoch stets etwas blasiert und der
Gründlichkeit abgeneigt'^); auch sein Vortrag war unstudiert
und natürlich'^). Nicht das Pathos (SstvoTT]«:) also, sondern die
Grazie C/api?)^) machte den Grundzug seines Wesens aus.
Das Altertum hat Hypereides ausserordentlich hoch gestellt;
manche zogen ihn sogar dem Demosthenes vor '') und selbst
der Verfasser der Schrift über das Erhabene (34, 1) urteilte,
dass er durch die Mannigfaltigkeit seiner Vorzüge dem be-
rühmten Redner in gewissem Sinne überlegen sei. Besonders
ahmten ihn die rhodischen Redner nach % von denen Cicero
ilm schätzen lernte ^) ; Hypereides besass in Rom einen Kreis
von Verehrern ^"), z. B. übersetzte Messalla Corvinus die be-
rühmte Verteidigung der Phryne^^). Dionysios und der Anonymus
,,über das Erhabene" (34) beurteilten ihn recht günstig. Bald
1) De Diuarch. 5, vgl. vet. ceus. 5, 6.
2) Blass S. 53. Fr. 98 (Porphyr, bei Euseb. praep. ev. 10, 3).
3) Ilepl 3(|;oo(: 34 am Ende.
4) Hermogen. p. 411, 12 x6 (j.£V eTttusX^c y\y-ioxo. e)(£t.
5) Ps. Plutarcli. 850 a.
6) Demetrius Magnes bei Dion. Dinarch. 1.
',) Ps. Plut. 849 d.
8) Dionys. Dinarch. 8.
9) De orat. 1, 13, 58 und Brut. 36, 138 ist er mit Demosthenes ver-
bunden, vgl, auch Brut. 82, 285.
10) Cic. Brut. 17, 67. Äcadem. 1, 3, 11. Petron. sat. 2,
11) Quintil. 10, 6, 2.
262 Achtes Kapitel.
glaubte man indes zu finden, dass Hypereides' Stärke in kleinen
Stoffen hervortrete und seine Reden demgemäss mehr für An-
fänger passten ^). Dazu kam der Vorwurf der sprachlichen
Unkorrektheit. Die Rhetoren eitleren daher Hypereides ver-
hältnissmässig selten und nur Gajus Harpokration verfasste
Einleitungen zu den Reden, während Aelius Harpokration Hype-
reides mit Lysias verglich^). Noch Photios las Reden des
Hypereides (cod. 266), ja selbst Matthias Corvinus soll in seiner
berühmten Bibliothek eine Handschrift besessen haben ^) ;
man darf bei diesem Schriftsteller am ehesten weitere Funde
hoffen.
Von Hypereides unterscheidet sich L y k u r g o s *) als Redner
wie als Mensch in jeder Beziehung. Er musste der radikalen
Partei schon desshalb hoch willkommen sein, weil er aus dem
uralten Geschlechte der Eteobutaden stammte; seine Ahnen
vererbten ihm Reichtum und das Amt eines Poseidonpriesters ^).
In den auswärtigen Angelegenheit Athens erscheint Lykurgos'
Name nicht ^), wiewohl er ein thätiges Mitglied der Kriegspartei
gewesen sein muss, weil Alexander der Grosse auch ihn aus-
1) Quintil. 10, 1, 77. Dio Chrysost. 18, 11, vgl. Hermog. n. \h. p. 411,
11 ff. Longinos schloss ihn von seinem Kanon aus (Spengels rhetor. I p. 324, 12).
2) 'Trcoö'eostc tAv X6y<«v 'TTreptSoo Suid., nspl täv 'T^spiSoü xal Aooiou
Xo-fuiv Suid.; nach Kiessling Lycurgi fragm. p. 144 sind beide Schriften
identisch.
3) „Integrum Hyperidem cum locupletissimis scholiis", vgl. Ch. Ba-
bington Journal of philol. I (1854) p. 407 f. II (1855) p. 199; Herrn. Hager
qnaestionum Hyperidearum capita duo, Leipzig 1870 p. 1. 76.
4) Die Hauptquelle der Kenntnis seiner öffentlichen Thätigkeit ist das
Ol. 118, 2 (307) abgefasste Ehrendekret, welches im „Leben der zehn Redner"
steht; ein Teil desselben ist vollständiger auf Stein erhalten (CIA. II 1,240).
Der Isokrateer Philiskos scheint ein Eukomiou verfasst zu haben (Olympiod.
in Gorg. Jahns Archiv 14, 395). Sonst geben Pseudoplutarch, Photios und
Suidas biographische Notizen. Vgl. A. F. Nissen de Lycurgi oratoris vita
et rebus gestis, Kiel 1833 ; Ed. Meier in Kiesslings Lycurgi fragmenta,
Halle 1847; Andreas Ol. Heurlin de Lycurgi oratoris Attici vita et rebus
gestis, Lund 1859; A. Schäfer Demosthenes II 298 ff. ; Blass attische
Beredsamkeit III 2, 72 ff.; C. Droge de Lycurgo Atheniensi pecuniarum
publicarum admiuistratore, Minden 1880 (Diss. v. Bonn).
5) Ps. Plnt. 843 cef; er gehörte daher zum Demos Butadai. Der
Vater hies.s Lykophron.
6) Demostb. 9, 72 (vgL Ps. Plut. 841 e) ist sein Name interpoliert.
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 263
geliefert haben wollte ^). Dagegen machte er sich durch die
Leitung der attischen Finanzen um die Stadt hoch verdient ^).
Lykurgos erhielt dieses neugeschaffene Amt mit dem Titel 6 £;tl
i^i SioiXTjost im Jahre der Schlacht von Chaironeia ^) nominell
auf vier Jahre und führte es faktisch unter dem Namen zweier
Freunde bis 326. Als er zurücktrat, war der durch den Krieg
erschöpfte Staatsschatz gefüllt und die Tempelschätze vermehrt ;
trotzdem hatte er nicht bloss wie seine Vorgänger Arsenale und
Schiffhäuser erbaut und gefüllt, Lykurgos war es, der endlich
das dionysische Theater, das Stadion und das Lykeion zum
herrlichen Schmucke der Stadt vollendete. Unmittelbar nach
seinem Rücktritt scheint er gestorben zu sein *), Der dankbare
Staat gewährte ihm ein öffentliches Begräbnis im Kerameikos;
seine Feinde fochten jedoch die Bilanz des Lykurg an und
prozessierten gegen die Söhne, welche Hypereides mit Erfolg
verteidigte ^); denn Habron, ein Sohn des Lykurgos, bekleidete
wahrscheinhch später ein hohes Amt ^). Ueber die Lebenszeit
des Lykurgos ist nicht das mindeste bekannt '').
Er war also kein bedeutender Politiker; sein Fach waren
die Finanzen, wefche er mit einer den Athenern ungewohnten
Ehrlichkeit verwaltete. Da er weder wenig bemittelt war, wie
Demosthenes noch so viel Geld brauchte als der Rone Hypereides,
war kein Anlass vorhanden, den Rechtsbeistand anderer Leute
zu machen. So gäbe es denn kein Denkmal seiner Beredsamkeit,
wenn nicht Lykurgos eine eigentümliche Neigung gehabt hätte.
Streng gegen sich selbst, was sich schon in der fast gesuchten
Einfachheit seines Aeusseren kundgab ^), verfolgte Lykurgos
1) CIA. II 1, 240.
2) Böckh Staatshaush. I^ 569 flP. II 114 ff. U. Köhler Hermes 1,
312 ff. 2, 24 ff. 5, 223 ff. Karl Cur t iusPhilol. 24, 83 ff. 261 ff. Droge a.O.
3) Ueber die verschiedenen Ansichten vgl. S a u p p e erat. Att. 11 262 ff.
O. Gilbert Handbuch der griechischen Staatsalterthümer I 232 A. 1.
4) Ps. Plut. Lycurg. 842 e f. Hyper. 848 f. Dem würde Dinarch. 2, 13
nicht widersprechen. Der Fälscher von Demosth. epist. IH. nahm wahr-
scheinlich an, dass er den harpalischen Prozess noch erlebte.
5) Nach anderen Demokies Ps. Plut. 842 d.
6) CIA. II 167 ; die Inschrift ist 334 oder 330 oder nach 307 gesetzt
s. Fellner zur Geschichte der attischen Finanzverwaltung S. 54.
7) Dass er älter als Demosthenes war (oi os im argum. Demosth. orat. •
XXV.), ist ein irriger Schluss aus einer falschen Voraussetzung.
8) Ps. Plut. 842 c.
264 Achtes Kapitel.
die Vergehen anderer unnachsiclitlich, besonders wenn sie sich
gegen den Staat oder die Religion ^) verfehlt hatten, und ver-
schärfte seine Strenge obendrein dadurch, dass er seine Reden
veröffentlichte und so die Angeklagten auch für die Folge-
zeit brandmarkte. Von solchen Anklagen sind dreizehn be-
kannt '''), wozu zwei in eigener Sache gehaltene Reden Trspl t'^c
Stotx'/^astoc (im Jahre 334 geschrieben) ^) und aTroXoYtajAÖc wv
TcsTToXiTSDTat (iTpöc A7j{xaS7]V bzkp Twv so^ovÄv, 326 gehalten) ^)
kommen. Die fünfzehn Reden, unter denen eine von manchen
Philinos beigelegt wurde ^), sind mit Ausnahme einer einzigen
untergegangen; es ist dies xata Aswxpdtooc slaaYYsXta,
welche Lykurgos 3 31/0 (§45) sprach, als er einen angesehenen
Bürger, der nach der Schlacht von Chaironeia die Stadt feige
verlassen und lügnerische Gerüchte ausgesprengt hatte, zur
Rechenschaft zog^). Obgleich er kein bestimmtes Gesetz auf
diesen Fall anwenden konnte und das Privatleben des Gegners
in rühmlicher Weise schonte, rettete den Angeklagten nur die
Gleichheit der Richterstimmen '^).
Dieses Resultat kam abgesehen von der damaligen Herr-
schaft des Chauvinismus daher, weil Lykurgos sowohl wegen
seiner Integrität hochangesehen und als Ankläger gefürchtet
war , als auch nach dem Urteile eines Zeitgenossen ^) an
rednerischer Begabung hinter keinem Athener zurückstand. In
1) Ps. Plut. 843 c.
2) Kax' 'AptoTOYsttovoc svSsi^t?,' nat' A5toXüxoo (bald uach 338), xata
Av)[JL(i8oo, Ttepl TTjt; lepsta?, TTspl x-rjq lepcuoüv/jc, npö«: 'la^^opiav (xax' 'I.), Kpo-
xioviSüJv BiaStxaoia itpö«; Koip(uvi8a<;, -/.axä Aeto-^&pooz, xati Aoxocppovoc eloaY-
^eXia aß' (nur dieser Prozess fällt sicher vor die Schlacht von Chaironeia),
xaxa AüGtx).eooc (bald nach 338), 'Kpbz xac p.avxEia(: (Trspl xwv [xavxsiojv), xax«
MEveaaiy|J.ou elaa-cfEXia = AYjXtaxoi;; die Citate xaxa Ae^i^itou und xax'
A?)Xox>.£Oü? sind verderbt. Die Zahl 15 bestätigen Ps. Plut. 843 c und Suidas,
der die Titel aufzählt; er fugt bei: „Briefe und einiges andere". Ueber den
Titel xaxä KYj'ffsoSoxoo (Harpocr.) Sauppe p. 266.
3) Sauppe orat. Att. II 262 f. Schäfer Demosth. III 175.
4) Böckh Staatshaush. I 570 f. II 116; Schäfer Demosthenes III
276 A. 2.
6) Die Rede gegen die Koironiden nach Harpocr. (fünfmal), als Werk des
Philinos Athen. 10, 425 b und evtoi bei Harpocr. v. KotpioviSat.
6) A. Schäfer Demosthenes HI 199 ff.
7) Aeschin. 3, 252.
8) Ilyperid. pro Euxenipp. 26, 18 fl.
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 265
günstigeren Verhältnissen als Demosthenes und Aischines auf-
gewachsen, konnte der Sohn des reichen und vornehmen Lyko-
phron seine massigen Anlagen ^) durch den Unterricht der besten
Lehrer ausbilden; er hörte Plato^) und, wie es heisst, auch Iso-
krates^). In der That finden sich nicht bloss Anklänge an den
letzteren in der erhaltenen Rede^), sondern der ganze Charakter
derselben, eingeschlossen das hie und da mehr anempfundene
als ursprüngliche Pathos, erinnert eher an die Kunstrede als
an die Beredsamkeit des praktischen Lebens. Lykurgos spricht
in der Leokratea eigentlich wenig von dem, Avas direkt zur
Anklage gehört, er ergeht sich lieber in ethischen Gemein-
plätzen und in moralischen Episoden (wie von den Helden
Chaironeias § 46 ff. oder vom frommen Sohn § 94 ff.),
die mit der Kede in sehr losem Zusammenhange stehen ;
der Redner rechtfertigt sie mit ihrem moralischen Nutzen
(§ 95), Er flicht überhaupt gerne mythologisches und ge-
schichtliches ein und citiert umfangreiche Stellen aus Dich-
tern, obgleich sie mit der Sache nichts zu thun haben und sie
in keiner Weise fördern. Die sogenannten Steigerungen zielen
weniger auf Pathos als auf rhetorischen Prunk ab. Endlich
hat der Redner nicht einmal die falschen und unnatürlichen
Antithesen der Epideiktiker vermieden, z. B. soll die Schuld
der dekeleischen Ueberläufer geringer sein, weil sie — im Vater-
lande blieben (121). Trotz dieser zahlreichen Einzelheiten fehlt
die Gleichmässigkeit der epideiktischen Rede in der Kompo-
sition, weil er keinem detailHerten Plane folgt, wodurch die Beweis-
führung beeinträchtigt wird ^), gerade wie im Stile. Für eine
Gerichtsrede passen die kühnen und nicht immer geschmack-
vollen Uebertragungen, welche sich die Isokrateer schwerlich
erlaubt hätten, schlecht % und die Einschränkung des Hiatus
harmoniert nicht mit der Seltenheit rhetorischer Figuren.
1) Ps. Phit. 842 c.
2) Philiskos bei Olympiod. iu Gorg. Jahns Archiv 14, 395; daher
Bchätzte er Xenokrates (Ps. Plut. 842 b).
3) Ps. Plut. 841b. 843 e. Anon. vit. Isoer. p. 256, 93 W.
4) Samuel Elias quaestiones Lycurgeae, Halle 1870 S. 18 ff.
5) Über die Beweisführung iu der Leokratea Samuel Elias quaestiones
Lycurgeae p. 21 — 58.
6) Blass S. 99 ff. Samuel Elias a. O. p. 7—21 (de genere dicendi).
Für einen griechischen Prosaiker ist z. B. sehr kühn hizl zolq bpioiq toö ßiou 109.
266 Achtes Kapitel.
Darum kann Lykurgos den besten Rednern nicht beigezählt
werden, weil er durch die Mischung ungleichartiger Elemente
die Grundlage der Klassicität, die Harmonie, verliert.
Die Alten haben ihn daher mit Recht unter die Geringeren
der zehn Redner gesetzt; man lobte ihn mehr wegen seiner
Moralität als wegen seiner Beredsamkeit^), Doch fand er hie
und da einen Verehrer, wie den jüngeren Gorgias ^). Schriften
wurden über seine Reden nicht verfasst, den Kommentar des
Didymos ausgenommen.
In der handschriftlichen Ueberlieferung geht Lykurgos mit
Andokides zusammen, weshalb hier die Kritiker gleichfalls nicht
übereinstimmen ^). Auch seine Rede wurde zuerst 1513 von
Aldus herausgegeben. Melanchthon , dessen Ausgabe zuerst
1545 in Wittenberg erschien, reihte ihn unter die Schul-
klassiker ein. Die Kritik des Textes förderten Taylor (Cantei
bury 1743 mit der Midiana) und Reiske (orat. Graec. IV. p. 103 fF.).''
Die neueren Reccnsionen beginnen mit Osanns Ausgabe (Jena
1821), der zuerst die Handschrift A beizog; es folgen die Aus-
gaben von Bekker (orat. Att. III.), Pinzger (Leipzig 1824,
grössere Ausgabe), ßaiter und Sauppe (zuerst separat Zürich
1834, dann in den Orat. Att. fasc. III. und Fragmente Bd. IL
258fif.), Mätzner (Berlin 1836) und Scheibe (Leipzig 1853); einj
neue Recension hat Thalheim (BerHn 1880) gegeben. Dei
Fragmenten ist Lycurgi deperditarum orationum fragmenta colli
disp. ill. Fr. Gust. Kiesshng, Halle 1847 gewidmet. Zur Er-
klärung liegen zahlreiche Kommentare vor ; ich nenne die
erklärenden Ausgaben von Job. Hauptmann (Leipzig 1753)
Alb. Gerh. Becker (Magdeburg 1821), Gust. Pinzger (s. o.)J
Wilh. Blume (Sund 1828), Mätzner (s. o.), Ed. Jenicke (Leipzig
1856) und C. Rehdantz (Leipzig 1876).
1) Dionys. vet. cens. 5, 3. Dio Chrys. 18, 11 ; vgl. das Urteil bei Hermog.
18. p. 416.
2) Blass die griech. Bereds. von Alex, bis auf Augiistus S. 98, 1; Phot
cod. 268 p. 496 b 38 ist aus der oben erwähnten Stelle des Hypereides enM
lehnt ; er selbst las nicht einmal die Leokratea.
8) Emil Rosenberg de Lycurgi orationis Leocratoae interpolationibi
Leipzig 1869 (Diss. v. Greifswald ; p. 39 ff. liefert er den Nachweis, dass de
§81 angeführte Eid unecht ist); zur äusseren und inneren Kritik der Rede!
des L. g. L. Batibor 1876.
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 267
Die übrigen Redner der demosthenischen Zeit sind nur
durch dürftige Bruchstücke bekannt. Polyeuktos von
Sphettos^) war ein intimer Freund des Demosthenes, den er
;)43 in den Peloponnes begleitete'^); er sprach leidenschaftUch
für den Krieg mit Philipp^) und beteiUgte sicli im iamischen
Kriege an der Gesandtschaft, welche den Peloponnes zu den
Waffen rief*). Die Alten eitleren eine einzige Rede, mit
welcher Polyeuktos Lykurgos beistand, als dieser gegen einen
Antrag, dass Demades eine eherne Bildsäule erhalten sollte,
Einsprache erhob. Aus dieser Rede hebt ein Rhetor eine Stelle
hervor, in welcher Polyeuktos mit erheiterndem Sarkasmus die
Frage aufwirft, in welcher Stellung Demades abzubilden sei ^).
Schon Aristoteles hatte einen Witz des geistreichen Redners
angeführt ^).
Keiner bestimmten Partei gehörte der verrufene Aristo-
g ei ton'') an, welcher nur im harpalischen Prozess vorkommt,
wo Deinarchos, welcher ihn für den schlechtesten Menschen
der Welt erklärte, die Anklage führte ^). Diese und des Lykurgos
Anklagerede, welche die zwei pseudodemosthenischen Stücke
nach sich zog (S. 211) haben seinen Ruf für immer vernichtet.
Als Redner wird er von Quintilian beiläufig genannt und von
Ilermogenes nur getadelt; dieser wirft ihm ungewöhnliche
Plumpheit und unprovocierte Schmähungen vor ^). Von den
Reden, welche Aristogeiton hinterliess, sind bloss die gegen
Timarchos und Phryne durch verhältnismässig alte Citate belegt^"),
1) Sauppe orat. Att. II 273 f.
2) Demosth. Phil. 3, 72 llo)>6soxxoc 6 ßeXttoto? sxstvoai.
3) Plut. Pboc. 9. Phokion verspottete ihn, weil der dicke Kedner dabei
reichlichen Schweiss vergoss.
4) Ps. Plut. 846 c.
5) Apsines 12 (Spengel, rhet, I 387).
e) Arist. rhet. 3, 10 p. Ulla 21. Auch Diog. 6, 23 dürfte aus einem
Bonmot entlehnt sein.
7) Sauppe orat. Att. 11 309 f.
8) Nach dem III. demosthenischen Briefe (37. 42) wurde er freigesprochen,
nach Suidas hingerichtet.
9) Quintilian. 12, 10, 22; Hermog. tt. IS. p. 299, 17. 395, 30 Sp.
10) Harpocr. v. AkoxXsiäf)? und SspaavSpoc; xaxa ^pöv-rjc Athen. 13,
591 e (dort ist auch eine andere von Euthias oder Anaximenes verfasste Kede
gegen Phryne erwähnt).
268 Achtes Kapitel.
wiewohl diese die Echtheit niclit sichern ^). Dagegen steht
die Unechtheit von zwei Reden fest, nämUch der Vertei
digüng gegen Lykurgos, welche die 25. deniosthenische Rede
voraussetzte''^), und der Anklage des Hypereides, die unglaub-
liche Behauptungen enthielt^). Gleichfalls durch Byzantiner
allein bekannt sind die Reden gegen Timotheos, Thrasyllos,
Leosthenes und 'Optpavtxö? ^).
Pytheas^), ein jüngerer Zeitgenosse des Demosthenes,
war ein Anhänger des Hypereides und beantragte Alexandeij
die göttlichen Ehren zu verweigern ; er rechtfertigte sich dab«
mit den Worten: ,,Und doch ist Alexander, den ihr zui
Gotte machen wollt, jünger als ich." Daraus geht zugleic
die Lebenszeit des Pytheas hervor. Beim harpalischen Proxes
war er mit Hypereides gegen Demosthenes verbunden ^). AI
Pytheas kurz darauf aus uns unbekannten Gründen "zu ein(
hohen Geldbusse verurteilt wurde, verliess er Athen und in
in den Dienst der Makedonier ''), bis ihn Antipatros zurücl
führte^). An Reden werden Anklagen gegen Adeimantos un^
Demosthenes ^) und eine Verteidigung gegen eine Endeixis gc
nannt; ob er Advokat war, ist nicht sicher zu sagen. Ueb(
den Charakter seiner Beredsamkeit wird einzig dies erwähni
dass sie schroff und zerfahren war^*'). Von den Rhetoren hi
achtete ihn allein der jüngere Gorgias.
Philin OS ist uns durch nichts anderes bekannt, als we^
er gegen den Antrag Lykurgs, die Bildsäulen der drei Tragike
im Theater aufzustellen, eine Rede hielt^^). SchwerUch gab
1) U. V. Wilainowitz ind. lect. hib. Greifswald 1879 p. 11 verwirf
alle Reden.
2) Phot. bibl. p. 491a 33 ff. (Dionysios scheint die Rede noch nicht ge-
kannt za haben), vgl. Snidas.
3) Tzetz. Chil. 6, 93, vgl. Greg. Cor. Walz VII 1272, 19 ff. und Snidas.
4) Bei Snidas steht anoXo-flix npoc Af^fj.ooO-evtjv xöv otpaxTjYÖv, das
Kiessling quaestt. Attic. spec. p. 4 richtig emendiert (ebenso Auou. ad
Herniog. Walz VII 1021, 17 ev t(|) xaxa Ar^fAGaö-evou?).
6) Sauppe orat. Att. II 311 f.
6) Ps. Plut. 846 c; dahin gehört wohl die Anekdote Liban. vit. Dem. 379 ff.
7) Phylarchos bei Plut. Dem. 27.
8) Snidas.
9) Doch war die Autorschaft nicht sicher (Dionys. Lsae. 4 (oc ^jaoI Scinst).
10) Bpaoic ical Bieoicaofifcvo? Snidas v. IloO-^a?.
.11) Harpocr. v. ö-etupixÄ: ev fg itpög So'^oxXeoui; xal E6piiii8oo elxövac-
Die Zeitgenossen des Demosthenes. 269
gerade diese eine Rede allein heraus; Kritiker teilten ihm je
eine Rede des Hypereides ^) und Lykurgos (S. 264,5) zu. Phili-
nos vermeidet, wenigstens nach den spärlichen Fragmenten zu
schliessen, den Hiatus ''').
Einen Kallikrates verzeichneten die Bibliothekare von
Pergamon als Verfasser der deinarchischen Rede xaxd Ar^[j.o-
Dagegen vermutet bloss Dionysios *), dass eine recht matte
deinarchische Rede von Menesaichmos oder Demokleides her-
rühre. Es scheint allerdings , dass der Name des Deinarchos
allen Produkten zweiten Ranges, welche der demosthenischen
Zeit und den unmittelbar folgenden Jahrzehnten entstammen,
kritiklos vorgesetzt wurde. Deinarchos selbst ist zu wenig
originell, als dass er der klassischen Zeit noch zuzurechnen
wäre; er wird seinen Platz in der Periode der Nachahmer
finden. Demosthenes ist der letzte klassische Redner; seine
Zeitgenossen, selbst Hypereides, wenn man sehr streng urteilen
will, nicht ausgenommen, zeigen Spuren des Verfalls, zumal
Mangel an Stilgefühl und Unselbständigkeit und so wird die
kraftlose zerfahrene Beredsamkeit der alexandrinischen Zeit vor-
bereitet.
1) Harpocr. v. ItcI v.6ppY]c: 'l'r,£^ti^f\z ^ ^iXlvoc ev tü) xaxa Acupod-sou.
2) Porphyrios (Clem. Alex, ström. 6,626) führt eine aus Demosthenes ent-
lehnte Stelle an.
3) Dionys. Dinarch. 11 am Ende; er selbst kannte von ihm nichts.
4) Dinarch. 11.
Neuntes Kapitel.
Der Dialog (Plato).
Die Eristiker: Zenon und Melissos, die •JjO'txal ouAi^siz ; Sokratischer Dia
log; die Dialoge von zweifelhafter Echtheit, Kebes, Antisthenes, AischinesI
Plato: Leben, Charakter und "Wissen, unechte Schriften, chronologisch«
Ordnung, Abfassungszeit, die echten Werke geordnet nach der äusseren For
Charakteristik des Dialoges, Stil, Nachahmer, Kritik und Erklärung bis a«
unsere Zeit.
Bei einem schlagfertigen und heissblütigen Volke kam
dem monologischen Vortrage die Alleinherrschaft welche
ihm in dem bedächtigeren kühleren Norden zufällt, nichl
gehören. Mochten auch die Sophisten durch ihre blendender
Vorträge Bewunderung hervorrufen, volle Anerkennung nötigtei
sie ihren Landsleuten erst dann ab, wenn sie jedem Kede
standen und im Wechselgespräch durch Geistesgegenwart unc
Versatilität das letzte Wort behielten. Wir haben gehört, wie
hartnäckig ein Perikles mit Erotagoras disputierte; diesei
Philosoph wird sogar als Vorläufer des sokratischen Dialog«
bezeichnet ^). Seine Nachfolger mussten sich nicht minder ii
spitzfindigen Diskussionen öffentlich erproben ^.
Nachdem seit Gorgias die Rhetorik ein besonderer Bildungs^
zweig geworden war, schied sich von den Sophisten eine be
sondere Klasse von Ipcatixot^) oder ävnXoYtxot aus, welche de?
griechischen Jugend die Kunst des Disputierens beizubringei
verhiessen. Da dieselbe im Zwiegespräche zur Geltung kai
hiess sie vorzugsweise StaXsxTcxT], die Meister StaXexrtxot. Obgleicl
die Rhetoren und Philosophen die Dialektiker mit grösstei
1) Diogen. 9, 63.
2) Über die Eristik der Sophisten Schanz die Sophisten S. 80 flf.
3) Vgl. H. Sidgwick Journal of philology 4, 288 ff.
Der Dialog (Plato). 271
Erbitterung bekämpften ^) und ihr theoretischer Unterricht darin
allein bestand, dass sie wichtige Formeln auswendig lernen
Hessen^), hielten die Laien diese Fertigkeit für praktisch ver-
wertbar und fanden an den seltsamen Trugschlüssen und Wort-
spaltereien Gefallen ; die Eristik war daher in der klassischen Zeit
eine besondere Wissenschaft-'').
Die Anfänge des Dialoges lagen indes viel weiter zurück.
Die Philosophen, welche man nach der unteritalischen Stadt Elea
zu benennen pflegt, waren durch den Widerspruch, in welchem
ihre Lehren zu den Sinneswahrnehmungen standen, genötigt,
sie durch blendende Trugschlüsse zu stützen. Bei Parraenides
war diese Methode noch nicht so scharf hervorgetreten, weil
er seine Philosophie in Versen darlegte ; aber bereits sein Nach-
folger, Zenon von Elea^), brachte die Schlüsse in ein ge-
wisses System und begann darin Unterricht zu erteilen ^). Ueber
den Palamedes von Elea — so nennt ihn Plato ^) — stehen
keine anderen Nachrichten zu Gebote, als dass er ein Schüler
des Parmenides war ^) und bei einer Verschwörung , welche
den Tyrannen seiner Vaterstadt stürzen sollte , unter
Martern den Tod fand ^)- Die philosophische Schrift, welche
er hinterliess ^), bereitete dem literarischen Dialoge den Weg;
1) z. B. Plato im Euthydemos, Isoer. 10, 6 u. ö. *
2) Aristot. soph. elench. am Ende.
3) Plat. soph. 222c tvjv 8s y^ Stxavix'JjV xal S-rjjXYjYopixrjV xal Tcpooo-
fi. '. X7)tix*fjv, ev üb xb 4uvoXov, ut'ö'avoupYtx'fjv xiva (j.tav zsyyqv upooetiroviei;;
diese kommt dem Philosophen gleich hinter der Gruppe Raub, Sklavenjagd,
Tyrannis, Krieg. Eine ähnliche Scheidung finden wir bei Aristokles (Euseb.
praep. evang. 15, 2, 5): Ttävxsc oo'-pioxal xal Iptaxixol xal ^■fjxopsc-
4) Sohn des Teleutagoras (ApoUod. bei Diog. 9, 25).
5) Für 100 (!) Minen Ps. Plat. Alcib. I 119 a. Angeblich Lehrer des
Perikles Plut. Pericl. 4. 5 am Ende. Nach Diog. 9, 28 verliess er Elea nicht.
6) Rieh. Förster Rhein. Mus. 30, 331 ff.
7) Plat. Parmen. 127 b (angeblich etwa 26 Jahre jünger als Parmenides,
älter als Sokrates und in der Jugend iraiSixd des Parmenides; beschönigend
nennt ihn ApoUodor bei Diog. 9, 25 Adoptivsohn des Parmenides). ApoUodor
setzte ihn daher gerade 40 Jahre nach Parmenides (Diog. 9, 29, vgl. Di eis
Rhein. Mus. 31, 34 ff.); Eusebios fügt ihn Empedokles (Ol. 81, l) bei, weil sie
angeblich Mitschüler waren (Porphyr, bei Suid. v. 'Ejj.7r£8oxX-?](;). Suidas setzt
die Blüte Ol. 78. Mit Protagoras ist Zenon in fr. 1 Mull, zusammen.
8) Hermippos bei Diog. 9, 26 u. A. (Zeller Philosophie 1*536).
9) Eine Schrift in mehreren Abschnitten, die auf einmal vorgelesen
werden konnte, erwähnt Plato Parmen. 127 c ff., vgl. Arjstot. soph. el. c. 10
272
Neuntes Kapitel.
Zenon warf nämlich Fragen auf und gab selbst darauf di^
Antwort ^). In dieser Hinsicht schreibt ihm Aristoteles di<
Begründung der Dialektik zu.
Einen ähnlichen Charakter scheint das Buch des Samiei
Melissos^) gehabt zu haben, eines Philosophen, der seinei
Vaterstadt treu diente und 440 die samische Flotte gegen di«
Athener befehligte ^). Da er bereits mit Themistokles bekann|j
war % dürfte er damals schon in vorgerücktem Alter gestandet
sein. Sein Werk war nicht dogmatisch, sondern dialektiscl
geschrieben ^).
Diese Schriften waren jedenfalls nicht die einzigen Prc
dukte der Eristik ; aber die Vertreter dieser Kichtung, wi|j
Bryson, Polyxenos, Euthydemos und Dionysodoros, waren s^
unbedeutend, dass ausser ihren Namen fast nur ein pa£
Trugschlüsse, die nicht notwendig aus Büchern geschöpft sine
erhalten wurden ^). Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, dasij
ein literarisches Denkmal des alten Skepticismus uns gewahrt ist
Einen Anhang zu den skeptischen Büchern des Sext
Empirikos bilden einige dorisch geschriebene iid-ixal diaX^ieiz''
p. 170b 22. Simplic. in phys. 30a (Mull ach fragni. philos. Gr. I 269 f.)
Später gab es mehrere Schriften (Diog. 9, 26 ; Suidas führt folgende Titel ai
die vielleicht zum Teil dieselbe Schrift bezeichnen; spiSe«:, h^-fiftiaiq tä
'E}j.jre8oxXloü(;> itpöc touc cptXooocpouc, irepl cpoascuc.
1) Aristot. a. O. v.a\ 6 ä7:oxpiv6[j.evoc xal 6 epcuiöjv Z*fjvtuv, s. frg. 3.
2) Sohn des Ithagenes Plut. Pericl. 26. Diog. 9, 24. Epiphan. p. 690, 2^
Diels. Theodoret. 4, 8 (nach diesem aus Milet); Ol. 84 nach ApoUodor (Die II
Khein. Mus. 31, 40).
3) Aristoteles bei Plut. Pericl. 26.
4) Stesimbrotos bei Plut. Themist. 2.
6) Mullach fragm. philos. Graec. I 259 ff. Die Späteren fähren
wohnlich den Titel nspl (püoeiuc an, Suidas uepl xoü ovxo<; ; Simplic. in Aristot.
caelo Schol. 249 b 42 u. phys. fol. 15 v 25 vereinigt beides.
6) Auch Theopompos (Athen. 11, 608 d) beschuldigt Plato nur, di(j
Xtatpißat des Bryson benützt zu haben.
7) Zuerst herausgegeben von H. Stephanus hinter Diogenes Laertii
Paris 1670 p. 470 fl'., dann Gale, opuscula mythologica p, 704 ff., Fabricit
bibl. Graeca XII 617 ff., C. Orelli opuscula Graeca vet. sententiosa II 209
u. Mullach, fragm. philos. Graec. I 644 ff. Über die Handschriften teilte er
M. Schanz Ilermes 19, 369 ff. etwas mit. Über die Zeit Blass Jahrb.
Phil. 123, 739 ff., Bergk fünf Abhandl. zur Gesch. der griech. Philosophl
S. 119 ff.; E. Roh de Gott. gel. Anz. 1884 S, 24 ff. (wo auch die älter
Literatur nachgewiesen ist); Teich müller literarische Fehden 2, 97 ff. der
an den Schuster Simon.
Der Dialog (Plato). 273
(leren Kern aus vier Abhandlungen besteht, welche abstrakte
einander entgegengesetzte Begriffe (Gut und Schlecht, Schön und
Hässlich, Gerecht und Ungerecht, Wahrheit und Lüge) so er-
(irtern, dass kein Gegensatz vorhanden zu sein scheint. Der
Verfasser, welcher in den durch Aristoteles bekannten Fang-
schlüssen der jüngeren Eristik noch nicht bewandert ist, be-
zeichnet sich selbst gelegenthch mit dem Namen Mimas oder
Mystas ^) und liat offenbar auf Kypros geschrieben. Als neuestes
Ereignis erwähnt er den Sieg, welchen die Spartaner und ihre
Bundesgenossen über die Athener errungen haben ^. Von
demselben Verfasser rührt auch wahrscheinlich die fünfte Ab-
liandlung, welche gleichsam ein Nachwort darstellt, her ; sie
behandelt die für alle Philosophen und Sophisten gleichwichtige
Präliminarfrage, ob ,, Weisheit und Tugend" lehrbar sei ^).
Dazu kommen zwei kleinere Stücke, von denen das erste für
das monarchisch regierte Kypros nicht passt ; es erörtert nämlich
die ,,von einigen Politikern aufgeworfene" Frage, ob man die
Verlosung der Staatsämter einführen solle. Unvermittelt folgt
dann ein Fragment, in welchem die Redefertigkeit und das
Gedächtnis gefeiert werden. AlUe diese Stücke haben mit
einander die Vernachlässigung der äusseren Form gemein ; die
Sprache ist ein blosses Werkzeug um die Gedanken auszu-
drücken.
Die literarischen Leistungen der Eleaten und Eristiker
waren noch nicht Dialoge, sondern gleichsam Resumes von
Disputationen. Erst die Schüler des Sokrates haben den wahren
Dialog entwickelt, zu dessen Entstehung zweiMomente zusammen-
wirkten. Das eine hing mit dem Lihalt des Dialoges zusammen ;
Sokrates*) betrachtete das Zwiegespräch nicht als ein Mittel,
einen zweiten von einer vorgefassten Meinung zu überzeugen
oder zum Schweigen zu bringen , vielmehr hielt er einen
wirklichen Austausch von Gedanken für die sicherste Methode
1) Cap. 4 p. 649 a; die Handschriften schwankten. Bergk Philol. 29,
325 schlägt MiXtac, Blass a. O. St|X}j.ia(; (von Theben) vor.
2) Cap. 4. 1.
3) Für Kypros passt die ausdrückliche Bestimmung ev rg 'EXXaSt und
die Nennung der Perser, zur Zeit 'Ava^aYopeiot v.cd Uod-a'^öpsioi und die
Nennung Polyklets.
4) Bakius de ortu dialogi Socratici deque ejus imitatione, scholica
hypomnemata II 1 ff.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. II. 18
274 Neuntes Kapitel,
der Wahrheit näher zu kommen, sei es auch nur, indem der
falsche Schein des Wissens zerstört würde. Die ganze sokra-
tische Philosophie war ja nicht dogmatisch, sondern im
Verkehr mit anderen entstanden und durch fortwährende Dis-
kussion vor Erstarrung gesichert. Sokrates selbst, ohne rheto-
rische Bildung, wie er war, dachte nicht daran, solche Dispu-
tationen durch die Schrift festzuhalten, aber seine Schüler, die
zum grossen Teil von anderen Seiten Anregung empfangen
hatten, nahmen auch auf dem literarischen Gebiete den Kampf
mit den Gegnern auf und hiebei dürften zwei verschiedene
Strömungen zu Tage getreten sein. Die einen Sokratiker
wahrten den Zusammenhang mit der älteren Dialektik, indem
sie alle Probleme in Frage und Antwort erörterten. Diesen Weg
schlugen die sogenannten Megariker ein ^), womit sie auf
literarische Bedeutung verzichteten. Kleinomachos von
Thurioi verfasste freilich eine Anleitung zu dialektischen
Schlüssen^) und Eubulides von Milet schrieb ein gehässiges
Pamphlet gegen Aristoteles % für den Dialog jedoch wurde
nichts gethan; denn sechs Dialoge, die man Euk 1 eides selbst |
zuschrieb, gaben dem Philosophen Panaitios Grund zu Zweifeln *).
Nicht einmal bei Stilpon , der bereits dem alexandrinischen
Zeitalter angehört und Piatos Einwirkung erfahren haben kann, [
war der Dialog in formaler Hinsicht recht entwickelt •^).
Die Schöpfung eines wirklichen Dialoges wurde erst durch
die Verbindung der Philosophie mit der Rhetorik möglich, und
wir werden sehen, dass im besonderen der Gorgianismus
gleichsam den Anstoss dazu gab. Swxpattxol Xö^ot, wie sie
Aristoteles als eine besondere Literaturgattung aufstellt, sind
nicht bloss Disputationen über philosophische Fragen, sondern,
zugleich als Literaturprodukte Dramen in Prosa. Aristoteles
1) Diogen. 2, 106. 107. Chrysipp. bei Plut. Stoic. repugn. 10, 9. Sext.
Emp. 10, 87.
2) Ilepl a4tü>[j.axü)v xal xaTY)Yop-r)}AdTtov xal twv toiouTtov Diogen. 2, 112.
3) Aristokles bei Enseb. praep, ev. 15,2,3. Athen. 8,364 c. Diogen.
2, 108. Themist. or. 23, 285 c; vgl. über ihn S. 169 A. 4.
4) Die Titel stehen bei Diogen. 2, 108 , das Urteil des Panaitios 2, 64.
lieber den epcuTixoc Meiueke fragm. comic. IV 171 und anall. crit. in
Athen, p. 259 f. (auch Stilpou lehrte epujxixa ootpiojxaxa Satyros bei Athen. 13,
684 a), ein Fragment bei Hermeias ad Fiat. Phaed. p. 812.
6) Diogen. 2, 120.
Der Dialog (Plato). 275
stellt sie mit den Mimen des Epicharmos zusammen ^) und
vielleicht haben die Lebensbilder und Charaktertypen, die der
sicilische Dichter zeichnete, in gewissem Sinne das Vorbild ab-
gegeben. Es ist merkwürdig, dass von dem Erfinder dieser
prosaischen Dramen, Alexamenos von Teos, nichts weiter
als der blosse Name bekannt ist ^). Etwas näheres wissen wir
überhaupt nur über die Dialoge des Aischines, Antisthenes und
Plato; von den übrigen Sokratikern gab es in den Bibliotheken
des alexandrinischen Zeitalters mehr als hundert Dialoge, welchen
die Namen des Fhaidon von Elis ^) von Piatos Bruder G 1 a u-
k o n *), des K r i t o n ^), der Thebaner S i m m i a s '') und K e b e s '),
des Ari stippos ^) oder gar des Schusters Simon ^), mit dem
Sokrates sich gerne unterhalten haben soll, vorgesetzt waren.
1) Foet. 1 p. 1447b 9; ähnlich bei Atheu. 11,505c; sie haben r^d-ti
rhet. 'S, 16 p. 1417 a 20.
2) Aristot. bei Ath. 11,505 c, Diog. 9, 25 f. (wo neben Teos Stura ge-
nannt ist), vgl. O. Jahn Hermes 2, 238.
3) L. Prell er Rhein. Mus. 4, 391 ff. = ausgewählte Aufsätze S. 363 ff.;
Diog. 2, 105 ZtuTtupo«: (handelte über Physiognomik, womit Antisthenes' Schrift
Ttspl Tcüv ao^^toxtüv !pua'.OYV(w[j.ovivc6<; zu vergleichen ist) und Sijjlcuv, zweifelhaft
Nixtai;, M-fjO£'.oc und 'AvT[[j.a)(^o? Yj|7ip£aß6xat. Gellius 2, 18, 1 ff. (aus Her-
mippos?) rühmt die Dialoge als admodum elegantes. Vgl. Senec. epist. 94,41.
4) Diogen. 2, 124 : 9 augeblich echte und 32 verdächtige Dialoge.
5) Diogen. 2, 121: 17 Dialoge; eine Apologie des Sokrates nach Suidas.
6) Diogen. 2, 124: 23 Dialoge; Suidas.
7) Diogen. 2, 125 lltva^, 'EßoofjLYj, ^pövi^o?.
8) Diogenes hat zwei Verzeichnisse seiner Schriften 2, 84. 85, von denen
das zweite aus Sotion und Panaitios stammt : 7 Stücke (darunter )(p£iä)V -(')
sind gemeinsam, ausserdem verzeichnet die erste Quelle 16, die andere 10
Dialoge (worunter 6 Siaxptßai). Sie waren teils in attischer teils in dorischer
Mundart abgefasst. Das Werk über die Geschichte Kyrenes war, wie schon
die Widmung an den Tyrannen Dionysios zeigt, eine Fälschung. Die Pseudo-
nyme Skandalchrouik ^epl Tiakaiäq Tpucf-rjc rührte von einem Späteren her,
der frühestens im dritten Jahrhundert lebte.
9) In den 33 Schustergesprächen (oxuxtxol löyot), welche Phaidon oder
Aischines (Diog. 2, 105. vgl. Prell er ausgew. Aufsätze S. 370) oder auch
ihm .selbst beigelegt wurden (Diog. 2, 123, vgl. Epist. Socrat, XIIL), scheint
er einer der ünterredner gewesen zu seiu. lieber augeblich erhaltenen Schriften
Simons Böckh in Minoem p. 42 ff. und Simonis Socratici dialogi qualuor
de lege, de lucri cupidine, de justo ac de virtute, Heidelberg 1810 (bestritten
von Stall bäum de dialogis nuper Simoni Socratico adscriptis, Leipzig 1841);
Teichmüller literarische Fehdeu im 4. Jahrhundert v. Chr. II. Breslau 1884
S. 97 flf.
18*
276 Neuntes Kapitel.
Panaitios verwarf diese ganze Literatur, nur bei den Dialogen
des Phaidon drückte er sich nicht bestimmt aus ^), Mehrere
Fälschungen sollen den Philosophen Polyainos und Pasiphon
zur Last fallen ^).
Die grosse Schaar dieser Schriften ist dem verdienten
Untergang nicht entronnen, der 7rtva6 des Kebes allein
ausgenommen. Der Verfasser dieser Schrift, welche die Be-
schreibung eines allegorischen Gemäldes sein will, dachte gewiss
nicht an Fälschung, sonst hätte er nicht die Peripatetiker er-
wähnt (13, 2) und Piatos Gesetze citiert (33, 3). Jene Stelle^
sowie die Moral des Ganzen zeigt, dass er ein Stoiker dei
jüngeren Schule oder ein Kyniker ist, warum sollte demnacl
der Kyniker Kebes, der wahrscheinlich im ersten Jahrhundert^
n.Chr. lebte, nicht der Verfasser sein? ^) Zuerst erwähnt Lukianos
die Schrift, genauer aber kann die Zeit nicht bestimmt werden*)^
Die Allegorie sagte dem Geschmacke der Kaiserzeit und der^
folgenden Perioden so zu, dass das Büchlein einen Platz in der
Geschichte der Weltliteratur verdient. Ein Verwandter des
TertuUian übertrug es den Römern in vergilianische Verse ^)
und die Araber eigneten es sich in der Uebersetzung des Ibni
Muskweih an , welche den in den griechischen Handschriften
verlorenen Schluss bewahrt hat ^). In der Renaissance wurde
Kebes' ,, Gemälde" ein beliebtes Schulbuch, das seit der ersten
Ausgabe, welche Beroaldus 1494 veranstaltete, ausserordentlich
oftgedruckt und übersetzt (z. B, von Hans Sachs) wurde ; in Italien
hängte man es gerne an die Grammatik des Laskaris statt
1) Diog. 2, 64 ; bezüglich Aristippos stimmten ihm mehrere bei (Diog. 2, 84).
2) Diog. 2, 105; vgl. Favorinus bei Diog. 2, 73.
3) Athen. 4, 156d (für die Zeit vgl. 167 b).
4) Lucian. rhetor. praec. 6. merc. cond. 42. Ueber die Philosophie
Zeller Philosophie der Griechen II 1, 172. Die Echtheit wurde zuerst von
Hieronymus Wolf (1660) bezweifelt. Vgl. Mein ers Comraeutatt. soc. Gotting. V
(1783) 3, 46fl'. G. Klopfer de Cebetis tabula, drei Progr. v. Zwickau 1818,
1820 und 1822; Drosihn die Zeit des itiva^ KeßfjToi;, Neustettin 1873 (er
setzt die Schrift zwischen Dion Chrysostomos und Lukianos); K. Frachter
Cebetis tabula qnanam aetate conscripta esse videatur, Karlsruhe 1885 (Diss.
V. Marburg) (nach diesem ein Werk des ersten Jahrhunderts v. Chr.)
5) Tertullian. praescr. haeret. 39.
6) Herausgeg. von Suavi Eflendi , Paris 1873 , zuletzt von Friedrich
Müller (bei der Uebersetzung von Fr. S. Krauss, Wien 1882) in das Deutsche
übertragen. Der Araber lebte im vierten Jahrhundert der Uedschra.
Der Dialog (Plato). 277
eines Lesestückes an. Beachtung können jedoch nur die Aus-
gabe von Salmasius (Leiden 1640), der die arabische Ueber-
setzung beigab, von Jakob Gronov (Amsterdam 1689) und
Schweighäuser (liinter Epicteti manuale, Leipzig 1798, kürzer
1806) beanspruchen; die neueren Ausgaben (vonFr.Dübner, Paris
1840 mit M. Antoninus und Fr. Drosihn, Leipzig 1871)^) sind
nur Revisionen der letztgenannten. Kebes ist jetzt ebenso
vergessen wie er noch vor hundert Jahren berühmt war.
Panaitios erkannte nur die Echtheit der Dialoge von drei
Sokratikern an, welche durch ihre rhetorische Vorbildung zu
anziehender und geschmackvoller Fassung der Gedanken ange-
regt wurden; alle drei hatten sich in der Schule von Gorgianern
gebildet, was vor Isokrates' Auftreten für jeden nach höherer
Bildung strebenden Athener ziemlich war. Der Zusammenhang
des sokratischen Dialoges mit der epideiktischen Beredsamkeit
tritt besonders bei Antisthenes^) hervor, dem Sohne des
Atheners Antisthenes und einer Thrakerin ^), welcher Lehrer der
Rhetorik war, bevor er sich ganz der sokratischen Philosophie
hingab^). Er verkehrte anfangs mit den Sophisten und führte
Prodikos und Hippias dem reichen Kallias zu^); zur Zeit der
Wolken des Aristophanes scheint er mit Sokrates noch nicht
vertraut gewesen zu sein*^). Das Gastmahl Xenophons zeigt
ihn aber bei Sokrates, selbstbewusst und schroff im Gespräche ;
über seine seltsamen Lebensgewohnheiten, welche mit seiner grossen
Dürftigkeit zusammenhängen, wird viel erzählt. Theopomp
rühmte das Anziehende seines Umgangs; er unterrichtete im
Kynosarges, dem Gymnasium der Halbbürtigen, zu denen er
1) Vgl. Sauppe Gott. gel. Anz. 1872 S. 769 ff. K. K. Müller de
arte critlca Cebetis tabulae adhibenda, Würzburg 1877.
2) Chappuls Antisthene, Paris 1854; Ad, Müller de Antisthenis
Cyuici vita et scriptis, Pr. des Vitzth. Gymn. in Dresden 1860; Usener
quaestiones Anaxiraeneae p. 12 ff.; Blass attische Beredsamkeit II 304 ff.
Fragmente bei Mull ach fragm. philos. Graec. II 261 ff.
3) Diog. 2, 31. 6, 1. Seneca coust. 18, 5. Epiphan. haeres. 3, 2, 9 p. 591
35 Diels. Suidas. Wegen des Bonmot bei Plut. exil. 17 wird sie ebendort zu
Phrygierin (entstellt Clem. Alex, ström. 1, 302 c).
4) Diog. 6, 2. Hieron. c. Jovin. 2, 14; hierauf bezieht sich die bei
Diogenes aus Hermippos entlehnte Anekdote.
5) Xenoph. sympos. 4, 62.
6) Nach der Anekdote Plut. Lycurg. 30 extr. erlebte er die Schlach
von Leuktra; Eudokia gibt ihm 70 Jahre.
278 Neuntes Kapitel,
ja selbst gehörte^). Daneben war Antisthenes ein fruchtbarer
Schriftsteller; Diogenes (6, 15 ff.) teilt ein umfangreiches Ver-
zeichnis seiner Schriften mit, doch existieren nur wenige Frag-
mente ^). Mit der rhetorischen Wirksamkeit des Antisthenes
hiengen die rhetorische Schrift Tiepl Xs^swc t] /apaxTTjpwv (über
die Stilarten) und die Reden ,,Aias" und ,,Odysseus" (den Helden
in den Mund gelegt) und „Verteidigung des Orestes", sowie
eine polemische Schrift gegen die Gerichtsredner') zusammen.
Wenn jene rhetorische Lehrschrift echt war, kann sie erst nach
dem Auftreten des Thrasjanachos geschrieben sein, denn erst
seitdem gab es drei Stilarten. Die einander entsprechenden
Reden ,,Aias" und ,,Odysseus" , welche angeblich bei dem
Streite um die Waffen dos Achilleus gehalten sind, besitzen
wir noch. Obgleich die Umgebung, in welcher die Handschriften
sie bieten , Gorgias' und Alkidamas' Reden , kein güustigea
Vorurteil erweckt, liegt kein stichhaltiger Grund vor, die Echt-
heit der Reden anzufechten''). Im Gegenteil passt nicht alleii
der Gedankengang, welcher mehr einen Philosophen als einei
praktischen Redner verrät, für Antisthenes vortrefflich, sonderi
auch die äussere Form stimmt zu seiner Zeit: Hinsichtlich des
Satzbaus steht er mit den aus wenigen kurzen Gliedern zu-
sammengesetzten Perioden gewissermassen zwischen Gorgias
und Isokrates, ebenso sind die Figuren des Gorgias mit Mass
augewendet; der Ausdruck schwankt manchmal zwischen gor-
gianischer Kühnheit^) und kynischer Nachlässigkeit. Wiewohl
Antisthenes gegen den Hiatus nicht mehr ganz unempfindlich ist,
vermeidet er ihn doch nicht so sorgsam, dass die Echtheit
dadurch' verdächtig würde. Endlich harmoniert der Stoff mit
seiner Richtung.
1) Diogen. 6, 13.
2) Die Fragmente gab Aug. Wilh. Winckelmann Zürich 1842 heraus,
auch M u 1 1 a ch fragni. phil. Gr. II 261 ff. Nachtrag M ü n ze 1 Khein. Mus. 40, 148.
Tiuion sagt von Antisthenes wegen seiner Fruchtbarkeit itavxotpuT] tpXsSöva
(Diog. 6, 18).
3) Die Stelle ist korrupt: 'Opsatou 01110X0^101 vj jrspl StxoYpdtpcuv laoYpafp*»]
^ Jeotac (conj. Aooiac) xal 'looxpdtYjs itpö? töv looxpdxooc ftfJ.'ap'copov (s. S. 102).
4) BlaSs S. 311 ff. gegen Fos-s, Sauppe, Benseier de hiatu p. 169 und
Ad. Müller a. ü. p. 30 IV. ; die Reden sind sculet;ct von Blass beim Antiphon
p. 176 ff. heraxisgegeben.
6) i. B. Inxaßöeiov xtlfu^i vom Schilde des Aias II 7.
Der Dialog (Plato). 279
Unter den Schriften des Antisthenes bilden nämlich die
Abhandlungen eine besondere Gruppe, welche sich auf die
homerischen Gedichte beziehen ^), wie : über Homer, Kalchas,
die Odyssee, den Stab (des Hermes), ,,Odysseus, Fenelope und
der Hund" u. s. w. Offenbar beschäftigte er sich mit der
allegorischen Erklärung der Ihas und Odyssee^). Demnächst
beanspruchen die Schriften, welche sich durch den Titel als
Dialoge kundgeben , das grösste Interesse und hier bemerkt
man, dass Antisthenes nicht bloss ,,sokratische" Dialoge ver-
fasste. Drei führen nämlich den Namen des Herakles^) und vier
sind nach dem weisen Kyros benannt*); auch der Dialog
„Archelaos oder über die Monarchie" ^) war schwerlich sokratisch.
In Athen spielten, wie es scheint, bloss vier Dialoge: ,,Aspasia",
„Sathou oder über den Widerspruch" in drei Teilen, ,,Menexenos
oder über das Befehlen" und ,,Alkibiades". Die beiden ersten
waren Pamphlete in kynischem Geschmacke: ,,Aspasia" gab
Veranlassung, dass Perikles' Gattin bei der Nachwelt zur Hetäre
herabsank, und ,, Sathon" soll gegen Plato, dessen Namen Anti-
sthenes mit unfeinem Spotte verdrehte, gerichtet gewesen sein ^).
Es wird ferner erzählt, dass der Kyniker Piatos Ideenlehre ver-
spottete, doch nennen andere Quellen statt seiner Diogenes '')
die Polemik, welche Plato und Isokrates angeblich gegen ihn
führten^), beruht nur auf Ausdeutung verschiedener Stellen
welche die Eristiker im allgemeinen treffen können oder, wie
der Vorwurf der 6cjii[ia^Eta richtiger auf Euthydemos und seinen
1) Schrader Porphyrii quaestt. Horaeric. reliqu. p. 386 ff.
2) Dio Chrysost. 63, 5. Vielleicht hielt Antisthenes auch die Thebais
für echt, weil er irspl 'A)X(ptapaou schrieb.
3) 'HpaxX-?]c 6 fieiCcuv (vom äusseren Umfang) yj uspl laxooc, 'H. r\
MiSaf;, "^H. y] itepl (ppov-fjascuc y) (? xal) layßoz; vgl. Epist. Socrat. 8,4.
4) Köpoi;, Köpor Y) Ktpl ßaaiXsiac, K. y] epü)[j.EVoc:, K. yj v.axä'Sii.onoi
(Athen. 5, 220 c kennt nur zwei).
6) Nach Dümmler Antistheuica p. 9 f. von Dion Chrysostomos in der
13. Rede benützt.
6) Diog. 3, 35. 6, 16. Athen. 5, 220 d. 11, 507 a.
7) Diog. 3, 35. 6, 7. Simplic. Schol. Arist. 66 b 45. 67 b 18. David 68 b 26.
8) K. Barlen Antisthenes und Plato, Neuwied 1881; K. Urban über
die Erwähnungen der Philosophie des Antisthenes in den platonischen Schriften,
Königsberg 1882; Ferd. Dümmler Antisthenica, Berlin 1882 (besonders
p. 40 ff.); skeptisch Welcker kleine Schriften n 439 ff. K. Fr. Hermann
Gesch. d. piaton. Philosophie S. 499; Steinhart Platous Werke III 81. 556.
280 Neuntes Kapitel.
Bruder bezogen werden. Hingegen sprach Aristoteles seine Ver-
achtung des Antisthenes unverholen aus ').
Weitere Schlüsse aus dem Verzeichnis der Schriften zu
ziehen, scheint deshalb gefährlich, weil es nicht allein echte
Werke enthält. Die Abhandlung über Theognis wurde wahr-
scheinlich von anderen Xenophon zugesprochen ; manches soll
Pasiphon von Eretria gefälscht haben ^). Dem Atticisten Phry-
nichos schienen sogar nur zwei Schriften „Kyros" und ,,über
die Odyssee" echt^). Wir sind nicht in der Lage, ein Urteil
darüber zu fällen, weil die Schriften mit Ausnahme jener zwei
Reden untergingen. Die Schuld daran lag gewiss nicht an
Formlosigkeit; denn Antisthenes war in der rhetorischen Technik
erfahren. Man fand besonders in der aX-zj^sta und dem TcpotpsTr-
Ttxöc die Manier des Gorgias^). Die Kritiker rechneten Anti-
sthenes zu den vorzüglichsten philosophischen Schriftstellern^),
doch wurde er von Plato aus der allgemeinen Lektüre verdrängt
und nach dem Kaiser Julian findet sich niemand, welcher ihn
gelesen hätte.
Das gleiche Schicksal widerfuhr den Dialogen dos A i s c h i n es ^)
den man zum Unterschiede von seinem Namensgenossen bald
von dem Gau Sphettos bald nach seinem Vater Lysanias be-
nannte '). Seine Lebensgeschichte entzieht sich unserer Kenntnis,
abgesehen von der Nachricht, dass er eine Zeit lang am Hofe
des jüngeren Dionys weilte*); in der Heimat erwarb Aischiues,
da er kein Vermögen besass ^), seinen Lebensunterhalt durch
1) Aristot. raet. 4, 29 p. 1024 b 32. 8, 3 p. 1043 b 24.
2) Diogen. 2, 61.
3) Bei Phot. bibl. 158 p. 101 b 10 f.
4) Diogeu, 6, 1.
6) Mit Plato Gell. 14,1,29. Lncian. adv. indoct. 27, mit Plato luul Xeno-
phon Arrian. diss. Epictet. 2,17.35. Fronto p. 14(5 N.; dazu fügen Fronto
p. 116 N und Longinos rhet. p. 305, 19 Sp. noch Aischiues, Dionysios (jud.
de Thucyd. 61) Aiachines und Kritias. Von den Rhetoreu citiert einzig
Demetr. n. fep}J.v)y. 249 Antisthenes.
6) Zeller Philosophie der Griechen IP 1, 204 ff.
7) Sphettier Diodor. 16, 7(j, 4; Lysanias Plat. apol. p. 33 e (also nicht der
Wurethändler Charinos Diogen, 2, 60.)
8) Polykritos bei Diog. 2, 63. Diog. 2, 61 Plnt. de cohib. ira 14. de
adnl. et am. 26 extr. Lucian. paras. 32. Philostr. vit. soph. 1, 35. Epist.
Socrat. 28. Suid.
9) Hegesandros bei Athen. 11,507 c. Diog. 2, 34. 62. Seneca benef. 1, 8.
Der Dialog (Plato), 281
liGzahlte Vorträge und Abfassung von Prozessreden ^). Einmal
Avurde er von einem Bürger, dem Lysias die Anklage aufsetzte,
der Sykophautie angeklagt und mit Schmähungen überhäuft^).
Sein schriftstellerischer Ruf gründete sich auf sieben Dia-
loge^) (Miltiades, Kallias ^), Axiochos^), Aspasia, Alkibiades,
Telauges und Rhinon), welche freihch nicht allen in gleicher
Weise gefielen. Während die einen die sokratische Art mit
solcher Treue darin wiedergegeben fanden, dass der Vorwarf
laut wurde, Aischines habe sie nicht selbst verfasst, sondern
an seinem Lehrer ein Plagiat begangen^), urteilte Timon, dass
Aischines nicht zu überzeugen vermöge und Persaios schrieb
sogar den grössten Teil dem oben bereits genannten Fälscher
Pasiphon von Eretria zu ^). Man rühmte an den Dialogen
Witz und sokratische Ironie, diese ging im ,,Tela u ges" soweit
dass der Leser nicht klug daraus wurde, ob der Dialog im
lernst oder im Scherze gemeint sei ^). Der Stil war bei aller
Einlachbeit rein, sorgfältig und zierlich; an Gedankentiefe stand
Aischines über Xenophon ^). Die axsipaXot SidXoYot, welche
ihren Namen davon trugen, dass ein Eingang fehlte, sprachen
ihm bereits die Alten ab ^") ; einige derselben sind jetzt den
platonischen Dialogen angehängt. Von mehreren in gorgianischer
Art geschriebenen Reden ist es uns nicht mehr vergönnt zu
sagen, ob sie echt waren ^^).
1) Diogen. 2, 62. Schüler werden daher uicht genannt ausser Aristoteles
'> [iöO-oc Diog. 2,63 (lügenhaft Athen. 11, 507 c).
2) Diog. 2, 63. Athen. 13, 611d — f. Welcker Rhein. Mus. 2,391 ff.
= kleine Schriften I 412 ff. verwirft diese Rede ohne Grund.
3) Fragmente bei K. Fr. Hermann disput. de Aeschinis Socratici reli-
(|uiis, Göttiugen 1850.
4) Darin verspottete er Anaxagoras Athen. 5, 220 b.
5) Verschieden von dem pseudoplatonischen Axiochos, vgl. O sann Rhein.
Mus. 2, 504.
6) Menedemos bei Diog. 2, 60, vgl. 62. Idomeneus bei Athen. 13, 611 d,
vt^l. Aristid. or. 45 II p. 24 f. und Phot. bibl. cod. 158 p. 101 b 21. Echt
sokratisch nach Demetr. u. ep|j.Y]v. 297 und Aristid. a. O.
7) Diogen. 2, 61. 62.
8) Lucian. paras. 32. Demetr. ep|j,7jv. 291.
9) Henuog. tc. 18. 2, 3 p. 356, 22 ff. Sp.
10) Peisistratos bei Diogen. 2, 60, weil die suxovia fehlte.
11) Diog. 2, 63 erwähnt öciioXoYta xoö itaxpöc ^aiaxo? atpax-rjYoö "^^^
Atcuvoc; Philostratos citiert epist. 73, 3 H. ev xw Tcepl x-f]c 0apY*riXiac (eine
Hetäre) \b'\ia.
]
282 Neuntes Kapitel.
Von den Atiicisten der Kaiserzeit wurde Aisehines hoch-
geschätzt und zu den Musterschriftstellern gezählt ^) ; doch
scheint er mindestens nach dem dritten Jahrhunderte ver-
schollen zu sein ^).
Antisthenes und Aisehines mussten weit zurückstehen hinter
ihrem jüngeren Genossen Pluto. Während er selbst in seinen
Dialogen beharrlich über sich geschwiegen hat, waren später
Freunde und Feinde bis in das Mittelalter hinein thätig, die
dürftige Ueberlieferung auszuschmücken und beinahe eine:
Sagenkreis um den „göttlichen" Philosophen zu weben.
Schon die unmittelbaren Schüler Piatos teilten Nachrichten über ih
verehrten Meister mit, sei es dass sie, wie Speusippos (Diog. 4, 5. Api
dogm. Plat. 1, 1, in der Form eines aept^etTCvov Diog. 3, 1, «wie Timon ein
'ApxeoiXäou schrieb), Klearchos von Soloi (Diog. 3, 2. Suidas) und angeblich
auch Aristoteles (Rose Aristoteles pseudepigraphus p. 680) Lobreden verfassten
oder, wie Ilermodoros von Syrakus (Philodem. rhet. 6, 6 f. Derkyllides bei
Simplic. phys. 54 v 14. 56 v 7 vgl. Ed. Zell er de Hermodoro Ephesio
Platonico, Marburg 1860 p. 18 fif.), vielleicht auch Xenokrates (Simplic. Seh
Arist. p. 427 a 16. 470 a 27. 474 a 12) und Philippos von Opus (Suidas
<piX6oo(f)oc) in die Darstellung der platonischen Philosophie biographiscl
Notizen einflochten. Dazu kamen dann bald Invektiven, deren früheste vi
Zoilos (S. 75) und Aristoxenos (Diog. 5, 35. Aristokles bei Euseb. praep. e
16, 2, 2) herrührten; aus solchen Streitschriften stammt der Kehricht bei
Athenaios V c. 56 — 63. XIV c, 112 — 120. Diese verschiedenartigen Notizen
wurden später in Biographien zusammengefasst, von denen viele zu Sammel^
werken, welche die Geschichte der Sokratiker (z. B. Phauias Diog. 6
Idomeneus Diog. 2, 19, Favorinus Steph. Byz. 'AXe^avSpsta) oder der Phi
sophen überhaupt (z. B. Porphyrios im vierten Buche der tpiXoootpoc laxopii
beschrieben, gehörten ; erhalten ist bloss die Biographie in dem konfusen
Werke des Diogenes, wo sie das dritte Buch einnimmt (vgl. über ihre
Quellen Maass de biographis GraecisPhilol. Untersuch. III p. 69 flf., U. v. Wi-
lamowitz a. O. p. 143 flf. und Freudeuthai hellenistische Studien III
304 f.). Sonst standen, abgesehen von einem Enkomion des Dion Chrysostomos
und einer Biographie des Zosimos von Alexandrien, die beide aus Suidas
allein bekannt sind, die Biographien im Dienste der Exegese, z. B. eröft'uete
Olymp iodoros seine exegetischen Vorlesungen mit einer Einleitung über
Piatos Leben und Schriften , welche anb (pouv-rj«; 'OXofiirtoSwpou in doppelter
Fassung (teils vor dem Kommentar zu Alkibiades I. teils vor einer allgemeinen
lel-
i
2) Lucian, imag. 17. paras. 32. Phrynich. bei Phot. bibl. 61 p. 20 b
23 ff., wahrhaft begeistert 158 p. 101 b 20. Hermogones n. 18. II p. 419,
27 ff. 8p. Longin. rhet. p. 306, 19. 324, 9 Sp. Aristid. or. n p. 296. S. auch
S. 280 A. 5.
3) Vgl. einen Bibliothekskatalog (Zündel Bhein. Mos. 21, 482).
Der Dialog (Plato). 283
Einleitung) vorliegt, vgl. Freud enthal Hermes 16,207 ff., über die Quellen
Maass a. O. Auch Apulejus schickte seinem Werke de dogmate Piatonis
eine Biographie voraus ; eine zu einer arabischen Eiuleitungsschrift gehörige
Biographie teilt Casiri in der bibliotheca Arabico-Hispana I 301 mit. üeber
eine Platobiographie des Arabers Honain vgl. Gottl. Köper quaestiones Abul-
pharagianae II. Danzig 1867.
Aus der überreichen neueren Literatur hebe ich nur das wichtigste
hervor, indem ich zugleich auf Wilh. Teuf fei Uebersicht der platonischen
Literatur, Festschrift von Tiibingeu 1874 verweise: Die wissenschaftliche
Forschung beginnt mit Corsinis Abhandlung de natali die Piatonis, ejus aetate
et in Italiam itineribus (Gori synibol. literar. VI 97 ff.) ; W. G. T e n n e m a u n
System der platonischen Philosophie, Leipzig 1792 — 95, 4 Bde.; Friedrich Ast
Piatons Leben und Schriften, Leipzig 1816; K, Fr. Hermann Geschichte
und System der platonischen Philosophie I. Heidelberg 1839 (S. 1 — 126 über
das Leben) ; über B ö c k h s Ansichten E. Bratuschek in Bergmanns philosoph.
Monatsheften I (1868) S. 257 ff. ; Ed. Z e 1 1 e r Philosophie der Griechen Bd.
II 1, 286 ff.; Fr. Ueberweg Untersuchungen über die Echtheit und Zeit-
folge platonischer Schriften und über die llauptmomente aus Plato's
Leben, Wien 1861 (über das Leben S. 112 ff.); George Grote Plato and the
other companions ofSocrates, London 1865. ^ 1875, Index 1870 (vgl. Peipers
Gott. gel. Anz. 1869 S. 81 ff. 1870 S. 561 ff.). Die Glaubwürdigkeit der
Ueberlieferung wird von Heinrich von Stein sieben Bücher zur Geschichte
des Piatonismus, II. (Göttingen 1864) S. 158 ff. und Schaarschmidt die
Sammlung der platonischen Schriften, Bonn 1866 S. 61 ff. scharf angefochten.
K. Steinhart Piatons Leben, Leipzig 1873 und Ueberweg Grundriss der
Geschichte der Philosophie I ^ S. 120 If. sind von dieser Kritik vorteilhaft
beeinflusst. Wir werden im folgenden die verschiedenen Grade der Zuver-
lässigkeit zu sondern haben.
Plato war von edler Abkunft; über seinen Vater Ariston
ist- zwar nichts bestimmtes bekannt ^), dagegen gehörte Perik-
tione, die Mutter, zur Familie des Solou^). Als den Geburts-
tag des Philosophen feierte die Schule den siebenten Thar-
gelion^); da jedoch auf diesen Tag auch die Geburtsfeier des
1) Der Name apol. 34 a. rep. 1, 327 a u. ö. Abstammung von Kodros
Diog. 3, 1 ((paai). Apul. 1. Suidas.
2) Der Name Speusipp. u. Clearch. bei Diog. 2 (Der Name IIotcovyj,
welchen Suidas und Diogenes noch erwähnen, ist von der Schwester Piatos
entlehnt Diog. 3, 4. 4, 1. Suid. v. riXätcuv und Xiceuotitico?). Abkunft Diog.
1. Procl. in Tim. p. 25 f. und Cousin IV 67. Apul. 1. Liban. decl. 6 p.
587 a. Said., irrig Olympiod. p. 1, 6 ff. 5, 16. Casiri. Die Bedenken Ast's
(S. 16 f) sind allerdings nicht ganz ungerechtfertigt. Das Demotikon Piatos
war KoXXuteui; (Antileon bei Diog. 3). Aigiua gibt ihm Favorinus (Diogen. 3,
vgl. Olymp, p. 6, 19. Suidas) wegen einer später zu erwähnenden Fabel zum
Vaterlande,
3) Diog. 2 (aus Apollodor?). Plut. quaest. conv. 8, 1, 1 (nach § 2 wurde
284 Neuntes Kapitel. .
delischen Apollo fiel, könnten die späteren Platoniker ihn ab-
sichtlich gewählt haben, gaben sie doch ihrem Schulhaupte den
Lichtgott Apollo zum Vater ^). Immerhin ist es möglich, dass
man eben wegen des Datums auf die göttliche Vaterschaft verfiel.
Was das Geburtsjahr anlangt, so kam Plato im Jahre 427 zur
Welt^). Der frühe Tod des Vaters^) beeinträchtigte die Er-
ziehung der Söhne nicht, im Gegenteil wurden sie dadurch
frühzeitig gereift. Piatos Bruder Glaukon wollte, noch ein halber
Knabe, bereits in der Volksversammlung auftreten^) und er
selbst beschäftigte sich früher als es üblich war mit der Philo
Sophie, in welche ihn der Herakleiteer Kratylos einführte^). ln\
der Musik unterrichteten ihn Drakon, ein Schüler des berühmten
Dämon, und Metellos von Agrigent''); der Athlet Ariston aus
Argos'^) schulte Plato in der Ringkunst so trefflich, dass er bei
i
auch Karneades an diesem Tage geboren). Apul. 1. Olymp, p. 6, 6 ; jedenfalls
wurde der Geburtstag des Sokrates erst nachträglich auf den vorhergehende!
Tag gesetzt.
1) Angeblich (Diog. 2) behaupteten dies schon Speusippos und Klearchos,
was Steinhart S. 36 bezweifelt, vgl. Olymp, p. 1, 10 flf. (tpaoi), die angebliche
Grabschrift ib. p. 4, 42 (vgl. Freudenthal heilenist. Studien III S. 304 f.)»^|
Aristandros y.o.i ol aXXot ^Xetove? bei Origen. c. Gels. 6, 8, Suidas, auch Plutt^f
qu. symp. 8, 1, 2. 3; die Mutter eine ältliche Jungfrau aus dem Apollolande
Lykien Valerius bei Hieronym. ed. Erasm. IV p. 262 d. Von Pindar entlehnte
man die Hymettosbienen (Cic. divin. 1, 36, 78 in cunis, 2, 31, 66. Val
Max. 1, 6 ext. 3. Aelian. v. h. 10, 21. Olymp, p. 1, 14 ff. 6, 29 ff.)
2) Diese Zahl steht fest, wenn anders sie wirklich von Hermodoros -in-
direkt bezeugt ist (Diogen. 6); dem entsprechend nahm ApoUodoros Ol. 88
an (Diog. 2, wahrscheinlich auch Hermippos ibid.). Verschiebungen in den
Chroniken bewirkten, dass spätere Ansätze zwischen Ol. 87, 3 und 89, 3
schwanken. Dass Plato schon die drei Feldzüge von 426, 425 und 424 mit-
gemacht haben soll, ist ein zu arges Versehen, als dass man es dem alten
Aristoxeuos (Diog. 8) zutrauen dürfte; etwa Aristokles?
3) Die Mutter heiratete wieder (Parmenid. 126b).
4) Xenoph. memor. 3, 6, 7.
6) Aristot. metaph. 1, 6 p. 987 a 32, vgl, Speusipp. bei Apul. 2. Un-
richtig setzen daher Diog. 6, Olymp, p. 2, 47 und 7, 36 ft. dessen Unter-
richt nach dem Tode des Sokrates an ; aus dem Parmenides und Kratylos erschloss
man, Plato habe auch bei Hermogenes (Diog. 6. Anon. p. 7, 41), Zenon und Par-
menides (Phot, bibl. 249 p, 439 b 35 (paoi) Unterricht genommen.
6) Beide Ps. Plnt. mus. 17, 1. Olymp, p. 1, 38. 6, 43; Met«llos bei Plut.
(zu dem Namen s. Hermann S. 99, 49). Der Schullelircr Dionysios (Diog. 4,
Apul. 2, Olymp, p. 1,23. 6, 38. Suid.) ist aus erast. 132 a entlehnt.
7) Diog. 4. Apul. 2. Olymp, p. 1, 27. 6, 41. Suid.
Der Dialog (Plato). 285
den Isthmien sich am Wettkampfe beteiligte^). Ausgezeichnet
und vielseitig vorgebildet, wurde er zwanzigjährig mit Sokrates
bekannt 2). Ein schöner Mythus erzählt, dass der alte Philosoph
in der Nacht, welche ihrer ersten Zusammenkunft vorherging,
träumte, ein junger Schwan lasse sich auf seine Kniee nieder
und fliege, nachdem ihm die Fittige gewachsen, unter Gesang
zum Himmel empor ^). Acht Jahre lang verkehrte der Jüngling
mit dem Philosophen, der seine Begabung erkannte und ihm
warme Liebe entgegenbrachte^) ; bei dem verhängnisvollen Prozesse
verliess er ihn nicht, sondern wollte, im Falle dass eine Geld-
strafe verhängt würde, Bürgschaft leisten. Doch verhinderte
ihn Krankheit, die let<^ten Tage mit den anderen Sokratikern
dem geliebten Lehrer zu widmen^); soin Schmerz war so gross,
dass er mit anderen Genossen Athen auf einige Zeit verhess
und sich zu Eukleides nach Megara begab*'). Nach der guten
alten Sitte ging Plato später zur Vertiefung seiner Kenntnisse
auf Reisen; sicherlich besuchte er die Pythagoreer, um ihre
mathematische Philosophie kennen zu lernen ''). Es ist auch höchst
wahrscheinlich, dass das merkwürdige Nilland, für dessen Ein-
richtungen er begeistert war, Plato zu einem längeren Aufent-
1) Dikaiarchos bei Diog. 4 ; er soll an den Isthmien undPythien (Apul. 2,
irrtümlich Olympien und Nemeen Olymp, p. 6, 42) oder Pythien (Porphyr,
bei CyriU. contra Jul. 6, 208 d) einen Sieg errungen haben.
2) Hermodoros bei Diog. 6; Olymp, p. 7, 17, der von 10 Jahren Unter-
richt spricht, rechnet von Ol. 87, '6 an. Suidas verwechselt „20 Jahre alt"
mit „20 Jahre lang".
3) Pausan. 1, 30, 3. Apul. 1. Tertull. anim. 46. Diog, 5, Olymp.
p. 2, 43 {(paoi). 5, 28 ff. Suidas.
4) Xenoph. memor. 3, 6, 1.
5) Plat. apol. 34 a. 38 b. Phaed. 59 b. Späte behaupteten, dass er eine
Verteidigungsrede halten wollte (Justos bei Diog. 2, 41. Olymp. 7, 24 ff. und
in Gorg. p. 392).
6) Hermodoros bei Diog. 6 (entstellt 2, 106) ; vgl. Epist. Socrat. XXI.,
auch 29, 4, Nach Susemihl geuet. Entwicklung I 477 ff. war das Motiv der
Reise ein rein wissenschaftliohea
7) Dikaiarchos bei Plut. quaest. conv. 8, 2, 2 (vgl. Thediuga de
Numenio philosopho, Bonn 1875 p. 2 f.), vgl. auch Aristot. metaph. 1, 6.
Von einer Keise spricht zuerst epist. VII 326 b. Aus dem „Theaitetos" schloss
man, dass er den Mathematiker Theodoros von Kyrene aufsuchte (Apul. 3.
Diog. 6. Olymp, in Gorg, p. 393) ; aber dieser lehrte ja, wie der „Theaitetos"
zeigt, auch in Athen,
286 Neuntes Kapitel.
halte anlockte; sonst würde er schwerlich eine so detaillierte
Kenntnis ägyptischer Verhältnisse besitzen ').
Von diesen Reisen zurückgekehrt, dachte Plato daran, die
sokratische Philosophie, wie sie durch die neuen Eindrücke in
seinem Geiste umgebildet war, anderen mitzuteilen ^). Aber
der stolze Athener Hess sich weder nach der Art der Sophisten
mit reichen jungen Leuten bekannt machen noch fand er Ge-
fallen daran, wie sein Lehrer Markt und Strassen und Gymna-
sien auf und abzuwandern und die Leute, mochten sie wollen
oder nicht, in eine Disputation zu verwickeln, Plato erwarb
vielmehr , durch die Fieberluft nicht abgeschreckt ^), einen
Garten an einem der schönsten- Punkte in der Umgebung
Athens, dem Akademiebezirke, der durch reiche Vegetation ge-
schmückt war und einen herrlichen Ausblick auf die Stadt
gewährte^). Dort errichtete er ein Heihgtum der Musen, welches
der Mittelpunkt einer religiösen Genossenschaft werden sollte ^) ;
wer Belehrung wünschte, konnte den Philosophen in dem
Haine aufsuchen. Ferne von dem Lärmen und Treiben der
grossen Stadt disputierte er auf- und abwandelnd mit seinen
1) Paul Schmidt de locis Aegyptiacis iu operibus Platonicis, Breslau
1874 (besonders leg. II 656 c — 657 a. Tim. 20 d ff. polit. 264 c). Die Reise
erwähnen Strabo 17,806 {uic, sTpTjTai '^'ot), Cicero und viele andere (das meiste
hei Parthey zu Plutarch, Isis und Osiris S. 183 und v. Stein II § 17);
nach Plutarch (bei Theodoret. vol. IV 1032) verband er seine Reise mit einem
Oelhandel. Schaarschmidt S. 61 ff. leugnet die Reise; v. Stein und Karsten
de epistulis Plat. p. 163 ff. zvpeifeln. Plato wollte angeblich auch die Magier
besuchen, wurde jedoch durch Kriege davon abgehalten, worauf ihm diese
nach Phönikien entgegenkamen (Apul. 3. Diog. 7. Clemens protr. p. 46 a.
Lactant. inst. 4, 2, 4. Olymp, p. 4, 7 fi. 7, 48 ff.) Nach einigen christlichen
Autoren wurde er in Aegypteu durch den Propheten Jeremias mit der Offen-
barung bekannt gemacht (August, doctr. Christ, 2, 28, skeptischer civ. d. 8, 1 1
und besonders retract, 2, 4, vgl. Job, Philop. de mundi aetern. 6, 28).
2) Usener Preussische Jahrbücher 1884 S. 4 ff.
3) Porphyr, abstin. 1, 36 ((paot), Hieron. c. .Tovin. 2, 9. Simeon Logoth.
serm. 19, 2 (faai).
4) Diog, 20, neben dem Kolonos Herakleitos (?) bei Diog. 6, vgl. Paus.
1, 30, 4; dazu stimmt das Testament Piatos (Diog. 41), sowie was Pausanias
über sein Grab sagt (1, 30, 3), Weil Timons Turm nahe dabei lag (Paus.
1, 30, 4. Olymp, p. 8, 1), erzählte man von ihrer Freundschaft (Olymp,
p. 4, 17),
5) Diog. 4, 3. U, V, W i 1 a m o w itz Antigonos von Karystos S. 263 ft.
(besonders 279 ff.).
Der Dialog (Plato). 287
Genossen, z, B. über Definitionen^); doch hielt er auch zu-
sammenhängende Vorträge , was Sokrates nie gethan hatte ^).
Mehrere der Alten knüpfen die Gründung der sogenannten
Akademie an ein dunkles Ereignis, über welche die Nachrichten
so verschieden lauten, dass es jetzt unmöglich ist, die Wahrheit
zu erkunden. Nachdem nämlich Plato die Weisheit der Pytha-
goreer kennen gelernt hatte, wollte er, heisst es, die Gelegenheit
benützen und den Aetna, den griechischen Wunderberg, aus
eigener Anschauung kennen lernen ^) ; dabei lag es nahe , dass
er auch mit dem Herrscher von Syrakus bekannt wurde und
Dion für die Folgezeit an sich fesselte. Darauf beschränkt sich
der siebente platonische Brief ^), der zugleich meldet, Plato
habe damals vierzig Jahre gezählt, mit anderen Worten, er sei
bereits ein berühmter Mann gewesen. Von einem gewaltsamen
Ende weiss dieser alte Platoniker nichts. Aber weil die gegnerischen
Philosophen Plato solch' friedlichen Verkehr mit den Tj^annen
verargten, wurde in der Folge dazu gesetzt, dass ein kühnes
Wort Piatos den alten Dionysios gereizt ■'"') und den Philosophen
in grosse Gefahr gebracht habe^). Worin dieselbe aber bestand,
das erzählt beinahe jede Quelle verschieden. Dionysios hess
Plato, wieDiodor behauptet''), in Syrakus verkaufen, worauf ihn
seine dortigen Freunde befreiten, oder er übergab ihn dem
spartanischen Gesandten Pollis. Von diesem löste ihn Archytas
oder Pollis verkaufte ihn auf Aigiua in die Sklaverei^) oder
er setzte Plato bloss auf Aigina aus und dann kommt ein neues
Moment in die Legende. Die Aigineten sollen ihn nämhcli als
1) Alexis bei Diog. 27. Epicur. bei Atb. 8, 354 b 6 FlXaTojvoc ueptTraxoc
vgl. Favorin. bei Diog. 24.
2) Aristoteles bei Aristoxenos elem. rhythm. 30 ; vgl. Alexand. bei
Simpl. phys. 104 v 38 ff. Themist. or. 21, 245 c.
3) Hegesandros bei Ath. 11,507 b. Apal. 4. Diog. 18. Olymp, p. 3,6.
7, 60 ff. und in Gorg. p. 393.
4) Epist. VII. 324 a. 326 b ff. Nach Com. Nep. X 2, 2 veranlasste Dion
die Einladung des Philosophen, was von der späteren Reise entlehnt ist.
5) Plut. Dion. 5. Olymp, p. 9, 3 ff. vgl. 7, 52. Tzetz. 10, 862 ff. Casiri.
6) Hegesandros bei Ath. 11, 607 b sxivSüvsuoe ; Cic. pro Rabirio Post. 9, 23
in maximis periculis insidiisque esse versatum.
7) 15, 7, 1, vgl. Com. NeposX 2, 3, Suidas.
8) Ersteres Tzetz. chil. 10, 996 (Nach den Aelteren greift Archytas bei
der dritten Reise ein), letzteres Diog. 3, 19 f. Casiri (fehlerhaft Olymp, p. 3,
89 ff.), variiert Aristid. orat. 46 p. 381 ff. Cant.
288 Neuntes Kapitel.
Athener auf Grund eines Gesetzes vor Gericht gezogen haben,
worauf der Philosoph freigesprochen oder verkauft wurde ^).
zur Erzählung von PoUis gehört sonst der Schluss, dass Annikeris
von Kyrene den Philosophen freikaufte und, weil er sich das
Lösegeld nicht ersetzen Hess, diese Summe zum Ankauf des
Gartens verwendet wurde''').
Wir lassen es dahingestellt, was an diesem Anekdotenkram
wahr ist; sicher steht aber, dass Plato auf die Einladung des
Dion den jüngeren Dionysios bald nach seiner Thronbesteigung
(Ol. 103, 2 = 367/6) besuchte, weil jener glaubte, Plato werde
nach und nach den jungen Fürsten zu einer Art von
aufgeklärtem Despotismus bewegen können ^). Als die Aus-
sichtslosigkeit dieses Versuches klar \^urde, kehrte der Philosoph
nach Athen zurück und nur die Hoffnung, Dion mit den
Tyrannen wieder zu versöhnen, bewog ihn zu einer zweiter
Reise ; auch diese verfehlte ihren Zweck *), Es war gut für dil
Akademie, dass der Meister nicht lange ferne blieb ; denn schol
waren, während Herakleides die Schule leitete, Intriken gegei
dieselbe gesponnen worden ^). Plato lebte nun still für siel
vom öffentlichen Leben zurückgezogen, aber von Wissbegierigel
aller hellenischen Gaue aufgesucht ; selbst einzelne emanzipiert
Frauen schlössen sich seiner Schule an '^). Erst in hohei
1) Diog. 19 (ersteres ans Favorinus), vgl. Tzetz. Cbil. 10, 946 ff. 970]
ohne jene Gerichtsverhandlung Plut. Dion 6 (die Uebergabe an PoUis ifi
korapliciert dargestellt). Eine Vermutung bei Bergk fünf Abhandl. S. 12
2) Diog. 20. Olymp, in Gorg. p. 394. Tzetz. Cbil. 5, 139 f. 10, 866
874. Es scheint, dass bereits im Index academic. pbilos. III 11 (p. 4 BücheU
diese Erzählung gemeint ist.
3) Epist. 7, 327 b— d, vgl. 329 c. Plut. Dio 12. Nepos 10, 3. Späte«
fabelten, dass er von dem Tyrannen ein Land zur Errichtung eines Must
Staates wollte (Diog. 21. Themist. orat. 17, 216 b, entstellt Casiri).
4) Plut. Dio 18 ff. Epist. 7, 338 b. Nach Neanthes bei Diog. 25 tra
er auf der Kückreise Dion in Olympia, woraus man schliesst, dass die Reis
361 stattgefunden habe. Angeblich kam er auch dieses Mal in Lebensgefal
(evtot bei Diog. 21), aber Archytas rettete ihn; der gefälschte Brief desselbe
nimmt darauf Bezug, dass die Pytbagoreer Plato zur licise bewogen (Pla|
Dio 11).
6) Aristoxenos bei Euseb. praep. ev. 16, 2, 2. Aristid. orat. III p. 4l(
Said. V. 'HpaxXet^Yjc Etj^ücppovoi;, vgl. Ammon. vit. Ai-istot. p. 10, 31 ff. We
6) Dicaearch. bei Diog. 40.
Der Dialog (Plato). 289
Alter, über achtzig Jahre alt, starb Plato Ol. 108, 1 (346) ^);
bis zum Tode soll er sich unermüdlich mit literarischen Arbeiten
beschäftigt haben ^). Sein Grab war an der Stätte, wo er ge-
wirkt hatte ^).
Plato war keineswegs, wie viele der Alten seinen Namen aus-
deutend meinten*), breitschulterig, sondern etwas bucklig ^) ;
seine Stimme klang schwach •'). Die Miene war ernst und
würdig '^). Ueber Piatos Charakter sind eine Menge Anekdoten
überliefert, welche teils müssiger Kombinationslust teils der
Gehässigkeit anderer Philosophenschulen entsprangen. Jene
waltet bei dem Gerede vor, welches das Verhältnis Piatos zu
den übrigen Sokratikern betrifft ^). Es ist begreiflich, dass die
Späteren unter den bei Plato auftretenden Personen seine be-
rühmten Mitschüler vermissten, sie hätten jedoch erwägen sollen,
wie sehr Sokrates bei Plato im Vordergrunde steht, so dass
1) Dionys. epist. ad Amm, I 5, Diog. 3, 2. 34. 6, 25. Suid. v. Sitso-
QiTZKoz (unrichtig Casiri); im 81 Jahre nach Hermippos bei Diog. 2 (vgl. 4).
Cic. sen. 5, 13, 81 Jahre (wegen des mystischen Charakters dieser Zahl) Sen.
ep. 58, 31 (nach diesem starb er gerade am Geburtstage). Ps. Lucian. macrob.
21. August, civ. d. 8, 11. Censorin. die nat. 15, 1. Olymp, p. 9, 20. Casiri,
im 82. Jahre Val. Max, 8, 7 ext. 3, volle 82 Athen. 5, 217 d, 84 nach Neanthes
bei Diog. 3 (irrtümlich nach Di eis Ehein. Mus. 31, 41 f.).
2) Nach Dionys. comp. verb. p. 208 arbeitete er noch mit 80 Jahren;
Cicero a. O. erzählt, dass er schreibend starb. Nach Hermippos (Diog. 2)
trat der Tod bei einem Hochzeitsmahle ein, anders Suidas. Philon sprach
von tpO'Eipiaaii;, der Krankheit der berühmten Männer (Diog. 40). Eine von
Homer entlehnte Fabel bei Joh. Sarisb. polier. 2, 26 aus Nicom. Flav.; über
einen prophetischen Traum Olymp, p. 4, 27 S. 5, 37 ff.
3) Diog. 41. Pausan. 1, 30, 3.
4) Man hielt HXaxouv für einen Ehrentitel wie Theophrastos und
Stesichoros; darum glaubte man, Plato habe früher einen anderen Namen
geführt, etwa, wie es üblich war, den seines Grossvaters Aristokles. IlXatcov
wurde bald auf die breite Brust bald auf den Geist bezogen. Vgl. Epigramm
bei Diog, 43. Seneca ep. 58, 30. Plin. ep. 1, 10. Apul. 1. Sext. Emp. 1, 258.
Diog. 4. 5. Olymp, p. 1, 28 ff. 5, 18 fl. Suidas vgl. Simplic, in Arist. phys.
183 r 49.
5) Plut. de adul, et amic. discr. 12. Körperschönheit Arrian. diss. Epict.
1, 8, 13, vgl. Apul. 1.
6) Timotheos bei Diog. 5.
7) Amphis bei Diog. 28; zu den \t.s\a'^-^o'kt.v.oi gerechnet Aristot. probl.
30, 1 p. 953 a 27.
8) Allgemein Dionys, ad Pomp, und Athen. 1 1 , 506 a ff.; handgreifliche
Lügen bei Hegesandros (Athen. 11, 507 cd). Vgl. v. Stein II 39 ff.
Si t tl , Geschichte der griechischen Literatur. II. 19
290 Neuntes Kapitel.
I
alle übrigen, wenn nicht eine lächerliche, doch mindestens eine
bescheidene Rolle neben ihm spielen. Wie taktlos wäre es nui
gewesen, wenn Plato anerkannte Schulhäupter, mit denen ihi
die Anhänglichkeit an Sokrates verband, in diese Lage versetz
hätte. Er konnte mit wenigen Ausnahmen zu Unterrednerij
nur Dilettanten oder Afterphilosophen gebrauchen, vor allei
weil er Sokrates seine eigenen Ansichten unterlegte. Wer di(
nicht einsah, erblickte darin eine böswillige Absicht und sucht
nach weiteren Spuren von Feindseligkeiten; natürlich fände*
sich Stellen vor, welche bei entsprechender Interpretation einei
polemischen Sinn in sich zu bergen schienen. Wie Plato z<
Xenophon stand, interessiert uns jetzt am meisten. Währen^
Plato dessen Namen nie genannt hat ^), erwähnt dieser, das
Sokrates Plato hochschätzte, und citiert, wenn auch ohne dell
Namen, seine Schriften ^). Den Literarhistorikern dagegen schiel
in der Wahl gleichartiger Stoffe ein Akt der Feindschaft zl
liegen ^). Was Aristippos anlangt, sollte die bekannte Aeusserun^
Piatos (Phaidon 59 c), dass sich jener bei Sokrates' Tode ai
Aigina befand, ironisch gemeint sein; die Nachrichten über
die Art, wie sie am syrakusanischen Hofe neben einander lebtei
sind rein anekdotenhaft ^). Aristoteles ^) beschränkt sich auf dij
Erzählung, dass sich Aristippos gegen Plato einen kleine!
Ausfall erlaubte. Ueber Aischines ist die Tradition ganz ui
zuverlässig ^). Hingegen spricht die Wahrscheinlichkeit dafüpj
dass die derben Kyniker die Sokratiker anderer Richtung und
am meisten gerade Plato ^) nicht verschonten. Wie es
um die angebliche Feindschaft zwischen Plato und Isokrates
steht, haben wir S. 129 dargelegt. Es ist schwer zu glauben,
dass der stolze Philosoph verdeckte Angriffe auf seine Genossen
1) Nach den Scholieu meinte er ihn Alcib. 123 b mit avSpic i^tonisToo.
2) Xenoph. mem. 3, 6, 1. sympos. 8, 32 fif. (s. n.).
3) Diog. 34; Böckh de simnltate quam Plato cum Xenophonte exer-
caisse fertur, ind. lect. hib. Berlin 1811 = gesammelte Schriften IV 1 S.
4) Zeller S. 291 A. 2; v. Stein S. 67 flf.
6) Rhetor. 2, 23 p. 1398 b 29.
6) Dass Plato bei dem Plane, Sokrates fliehen zu lassen, den reiche
Kriton statt des armen Aischines setzte, ist eine Insinuation des Epikureer
Idomeneus (Diog. 2, GO. vgl. 36. 3, 36); Rivalität bei Dionys Diog. 6.
7) lieber! Antisthenes s. 8. 279; über Diogenes Diog. 6, 26 f. 40 f. 63
68. Aelian. v. h. 14, 33. Theon itpo-f. 6 p. 98, 14 ff. Sp. Stob. flor. 13, 37.
Der Dialog (Plato). 291
machte, die Sophisten bekämpfte er sicherlich immer offen ^) ;
gewiss hat ihn Leidenschaft und Eifersucht^) zu diesem Kampfe
ebensowenig aufgestachelt, wie zu der scharfen Kritik der Dichter.^}
Was ihm vollkommen unsympathisch war, wie die Atomistik,
das ignorierte Plato völlig*).
Die sicilischen Reisen wurden Plato unaufhörlich vorge-
worfen und zogen ihm den Vorwurf des Schmarotzens und der
Schmeichelei zu ^), weil er die Freigebigkeit des Dionysios und
Dion stark ausgenützt haben soll ^). Etwas mehr Recht hatten
diejenigen, welche den Philosophen einer Schwäche für Hetären
und schöne Knaben beschuldigten, insofern als wirklich erotische
Epigramme von Plato vorhanden waren ^); doch warum
wollen wir sie nicht lieber dem Komiker dieses Namens zu-
schreiben, da doch einige derselben voralexandrinisch scheinen^)?
Wie man den persönlichen Charakter Piatos verdächtigte,
so griff man seine Schriftstellerehre an. Bald warfen ihm die
Gegner vor, er habe im Timaios pythagoreische Bücher abge-
1) Hypothesen, wie dass er im Symposion Hippias treffen wollte (Stall-
baum proleg. p. 28), sind Piatos nicht würdig.
2) Walz rhet. IV 15, 14.
3) Diouys. ad Pomp, de Plat. 1.
4) Aristoxenos bei Diog. 9, 40 (vgl. 3, 25) beutete vermutlich eine
Aeusserung Piatos aus.
5) Epist. Plat. 7, 326 b ff. Epikuros bei Diog. 10, 8. Molon bei Diog.
3 34 u. s. w. Piatos Verdienste um die Kochkunst Tzetz. Chil. 10, 814 ff.
6) Dionysios schenkte ihm über achtzig Talente (Onetor bei Diog. 9).
Dion bezahlte ihm eine Choregie Athenod. bei Diog. 3. Plut. Aristid. 1. Dio
17; Geiz im Alter Floril. Monac. Nr. 227 p. 285 Mein. Arsen, viol. p. 508
Walz. Piatos Armut: Gell. v. h. 3, 17, 1. Aelian, v. h. 3, 27, 1. Damasc.
bei Phot. cod. 242 p. 346 a 34, anders Hieron. contra Jovin. 2, 9.
7) B e r g k poetae lyrici Graeci II'' 295 ff.; der Verfassername ist übrigens
bei zehn unsicher. Vgl. J. A. W ernicke de epigrammatis quae vulgo
Piatoni philosopho adscribuntur, Thorn 1824.
8) Die Echtheit einzelner wird schon von Aristippos nepl TptxpYjc (Diog.
29) und der Quelle von Athen. 13, 589 c angenommen, vgl. noch Aelian. v.
h. 4, 21 (Alciphron. epist. 1, 34 irrtümlich). Epigr. 6 (Anthol. Palat. 7, 35)
kann nach einer inschriftlicheu Imitation (Mordtmann Mittheil, des arch.
Instit. in Athen IV. S. 18, vgl. V S. 82) spätestens aus dem zweiten Jahr-
hundert stammen. Nach Epist. Socrat. 15, 3 leugnete Plato, dass er solche
Gedichte verfasst habe; sie seien von Sokrates. Socher S. 431 ff., K. Fr. Her^
mann S. 100 f. und Steinhart S. 76 f. 295 verwerfen alle Epigramme; Bergk
verteidigt einige.
19*
292 Neuntes Kapitel.
schrieben*) und im Staate sowie, als er gegen die Eleaten
polemisierte, an Protagoras ein Plagiat begangen ^), oder er
plünderte nach ihrer Behauptung Epicharmos ^), oder er ent-
lehnte den grössten Teil seines Systems aus den Vorträgen
von Aristippos, Antisthenes und Bryson^). Andere spotteten,
dass der Philosoph seinen Staat von den Aegyptern geholt
habe ^). Spätere Angriffe galten der Glaubwürdigkeit Piatos,
weil man an seine Dialoge den Massstab historischer Erzähl-
ungen anlegte, z. B. wussten sie zu erzählen, dass Sokrates dei
platonischen Lysis dementierte ^).
Doch wenden wir uns von diesem widerwärtigen Klatscl
sogenannter Philosophen zu den Schriften Piatos, damit er sie
selbst in seiner wahren Natur zeige. Hier tritt uns ein voii
nehm er Mann entgegen, der sich am liebsten in vornehme
Gesellschaft bewegt ^) und das planlose Treiben des unbeständige
Demos verabscheut. Wie es^ bei seiner Abkunft nicht andei
sein konnte, spricht er vom Volke und dessen Führern ra^
grosser Herbigkeit ^). Jedoch stellte er keine der bestehend«
Regierungsformen als alleinberechtigt hin, sondern konstruiert
seinen Idealstaat, obgleich er die wirklich bestehenden Gesetz
gebungen berücksichtigte, nach philosophischen Prinzipien.
Vor den Alleinherrschern empfand Plato keineswegs den Abscheu
eines echten Republikaners, sondern sprach sogar die Hoffnungei
die er von einem jungen, unverdorbenen Tyrannen hegte, ui
1) Er kaufte Philolaos oder dessen Erben pythagoreische Schriften
(Timon bei Gell. 3, 17, 1 u. a. s. das letzte Kapitel). Dion soll ihm
Geld dazu gegeben (Tzetz. Chil. 10, 797 ff. 11, 2 ff. Casiri) oder den Anka<
besorgt haben (Satyros bei Diog. 9 ; es gab offenbar einen darauf bezüglichen"
Brief Piatos Diog. 8, 15. 84).
2) Arlstoxenos bei Diog. 37. 57. Porphyr, bei Euseb. praep. ev. 10,8,24:
S) Alkimos bei Diog. 9.
4) Theopomp, bei Athen. 11, 608 c.
5) Krantor bei Prokl. in Tim. 24 a. Später reklamierten Juden und
Christen die Priorität für die Offenbarung (Fabricius-Harles III 62. 148 ff.).
6) Diog. 35.
7) Z. B. im Laches. Er macht Charmid. 154 e. 155 a. 167 e. Lysis
206 c vornehmen Familien Komplimente.
8) Besonders im Gorgias 515 c ff . ; Nie b uh r kleine historische Schriften
S. 467 wirft ihm sein angeblich unpatriotisches Benehmen mit grosser Schärfe
vor, wogegen F. Delbrück Vertheidigung Piatons gegen einen Angriff Nie-
buhrs auf seine Bürgertugend, Bonn 1828 gerichtet ist.
Der Dialog (Plato). 293
verhohlen aus und bewies es durch die That, als er nach Syrakus
ging; auch mit dem makedonischen König Archelaos soll er in
Verbindung gestanden sein, hingegen scheint zwischen ihm und
Philipp von Makedonien kein gutes Verhältniss bestanden zu
haben *) ; es ist begreiflich, dass Plato's aristokratische Neig-
ungen ihn zur Monarchie hinzogen. Die Gespräche bewegen
sich stets in den feinsten Umgangsformen. Dabei besitzt Plato
freihch ein hohes Selbstgefühl und geht mit den gegnerischen
Philosophen unbarmherzig ins Gericht % er referiert und kritisiert
die Lehren seiner Vorgänger nicht wie der kühle Aristoteles,
sondern greift sie mit grösstem Eifer an, ohne jedoch die
Grenzen der Schicklichkeit zu verletzen \ Man kann Piatos
Verhältniss zu seinen Gegnern nicht günstiger beleuchten als
durch den Hinweis, dass er der erste und beinahe der einzige
Heide war, welcher in der vorchristlichen Zeit dem Grundsatze
seiner Landsleute widersprach, dem Feinde zu schaden sei sogar
Pflicht *). Sein religiöses Gefühl Hess ihn auch den Volks-
glauben nicht verachten ^). Er trat dem Glauben an persönliche
Götter nicht entgegen und missbilligte die kahle rationalistische
Erklärung^); selbst Anaxagoras' Aeusserung über die Sonne
gefiel ihm nicht und an dem Alter der orphischen Gedichte
hat er nicht gezweifelt ^). Plato war eben nicht ein blosser
Verstandesmensch, welcher dem Geiste unbeschränkte Macht
beilegt ; er besass soviel Selbstkritik um zu erkennen, dass
jede Philosophie, seine eigene nicht ausgenommen, nur einen
Teil der Dinge überzeugend erklären kann, während sie für
das übrige, wie die Religion an den Glauben appelliert ; der
Philosoph zog daher seinem System eine Grenze, über welche
1) Das kaum verständliche utp'oü (^tXiTnrou) xal STCiTiixYiO-vjva'. Theopomp.
bei Diog. 40 ist aus Athen. 11, 506 ef (vgl. Greg. Nazianz. poem. mor. 9.
325> ff.) zu erklären. Gegen Jakob Bernays Phokion und seine neueren Be-
urteiler, Berlin 1881 richtig Gomperz Wiener Studien 4, 11 0 ff.
2) Anekdoten über seine personliche Mässigung Diog. 3, 38. Val. Max
4, 1 ext. 2.
3) Welcker kleine Schriften II S. 432 f. Jak. Bernays gesammelte
Abhandlungen I S. 214 A. 1.
4) Theodoret. IV p. 769. 780; v. Stein II S. 4 ff.
5) Phaedr. 229 c.
6) Vgl. Heine de ratione quae Platoui cum poetis Graecorum inter-
cedit qui ante eum floruerunt, Breslau 1880 S. 28 ff.
294 Neuntes Kapitel,
nach seiner Ansicht die Dogmatik des Verstandes nicht drang,
sondern allein die Phantasie gelangte, und stellte das transscen-
dentale in poetischen ,, Mythen" dar ^).
Man darf darum die „Wissenschaftlichkeit" Piatos nicht
herabsetzen , denn er stand weder an Vielseitigkeit noch an
Gründlichkeit der Kenntnisse hinter Aristoteles zurück, wiewohl
diesem ein grösseres Forschungsmaterial zu Gebote stand. Die
mathematischen Wissenschaften waren ihm so vertraut, dass er
sie durch eigene Forschungen förderte und , indem er Schüler
und Freunde anregte, einen grossen Aufschwung dieses Wissens-^
Zweiges hervorrieft); ebenso studierte er die Physiologie. Voi
der Heilkunde hätte der Philosoph nicht so häufig Beispiel«
entlehnt, wäre sie ihm nur oberflächlich bekannt gewesen ; ii
die Sprachwissenschaft trug der ,,Kratylos" neue Gedankei
hinein, an die freilich der bescheidene Massstab jener Zeit ai
gelegt werden muss ^). Die auf Konstruktion eines Idealstaatc
gerichteten Studien führten P lato auch auf die älteste Geschichte!
die Art, wie er im dritten Buche der Gesetze die Zustände d(
prähistorischen Athens aus den Sagen und Homer komponierte
erinnert an die freilich nüchternere Einleitung des thukydide-^
ischen Geschichtswerkes. Der Schöpfer jenes Phantasiegebildes be-^
trachtete die ganze ältere Geschichte einschliesslich der dorischer
Wanderung, die er in eigentümlicher Weise auifasste *), al
Sagen, deren historischer Kern durch Speculation heraus
geschält werden müsse.
So verbindet Plato in allem mit der Gelehrsamkeit poetisch«
Frische , wie er im Leben Massigkeit und Frohsinn einte,
war er doch ein Freund der frohen Geselligkeit, der gerne beim
1) Literatur bei K. Fr. Hermann S. 556 f., Teuffei 7, 11, Ueberweg
(Geschichte der Thilosophie I. 6. A.) S. 143; Jul. Deuschle die platonischen
Mythen insbesondere der Mythos im Phaedrus, Hanau 1854; Volquardseu
über den Mythus bei Plato, Schleswig 1871 (hier sind die früheren An-
sichten besprochen).
2) U'sener Preussische Jahrbücher 1884 S. 11 ff.; über Piatos Mathe-
matik Literatur bei Ueberweg S. 143, besonders Carl Blass de Piatone
mathematico, Bonn 1861.
3) Ueberweg S. 148 (besonders Jul. Deuschle die platonische Sprach-
philosophie, Marburg 1862) und die Schriften über den „Kratyloa".
4) Leg. 3, 682 e ((iuö-oXoYeixe), 683 d (xö xoü jaüO-oo).
Der Dialog (Plato). 295
Weine geistreich plauderte*). Mit einem durchdringenden Ver-
stände und einer haarscharfen Dialektik verband sich
künstlerischer Enthusiasmus. Wir brauchen die Anekdote,
nach welcher Flato, als er zu Sokrates kam, seine Gedichte
verbrannte^), nicht, um zu erkennen, welch' grosser Dichter in
Plato der Poesie verloren gegangen sei. Sein Interesse und Ver-
ständnis aller schönen Künste^) beweist ja jede Seite seiner
Werke. Den Phaidros erfüllt eine zu jener Zeit seltene
Schwärmerei für Naturschönheit und keiner hat eine reinere Be-
geisterung für das Ebenmass der mensclüichen Gestalt aus-
gesprochen.
Plato war also ausserordentlich vielseitig, was in seinem
Wesen merkwürdige Gegensätze hervorrief. Er hat das feinste
Gefühl für Poesie und Kunst und doch bezieht er sie rein auf
den Staat; die Poesie soll eine Lehrerin der Moral sein und
bei der Kunst wird das ägyptische Kastenwesen gepriesen ^).
Plato verdammt die Rhetorik und bedient sich ihrer mit
Meisterschaft; er schätzt die Schriftstellerei gering und gibt so
viele und mit grösstem Fleiss ausgefeilte Werke heraus. Freilich
ist der letztgenannte Widerspruch nicht so gross als man meinen
sollte. Plato hat sich über die philosophische Literatur im
Phaidros (274 b ff.) deutlich ausgesprochen ^). Er sieht als
Schüler des Sokrates einen wahren Fortschritt der Philosophie
nicht in der Abfassung von Büchern, sondern glaubt der Wahr-
heit erst dann wirklich nahe gekommen zu sein, wenn sie durch
den Gedankenaustausch von Zweien gesucht worden ist. Lehr-
bücher, wie sie Aristoteles zu verfassen liebte, hat demgemäss
1) Dafür bürgen das Symposion und das erste Buch der Gesetze. Die
asketischen Neaplatoniker oktroierten Plato Vegetarianismus (Olymp, p. 6, 36 f.)
und Cölibat (Suidas).
2) Diog. 5. Aelian. v. h. 2, 30. Olymp, p. 2, 35. 7, 18 ff. vgl. Casiri;
Gell. 19, 11, 2 weiss bloss, das? er Tragödien verfertigte, vgl. Apul. 2.
Suidas. Ursprünglich hiess es, er sei in Dithyramben, auf die der Phaidros
zu weisen schien (Apul. 2. Olymp, p. 2, 10 ff. 6, 52 ff.), Tragödien (Olymp.
p. 2, 7) und Lustspielen (Olymp, p. 2, 21 ff. 7, 3 f.) unterwiesen worden.
3) Darum behauptete man, dass er in seiner Jugend in Malerei dilettierte
(Diog. 5. Apul. 2. Olymp, p. 2, 5. 7, 12 ff.).
4) Leg. 2, 656 e.
5) Vgl. K. Fr. Hermann über Piatos schriftstellerische Motive, ge-
sammelte Abhandlungen S. 281 ff.; Zeller Hermes 11, 84 ff.
296 Neuntes Kapitel.
Plato niegeschrieben sondern seine Fachkenntnisse lieber mündlich j
zum Nutzen der Schule verwertet, er wollte, wie Fr. A. Wolf
von sich sagte, niemals Schriftsteller, sondern Lehrer sein. Wenn
er sich dennoch zur Herausgabe philosophischer Schriften ent-
schloss, so waren diese nach seiner Anschauung ein Erinnerungs-
mittel für die Schüler, das ihnen die wissenschaftliche Dis-
putation in das Gedächtnis zurückrief, während die Laien
durch die Dialoge zur Erforschung der Wahrheit angeregt und
von den falschen Philosophen abgezogen werden sollten. In
der That gewannen sie ihm aus allen griechischen Ländern
begeisterte Schüler *). Wer diese Absicht Piatos in Betracht
zieht, wird sich nicht wundern, dass so viele schöne Dialoge
ohne ein positives Resultat, das der Leser bequem im Kopfe
behalten könnte, enden; trotzdem lassen alle einen Stachel in
der Seele zurück.
Immerhin legte Plato auf diese Propädeutik ein grosses'
Gewicht, denn er hat zahlreiche Schriften hinterlassen. Doch
gab es hier für die alten Kritiker zu thun, weil auch unechte-
Dialoge den berühmten Namen sich anmassten. Wie Aristophanes "
von Byzanz, welcher die Schriften Piatos zuerst registrierte,
über die Echtheitsfragen dachte, wissen wir leider nicht, denn J
Diogenes (62) führt nur einige Trilogien des Registers an^.
Thrasyllos aber, der bekannte Astrolog des Kaisers Tiberius %
erkannte nur sechsunddreissig Schriften und die Briefe für echt'
an ; übereinstimmend wurden zwölf Dialoge verworfen ^). Von
diesen gingen fünf, MiSwv 7) tTCTrotpöipoc, 4>ataxe<;, XeXiSwv •''),
1) Themist, orat. 23 p'. 295 cd (zum Teil aus Aristoteles).
2) Ueber die Ordnung Nusser Platous Politeia, Amberg 1883 S. 3 ff.
Christ Abhandl. der bayer. Akad. 17, 461 ff.
3) Siivin M^nioires de l'Acad. des Inscr. X. (1736) S. 89 ff.; K. Fr.
Hermann de Thrasyllo grammatico et mathematico, ind. 1. Göttingen 1862;
Suckow S. 168 ff.; Ueberweg S. 190 ff. 195 ff.; H. v. Stein II S. 182 ff.;
Christ a. O. S, 470 ff. Die Identität der beiden Thrasyllos ist bloss Schol.
Juven. 6, 676 (wozu Longinos \)ei Porphyr, vit. Plotin. p. 114, 24 W. passt)
ausdrücklich ausgesprochen und wird durch Varro 1.1.7,37 (vgl. Victorius
variae lect. XVIII 2), der angeblich den Phaidon mit „Plato in quarto"
citiert, nicht widerlegt, denn eine solche Citierweise wäre unerhört.
4) Diog. 63.
6) Wohl dem Ualkyou ähnlich ; vgl. zum Titel Themist. or. 26 p. 329 d.
Der Dialog (Plato). 297
'Eß56{jnrj *), 'E;ri[i£vtSYjc '), gänzlich verloren ; sieben dagegen bilden
mit dem Prädikate vöd-oi oder vo^£Dd[A£Voi in den Handschriften
einen Anhang. Bei zweien derselben ist es ganz unbegreiflich,
wie sie in Piatos Naehlass kamen; denn der „Sisyphos" ist
kein sokratischer Dialog, sondern spielt in Pharsalos. Der
„De modo kos'' besteht aus einem an Demodokos gerichteten
Sendschreiben und drei moralischen Erzählungen. Die übrigen
fünf sind allerdings sokratisch, zwei davon aber (axeipaXoo) Trspl
Stxatoo und Trspl apet'^c ^) dürre Examinationen. Somit bleiben
drei Dialoge, bei denen es notwendig ist das Urteil der Alten
zu begründen. Von dem Halkyon (Eisvogel), der auch unter
Lucians Werken sich umtreibt, wusste man später noch, dass
ein Leon der Verfasser war*) ; c. 8 erscheint bereits die Fabel,
Sokrates habe zwei Frauen gehabt.
Der ,,Eryxias" oder ,,Erasistratos" ^) verrät sich durch
seine ethnographische Gelehrsamkeit als Werk deralexandrinischen
Periode und zwar dürfte er in Aeg3'pten, jedenfalls ausserhalb
Attikas geschrieben sein ^). In der attischen Geschichte und
Geographie ist der Autor wenig bewandert ''). Karthago war zu
seiner Zeit noch eine bedeutende Handelsstadt (400 e); auf
Syrakus ist er nicht gut zu sprechen (392 bc).
1) Der Titel dürfte aus Lucian. philops. 16 zu erklären sein.
2) Doch stammt der letzte Name wahrscheiulich nicht von Thrasyllos
her, sondern von einem Grammatiker, welcher sich erinnerte, Plato £v 'Eiti-
}ievt8-jj citiert gefunden zu haben; diese Verderbnis von euivojjit?: ist noch
nachweisbar, s. Heinichen zu Euseb. praep. ev. 11, 15 A. 7. Einen Dialog
„Ki|j.(üv" citiert Athen. 11, 506 d; die Erklärer nehmen willkürlich eine Ver-
wechslung mit FopY^a? an. Ein Platofragment ohne näheres Citat bei Menand.
Im^. c. 6 p. 339, 25 Sp. = Walz IX 148.
3) Aus dem Meuon gezogen (B ö c k h comm. in Piatonis qui vulgo
fertur Minoem p. 40) ; beide hält Böckh (s. S. 275 A. 9) für Schriften des Simon.
4) Athen. 11, 506 c (aus Nixiai; 6 Nixaeuc). Favorinus bei Diog. 62,
vgl. Olymp, proleg. c. 26.
5) So nennt ihn Diog. 62, vgl. Schanz Studien zur Geschichte des
Platotextes S. 10. Er gehört zu den axscpaXot (Suid. v. Aia)([vf)c). C. H. Ha ge n
observ. oeconomicopolit. in Aeschinis dialogum qui E. inscribitur, Königs-
berg 1822.
6) P. 394 e gilt peutelischer Marmor als Kostbarkeit; vgl. die Nachricht
über Aethiopien 400 b.
7) Das Haus des Pulytion (394 c. 400 b) kennt er aus den Rednern, die
übrigens von dessen Pracht nichts sagen ; die Stoa des Zeus Eleutherios stammt
298 Neuntes Kapitel.
Diesen Dialog erzählt angeblich Sokrates, wie auch de;
„Ax iochos", gleichfalls das Werk eines Nichtatheners. Denni
wir finden bekannte Namen der athenischen Topographie ohne
Verständnis zusammengestellt; wem der Kynosarges bestimmt
war, scheint dem Verfasser gleichfalls unbekannt^). Die über-
flüssige und unverdaute Gelehrsamkeit ^) erinnert an den
,,Eryxias", den vielleicht derselbe Schriftsteller verfasst hat.
Die Entstehungszeit lag übrigens von der platonischen ohne
Zweifel weit ab : Man wählte Sokrates zum Tröster eines
Sterbenden gewiss erst dann, nachdem der „Phaidon" allbekannt
war; der grammatische Unterricht gehörte damals bereits zur;
höheren Bildung (366 e). Der Dialog ist so erzählt, dass de:
Wechsel der Personen nur dem Leser deutlich ist ^).
Einige unechte Sachen scheinen erst nach der Zeit de
Thrasyllos entstanden oder von ihm unbedenklich verworfea
worden zu sein, weil sie dieser nicht einmal erwähnte. S
wird im fünften Jahrhundert ein Buch Trspi (poaixr^c; genannt*)]
und ein in arabischer Uebersetzung erhaltenes Verzeichnis dei
Alexandriners Theon zählt sechs sonst unbekannte Schriften;
auf ^). Endlich besassen die Syrer ,, Piatos Rat an seineu
Schüler"*'), die Araber ein astrologisches Werk'') und, wie eil
I
aus „Theages". Seltsame Vorstellungen scheint der Verfasser von den Ur-
sachen der sicilischen Expedition (392 c) und dem Lykabettos (400 b) zu|
haben. Anderes bei K. Fr. Hermann S. 581, 157.
1) Ein bistorischer Fehler ist 368 d ol Ssxa OTpaxYjYot. Eine Versammlunj
von 30000 Bürgern 369 a ! Ueber das Stp-otpov (366 c) ist meines Wissena
nichts bekannt.
2) Die Geschichte von Gobryes 371 a ist, wie die Form des Namens zeigt,]
aus jonischer Quelle abgeschrieben; sie setzt bereits die S. 286 A. 1 erwähnte,
Verbindung von Plato und den Magiern voraus,
3) Auch das Imperfekt uixet 365 a gilt dem Leser. Marsilius setzte demj
Dialog ,,Xenocrati8 Platonici de morle" vor, weil dieser itepl ö-avdxou schrieb.
4) Claudianus Mamertus de statu animae 2, 7 p. 124, 17 Engelbr.
6) Casiri, bibliothecu Arabico-Hispana I p. 302 (die Titel lauten in ;
lateinischer Uebersetzung: de comparationibus ; de unitate; de inteUectu, de]
aninia, de substantia et accidentia; de sensu et delectatione ; de juvenum
moribus ; de geometriae elementis).
6) Hrsg. von S ach au inedita Syriaca, Wien 1870 (vgl. S. IV), übersetzt
bei B. H. Co w per Syriac miscellanies, London 1861.
7) LIrwähnt in der Encyklopädie des Uadschi Klialfa V 109 (de speciebus
Septem, eariim arcauis et de speciebus quadraginta octo).
Der Dialog (Plato). 299
aristotelisches , so auch ein platonisches Traumbuch , das viel-
leicht in lateinischer Uebersetzung dem Abendlande bekannt
wurde ^) und das Mittelalter las alchy mistische Schriften unter
Flatos Namen ^).
Nur durch Ungenauigkeit hiessen zwei Schriften, welche
andere Speusippos zuteilten, platonisch, nämlich der verlorene
Dialog „Mandrobulos" ^) und die erhaltenen Definitionen (opot),
eine sachlich geordnete Sammlung von Definitionen, die sich
zum Teil auf die Worterklärung beschränken ; manches erinnert
an die pointierten Sprüche der Neupythagoreer ^).
Mit der Ausscheidung dieser Schriften, über deren Unecht-
heit kein Zweifel besteht, ist der ursprüngliche Bestand noch
nicht hergestellt, denn Thrasyllos übte das Amt des Kritikers
mit grosser Vorsicht aus und schloss die allgemein ver-
worfenen Schriften allein aus.
Briefe Piatos ^) kannte bereits der Grammatiker Aristo-
phanes; wie viele jedoch, wird nicht berichtet. Thrasyllos
nahm dreizehn (wahrscheinlich I. — XIII.) in seine Sammlung
auf, ausser welchen fünf von sehr geringem Umfange und
dürftigem Inhalt*^) unter anderen Philosophenbriefen überliefert
sind. Von jenen wurden der XII. und XIII. Brief, wie ihre
Stellung und handschriftliche Bemerkungen zeigen '') , im
1) Hadschi Khalfa II 311. Passavanti meint wahrscheinlich beide Schriften,
wenn er gegen Ende seines specchio sagt: si mettono a interpretare i sogni.
che non farehbe Socrate ed Aristotele.
2) H. Kopp Beiträge zur Geschichte der Chemie I S. 358 A. 44.
3) Anon. in sophist. elench. Comm. in Aristot. XXIII 4 p. 40, 14; vgl.
Philolog. Jahresberichte 34 (1883) S. 17f. Bywater Journal of philol. 12, 17 flf.
4) Manche legten sie nach Diogenes 4, 25 und Olymp, proleg. c. 26
Sx>eusippos bei; Plato wurdep sie offenbar wegen Aristot. de gen. et corr. 2,
3 zugeteilt. Eine teilweise verschiedene Sammlung ist in syrischer Ueber-
setzung erhalten (Hrsg. v. Sachau inedita Syriaca, Wien 1870, vgl. S. IV.);
die opoc sind zu unterscheiden von den Staipsosic, v?elche Diog. 3, 80 ff. zu-
sammengestellt und auf Aristoteles (de gen. et corr. 2, 3 p. 330 b 16) zurück-
geführt sind. — Das Citat von Fulgeutius myth. 2, 7 (vgl. Virg. cont. p.
747) „in moralibus" bezeichnet, wenn nicht erfunden, eine Sentenzensammlung.
6) Am besten in Herchers epistolographi Graeci p. 492 ff. heiausgegeben.
6) 'Etpsaxtaocüv XIV. stammt aus Piatos Testament.
1) Unter dem XIII. steht in Handschriften vo^suEtai; er gehörte zu
I.— III. Zwei Handschriften haben folgende Unterschrift unter XII., welcher
mit IX. verbunden sein sollte : vodsüexat tue oh llXdiwvoc.
300 Neuntes Kapitel.
Altertum angefochten ; Proklos verwarf alle Briefe ^) und Photios
sprach wenigstens ein ungünstiges Urteil über sie aus ^). Ob-
gleich sich schon im siebzehnten Jahrhundert die Kritik an die
Briefe wagte^), schonte Bentley merkwüi-digerweise diese Samm-
lung allein'^). Seit Meiners ^) wurde jedoch höchstens die Echt-
heit des IL Vll. und VIII. Briefes in Schutz genommen **) ;
indes können nicht einmal diese vor einer Prüfung bestehen'^).
Gerade der achte Brief enthält eine chronologische Anspielung
(353 e) von der Art, dass er zwischen 284 oder 270 und 241
verfasst sein muss. Die Briefe stammen nicht aus einer Fabrik ;
dies erhellt vor allem aus den an Dionysios gerichteten Schreiben,
die bald den Philosophen dem Tyrannen schroff gegenüber-
stellen (P). III.) bald beide im freundlichsten Verkehr zeigen
(II. XIII.); der dreizehnte Brief, worin Plato dem Dionysios
förmlich Rechnung über seine Ansprüche ablegt, sieht gerade^
wie die boshafte Intrigue eines Antiplatonikers aus^). Wie es^
1) Olympiod. c. 26.
2) Epist. 207.
3) Menagius verwarf den 6. und 13. Brief, Olearius ad L. Allatii do^
Script. Socrut. dialogum exerc. (Leipzig 1696) §. X, „nonnuUas"; Cudworth
systema intellect. IV § 23 hielt den XIII. Brief (neuerdings von Christ
Abhandl. der bayer. Akad. 17, 477 ff. verteidigt) für christlich.
4) Remarks upon a late discours of free thinking II. 38 ff. (auch Acta
erudit. Lips. 1715 Jan. p. 7 f.).
5) Commentatt. societ. Gotting. V(1783) p. 51 ff., bekämpft von Tenne-
mann Lehren und Meinungen der Sokratiker S. 17 ff. System der platonischen
Philosophie S. 106 ff.
6) So Böckh Graec. tragoed. princip. p. 163 f. und J. A. Grimm
deepistolis Platonicis utrura genuinae sint, Berlin 1815; Niebuhr Vorlesungen
über alt€ Geschichte III. 140 lässt höchstens VII. und VIII. gelten, Morgen-
stern de Piatonis republica I p. 79 nur VII.
7) Ast S. 504 ff. Socher S. 376 ff. K. Fr. Hermann S. 423 ff. 690 ff.;
E. A. Salomon de Piatonis quae vulgo feruntur epistolis, Pr. des Friedr.-
Wilh. Gymn. Berlin 1835 (er betrachtet jene drei Briefe als die ältesten);
H. Karsten comm. crit. de Piatonis quae feruntur epistolis praecipue III.
VII. et VIIL Utrecht 1864; Sauppe Götting. gel. Anz. 1866 S. 881 ff.; Gust.
liohrer de soptima quae fertur Piatonis epistola, I. Jena 1874 II. Insterburg
1874; Steinhart Piatons Werke VKI S. 279 ff. und Piatons Leben
S. 9 ff. 273 f.
8) Marisilius Ficinus hat das Glück gehabt, mit seiner Behauptung,
dieser Brief sei von Dion geschrieben, Glauben zu findcu ; gleich die ersten
Worte widerlegen ihn.
9) P. 363 a wird der Phaidou citiert I
Der Dialog (Plato). 301
nm den achten Brief steht, haben wir vorliin gesehen; der
Inhalt des zweiten und des dritten ist offenbar aus dem siebenten
geschöpft ^). Dieser darf für den ältesten gelten , trotzdem ist
er ebenso wenig von dem Philosophen selbst gesehrieben, son-
dern von einem Platoniker, welcher die Sicilien fahrten des
Schulhauptes gegen den Spott der Gegner zu rechtfertigen beab-
sichtigte. So kam es, dass der Brief, welcher an die Partei-
genossen Dions adressiert ist, nicht, wie er ankündigt, ihnen
nützliche Ratschläge erteilt, sondern Plato wegen seines Ver-
hältnisses zu dem Tyrannen verteidigt; diesen Fehler suchte
ein Zweiter durch Erfindung des achten Briefes wettzumachen ^).
Das siebente Schreiben zeugt von sorgfältigem Studium des
Plato, aber gewisse Spuren beweisen, dass das platonische Ge-
wand erborgt sei ^). Wie es scheint, gingen andere gefälschte
Briefe verloren^).
Das Interesse an der Echtheitsfrage nimmt zu, sobald
man an die eigentlichen Quellen der platonischen Philosophie,
die Dialoge herantritt; leider weichen aber die Meinungen der
Forscher ausserordenthch von einander ab^). Zuerst unterzog
Schleiermacher die Dialoge einer scharfen Prüfung und erkannte
nur zwanzig Schriften für unverdächtig an; Ast überbot ihn.
1) Karsten a. O. p. 16. 17 ff.; auch VIII, schliesst sich an VII.
336 b— 337 e.
2) In welchem Verhältnis diese Briefe zu Plutarchs Biographie des Dion
stehen, darüber wird gestritten: Bachof de Dionis Plutarchei fontibus,
Göttingen 1874; Herin. Stössell epistolae Platonicae et Dionis vita Plu-
tarchea quomodo cohaereant, Cöslin 1876 (Diss. v. Greifswald); H. Müller
de fontibus Plutarchi vitam Dionis enarrantis, Greifswald 1876.
3) So das unpassende tttw Zeuc,cp7]olv b ^Tjßalo? 345 a (aus dem
Phaidon).
4) Diog. 8, 84.
5) Ausser den S. 283 erwähnten Schriften vgl. im besonderen Friedrich
Ueberweg Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge platonischer
Schriften und über die Hauptmomente aus Piatos Leben, Wien 1861 ; K.
Schaar Schmidt die Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung
der echten von den unechten untersucht, Bonn 1866; gegen beide Stein-
hart Zeitschrift für Philosophie N. F. Bd. 51 (1867) S. 224 ff. 58 (1871)
S. 32 ff. 193 ft'.; Ed. Alberti Gesichtspunkte für angezweifelte platonische
Gespräche, Philol. Suppl. HL (1867) S. 107 ff., neu abgedruckt 1878; Suckow
S. 181—422 will eine bestimmte Anordnung der Gedanken zum Massstabe
der Echtheit macheu.
802
Neuntes Kapitel.
indem er nur vierzehn zuliess. Besonnener ging K, F. Hermann]
vor, der aehtundzwanzig Dialoge niclit beanstandete, wie aucl
Stallbaum und Steinhart siebenundzwanzig verteidigten. Ein!
neuer Ansturm erfolgte durch Suckow, welcher bis auf neun
Dialoge alles verwarf; üeberweg beliess Plato vierzehn Dialogej
unbedenklich und fünf mit Reserve. Von ihm ist Zeller, wenn
er die platonische Philosophie aus neunzehn Dialogen darstellt,"
beeinflusst; die Behauptung Schaarschmidts, nur neun Dialogej
seien echt platonisch, fand mit Recht ebenso w^enig Zustimmung!
wie auf der anderen Seite Grotes Festhalten an Thrasyllos.
Die Untersuchung der Echtheit muss von den Zeugnissen j
des Aristoteles ausgehen ^); da dieser Philosoph jedoch die
platonischen Dialoge nicht wie ein Grammatiker citiert, schliessenl
seine Citate nicht alle Bedenken aus ; sie zerfallen nach ihrer j
Fassung in mehrere Gruppen. Die Authenticität einer Schriftj
ist natürlich dann am besten bezeugt, wenn Aristoteles den
Titel derselben ausdrücklich anführt; man bedarf dabei nicht
einmal der Beifügung von Piatos oder Sokrates' Namen. Auf!
diese Weise sind Gastmahl , Gesetze , Gorgias , der kleinere j
Hippias, Menexenos, Menon, Phaidon, Phaidros, Staat und
Timaios gesichert. Ein Zweifel ist nur dann möglich, wenn
Aristoteles Sokrates oder Plato — beides gilt ihm gleich — j
ohne den Titel einer Schrift anführt; dabei macht es keinen]
Unterschied, welches Tempus er gebraucht^). In diese Klasse]
gehören Apologie, Philebos^), Theaitetos, Sophistes und Politikos.
Aristoteles setzte aber auch Piatos Schriften als so bekannt
voraus, dass er ohne irgend welches Citat darauf anspielte.
Hier kann man hinsichtlich des ,,Protagoras" allein zur Ge-
wissheit gelangen*), dass ihn Aristoteles kannte; dagegen gehen
1) Vgl. den index Aristotelicus von Bonitss (dazu Hermes HI 448);
Trend elenburg Platouis de ideis et numeria doctrina ex Aiistotele illu-
strata, Leipzig 1826 p. 8 ff.; Zeller platou'sche Studien, Tübingen 1889
8. 201 ff. und Philosophie der Griechen 11 1,397 ff.; Suckow Form der
plat. Schriften S. 49 ff.; Uoberweg a. O. S. 131 ff.
2) Zeller Philosophie S. 896 A. 2 gegen Üeberweg UntersuchnngeD
8. 140 ff., welcher dadurch mündliche und schriftliche Aussprüche sondern wollte.
3) liestritten von Schaarschmidt a. O. S. 278 ff.; gegen ihn
Georgii Jahrbb. f. Phil, 97, 300 ff.
4) Bonitz Hermes 3, 447 ff.
Der Dialog (Plato). 303
die Ansichten über die Benützung von Charmides, Euthydemos,
dem grösseren Hippias, Kratylos, Ladies, Lysis und Parme-
nides auseinander. Wie auch das Urteil in den einzehien
Fällen lauten raag, soviel steht fest, dass das blosse Schweigen
des Aristoteles kein Recht gibt, eine Schrift deswegen zu ver-
werfen ; denn unzweifelhaft echte Dialoge werden von ihm rein
zufällig einmal angeführt^).
Die zweite Stelle kommt den Urteilen der alten Kritiker
zu; ich meine nicht die willkürliche Kritik der Philosophen,
welche die wertvollsten Werke irgend einer Theorie zu Liebe
verwarfen, wie dies Panaitios bei dem „Phaidon"*) und Proklos
gar bezüglich des Staates und der Gesetze thaten ^) ; vielmehr
haben die zünftigen Kritiker manche Schriften des thrasyllischen
Kanon angezweifelt, unter ihnen Thrasyllos selbst, der z. B.
den kleinen mit Benutzung des ,, Charmides" verfassten Dialog
'AvTspaaxac beanstandete^). Von dem zweiten Alkibiades
über das Gebet erkannten die Alten, dass der Lihalt von
der platonischen Philosophie weit abliege , und rieten auf
Xenophon^). Proklos wies sodann nicht ungeschickt die Un-
echtheit der Epinomis, eines Anhangs zu den Gesetzen,
nach ^), während Aristophanes von Byzanz die Echtheit nicht
bezweifelt hatte; später vermuteten manche, dass Philippos von
Opus, weil er nach der Ueberlieferung die Ausgabe der „Ge-
setze" besorgte, diesen Anhang beigefügt habe'); aber des
1) Zeller a. O. S. 408 f.; über den grösseren Hippias s. u.
2) Asklepios Schol. Aristot. 576 a 39. Anthol. Palat. 9, 358, vgl.
Socher über Platous Schriften S. 24 ff., Zell er Phil, der Gr. II* 384, 1
und Commeut. in hon. Momms. p. 407 f.; auf solche nicht zur Akademie
gehörige Kritiker bezieht sich Hierokles bei Phot. bibl. 214 p. 173a 27 B.
3) Olympiod. proleg. 25, vgl. Freudenthal Hermes 16, 201 ff. gegen
Zell er Hermes 15,248.
4) Diog. 9, 37; die Handschriften haben den Titel 'Epaoxat ('AvTepaotat
Thrasyllos a. O. und Diog. 3, 59, Procl. ad Euclid. p. 19).
5) Athen. 11, 5C6c (ki-fsxrxi). Nach Steinhart Piatons Werke I 519
von einem Kyniker ; Böckh in Buttmanns Kommentar S. 139 bezog
eine Stelle auf die Stoiker.
6) Olymp, prol. 25, vgl. Freudenthal Hermes 16, 202 A. 1; ebenso
urteilte schon Fr. Patricius discuss. peripat. t. I IIb. III. p. 27.
7) Diog. 37. Suid. (fikozofoq, ebenso Böckh in Minoem p. 73 ff. und
die vierjährigen Sonnenkreise der Alten S. 34 ff., Zell er Philosophie II* 1,
694 A. 1, Susemihl vor der Uebersetzung S. 1875 ff. Vgl. Stallbaum
de epinomidis vulgo Piatoni adscriptae fide et auctoritate, Leipzig 1855,
304 Neuntes Kapitel.
unplatonischen findet sich dort so viel, dass diese Vermutunj
wenig Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Erst die neueren Gelehrten sind in der Verwerfung voi
drei Dialogen übereingekommen, die teils im Inhalt teils in der
Form gänzlich unplatonisch sind. Durch einen wahrhaft selt-
samen Zufall geriet Kleitop hon^) unter die Schriften Piatos,
obgleich er nicht nur nicht platonisch ist, sondern sogar einen
Angriff auf die Schule des Sokrates im allgemeinen' enthält.
Sokrates stellt nämlich Kleitophon zur Rede, weil er im Ge-
spräche mit Lysias ihn getadelt und den Unterricht des Thrasy-
machos gelobt habe. Kleitophon gibt jenes teilweise zu unc
legt ihm seine Ansicht auseinander , welche dahin geht
Sokrates - Plato verstehe das Gute mit schönen begeisterter
Worten zu loben und die Menschen dazu anzueifern, aber
selbst sei nicht weiser als die anderen. Da die Namen Kielt
phon, Lysias und Thrasymachos unverkennbar aus dem erster
Buche des ,, Staates" entlehnt sind, wie noch manches au^
anderen Schriften, und die Polemik individueller Züge ermangelt
dürfte das Gespräch erst nach dem Tode Piatos verfasst sein^j
Zwei andere Dialoge sind äusserlich so harmlos, dass si«
von einem Künstler wie Plato nicht herrühren können; deij
Hipparchos^) und M,inos*) sind ja gleich den oben b«
sprocheneu axd^aXot rein katechetisch abgefasst ; jenen verwarfei
übrigens schon alte Kritiker^). Eine deutliche Spur der Eni
stehungszeit fehlt hier, doch kannte Aristophanes bereits dei
Minos. Bei anderen Dialogen schwanken die Ansichten, wes-j
halb wir unser Urteil auf die Besprechung der einzelnen]
platonischen Werke verschieben.
Nächst der Echtheit beschäftigte die Reihenfolge del
1) Zuerst von Schleiermacher 11*3, 469 flf. verworfen. Bertini Rivist
di fllologia I 467 ff.; Rud. Kunert quae inter Clitophontem dialognni ef
Piatonis rempnblicam intercedat necessitudo, Greil'swald 1881 (p. 18 ff. meint]
er, es sei eine Streitschrift gegen das erste Buch der Republik und Platoj
habe dieses Werk deswegen fortgesetzt; p. 13 f. stimmt er Grote bei, nach]
welchem Xenophons „Erinnerungen" gegen den Kleitophon gerichtet waren)
2) So K. Fr. Hermann S. 42(5; Susemihl in der Uebersetzung 6, 607 fTJ
8) Schleiermacher I 2,328ff.;BückhinMinoem p.31 ff., Ast S.498ff. u. s.wj
4) Böckh comm. in Platouisqui vulgo fertur Minocm, Halle 1806.
6) Aelian. var. bist. 8, 2.
Der Dialog (Plato). 305
Schriften den Scharfsinn /ahlreicher Gelehrten^); jetzt liaben
sprachliche uild philosophische Einzelforschungen zu einem im
allgemeinen gewiss richtigen Resultate geführt, noch vor wenigen
Jahren dagegen wäre bloss eine kritische Darstellung der
Hypothesen möglich gewesen, da äussere Zeugnisse über die Reihen-
folge beinahe gänzlich fehlen. Aristoteles berichtet nur, dass die
Gesetze nach dem Staate geschrieben waren ^), und Krantor,
dass der Staat dem Timaios vorhergingt). Das übrige ist durch-
sichtige Kombination: Warum blieb der Kritias Fragment?
Weil Plato darüber starb*). „Phaidros" wurde als Programm
seiner Lehrthätigkeit aufgefasst und galt demnach für die erste
Schrift^). Plato scheint manchmal auf seine früheren Werke
zu verweisen ; da jedoch ausdrückhche Rückbeziehungen nicht
stattfinden durften, damit die Abgeschlossenheit eines Dialoges
nicht zerstört würde, waren etwaige Anspielungen nur den
unmittelbaren Schülern des Philosophen vollkommen verständ-
lich und Versuche, solche aufzufinden, müssen problematisch sein^).
Den Griechen und den älteren Philologen war die Zeitfolge
der platonischen Schriften vollkommen gleichgiltig ; ihre An-
sichten gingen nur darüber auseinander, in welcher Ordnung
dieselben studiert werden sollten^). Erst Tennemann (System
der platonischen Philosophie I llöfif.) fasste die Frage historisch
auf. Aber die Philosophen wollten auf die Theorie nicht ver-
1) Ausser den S. 283 erwähnten Schriften vgl. Ueberweg Fichtes Zeit-
schrift für Philosophie N. F. 57 (Halle 1870) S. 55 ff.
2) Aristot. polit. 2, 6 p. 1264 b 26.
3) Procl. in Tim. p. 24 a, vgl. Suckow S. 158 f.
4) Plutarch. Sol. 32. Schol. in der Biblioth. Coislin. p. 228; ebenso
wertlos sind die Anekdoten Diog. 35. 37. Athen. 11, 505 de.
5) Diog. 38 (vgl. 62). Olymp, proleg. 3 (aber nicht schon Dikaiarchos,
wie Suckow S. 160 flf. meinte, den Susemihl Jahrbb. f. Phil. 71, 703
widerlegt) ; anders Cicero orator 13, 42.
6j Zeller platon'sche Studien S. 194; Schaarschmidt Sammluug
der platonischen Schriften S. 231 ff.; H. Siebeck Jahrbücher f. Philol.
131, 225 ff.
7) Ueber die Ordnung des Albinos Suckow S. 8 ff. ; die Ordnung des
Aristophanes ist natürlich nicht chronologisch, wie Munk die natürliche
Ordnung der plat. Schriften S. 3 f. vermutet. Ueber die Ordnungen von
Ficinus, Serranus. u. A. Ast S. 49 fif. K. Fr. Hermann S. 561 ff. Vgl.
Diogen. 3, 49. Albin. 4. Olympiod. in Gorg. p. 111, auch Taurus bei Gell.
noct. Att. 1, 9, 9 s. Freudenthal hellenistische Studien IH S. 316 f.
S i 1 1 1 , Geschichte der griechischen Literatur. II. 20
306 Neuntes Kapitel.
ziehten: Schleiermacher ^) stellte sich vor, Plato^habe beinahe
sämmtliche Werke nach einem bestimmten vorgefassten Plane
ausgearbeitet, eine Annahme, welche, bei Aristoteles nicht unmög-
hch, für Plato, zumal bei der eigentümlichen Anschauung, die
er von der Schriftstellerei hatte, nicht im mindesten passt;
überhaupt hätte sie nur bei einem gealterten Manne, der vor
dem Tode die Summe seiner Studien systematisch zusammen-
fassen will, einige psychologische Wahrscheinlichkeit. Berechtigt
dagegen, wenn auch einseitig, war die Hypothese von Ast
(Piatons Leben und Schriften, Leipzig 1816)^), welcher die Dialoge
einteilte, je nachdem sie mehr dramatisch, oder dialektisch oder
rein wissenschaftlich sind. K. Fr. Hermann (Geschichte und
System der platonischen Philosophie I.) wies zuerst der Forschung
den richtigen Weg; indem er von der natürlichen Ansicht aus-
ging, dass Plato, als er zu schreiben begaim, seine Philosophie]
nicht fertig im Kopfe trug, sondern gleich jedem Menschen'
sich allmälig entwickelte, suchte er diesen Stufengang desj
platonischen Genius in den Werken nachzuweisen. Nach seiner
Ansicht begann der Philosoph mit polemischen Schriften, inj
denen er die Gebrechen des täglichen Lebens (Hippias minor,.
Ion, Alkibiades L, Lysis, Charmides, Laches) und die Sophisten
(Protagoras und Euthydemos) bekämpfte; den getreuen Schüler
des Sokrates zeigen noch Apologie, Kriton, Gorgias, Euthyphron, |
Menon und Hippias major. Der dialektischen Periode, welche
mit Piatos Uebersiedelung nach Megara zusammenhängt, gehören!
Kratylos, Theaitetos, Sophistes, Politikos und Parmenides an.
Von seinen Reisen zurückgekehrt, begann Plato in konstruk-
tiven Dialogen (Phaidros, Menexenos, Symposion, Phaidon,,
Philebos, Staat, Timaios, Kritias und Gesetzen) eine positive!
Philosophie zu entwickeln. Diese Annahmen Hermanns liegen
auch den neueren Theorien von Susemihl, Michelis (die Philo-
sophie Piatons in ihren Beziehungen zur geoffenbarten Wahrheit!
1) In seiner Uebersetzung I* 17 ff. (vgl. Suckow 8. 1 ff.); er unterschied
I. elementare Dialoge: Phaidros, Protagoras, Parmenides — dazu Lysis,
Laches, Charmides, Euthyphron; Gelegenheitsschriften.- Apologie und Kriton;
II. indirekt dialektische : Theaitetos, Sophiste.s, Politikos, Phaedon, Philebos,
— dazu Gorgias, Menon, Euthydemos, Kratylos und Symposion; III. kon-
struktive: Staat, Timaios, Kritias; dazu Gesetze.
2} Vgl, Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst I. H, 1. Landshut 1808.
Der Dialog (Plato). 307
kritisch aus den Quellen dargestellt, Münster 1859 — 60, 2 Bde.),
Ueberweg ^) und Steinhart (in den Einleitungen zu Hieron.
Müllers Uebersetzung) zu Grunde ^). Freilich stellte sich
allmälig heraus, wie sehr vor allem eine unbefangene und
detaillierte Bearbeitung der platonischen Philosophie notthue.
Hermann Bonitz zeigte in seinen bekannten ,, platonischen
Studien" (I. U. über Gorgias, Theaitetos, Euthydemos und
Sophistes, aus den Schriften der Wiener Akademie 1858 S. 241 ff.
1860 S. 247 ff., 2. Aufl. Berlin 1875), dass jeder Dialog für
sich nach seinem Gedankengang liebevoll und ohne Vorurteil
erforscht werden muss ; daraus kann erst ein getreues Bild der
platonischen Philosophie und ihrer allmäligen Entfaltung ge-
wonnen werden. Der Gedanke von Bonitz trug Früchte in den
Arbeiten von Juhus Deuschle (Dispositionen der Apologie und
des Gorgias von Piaton und logische Analyse des Gorgias,
Ztsch. f. Gymnasialwesen 14, 353 ff. 15, 1 ff., neu als Anhang
zur Gorgiasausgabe von Cron, Leipzig 1867) % Fritz Schultess
(Platonische Forschungen, Bonn 1875) und J. Nusser (Piatons
PoHteia nach Inhalt und Form betrachtet, Amberg 1882; Inhalt
und Reihenfolge von sieben platonischen Dialogen, Amberg 1883*).
In den letzten Jahren gingen mehrere Platoforscher zur
monographischen Lösung der Zeitfrage über. Schon früher war
die stufenweise Entwicklung einer eigenartigen Ansicht Piatos,
l)esonders der Ideenlehre gelegentlich verwendet worden, ^) doch
ohne Konsequenz. Zuerst forderte Schultess (platonische Forsch-
ungen, Bonn 1875 S. 53 ff.) auf, einzelne Dogmen durch alle
Schriften hindurch zu verfolgen; aus der Frage, wie Plato die
Seele auffasste, ergab sich unter anderem die Bestätigung der
1) Vgl. auch ztsch. f. Philosophie 57 (1870) S. 55 ff.
2) Ed. Munk die natürliche Ordnung der platonischen Schriften,
Berlin 1857 ordnet die Dialoge nach den verschiedenen Lebensaltern, wie
Sokrates auftritt; Teichmüller die Reihenfolge der platonischen Dialoge,
Leipzig 1879 und literarische Fehden IL zu Piatons Schriften, Breslau 1884
verwertet Theaet. 143 c und augeblich polemische Stellen.
3) Vgl. Deuschle über den inneren Gedaukenzusammenhang im
Platonischen Phaedrus, Ztsch. f. Alterthum-sw. 1854 S. 25 ff.
4) Vgl. auch F. Sehe die die Reihenfolge der platonischen Dialoge
Phaedros Phaedon Staat Timaeos, Pr. v. Bozen, Innsbruck 1876.
5) z. B. Sigurd Ribbiug genetische Entwicklung der platonischen
Ideenlehre, Leipzig 18^3—64, 2 Bde.
20*
308
iTeuntes Kapitel.
Ansicht, dass der Phaidou vor dem Phaidros entstand. D. Peipei
erforschte hierauf in dem Buche ,,ontologia Platonica, ac
notionum terminorumque historiam symbola" (Leipzig 1883|
einen wichtigen Punkt der platonischen Lehre und gelangt
(p. 466 ff.) zu folgenden Gruppen: 1. eigentliche sokratischi
Dialoge (über ethische Fragen): der kleinere Hippias, Lachest
Charmides, Eütyphron, Protagoras/) Lysis; entwickelter: Apologie
und Kritou; II. ideologische Dialoge (über Fragen derhöheren Phile
Sophie, wobei die Anfänge der Ideenlehre erscheinen) in folgende^
Ordnung: Gorgias, Menon, Phuidon, Phaidros, Symposion, Staat
Timaios und Kritias, Euthydemos, Kratylos und Theaitetosj
III. dialektische Schriften : Parmenides, Sophistes und Politikos
Philebos; IV. Gesetze. Nicht lange vorher hatte Dittenberge^
mehrere platonische Partikeln, besonders [atjv untersucht (Herme
16, 321 ff.) und merkwürdiger Weise stimmen beide Gelehrter
in den Hauptresultaten überein; Dittenberger scheidet I. (w<
bloss xal jJLTjv und aXXa (it^v vorkommen): Kriton, Euthyphroi:^
Protagoras, Charmides, Ladies, Hippias minor, EuthydemosJ
Menon, Gorgias, Kratylos, Phaidon; II. (mit zi (itjv, ys jatjvJ
aXXd [i'/]v) a. Symposion, Lysis, Phaidros, Staat, Theaitetos;
b. Parmenides, Philebos, Sophistes und Politikos, Gesetze]
Hoffentlich findet das Beispiel von Dittenberger und Peiper
zahlreiche Nachahmer, welche die Resultate genauer präcisieren ^)^
Mit diesen Problemen verbindet sich die unumgängliche
Frage, zu welcher Zeit die einzelnen Schriften abgefasst seien.
Wer auf schlecht erfundene Anekdoten (S. 305 A. 4) keiner
Wert legt, findet höchstens in einer merkwürdigen Nachrich^
des Theophrastos ein äusseres Zeugnis ; ^) da dieser glaul
würdige Mann berichtet, es habe Plato im höheren Alter leidj
gethan, dass er der Erde früher die Mitte des Weltalls ange-|
wiesen habe, muss der Timaios geraume Zeit vor Piatos Tode]
geschrieben sein. Ob Aristophanes wirklich Piatos Staat inj
1) Diese drei Dialoge (Cb. Eu. P.) euthalten einige Spuren der Ontologiej
(P. 471).
2) Vgl. zur Stilentvvicklung Rieh. Je cht de nsu particulae vjSiij ial
Piatonis dialogis qui fernntur, Halle 1881 ^ Herrn. Höfer de partieulia^
Platonicis capita selecta, Bonn 1882, aucblvoBruns de legum Platonicarum]
compositione, Bonn 1877 thesisHI; gegen Dittenberger F r e d e r k i u g Jahrbb.|
f. Pbilol. 126, 634 ff.
8) Plutarcb. Pluton. quaest. 8, 1. Nuina 11.
Der Dialog (Plato). 309
den Ekklesiazuseii verspottete, davon soll unten die Rede sein.
Im übrigen sind wir auf die Anachronismen der Dialoge ange-
wiesen; wiewohl nämlich Plato in allen Dialogen (höchstens die
Gesetze ausgenommen) Sokrates auftreten Hess, entschlüpfte ihm
manchmal eine Anspielung auf Zeitverhältnisse. In den älteren
Dialogen fehlen derartige Stellen leider ganz; darf man ihnen
den Menexenos zurechnen, dann entschloss sich Plato nicht
früh zum Schreiben, setzt doch jene Schrift bereits den Frieden
vom Jahre 387 voraus. Es ist ohnehin so gut wie gewiss, dass
Plato seinen Lehrer erst nach dessen Tode zum Dolmetsch der
eigenen Meinungen stempelte. Am besten sind wir über die
Zeit der ideologischen Schriften unterrichtet; Bekanntlich zieht
im Symposion Aristophanes den 385 verübten Gewaltstreich
der Lakedämonier zu einem kecken Vergleiche (193 a) heran.
Der Theaitetos nimmt auf ein bei Korinth vorgefallenes
Gefecht Bezug, mit welchem kein Ereignis des korinthischen
Krieges gemeint sein kann ; dies geht zur Evidenz nicht nur
daraus hervor, dass Theaitetos, obgleich er bei Sokrates' Tode
noch ein junger Mann war, ^) trotzdem wegen seiner bedeutenden
wissenschaftlichen Leistungen gefeiert wird , sondern ganz be-
sonders weil Plato den eingehenden Exkurs 172 c — 177 c (speziell
175 d ff., wo auf ein Enkomion des Agesilaos Bezug genommen
wird), erst nach dem ,,Euagoras'' des Isokrates geschrieben haben
kann; er meint also das Gefecht, welches Chabrias Ol. 102, 4
(369) den Thebanern bei Korinth lieferte.^) Bezüglich des
Menon und des Staates ist nur so viel zu ermitteln, dass sie
nach 395 (nachdem der Thebaner Ismenias sich bereicheret hatte)
verfasst wurden ; ^)derProtagoras setzt wahrscheinlich die Peltasten-
1) 143 e. 144 c }j.cipäx'.ov (aber p. 144 d xöv av5pa),
2) So urteilten schon Munk S, 394 und Ueberweg S. 227 ff. ; eingehend
E. Rohde Jahrbb. f. Philol. 123, 421 ff. 125, 81 ff.; Bergk fünf Abhand-
lungen zur Geschichte der Philosophie S. 3 ff. (er vermengt jenes Enkomion
mit dem erhaltenen) ; Schulte ss die Abfassungszeit des platonischen Theaetet
S. 26 ff.; für die ältere Ansicht J. Horowitz über Plato's Theätet, seine
Bedeutung und Stellung innerhalb der platonischen Lehre und seine Ab-
fassungszeit, Thorn 1884.
3) Meno p. 90a (Ueberweg S. 226 f., bestritten von Susemihl Jahrbb.
f. Phil. 77, 854); rep. 1, 336 a (Ueberweg S. 221; nach der sicilischen Reise
B ö c k h de aiöiultate p. 26).
310
Neuntes Kapitel.
that von 392 voraus ; ^) der Ph a i d r o s scheint nach der Sophisten-
rede des Isokrates (S, 129) verfasst. Im Euthydemos endlich
deutet eine Wendung vielleicht auf das Bestehen des neuen
Seehundes.^) Mit diesen kärglichen Andeutungen wird man
sich begnügen müssen; alles übrige beruht auf blosser Ver-
mutung. ^)
Den Inhalt der platonischen Dialoge zu erörtern, muss ich
den Philosophen überlassen. Der Literarhistoriker hat nur die
Form und Echtheit der Schriften darzulegen. Plato behandelt
den Dialog nicht wie eine zufällig gewählte Form, sondern als eine
Kunstform in mannigfaltigen Gestalten, die er abwechselnd
angewendet zu haben scheint, bis er sich später dazu neigte,
zwischen der kontinuierlichen Schreibart der Naturphilosophen
und dem sokratischen Dialoge zu vermitteln.
Eine Sonderstellung nimmt unter Piatos Werken die
Apologie^) ein, das einzige, welches kein Dialog ist. Obgleich
diese Verteidigung seines Lehrers, welche diesem selbst in den
Mund gelegt ist, weder die Manier der Advokaten noch die der
Epideiktiker rein zeigt, nimmt man in allem die rhetorische
Bildung des Philosophen wahr; Xenophons paralleler Versuch
gereicht dagegen diesem Dilettanten wenig zur Ehre. Plato
vereinigt in der glücklichsten Weise eine glaubwürdige Ver-
teidigung des edlen Weisen und eine vortreffliche Schilderung
seiner Eigentümlichkeiten, indem er zugleich eine vernichtende
Anklage gegen das athenische Volk erhebt^).
1) Kroschel Ztsch. f. Gymnasial wesen 11, 561 flf. und in seiner Aus-
gabe (nach ihm wahrscheinlich um 388 entstanden).
2) Bergk a. O. S. 27 urgiert svteöO-Iv izod-h Etatv Ix Xiou.
8) Gorgias bald nach dem Tode des Sokrates wegen des bitteren Tadels
der Athener (Ueberweg S. 249; s. auch U. v. Wilamowitz philol. Unter-
such. 1,218 ff.; anders Schleier m acher II 1,20 ff.); Gesetzte: 1,638 b bezieht
Böckh in Piatonis qui fertur Minoem p. 73 auf den Sieg der Syrakusaner
von Ol. 106, 1 ; 4, 709 e fi. zielen auf den jüngeren Dionysios nach Suse-
mi h 1 genet. Entw. 2, 693 ff.
4) J. Deuschle (S. 307); H. Bau mann Versuch einer Kritik über Piatos
Apologie, Znaim 1868 ; G. A. Kahler über den Gedankengang der plato-
nischen apologia Socratis, Tilsit 1871.
6) Dies bemerkt Dionys. rhet. 8, 8 ; vgl. auch Dionys. Dem. 23. Ab-
sprecheud urteilt Cii«sius Sev. bei Seneca controv. 111. praef. § 8 p. 361,
16 B. Die Echtheit wird bestritten von Ast S. 474 ff, C. G. König de apo-
logia Socratis num geuuiuum sit Piatonis opus, Meissen 1822 und Scbaar
Der Dialog (Plato). 311
Noch mehr gibt der Menexenos von den rhetorischen
Studien Pia tos Kunde, denn das Zeugnis des Aristoteles
scliützt die Echtheit dieses Dialoges gegen jeden Zweifel^).
Dialog kann man diese Schrift deswegen nennen, weil der
Epitaphios, welcher ihren Kern ausmacht, von einem kurzen
ironievollen Zwiegespräch des Sokrates und Menexenos gleich-
sam umrahmt ist; letzterer hat hier keine Gelegenheit,
seine anderwärts (Lysis 211 b) gerühmte Dialektik anzu-
wenden. Sokrates hat nach seinem Vorgeben den Epitaphios
von Aspasia gehört, aber der Schluss enthüllt deutlich die
Mystifikation^). Das Schema ist das übliche: Abkunft, Er-
ziehung, edle Thaten der Vorfahren; ob Plato die uns erhaltenen
Leichenreden vor sich gehabt hat, ist nicht auszumachen^).
Selbständig, wie es scheint, tritt er zum Schlüsse auf, wo er
den Kindern und Eltern der Gefallenen deren Aufträge zu über-
mitteln fingiert. Eine bestimmte Gelegenheit, welcher diese Rede,
die weder dem Philosophen zu besonderer Ehre gereicht noch
auch seiner unwürdig ist, gewidmet sein könnte, wird nicht
angedeutet '^).
Die Dialoge selbst zerfallen in zwei Gruppen, die wirklichen
Zwiegespräche, wobei Sokrates und seine Genossen wie auf
einer Bühne auftreten und gleich dramatischen Personen
sprechen, und die von Sokrates oder Sokratikern erzählte Unter-
redungen. Jene haben zum grössten Teil einen geringen
Umfang, was damit zusammenhängt, dass Sokrates häufig mit
einem einzigen sich unterhält.
Schmidt; s. dagegen Ernst Sojek Einiges zur Echtheit platonischer Dialoge,
Linz 1876.
1) Rhet. l, 9 p. 1367 b 8. 3, 14 p. 1415 b 30 ff. Fr. Schlegel attisches
Museum I 2, 262 ff. beurteilt den Menexenos sehr strenge; seit Schleiermacher
verwerfen ihn fast alle Platoniker (Literatur verzeichnet bei Th. Berndt de
ironia Menexeni Platonici, Münster 1881 p. 1 A. 3. 2 A. 1). Blas s att.
Beredsamkeit I 430 ff. würdigt den „Menexenos'' objektiv; vgl. auch Fr. Roch
die Tendenz des plat. Menexenos, Görz 1883.
2) 236 c eTt£ 'ÄQuaGiac, siiz oxoooöv, 249 e exsivif ^ Ixeivcü ; nach Th. Berndt
(a. O.) ist das ganze ironisch.
3) Bezüglich des Thukydides vgl. Berndt p. 3 f.; über das Verhältnis
zu Lysias s. o. S. 145 A. 3.
4) Nach Schol. Hermog. Walz VII 976 adn. ist sie für die bei Lechaion
Gefallenen geschrieben; Hermogenes p. 4Ü3, 5 ff. 405, 3 ff. Sp. schätzt
die Rede hoch.
312 Neuntes Kapitel.
Im Kriton^) ist das Zwiegespräch wenig entwickelt, Plato
lässt wiederholt lange Reden lialten und räumt die zweite
Hälfte einer von Sokrates vorgetragenen Rede der personificierten
Gesetze ein, welche Kriton kaum zu unterbrechen wagt. Die
Exposition zeigt, dass Sokrates sich im Gefängnisse befindet;
wir erfahren die Namen der auftretenden Personen und in
welcher Stimmung der greise Philosoph dem Tode entgegen-
sieht. Kriton bringt die Botschaft, das heilige Schiff komme
demnächst zurück und die Hinrichtung sei unvermeidlich, wenn
Sokrates sich nicht zu fliehen entschliesse. Der Schluss zeigt
Kriton resigniert.
Der Euthyphron^) spielt zu einer nicht lange vorher-
gegangenen Zeit, als nämlich Sokrates die verhängnisvolle An-
klage zugestellt erhielt. Als ihn Euthyphron am Gerichtshause
des Archon Basileus trifft, erkunden sie von einander den Grund
ihrer Anwesenheit. So entwickelt sich ein Gespräch über das
"Wort ooiQ"^, eine bittere Satire gegen die Athener, welche dieses
Wort, ohne dass ihnen seine Bedeutung klar war, gerne im
Munde führten und kraft desselben Sokrates hinrichteten. Der
Philosoph treibt Euthyphron so arg in die Enge, dass dieser
zuletzt Geschäfte vorschützt; die Frage bleibt ungelöst.
Der lon^) behandelt ein Problem, welches Plato persönUch
sehr nahe lag, nämlich den Enthusiasmus. Wiewohl Plato mit
Sokrates^) den Rhapsoden das tiefere Verständnis der von ihnen
vorgetragenen Dichtungen abspricht, gesteht er ihnen doch in
schönen Worten soviel zu, dass sie, wie Dichter und Künstler,
von göttlicher Begeisterung getrieben seien und, selbst im
innersten erregt, auch andere dadurch fortzureissen vermögen.
1) J. H. Bremi Philol. Beitr. aus der Schweiz, Zürich 1819 S. 131 ff.;
H. Schmidt Beitr. zur Erklärung platonischer Dialoge, Wittenberg 1874
S. 166 ff.
2) Verworfen u. a. von Ueberweg S. 250 f.; Literatur bei Teuffei S. 30,
W. MüuHcher Inhalt und Erläuterung des piaton. Dialoges Eu., Hersfeld
1869; Bonitz platonische Studien S. 216 ff.; O. Rieser de Platoois E.,
Frauenfeld 1881; J. Wagner zur Athetese des Dialoges Eu., Brunn 1883
(vgl. philol. Rundschau 1884 S. 126 f.).
3) Seit Schleierinacher I * 2, 267 gewöhnlich verworfen. Vgl. E. Zeller
Ztsch. f. Alterthumswiss. 1851 Sp. 251 ff.; J. Daum prolegomena et adnot.
ad lonem, Innsbruck 1861.
4) Xenoph. memor. 4, 2, 10.
Der Dialog (Plato). 313
Soviel Feinheit hätte Plato nicht aufgewendet noch auch so
viele scharfsiiniige Bemerkungen eingestreut, wäre der ganze
.Jon" ironisch geineint. Im Stil zeigt er sich noch nicht als
den vollendeten Meister. Auch die Einleitung verrät in einer
Kleinigkeit die Befangenheit des Anfängers ; Plato beginnt
nämlich, um uns den Gefährten des Sokrates gleich vorzustellen,
mit den Worten : Töv "Icova /atpstv !
In ähnlicher Weise fängt der sogenannte grössere Hippias
^IrrTriac 6 [xsiCwv) an: 'iTTTiia? ö xaXoc ts xai ao'föc. Dem Euthy-
[)hron gleicht der Dialog darin, dass Sokrates mit einem eitlen
hochmütigen Gegner wahrhaft spielt; seine Ironie wird hier zur
übermütigen Laune. Weil der Philosoph diesmal einem berühmten
Gelehrten gegenübersteht, deckt er sich mit einem angeblichen
Anonymus, von welchem er Hippias widerlegt werden lässt,
während sich dieser eifrig nach diesem unangenehmen Dritten
erkundigt. Der Schluss ist negativ; Sokrates endigt mit einem
«Scherze, nun wisse er, was das Sprichwort bedeute: /aXsTid xa
i xaXd. Ein stichhaltiger Grund, diesen Dialog zu verwerfen^),
Üiegt nicht vor; von dem ,, kleineren Hippias" ist er vollkommen
unabhängig, denn der 286 ab angekündigte Vortrag kann nicht
I' der sein, an welchen sich jene Schrift knüpft.
In diesen Gesprächen stimmt die geringe Bedeutung der
i Resultate und die kleine Personenzahl mit dem massigen Umfang
j; Überein, Ein anderer Dialog bringt Sokrates ebenfalls nur mit
|i einem einzigen schwachen Gegner zusammen, aber wie erhebt
tjl er sich hier über jene Versuche! Keine platonische Schrift
entwickelt eine solche Pracht der Scenerie wie der Phaidros''').
1) Ast S. 457 ff. Zeller Ztsch. f. Altertimmsw. 1851 Sp. 256 &.;
Suckow S. 53 f. und Ueberweg fusseu darauf, dass Aristoteles (met. 5,29
p. 1025 a 6) bloss £v tq) 'iTricta citievt, s. dagegen Suse mihi Jahrbb. f. Phil.
71, 640 und Freuden thal heilenist. Studien HI 262 *.
2) Literatur bei Teuöel S. 12 fl", Ueberweg S. 130, besonders mehrere
Schriften von Gottfr. Stallbaum de primordiis Phaedri Piatonis, Leipzig
1848; examen testimouiorum de Ph. Platonici tempore natali antiquitus pro-
ditorum, 1849; Isocratca ad illustrandas Ph. PI. origines ISöO^ Lysiaca ad
111. Ph. PI. or. 1851; artis rhetoricae in Ph. Piatonis exproraptae Judicium
1852; de artis dialecticae in Pb. Piatonis doctrina et usu 1853; Aug. Bernh.
K'rische über Piatons Phaedros, Göttingeu 1847 (aus Götting. Studien II
2 S. 930 ff.); Fr. Susemi hl Prodroraus platonischer Forschungen S. 68 ff".
Jul. Deuschle Zeitschr. f. Alterthumsw. 1854 Sp. 25 ff.; H. Bonitz
Studien S. 252 ff. A. Hosek Wie hängen die Unterredungen des zweiten
314 Neuntes Kapitel.
Jeder kennt ja die herrliche Schilderung der Ilissosgegend, wo]
Sokrates und Phaidros vorder Sonnenglut Schutz suchen. Sokratesj
istwievon dichterischem Enthusiasmus ergriffen; Plato spricht esj
selbst aus, dass der Ton an den Dithyrambus streift. Im Phaidroaj
zeigt sich nicht mehr der unfertige unsichere Anfänger, souderi
der gereifte Mann, welcher in begeisterter Stimmung mit seinen]
Talenten verschwenderisch und doch zielbewusst schaltet. Der'
Phaidros sticht von [allen übrigen Dialogen ab, weil es sich
nicht um ein Problem, welches in haarscharfem Dialoge
gelöst oder zerpflückt werden soll, handelt. Der Phaidros ist
ja von Einheitlichkeit weit entfernt. Der erste Teil legt dar,
wie die angeblich philosophischen Reden des Lysias ohne
tieferes Verständnis gefertigt seien, wobei Plato das kühne j
Wagstück unternimmt, eine fremde Rede in den Dialog aufzu-j
nehmen (S. 143); der zweite Teil hingegen führt eine Idee des
Sokrates aus, nach welcher es verkehrt ist, aus Büchern zi
lernen^); diese sollten nichts weiter als eine Stütze des Gedächt
nisses sein. Diese Ausführung soll für den höheren Unterricht
und im besonderen für Piatos Schule gewissermassen Propaganda
machen; denn, seit eine umfassende Literatur vorlag, gab ea
gewiss viele, welche durch eigenes Studium den Schülern dei
Philosophen und Rhetoren es gleichzuthun hofften. Aber des^
halb ist der Phaidros sowenig ein Lehrprogramm als irgenc
ein anderer polemischer Dialog Piatos ^). Die neueren Gelehrten,^
welche für die frühe Abfassung des Phaidros eintraten, hobeni
das Lob des Isokrates hervor, weil dieser die ErwartungeQ|
Piatos nicht gerechtfertigt haben soll; darüber ist S. 129 ff. daal
nötige bemerkt worden. Da die Ansichten über den Charakterj
Teiles dos plat. Dialoges Ph. mit jenem des ersten Teiles zusamment
Chradim 1875; C. Wenzig die Conception der Ideeulehre im Phaedrua
n. 8. w., Breslau 1883; über die Zeit s. bes. L. Spengel Isokrates und]
Plato (s. o. S. 131 A. 1); Volquardsen Piatons Phaedros erste Schrif
Platous, Kiel 1862 (bekämpft von Fr. Susemihl Jahrbb. f. Phil. 87J
242 fl*. 89, 8(51 fl'.) ; Uscner Rhein. Mus. 36, 131 ff. (seine Ansicht, dass derj
Dialog noch bei Lebzeiten des Sokrates verfasst worden sei, teilt U. v. Wi 1 a m o ■
Witz Phil. Untersuch. I 213 II.)-
1) Xenoph. memor. 4, 2.
2) Zeller Philosophie der Griechen 11^456 flf. gegen K. Fr. Her-
mann (ie.sc:h. der plat. Phil. S. 614 f.
Der Dialog (Flato). 315
des Stiles sehr verschieden lauten, müssen die oben erwähnten
Einzelforschungen den Ausschlag geben ^). Sie lehren, dass
Plato den Phaidros in der Blüte seiner Schaffenskraft schrieb;
or entfaltet hier ja wirklich sein höchstes Können. Die pole-
mischen Grundzüge der Abhandlung sind von glänzenden
Dichtungen umwoben. Alle Tonarten schlägt Plato mit wunder-
barer Leichtigkeit an, mögen sie aucji so weit auseinander-
liegen wie die begeisterte Stimmung des Dithyrambos, die kon-
ventionelle Manier der Sophistik und sokratische Ironie, und
(loch durchzieht etwas gemeinsames das Ganze, welches schroffe
Uebergänge ferne hält.
Stellen wir daneben den ersten Alkibiades, der hinter
dem Phaidros an Umfang nicht zurückbleibt und gleichfalls
nur zwei Personen hat, so wird niemand anstehen, ihn zu ver-
werfen^). Wenn Plato der Verfasser wäre, dann hätte er auf
das Aeussere des Dialogs wegen seines bedeutenden Umfanges
grosse Sorgfalt gewandt. In Wirklichkeit fehlt aber jegliche
Scenerie. Nachdem Sokrates mit einer langen Rede begonnen
hat, schleppt sich der Dialog schwerfällig fort; der Verfasser
stellt das Verhältnis des Alkibiades zu Sokrates in ganz un-
platonischer Weise dar. Wenn der Dialog also Piatos unwürdig
ist, wann entstand er? Ich glaube nicht zu irren, wenn ich
antworte: Lange nach Plato. Zu seiner Zeit waren so günstige
Urteile, wie sie der Verfasser über Xerxes (105 c) und Zenon
vi 19a) fällt, nicht möglich und die Behauptung, dass Zenon
liundert Minen Honorar empfangen habe (119 a), hätte damals
allgemeinen Spott hervorgerufen. Die historische Gelehrsam-
1) Indem ich auf Peipers und Dittenberger verweise, füge ich bei: Die
ftvaStixAtüOK; (Stellen bei Schanz novae comraeutationes p. 29) komtnt am
Anfang des Satzes ausser im Staate, Timaios und den Gesetzen nur Phaedr.
242 d (sonst noch Euthyd. 284 beim Verbum) vor; oh ^ap ^"^ nur im Phai-
dros und Gorgias H ö f e r de particulis Platonicis 1882 p. 26.
2) Schleiermacher II ^ 2, 203 fi. Ast S. 435 fif.; E. Zeller Ztsch. für
Alterthumswiss. 1851 Sp. 259 ff. Kvicala Ztsch, f. österr. Gymn. 1863
S. 1 ff., Franz Hubad der 1. Alcibiades, ein Versuch in der plat, Frage,
Pettau 1876; verteidigt- von Socher S. 111 ff.; Hermann S. 439 ff. Stein-
hart Piatons Werke I 146 ff". Vgl. noch Benj. Andreatta sull' autenticitä
dell' Alcibiade I., Rovereto 1876. H. Bertram Piatons A. I., Charmides,
Protagoras, Naumburg 1881,
316 Nenntos Kapitel.
keit des Verfassers skimiiit aus Büchern, z. B. aus Herodot^)
und Tlmkydides ^).
Während demnach Plato ii\ir zwei Pei'sonen in grösseren
Dialogen mit Ausnahme des Phaidros nicht auftreten Hess, ge-
stattete er umgekehrt bei kleineren Gespräclien eine grössere
Personenzahl. Doch hat im kleineren Hippias^) Eudikos
keine selbständige Rolle, sondern vermittelt, dass Hippias sich
mit Sokrates in ein Gespräch einlässt. Den Dialog eröffnen
kühn die Worte ob 8h, weil nach , Piatos Annahme ein eben
beendigter Vortrag des Hippias den Ausgangspunkt des Ge-
spräches abgibt. Wie in dem gleichnamigen grösseren Dialoge,
wird der Sophist mit unbarmherziger Ironie von Punkt zu
Punkt getrieben und zuletzt das negative Resultat spöttisch^
festgestellt.
Der Ladies^) knüpft gleichfalls an eine Schaustellung
an, deren Ort nicht genannt ist. Zwei betagte Bürger, Lysij
machos und Melesias wollen nämlich ihre Söhne im Fechtei
unterriclitcn lassen und haben zwei erfahrene Kriegsmännei
Nikias und Laches, zu jener Probe eingeladen, um ihr Urteil
über den Fechtunterricht zu hören; diese ziehen Sokrates, dei
noch verhältnismässig jung gedacht ist (180 e), in das Gespräch]
Der „Laches" ist, wie es scheint, der erste Versuch einer reicherei
Komposition, weil Plato noch ungewandt erscheint. Er beginn^
mit der langatmigen Rede eines Mannes, dessen Namen wii
zu spät erfahren. Die Einleitung c. 1 — 11 ist viel zu umfang-
reich und es wechseln lange Reden und wirkliches Zwiegespräch
ab ; trotz der bedeutenden Ausdehnung des Proömiums beginnt
ferner die eigentliche Disputation erst nach langen Vorbemerk-
ungen (c. 12 — 15). Sie wird anfangs zwischen Sokrates und
Laches allein geführt (c, 16 — 21), bis Nikias mit eingreift
(c. 22 — 30). Der Dialog schhesst wieder negativ ab, indem
1) Wie z. B. "'Aii.ijax^iz 123 c andeutet.
2) Die zwei trefflichen Athener 119 a kennt er aus Thucyd. 1, 61. 3, 115.
8) 'lizniaz eXdTtuiv; Themist. or. 29 p. 346 c ev tcü ßpa^utepi}! 'J^nta.
Die Echtheit, welche .Sehleiermacher II ^ 3, 405 ff., Ast S. 463 f. und Schaar-
schmidt H, 382 ff. anzweifeln, ist durch Aristoteles verbürgt. Eudikos konimt
auch im grösseren Hippias 286 b vor. Vgl. J. Klinger Hippias minor und
Hippias major, Wiener Neustadt 1884.
4) Crou Jahrbb. Suppl, 6,69 ff.; Bonitz Hermes 6, 429 ff. = Studien
S. 199 ff.; vt-rworfen von Ast S. 451 ff'. Scbaarscbmidt S. 406 ff.
Der Dialog (Plato). 317
J jaches und Nikias gegenseitig ihre Ignoranz verspotten.
Einen versöhnliclien Schluss macht Sokrates' Versprechen, sich
der JüngUnge anzunehmen.
Die Mangelhaftigkeit der Exposition teilt mit dem Laches
der Theages^), benannt nach dem Sohne des Demodokos,
welchen der Vater, weil, er nach höherer Bildung verlangt, zu
Sokrates bringt; Demodokos führt mit diesem das einleitende
Gespräch, wie er auch inmitten der Disputation (125b), von
Sokrates hereingezogen , einige Worte einfliessen lässt. Die
Schrift dürfte unecht sein, vor allem weil Sokrates' Daimonion
hier in seltsamer Auffassung erscheint.
Unter den grösseren Dialogen nimmt nächst dem Phaidros
der Gorgias die erste Stelle ein'^). Die Einleitung ist kühn
entworfen: Sokrates, den sein Begleiter Chairephon aufgehalten,
hat den Vortrag des Gorgias versäumt, aber Kallikles lädt ilni
ein, Gorgias in seinem Hause aufzusuchen; plötzlich sind sie
dorthin versetzt, worauf sich zwischen Sokrates und Chairephon
einerseits, Gorgias und Polos andererseits ein frisch geführter
Dialog entwickelt, der rasch zur eigentlichen Disputation führt;
diese ist harmonisch gegliedert, indem in der ersten Hälfte
(c. 3 — 36) Gorgias und Polos, in der zweiten (c. 37 — 78) Kallikles
dem Philosophen gegenüberstehen. Jene hat wiederum eine
schhchte und übersichtliche Einrichtung : Anfangs spricht
nämhch Gorgias, dann teilt er das Wort mit Polos, bis dieser
die Disputation allein übernimmt. Die Gleichmässigkeit erleidet
nur scheinbar eine kleine Unterbrechung, weil c. 13 ein kurzer
Wortwechsel zwischen Chairephon und Kallikles eintritt; aber
auch im zweiten Teile sorgt Plato durch eine vermittelnde Be-
merkung des Gorgias für Abwechslung. Die Verbindung
zwischen den beiden Hälften stellt eine von Kallikles an Chai-
I
1) Stallbaum Judicium de duobus dialogis (Theages und Erastai) vulgo
Piatoni adscriptis, Leipzig 1836.
2) Stallbaum probabilia de temporibus quibus dialogus in Gorgia
Piatonis habitus fingatur, Leipzig 1860; Chr. Cron Beiträge zur Erklärung
des platonischen Gorgias, Leipzig 1870; E. Gotschlich über die Veran-
lassung des platonischen Gorgias, Beuthen 1871; Bonitz Studien S. 1 ff.;
anderes bei Ueberweg S. 129 und Teuffei S. 28, dazu Fidel Mähr typische
Zeichnungen in Piatons Dialog G., Triest 1872 ; J. M ä r ki n g e r die Rhetorik
nach dem plat. Dialoge Gorgias, Seitenstetten 1877; K. Liebhold die Be-
deutung des platonischen Gorgias, Eudolstadt 1885.
318
Neuntes Kapitel.
rephon gerichtete Frage her. Ein begeisterter „Mythos", ii
dem Sokrates das Leben nach dem Tode im Spiegel der Mora
schildert, schliesst den Dialog poetisch ab.
Schon im „Menon"^) beginnt Plato, der äusseren SceneriJ
geringere Sorgfalt zuzuwenden. Der junge Menou stellt ohn^
weiteres an Sokrates die philosophisch formulierte Frage, ob die*
Tugend angeboren sei oder durch Belehrung und üebung er-
langt werde. Der negative Teil der Disputation spielt zwischen
Sokrates und Menon allein, sodann zieht jener, um die Frage
positiv zu lösen, einen Sklaven herein (c. 14 — 21). Bald nachl
dem dieser zurückgetreten, kommt Anytos, ein nicht bloss unge
bildeter, sondern der Bildung feindlicher Politiker, den uns
Plato etwas zu ausführlich vorstellt (89 e. 90 a). Sokrates sprich!
mit diesem, bis Anytos gereizt wird (94 e), weshalb sich Sokrate
wieder zu Menon wendet und ihm am Ende den still fort
grollenden Anytos zur Beruhigung empfiehlt. ,,Gorgias" un^
„Menon" haben in der abfälligen Beurteilung der athenischer
Staatsmänner einen gemeinsamen politischen Hintergrund.
Der Menon zeichnet sich durch Mannigfaltigkeit aus, sobalc
man ihn mit den späteren Dialogen zusammenhält; denn j<
mehr Plato an die schriftliche Darstellung seiner spekulativer
Philosophie Hand legte, desto mehr ward ihm das Dramatisch^
gleichgiltig. Deshalb ist der Kratylos ^) bereits bedeutend einj
facher eingerichtet. Hermogenes und Kratylos haben über ein
Problem Streit gehabt und legen es Sokrates zur Begutachtung
vor. Dieser spricht mit Hermogenes (c. 1 — 37), währenc
Kratylos ignoriert wird, bis ihn Hermogenes zu Worte kommen]
lässt, und nun disputiert Kratylos mit Sokrates bis zu Ende,
1) K, Fr. He r ma n n de Piatonis M. disp. ind. lect. hib. v. Marburg 1837^
= Jahns Archiv 6 (1840) S. 51 fi. E. Alberti Ztsch. f. Gymuasialw. 21,j
177 flf. 817 flF. (lür die Echtheit gegen Ast und Schaarschniidt) ; anderes
TeuflFel S. 33, Ueberweg S. 129.
2) E. M. Dittrich de Cratylo Platouis, Berlin 1841; E. Alber ti|
Rhein. Mus. 21, 180 ff. 22, 477 ff. (gegen Schaarschniidt, der Kheiu. Mus^
20, 321 ff. die Unechtheit behauptet hatte); Ch. Lenormant conuuentair
sur le Cratyle de Piaton, Athen 1861; Th. Benfey über die Aufgabe d«
platonischen Dial. Krat., Abhandlungen der Gott. Ges. der Wiss. 12 (18661
S. 189 ff.; Lehrs Rhein. Mus. 22, 436 ff. ; H. Schmidt Piatos Kr. im Zu-^
sammeuhange dargestellt, Halle 18G9; auderes bei Teuffei S. 32; Ueberw^J
ß. 130.
Der Dialog (Plato). 319
; Plato erweist seinem ehemaligen Lehrer die Ehre, dass er das letzte
IWort behält; der Herakleiteer empfiehlt Sokrates noch weiter
lüber das Wesen der Sprache nachzudenken.
Nicht unähnlich ist der Ph ileb os ^) angelegt, zunächst weil
er wie der Kratylos eine vorhergegangene Disputation voraus-
setzt; doch ist es diesmal Sokrates, welcher Protarchos über
seinen Streit mit Philebos entscheiden lässt. Mit jenem führt
er ein wirkliches Zwiegespräch, denn Philebos beschränkt sich
auf gelegentlich eingestreute Bemerkungen ^). Der Ausgang des
Dialogs gleicht dem des Kratylos.
Von den grösseren Werken gehören Timaios-Kritias und
die Gesetze zu dieser Klasse von Dialogen, über sie wird später
zu handeln sein.
In der späteren Zeit handhabte Plato den dramatischen
Dialog nicht mehr unbefangen; wie der Gelehrte in ihm
ullmälig das Uebergewicht über den Dichter bekam, zeigen die
zidetzt behandelten Dialoge, weit deutlicher aber der Theaite-
ios ^). Während Plato früher sofort mit dem Dialoge begonnen
hätte, schickt er dieses Mal ein kleines Vorspiel voraus, dessen
>i Schauplatz Megara ist. Eukleides und Terpsion besprechen
I die Verwundung, welche der angesehene Mathematiker Theai-
I tetos in einem korinthischen Gefechte (S. 309) erhalten hat ;
jener lässt eine Rolle, in welcher er ein zwischen Theaitetos
und Sokrates vorgefallenes Gespräch aufgezeichnet hat, herbei-
1) A. Trendelenburg de Philebi consilio, Berlin 1837; F. S u s e-
milil Philol. Suppl. 2, 75 ff.; R. Hirzel de bonis in fine Philebi enumeratis,
Leipzig 1868; L. Georg ii Jabrbb. 97, 297 ff. (für die Echtheit gegen
Schaarschmidt); s. noch Teuffei S. 33, Ueberweg S. 131, dazu Karl Rein-
h ardt der Ph. des Plato und des Aristoteles nikomachische Ethik, Bielefeld
1878; Gust. Schneider Beiträge zur Erklärung des Ph., Gera 1883 und
die platonische Metaphysik auf Grund des Philebus dargestellt, Leipzig 1884.
2) 18 b ff. 22 c. 27 e f.
3) L. Di ssen kleine Schriften S. 151 ff. G. Stallbaum de argumento
et artificio Theaeteti, Leipzig 1838; E. Alberti Jahrbb. 79, 473 ff.; Bonitz
platonische Studien S. 44 ff. ; D. Peipers Untersuchungen über das System
Piatos L Leipzig 1874; H. Schmidt Beiträge zur Erklärung platonischer
Dialoge S. 216 ff. und exegetischer Commentar zu Piatos Theaetet, Leipzig
1880 (Jahrbb. Suppl. XIL) ; J. Horowitz über Piatos Theaetet, seine Be-
deutuug und Stellung innerhalb der plat. Lehre und seine Abfassungszeit,
Thorn 1884; vgl. Teuffei S. 18, Ueberweg S. 129.
320
Neuntes Kapitel.
bringen und von einem Sklaven vorlesen. Diese Vorrede
welche gleichsam eine Widmung an Eukleides vertritt, fäl
durch ihre peinliche Genauigkeit auf. Eukleides versichei
nämlicli nicht allein, dass er Sokrates wiederholt um d(
Korrektheit der Details willen befragt habe, sondern er hä|
auch eine Bemerkung darüber, dass die Einschiebsel ,,sagt
Sokrates" u. dgl. weggeblieben seien, für notwendig. Das Gj
sprach selbst ermangelt der Scenerie und doch fliesst es ras<
und nicht einförmig daliin: Sokrates wird durch den berühmte
Mathematiker Theodoros auf den Scharfsinn des junge
Theaitetos aufmerksam gemacht. Herbeigerufen rechtfertig
dieser im Gespräche mit Sokrates dieses Lob. Auch Theodore
spricht zur Abwechslung mit dem Philosophen (161a — 162
dann 164e — 165b); 168c übernimmt er das Gespräch, bis
184b auf die Bitte des Sokrates hin Theaitetos wieder zuWoi
kommen lässt. Dieser behält es bis zum Schlüsse, wo siel
herausstellt, dass die Maieutik des Sokrates den falschen Schei|
des Wissens zu nichte gemacht hat. Sokrates entschuldigt siel
dass ihn die Anklage des Meletos auf dem Gerichte zu erscheine
nötige, und scheidet mit dem Wunsche : „Auf Wiedersehe
morgen, Theodoros!"
Plato wendete, wenn er den reinen Dialog aus irgend
einem Grunde nicht für passend hielt, eine Manier an, welchj
für das Vorlesen seiner Schriften geeigneter war; man könnl
sie die historische oder epische im Gegensatz zur dramatische^
nennen, weil nicht die Personen selbst auftreten, sondern ein<j
der ünterredner (und zwar regelmässig Sokrates) oder ein Uni
teiligter nach Sokrates' Erzählung das Gespräch berichtet.
Wem der Philosoph dasselbe erzählt, wird in den zw^
älteren Dialogen Charmid es ^) und Lysis nicht angegeben. B<
jenem erfahren wir genau Ort und Zeit (als Sokrates aus dei
Lager von Potoidaia eben zurückgekehrt war); Plato schildei
1) r. 154 b 8toht die Anrede (L italpe. Vgl. E. Zeller Zeitsch.
Alterthmnfewiss. 1851 Sp. 252 ff.; Uouitz platonische Studien S. 228
E. Wolff Plato'ö Dialog Ch. Hildesheim 1876; verworfen von Ast ni
Schaarschniidt, vgl. J. Ochmann Ch. num sit genuinus queritur, Bresli
1827; Spiel mann die Echtheit des platonischen Dialogs Ch., Innsbruck 1876|
A. Pawlitschek über die ctocppocüvr] in Platon's Ch., Czernowitz ISSSf
Schöuboru zur Erklärung von Plato's Ch., Plesß 1884.
Der Dialog (Plato). 321
die Personen und ihr Benehmen eingehend und entwirft ein
drastisches Bild davon , wie der schöne Charmides alle An-
wesenden bezauberte. Sein Vormund ruft ihn mit einem Scherze
herbei , der den Anstoss zu einem philosophischen Gespräche
über die awfppoauvTj gibt. Charmides spricht erst selbst mit
Sokrates (c. 7. 8), bis er, von Sokrates in die Enge getrieben,
zu einer Definition des Kritias seine Zuflucht nimmt (c. 9).
Als Sokrates^ den Urheber derselben nicht kennend auch 'diese
verwirft, nimmt Kritias selbst den Kampf auf, worauf sich die
eigentliche Disputation entspinnt; sie endigt ohne Ergebnis.
Etwas lose ist die Aufnahme des Charmides unter die Sokratiker
daran gereiht.
Im Lysis^) ist die Ortlichkeit ebenfalls genau angegeben
und handelt es sich wiederum um einen schönen Knaben
vornehmen Geschlechtes; Plato macht dieser Familie wie im
Charmides der des Kritias ein Kompliment. Sokrates spricht
anfangs, dem liebenden Hippothales zu gefallen, mit dem Knaben
um ihn bescheiden zu machen; dann kommt die Reihe an
Menexenos, mit dem er über Freundschaft und Liebe disputiert,
wobei auch Lysis hereingezogen wird. Ein positives Ergebnis
wird nicht erzielt; dafür entschädigt Plato den Leser durch
einen heiteren Schluss. Die zwei Pädagogen erscheinen plötzlich
,,wie Geister" und holen trotz des allgemeinen Protestes die
Knaben ab.
Gemäss dem grösseren Umfange ist der ungefähr gleich-
zeitig verfasste Protagoras'-^) sorgfältiger ausgeführt. Ein
1) Zeller Ztsch. f. Alterthumswiss. 1851 Sp. 252 ff. Kvicala uud
Bonitz Ztsch. f. österr. Gynin. 1859 S. 275 ff. 591 f. K. Schultze de dia-
logi XJlatonici qui inscribitur Lysis argumeuto et consilio, Brandenburg 1860;
Ad. Westermayer der L. des Plato zur Einführung in das Verständnis des
sokratischeu Dialoges, Erlangen 1875; H. Backs über Inhalt und Zweck des
plat. Dialogs L., Burg 1881 ; verworfen von Ast, Socher, Schaarschmidt und
Steph. Cholava Ztsch. f. österr. Gymn. 1858 S. 793 flf. 1859 S. 589 ff.
2) Eich. Schöne über Flatus Pr., Leipzig 1862; Cron Jahrbb. 103,
729 ö'. ; Bonitz platonische Studien S, 237 ff. und viele andere, s. Teuftel
S. 26, UeberwegS. 129; E. Joy au Piatonis Pr., Paris 1880; Fei. Komarinus
in PI. Pr. explauationes, Turin 1880; A. Westermayer der Pr. des Plato,
Erlangen 1882; A. Grossmann die philosophischen Probleme in Platon's
Pr,, Neumark 1883; Hartmann Piatos Widerlegung des protagoreischen
Sensualismus, Stargard 1883; W. Münscher Gliederung des platonischen
Pr., Jauer 1883; über die fingierte Zeit des Dialogs s. S. 330.
S i 1 1 1 , Geschichte der griechischen Literatur. U. 21
322 Neuntes Kapitel.
besonderes Proömium eröffnet ihn, das, wenn es auch nichl
berichtet, wem Sokrates die Disputation erzählt, ein scherz-«
haftes Gespräch zwischen ihm und jenem Zuhörer mitteilt.]
Der bedeutende Umfang entspricht der Bedeutung des Dialogs,
disputiert doch Sokrates mit dem berühmtesten Sophisten seiner!
Zeit. Hippokrates kommt schon vor Sonnenaufgang zu dem
Philosophen, um ihn zu bitten, er möge ihn zu dem eben
angekommenen Protagoras führen. Sie treffen den Sophisten
im Hause des reichen Kallias, umgeben von Prodikos, Hippiasj
und lehrbegierigen Jünglingen. Die von dem Herrn des Hauses
eingeleitete (817 d) Disputation zwischen Sokrates und Protagoras,]
der anfangs in langem Vortrage zu docieren versucht, verläuft!
nicht ohne Störungen ; als Sokrates an seinem Gegner eine]
gereizte Stimmung wahrnimmt, will er abbrechen (335 bc). Da]
legen sich die Anwesenden ins Mittel und geben nach einander!
ihr Gutachten ab. Protagoras beginnt nun von neuem, inderal
er ein Gedicht des Simonides von Keos spitzfindig zerghedert und
dadurch Prodikos, sich des landsraännischen Dichters anzu-j
nehmen, reizt. Eine erneute Stockung (348 b) beseitigt Alki-
biades. Die Disputation entspinnt sich abermals und Sokrates]
wendet sich der Abwechslung wegen gelegentlich an Prodikos'
und Hippias (c. 38), ohne dass sie bedeutend hervortreten. Ein
positives Endresultat wird nicht erreicht; Protagoras vertröstet]
Sokrates, den er gönnermässig lobt, auf später. Der Dialog
„Protagoras" gehört zu den vorzüglichsten Werken Piatos;!
nirgends hat er die äussere Situation, die Charaktere der einzelnen :
Personen (von dem alten mürrischen Portier angeftingen bis
zu Sokrates und Protagoras hinauf) und den Wechsel der
Stimmungen mit solcher Feinheit und Anschaulichkeit dargestellt.
Diese Bilder sind zugleich durch geistreichen Witz amüsant
gestaltet; Protagoras' Schrift über die Unterwelt gab Plato
beispielsweise den Anlass, die homerische Schilderung derselben
parodierend auf die Sophistengesellschaft anzuwenden.
Verwickelter ist die Komposition des bedeutend später ver-
fassten Euthydemos. ^) Er hat gleichfalls einen Dialog zur
Einleitung, noch mehr, Plato flicht ungefähr in der Mitte des
1) Bonitz platonische Studien S. 88 ff. Verteidigung a. O. S. 131 fl.
gegen Ast und Schaarschmidt, vgl, Jos. Wagner zur Athetese des Dialogs
Enthyphron, Brunn 1883.
Der Dialog (Plato). 323
Gespräches eine Fortsetzung ein, welche zugleich die Einförmigkeit
unterbricht und den Verfasser entschuldigt; Kleinias erwidert
nämlich Sokrates so klug und so sehr seinen Wünschen gemäss,
dass Kriton Sokrates mit der Frage in die Rede fällt, ob es
wirklich Kleinias war, der so antwortete. Ebenso schliesst ein
Gespräch zwischen Sokrates und Kriton den ganzen Dialog ab,
damit Sokrates gerechtfertigt werde, dass er sich überhaupt
mit den Eristikern abgebe; bei dieser Gelegenheit verschont
Plato auch die mit den Eristikern zusammenhängenden Gerichts-
redner nicht. Der eigentliche Dialog ist reich an Abwechslung :
Nach der Einleitung verwirren die zwei Eristiker Euthydemos
und Dionysodoros den schönen Knaben Kleinias mit ihren
Trugschlüssen (c. 4.5); deshalb nimmt sich Sokrates seiner an
und führt ihn zur Erkenntnis, dass die Philosophie anzustreben
sei, worauf er ihn wieder den Eristikern übergibt. Als diese
das nämliche Spiel treiben (c. 11 — 14), mischt sich Ktesippos,
der für Kleinias schwärmt, ein und hierauf wendet sich Sokrates
selbst um einen Streit zu verhüten gegen die Eristiker. Sowie
auch diese Disputation durch Ktesippos ein schlimmes Ende
zu nehmen droht, spricht Sokrates von neuem mit Kleinias,
woraus die erwähnte geschickt begründete Zwischenepisode ent-
springt. Den zweiten Teil nimmt der Kampf des Sokrates vind
der Eristiker ein, welchen der gereizte Ktesippos mehrmals
unterbricht. Der Dialog läuft in eine ironische Belobung der
eristischen Methode aus.
Unter den grösseren Werken gehört zu dieser Gruppe allein
der „Staat".
Als Plato den „Kriton" schrieb, wählte er die Form des
wirkUchen Dialoges ; wenn er aber Sokrates' Lebensausgang zur
Darstellung eines grossen Problems ausersah, war einerseits die
eben besprochene Form der Wiedererzählung unzuträglich,
andererseits der dramatische Dialog, wie wir gesehen haben,
für die tiefer gehende Dialektik wenig geeignet; vielmehr ergab
sich beinahe mit Notwendigkeit die Forderung, dass ein Schüler,
der während der letzten Tage des Sokrates um den Meister
gewesen war, das Gespräch erzählt. Phaidon, nach dem der
Dialog benannt ist, ^) hat auf der Reise Echekrates in Phleius
1) K. Fr. Hermann de Platonici Phaedonis argumento, index lect. hib.,
Marburg 1835; Fr. Suse mihi Prodromus S. 1 ff. Philol. 5, 385 ff. 6,
21*
324 Neuntes Kapitel.
aufgesucht — so denkt sich Plato die Situation — und erzähl!
ihm auf seinen Wunsch, was Sokrates vor seinem Tode sprach
und wie er starb, indem er mit dem Eindrucke, den die Fest-
setzung der Todesstunde hervorrief, beginnt. Sokrates führt
anfangs mitKebes und Simmias ein langes Gespräch (c. 4 — 37);
als es resultatlos zu verlaufen scheint, werden die Zuhörer ver-
stimmt, was zu einem kurzen Gespräch zwischen Echekrates
und Phaidon Anlass gibt (c. 28). Daran schliesst sich glückhch,
was Phaidon und Sokrates mit einander sprachen, bis letzterer^
zu Kebes und Simmias zurückkehrt; Echekrates streut aucl
in den nun folgenden Abschnitt einige Worte ein (102 a), überdies
wird der Dialog durch das rasche Eingreifen eines ungenannter
Sokratikers (103a) lebhafter gestaltet. Sokrates beendigt di(
Disputation, wie billig, nicht mit der Festsetzung eines Dogmas,]
sondern entwirft ein herrliches trostreiches Bild der Unterwelt;
die Hoffnung auf ein besseres Jenseits bildet einen versöhnendei
Übergang zu der ergreifenden Schilderung von Sokrates' Tode.j
Ein Schlussdialog von der Art, wie der an den Euthydemos
angehängte, wäre hier nur vom Übel.
Während im ,, Phaidon" die Form dem Inhalte genau ent
spricht, war Plato nicht genötigt, dieselbe beim Symposion')
anwenden, er trug aber vielleicht Bedenken, so viele Menscheil
mit so langen Reden gleichsam persönlich auftreten zu lassen]
Trotz der Aehnlichkeit der äusseren Anlage unterscheidet siel
das Symposion völlig von dem Phaidon und nähert sich eher
dem Phaidros, weil das Thema nicht dialektisch, sondern inj
längeren Reden erörtert wird. Da diese Deklamationen unter]
112 ff., 20, 226 ff.; Fr. Ueberweg Philol. 20, 512 f. 21, 20 ff.; H. Bou ts
piaton. Studien S. 273 ff. = Hermes 6, 413 ff.; H. Schmidt zur Erklärung
plat. Dialoge S. 1—155; vgl. Tenffel S. 16 f. Ueberweg S. 131, dazu Karl
Jul. Liebhold über die Bedeutung des Dialogs Phaedou für die plat. Er-
kenntni.stheorie und Ethik, liudolstadt 1876 ; F. Kamp e der Mendelssohnschej
Ph. in seinem Verhältniss zum i)lat., Halle 1880; A. Kampe Erörterung der!
künstlerischen Form des Dialoges l'h., Budweis 1880.
1) Fr. A. Wolf vermischte Schriften S. 288 ft. Alb. Schwegler tibetl
die Composition des plat. Sympos., Tübingen 1843; Susemi hl Philol. 6,1
177 ff. 8, 153 ff. (auch im Prodromu.s); G. Stall baura diatr. in mythumj
Plat. de divini amoria ortu, Leipzig 1854; G. F. Kettig in seiner Au.sgal)ej
Halle 1875 — 76, dazu kritische Studien und Eechtfertignngen zu Piatons S.,
Ind. lect. Bern 1876. vgl. Teuffei S. 15; Ueberweg S. 131, dazu C. Rück;
Symbolae philol. in hon. Speugelii, München 1877 p. 14 ff.
Der Dialog (Plato). 325
sich künstlich angeordnet sind, durfte der äussere Rahmen des
Dialoges nicht hervortreten. Der Erzähler, Apollodoros, ein be-
i;eisterter Anhänger des Sokrates, tritt daher nur am Anfange
auf, wo er sich an mehrere Zuhörer richtet, deren Wortführer
nicht genannt wird. Wir erfahren aus diesem Vorspiel, dass
Apollodoros, oder wenn man die Maske lüften will, Plato zur
Zeit des Symposions Ol. 90, 4 (416) noch ein Knabe war ^)
und über jenes nach den Mitteilungen eines Aristodemos be-
richtet. Hierauf beginnt sofort die Erzählung, ohne dass
Apollodoros noch einmal hervorträte ; um die regelrechte Kompo-
sition der Reden nicht zu verwischen, hat Plato die Scenerie
und überhaupt alles Nebensächliche auf Einleitung und Schluss
Ijeschränkt. üarum lässt er den Arzt Eryximachos vorschlagen,
man solle einmal auf den üblichen Symposiencomment ver-
zichten und statt dessen lieber der Reihe nach den Eros mit
Lobreden feiern. Dieser Vorschlag ruft fünf Reden hervor,
welche sich gegenseitig ergänzen und genau entsprechen. Den
Reigen eröffnet Phaidros, als Lysianer ein Vertreter der äusser-
lichen trockenen Prunkrede, welcher Eros nach dem Schul-
schema abhandelt und seine Macht mit mythologischen Bei-
spielen beweist (178 a — 180 b). Dieser Rede entspricht die
letzte (fünfte) ; Agathon in den Mund gelegt, ist sie zwar gleich-
l'alls sophistisch, jedoch mehr in der poetischen Manier des
Gorgias gearbeitet (194 e — 197 e) ^). Nach Phaidros zeigt uns
Tansanias, wie ein wackerer Bürger Athens, zwischen der blossen
Sinneslust und der reinen Liebe wohl unterscheidend, die Selig-
keit der letzteren zu empfinden und auszusprechen wusste
(180 c — 185 c); Aristophanes dagegen fasst in der vierten Rede
(189c — 193d) den Gegenstand derb und possenhaft und feiert
tlie sinnHche Liebe. In der Mitte steht der Arzt Eryximachos,
welcher weder als Rhetor noch als Laie die irdische Liebe,
sondern als Naturphilosoph den kosmischen Eros verherrlicht
(185 e — 188 e). So stellte Plato die verschiedenen Ansichten,
welche seine Zeitgenossen je nach ihrer Bildung oder Moralität
über die Liebe hegten, in diesen fünf Reden dar. Damit aber die
^vohldarchdachte Reihenfolge der Reden dem Leser nicht ge-
1) Die Erzählung ist in eine Zeit verlegt, wo Agathon Athen schon
lange verlassen hatte (172 c).
2) T e u f f e 1 Studien u. Charakt. zur griech. u. röm. Litteratur S. 144 ft.
326 Nenntes Kapitel.
suolit scheine, führt er sie auf einen blossen Zufall zurück.
Aristophanes hätte nämlich schon eher gesprochen, würde er
nicht das Schlucken bekommen haben ^). Nach jenen fünf
sollte nun Sokrates an die Reihe kommen ; er setzt Agathen
etwas zu (198 a — 201c), wie wenn er die ihm unangenehme
Aufgabe gerne hinausschöbe ; endlich beginnt er zu reden, aber
es würde seiner Gewohnheit nicht entsprechen, wenn er seine
Ansicht in zusammenhängender Rede kategorisch vortragen
wollte. Aus diesem Grunde entledigt sich Sokrates seiner
Pflicht in einer von Plato wiederholt angewendeten Weise
{bizoGzaGiQ genannt), indem er nämlich ein Gespräch, welches er mit
der mantineischen Seherin Diotima einst gepflogen, und den von
ihr vorgetragenen Mythos mitzuteilen vorgibt. Ueber einen
,, Mythos" darf man nicht diskutieren, darum wird Aristophanes
das Wort durch einen Zwischenfall abgeschnitten, welcher zeigen
soll, dass Sokrates seine edle Auffassung der Liebe auch im,
Leben bethätigte. Der trunkene Alkibiades, der mit anderen;
Zechern in den Saal bricht, stellt ihm dieses Zeugnis mitj
cynischer Offenheit aus. Das Symposion endigt mit heiterem!
Scherze und man sieht, dass Sokrates selbst im Trinken keinem
weicht. Plato hat in der Charakteristik der Personen dasj
höchste geleistet; jede Rede hat einen anderen Charakter, im
allgemeinen Stilcharakter aber unterscheidet sich das heitere
Symposion durch die bequeme Lässigkeit der Umgangssprache *)
von den rein philosophischen Dialogen. Es ist wahrhaft ein
Mimos im höchsten Sinne des Wortes.
Bekanntlich hat auch Xenophon ein Symposion hinter-
lassen, das in verschiedenen Punkten dem platonischen gleicht,
so dass die Frage naheliegt, welchem der zwei Sokratiker die
Priorität der Erfindung gehört. Sie stände Xenophon unbe-
stritten zu ^), wenn das weniger vollkonnnene stets das ältere
wäre ; denn das Gelage ist bei ihm in das Treiben des gewöhn-
1) P. 186 d; die zum Teil seltsamen Versuche, dieses Schlucken zu er-
klären, sind bei Schwegler a. O. S. 26 A. 5 verzeichnet.
2) Teuf fei Rhein. Mus. 29, 133 ff., über die Charakteristik ders.
28, 842 ff.
3) B ö c k h de simultate quam Plato cum Xenophonte exercuisse fertur,
Berlin 1811; Fr. v. Raumer antiquarische Briefe, Leipzig 1851; Arn. Hug
Philol. 7, 638 ff. : G. R e 1 1 i g dv. conviv. Xenoph. et IMatonis ratione mutua,
Bern 18ö4; H. Sehen kl Sitzungsber. der Wiener Akad. 83, 483 ff.
Der Dialog (Plato). 327
liehen Lebens herabgezogen. Auch wäre Xenophon, wie wir
sehen werden, die Erfindung einer neuen Varietät sokratischer
Schriften wohl zuzutrauen ; allem Streite macht indes eine
Stelle, in welcher Xenophon das platonische Symposion förmlich
citiert (8, 32 ff.), ein Ende, weil man nicht absieht, warum er
diese Stelle später nachgetragen haben soll ^). Wenn Xenophon
dort zusammenfasst, was im Symposion und im Phaidros
(178e. 179a) über die Liebe gesagt ist, so schlägt er das gleiche
Verfahren wie in den Apomnemoneumata bezüglich der An-
kläger des Sokrates ein ; er citiert eben nicht wie ein Grammatiker.
Plato ist es also, welcher das philosophische Symposion, welches
von nun an unendlich oft copiert wurde, erfunden hat ^), und
dem Freunde des fröhlichen Weingenusses steht dies um so
mehr an als der -S-iaaoc der Akademie zuerst solche Zusammen-
künfte abzuhalten pflegte ^).
Neben ,,Phaidon" und „S3''mposion" gestellt kann der
i ,,P armen id es" nicht als Piatos würdig gelten. Der Erzähler
I dieses Dialogs ist Kephalos von Klazomenai, der (wie ApoUo-
doros) das lange vor seiner Zeit vorgefallene Gespräch in Athen
durch Vermittlung des Adeimantos von Antiphon erfahren
haben will. Nachdem Zenon von Elea zu Athen sein Werk
vorgelesen hat, eröffnet der noch junge Sokrates eine Dispu-
tation mit ihm, an welcher auch Parmenides teilnimmt. Sie
wird ganz formlos ohne irgend eine äussere Andeutung, wer
gerade spricht, geführt; ein förmlicher Schluss fehlt. Aeusser-
lich ist also der ,, Parmenides" ein rohes Machwerk, das Plato
nicht verfasst haben kann, zumal da auch von philosophischer
Seite Bedenken laut geworden sind. Vielleicht kann der
1) Sehen kl a. O. S. 146 f.
2) So Joseph Rhacendyt. Walz rhet. III 511, 2; Cornarius de con-
viviorum Graecorum ritibus moribus ac serm., de Piatonis et Xeuophontis
dissensione, Basel 1541 (im Auszuge in Schneiders Ausgabe V 141 f.); Weiske
und Schneider in den Ausgaben ; K. Fr. Hermann, Geschichte und System
der plat. Phil. S. 398. 681 A. 688, disp. de eo num P. an Xenophon con-
vivium suum prius scripserit, ind. lect. hib. Marburg 1834, Vermutung dass
Piatons S. älter sei als das Xenophontische gerechtfertigt, ind. lect. Marburg
1841 u. Philol. 8, 329 ff.; K. W. Krüger historisch-philol. Studien I (1837)
S. 287 ff.; Steinhart Leben Piatos S. 300 f. Vgl. noch über die Frage
Susemihl Frodromus S. 29 ff.
3) Antigon. bei Athen. 12, 548 a.
328 Neuntes Kapitel.
Ursprung dieser Schrift ungefähr bestimmt werden. "Wegen
des Ueberwiegens der Eristik und Dialektik dachte man an die
megarische Schule^), indes ist es, weil alle Brüder Piatos auf-
treten, wahrscheinlicher, dass ein Platoniker den „Parmenides"
zum Schutze der Ideenlehre verfasste ^). Die Schrift wurde in
der Kaiserzeit ^) und während der Renaissance sehr hoch ge-
schätzt, nicht selten auch überschätzt.
Plato wurde durch die positive Entwickelung seiner Philo-
sophie , sobald er nicht nur Scheinweisheit zerstören oder
Lebensgrundsätze aufstellen wollte, notwendig darauf geführt,
entsprechend dem Inhalt auch die Form zu erweitern; da erj
den Dialog beibehielt, war er genötigt, ihn über die Grenzen,?
welche dieser Literaturgattung gesteckt sind, auszuspinnen.
Zuerst wendete er ohne Rücksicht auf die Wahrscheinlich-
keit einen zusammenhängenden Dialog an; dieser ist in den
umfänglichen Staate^) versucht, welchen die Späteren in nicht
1) Socher S. 291; von Aristoteles nach M eh ring Ztsch. f, Philosophie
N. F. 45, 11 ff. 145 ff.
2) Uebei-weg S. 176 ff. und Jahrbb. f. Phil. 89, 97 ff.; gegen die Echt
heit auch Schaarschmidt Sammlung S. 166 fi ; Werner Luthe de Par«?
menide qni Piatoni tribuitur, Mün.ster 1867; C. Huit de Tanthenticite dal
Parmenide, Paris 1873. Sprachliche Beweise bringt Dittenberger Hermes]
16, 323 A. 2 bei; verteidigt von J. Deuschle Jahrbb, f. Phil. 85, 681 ff.,'
Neumann de Platonico quem vocant Parmenide, Berlin 1863, K. Chr.^
Planck Jahrbb. f. Phil. 105, 433 ff. 629 ff., O. Apelt Untersuchungen
über den Parmenides des Plato, Weimar 1880, K. Göbel über den plat. P.,|
Gütersloh 1880; Alb. Keil über den platonischen Dialog Parmenides, Stolp
1884. Anderes bei Teuffei S. 42, Überweg S. 130, zuletzt C. Schirlitz]
de Piatonis Parmenide, Nenstettin 1884.
3) z. B. Plutarch. frat. amor. 12 extr.
4) Titel in den Handschriften TroXtteia yj Tvspl Sixaioo itoXtttxoc. Ilsplj
noXixeiai; bei Stobaios nur II p. 15, 14. 16, 9 Wachsm., manche (darunter!
Aristoteles polit. 4, 7 p, 1293 b 1) sagen noXtxsIai (bei Olympiodoros dieses
oder itoX'.Tixa Freuden thal Hermes 16, 201A. 1). Literatur s. Teuffei
S. 20 f Ueberweg S. 131, besonders C. Morgenstern de Piatonis republica,
Halle 1794; K. F. Hermann Gesamm. Abhandl. S. 132 ff. E. Z e 1 1 e r
Vorträge und Abhandlungen S, 62 ff., Teuf fei Studien S. 126 ff. A, G.
F. Kettig prolegomena ad republicam, Bern 1846 und Rhein. Mus. 16,
161 ff.; C. Nohle die Staatslehre Piatos in ihrer geschichtlichen Ent-
wicklung, Jena 1880; Paul Märker die leitenden Gedanken der in Piatos
Politcia entwickelten Staatsansicht, Halle 1881; Guggenheim Ztsch. f.
Völkerpsychol. 16, 136 ff.
Der Dialog (Plato). 329
weniger als zehn Bücher zerlegen musston ^). Trotzdem scheute
sich Plato nicht, diesen Monstredialog von Sokrates erzählen
zu lassen und so durchziehen die Parenthesen „sagte ich, sagte
er" das ganze Buch. Der äussere Rahmen ist bloss am Anfange
skizziert: Der Dialog findet im Hause von Lysias' greisem Vater
statt. Kephalos spricht mit Sokrates über die Gerechtigkeit;
weil er abgerufen wird, tritt Kephalos' Sohn Polemarchos an
seine Stelle (I 6), bis der leidenschaftliche Sophist Thrasymachos
diesen verdrängt (I 10) und gegen Sokrates eine gereizte Debatte
führt. Als er grob abbricht 2), hindern zwei Brüder Piatos,
Glaukon und Adeimantos, das Ende der Disputation und bringen
Sokrates dahin, dass er zuvörderst die Gerechtigkeit im allge-
meinen untersucht (IT. 1 — 10) und sie hierauf als das Treibende
im Staatsleben erörtert. In Rede und Gegenrede konstruiert
er den Staat aus dem Begriffe der Gerechtigkeit und kehrt zu
dem Ausgangspunkte durch den Nachweis zurück, dass der
Zweck des Lebens in der Ausübung der Tugend besteht; da
aber das diesseitige Leben den Gerechten nicht gebührend be-
lohnt, nimmt er einen Ausgleich im Jenseits an. Aehnlich
wie im ,,Gorgias" versinnbildlicht Plato diesen Glauben durch
einen Mythos, welchen der aus der andern Welt zurückgekehrte
Pamphylier Er berichtet hat ^). So endigt das philosophische
Phantasma, wie es sich gebührt, mit einer reinen Dichtung.
Es ist indes eigentümlich, dass Plato nicht statt dessen ein
phantastisches Bild der Zeit, wo der Idealstaat bestehen würde,
entwarf, wie das in der sociahstischen Literatur vorkommt.
Aber Plato war nicht einmal theoretischer Revolutionär, denn er
glaubte selbst nicht an die Verwirklichung seines Ideales ;
darum konstruierte er einen Staat nach rein philosophischen
Prinzipien. Die Sophistik, welche alle Gesetze und Sitten für
Menschensatzung erklärte , rief im fünften Jahrhundert
Schriften ähnlichen Inhaltes hervor "*), doch nur Piatos Werk
1) Diese Arbeit wurde ganz mechanisch gemacht (N u s s e r Platous
Politeia S. 95 f., auch Christ a. O. S. 472 flf.)
2) V 450 ab lässt er nochmals ein derbes Wort einfliessen.
3) Der Philosoph führt 10, 614 b nicht aus, wie Sokrates diesen Mythos
vernommen ha))e; aber 621c sagt er scherzhaft: o3tü>c jj-ö^o? eocuO-t) xal o6x
ttTTlüXetO.
4) Isoer. Phil. 12, z. B. erwähnt Aristoteles (rep. 2, 12 p. 1274 b 9) einen
Phaleas von Chalkedou.
330 Neantes Kapitel.
überdauerte sein Jahrhundert und wurde zu jeder Zeit zugleich
bewundert^) und nachgebildet; es seien nur die Namen von
Thomas Morus (Utopia) ^) und Campanella, dem Verfasser der
civitas sohs, genannt.
Man kann sich nicht verhehlen, dass der „Staat" vom
literarischen Standpunkte aus betrachtet, eine geniale Ungeheuer-
lichkeit ist, und mancher möchte sie Plato nicht zutrauen oder
ihn sozusagen auf Umwegen darauf verfallen lassen. Hiezu
scheint nun eine Stelle des Gellius (14, 3, 3) dienlich zu sein;
unter den Merkmalen, dass Xenophon und Plato verfeindet
waren, führt er auch auf, Xenophon habe ,, ungefähr zwei
Büchern des platonischen Staates, welche zuerst veröffentlicht
wurden," seine Kyropädie entgegengestellt. Schon das Wört-
chen ,, ungefähr" beweist, dass hier nicht eine alte Tradition
vorliegt; vielmehr wollte ein Grammatiker erklären, warum
Xenophon scheinbar gerade auf den Anfang des Staates Bezug
nahm^). Doch man glaubt ja aus einem Zeitgenossen Piatos
den indirekten Beweis für die allmälige Entstehung des plato-
nischen Staates erbringen zu können. Der Komiker Aristo-
phanes verspottet, wie manche behaupten*), in den Ekklesiazusen
die vier ersten Bücher des Staates, während er die im fünften
Buche geforderte Frauengymnastik, welche ein dankbarer Stoff
gewesen wäre, noch nicht kannte; in derselben Komödie soll
Plato unter dem Namen Aristyllos verhöhnt werden ^), wofür
nicht der geringste Beweis beizubringen ist. Ebensowenig ist
bewiesen, dass Aristophanes irgend ein philosophisches Buch
las oder dass Plato die in der Komödie verhöhnten Vorschläge
1) Quintilian 8, 6, 64. Plutarch. frat. am. 12 u. A., getadelt von Dio
Chrys. or. 7, 130. Ueber die philosophische Wirkung Ed. Zeller Sybels
histor. Zeitsclirift I (1869) S. 108 ff. = Vorträge und Abhandinngen I» S. 68 ff.
2) Lina Morgenstern die Utopia des Thomas Morus und der plat.
Staat, Berlin 1879; L. Beger Thomas Morus und IM. Tübingen 1879 (Diss.
V. Bern).
3) So urteilt N u s s e r a. O. S. 103; anders z. B. P. S c h u s t e r Rhein.
Mus. 29, 617 A. 2.
4) Zuerst C. M o r g e n s t e r n a. O. epimetron p. 73 ff. (bestritten von
Socher S. 340 ff., K. Fr. Hermann, Ueberweg S. 212 ff. und Zeller); A. Chia-
pelli le ecclesiazuse di Aristofane e la republica di Piatone, Turin 1882.
6) V. 647. 994. Plut. 314, vgl. Meineke fragm. com. II 1162; Bergk
reliq. com. Att. p. 404 u.
Der Dialog (Pluto). 331
zuerst aufgestellt hat^); im Gegenteil bestreitet dies die Ueber-
lieferung (S. 292,2). Wenn endlich Plato von dem Spotte seiner
Gegner spricht, denkt er gewiss nicht an die Komiker, welche
er verachtete, sondern an Sophisten und überhaupt höher ge-
bildete Leute; übrigens nimmt auch der erste Teil des Staates
auf derartige Anfeindungen wiederholt Bezug. Berechtigter sind
die auflösenden Tendenzen, deren Vertreter innere Gründe gegen
die Einheit des Werkes vorführen ^) ; indes kann nicht geleugnet
werden, dass der Anfang und der Schluss enge zusammen-
liängen^); was aber das dazwischenliegende betrifft, so konnte
IMato bei der allmäligen Ausarbeitung des umfänglichen
spekulativen Stoffes leicht in Inkonsequenzen und Widersprüche
geraten ^).
Der Philosoph war von der Form des ,, Staates" offenbar
nicht befriedigt, weshalb er nun philosophische Fragen nach dem
Beispiele der Tragiker in je drei zusammenhängenden Dialogen,
welche verschiedene Protagonisten hatten, zu erörtern versuchte.
Zwei solcher Trilogien hat er begonnen , aber keine derselben
zu Ende geführt.
Mit dem Staat hängt der Tiraaios^) in der Weise zu-
1) Teichmüller literarische Fehden S. 15 ff.
2) Nach K. Fr. Hermann plat. Philos. S. 538 f. war der ursprüngliche
Kern das erste Buch; dazu kamen II. — IV. "VIII. IX., später V.— VII. und
endlich X., welches schon Schleiermacher als entbehrlich bezeichnet hatte.
Diese Ansicht wurde mehrfach umgebildet von Aug. Krohn der platonische
Staat, Halle 1876 und (vielfach modificiert) die platonische Frage, Halle 1878.
H. Sieb eck Jahrbb. f. Phil. 131,246 ff. scheidet vier Teile: LH. -IV. 18,
IV 19— IX. X.
3) Die Einheit des Staates ist nachgewiesen von Susemihl genet.
Entw. II 65 ff. F e i p 6 r s ontologia Platonica p. 546 ff. ; Joh. N u s s e r
Piatons Politeia nach Inhalt und Form betrachtet, Pr. v. Amberg 1882 ;
K u t z n e r die innere Gliederung des platonischen Dialoges vom Staate,
Bunzlau 1877. Andere schlugen einen Mittelweg ein, indem sie annahmen,
dass Plato lange an dem Staate arbeitete und zuletzt seine Konzepte äusser-
lich an einander reihte (Steinhart Piatons Werke V S, 122 ; Schön de
Piatonis Protagora p. 94; Zell er Gesch. der griech. Philos. II '^ 1, 347).
4) Er sagt übrigens 3, 394 d od y«P efwp ^co olha., akVoKf} äv 6 Xoyo?
woTTEp TCV£5|j.a tpeffl xaoT-jj Ixeov.
,5) A. Böckh kleine Schriften 3, 109 ff. 294 ff. ; Ueberweg Ehein.
Mus. 9,37 ff.; Susemihl Philol. Suppl. 2,219 fl., anderes bei Teuffei
S. 23; Ueberweg S. 131, zuletzt Hopf über die Einleitung zum Timaeus,
Erlangen 1884.
332 Nenutes Kapitel.
sammen, dass der pythagoreische Philosoph Timaios und seine
Genossen als das Publikum gedacht sind , welchem Sokrates
den „Staat" vorerzählte; am folgenden Tage (17 c. 25 d) fordert
Sokrates seine Zuhörer auf, ihm zum Danke gleichfalls etwas
vorzutragen. Der Dialog beschränkt sich diesesraal einzig auf
die Einleitung und die nötigen Übergänge, während den Haupt-
teil poetische Schilderungen ([iö^ot) bilden. Zuerst erzählt Kritias
nach Mitteilungen Solons von dem urathenischen Staate, der
vor der deukalionischen Überschwemmung blühte; Timaios geht
noch weiter zurück und entwirft ein Bild der gesammten
Schöpfung. Nach der Verabredung übernimmt Kritias^) das
Wort und schildert fortftihrend Urathen und das Wunderland
Atlantis. Der Schluss dieses Dialoges fehlt ebenso wie der
ganze dritte, in dem Hermokrates sprechen sollte. Da die
Alten nicht mehr als wir besassen, hat Plato selbst die Trilogie
nicht vollendet, den Grund davon zu bestimmen ist nicht
möglich.^)
Wahrscheinlich ist in Betracht zu ziehen, dass die zweite Tri-
logie ein ähnliches Schicksal hatte, weil zu Sophistes und
Politik OS der Phil OSO p hos fehlt. ^) Auch sie steht nicht ganz
unabhängig da, sondern knüpft an den „Theaitetos" so an,
dass Theaitetos und Theodoros hier zum zweiten Male auftreten
und ausdrücklich auf die am vorhergehenden Tage getroffene
Abmachung Bezug nehmen; doch ist die Gesellschaft jetzt um
einen ungenannten Eleaten vermehrt. Auch in dieser Trilogie tritt
Sokrates zurück und gibt die führende Stelle an andere ab,
während er bloss an der Eröffnung des Gespräches beteiligt
ist. Statt seiner examiniert der Eleate im Sophistes'^) den
1) Angezweifelt von Socher S. 369 ft'., verworfen von Suckow S, 159
(wegen Procl. in Tim. 24 ab), verteidigt von Theod. Bach meletemata
Platonica, Breslau 1858 (vgl. S u 8 e m i h 1 Jahrbb. 79, 566 ff.)
2) Es war der Tod Plut. Sol. 96 e, die sicilischen Reisen nach Zeller
8. 467 und Suse mihi genet. Entw. II 503.
:>) An seine Stelle trat nach Zeller plat. Studien S. 194 und Stall-
b a u in proleg. in politic. p. 33 und diatr. de Piatonis pol., Leipzig 1840
p. 26 der Parnienide«, nach L. S p e n g e 1 Philol. 19, 595 Buch V.— VII. der
Republik. Apokryph Mythogr. Vatic. III 6, 2 p. 183 in eo ipso libro qui
philosophus inscribitur. Nach Zeller S. 463 waren auch hier die sicilischen
Reisen das Hindernis.
4) Analyse bei Bonitz piaton. Studien S, 144 fl'. ; verworfen von
Schaarschniidt Rhein. Mus. 18, 1 ff., 19, 63 flf., 8. dagegen M. Hayduck
Der Dialog (Plato). 333
Theaitetos, im Politik os^) den jüngeren Sokrates, welcher
bereits im „Theaitetos" ein stummer Zuhörer gewesen ist.
Von der Vernachlässigung seines Lehrers ging Plato dazu vor,
ihn in seinem grössten Werke, den Gesetzen, ganz wegzulassen
und durch einen ungenannten Athener^) zu ersetzen, der
mit dem Lakedämonier Megillos, von dem Kreter Kleinias ge-
leitet, von Knosos zur Zeusgrotte emporsteigt. Die vier ersten
Bücher sind ein wirkliclier Dialog, welchen der Athener haupt-
sächlich mit dem Kreter führt. Der Spartaner wird sehr
ungleichmässig herangezogen , je nachdem auf die lykurgische
Gesetzgebung Bezug genommen wird. Dagegen sind Buch IV — X
der Hauptsache nach dem Athener in den Mund gelegt. Den
Anlass des Gespräches gibt die fingierte Anlegung einer kretischen
Kolonie ab (3,702 c). Von der Symmetrie, welche Piatos Schriften
sonst auszeichnet, findet sich keine Spur. Ob Plato über der Arbeit
starb und sein Schüler Philippos von Opas das Werk herausgab
und es mit der ,,Epinomis" fortsetzte, ^) wollen wir dahingestellt
sein lassen, oder richtiger, Aristoteles' Zeugnis spricht dagegen;
denn er verbürgt nicht allein die Echtheit, sondern auch offenbar
die authentische Ausgabe der Gesetze. ^) So sind also alle Ver-
suche, die Echtheit anzutasten, unberechtigt'), zugleich aber
alle Hypothesen bezüglich einer Überarbeitung des verwirrten
Nachlasses oder einer Kompilation von zwei verschiedenen
über die Echtheit des Sophistes und Politikos I. Greifswald 1864; vgl. Alber ti
Rhein. Mus. 2), 180 ff.; P. Deussen de Platouis sophista, Marburg 1869;
Rob. Pilger über die Athetese des Sophisten, Berlin 1869. Anderes bei
Teuffei S. 18 f. Ueberweg S. 130.
1) Verworfen von Socher S. 270 ff., überarbeitet nach Alberti Jahrbb.
Suppl. I 166 ff.; verteidigt bei Gottfr. St all bäum diatribe in Piatonis
politicum, Leipzig 1840.
2) Aristoteles nennt ihn zur Bequemlichkeit Sokrates, ebenso Salvian.
gub. 7, 101 ff.
3) Diog. 3, 37 (eviot), ohne Namen Suid. v. (ptXooocpoc. Vgl. E. P r ac-
te rius de legibus Platonicis a Phil. Op. retractatis, Bonn 1884.
4) S. 305 A. 2.
6) Ast S. 379 ff.. Zeller plat. Studieu, Urach 1839, Suckow S. 104, ff.,
Olncken Staatslehre des Aristoteles I 194 ff.; für die Echtheit treten ausser
Zeller (Phil, der Griech. II 1) besonders ein S u s e m i h 1 genet. Entw. II
669 ff. und Herrn. Henkel Studien zur Geschichte der griech. Lehre vom
Staat, Leipzig 1872 Kap. 1. Andere Schriften sind verzeichnet bei Teuffei
S. 25, Ueberweg S. 131.
334
Neuntes Kapitel.
Entwürfen ^) höchst bedenklich teils wegen jener Stelle des
Aristoteles^) teils weil die Schule unmöglich eine solche Miss-
handlung des Nachlasses ihres Meisters geduldet hätte. Es sind
unstreitig Widersprüche und Wiederholungen vorhanden und
manches Versprechen nicht erfüllt. Aber fühlt Plato nicht
selbst die Abschweifungen^) und die lästige Breite'*), deuten nicht
auch die zahlreichen Kückverweisungen darauf, dass der alte
Mann den Faden zu verlieren fürchtete, wie es denn auch
wirklich oft eingetreten ist? Dass Plato in hohem Alter die
Gesetze schrieb, macht ja der ganze Ton der Sprache klar,
welcher etwas zerfahrenes und verworrenes hat und ein wenig
an die letzten Arbeiten des Isokrates erinnert; vielleicht darf
man eine historische Anspielung auf das Jahr 354 beziehen.-^)
Überdies rechnet sich Plato selbst im Dialog zu den Greisen.
Einen apokryphen Anhang der Gesetze bildet die „Epinomis",
von welcher bereits oben die Rede gewesen ist (S. 303).
Wenn wir die unechten Schriften des thrasyllischen Kanons
zum Schlüsse zusammen stellen wollen, so steht die Unechtheit der
beiden Alkibiades, Anterastai, Epinomis, Hipparchos, Kleitophon,
Minos, Parmenides und Theages fest; die Entstehuugszeit
derselben dürfte zwischen Piatos Tode und Aristophanes von
Byzanz zu suchen sein. Das stilistische und philosophische
Verhältnis zu Plato verdient nähere Erforschung; sie wäre
fruchtbringender als die grundlose Verdächtigung vortrefflicher
Dialoge.
1) Ivo B r u n s Piatos Gesetze vor uud nach ihrer Herausgabe durch
Philippos von Opus, Berlin 1880; Bergk fünf Abhandl. zur griech. Philo-
sophie S. 43 ff. nimmt wegen V 739 e xpixfjv Se ixet« -raüTa, eav ö-ec/q sö-eAtj,
hict itepavoonE^a an, dass Plato einen mehr und einen weniger reali.stischen
Entwurf hinterliess.
2) Ari.stoteles' Worte, die sich auf den Inhalt der „Gesetze" beziehen,
bewei.sen nichts gegen das vorhandene Werk, weil v&[j.ot und „Gesetze'' sich
keineswegs decken.
3) 3, 683 e, wo er an den Schluss von II. anknüpft, spricht er von
jtXdvT) Toü XoYOü. Man .sollte die Andeutungen, welche Plato seihst über die
Komposition gibt, höher schätzen; 4, 722 cd ist aus Morgen Mittag geworden
und doch war das ])isherige nur irpootjxia.
4) Er entschuldigt sie mit xaXöv 8^ t6 ys ipö-iv xal Sic ^«l tplc 12, 95Ge.
6) 8, 686 c xadditep v5v xciv ^lifav ßaotX^a (poßoüfieö-a "^(Jiei«;; 3, GBGh
pasüte besonders nach der Wiederherstellung von Messene.
Der Dialog (Plato). 335
Der Dialog war für Plato nicht etwa eine in der Schule
des Sokrates angelernte Form; denn der streng sokratische
Dialog entbehrte der Frische und des Schmuckes ^). Plato hat
ihn zu einer wirklichen Literaturgattung, die sich ebenbürtig
zwischen die Poesie und Prosa stellen durfte, erhoben; denn
wenngleich das Fehlen des Versmasses den Dialog der Prosa
zuteilte, konnte er wegen der freien Erfindung des Inhalts und
der nachahmenden Darstellung der Wirklichkeit mit fast besserem
Rechte zur Dichtung gezählt werden, von deren Arten das
Drama und besonders der Charaktermimos ihm am nächsten
stand ^). Trotz der künstlerischen Komposition , welche Plato
in den meisten Werken herzustellen sucht, -wäre es pedantisch,
seine Dialoge in die Schablone der dramatischen Akteinteilung
zu zwängen ^). Darin beruht die Aehnhchkeit mit dem Drama
nicht. Sie liegt auch nicht allein darin, dass zwei mit ein-
ander sprechende Personen fingiert sind, sondern Plato bemüht
sich, den Dialog wie einen wirklichen Vorgang dem Leser an-
schaulich darzustellen, weshalb er in der Regel andeutet, wo
das Gespräch stattgefunden haben soll, wobei auch nicht-
athenische Leser berücksichtigt werden*), und wie die Begegnung
der Sprechenden zu Stande kam. Diese selbst sind keine
Marionetten, welche eingelerntes deklamieren ^), sondern lebens-
wahre Menschen, auf deren Charakteristik Plato mehr oder
weniger Sorgfalt verwendet"). Bald schildert er sie durch den
1) Dionys. de Plat. 2 xpacpslc jxev ev zolq Stoxpatixot«; ZiaXö-^oiz loyyo-
xatoic; oüg: v.a\ ftxp'.ßsaxaxotc. Ueber den platonischen Dialog Ged des essay
ou the composition and manner of writing of tlie ancients particularly of
Plato, übers, in „Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen
Wissenschaften und der freien Künste", Berlin 1761 IV. St. 1.; v. Stein
sieben Bücher I S. 10 fl'.
2) Aristot. bei Diogen. 3, 37.
3) Fr. Thierse h über die dramatische Natur der platonischen Dialoge,
Abhandl. der bayer. Akad. II (1837) S. ff.; Suckow S.l 423 ff.; Th. Bacher
dramatische Composition und rhetorische Disposition der plat. Eepublik,
3 Progr. Augsburg 1869, 74, 75.
4) Charmid. 153 a.
5) Quintilian 5, 7, 28 urteilt: adeo scitae sunt interrogationes, ut, cum
plerisque bene respondeatur, res tamen ad id quod volunt efficere, perveniat;
vgl. Märten ins Ztsch. f. Gymnasialw. 1866 S. 97 ff. 497 ff.
6) Dionys. rhetor. 10, 2. 11, 6. Basil. epist. 135 (167, 1); Ambros
Mayr Charakterbilder aus Protagoras, Pr. v. Komotau 1876. Eine Ausnahme
bilden, wie Basilius bemerkt, die aöpiaxa itpöocu^a der Gesetze.
336 Neuntes Kapitel.
Mund anderer wie den jungen Theaitetos, bald 5ceichnet er sie
durch ihr Reden und Handeln so fein, dass keine Figur mit
einer anderen völlig übereinstimmt, ein Resultat, das vor allemj
bei den zahlreichen Sophisten schwierig zu erreichen war.
Plato schildert, um nur einige Charakterköpfe hervorzuheben,]
Protagoras selbstbevvusst und empfindlich, Gorgias gutmütiger,'
Hippias lächerlich eitel, Thrasymachos endlich plump und
unduldsam. Ebenso drückt er den Unterschied von Bildung
und Stand in der Sprache aus, z. ß. sprechen die Sophisten
bilderreich und geziert ^), indes weicht der Lysianer Fhaidros
wiederum bedeutend von dem Gorgianer Agathon ab. Neben j
den Grundzügen der äusseren Verhältnisse und der Charaktere]
fehlt in manchen Dialogen auch die Kleinmalerei nicht, indem i
Plato z. B. berichtet, in welcher Ordnung man sass, welche]
Geberden die Personen machten, wie sich ihre Gefühle inij
Gesichte abspiegelten, und anderes mehr, was jetzt der Roman-
dichtung eigen ist.
Indem Plato den Dialog auf eine so hohe Stufe hob, er-j
warb er sich zu den Pflichten der Dichter nicht minder ihn
Rechte. Was nämlich das Verhältnis, in welchem er zu den]
historischen Vorgängen steht, angeht, so hat Plato, wenn erl
die Scenerie seiner Dialoge entwarf, natürlich nicht bei den]
älteren Bürgern herumgefragt oder die Chroniken studiert,!
damit er mit der Zeitrechnung nicht in Konflikt käme. Er]
gruppierte auf jeden Fall die Ereignisse, welche er selbst ge-
sehen oder gelegentlich gehört hatte, mit poetischer Freiheit]
und so kam es, dass Philologen der alten und neuen Zeit ihi
arge Verstösse vorrücken konnten ^) und jeder Dialog, der|
mehrere historische Anspielungen enthält, denen, die ein be-
stimmtes Datum feststehen wollen, die grössten Schwierigkeiten
bereitet. So enthält eine Stelle des „Gorgias" eine Anspielung
auf die Verurteilung der Arginusenfeldherrn (473 e), obwohl;
einer derselben dem Gespräche beiwohnt. Der „Protagoras" ^)j
scheint nach dem, was über Perikles gesagt ist, vor dem An-
1) Er parodiert sie mit «oXo-IlaXe Gorg. 462 d, Xojoxe Il&Xe 465 d. 467b.
2) Athen. 6, 218 bc. Ariatid. orat. III 474 f. 651. Macrob. sat. 1, ].
3) Speziell .1. S. Kroschcl Ztsch. f. GW. U, 501 ff. 12, 200 ff. nnd
de temporibus reruni quae in l'latouis Protagora babentur coastitueodis, j
Erfurt 1859.
Der Dialog (Plato). 337
fange des peloponnesischen Krieges zu spielen, nichtsdesto-
weniger ist Kallias, dessen Vater Hipponikos erst 424 starb,
bereits im Besitze des Hauses und vor dem Dialoge sollen die
,, Wilden" des Pherekrates auf die Bühne gekommen sein, was
erst Ol. 89, 4 (421/0) geschah. Bei dem „Staate" vollends ge-
nügt es zu bemerken, dass die Ansätze der Platoniker zwischen
Ol. 83 und 91, 3 schwanken^). Es wäre daher verfehlt, Piatos
Dialoge für die Chronologie zu benützen 2). Was die ältere
Zeit betrifft, so nimmt es uns freiüch Wunder, wenn Plato
den Epimenides zehn Jahre vor den Perserkriegen nach Athen
kommen und weissagen lässt, aber er folgte ohne Zweifel der
volkstümlichen Ueberlieferuug, welche mit der Zeit eines solchen
Wundermannes frei schalten durfte^). Weniger leicht sind die
eigentlichen Anachronismen zu verzeihen , weil sie die
poetische Wahrheit des Dialoges stören. Doch gestattete sich
Plato solche nur in Reden, nämlich im ,,Menexenos" , wo
Sokrates vom antalkidischen Frieden spricht, noch bekaimter
ist der Anachronismus in der Rede des Aristophanes, deren
possenhafter Charakter ihn entschuldigt.
Sowie Plato den sokratischen Dialog zu einer prosaischen
Dichtung erhob, musste die Sprache dieser Wandlung folgen^),
wiewohl der Philosoph in dem eigentlichen Zwiegespräch von
der Sprache des täglichen Lebens nicht zu weit abgehen durfte.
An die Umgangssprache erinnern ein reicher Schatz von Sprich-
wörtern*) und zahlreiche Vergleiche^), die den mannigfaltigen
Seiten des Lebens abgelauscht sind und von dem platonischen
1) Speziell handeln über diese Frage Böckh ind. lect. hib. 1838, aest.
1839 und 1840 = Gesammelte kleine Schriften 4, 437 ff. 450 ff. 474 ff.,
K. Fr. Hermann de reipublicae Platonicae temporibus, Marburg 1839 und
S u s 6 m i h 1 Philol. Suppl. 2, 97 ff.
2) Zell er über die Anachronismen in den j platonischen Gesprächen,
Abhandl. der Berliner Akad. 1873 S. 79 ff.
3) Anders Zeller a. O. S. 95 ff.
4) Ueber den platonischen Stil Dionysios von Halikarnass repöc Fvalov
no}ji.iffjiov entatoX-fj L; die Alten bewegen sich meist in Allgemeinheiten.
B 1 a s s attische Bereds. II 424 ff. Das Rhetorische im „Menexenos" ist in
der Abhandlung von Berndt zusammengestellt (s. o. S. 311 A. 1).
5) Stallbaum indices s. v. proverbia, Krische tiber Piatons Phaedros
S. 1063 A., Lingenberg platonische Bilder und Sprichwörter, Köln 1872;
der „Gorgias" wird mit zwei Sprichwörtern eröffnet.
Sittl, GrescMchte der griechischen Literatur. II. 22
338 Neuntes Kapitel.
Sokratcs mit Rücksicht auf sein jeweiliges Publikum ausgewählt^
werden, so dass er sie z.B. im Gespräche mit jüngeren Leuten
gerne der Gymnastik und Musik entlehnt ; ^) manchmal sind
die Vergleiche, für den allgemeinen Geschmack wenigstens
zu tief gegriffen, was freilich durch Dantes Übereinstimmung
verteidigt wird. Von der Konversationssprache nimmt Plato
zugleich das Recht her, seine Personen etwas weitschweifig
sprechen^) und die Sätze nicht immer streng korrekt bauen zu
lassen.^) Er strebte aber höher. In seiner Jugend hatte er
offenbar einen gründlichen Unterricht in der gorgianischen '
Rhetorik genossen und die Dichter seines Volkes eingehend
studiert, weshalb es ihm bei seinem angebornen Talent ein';
leichtes war, rhetorisch und poetisch zu schreiben. Wo er sich]
massvoll zurückhält, ist seine Sprache nach einem feinen
Ausdrucke des Dionysios ,, ein schöner Quell, um den Frühlings-
grün spriesst". Plato flicht gerne Anspielungen auf Dichter,
besonders auf Homer, ein und ahmt sie auch nach.*) Aber!
zumal in den Mythen wagt er mit den Tragikern und Dithy-I
rambikern zu wetteifern und dann entschlüpft ihm manches,.'
was in der Prosa nicht entschuldbar ist, ^) wenn auch Piatos
mündliche Ausdrucksweise noch reicher an ungewöhnlichen!
Bildern gewesen zu sein scheint.'') Von Gorgias hat er die]
Vorliebe für Gleichklänge und Wortspiele überkommen. '') Diöj
Wortstellung ist nicht einfach, sondern durch kunstvolle Ver-
1) J. P. Huber zu den platonischen Gleichnissen, Passau 1879 stellt
die Vergleichungen der Ktde zusammen und bespricht die Verbindung voaj
xiz mit Vergleichungspartikeln.
2) Tiber, schem. 35, z.B. Paare von synonymen Partikeln, vgl. Seh ans
novae commentatt. p. 12 ff.
3) F. W. Engelhardt anacoluthorum Piatonic, specimina, Danzig]
1834, 1838, 1845; de periodorum plat. structura I. Dauzig 1853. IL 18G4.
4) Von Homer fl. 5<j;oo<: 13, 3; Longin. 9 p. 326, 20 Sp., z. B. entaxpw-
^Äat noXirjai; soph. 216 c, vgl. auch Gorg. 449 a.
6) Diouys. compos. 18. de Plat. 2, Longin. Sp. I 324, 15; Ilepl Z^oui
4, 6 (hier werden xaS-eüoetv eäv xa tei^vj leg. 6, 778 d und xoTcaptixivat; jxvYjfiac
leg. 5, 741 c angeführt); vgl. Procl. in Tim. 19 b, anderes K. Fr. Hermann
Gesch. der plat. Phil. S. 101, 56; vgl. E. Wiedasch de Piatonis dicendi
geuere, Ilefeld 1836.
6) Aristot. topic. 6, 2, 5 z. B. öfppoooxcoc.
7) Z. B. 'AXxivou und aXxtjAou rep. 10, 614 b, sogar dreifach leg. 4,
714 a 3iav&|j.Yjv ejiovojJidCovxeg v&jxov.
Der Dialog (Plato). 339
schränkungen ungewöhnlich gestaltet, ^) z. B. liebt der Schrift-
steller die kreuzweise Verschlingung von zwei zusammenge-
hörigen Gliedern. ^) Im Satzbau hat er Gorgias weit überflügelt,
denn seine Kola sind mannigfaltig^) und gleiten leicht und
rhythmisch dahin. *) Der Tonfall wird wohl beachtet ; so kommen
in den Reden volle gewichtige Silben häufig vor^) und nicht
selten verfällt er in Verse. ^) Wahrscheinlich hat Thrasyraachos'
Beispiel ihn darauf hingewiesen, es könnte aber auch sein, dass
Isokrates einen Einfluss auf den platonischen Rhythmus hatte,
weil man nachweisen kann, wie Plato allmälig gegen den Hiatus
empfindlicher wurde.') Es gehört zu den zahlreichen Wider-
sprüchen in Piatos Wesen, dass derselbe, welcher die Rhetorik so
leidenschaftlich bekämpft und verhöhnt, zugleich einer der be-
deutendsten Rhetoren gewesen ist. ^) Plato stellt im Phaidros
die Schriftstellerei sehr tief und doch hat er eine ausserordent-
liche Mühe auf die Ausfeilung seiner Werke verwendet. Mochten
auch neuplatonische Enthusiasten die Sprache Piatos wie
eine Art von göttlicher Inspiration betrachten, den Rhetoren
entging ihre Künstlichkeit nicht. ^) Die Anekdote , dass in
Piatos Nachlasse die ersten Worte seines Staates auf einer
Schreibtafel in verschiedenen Variationen aufgefunden wurden, ^°)
kann erfunden sein, doch ist sie vollkommen glaublich und
wird dadurch nicht widerlegt, dass der Leser diese mühsame
1) Z. B. am Anfang des tünften Buches des Staates; Braun dehyperbato
Platonico, Culin 1847. 1852. Seine cuv^soic; wird von Quintilian 9, 4, 77
hoch gerühmt.
2) Schanz novae commentatt. p. 8 ff.
3) Menand. epid. p. 150 W. = 340, 29 Sp.
4) Demetr. 8p}j.7]v. 183 ff. Aug. Lange de compositione periodorura
inprimis Platonicarum I. Breslau 1849,
5) Dionys. compos. 18.
6) Quintilian. 9, 4, 77 f.
7) B 1 a s s a. O. S. 426 ff.
8) Cicero de orat. 1, 11, 47, was Fronto p. 149 benützt; Jos. Steger
platonische Studien I. Innsbruck 1869; R. Hirzel über das Rhetorische und
seine Bedeutung bei Plato, Leipzig 1871; J. V. Novak Plato und die
Rhetorik, Jahrbb. Suppl. 13, 443 ff.
9) Procl. in Tim. p. 19 b, vgl. Aristid. orat. III. p. 225.
10) Panaitios und Euphorien bei Diog. 37. Dionys. compos. 25 p. 209.
Quintil. 8, 6, 64.
22*
^Q Neuntes Kapitel.
Arbeit nicht empfindet ; hat nicht auch der Meister der deutschen
Prosa einen Zettel hinterlassen, auf welchem derselbe Satz vier-
oder fünfmal gewendet steht?
Um die Wirkung der platonischen Schriften zu schildern,
müsste man eine Geschichte des philosophischen Dialoges über-
haupt schreiben; denn Plato hat die äussere Form desselben
nicht nur für die Griechen der folgenden Zeiten, sondern auch
für die übrigen Kulturvölker bestimmt. Denn soweit die
griechische Sprache verstanden wurde, gab es Leser und Ver-
ehrer Piatos ; demzufolge wurden Schriften des Philosophen in
alle Schriftsprachen der alten Welt übersetzt: In Rom übertrug
kein geringerer als Cicero den Timaios^) und Protagoras;
Apulejus übersetzte den Phaidon^) und der „Timaios" in der
unvollständigen Übertragung des Chalcidius ^) vermittelte abge-
sehen von Ciceros Bemerkungen dem Mittelalter die Kenntnis
der platonischen Philosophie. Im Orient hatte man eine be-
son'^ere Vorliebe für die S. 298 erwähnten Apokryphen und
daneben standen Staat,*) Gesetze^) und Timaios^) im Vorder-
grunde, ßildungsfreundliche Regenten jedoch, wie der Sassanide
Chosroes '^) und der Abasside Mamun, ^) verschafften sich auch
die Übersetzung anderer Schriften.
Vor allem aber wurde Plato von den Griechen selbst ge-
lesen und gehörte jeder Zeit zu den Schriftstellern, welche
I
1) C. Fr. Her mann de interpretatione Timaei Piatonis dialogi a Ci-
cerone relicta disputatio, Göttingen 1841.
2) Ueber Gellius' Platostudien 8, 8 1. 10, 22, 3.
3) Herausg. v. Wrobel, Leipzig 1876; er war vielleicht ein Jude, der
frühestens am Anfang des fünften Jahrhunderts lebte (Freudenthal helle-
nistische Studien I. II. S. 180 A.).
4) Mehrfach übersetzt, bearbeitet (z. B. von Averroes, separat lat. Rom
1639. Ven. 1662 und opera vol. III. 1660, vgl. Renan Averrote et l'Aver-
roisme, Paris 1862 p. 122. 126 f.) und kommentiert, vgl. Hadschi Khalfa
lexic. bibliograph. V 60. 142, Casiri bibl. Arabico-Hisp. I p. 302, Fabr.-Harles
bibl. Gr. III 92 ; in das hebräische übersetzt Fabr.-Harles a. O. p, 137,
6) In das arabische übersetzt (Hadschi Khalfa VI 391. Casiri. 1 302).
6) Arabischer Kommentar Casiri I 263.
7) Agathias 2, 28.
8) Hadschi Khalfa I 81. Es wird noch ein arabischer „Phaidon" er-
wähnt (Wen rieh de auct. Graec. vers. p. 117); syrische Uebersetzungen
echter Schriften sind höchst zweifelhaft (Wenrich a. O.).
Der Dialog (Plato). 341
jeder Gebildete kennen musste ^). Liessen doch sogar reiche
Leute l)ei Tische von ihren Sklaven platonische Dialoge mit
verteilten Rollen aufiführen^). Allerdings dürften die Meisten
die Lektüre auf die beliebtesten Dialoge beschränkt haben, zu
welchem Zwecke z. B. lamblichos eine Auswahl von zehn
Dialogen veranstaltete^). Trotzdem war die Bewunderung nicht
einstimmig. Während die einen versicherten, Zeus würde,
wenn er griechisch reden wollte, Piatos Sprache gebrauchen *),
wurde sein Stil von vielen (z. B. Caecilius) scharf angefochten
und als gorgianisch und schwulstig getadelt ^). Hingegen galt
die Komposition und der Gesammtcharakter des platonischen
Dialoges für mustergiltig und wurde seit Aristoteles '^) unauf-
hörlich mehr oder weniger geschickt nachgebildet. Das Sym-
posion '') und der Phaidros ^) besonders riefen unzählige Imi-
tationen hervor.
Eingehender haben wir uns mit den Erklärungsschriften
zu beschäftigen, wobei der ,,Timaios" vorläufig nicht berück-
sichtigt werden soll. Xenokrates^) und sein Schüler Krantor
verfassten schwerlich schon Kommentare zu platonischen
Schriften ^"); auch der Eklektiker Potamon, der unter Augustus
lebte' ^), schrieb wahrscheinhch über die platonische Staatstheorie
1) Iwan Müller symbolae criticae et exegeticae ad Plat. de rep. 1.
VI., Erlangen 1865 p. 1 ff. sammelt die Citate und Anspielungen auf dieses
sehr beliebte Buch; das Platonische bei Himerios notiert Teuber quaestt.
Himerianae, Breslau 1882 cap. II.
2) Athen. 8, 381 f. Plutarch. quaest. symp. 1, 1, 1. 7, 8, 10.
3) Proklos in Alcib. p. 297, 13 Cous., vgl. Freudenthal Hermes
16, 211.
4) Dionys. Dem. 23, vgl. Cic. Brut. 31, 121. Nachahmer des platonischen
Stiles Dionys. Dinarch. 8.
5) Dicaearch. bei Diog. 38. Dionys. de Plat., Plutarch. bei Isid. Peius,
epist. 2, 42 u. A. Bereits Timon bei Diog. 3, 9 spielte mit nXazüzazoz darauf
an ; über Caecilius 11. u'^our; 32, 8.
6) Zell er Hermes 15, 547 f.
7) E o 8 e Aristoteles pseudepigraphus p. 119 ff.; auch die Christen ahmten
das Symposion nach, wie z. B, Methodios' cu|j.Tr6otov Sexa irapfl-lvouv zeigt,
8) Ruhnken ad Timae. 'AfxtptX, Boissonade ad Aristaen. 1, 3 p. 264 f.
z. B. Synesios' Dialog AlfOKXioi ^ Tcspl npovoiac (vgl. epist. 154. 292).
' 9) Ilepl TTji; IlXoctcuvoc noXiztiaz Diog. 4, 12. Suid.
10) '0 npMzoc, To5 IlXdxcuvoi; ii-qf'q'z-fiz Procl. in Tim. p. 24 a; Diogenes
4, 24 schweigt davon. ^
11) Suidas V. IIoxdjJLcuv.
342 Neu nies Kapitel.
Die Reihe der eigentlichen Erklärer beginnt mit Tauros von
Berytos, der im ersten Jahrhundert über Gorgias und Timaios
schrieb^). Schon im zweiten Jahrhundert erhebt sich der Streit,
wer Piatos Schriften wahrhaft verstehe ^). Seit der Errichtung
von Universitäten scheint es üblich geworden zu sein, dass die
Professoren der platonischen Philosophie in Athen und Alexan-
drien Vorlesungen über einzelne Schriften Piatos hielten, Ihre
Erläuterungen gaben sie entweder selbst heraus oder fieissige
Schüler zeichneten sie nachträglich aus dem Gedächtnis auf^)
und teilten diese Notizen ihren Freunden mit. Auf diesem
Wege stellte sich bei Hierokles, einem Schüler des jüngeren
Plutarchos, heraus, dass er den Gorgias in einem anderen
Semester ganz verschieden erklärte^). Im Texte seien nur die
berühmtesten Exegeten genannt: Herme las, des Ammonios
Sohn, ein Schüler des Syrianos, bearbeitete in Alexandrien den
Phaidros^); verloren ist, was Syrianos selbst über den Phaidon,
den Staat und die Gesetze^), Longin os über den Phaidon^),
Marinos über Parmenides und Philebos ^), Porphyrios zum
Sophistes mid Kratylos ^), lamblichos über Phaidon, Parme-
nides und den ersten Alkibiades ^*') , Damaskios über
Alkibiades I. ^^) schrieben; um so mehr hatten die Arbeiten
1) Gellius VII (VI) 14, 5. XH 15.
2) Lucian. philopseud. 6; Sueton irspl 'EXX-fjvcuv jtaiStä? p. 276 Roth
citiert ol toö IlXättuvoi; 6Ttofi.VY]jjLaTiaTai.
3) lieblich war dies nicht, wie Marin, vit. Procl. 12 p. 167, 16 W. 13
p. 167, 62 zeigt.
4) Damasc. vita Isidori 54.
6) Herausg. v, Ast zum Phaidros, Leipzig 1810.
6) Suidas (Bernhardy meint aber, der Titel sei aus dem Artikel HpöxXoc
eingedrungen); Simplic. in Arist. phys. fol. 144 v. 26. Vielleicht schrieb er
auch über Gorgias, wie ein entstellter Titel bei Hadschi Khalfa V 372 an-
zudeuten scheint.
7) Vielleicht erhalten, vgl. Lambec. comm. VII, XX, p. 114 f.
8) Huidas; Damasc. vit. Isid. 42.
9) Boethius de divis. praef.; Bekker Anecd. 1374; Jtepl tpMzoz toö £v
aofjirtoot«}) Etym. Flor. v. 'Üxeav6(; p. 316 Miller.
10) Olympiod. in Phaed. ; Syriau. in Arist. metaph. II p. 29 b; Olymp,
u. Prokl. zu Alkib. I.; ein Kommentar zum Staate ist zweifelhaft (Met tau er
de Piatonis scholiorum foutibus p. 38 ff.)
11) Olympiod. a<l Alcib. I.; s. S. 343 A. 6.
Der Dialog (Plato). 343
weniger berühmter Meister dieses Schicksal '), Sie wurden in
Byzanz säramthch verdrängt durch Proklos und Olynipiodoros.
Von Proklos''') besitzen wir noch Kommentare zu Alkibiades I.''),
Kratylos*), Parmenides ^) und Staat ^), während die Erklärungen
zum Gorgias, Phaidon, Phaidros, Phileljos, Sophistes, Theaitetos
und den Giesetzen verloren gingen ''). Nächst ihm war
Olynipiodoros, ein Philosoph, welcher in der zweiten Hälfte
1) Albinos Bibl. Coislin. p. 598 (vgl. Lagarde o6|ji.[i.ixTa p. 174 ff.,
Freudenthal hellenistische Studien III 243 f.); Ammonios zum Staat
(Apostol. proverb. 17, 54); Demokritos zum Phaidou und Alkibiades I. (von
Olympiodor citiert), Eubulos zu Philebos und Gorgias (Porphyr. Plotin. 20,
Longin. fr. 5); Firmus Castricius zum Parmeuides (Ijei Damaskios); Gajus
ßiblioth. Coislin. p. 598; Harpokratiou v. Argos in 14 Büchern Suidas, vgl.
Procl. in Tim. 93 bc ; Menaichmos und Onosaudros zum Staate Suidas ;
Philoponos, Priscianus und Tauros Bibl. Coislin. a. O. ; Plutarchos über
Gorgias Walz VII 33, 27; Themistios Phot. bibl. 74 p. 52a 20. Ob Plofcinos
den „Staat" erläuterte, ist sehr zweifelhaft (M e 1 1 a u e r a. O. p. 38 ff.).
2) lieber die Abfassungszeit seiner Schriften Freudenthal Hermes
16, 214 ff.
3) Unvollständig erhalten; nachdem Marsilius Ficinus (Prodi de anima
ac daemone de sacrificio et magia, Venedig 1497 u. ö.) einige Auszüge mit-
geteilt hatte, erschien 1503 in Venedig eine lateinische Uebersetzung ; griech.
herausg. v. C r e u z e r initia philosophiae et theologiae ex Platonicis fontibus
ducta, Frankfurt 1820 und Cousin Prodi opera vol. II. III.
4) Fr, Boissouade Scholia Graeca in Platonem excerpta ex Prodi
scholiis in Crat., Leipzig 1821 und Stallbaum Platt, opp. VI.
5) In sieben Büchern, deren letztes von Damaskios verfasst ist, hrsg. v.
Cousin vol. IV. — VI, (in den Indices ist die Eubrik „interpretes" zu be-
achten) und Stallbaum, Leipzig 1840, vgl. E. Heitz Strassburger Abhand-
lungen zur Philosophie, Freiburg 1884 S. 1 ff.
6) Ursprünglich vier Bücher (Suidas). Jetzt sind nur mehr eine Anzahl
von Problemen erhalten, gedruckt hinter dem Timaioskommentare in den
beiden älteren Ausgaben, Plat. opp. Basel 1534 p. 349 f., mit Plato von Joh.
Valderus Basel s. a. p. 473 ff., vervollständigt bei Mai spicil. Rom. 8, 664
(vgl. Osann Ztsch. f. Alterthumsw, 1842 Sp. 598 ff.). Ein Verzeichnis der
Kapitel bei Kose Hermes 2, 96 ff, 469, vgl, E. Roh de Rhein. Mus. 32,
330 ff. Später wurden die Probleme mit Schollen versehen (Bandini catal.
codd, Graec. III 192, 9).
7) Gorgias, in arabischer Uebersetzung Hadschi Khalfa V 372; Phaidon
vgL Mettauer a. o. p. 17 f. ; (vielleicht Philebos wegen Damasc. vit. Isid, 42);
Theaitetos Marin, vit. Procl. 38, vgl. Procl. in Tim. p. 78c. 248 d; Gesetze
s. Mettauer a. O, p. 28; seine Vorlesungen über Phaidros (ad Tim. p. 329d
ev xalc sk ^alopov aovooaL«i^) und Sophistes (ad Farmen. V p. 122. 279
wurden vielleicht nicht veröffentlicht.
344 Neuntes Kapitel.
des sechsten Jahrhunderts zugleich mit den platonischen und]
aristotelischen Schriften sich beschäftigte, beliebt. Das über-
lieferte sind jedoch nicht wirkliche Schriften, sondern nach-
lässig angefertigte Schülerhefte ^), wodurch es gekommen ist,
dass der Kommentar zum Phaidon in mehreren abweichenden
Fassungen vorliegt^). Ausserdem gibt es Kommentare zu
Alkibiades I. % womit die Biographie Piatos verbunden ist,
Gorgias *) und Philebos ^) ; nur die Erklärung des Staates ist
untergegangen '').
Nächst dem Phaidon ^) gab es zu keiner Schrift zahlreichere
Kommentare als zum Timaios , dessen Rätselhaftigkeit diel
Philosophen reizte^). Von den älteren Versuchen ist bloss- der
Kommentar des Arztes Galenos zum Teil gerettet^); aber der!
erhaltene unvollständige Kommentar des Proklos ^^) nennt j
eine Menge von Vorgängern, zu denen noch manche aus!
anderen Quellen nachzutragen sind. Proklos schöpfte vor-
züglich aus dem umfänglichen Kommentare des Porphyrios ^^),
welcher unterging.
Ausser den eigentlichen Philosophen bemühten sich einzelne!
philosophisch gebildete Rhetoren um die Erklärung Piatos,]
wenigstens schrieb Maxim OS von Tyros über den Kraty los ^^)i
1) Freudenthal Hermes 16,209 f.; Skowronski Comm. in hon.]
Reiffersch. p. 64 ff.
2) Hrsg. V, Finckh, Heilbronn 1877, vgl. Mettauer a. O. S. 17 f.
3) Von Creuzer mit Proklos herausgegeben Bd. II. (s. S. 343 A. 3) ; der
Kommentar ist in npa^etc (Vorlesungen) eingeteilt.
4) Herausg. v. Alb. Jahn Jahns Archiv XIV. (1848) p. 109 flF. 236
254 fif. 517 ff.
6) Bloss eine Einleitung, hrsg. v. Stallbaum zum Philebos.
6) Apostol. proverb. 17, 54.
7) Paulin. Nolan. poema ultimum V, 35 ff.
8) Galen, de plac. Hipp, et Plat. p. 686 M., IV p. 758 K.
9) Fragments du commentaire de Galien sur le Tim^e de Piaton, pat
Daremberg, Paris 1848.
10) Mit Phito Basel 1634 und 1556 veröffentlicht, dann von Chr. Schneider]
Breslau 1847, vgl. Jules Simon du commentaire de Proclus sur le Timöej
de Piaton, Paris 1839.
11) Ad. Schäfers de Porphyrii philos. in Piatonis dialogum quiJ
Timaeus inscribitur commentiirio, Bonn 1868 und über ein Fragment aus^
dem Commentar des Porphyrius zu Piatos Timaeus I. Sigmaringen 1884.
12) Fabriciua-Harles IH 77 f.
Der Dialog (Plato). 345
und der Grammatiker Zotikos, ein Schüler des Plotinos, fertigte
eine metrische Paraphrase des Kritias an ^).
Die Erklärungsschriften erstreckten sich sogar auf einzelne
Tunkte platonischer Dialoge^). Dem elementaren Unterrichte
dagegen waren einleitende Schriften bestimmt, welche zunächst
die mathematischen Bemerkungen Piatos, weil dieselben Fach-
kenntnisse voraussetzten, erläuterten. Eine solche Schrift liegt von
Theon von Smyrna vor^); schon früher hatten Adrastos
und Theodoros von Soloi denselben Gegenstand bearbeitet ^).
Erst sehr spät entstanden populäre Einleitungen in das Flato-
^tudium überhaupt , von welchen die des Ol y m p i o d o r o s
bereits bei den Biographien zur Sprache kam. Nur philosophisch
und biographischer Notizen entbehrend ist die in einem schlechten
Auszuge erhaltene st-^aYtoYT] des Platonikers Albinos-^), welche
über die Gattungen der Dialoge handelt und Ratschläge gibt,
in welcher Ordnung man die Lektüre einrichten soll ; auf das-
selbe Buch Tispl Twv nXdTwvi apsoxövTwv geht wahrsclieinUch ein
Abriss der platonischen Philosophie zurück, welchen die Hand-
schriften Alkinoos zuteilen^). Die Byzantiner haben mit Aus
nähme von Michael Psellos für die Erklärung so gut wie nichts
geleistet '').
Vom rhetorischen Standpunkte besprach ausser Dionysios
der einzige Metrophanes Piatos Schriften ^). Weil der Philosoph
1) Porphyr, vit. Plot. 7.
2) Galenos nepl tcüv ev ^tX-fißc}) HEtaßäaetov , Dionys. v. Halikarnass
rtEpl XMV £v x-fj riXdcxcuvoc TioXttöia [xoua'.v.üic slpfjjxsvcuv, Lnperkos nspl toö ttapa
flXaxtüvt ocXExxpuovoc, Michael Psello.s Fabr.-Harles X p. 68 f,
3) IIspl Tcöv v.a.zä zb iia^-q^axiv-ov )(pYjai|j.cov sie tyjv IlXaxcovoc avaYVwoiv,
zAierst von Bullialdus (Paris 1644) teilweise herausgegeben, vollständig von
Ed. Hiller, Leipzig 1878.
4) Plut. defect. orac. 32.
5; E. Alberti Khein. Mus. 13, 76 ff.
6) Freudenthal hellenistische Studien Heft III.; der sogenannte Al-
kinoos, welchen Fabricius in der bibl. Gr. 11 44 f. zuerst herausgab, ist am
Ende des Heftes nach der Anweisung von E. Hiller Hermes 10, 323 ff.
kritisch bearbeitet. Der Titel lautet in den Handschriften otBaay.aX:xö<; twv
llXätcuvo«; SoYfi-atcuv.
7) Manche Kleinigkeit steckt in Handschriften, z. B. irpotEXe'-a a6fj.fi.txxa
Et': tov llXäxiuva Codex Monac. Graec. 113.
8) riepl ^apaxffipU)V ÜXdxwvo? SsvocpAvxoi; Ncxooxpaxou 4>'.Xooxpaxou
Sluidas.
346 Neuntes Kapitel.
unter die Autoritäten der attischen Sprache aufgenommen wa
wurde er in den Wörterbüchern der Atticisten berücksichtig
Ausserdem entstanden mehrere Glossare'); während die
beiten des Harpokration, Clemens und Boethos untergingen
ist ein dem Römer Gentianus gewidmetes Glossar des TimaioF
erhalten^), leider aber fast von jeglicher alter Gelehrsamkeit
entblösst und überdies durch unplatonische Glossen vermehrt,
dazu kommt AiSdjjl'^o ;c£pl twv a7copoo[isvwy jcapa IlXatwvi X^^swv*).
Aus den philosophischen Kommentaren und den Plato-
glossaren, sowie den atticistischon Wörterbüchern, flössen die
Schollen. Was der Anhang von K. Fr. Hermanns Aus-
gabe enthält, ist aus Siebenkees (Anecdota Graeca, Nürnberg
1798), Ruhnken (Scholia in Platonem, Leiden 1800), Gaisford
(catalogus sive notitia Mss. Clarkii, Oxford 1812 und lectiones_
Platonicae e membran. Bodlejan. Oxford 1820) und ßekl
(in der Platoausgabe , Berhn 1823 S, 311 fl'.) kompiliert;
diesem Apparate, in welchem manches ältere übergangen ist]
ist später einiges neue gekommen ^). Das Handschriften- V<^
hältnis ist aber vorläufig nicht übersehbar, ausser dass Schal
den Clarkianus, dessen Schollen sich von den übrigen absondei
und eine wichtige Handschrift von Venedig genau beschriel
haf). Obgleich eine kritische Ausgabe noch nicht erschient
ist, wurden in den letzten Jahren die Quellen der Schollen, vi
allem die lexikalischen, wiederholt untersucht^).
1) Mettauer de Piatonis scholiorum foutibus p. 62 ff.
2) Suidas v. 'ApTioxpaxicuv (wahrscheinlich dem Atticisten zuzuteiU
Phot. und Suid. v. Cä^vj?, "Hpac SeojJLOuc» naXtfißoXog, vgl. Cedren. comj
hJstor. p. 19 c.
3) Herausg. und erklärt von Ruhnken, Leiden 1764. * 1789 (neu Leipzig
1828. 1833), dann in der Züricher und Leipziger Platoausgabe.
4) Heraufig. von E. Miller, melanges de litterature grecque p. 399 ft'.,
der Auszug eines Abschnittes von Didymos' Werk nepl &rtopoo|j.evifj(; Xe^etuc
5) Bei Joh. Friedr. Fischer in seineu Ausgaben und Creuzer, Plotiii.
de pulchritudine 1811 add. p. 530 fl.
6) Bei KSchneider, Breslau 1841 und Stallbaum Bd. XII. herausgegeben.
7) Novae commentationes Platonicae p. 121 fl". vgl. Philologus 34, 375 ;
über den Platocodex der Markusbibliothek in Venedig, Leipzig 1877.
8) N a b e r Photi lexicon proll. p. 64 — 71; Thom. Met tau er de Piatonis
scholiorum l'ontibus, Zürich 1880 (p. 64 fl'. über die litorarhistorischen, welche
Diogenes und Suidas nahe stehen, vgl. auch Flach Hesych. Miles. p. XV ff",);
Friedr. Gieeing de scholiis Platouicls quaestt. sei., Leipzig 1883; Fred. H.
Der Dialog (Plato). 347
Es ist ein bedenkliches Zeichen, dass man die Grammatiker
auch mit dem Texte des Plato besch<äftigt findet ') ; sie hinter-
Hessen in den kritischen Zeichen äusserliche Spuren ihrer
Thätigkeit^). Wie bei Demosthenes und Aischines, gab es auch
von Plato Attikoshandschriften ■•^). Unsere Codices gehen auf
eine Recension zurück, die wir nach der tetralogischen Ordnung
der Dialoge bestimmen können; es ist das bereits oben be-
sprochene Corpus des Thrasyllos ^). Das Bemühen der Heraus-
geber muss also in erster Lhiie darauf gorichtet sein, den
Archetypus derselben herzAistellen.
Da Plato viel gelesen wurde, sind zahlreiche und schöne
Handschriften auf uns gekommen^); vor Einführung der
grossen Codices war es freilich selten, dass ein Privatmann alle
Schriften besass ^). Die ersten sechs Tetralogien sind durch gute
Wolf observationes ad scholia in Platonem, Utrecht 1884 (speziell über die
Diogeuianosglossen) ; Leop. C o h u Untersuchungen über die Quellen der
Flato-Schölien, Jahrbb. Suppl. 13, 773 flf. Vgl. noch Fr. Elias Wolf obser-
vationes ad scholia in Platonem, Utrecht 1884.
1) Procl. in Tim. p. 61 f oiaar-suactoii.
2) Schanz Studien zur Geschichte des platonischen Textes S. 11 f.
23. 45 ; novae commentationes p. 105 ff.
3) Theoretisch Diog. 39. Reiffer sehe id Rhein. Mus. 23, 131 f., in
Handschriften Schanz Studien zur Gesch. des Platotextes S. 22.
4) Galen, in Tim. p. 12, vgl. Schueidewiu Philol. 3, 127; Schanz
Hermes 16, 312.
5) Dieses Gebiet ist von Martin Schanz aufgearbeitet, vgl. novae
commentationes Platonicae, Würzburg 1871, Studien zur Geschichte des
platonischen Textes Würzb. ^874, über den Platocodex der Markusbibliothek
in Venedig Append. Class. 4 Nr. 1, d. Archetypus der 2. Handschriftenfamilie,
Leipzig 1877; Ausgabe des Enthydemos S. V ff.; Jahrbb. f. Phil. 115, 485 ff.
(zum Timaios), 488 f. (cod. Paris. 1808). 117, 748 ff.; Philol. 35, 368 f.
(J43 ff. 38, 359 ff.; Hermes 11,404 ff. 12, 173 ff. (zum Staat); Rhein. Mus.
:?2, 483 ff. (cod. Coisl. 155 F). 33, 303 ff. (cod. Paris. 1807). 614 f. 34, 132 ff
:cod. Escur. Y I 13). 39, 132 ff.; Albr. Jordan de codicum Platonicorum
auctoritate, Jahrbb. Suppl. 7, 607 ff. und Hermes 12, 161 ff. 13, 467 ff. und
Heller philol. Wochenschrift 1881 Sp. 65 ff. 97 ff", modifizieren seinen Hand-
schriftenstammbaum; ablehnend Wohlrab Jahrbb. f. Philol. 113, 117 ff.
Ueber eine Lobkowitzer Handschrift J. Kräl Listy filologicke 11, 32 ff., über
die Tübinger Teuf fei Rhein. Mus. 29, 175 ff., von einem codex Malatest.
Campbell Journal of philology 11, 195 ff.
6) Index philos. acad. 19, 15. Der Komikerspott l6-(oiaiM 'EpfiöScopo? ejatco-
psusmi (Cic. ad. Att. 13, 21, 4. Zenob. 6,6. Suid. v. Xo-ptatv, vgl. Philodem,
rhet. 6, 6 ff.) zeigt, dass Hermodoros mit den Schriften seines Lehrers
Handel trieb.
348 Neuntes Kapitel.
Handschriften erhalten, unter denen der aus Patmos nacli
England gebrachte Clarkianus B ^), im Jahre 896 für den Diakon
Arethas geschrieben, den grössten Wert besitzt; bei den übrigt
Dialogen sind der Parisinus A und Venetus 11 verhältnismässig
am wichtigsten. KürzHch wurde unter den Papyri von Fajum
ein aus dem zweiten Jahrhundert stammendes Fragment des
,,Gorgias" gefunden. Die Ueberheferung ist nicht sonderlich
gut; dem Verständnisse wurde gerne durch Interpolationen
nachgeholfen, auf deren Spur häufig alte Citate führen *).
Wenn auch im Abendlande Piatos Lehren während des
Mittelalters nur durch jene Uebersetzung des Chalcidius, sowie
durch Angaben Ciceros und der Kirchenväter bekannt waren,
wäre es doch nicht unmöglich, dass die Platoniker der brit-
tischen Inseln griechische Handschriften gekannt haben ^) ;
Petrarca schwärmte bekanntlich für Plato, weil ihm der Stil
der Aristotelesübersetzungen missfiel und er zufällig eine (ihm
unverständliche) Platohandschrift besass ^). Bereits Leontius
Pilatus, der Lehrer Boccaccios, übersetzte sechzehn Dialoge ;
am meisten wurde bald darauf durch den neuplatonischen
Mystiker Gemistos Plethon der Wunsch, Plato selbst kennen zu
lernen, belebt. Zuerst übertrug Chrysoloras 1402 den „Staat",
auf den mau besonders gespannt war, ganz wörtlich; 1423
brachte endlich Aurispa eine vollständige Platohandschrift nach
Florenz, bald kamen mehrere andere dazu und nun ging man
nach der Sitte der Zeit an das Uebersetzen. Die zwei Brenn-
punkte des Platostudiums waren die platonische Akademie von
Florenz und die schola Platonica in Rom. Hier Hess Papst
Nikolaus V. Georgios von Trapezunt die Gesetze über-
tragen; dort waren Lionardo Bruni und Palla de' Strozzi
aus eigenem Antriebe mit dem Uebersetzen beschäftigt. Die
Mediceer selbst beauftragten Marsilius Ficinus mit der Ueber-
tragung aller Dialoge ; dieses Werk erschien 1483 — 84 in Florenz
und errang so grossen Beifall, dass es oft (seit 1532 nach den
Ausgaben revidiert) aufgelegt wurde.
1) Genau beschrieben bei Schanz novae commentationes p. 105 ß.
2) Schanz novae commentatioues p. 68 ff. ; Studien S. 30 ff.
3) Vgl. Schaarschmidt Johannes Sarisberiensis S. 114. Freilicli
kennt z. B. Johannes Scotus Erigena in der Schrift de divisione naturae nur
Chalcidius.
4) Voigt Wiederbelebung des klassischen Alterthnms I ' 80 ff.
Der Dialog (Plato). 349
Unter deip Protektorate der Mediceer entstand auch die
erste Papst Leo X. gewidmete Platoaiisgabe, welche der Grieche
Markos Musuros 1513 in der Officin von Aldus besorgte. Plato
war vielleicht der erste griechische Schriftsteller, zu dessen
Werken ein grösserer handschriftlicher Apparat beigebracht
wurde; Simon Grynaeus benützte nämlich für die Basler Aus-
gabe von 1534 englische Handschriften, Marcus Hopper nicht
viel später (Basel 1556) itahenische Codices. Einen bedeutenden
Fortschritt bezeichnete die Uebersetzung von Janus Cornarius,
welche von Eclogae in dialogos Piatonis (Frankfurt 1561) be-
gleitet war ^). Von der Ausgabe des Henricus Stephanus (Paris
1578, 3 Bde. mit der Uebersetzung des J. Serranus, Lyon 1590,
Frankfurt 1602) ist die noch immer übliche Citierweise herge-
nommen ; er leistete wenig und zog sich den gerechtfertigten
Vorwurf des Plagiates zu ^). Aus der Oede der folgenden Zeit
ist höchstens des Literarhistorikers Leo Allatius Schrift de
scriptis Piatonis dialogi (Paris 1637) zu erwähnen. Erst mit
der Zweibrückner Ausgabe (1781 — 87, 12 Bde.) beginnt eine
neue Periode des Platostudiums ; ihr folgten rasch kritische,
handschrifthche und erklärende Beiträge. J. Bekker nützte in
der kritischen Ausgabe Berlin 1816 — 23 (8 Bde., cum notis
variorum London 1826, 11 Bde.) die Handschriften zuerst
systematisch aus; Gottfried Stallbaum (Leipzig 1821 — 25, 12 Bde.,
Gotha-Leipzig 1827 ff. 10 Bde.), Friedrich Ast (Leipzig 1819—32,
11 Bde.), die „Züricher" Baiter, Orelli und A.W. Winckelmann
(Leipzig 1839 — 42, 2 Bde. in 4.) und die Didotausgabe von
R. B. Hirschig u. C. E. Schneider (Paris 1846—56) führten
keinen prinzipiellen Fortschritt herbei. Auf diese Leistungen
stützte sich die Textausgabe von K. Fr. Hermann (Leipzig
1851 — 53, 6 Bde., 2. A. von Wohlrab begonnen). Die wissen-
schaftHche Prüfung und Sonderung der Handschriften wurde
zuerst von David Peipers (quaestiones criticae de Piatonis legibus,
Berlin 1858, Diss. v. Göttingen) angeregt ; die Ausführung ver-
dankt man Martin Schanz, der die Handschriften planmässig
durchmusterte und in Klassen schied; von seiner kritischen
1) Seine Konjekturen stellte J. Fr. Fischer (Leipzig 1771) zusammen.
2) C. E. Chr. Schneider de Piatonis editione Stephaniana, ind. lect.
hib. Breslau 1830 und quaestt. de H. Stephan! recensioue legum Piaton. I.
lud. lect. hib. 1847 II. Progr. v. 1847.
350 Neuntes Kapitel.
Ausgabe , deren Prolegomena wichtige orthographische ui
grammatische Untersuchungen enthalten, sind bisher (Leipzi
1875 ff.) erschienen Vol. I. Euthyphro Apologia Crito Fhaed<
II. 1. Cratylus, V. 1. Symposion, 2. Ehaedrus, VI. 1. Alcibiad«
1. II. Amatores Hipparchus Theages, 2. Charmides Lach<
Lysis, VII. Euthydemus Protagoras, VIII. Gorgias Meno, E
Hippias major und minor lo Menexenus Clitopho , X]
Leges Epinomis. Gleichzeitig gibt Schanz eine Textausgal
heraus.
Die Erklärung der platonischen Schriften war früher iij
Neuplatonismus befangen. In England wurde zuerst eip
sprachliche Interpretation versucht^). Dann fasste Friedrich
August Wolf mit Eifer dieses Ziel ins Auge und muntert
Friedrich Heindorf zu einer erklärenden Ausgabe auf; diesejl
bearbeitete zwölf Dialoge (Berlin 1802—10, 4 Bde., 2. Auf
besorgt von Phil. Buttmann 1825 — 29), doch nicht zur Zufriedei
heit Wolfs, weshalb dieser Proben seines Planes in „dialogoruiij
delectus I. Euthyphro, apologia Soor., Crito" (Berhn 181'
und ,,über den Eingang zu Piatons Phaedon" (BerUn 1811
veröffentlichte. Aus der grammatischen Interpretation könnt
erst die wahre philosophische entstehen ; schon 1804 begann
F. Schleiermachers Uebersetzung zu erscheinen (Berlin 1804 — 1(
2. Aufl. 1817—28, 3 Thle. in 6 ßdn.; die Gesetze, Epinomi
Timaios und Kritias fehlen) , welche neues Interesse für di^
platonische Philosophie erweckte; einen Fortschritt bezeichne
Hieronymus Müllers Uebersetzung, von Karl Steinhart, mit Eil
leitungen ausgestattet (Leipzig 1850 — 73, 9 Bde.). Die philc
sopliische Erklärung wurde durch den Grundsatz von Bonita
dass jeder Dialog für sich ohne vorgefasste Meinung erkläi
1) Nath. Forster, Platouis dialogi V : amatores Euthyphro apologia Socratis
Crito Phaedo, Oxlord 1745 und ö., dann Joh. Friedr. Fischer, der 1770—76
elf Dialoge herausgab.
2) Ohne die lateinische Uebersetzung in den kleinen Schriften 2, 962 fl.
Schon früher war Piatos Gastmahl, ein Dialog, Leipzig 1782 (^ 1828) erschienen.
Etwa gleichzeitig gab Daniel Wyttenbach den Phaedo (Leiden 1810) heraus,
vgl. dazu Philomathia s. miscellanea doctrinae, Amsterdam 1817. III. Auch
die Monographie „pro.soiK)graphia Platouica" (über die bei Plato auftretenden
Personen) von Groen van Prinsterer (Leiden 1823) ist nicht zu übergehen,
während das umfassende Werk von Ph. van Heusde „iuitia philoaophiae
Platonicae" (Utrecht 1827 ff. 3 Bde.) weniger bedeutend ist.
I
Der Dialog (Plato). 351
werden müsse, (S. 307) neu belebt. Gottfr. Stallbaums Aus-
gabe (Gotba- Leipzig 1827 ff.) ist, zumal die meisten Teile neu
l)earbeitet sind, noch immer die reichste Fundgrube exegetischen
Stoffes. Ausserdem gibt es treffliche Ausgaben einzelner
Dialoge, so: Piatos ausgewählte Schriften erklärt von Christ.
Cron und Deutschle, neu von Wohlrab und Hug (Leipzig
1S57 ff. ') in 5 Teilen, enthaltend Apologie, Kriton, Gorgias,
Laches, Euthyphron, Protagoras und Symposion) und ausge-
wählte Dialoge erkl. v. C. Schmelzer, 9 Hefte, Berhn 1882 ff.,
ferner Symposion ^) von Rettig (Halle 1875—76, 2 Bde.), Par-
menides von Stallbaum (mit Proklos Leipzig 1839. 1848), Prota-
goras von Sauppe (Berhn 1857. ^1884), Phaidon von W. Grosse
(Halle 1828) und R. Archer-Hind (London 1883), Theaitetos by
Lewis Campbell, Oxford 1883, repubhc book L IL by G. H.
Wells, London 1882, book L by E. C. Hardy, London 1883.
Trotz der Massenhaftigkeit der platonischen Literatur fehlt ein
brauchbares Lexicon ; bescheidenen Ansprüchen genügt jedoch
G. A. Asts Lexicon Platonicum (Leipzig 1835— 38, 3 Bde.).
1) Vgl. dazu Cron Jahrbb. Suppl. 6, 71 ff.
2) Für Vorlesungen von O. Jahn-Usener, Bonn 1864. '■* 1875 1)earbeitet.
Zehntes Kapitel.
Die kunstlose Geschichtsschreibung.
Städtechroniken; Hippeus von Rhegion ; Antiochos von Syrakus; Xantho
Genealogien (Pherekydes) ; Charon von Lampsakos, Hellanikos, Skamon ul
Damastes; geographische Werke (Skylax).
Gerh. Joh. Vossins de historicis Graecis 1. III (1623), neu bearbeit
von Anton Westerraann, Leipzig 1838; Friedr. Creuzer, die historische Kui
der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung, Leipzig 1803 2,
Darmstadt 1846 (= Deutsche Schriften III.); Historicorum Graecorum an^
quissimornm fragmenta, Hecataei historia, itemque Charouis et Xanthi omi
ed. coli. Fr. Creuzer, Heidelberg 1806; Fragmenta historicorum Graecor
ed. Car. Müller, Paris 1841 ff. 5 Bde. (für diese Periode kommen der I.
und IV. Band in Frage), Nachträge von Aug. Nau c k Philol. 5, 675 flf. S tiehl
Philol. 8, 690 flf. 9, 462 ff. Göbel Jahrbb. f. Philol. 93, 162 ff. E. Hei]
additamenta ad frg. bist. Gr., Strassburg 1871; Alfr. v. Gutschmid
rerum Aegytiacarum scriptoribus Graecis ante Alexandrum Magnum, Phil
10, 622 ff. 636 ff. 712 ff.
Während die literarischen Produkte, die bisher besprochel
worden sind, mit der höheren Bildung der Nation im engsten
Zusammenhange standen und die Lektüre aller Gebildeten
abgaben , entstanden die Schriften , zu denen wir uns jetzt
wenden, abseits von dem öffentlichen Leben und waren für
einen auserwählten Kreis von Lesern , man -möchte sagen , für
Gelehrte bestimmt. Da deren Interesse zunächst der Sache galt
bHeb die Form dieser Literaturzweige so lange von den meisten
vernachlässigt, bis die Rhetorik auch sie in ihre Kreise zog.
Die Form entsprach freilich dem Inhalte, denn weder die
Chroniken einzelner Städte und Völker, denen Listen von
Königen, Priestern, Jahresbeamten oder olympischen Siegern
zu Grunde lagen, *) noch die Stammbäume und genealogischen
1) Dionys. jud. de Thucyd. 9, vgl. Thucyd. 6, 20, 2,
I
Die kunstlose Gesdiicbtssclireihung. 353
Sagen der edlen Geschlechter forderten mehr als schlichte klare
Erzählung. ^)
Um die alten Chroniken bekümmerten sich die Späteren
wenig, weil sie eine anziehendere Lektüre vorzogen; als eine
eigene Klasse heben sich die sogenannten wpoi ab, welche
bei den Joniern und Böotiern nachzuweisen sind und Jahr-
bücher einzelner Städte vorstellten/'') Hingegen hiess des
Deinarchos kurze Geschichte von Delos und Leros AYjXtaxöc;^)
ehie Cbronik von Naxos war jonisch geschrieben und wurde
bald Philetas oder Philteas bald Kalhnos beigelegt. *) Die Athener
gelangten seltsamer Weise, so lange sie einen unabhängigen
Staat bildeten, zu keiner einzigen Stadtgeschichte ^) und von
den Fremden füllte allein Hellanikos von Mytileuo diese
Lücke aus.
Regeres Leben herrschte auf dem Gebiete der Geschichts-
schreibung in den westlichen Kolonien. Zuerst schrieb H ip p e u s
aus Rhegion, der Stadt, welche Sicihen und Unteritalien
1) Dionys. jud. de Thucyd. 23, vgl. 5. 6 extr. de vi Dem, 2.
2) E. Stiehle Philol. 8, 394 ff.; 'iipoi von Ephesoa verfasste Kreo-
phylos Athen. 8, 361 c (er schrieb, wie es scheint in attischer Mundart), von
Lampsakos Charon (S. 360), von Samos Aethlios (die Echtheit vvurde angezweifelt
Etym. M. 601, 25. Cleui. Alex, protr. 4), Alexis (in attischer Mundart
Athen. 13, 572 f ß'. 12, 540 d y'), Potamon (Suidas), von Kolophon Hero-
pythos (Athen. 7, 297 e, nach Schneider ad Nicand. Alex. p. 82 identisch mit
dem von Plut. Cim. 9 erwähnten), von Theben Aristophaues (jünger als
Herodot Plut. malign. Herod. 31; Steph. B. 'Avxiv.ovSuXEl?; Müller fragm.
liistoric, IV 337 ff. Die Behauptung, dass er attisch schrieb, beruht auf
lulscher Interpunktion von Steph. Byz. Xaiptuvsta). 'öpoJv ist Athen. 11,
470 d beizubehalten (falsch Müller a. O. IV 515) und für wpcuv Athen. 4,
175 e, Diog. L, 1, 119. Schol. Eur. Hec. 915. Pophyr. vit. Pyth. 3 zu
schreiben.
3) Dionys. Dinarcb. 1 aus Demetr. Magn. und c. 11 am Ende.
4) Etym. Magn. 795, 14. Tzetz. Lycophr. 633, Eustath. ad Odyss. p.
1885, 51,
5) Der Verfasser der ältesten 'Ax^k war Kleidemos oder Kleitodemos
(Paus, 10, 15, 5, vgl. Plut, glor, Ath. 1), welcher keineswegs, wie C. Müller
(fragm. bist. I p. 359 ff. LXXXII ff.) wegen fr. 15 meinte, ein Augenzeuge
der sicilischen Expedition war; denn er setzte nicht nur fr. 8 das Bestehen
der Symmorien voraus, sondern sprach fr. 18 von der Sitte, dass die Athener
auf der Pnyx zusammenkamen, wie von etwas vergangenem. Von dem
Naturforscher, dessen Name bei Aristoteles und Theophrast vorkommt (fr.
26 — 30) ist er gewiss verschieden.
S i 1 1 1 , (ieschiclite der griechisclieii Literatur. II. 23
354
Zehntes Kapitel.
verband, eine Geschichte beider Länder; von seiner sicilischei
Chronik, welche fünf Bücher umfasste, fertigte Myes einen Aus|
zug. ^) Von Hippeus ist ein Physiker derselben Stadt zi
unterscheiden, dessen Name verschieden (z, B. Hippys) g€
schrieben wird.^
Auf den wenig beachteten Hippeus folgte Antioc hol
von Syrakus, welcher etwa um das Jahr 420 eine Chronil
Siciliens in jonischem Dialekt schrieb. ^) Er begann mit der
Sikanerkönig Kokalos und führte die Geschichte der Insel bil
Ol. 89,1 (424), wo durch die Verbrüderung der sicilischen Stadt
die Verhältnisse für lange gefestigt schienen, herab,*) wobei di|
Zeitrechnung nach der Gründung von Syrakus geführt wurde
Von der zweiten Schrift des Antiochos — er behandelte wi^
Hippeus auch die italische Geschichte — liegt noch der Anfang
vor: „Antiochos, Sohn des Xenophanes, verfasste dieses Buc
über Italien nach den alten Überlieferungen so getreu und vei
lässig als möglich"^); in dieser Schrift beschränkte er sich ai
die Gründungsgeschichten der itaHschen Städte, unter weicht
auch Rom vorkam. Der jonische Dialekt beider Schriften würd^
zu keiner Bemerkung Anlass geben, wenn Antiochos ein Joni(
gewesen wäre, die Alten wenigstens nennen ihn jedoch einei
Syrakusaner und so wählte Antiochos jenen Dialekt, der ii
fünften Jahrhunderte für die Historiker beinahe normal wai
damit sein Werk über Sicilien hinausdringe. Er scheint dt
bedeutendste unter den alten Chronisten gewesen zu seial
Thukydides benützte ihn daher allem Anscheine nach für di|
1) Suidas nennt die Titel xtbtv 'ItaXta? und EixeXixAv ßtßXla e, idei
tisch mit -y^povtxa ev ßtßXtoic e' (irrig noch 'ApYoXixÄv y), and die Epitoi
des Myes ; die Zeitbestimmung y^T**^"**^ ^'^' '^"'^ flepaixüiv dürfte, wie
ähulicheu Fällen zu hoch gegriffen zu sein. Nur zwei Fragmente (Schol
Eurip. Med. 10 und Zenob. 3, 42) sind erhalten. L. P r e 1 1 e r vermischt
Aufsätze S. 38 A. 66 gibt bloss ein Werk zu; U. v. Wilamowitz Herrn«
19, 442 ff. verwirft alles.
2) Fragmente bei Müller II Vi ff. (nach Plutarch de orac. def.
lebte er vor Phainias von Eresos; fr. 6 scheint bereits die Kenntnis deil
Atthis des Hellanikos vorauszusetzen).
3) Diouys. ant. Rom. l, 12; Fragmente bei Müller I p. XLV. p. 181
(wo Strab. 6, 266 fehlt), vgl. Ed. Wölfflin Antiochos von Syrakus und Coelit
Antipater, Leipzig 1870.
4) Diodor. 12, 71, 2; Dionys. a. O. navu äpj^ato«; ist also unrichtig.
6) Dionys. n. O, ev 'IxaXia? otxtoficj).
Die kunstlose Greschielitssohreibung. 355
sicil iscbe Geschichte, besonders am Anfange des sechsten Buches^) ;
auch der Umstand, dass man die Chronik, wie das Werlc des
Herodot in neun Bücher einteilte, spricht vielleicht für die ihr
gezollte Achtung, Demungeachtet geriet es frühzeitig in Ver-
gessenheit. ^)
Auf echt dorischem Boden entstanden sehr wenige Orts-
geschichten; die Anwendung des Lokaldialektes weist zwei
Schriften dem klassischen Zeitalter zu, nämHch des Epimenides
Chronik von Rhodos^) und das Buch des Derkylos von
Argos. *)
Die frühzeitige Entwicklung der jouischen Historiographie
hat auch die Barbaren zu ähnlichen Versuchen angeregt. Die
Anwohner des Mittelmeeres haben ohne Zweifel alle, soweit
ihnen die Schrift bekannt und vertraut war, eine einheimische
Literatur besessen , wenn auch durch die Gleichgiltigkeit der
Griechen und Römer ausser versprengten abgerissenen Notizen
nichts von ihnen verlautet. Zumal bei, den Völkern des west-
lichen Kleinasiens, deren Kultur der griechischen an Alter
überlegen war, darf man ein gewisses geistiges Leben voraus-
setzen; bis auf wenige Inschriften ist indes jede Spur davon
verschwunden. Allein vermöge der Anwendung der jonischen
Mundart^) dauerte ein Denkmal der lydischen Literatur lange
fort, eine Geschichte des lydischen Reiches, welche der jonisierte
Lydier Xanthos verfasste;^) er schrieb vor Herodot unter der
1) Diese Anuahme, die Niebuhr (vgl. auch 6 ö 11 er de origine et situ
Syracusarum p. IX ff.) aufgestellt hatte, stützte Wölfflia (a. O.) durch sprach-
liche Beobachtungen (nicht widerlegt von Otto Böhm de Antiocho Syrac
quaestt., Pr. v. Grabow, Ludwigslust 1875); die einzige jetzt vorhandene Be-
rührung (Thucyd. 6, I, 4 mit fr. 1) widerspricht nicht. Hellanikos kann, wie
fr. 15, 97, 104 zeigen, die Quelle des Thukydides nicht sein.
2) Wölfflin a. O. S. 20 f.; über die Buchzahl Diodor. a. O. •
3) Diogenes Laert. 1, 115.
4) Etym. M. p. 391, 12; Müller fragm. hist. IV 386 f. Valckenaer
ad Adoniaz. p. 274 vermutet, dass die argivischen Glossen des Hesychios aus
Derkylos stammen. Clem. Alex, ström. I 139 S. ist zu wenig zuverlässig,
als dass man Derkylos deswegen in die alexandrinische Zeit versetzen dürfte.
Was die MsYaptxa des Dieuchidas betrifft, so wird von U. v. Wilamowitz
hom. Untersuch. S. 240 nur so viel bewiesen, dass er nicht nach Timaios lebte-
5) Frg. 1 und Hesych. v. ßouXsi}'^*')-
6) Welchen Wert die Angaben des Suidas über die Heimat haben, sieht
man aus Strab. 13, 628' h AuSoc heisst er auch Schol. Vict. Ü 402. Vgl.
23*
556 Zehntes Kapitel.
Regierung des ersten Artaxerxes. ^) Artemon wollte allerdings
wissen , diese bis zum Sturze des Königs Kroisos reichende
Chronik sei nicht echt, sondern von Dionysios Skytobracliioi
untergeschoben, ^) indes überführen sowohl die älteren Zeugnisse
des Eratosthenes und Mnaseas^) als die ganze Beschaffenheit
des Werkes Artemon der Verläumdung; oder hätte nicht eil
Fälscher gewiss Herodots Werk geplündert, während die Frag-j
mente die geringe Übereinstimmung beider darthun?^) Ist es
ferner glaublich, dass ein Gelehrter der alexandrinischen Periode
die angebliche Verwandtschaft der Lydier und Etrusker siel
habe entgehen lassen oder dass es ihm gelungen sei, das
wichtigste Orakel in ursprünglicherer Fassung als Herodotos eg
bot mitzuteilen ? ^) Das Buch des Xanthos war nicht bloss eine
schlichte Chronik, welche im Anschluss an die einheimischenj
Jahrbücher der Könige^) die wichtigsten Hof- und Staatsereigniss«
und auffallende Naturerscheinungen getreulich verzeichnete, mar
konnte hier auch vie].e volkstümliche Erzählungen lesen , die
Xanthos wahrscheinlich aus mündlicher Überlieferung schöpfte,]
z. B. vom guten König Alkimos, vom gefrässigen Kambles oderl
Meineke Jahrbb. f. Phil, 87, 382. Die Fragmente des vierbücherigen'
Werkes stehen in Müllers fragm. histor. I 36 ff. IV 628 (vgl. Stiehl
Philol. 8, 598 f.).
1) Frg. 3 bei Strab. 1, 49, vgl. Ephor. bei Athen. 12, 615 e. Dionys.
Thucyd. 5. Suidas verwechselt den Endpunkt des AVerkes mit der ccx|jlyj des
Erzählers (R o h d e Ehein. Mus. 33, 206 f.)
2) Athen. 12, 515d, mit Beistimraung Welckers kleine Schriften I
481 ff.; vorsichtiger C. Müller I pag. XX, Creuzer historische Kunst
der Griechen S. " 289 ff. und Stichle a. O. S. 599. Göbel Jahrbb. f.
Phil. 93, 165 ff. will zwei Xanthos unterscheiden. Die Citate bei Clem.
Strom. I 398 P. (mit Olympiadenrechnuug) und III 516 (ev xoic iTzifpafoii.ivQi<:
Mafixotc, aus denen auch Diogen. Laert. prooem. 2 entlehnt ist) beziehen
sich nicht auf dieses "Werk.
3) Strab. 1, 49. Athen, 8, 346 e; Schol. Eurip. Andr. 10 (fr, 10 a) scheint
anzunehmen, dasa das Buch von Euripides benützt wurde.
4) Hupfeld exercitatt Herodot. spec. III, sive rerum Lydiac. p. I.
Marburg 1851; C. H achtmann de ratione inter Xanthi Auoiaxa et Hero-
doti Lydiae historiam, Progr. v. Halle 1869; Beruh. Heil logographis qiii
dicuntur num Herodotns usus esse videatur, Marburg 1884 S. 27 ff.
5) A. Schöne Hermes 9,498.
6) Nicol. Damasc. fr. 49 ev 8i toic ßaoi'Ajio'.^ otix ava-fpäfe-zat.
I
Die kunstlose Geschichtsschreibung. 357
vom Kraute des Lebens. ^) Beiderlei Bestandteile gingen in
-pätere Geschichtswerke über, indem die Chronographen aus
Xanthos die lydische KönigsHste schöpften,^) während Nikolaos
von Damaskos das novellistische und fabelhafte nicht minder
der Wiedererzählung wert erachtete.^) Diese Hochschätzung
des Xanthos erklärt sich daraus, dass er der erste und einzige
Geschichtsschreiber seines Volkes war. ^)
Neben der Darstellung der Geschichte einer einzelnen Stadt
orgab sich den Forschern die umfassendere Aufgabe, ^) die von
den Epikern gebotenen oder im Volksmunde fortlebenden Nach-
richten über den Ursprung und Zusammenhang der Fatrizier-
liunilien von Hellas zu sammeln , und diese Literaturgattung
trug den Namen •^s'jb aXo-^iai. Sie ist, wie die prosaischen
Sagenbücher in Nordfrankreich und Deutschland, der deutlichste
Ausdruck der Erscheinung, dass die Poesie mit Literatur identisch
zu sein aufhörte und die ihr von Natur fremden Gebiete der
Prosa überliess, ja nicht einmal in der Heldensage die Allein-
herrschaft behaupten konnte.
Mögen auch die genealogischen Schriften des Akusilaos
und Hekataios, wie wir früher gesehen haben, Zweifel erwecken,
so ist doch die klassische Zeit an derartigen Werken nicht arm
gewesen. Der bedeutendste und berühmteste der Genealogen
war Pherekydes von Leros,") welcher um die Zeit des
archidamischen Krieges^) in einem jonisch geschriebenen Werke
1) Frg. 10. 12.
2) Schubert Geschichte der Könige von Lydien, Breslau 1884 S. 40 f.
3) Dieser benützte zugleich Herodot (Schubert a. O. S. 120 ff.)
4) Die Reimchronik des Christodoros (Schol. Iliad. B 461) ist eigentlich
keine Ausnahme; die lydischen Geschichten des Dositheos und Xenophilos
mögen die würdigen Gewährsmänner (Ps. Plut. parall. 30. Anon. de dar.
mulier. 9) verantworten.
5) Die zwei Klassen scheidet z. B. Isokrates 12, 1.
6) Leros Suidas III.; aus Athen nach Eratosthenes (Diogen. 1, 119).
Dionys. antiqu. Rom. 1, 13. Strab. 10, 487. Schol. II. B 592. Choerob. Bekk.
An. III 1196. Suid. (vgl. Rohde Rhein. Mus. 33, 210 f.), wogegen der jonische
Dialekt (frg. 60. 76. Apollon. de pronom. p. 82 B) spricht.
7) Er erwähnte noch Hippokrates (Soran. vit. Hippocr. p. 449, 4 West.).
Kuyebios setzt ihn vierzig Jahre vor Hellanikos (Ol. 60, 1 Hieron. P und
armen., 59, 4 A, sonst 60, 4, Synkell. 62, 1), dann nochmal Ol. 81, 2 Hieron.
V P, sonst 81, 3 d. h. vierzig Jahre nach Hekataios, dem Zeitgenossen des
ionischen Aufstandes. Durch icpo h'ki'(oo x-rj? oi äXup.TCia8oc (Suidas IH.)
358
Zehntes Kapitel.
von zehn Büchern die griechischen Faniihengeschichten von]
den göttlichen Ahnen bis zu seiner Zeit herab darstellte. *) Diel
wörtlichen Citate zeigen, dass Pherekydes um die äussere Form]
völlig unbekümmert war; sein Werk konnte daher ausser den]
Famihen, die sich in diesem goldenen Buche von Hellas einge-j
zeichnet fanden, nur Gelehrte interessieren, für diese aber war^
es beinahe die wichtigste Fundgrube alter Sagen. Diesemj
Pherekydes mit Suidas noch andere Schriften zuzuteilen, scheint
bedenklich. ^)
Andere derartige Werke, wie die des Damastes von]
Sigeion ^), Simonides von Keos *), Anaximandros aus!
Milet-^) und Epimenides^) sind nur durch gelegentliche Er-
wähnung bekannt; nach Alexander scheint man diesen Zweig!
der Historik nicht mehr in derselben Weise bearbeitet zi
haben ').
Wie in den zwei bisher besprochenen Klassen Mythen unc
historische Zeit als ein unteilbares Ganzes bestanden, so gab esj
d. h. vor den Perserkriegen wird er der ältesten Gruppe der Historiker bew
gezählt. Herodot benützte ihn nicht (Heil a. O. S. 57); vor Antiochos setzii|
ihn Schol. Aristid. p. 313, 20 ff., nach Herodot Isidor. orig. 1, 41. ^
1) Zehn Bücher nach Suidas, was die Citate bestätigen ; denn ev t? '
Schol. Apoll. Ehod. 4, 1091 ist bedenklich. Der Titel wird verschieden an^
gegeben: loioptat Athen, 11, 470c. Marceil. vit. Thucyd. 2. Schol. Apollj
Bhod. 1, 740, abxöyd-ovsc, Suid. II., ^soXoYta ApoUon. de pronom. p. 82 B. u.l
Suid. I., ö-£OYovta Schol. Apoll. 2, 1210. Fragmente hrsg. von Friedr. W.
Sturz, Gera 1789, 3, Aufl. Leipzig 1824 und C. Müller, fragm. histor. I'
p. XXXrV ff. 80 ff. IV 637 ff.
2) Ilepl Aepou (vielleicht identisch mit der oben erwähnten Chronik de
Deinarchos), Tispl 'Icpt^evstas, irepl tü)V Aiovuoou lepöiv xai 5XXa Suid. HI
Suidas verwechselt den Syrier und Lerier, wie Ps. Lucian. fiaxpoß. 22. Tzet&|
exeg. in Iliad. p. 38, 11. Clem. Alex, ström. 5, 667 cd.
3) riepl YOvEcuv xal T^poYovoiV tcüv el? "IXtov oxpaTeoaajJievüJV ßißXia ß Suidas.!
4) Schol. Apoll. 2, 866. Etym. M., nach einigen (Suidas) ein Neffe desf
berühmten Dichters; welchem Simonides gehören eo^-rjiJiaTa f' Suid. und]
oüfjLpiixTa Schol. Apoll. 1, 763. Etym. Gud. p. 276, 41?
5) 'Hpu>oAr>Yta (Athen. 11,498 b) in jonischer Mundart (Ath. a. O. u.|
Diogen. L, 2,2); es scheint, dass er Artaxerxes Mnemon erwähnte (•^i'fove SJ
xaTÖ xobz 'Apxa^Ep^ou /pövou«; xoö Mvfjftovo«; xXfjd'evTo^ Suidas). Suidas teilt
ihm eine Erläuterung der pythagoreischen Sprüche zu, s. S. 26 A. 1.
6) Diog. L. 1, 116 b YsveaXÖYO?.
7) FeveaXoYtat wurden nicht mehr geschrieben, denn SooiSok; ev znlz-
YeveaXoYtai? Suidaa v. "A^j/upxoc ist zweifelhaft, s. Müllers fragm. II 466, 7.j
Die kunstlose Gescliichtsschieibniig. 359
historische Schriften, welche die Heroenzeit aliein zum Gegen-
stande hatten und nicht viel anderes als Prosabearbeitungen
der alten Epen waren. So stellte Herodoros von Herakleia,
der Vater des Eristikers Bryson, die Heraklessagen und den
Argonautenzug in ausführUchen Werken dar^), während der
Ruhm des F h a y 1 1 o s darin bestand, dass er den ganzen
epischen Sagenkreis in einen kurzen Abriss zusammenzudrängen
vermochte ^).
Nichts näheres verlautet über die Beschaffenheit einiger
anderer Bücher, wie der ,, Geschichte" des Skythinos von
Teos^) oder des „goldenen" Buches des Ephesiers Themista-
goras"^), welche jonisch geschrieben waren, oder eines dem
Titel nach unbekannten Werkes des Dairaachos von Flataiai,
das Ephoros benützt haben soll^).
Wiewohl zunächst die ältere und älteste Geschichte das
Interesse der Forscher in Anspruch nahm, fehlten doch auch
nicht Männer, , welche das hervorragendste Ereignis der grie-
chischen Geschichte in den Bereich der Historik zogen. Es ist
dabei beachtenswert , dass die Sieger selbst um die lieber-
lieferung ihrer Thaten sich nicht bekümmerten ; Bürger der
Städte, welche durch die Niederlage der Perser die Freiheit
gewonnen hatten, raussten ihnen diesen Dienst leisten. Am
lebendigsten mag die Erinnerung an die Zeit der Perserkriege
1) C. Müller II 27 flf. IV 653 f. Aristoteles uennt ihn de generat. anim.
3, 6. bist, an. 6, 5. 9, 11. Tä xa*' 'HpavcXea in mindestens 17 Büchern (s.
fr. 31), die 'ApYovaoxtxä kommen wiederholt in den Schollen zu ApoUonios
vor; korrupt ist irepl 'HpaxXetac Scholl. Apoll. 2, 815. Zu Herodoros gehört
weder ev UsXoKeicf. (TliXoni) Schol. Find. Pyth. 11, 25 noch £v Olonzooi Schol.
Find. Nem. 3, 87 (wofür Tzetz. chil. 3, 953 Ion citiert).
2) Aristot. rhet. 3, 16 p. 1417a 15; vgl. Welcker der epische Cyclus
I 46 flf.
3) 'laxopiv] Athen. 11, 461 f. Vielleicht ist er derselbe wie der Jonier
dieses Namens, der nepl tpooeoc schrieb (Stob. ecl. phys. 1, 9). In Teos gab
es auch einen Jambendichter Skythinos (Steph. Byz. Tecuc).
4) XpooEY) ßißXoi; Athen. 15, 681a, vgl. Etym. M. v. 'AaxuTtaXata und
Cramer Anecd. Paris. I p. 80 (nicht wörtlich).
5) Schol. Apoll. 1, 658. Schol. II. N 218. Porphyr, bei Euseb. praep.
ev. 10, 3, 2; verschieden davon ist der später lebende Platäer, welcher irepl
'IvSixYjc (Müller 11 440 f.) verfasste, und ein anderer, der über die sieben
Weisen schrieb (Diog. 1, 30, Plut. comp. Sol. et Popl. 4) und endlich ein
Verfasser von JtoXiopxfjxixa 67ro}j.vfi(j.axa (Steph. Byz. v. AaxeSaijicuy).
360 Zehntes Kapitel.
bei den Umwohnern des Hellespont gewesen sein , welche
erst die ungeheure Armee des Xerxes an sich vorüberziehen
und dann die kärglichen Ueberreste heirafliehen gesehen
hatten. Aus ihrer Mitte erstand der früheste Erzähler der
Freiheitskämpfe.
Oharon von Lampsakos ^) begnügte sich nicht damit, der
Chronist seiner Vaterstadt zu sein, sondern er stellte in einem
zweiten Werke die Perserkriege dar ^). Allerdings muss jede
Vergleichung mit Herodot unterbleiben , denn Charon be-
schränkte sich, wie es scheint, auf eine Chroni]i des Perserj
reiches, die bis zu den Anfängen desselben zurückreichend (fr. 4|
die Ereignisse mit trockener Kürze berichtete. Die dürftiger
Fragmente belehren uns über die Zeit des Charon besser al
die alten Literarhistoriker ^) ; er erwähnte nämlich noch (fr. 5)|
dass Themistokles zu Artaxerxes, welcher Ol. 79, 1 (464) dei
Thron bestieg, floh. Herodot weicht, so weit eine Vergleichunj
gestattet ist, von Charon ab, immerhin mag er .z. ß. das Ver-
zeichnis der Truppen des Xerxes, über dessen Quelle er schweigt,
aus Charon entlehnt haben *).
Der Chronist eines abgelegenen Städtchens und Vorgänge^
eines Herodot verscholl rascher als der fruchtbare Hellanikoi
von Mytilene ^), wiewohl dessen Lebensschicksale ebenso unbc
1) C. Müller I p. XVI ff. 32 ff. IV. 627 f. Stiehle Philol. 8, 597 f.]
vgl. A. V. Gutschmid Philol. 10, 532 ff.; Neumann de Oharone Lanipsa
ceno ejnsque fragracnlis, Breslau 1880; Heil a. O. S. 38 ff.; Alfr. Wied«
mann Philol. 44, 171 ff. Sohn des Pythokles (Suid.; abgekürzt Pyth€
Pausan. 10, 38, 11).
2) Die von Suidas angegebenen Titel sind zum Teil Doubletten: llepatxo'
ev ßißXtot': ß' ; Tcspl Aa|j.'|iaxoo ß' = wpoo<; AfZjxtJ^axYjVwv ev ßtßXioti; h' |npo-
tavstc ^ ap^^ovce«; ol tcüv Aax£?at|AOvtü)V (sie), satl Se )(poviy.ä] = 'K).).YjVixä
EV ß'.ßXto'.? B' ; xTiajic noXsoiV ev ßißXioic ß'. Alles übrige gehört gleichnamigen
Schriftstellern. Jedenfalls hat Charon mit den Lakedämoniern nichts zu
schaffen; fr. 11 kann, vrenu man fr. 9, 12, 13 beizieht, nicht beweisen, dass
er über sie schrieb (vgl. Stichle Philol. 8, 597 f.).
3) ^m&Mi'(S'/öit.iyriz%rj.'zä.'zbv Tcpojtov Aapslov ^ö^'o^^uiJ-i^täSifdieZahl bezeichnet
die Mitte seiner Regierung), fiäXXov hl tjv IkI zmv llepcixcöv xatä tyjv oi
b\o\).Ktr/.ha.
4) Charon älter als Herodot nach Dion. Halic. ad Pomp, de Plat. 3 p.
769. Plut. malign. Herod. 20. TertuU. anim. 46.
5) Fragmente gcs. v. F. Wilh. Sturz, Loipzig 1787. ^826; C. Müller
fragm. histor. I p. XXIII ff. 46 ff. IV 629 ff.; vgl. L. Preller de vita et
Die kunstlose Geschichtsschreibung. 361
kannt siiid^); wir wissen aus den Fragmenten soviel, dass er
die Schlacht von Aigospotamoi 406 überlehte^). Seine Schriften
wurden von den Gelehrten viel gelesen , weil man dort die ge-
sammte ältere Gescliichte von Hellas kompiliert fand, Hellanikos
war aber weit entfernt von der Kühnheit des Ephoros, ans dem
umfassenden Stoffe ein einheitliches Werk zu schaffen, sondern
er behandelte, wie seine Genossen, die Geschichte einzelner
Länder, mindestens von Thessalien, Böotien, Attika, Argolis und
Arkadien^), gesondert, indem er die mythischePeriode besonders be-
rücksichtigte, doch auch die neuere Zeit kurz besprach"^). Den
Landesgeschichten des eigentlichen Hellas fügte er die Dar-
scriptis Hellanici, Dorpat 1840 und Philol. 8, 599 fl". = ausgew. Aufsätze 1864
S. 23 ff.; Bass Wiener Studien I 161 ff.; Heil a. O. S. 37 f.
1) Sohn des Andromenes oder Aristomenes (oder Skamon, wie der Sohn
des Hellanikos hiess) Suidas ; nach demselben war er mit Herodot am Hofe
des Amyntas und erlebte Perdikkas. Er starb in Perperene gegenüber Lesbos
(Di eis Rhein. Mus. 31,50) im Alter von 85 Jahren (Ps. Lucian. }j.axpoß. 22),
d. h. er war ein Zeitgenosse der Perserkriege oder von Ae.schylus (Ol. 76, 2
Hieron. A) und starb, als Thukydides, der ihn citiert, blühte. Seines Namens
wegen hiess es, er sei am Tage der Schlacht von Salamis geboren (Vita Eurip.
p. 134, 17 W.).
2) Frg. 80 und add. IV p. 632 (Schol. Aristoph. Ran. 720, vgl. J. H. Li ps i u s
Leipziger Studien 4, 152 f, Di eis Rhein. Mus. 31, 51 ff.) Nach Pamphila fiel
seine Blüte 12 Jahre vor Herodot und 25 vor Thukydides (nach Di eis a. O.
S. 63 ist dainit vielleicht gemeint, dass er um so viel älter als Herodot ist
wie dieser vor Thukydides lebte). Eusebios setzte ihn als Zeitgenossen des
Hekataios an (Hieron. Ol. 70, 1; 70, 4 B, 69, 3 armen., 71, 1 Synkell.). In
der Anekdote bei Schol. Soph. Philoct. 201 gilt er für einen Zeitgenossen des
Herodot oder jünger; Kephalion betrachtete ihn dagegen als älter (Syncell.
p. 315 D.).
3) AsüxaXicovEia = WexTaXtxa fr. 15—36; 'Aocuiric = ßotwTtv.ä fr. 8—13;
' Axfltc fr. 62—84 (ül)er das chronologische System vgl. B r a u d i s de temporum
Graec. antiquiss. ratione p. 7 ff. K. Robert de Apollodori bibliotheca, Berlin
1873 S, 90 f.; Kirchhoff Hermes 8, 184); ^opcuvk = ^Ap'(QliY.ä fr. 1—7.
37--43; TTspl 'Apxa5iry.r fr. 59—61; unklar ist das Verhältnis der 'AxXavtiac
in wenigstens zwei Büchern fr. 54—58; Preller griecli. ^Mythologie I '^ 383
A. 2 zieht Diodor. 3, 60, 4. 5 bei, wonach sehr viele Heroen von den Töchtern
des Atlas abstammten. Für die Identität jener Titel spricht der Umstand,
dass die Paare nach den Schriftstellern gesondert sind; keiner gebraucht
beiderlei Citato.
4) Thukydides (1, 97, 2) bezeugt dies von der Atthis, schränkt es aber,
wie Diels bemerkt, zugleich ein.
362 Zehntes Kapitel.
Stellung der Koloiiiengründungen bei, wobei sein Patriotismus
den Aeoliern einen hervorragenden Platz eingeräumt zu haben
scheint ^). Gewissermassen das gemeinsame Band dieser Mono-
graphien bildete die Darstellung der zwei grossartigen Kriege, zu i
welchen sich beinahe alle hellenischen Stämme vereinigt hatten ;
den ,,Troika" entsprachen ,,Persika", denen Hellanikos, wie
Charon, eine Skizze der persischen Geschichte vorausschickte^).
Damit dürfte die Liste der echten Werke zu schliesseri sein.
Denn schon die Alten zweifelten an der Authenticität der
Chronik, welcher das Verzeichnis der Herapriesterinnen von
Argos zu Grunde lag ^), und der ,, Reise zum Ammonorakel."*)
Die ,, Barbarenbräuche" waren aus Herodot und Damastes zu-
sammengeschrieben^). Nicht 'echter waren die Bücher über
Lydien , Kypern , Skythien und Aegypten ^) oder gar die
,,orphische Theologie" ^). Der sowohl metrisch als in Prosa
abgefasste Katalog der Karneensieger gehört wahrscheinlich
dem Grammatiker Hellanikos ^).
, , , , . M
1) Fr. 92 — 121: xtioek; [lö-vüiv xai] jtoXecuv (Steph. Byz. Xapi}j.atai) ^Hl
nspl Idv&v (Schol. Apoll. 4, 322) = eö-vÄv &vo|xaatat (Athen. 11, 462 a) =
xTioetc (Athen. 10, 447 c) = chorografia (Schol. Bern. Verg. ecl. 8, 44);
Unterabteilungen itepl Xioo xxioetuc Schol. Ambros. Odyss. ■6- 294 und Alo-
Xcxä = Aeaßixa in wenigstens zwei Büchern.
2) Tpwtxa fr. 126—146; Ilepctxa fr. 158—169, deren Echtheit durch die
Polemik des Ktesias gesichert ist. _^H
3) 'lEpsiat ai Iv "Ap^ei in zwei Büchern, fr. 44—63. Philol. 44, 217 A. TiPl
für £v zoLiq laxopiatc Athen. 9,410 ff. vermutet Preller S. 17 A.=:36,26 ev xaiq lepetaic-
4) 'Ev z-Q elq "Aiifj-cuvo? (ivaßäaet Athen. 14, 662 a.
5) Porphyr, bei Euseb. praep. evang. 10, 3, 10 ; bloss interpoliert
■war das Werk nach C. Müller IV 624 und Bass Wiener Studien I 162.
Aber nur ein Lexikograph (Suidas = Etym. M. Zd|jL0/4tc) citiert es.
6) Ta irepl AoStav Steph. Byz. v. 'ACsiÄtat, Koiiptaxa v. Kapnaota,
£xud-cxä V. 'A|i(i8oxot (unsicher 'AfiöpYiov); AiYoi^xtaxd fr. 148 — 156, vgl.
A. V. Gutschmid Philol. 10, 638 ff. (nach ihm zwischen 318 und 226
verfasst). Fr. 148 bezieht sich auf die Stoiker; der Fälscher war ein Aegypter,
denn er setzte für "Ootptc das richtigere "Toipt^ (Usiri). Aotigonos von
Karystos c. 126 benützte das Buch, vielleicht auch Kallimachos (fr. 100, vgl.
Bohde Verhaudl. der Trierer Philogenvers. S. 87 A. 2). Die Sprache war
jonisch (fr. 150). Die ^otvtxixct des Cedrenos sind aus Joseph, arch. 1, 4
fingiert.
7) DamavSkios ttepl öipj^wv bei W o 1 f anecd. Gr. III 253 ; ein Schwindel-
citat ist Fulgent. mythol. 1, 2 in Ato^ itoXüKXoxia (Zink der Mythograph
Fulgentius II 76 f.).
8) "Ev te xotc ejJLjiExpoi? Kapvtovixai<: xav xolc xaxaXoYäSijv Athen. 14,
Die kunstlose Geschichtsschreibung. 353
Es unterliegt keinem Zweifel, dass Hellanikos den Dialekt
seiner Heimatinsel , welcher längst aus der Literatur ver-
schwunden war, verschmähte; er bediente sich statt dessen,
wie es scheint, der jonischen Mundart*), weil diese im fünften
Jahrhundert die Prosa beherrschte. Ueber den Stil des Hella-
nikos beobachten die Rhetoren ein beredtes Schweigen. Seine
Arbeitsmethode und Kritik wurde von den Aelteren nicht be-
lobt. Thukydides rügte die Kürze, mit der Hellanikos die
Pentekontaetie abfertigte, und die chronologische Ungenauigkeit,
Ktesias und Ephoros richteten scharfe Angriffe wider ihn ^).
Die Alexandriner dagegen schätzten Hellanikos wegen seiner
Reichhaltigkeit; Sopatros excerpierte die gefälschten Aigyptiaka
in seiner Blumenlese ■'').
Des Hellanikos Sohn S k a m o n schrieb speciell über die
Geschichte von Lesbos^) und war der erste, welcher die auf
Erfindungen bezüglichen Mythen zusammenstellte^).
Etwas jünger als Hellanikos war Damastes aus dem
troischen Sigeion^), über dessen Schriftstellerei die Nachrichten
recht ungenügend sind. Da ihn Dionysios von Halikarnass zu
den Historikern, wie Hellanikos einer war, rechnet, verfasste
er eine Chronik, die ebenso spurlos verscholl wie die des Chiers
635 f; der gleiche Titel ist Schol. Aristoph. Av. 1403 (fr. 85) für £v xolq
Kpavaixoli; oder Kapvatxoi? herzustellen.
1) Vgl. IlapvYiaooü bei Schol. Apoll. 2, 705, auch ist der Dialekt der
Al-^üTzx'.av.a zu beachten. Nach Bekk. Anecd. 351 (fr. }79) sagte Hellanikos
angeblich &8"rjpa nicht ä%-r^pt]. Vgl. C o b e t observ. in Dion. Hnl. p. 26.
2) Thucyd. 1, 97 (nach U. Köhler commentatt. in hon. Mommseni
p. 970 benützte er I 9 eine peloponnesische Chronik); Phot. bibl. 72 p. 43 b
20. Joseph, c. Apion. 1, 1, vgl. Strab. 8, 366. 9, 426. 10, 451. 13, 602.
3) Phot. bibl. 161 p. 104a 13; über das Verhältnis des ApoUodor zu
ihm Robert de ApoUodori bibliotheca p. 88 fi.
4) Schol. II. r 250 (Anecd. Paris. III 159). Sv.äjJKuv ist Koseform von
SxajxdvSpioc.
S 5) Eepl e6pf]|AaT(uv Athen. 14, 630 b. 637 b (mit Ephoros verbunden).
Phot. u. Suid. ^otvtxYj'.a -(päiiiiaxa (im 2. Buche citiert) , Clem. Alex.
Strom. I 74.
6) Sohn des sehr reichen Dioxippos nach Suidas ; über die Form des
Ethnikons C. Müller IV 654, KtTisu«; bei Agathem. 1, 1 ist gewiss korrupt.
Er war nach den meisten jünger als Hellanikos (z. F.. Agathem. 1, 1 , nach
Suida« sein Schüler), nach anderen sein Zeitgenosse (Dionys. Thucyd. 5 u. in
der Interpolation bei Suidas). Fragmente bei C. Müller II 64 ff.
364 Zehntes Kapitel.
Xenomedes'). Ausserdem gab er ein geographisches Buch
heraus, in welchem die Barbarenländer des Ostens und Westen«
behandelt wurden, während Grieciienland vielleicht wegblieb ^jHJ
Dasselbe war in der alexandrinischen Zeit beliebt, denn es
schöpften sowohl zwei Fälscher daraus^) als auch Eratosthenes,
weswegen er von Seiten Strabos strengen Tadel erfuhr; Damastes
sei nicht glaubwürdiger als Antiphanes und Euhemeros *\
Plinius führt Damastes ohne nähere Bezeichimng unter seinen
Quellen auf'').
HellaMikos und Damastes wollen wir die eigentlicht
geographischen Werke anreihen; ihr Hauptinteresse b|
stand in der Mitteilung der landesübHchen Sitten und Eil
richtungen ^). Das Material war teils aus Autopsie teils ai
mündhchen Nachrichten geschöpft ^). Von dem Samier Nausj
machos, dem Verfasser einer solchen Erdbeschreibung, ia
ausser dem Namen nichts bekannt ^) und der Athener Phileas^
der ein paar Mal angeführt wird, gehört zu den Lehrdichteri
Somit haben wir hier über einen einzigen Schriftsteller, welch«
der literarischen Forschung die grössten Schwierigkeiten
reitet, zu sprechen ; er führt den Namen S k y 1 a x ^). Herod<
erzählt von einem Skylax von Karyanda, welchen der Köu^
1) Dionys. jud. de Thucyd. 5; wahrscheinlich stammt daher fr. 6
6 und 9.
2) Titel mpinkonz Agathem. 1, 1; ev tcI) ntpl sO-voiv Steph. Byz. v. Treeji
ßopeoi; eS-vöJv xaxäXoYoc xal TtoXewv Suid.
3) Von Hekataios' Geographie (Agathem. 1, 1 xä icXeloTa ex toü 'KXX.^
vtxoo jJLExaYpa'lat;) und den v6[j,tp.a ßapßaptxä des Hellaaikos (Porphyr.
Euseb. praep. ev. 10, 3, 10).
4) Strab. I p. 47.
5) In den Indices des 4. — -7. Buches.
6) Aristoteles rhet. 1, 4 p. 1360 a 34, ein Beispiel polit. 2, 3 p. 1262]
19; es gab mehrere solche -(rfi jisploSoi meteor. 1, 13 p. 360 b 16 ff.
7) Aristot. meteor. a. O.
8) Ora marit. 42 f.
9) Nie buh r über das Alter des Küsten beschreibers Skylax (ISlOjj
kleine bist. Schriften I (Bonn 1828) 105 ff.; Klausen beim Hekataios 188
p. 264 ff.; B. Fabricius Ztsch. f Alterthumsw. 1841 Nr. 132. 133. 18^
Nr. 136 — 38. Letronuc fragments des poemes geograph. de Scymnus, Pat
1830 p. 165 ff.; Schwaubeck de Megasthene p. 1 — 11; A. v. Gutschml
Rhein. Mus. 9, 141 ff.; C. Müller Geographi Graeci minores I p. XXIIIf!
LI; üngcr Philol. 33, 29 ff.; Heil a. O. S. 42 ff. Herau.sgegel)on in den"
Sammlungen der Geographen, separat Anonymi vulgo Sc. Car. periplum maris
interni cum app. rec. B. Fabricius, Leipzig 1878.
t)ie Kunstlose Geschichtsschreibung. 365
Dareios Hystaspis mit anderen nachdem Indus aussandte ^), ohne
ueizufügen, dass er seme Reise beschrieben habe; erst Athenaios,
Philostratos und Tzetzes führen eine jonisch abgefasste Schrift
über Indien an, deren wirklichen Verfasser man in der Person
des Polemon von lUon , der mehrere geographische Werke
lierausgab, vermutete 2). Denselben Skylax hielten Strabo und
andere Geographen ^) für den Verfasser einer Küstenbeschreibung,
die nicht allein das Mittelmeer, sondern zum mindesten noch
die westafrikanische Küste und das rote Meer*) besprach; diese,
Schrift war, nach ihrem Inhalte zu urteilen, wirklich alt.^)
Von dem nämlichen ökylax rührte wahrscheinlich eine bis zur
llerrscliaft des Stadtfürsten Herakleides geführte Chronik der
karischen Stadt Mylasa her*^). Die späteren Männer gleichen
Namens seien, damit wir nicht in die Verwirrung des Suidas
hereingezogen werden, bei Seite gelassen '').
Es ist nun eine geographische Schrift unter dem Titel Tcspi
x■f^q ^aXdaa'/jc xfic, olxoufi-svYjc EopwTnrjc %al 'Aaiac xal AtßDif]?
erhalten, welche handschriftlich eben jenem Skylax von Kary-
anda zugeschrieben ist, die Citate der alten Geographen weichen
jedoch von derselben ab. Betrachtet man aber deswegen die
Schrift als unecht und sucht aus ihrem Inhalte die Zeit zu be-
stimmen^), so möchte man zunächst ungefähr die auf die
Schlacht von Chaironeia unmittelbar folgende Zeit vorschlagen^),
wenn nur nicht Städte vorkämen, die damals längst nicht mehr
1) Herodot. 4, 44.
2) Athen. 2, 70 b (Sv.6Xa^ yj IIoXIjxüiv). Philostr. vit. Apoll. 3, 47. Tzetz.
Chil. 7, 629 ff.
3) 'ü naXaibz auYfpa'fJuc Strab. 14, 658, b reaXaiöc XoYOYpäcpo? Steph.
P)yz. V. KapoavSa.
4) Harpocr. v. ütcö •^r^'v olv.ouvisg.
5) Vgl. Strabo 12, 566.
6) Ta xaxä (sie) xöv 'HpaxXeiofjv xöv MoXäocuv ßaaiXs«, vgl. A. v. Gut-
schmid a. O. S. 142.
7) Einer schrieb eine &yx'.Yp«'f*'] T^poc x-rjv IloXußiou tatoptav, ein anderer
aus Halikarnass war „familiaris Pauaetii excellens in astrologia idemque in
regenda sua civitate priuceps" (Civ. diviu. 2, 42) und jj.a«fj|J.axi>cci<; xal jaou-
G'.y.oc (Suidas).
8) C. Müller a. O. XLIII ff.
9) C. 35 gehört Naupaktos bereits den Aetolieru (Schä fer Demosthenes
II 515); c. 59 beginnt Böotieu mit Delion nicht mit Oropos; c. 67 .scheint
der thrakisohe Chersones den Atheuern nicht mehr zu gehören.
366
Zehntes Kapitel.
existierten*). Eine zweite Ungleichmässigkeit besteht darii
dass die Entfernungen bald nach Stadien, bald nach Tagereise^
berechnet sind. Nehmen wir dazu , dass die Sprache späl
griechisch ist ^), so hat die Annahme am meisten für sich, das
die Schrift aus Geographen des fünften und vierten Jahrhunderl
unter welchen sich auch Skylax befand ^), kompiliert wurde ui
dessen Namen, weil er alt und angesehen war, erhielt.
Die Beschreibungen von grossen Reisen, wie sie Fytheas ui
Megasthenes unternahmen, eingerechnet die Uebersetzung v(
Hannos Reisebericht , eröffnen passender die alexandriniscl
Periode; denn Alexanders Zug macht in der Geschichte d(
griechischen Geographie Epoche. Vorher waren die Orientale
sicherlich überlegen gewesen, weil ihre Handelsunternehmungei
mit welchen die Erforschung der fernen Länder zusammenhinj
die der Griechen durch Grossartigkeit und Zielbewusstheit übe
trafen. Die Fürsten haben aus politischen und kommerzielle
Gründen viel gethan : Necho sendet Phöniker um Afrika herui
Xerxes stellt dem Sataspes dieselbe Aufgabe, Dareios lässt Indie
erforschen , Hanno befährt die Küste von Westafrika. Dl
griechischen Demokratien hingegen überliessen Forschungsreise^
der Opferwilligkeit des einzelnen ; bei Damastes wird nicht ohi
Grund hervorgehoben, dass er einer sehr reichen Familie eiij
stammte. Aber was vermochten die Kräfte eines einzige^
Reisenden gegen die Mittel eines Königreiches?
Wer diese verschiedenen Erscheinungsformen der Geschieht
Wissenschaft überblickt, wird die Historiker mit Befremden vo|
der Betrachtung ihrer eigenen Zeit abgewendet sehen. Thuk]
dides hebt ausdrücklich hervor*), dass seine Vorgänger mi
Ausnahme des Hellanikos entweder die Perserkriege oder du
denselben vorhergehende Zeit darstellten , während das voit
ihnen selbst Erlebte vernachlässigt bHeb. Einen gewisser
1) C. Müller p. XLIV. C. 107 am Ende |i.EXP"^ °"^ evtauö-a AlYOJttto
&py(ooatv konnte nur zu einer Zeit, wo Aegypten ein selbständiges Reicl
bildete, gesagt werden.
2) Fabricius Ztsch. f. Alterthumsw. 1844 Nr. 137. 'öptxtT)? c.
scheint aus einer jonischen Quelle stehen geblieben zu sein.
3) Letronne a. O. p. 248. Aus ihm stammt z. B. c. 40 rrjv it
4|{i,ütv ddXaoaav. An einem Detail weist Nöldeke Hermes 6, 445 f. A.
die Ungleichmässigkeit nach.
4) I 97, 2.
Die kunstlose Geschichtsschreibung. 367
Ersatz dafür, mochte er auch höchst subjektiv und ohne grossen
wissenschaftlichen Wert sein , brachten die Memoiren*),
welche natürhch von keinem anderen Stamme der Griechen
eingeführt wurden als von den Joniern. Männer von bewegtem
Leben und mannigfaltigem Talent teilten interessante Anekdoten
und pikante Charakterschilderungen mit, ohne ihrer persönlichen
Vorliebe oder Abneigung Zügel anzulegen. Wir kennen von
solchen Werken noch zwei, die Erinnerungen des Stesimbrotos
(S. 23 f.) und die „Reisebilder" (IxiSYjfju'at) ^) des vielseitigen Ion
von Chios, welcher, weil seine Hauptbedeutung auf dem Gebiete
der Tragödie liegt, unter den Tragikern gewürdigt werden soll.
Obgleich er auch eine Gründungsgeschichte seiner Insel schrieb,
waren doch die Memoiren nichts weniger als wissenschaftlich.
Wie Stesimbrotos Kimon in das schlechteste Licht stellte, so
erhob ihn Ion, der mit ihm persönlich bekannt war, auf
Kosten des Perikles, des Besiegers von Samos ^). Von allen be-
rühmten Personen seiner Zeit wusste er etwas zu erzählen ^).
Man wird durch die Fragmente an eine drollige Scene der
aristophanischen Vespen erinnert, welche zeigt, dass es damals
zur feinen Sitte gehörte, bei Tische derartige Anekdoten zum
Besten zu geben ^).
1) Köpke de hypomnematis Graec. I Brandenburg 1857 II 1863.
2) Athen. 13, 603 e; bloss hTzo}).vi\\).axa Schol. Aristoph, Fax 835. Unter-
abteilungen sind vielleicht; oov£x8*rj|j.Y]Tix6c PoUux 2, 88 und irpeaßEUttxoc
(Schol. Aristoph. Pax 835, nach einigen unecht). Fragmente bei C. Müller
II 44 S. (ein neues Schol. Medic. Aeschyl. Pers. 427). Die Uebersetzung des
Titels ist gesichert durch Job. Alexandr. in Hippocr. Hermes 5, 208. Vgl,
Fr. Scholl Rhein. Mus. 32, 157.
3) Sauppe Ueber die Quellen der Geschichte des Perikles, Abhandl.
der Gott. Ges. der Wiss. 1869 S. 29 f.
4) Aischylos Schol. Aesch. a. O., Sophokles Athen. 13, 603 e ff. (über
diese berühmte Erzählung Holzapfel Untersuchungen über die Darstellung
der griech. Geschichte S. 128 ff.); Sokrates Diogen. L, 2, 23.
5) Aristoph. Vesp. 1186. 1209.
Elftes Kapitel.
Herodot und Ktesias.
Herodot: Lebensgeschichte; Weltanschauung; Studien und Kritik; Koraj
sition des Werkes; Schluss und alhnälige Entstehung desselben; Stil; äusse^
Geschichte; Ktesias, Deinon und Herakleides von Kynie.
In der älteren Geschichtsschreibung der Griechen herrschj
weder das Bestreben, schön oder anmutig zu erzählen nocl
geschah die Sammlung und Bearbeitung des Stoffes in anderd
Weise als dass der Forscher auf dem Markte bei den altel
Bürgern, im internationalen Getriebe eines grossen Hafens od(
auf Reisen die Überlieferungen sammelte, in chronologisch
Ordnung brachte und, was dem gewöhnlichen Menschen verstan(
unwahrscheinlich schien , änderte und umdeutete. Die Eii
Wicklung der subjektiven Philosophen musste diese oberflächlicli|
Auffassungvertiefen, indem sieteils weniger leichtGlauben schenke
teils nach den Beweggründen der Handlungen fragen lehrt
Zur selben Zeit erfuhren die Griechen, dass ohne den Schmuc
des Versmasses eine schöne Sprache nicht minder möglich se
Sobald aber einmal die Prosa mit der Poesie den Wettstn
aufnahm , sollte sie auch den Forderungen der poetische
Komposition genügen, wodurch Anfang und Ende nicht mel
willkührhch, sondern wie in der Dichtung, nach höheren G<
setzen zu bestinmien waren.
In diesem Sinne ist Herodot,^) wie ein Alter mit Recl
1) Bis auf den Artikel des Snidas fehlt eine antike Bicigraphie. Vg
Friedr. Dahliuann Herodot. Aus .seinem Buche sein Leben, ForscJiunge
auf dem Gebiete der Geschichte H. Th. 1. Altena 1823; K. W. L. Heys
de Herodoti vita et itiueribus, Berlin 1826; Ad, Bauer Herodots Biogniphi^
Sitzung.sgeri(;hte der Wiener .Akademie 89, 391 ff. (sehr skepti.sch).
Herodot und Ktesias. 3(39
sagte , der Vater der Geschichte. ^) Seine Lebensverhältnisse
haben zu einer höheren Auffassung derselben gewiss nicht wenig
beigetragen. Als Bürger von Halikarnass 2) war er unter der
Herrschaft des Perserkönigs geboren und mit der Organisation
des Weltreiches iin allgemeinen vertraut; er trat sodann mit
seiner Stadt in den Machtbereich des perikleischen Athens und
endlich erschloss ihm die Übersiedlung nach Thurioi den Westen
der hellenischen Welt, wie sie ihn dem Gezanke des eigenthchen
Griechenlands und den traurigen Erinnerungen an die ehemalige
Knechtschaft entrückte. Ausserdem hatte er in diesem Neuathen,
das der ganze Seebund gegründet hatte, eine ausgezeichnete
Gelegenheit, die Neuerungen der itahschen und ostgriechischeu
Literatur zugleich kennen zu lernen. Was Herodot zur Aus-
wanderung bewog, war wohl Wissbegierde ; denn am poHtischen
Leben hat er, wie die Vorurteilslosigkeit und die politische
Naivetät seines Werkes zeigen, sich nie beteiligt.^) Herodot
1) Cic. leg. 1, 1, 5.
2) Diese Stadt nennen alle unsere Handschriften und die meisten
Autoren ; er wanderte von hier nach Thurioi aus (Strab. 14, 656. Plut. de
exilio 13, Grabschrift bei Steph. Byz. ©ouptoi und Tzetz. iu Anecd. Oxon. 3,
350), weshalb er auch Thurier heisst (Aristot. rhetor. 3, 9 p. 1409 a 28, Strab.
a. O. ov uaxepov öouptov IxäXeaav. Plutarch. malign. Herod. 35. Avienus 49.
Julian, epist. 22 p. 502, 11 H. und fr. 2 p. 608, 2 H. Suid. v. üavuaaic).
Der Name des Vaters Au^vji; (Grabschrift, Lucian. de domo 20. Themist. or.
2, 27. Suidas; aus b Aü|oo wurde Anecd. Oxon. 3, 850 b SuXsw, daraus
Tzetz. Chil. 3, 388 [u. ö. 'O^uXoo) kommt nur in Halikarnass vor (Bulletin
de correspondance hellen, VI 192). Suidas' Quelle ist (aus der Chronik des
Skylax?) über die Familienverhältnisse axiffallend gut unterrichtet: Die
Mutter hiess Dryo oder Rhoio (v. IlavuaoK;), ein Bruder Theodoros. Der be-
kannte Panyassis war ein l^aSsXcpoc (avstpio? Schol. Gregor. Naz. Hermes 6,
490) oder fXfjTpaSeXcpo? des Geschichtsschreibers. Letzteres ist wahrschein-
licher, wenn Eanyassis eine Person mit dem in Röhls Inscr. Gr. antiquiss.
500 (vgl. Kirchhof f Studien zur Gesch. des griech. Alphabetes S. ^44 ff.;
Sauppe Götting. Gel. Anz. 1863 S. 303 ff.; Fr. Kühl Philol. 41, 54 ff.)
genannten Bürger der Bundesstadt Salmakis ist. Eawlinson (in der Ein-
leitung zur Uebersetzung I'' p. 4) und Bauer 'a. O. S. 400 f. ziehen die Ver-
wandtschaft in Zweifel.
3) Suid. jJLsxIotf] S' £v Säfxu) 8ia AuYSajitv ist chronologisch nicht
möglich (Bauer S. 402 ff.), weil Halikarnassos wahrscheinlich seit der Schlacht
am Eurymedon (465?, Duncker Gesch. des Altertums VHI S. 167 f. A.
S. 214), jedenfalls schon Ol. 81, 3 (454, vgl. CIA. I 226) zum attischen See-
bunde gehörte; die Absicht und damit der Ursprung der Notiz wird klar,
wenn man weiter hört: sv oov t^ Sd|ji(ü (wegen 3, 60 genannt) xal tyjv ""laSa
Sittl, (Jeschichte der griechischen Literatur, n. 24
370 Elftes Kapitel.
verwendete sein Vermögen lieber auf die Befriedigung seiner
Wissbegierde. Auf weiten Reisen sammelte er Nachrichten über
alles Merkwürdige, in allen Wissenschaften, soweit sie damals
bekannt waren, sah sich der Historiker um, ^) manchem be-
deutenden Manne trat er nahe, z. B. dem Perikles, auf dessen
Familie er ungewöhnliche Rücksicht nahm. ^)
Weil Herodot weder als Staatsmann noch als Sophist^) in
die Öffentlichkeit trat, fehlen über sein Leben, Geburts- und
Wohnort ausgenommen, beglaubigte Nachrichten. So ist denn derJ
Literarhistoriker darauf angewiesen, gelegentliche Bemerkungen]
Herodots selbst auszunützen. Wir erfahren von ihm, dass ei
Aegypten nach dem Jahre 445 besuchte;^) im übrigen erhell^
aus seinem Werke nur so viel, wann oder wo es entstanden ist.l
Den archidamischen Krieg und die Regierung des ArtaxerxesJ
welcher 425 starb, scheint er als beendet vorauszusetzen,*]!
während die sicilische Niederlage und der dekeleische Krie^
noch nicht vorgefallen waren. **) Was ferner den Ort der Nieder-
schreibung anlangt, führen mehrere Spuren darauf, dass Herodot
•?jax7j9^ ScötAexTov. Noch weniger glaublich ist, dass Herodot den Lygdami
vertrieb. Der Grund der Auswanderung ist recht allgemein, nämlich dej
«p^-ovoc seiner Mitbürger (Grabschrift und Suidas).
1) In den Naturwissenschaften scheinen seine Kenntnisse nicht seht
tief gewesen zu sein, z. B. sind die Tierschilderungeu oft sehr dürftig (IIIl
103). Dagegen sind die geologischen Bemerkungen über Aegypten höchst]
beachtenswert (II 10 ff.), wenn auch Herodot die Anregung dazu von den
ägyptischen Priestern erhielt.
2) Sophokles zu seinen Freunden zu zählen, hat man kein Recht ; denn i
der Dichter beging gewiss nicht die Geschmacklosigkeit, in der AntigoneJ
(905 flf.) eine gelehrte Anspielung auf das Werk des Herodot (3, 118 f.) zu'
machen und die Elegie , welche er an einen Herodotos richtete , mnss dem j
Zusammenhang nach einem schönen Knaben, der so hiess, gegolten habenj
(Plutarch. an seni ger. 3).
8) Aristoph. Boeot. bei Plutarch. malign. Herod. 31 ist tendenziös.
4) 3, 12 schildert er das Schlachtfeld vonPapremis; 11 30. 98. 99 wird]
anf die Perserherrschaft Bezug genommen.
6) 7, 187. 9, 73; 6, 98, vgl. 7, 106 napi too ßaotXeuovToc iet; auch 1, 180.
3, 16. 160. 7, 114, 236 sind zu berücksichtigen. Vgl. J. Rubino de mortis!
Herodoti tempore, ind. 1. aest. Marburg 1848; Ad. Scholl Philol. 9, 193 fl'.;|
W. G. Clark Journal of class. and sacr. philol. II (1866) p. 46 fl".
6) 6, 98. 7, 170, 3; 9, 78.
Herodot und Ktesias. 371
in Thurioi das gesammelte Material verarbeitete^) und seit seiner
Übersiedelung das Mutterland höchstens flüchtig wiedersah.'^)
Die Lücken der Überlieferung füllten die geschäftigen Gram-
matiker durch mancherlei Kombinationen aus; wie man den
Gebrauch des jonischen Dialektes begründete, haben wir schon
gesehen. Wäre es nur bei so harmlosen Erfindungen gebheben !
Esistaber von jeher eine Eigentümlichkeit der Griechen gewesen,
den Urteilen ihrer Historiker persönliche Gründe unterzuschieben,
weshalb man auch Herodot der Parteilichkeit bezichtete und
um Gründe nicht verlegen war. Die Böoter und Korinther
schienen ungerecht behandelt; natürlich, sie hatten Herodot
nicht bestechen wollen.^) Dagegen hob Herodot, wie man be-
hauptete, die Athener hervor, weil sie ihm eine Belohnung von
zehn Talenten dekretierten.^) Wie glaubwürdig diese Nachricht
ist, ermisst jeder, der sich erinnert, dass die Sieger von Phyle,
Landeskinder und Vertreiber von Tyrannen, die einen grossen
Teil ihres Vermögens eingebüsst hatten, zusammen zehn Minen
als Ehrensold zu rehgiöser Verwendung empfingen.^) Und
wofür soll Herodot diese hohe Summe — die Späteren waren
ja mit Ziffern sehr freigebig — erhalten haben? Für eine Vor-
lesung, ^) obgleich diese Sitte bei Geschichtswerken nur in der
1) 2, 177 sagt er von den Athenern IxeTvoi; 4, 99 wird eine Entfernung
auch nach Japygien bestimmt, 2, 123 auf die Pythagoreer Rücksicht ge-
nommen; die Erwähnung anderer unteritalischer Dinge (Rose Jahrbb. f.
Philol. 115, 261) könnte nicht mehr beweisen, als dass Herodot, wie andere
Länder, auch Unteritalien bereiste. 1, 98 erwähnt er Athen, weil es die
grösste Stadt in Griechenland war; 2, 7 zeigt nur, dass er sich in Athen die
Distanz aus einer Inschrift notierte. Plin. 12, 18 historiam eam condidit
Thuriis in Italia.
2) Das delische Erdbeben , welches dem peloponnesischen Kriege vor-
herging, und der Epitaphios des Perikles scheinen ihm nicht bekannt gewesen
zu sein (6, 98; 7, 162); die Propyläen schildert er nur vom Höreusagen (5,
77, vgl. Curt V^achsmuth Jahrbb. f. Phil. 119, 18 ff. Bachof Jahrbb.
126, 177 flf.).
3) Aristophanes Boeot. bei Plutarch. malign. Herod. 31; Dio Chrysost.
or. 37, 7, vgl. Marcell. vit. Thucyd. 27.
4) Diyllos (im dritten Jahrhundert) bei Plut. malign. Herod. 26 (offenbar
die einzige Quelle); da sein Werk mit dem Jahre 357 begann, erwähnte er
jenes bloss gelegentlich.
5) Aeschin. 3, 187.
6) Plutarch. a. O. &v£yvü>, Euseb. chron. 83, 4 Hierou.
24*
372 Elftes Kapitel.
Kaiserzeit häufiger erwähnt wird und vorher einmal am syrischen]
Königshofe nachzuweisen ist. ^) Bei welcher Gelegenheit konnte]
in Athen eine öffentliche Vorlesung stattfinden ? ^) Was soll er ;
ferner vorgelesen haben? Ein Alter sagt, sein Werk, während
die Neueren diese unmögliche Behauptung durch verschiedene]
Vermutungen zu verbessern suchen. ^) Indes dürfte der Nach- '
weis eines Abschnittes von Herodots Werk schwer halten,
welcher die von ihren Rednern umschmeichelten Athener zu
der ausserordentlichen Ehre eines Nationalgeschenkes, mag man
auch eine kleinere Summe annehmen, begeistert haben könnte;
bei Pindar liegt die Sache ganz anders. Ist aber nicht das
Jahr jenes Dekretes, Ol. 83,3 oder 4 (445)^) überliefert? Es ist
doch merkwürdig, dass Herodot mit seinem Werke gerade fertig
war, als er Reisegeld zur Übersiedlung nach Thurioi ^) brauchte.
Die Vorlesung in Athen verdient also genau so viel Glaub-
würdigkeit wie die olympische^) oder die Anekdote, dass der
junge Thukydides durch die Vorlesung begeistert wurde und
von Herodot ein glänzendes JPrognostikon empfing.'^) Der
Historiker schrieb überhaupt nicht für Hörer, sondern für Leser,
welche allein den wohlberechneten Plan des Ganzen und die
zahlreichen Verweisungen verstehen und würdigen konnten.^)
1) Athen. 10, 432 b.
2) Scaliger schlug die Panathenäen vor, ohne einen Beleg beizubringen.
3) Zusammengestellt bei Bauer die Entstehung S. 150 ff., besonders
A. Scholl Philol. 10, 410 ff. Kirchhoff über die Entstehungszeit des
herodotischen Geschichtswerkes, Abhandl. der Berliner Akad. 1868 u. 1871,
2. Aufl. 1878 (bekämpft von Büdinger Sitzungsber. der Wiener Akad.
72, 663 f. und Stein Bursians Jahresbericht 13, 179 ff.); U. v. Wilamo-
witz Hermes 12, 331 A. 11.
4) Euseb. chron. 83, 4 Hieron., 83, 3 armenisch, 85, 1 Synkellos.
5) Ol. 83, 3 nach Diodor.
6) Lucian 'HpoSoxoc ^ 'Aexicuv. Suid. v. ©goxoSiSyic. Paroem. Gr. I.
app. 2, 35. Vgl. Ad. Scholl Philol. 10, 417 ff.; die verschiedenen Meinungen
verzeichnet Bährs Ausgabe IV 406 ff. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. wurden
in Olympia historische Schriften vorgelesen (Dio Chrysost. 12, 6).
7) Marcellin. vit. Thucyd. 54. Phot. cod. 60 p. 19 b 38 ff. Suidas v.
0ouxu8t8'/]i;.
8) Die bekannte Polemik 3, 80 und 6, 43 ist nicht, wie R oscher Klio
S. 93 und andere glauben, gegen solche gerichtet, welche nach einer Vorlesung
Herodots ihre Zweifel aussprachen; denn wäre die dort vertretene Ansicht
erst von Herodot aufgestellt und ihm eigentümlich, würde er dies nach seiner
■
Herodot und Ktesias. 373
Weil der Historiker das makedonische Königshaus mit
Wohlwollen behandelte, soll er, wie andere berühmte Schrift-
steller am Hofe von Pella geweilt haben *). Was endlich
Ptolemaios Chennos über das Verhältnis, in welchem Herodot
zu dem thessalischen Hymnendichter Plesirrhoos stand, erzählt,
verbietet der berüchtigte Name des Autors zu glauben ^).
Es bringt mehr Nutzen, in dem Werke selbst die Persön-
lichkeit Herodots zu studieren und seine Legitimation zum
Berufe des Historikers zu prüfen. Höchst eigentümlich ist zu-
nächst die Stellung, welche er zum Uebernatürlichen einnimmt^).
Wie alle Gelehrten seiner Zeit hielt er die VolksreHgion mit
ihren persönlichen Göttern und Sagen für die Erfindung von
Menschen und wenige Zeitgenossen, soweit wir ihre Urteile
kennen, sprachen sich so unverhohlen gegen den öffentlichen
Kultus aus. Die Verehrung der Gottheit war einst namenlos,
die Namen der einzelnen Götter kamen aus Aegypten, Homer
und Hesiod stellten das griechische Mythensystem fest, so lehrt
er im zweiten Buche (c. 48 ff.). Die Einfalt der Hellenen, unter
denen nicht einmal' die Athener ihre gewohnte Klugheit be-
kunden, verspottet Herodot wiederholt. Ein Kenner der Natur-
wissenschaft konnte nur lächeln, wenn man Poseidon Erregung
von Erdbeben zuschrieb (7, 129) oder die Athener den Boreas
durch ihr Gebet hergerufen zu haben wähnten (7, 189).
Gewohnheit ausdrücklich anzeigen; noch weniger darf man mit Eawlinson
daraus auf eine zweite Ausgabe des Werkes schliessen.
1) Ttv£? bei Suidas; U. v. Wilamowitz Hermes 12, 359 nimmt an,
er sei mit Thusydides verwechselt worden, anders Bauer Biographie S. 414.
2) Bei Photios biblioth. 190 p. 150 b 24 fl,, vgl, Rud. Hercher über
die Glaubwürdigkeit der neuen Geschichten des Ptolemaeus Chenuus, Leipzig
1856; O. Nitzsch de prooemio Herodoteo, Greifsw. 1860.
3) W. Bötticher de *siw Herodoteo, Berlin 1829; K. Hoffmeister
sittlich-religiöse Lebensansicht des Herodotos, Essen 1832; Baarts religiös-
sittliche Zustände der alten Welt nach H,, Marienwerder 1842; Phil, Ditges
de fati apud H, notione, Coblenz 1842; F. W. Beisert de H. deorum cultore,
Lauban 1846; J. F. Lindemann vier Abh. über die religiös-sittliche Welt-
anschauung des H. etc., Berlin 1852; Heinr. Runge Herodots Verhältnis zum
griech, Volksglauben, Hildesheim 1856; Ferd, Bredow de Herodoti ratione
theologica et ethica, Treptow a. R. L 1862. H. 1872; Joh. Kitt quae ac
quanta sit inter Aeschylum et Herodotum et consilii operum et religionis simi-
litudo, Breslau 1869; Gaisser über die religiösen Grundideen in Herodots
Weltanschauung, Tübingen 1871 (Fr. v. Rottweil),
374 Elftes Kapitel.
Rationalistische Erklärungen jedoch, wie sie damals schon be-
liebt wurden, nimmt er bloss dann an, wenn das zu Erklärende
noch besteht, z. B. der Name der Priesterinnen von Dodona
(2, 56 f.). Herodot ging über seine Zeit einen bedeutenden
Schritt hinaus, indem er die mythische Periode bei Seite Hess
und mit der wirklich historischen Zeit begann; beinahe das
allein, was die Tradition der Barbaren bestätigte, schien ihm
mitteilenswert ^). Dem Historiker ging es indes wie vielen
Männern desselben Zeitalters. Götternamen und persönliche
Mythen warf man ohne Bedenken fort, aber dafür trat eine
furchtbarere Gottheit ohne Namen ein, welche die Geschicke
der Menschen bestimmte, den Frevler selbst oder seine Nach-
kommen strafte und den üebermütigen demütigte^); das Un-
glaubliche vieler Sagen kritisierte man spöttisch und selbstge-
fällig, aber Orakel ^), Träume *) und Vorzeichen aller Art ^) er-
füllten diese Aufgeklärten mit Schaudern. An die Stelle des
Olymp wurde das Zwischenreich gesetzt, an die Stelle des Kultus
Mysterien und Weihungen. Herodot gehörte zu diesen stark-
geistigen Mystikern, welche zu keiner Zeit gefehlt haben, voll
und ganz ; da die Mysterien damals noch nicht so friedlich wie
in der Kaiserzeit nebeneinander bestanden, sei beigefügt, dass
er die Altertümlichkeit der orphischen Religionsurkunden nicht
anerkannte ^).
Eine so ausgeprägte religiöse Anschauung beeinflusste
naturgemäss die Auffassung der Geschichte im allgemeinen ');
während Herodot, wie gesagt, die Mythen verwarf, verlieh er
1) t 2 ö. II 118 flf.
2) Ueber den (pÖ-ovoc «■e&v vgl. Wilh. Hoffmann Philol. 15, 224 flf.;
A. Schul er über Herodots Vorstellung vom Neide der Götter, Oflfenburg
1869 (Diss. V. Freiburg).
3) A. Schul er über Herodots Vorstellung von den Orakeln, Donau-
eschingen 1879.
4) Herodot gestand mit dem griechischen Volksglauben zu, dass ein Teil der
Träume trügerisch sei (7, IC, 2). Herrn. Steudener diss. de divinationis
apud Herodoturn ratione, Rossleben 1866.
6) Z. B. spricht Herodot ausführlich über die Opfer und Vorzeichen,
welche vor der Schlacht von Plataiai gesqjiahen (IX 33 — 38). VI 27 (ptXeei hi
xux; itpooYjjJLrxivstv, eW &v fi^XX-jj }ieY<4Xa naxa ^ nöXe'i ^ tdye'i eosaö-ai.
6) 2, 53, vgl. 81.
7) J. Fechner quantum Herodoti religio ac pietas valuerit in histori»
8<-ribenda, Bromberg 1861.
Herodot und Ktesias. 375
dafür der historischen Zeit einen mythischen Anstrich, weil er
allem Ueberirdischen einen unverhältnismässigen Platz ein-
räumte. Das treibende Moment der Weltgeschichte ist ihm die
Vergeltung, mag sie nun von Menschen oder durch die Götter
selbst ausgeführt werden. Herodot erblickt daher eine fatalistische
Verkettung der Dinge, wo an eine solche nicht einmal gedacht
werden darf. Oder zeugt es von richtigem Urteil, wenn er in
denBeziehungen des Orients und Occident seine regelmässige Folge
von Schlag und Gegenschlag erblickt oder gar behauptet, dass
Dareios an den Skythen für den Einfall der Kimmerier Rache
nehmen wollte (7, 20)? Auch im Leben der Einzelnen sucht
er nach Beispielen unerwarteter Vergeltung und widmet solchen
nicht wenige Episoden. Man begreift, dass bei einem so theolo-
gischen Standpunkte weder die politischen noch die militärischen
Motive der Ereignisse hervorgehoben werden ; dieser Grundfehler
des herodotischen Werkes tritt sofort hervor, wenn Thukydides
verglichen wird. Allerdings genügen Herodot die religiösen
Motive nicht, er begründet das einzelne nicht sowohl kleinlich,
als, dürfte man richtiger sagen, pessimistisch. Er wusste als
eliemaliger Unterthan des Perserkönigs wenigstens vom Hören-
sagen, wie wenig diese Autokraten nach grossen politischen
Ideen handelten, da sie sich in der Regel durch ihre augenblick-
liche Stimmung oder durch den Rat von Günsthngen lenken
Hessen ^) , und in Griechenland selbst sah er die Leidenschaften
und Schwächen der Führer und erfuhr die verderbliche Macht ge-
heimer Intriken und Bestechungen ^). Darum fasste Herodot die
Geschichte, insofern sie nach seiner Vorstellung von Menschen
gemacht wurde, höchst pessimistisch auf. Damit wird zu-
gleich das Urteil über die Frage, wie gross bezüglich der Dar-
stellung der Perserkriege Herodots subjektive Glaubwürdig-
keit sei % bestimmt.
Auf jenem Gebiete lag keine Gefahr näher als dass die
1) Bemerkenswert ist hiefür die Erzählung, wie Dareios' Gedanken auf
die Unterwerfung Griechenlands gelenkt worden sein sollen (III 134).
2) Ueber die Beurteilung des Themistokles Ad, Bauer Themistokles,
Merseburg 1881.
3) N. Wecklein über die Tradition der Perserkriege, Sitzungsber. der
bayer. Akad. 1876 S. 239 ff.; Herrn. Lämmerhirt de Herodoti fide quae-
stiones, Halle 1874.
376 Elftes Kapitel.
idealisierte Vorstellung von den Heldenthaten der Perserkriege,
die in der lebhaften Phantasie des griechischen Volkes, je
weiter man sich von jener Zeit entfernte, gewiss immer weiter
von der Wirklichkeit abwich, auch die literarische Tradition
beherrschte Und entstellte. Weil Herodot der Hauptsache nach
auf die mündliche Ueberlieferung angewiesen war *), konnte er
den üebertreibungen derselben nicht völlig entgehen; nament-
lich die Angaben über die Grösse der persischen Streitkräfte
oder ihre Verluste erregen vielfach Bedenken, wiewohl Herodot
die Vorsicht gebrauchte, unter verschieden berichteten Ziffern
die niederste zu wählen ^). Ebenso wenig fehlen Berichte, von
denen es offenbar ist, dass Herodot der Ueberlieferung einer
einzelnen FamiHe (z. B. der Alkmaioniden und Philaiden) ^)
oder der offiziellen Version eines Staates folgte *). Aber er
wählte nicht dies üeberlieferte nach Vorurteilen, sondern hob
überall zugleich die Licht- und Schattenseiten hervor. ,,Hier
kann ich nicht umhin, meine Meinung abzugeben, obgleich sie
bei den meisten Anstoss erregen wird; aber ich will reden,
wie ich es für wahr halte", sagt der Historiker (VH 139), bevor
er nachweist, dass von der Parteinahme Athens das Schicksal
der Griechen abhing. Trotz dieses Urteils war er weit davon
entfernt, die Phrasen der athenischen Redner für baare Münze
zu nehmen, sondern er teilte in den Hauptschlachten des
Xerxeskrieges den Ehrenpreis den Aigineten und Spartanern
zu ^). Der Hauptsache nach erscheinen freilich die Perserkriege
bei Herodot statt in verklärendem Lichte vielmehr höchst
pessimistisch aufgefasst. Von nationaler Begeisterung ist wenig
1) Er nennt gelegentlich im besonderen Archias von Pitana 3, 55 und
Thersandros von Orchomenos 9, 16.
2) 7, 190; 9, 32 verhehlt er seine Zweifel nicht. Bei Marathon wird
die Zahl des persischen Heeres nicht angegeben. Ueber des Xerxes Streit-
kräfte vgl. Du ucker Geschichte des Altertums VII 206 A. 1.
3) Volquardsen Bursians Jahresber. 19, 46; K. W. Nitzsch Rhein.
Mus. 27, 226 ff. ; über 5, 71, wo die Alkmaioniden hinsichtlich des kylouischen
Blutbades entschuldigt werden, s. Philipp i der Areopag und die Epheten
S. 219 flE.
4) Z. B. der spartanischen, wenn er erzählt, warum den aufständischen
Joniern die Hilfe verweigert oder wozu Leonidas ausgesendet wurde (Duncker
Geschichte des Alterturas VII " S. 41 A. 1. 255 A. 1).
6) 8, 93; 9, 64, vgl. 71. — . Friedrich Herodoti de Atheuiensium et
Laceilaemoniornm ingenio et moribus quae scntentia fiierit, Zerbst 1862.
^ Herodot und Ktesias. 377
ZU spüren, die griechischen Staaten handehi aus selbstsüchtigen
Motiven oder gehässiger Eifersucht, wie ihre Lenker zumeist
liald durch Ruhmsucht, bald durch Bestechungen bestimmt
werden. An die Freiheitsliebe der Phoker glaubt Herodot nicht
mehr (8, 30) als dass die niederen Klassen Böotiens mit der
Politik der Aristokraten nicht einverstanden waren ^). Ueber-
haupt denkt Herodot sowohl von der Handlungsweise der
Staaten als der Einzelnen schlecht, wiewohl er selten einen
Tadel ausspricht; denn nach einem merkwürdigen Ausspruche
unseres Schriftstellers hat keiner Grund, dem anderen etwas
vorzuwerfen ^).
An derselben Stelle spricht Herodot den Grundsatz seiner
historischen Kritik^) aus: ,,Ich muss das Gehörte berichten,
jedoch nicht alles allen glauben, und dies soll für mein ganzes
AVerk gelten".*) Er fragte zunächst überall herum ^) um genau
(aTpcXswc) berichten zu können ^) Wichen die Nachrichten
von einander ab, dann befolgte Herodot nicht immer dieselbe
Methode. Anfangs hatte er den Mut, sofort die ihm zusagende
Version wiederzugeben und die übrigen kurzweg bei Seite
/u lassen oder auch das verschiedene zu vermitteln. '') Doch
wurde er im Fortschreiten vorsichtiger und führte auch die-
jenigen an, welche die geringere Wahrscheinlichkeit für sich
zu haben schienen, wobei er meistens ausdrücklich bemerkte,
welche Fassung er für die richtige halte. ^) In anderen Fällen
stellte Herodot dem Leser beide Überlieferungen zur beliebigen
Auswahl hin^) oder deutete nur zwischen den Zeilen an, welche
1) 9, 87. 40, vgl. Duncker a. O. VII S. 257 A.
2) 7, 152 ETCio'cajj.ac ?£ xoaoöxo, Ott el Tzavts«; avfl-pcuitoi xa olv.-i]'.a xaxä
£Z }J.saov ouvEVEixaiev ftXXa^aa^a'. ßöoX6[j.svo'. xolat irXTjaioiot, h(ii.ö'^a'^'ztq av Iz
i'j. xtüv ■Kzkrxq xaxä äaicaaicoc ixaoxot aöxwv anocpspotaxo öitiacu xa eofjvsuavxo.
Wahrheit und Läge regeln sich nach dem Nutzen (III 72). Deragemäss urteilt
Herodot V 50.
3) Wiukler über die Art und den Grad der von Herodot geübten
Kritik, Thorn 1865.
4) Ebenso II 123.
5) II 19. 28. 29. 34. 104. ni 115.
6) Z. B. III 98. 115. 116. IV 16. 25. V 9.
7) I 95. 214; I 70.
8) Z. B. n 3. III 1—3. 9. 56. 120 f. IV 5—13. VI 53. VII 213 f. VIII
117—20. vgl. I 20.
9) I 2—5. III 32. 47. 122. IV 150—54. V 44 f. 85 f. VII 148 ff.
165 flf. IX 74.
378 Elftes Kapitel.
den Vorzug verdiene.^) Es kommt jedocli auch vor, dass er
eine alle Überlieferung widersprechende Ansicht vorbringt, die
er durch Vernunftschi uss gewonnen hat. ^) Niclit minder ge-
stattete sich der Historiker sehr oft die Kritik der Überlieferung,
wenn seine Quellen nicht von einander abwichen , sobald er
eine innere Unwahrscheinlichkeit zu entdecken glaubte. ^) Die
Kritik wird allerdings zu wiederholten Malen in unbeholfener
und uns kindlich anmutender Weise ausgeübt, doch darf man
nicht vergessen, dass Herodot vieles richtige bringt, z. B. wem
er die Epigonen und Kyprien verwirft.
Unter wesentlich anderen Bedingungen als die Geschieht
der Perserkriege ist der grösste Teil von Herodots Werke, d(
sich auf die Barbaren bezieht, zu beurteilen. Sein Buch is
nicht im Studierzimmer entstanden, mag er auch die Schrifteij
seiner Vorgänger, unter denen er Hekataios (2, 143) ausdrücklicl
nennt, benützt und noch öfter gegen sie polemisiert haben.
Die Grundlagen seiner Arbeit sind o^ic, toTopiT] und 7V(j)[i.7], als!
Augenschein, Erkundigung, Kritik.^) Zu einer Zeit, wo d(
griechische Handel fast das ganze Mittelmeer und das schwär?
Meer beherrschte, konnte Herodot in allen bedeutenden Häfe^
bei Handelsleuten Erkundigungen einziehen. ,,Ich weiss es*
sagt er jedoch selbstbewusst erst dann, wenn er sich mit eigene^
Augen von der WirkHchkeit des Berichteten überzeugt hal
Welche Reisen Herodot ausführte, geht aus seinem Werke mi
1) z. p.. vm 95.
2) I 75.
3) I 95. 182, 2. II 32. 33. 73. 106, 18. 121 s 4. IH 2. 16. IV 16. 24
25, 3. 26—27. 32. 105. V 10. 32. VI 121. VH 152. 214. VIII 8. 14. 119. 12<
4) Gefälschte Werke warfen auf Herodot ein falsches Licht (vgl. Polioi
itepl TYjc 'HpoSÖTOü xXoTC-r)«: Porphyr. Euseb. praep. ev. 10, 3, 16; über Hekataic
Http' 5o Sy) [xdXiota lucpeXTjtai b 'HpöSotoi: Hermog. n. 13. 2, 12 wie Suid v. 'Exa
taloc, vgl. Wiedemann Geschichte Aegyptens von Psanimetich I., Leipz
1880 S. 82 ff.; die Benützung schriftlicher Quellen schränkt Bernh. Hej
logographis qui dicuntur num Herodotus usus esse videatur, Marburg 18?
sehr ein. Herodot nimmt auf Landkarten 4, 36 Bezug. In Formeln wie <^
s^w müvä-avo}j.ai fordert er den Leser gewis.sermassen zum Vergleiche
seinen Vorgängern auf. Direkte Polemik II 20. 134. III 111.
6) 2, 99. Daher gibt Herodot seinem Werke die Bezeichnung btopiifjl
aii68e4tc 1, 1 nnd sagt 2, 123 ejjloI hk irapä redvxa xiv X6'(ov örtoxesxai oxi
Xe^^tJ-eva 6(p' ixdotcuy axo^ fp6L(f(u.
Herodot und Ktesias. 379
ziemlicher Sicherheit hervor.^) Als Thurier war er iu Uriter-
italien und Sicilieii wohl bekannt; das eigentliche Griechenland
I)oreiste er gründhch, indem er alle bedeutenden Heiligtümer, deren
Weihgeschenke gleichsam ein Urkundenbuch der griechischen
(ioschichte abgaben, besuchte. Im Nordwesten drang er bis
zum dodonäischen Orakel vor, im Nordosten besuchte er nicht
nur Thessalien, sondern legte auch vom Tempethale die Strasse,
^auf welcher einst die Perser vom Hellespont anmarschiert waren,
'zurück. Was er von Asien ^) auf verschiedenen Reisen in Augen-
schein nahm , entspricht ungefähr dem Gebiete der asiatischen
Türkei. Kleinasien durchzog Herodot in mehreren Routen bis
Kolchis hin. Kypern, Phönikien und das südliche Syrien^)
wurden aufgesucht; auch einen Besuch der babylonischen
Wunder konnte er sich nicht versagen."^) Dagegen genügten
ITorodot für Eran, Turan und Indien^) die spärlichen und
teilweise fabelhaften Nachrichten, die er von den Persern einzog.
Wm Syrien wanderte Herodot an den Arabern vorbei*^) nach
Aegypten, das seine Wissbegierde am höchsten reizte;^) er be-
1) K. W. Heyse quaestiones Herodoteae I. Berlin 1827; KaiiHachez
de Herodoti itineribus et scriptis, Göttingen 1878; R. Fr. Hildebrand t de iti-
iieribus Herodoti enropaeis et africanis, Leipzig 1883. lieber Herodots Geo-
^'laphie existiert noch kein genügendes Werk, vgl. Niebuh r über die Geo-
üiaijhie Herodots, Kleine bist. 11. phil. Schriften I. Bonn 1828; J. B. Gail
Litugraphie d'Herodote, Paris 1823, 2 Bde. mit Atlas; W. Dönniges comm.
(!e geographia Herodoti, Berlin 1836; Herrn. Bobrik Geographie des Herodot,
Königsberg 1838 mit Atlas; J. S. Wheeler the geography of Herodotus,
London 1855 (1861) mit Atlas.
2) M a t z a t Hermes 6, 392 flf.
3) Ferd. Hitzig de Cadyto urbe Herodotea, Göttingen 1829.
4) Matzat a. O. S. 432 ff., vgl. Job. Brüll Herodots babylonische
Nachrichten I. zur Geographie und Topographie von Babylonien. Leipzig 1879;
II. 1. Semiramis und Nitokris, 1885.
5) A.H. V.W ey rauch in Morgensterns Dörpt'sche Beiträge 1814 II 365 ff.;
Eyries u. Malte-Brun Nonvelles annales des voyages, Paris 1819 II 2,
'.07 ff.
6) Halevy Academie des Inscr, Comptes rentlus serie 3. VIT. (1871)
^p. 231 ff.
7) Max B ü dinge r zur egyptischen Forschung Herodots, Sitzungsber.
ler Wiener Akad. 72, 561 ff., separat Wien 1873; Brugsch in Steins Aus-
;abe; G. Maspero Annuaire de l'assoc. pour l'encour. des et. gr. 9, 16 ff.
.0, 185 ff. 11, 124 ff. 12, 124 ff. Annales de la faculte des lettres de Bordeaux
I 2, 105 ff. Revue archeol. 1884 p. 343 ff.; Krall Wiener Studien 4, 33 ff.
161 f.
380 Elftes Kapitel.
sichtigte namentlich Unterägypten und Memphis, machte aber
auch eine rasche Fahrt bis Elephantine hinauf. In Aegypteu
erhielt er über die Aethiopen einige Nachrichten, wie er m
Kyrene allerlei von den Noraaden der östlichen Sahara hörte. *)
Über das Ostbecken des Mittelmeeres ging also Herodots Autopsie
nicht weit hinaus; darunter litt besonders die Darstellung von
Europa, ^ weil der Historiker nur an die Nordküste des schwarzen
Meeres einen kurzen Abstecher gemacht hatte, während er im
übrigen auf dürftige Berichte von Kaufleuten angewiesen war.^)
Herodot hat, wie man sieht, der Wissenschaft beträchtliche
Opfer gebracht. Freilich stand der Befriedigung seines Wissen
eifers ein grosser Mangel im Wege. Er verstand als echter
Grieche keine Barbarensprache. So musste er in fremden
Ländern hauptsächlich mit Fremdenführern und Dolmetschern,
verkehren. Man weiss, wie gross die Genauigkeit und Gelel^fl
samkeit solcher Leute zu sein pflegt, und kann einem herv^^
ragenden Aegyptologen nicht Unrecht geben , wenn er sagt:
,, Die Denkmäler erzählen uns die Thaten eines Cheops, Ramses,
Thutmosis oder werden es eines Tages thun ; aus Herodot er-
fahren wir, was man sich in den Strassen der Hauptstadt von
ihnen erzählte." International wie diese Menschen klasse war —
man könnte sie nach dem heutigen Sprachgebrauche Levantiner
nennen — , trugen auch die von ihr herkommenden Nachrichten
einen internationalen Charakter. Daher kommt es, dass die
sogenannten Perser und Aegypter in der griechischen Mythologie
bewandert sind und überhaupt ihre Mitteilungen dem Fremdling
durch hellenische Form mundgerecht machen. So sehr wir
1) Herrn. Schlichthorst geographia Africae Herodotea und Joh. Hen-
nicke corara. de geographia A. H. Göttingen 1784; C. Sei). Seife rliug de
geographia A. H., Marburg 1844.
2) H. V. Seh werin Herodots framställning af Europas geografi, Lnnd 1884.
3) Von der reichen Literatur, welche das herodotische Skythien und
dessen Umgebungen betrifft, nenne ich bloss die neueren Erscheiuungen : Ph.
Bruun essai de concordance entre les opinions contradictoires relatives ^ la
Scythie d'Herodote, Odessa 1874; Bonneil Beiträge zur Alterthuniskunde
Russlands I. Herodot, seine Vorgänger und einige spätere Schriftsteller, Peters-
burg 1882; O. Genest osteuropäische Verhältnisse bei H., Quedlinburg 1883;
G. Mair das Land der Skythen bei H., Saaz 1884; über das Federnland
Fred. Schiern fiorene.s land. Bernärkniuger til nogle .steder i Herodots fjerde
bock, Kopenhagen 1875; Borggreve Ausland 1876 S. 238.
Herodot und Ktesias. ' 381
demnach die Unermüdlichkeit des Geschichtsschreibers be-
wundern müssen, so sind seine Nachrichten über die Barbaren-
länder aus den geschilderten Gründen mit grosser Vorsicht zu
benützen. Schlimm steht es besonders um die Chronologie und
die Reduktion der fremden Masse, ^) weil Herodot für das Zahlen-
wesen überhaupt nicht veranlagt ist; behauptet er doch abge-
sehen von anderen Ziiferfehlern '^) die Sonnenfinsternis von 478
habe den Perserkrieg verkündet,^) und, wenn die Historiker
über die Chronologie des jonischen Aufstandes und des ersten
Perserkrieges nicht ins Reine kommen, liegt die Schuld an der
Unklarheit Herodots. '*)
Sowohl seine Begabung als seine Neigung lag auf einem
anderen Gebiete. Wir haben gesehen, dass Herodot mit grossem
Eifer das Material von allen Seiten sammelte, dass er ferner
über Kritik gesunde Grundsätze hatte. Ungeachtet der Mangel-
haftigkeit des Materials hätte er eine höhere Stufe der Geschichts-
schreibung erreichen können, wenn ihm ein gefährliches Talent
in geringerem Masse verliehen gewesen wäre. In unserer Zeit
würde Herodot vielleicht zu den bedeutendsten Romandichtern
gehören, damals schrieb er seine Geschichte so, dass sie einem
historischen Romane glich ^). Er lässt unbefangen seine Per-
sonen sich so unterhalten , als ob er dabei gewesen wäre und
alles bis auf das Wort genau wüsste; Gespräche unter vier
Augen machen davon nicht die geringste Ausnahme. Den
Schein der Wirklichkeit steigert der Historiker dadurch, dass
z. B. die Worte der Barbaren ein orientalisches Kolorit erhalten^).
Ein solcher Wechsel von Erzählung und Rede ist unverkennbar
dem homerischen Epos abgelauscht). Wo immer es angeht,
1) Hultsch griechische und römische Metrologie S. *57 ff. 362 ff.
2) Böckh Staatshaushaltung der Athener 1362; Metropulos Unter-
suchungen über das lakedämonische Heerwesen S. 61 ; die Chronologie von
1, 65 verteidigt Unger Jahrbb. f. Phil. 127, 383 ff.
3) A. Schäfer de rerum post bellum Pers. usque ad tricennale foedus
in Graecia gestarum temporibus, Leipzig 1865 p. 5.
4) Duncker Geschichte des Alterthums VII=' 30 f. A. 2.
6) Beruh. Erdmannsdörffer das Zeitalter der Novelle in Hellas,
Berlin 1870 S. 29 f.
G) Theon npo-^uit.v. p. 116, 7 ff. Dionys. rhetor. 11,4. Vielleicht ist bei
Artabanos 7, 16 die Geschwätzigkeit des Alters angedeutet.
7) Nikolaos npoYujiv. p. 455, 27 Sp.
283 Elftes Kapitel.
vermeidet Herodot die Motive der Handlungen selbst ausführ-
lich zu erörtern, weil er lieber einen König mit seinem Rate
vorführt oder den Leser in eine Volksversammlung versetzt.
Der Anschaulichkeit der Erzählung wird sogar die Wahrschein-
lichkeit aufgeopfert, oder istesz. B. glaubwürdig, dass die Griechen
erst angesichts der Perser in Plataiai ratschlagten (9, 41)? 8o
trat der Historiker oft hinter dem Dichter zurück.
Die Komposition des Ganzen ist gleichfalls nicht a\.
dem wissenschaftlichen Bedürfnisse erwachsen, sondern teils
dem poetischen Streben^) teils der ethischen Weltanschauung
des Verfassers entsprungen. Wiewohl die Einheit des Stoffes
schon zu Stande gekommen wäre, wenn Herodot die Perserkriege
allein zum Gegenstande seiner Geschichte gewählt hätte, fasste er
sie welthistorisch wie einen einzelnen Abschnitt des Ringkampfes
der Asiaten und Hellenen auf. Darum begann er mit Kroisos,
der ,, zuerst den Hellenen Unrecht zufügte". Hingegen läs.^i
Herodot die Wahrheit der Mythen, welche Orient und Occideui
in Verbindung bringen, dahingestellt und zeigt seine Verachtung
der hellenischen Mythen recht deutlich, indem er einleitungs-
weise nicht, was die Griechen allein über den Raub von Heroe|
frauen erzählten, sondern bloss die Ansichten der sogenannt
Perser und Pliöniker mitteilte. Wir sehen übrigens darai
dass der herodotische Kausalnexus in manchen Kreisen, w(
man Recht und Unrecht des grossen Kampfes erörterte, schon
vorbereitet war^). Den eigentlichen Perserkriegen gehen also
bei Herodot die Angriffe des Kroisos, Kyros' Unterwerfung der
asiatischen Griechen und der jonische Aufstand voraus; diese
Ereignisse bilden den Rahmen für zahlreiche Episoden und
Exkurse, in denen Herodot die ältere griechische und orien-
talische Geschichte, sowie die Geographie und Ethnographie
ferner Länder ausführlich bespricht. Am unvollkommensten
ist im ersten Teile ,, Kroisos, Uebermut und Ende" (I 6 — 94)
der Zusammenhang zwischen Text und Exkursen. Nachdem
närnlich Herodot den Satz, dass Kroisos der erste Barbarenfürst
war, welcher gegen die Griechen einen Angriffskrieg führte,
an die Spitze gestellt hat, geht er ohne weiteres auf die
ältere Geschichte des lydischen Reiches über (7 — 25) und ge-
1) Otto Anhalt quaeatio Herodotea, Cöthen 1884 vergleicht Herodota
Werk mit einer Tragödie.
2) Vgl. auch das Orakel bei Herod. 7, 169 und Isocrat. 10, 61.
Herodot und Ktesias. 3^H3
stattet sich mit der wunderbaren Geschichte des Arion eine
unentschuldbare Episode (23. 24). An die Unterwerfung der
Jonier und die Befragung griechischer Orakel reiht sich der
Bericht, wie Kroisos mit den Griechen verhandelte, weshalb die
damalige Machtstellung von Athen und Sparta geschildert wird
(56—68); die ethnographischhnguistische Abhandlung über die
Pelasger (56—58) ist an dieser Stelle lästige Gelehrsamkeit.
Es folgt Kroisos' Auszug und Fall^ worauf ein Anhang seine
Weihgeschenke und Lydiens Merkwürdigkeiten und Bräuche
(92 — 94) darstellt. Wer war aber nun der Besieger des Kroisos?
fragt Herodot^). Weil Kyros das medische Reich übernahm,
l)erichtet er die medische Geschichte, ohne sich auf die assyrische,
weil sie zu weit abführen würde, einzulassen (I 95-130), und
stellt die Eigentümlichkeiten des persischen Volkes, welchen es
seine Errungenschaften verdankte, dar (I 131 — 140). Herodot
kehrt hierauf wieder zum Zusammenhange zurück. Die Lyder
werden durch die Perser ersetzt, welche die Bewohner der
kleinasiatischen Westküste unterwerfen, wobei Herodot Exkurse
über diesen einflicht (I 141 — 176). Von den übrigen Thaten
des Kyros will er nur die wichtigsten erwähnen (177); er wählt
die Eroberung der Weltstadt Babylon und den verhängnisvollen
Zug gegen die Massageten und verflicht die historischen Nach-
richten mit der Geographie und Ethnographie in der kunst-
vollen Weise, dass er beide Gruppen in je zwei Stücke zer-
legt^). Der von Kambyses auf Aegypten unternommene An-
griff (11 1) ermöglicht eine ausführliche Schilderung dieses
merkwürdigen Landes hinsichtlich der Geographie, der Wunder-
werke und der Geschichte (II 2 — 182). „Kambyses in Aegyp-
ten, sein Ende, die Magier, Dareios' Thronbesteigung" führen
den Faden der persischen Geschichte fort, wobei der Historiker
mit richtigem Takte, Episoden von grösserem Umfange, z. B.
über die Aethiopen, einzulegen unterlässt; dagegen nimmt er
1) Ein neuer Fund hat eine Kyrosfrage geschaffen ; vgl. V. F 1 o i g 1
Cyrus und Herodot nach den neugefuudenen Keilinschriften, Leipzig 1881;
A. Bauer die Kyrossage und Verwandtes, Wien 1882; Hal^vy, Delattre
und Sayce in der Zeitschrift Le Museon 1883 II Nr. 1. 3. 4; E. Evers das
Emporkommen der persischen Macht unter Cyrus, Berlin 1884.
2) 1178; 178—187; 188—91; 192— 200— 20J .— . 201—204; 204—14;
216. 216.
384 Elftes Kapitel.
nach dem langen ägyptischen Exkurse Gelegenheit, die di
Persern folgenden Griechen hervorzuheben (III 1. 25). Herod^
stellt den Zusammenhang noch deutlicher her, indem er eine
Episode über Polykrates von Samos und sein Verhältnis zu
den Griechen einflicht (III 39 — 60) ; obgleich er die Länge
dieses mit den Thaten des Kambyses nur lose zusammen-
hängenden Einschiebsels durch die drei Merkwürdigkeiten von
Samos ausdrückhch motiviert, hat ihn gewiss der Wunsch, die
Griechen nicht ganz aus den Augen zu verlieren, dazu be-
wogen ; denn er spart Polykrates' Tod für später auf. Dareios
ist der erste persische König, welclier die Unterwerfung von
ganz Hellas ernstlich ins Auge fast; damit die Leser eine Vor-
stellung von seinen Machtmitteln gewinnen, schildert Herodot III.
89 — 117 die Organisation des persischen Reiches und hängt
daran ganz äusserlich,; was er über die Völker an den Enden
der Erde in Erfahrung gebracht hat. Da der Faden einm^|||
verloren scheint, wird noch rasch eine merkwürdige GeschichlWI
mitgeteih (III 118. 119). Herodot erzählt den Tod des Poly-
krates, der noch unter Kambyses stattfand, jetzt erst, nicht
sowohl weil die Weltordnung Dareios zur Bestrafung des
Mörders benützte, als weil der Geschichtsschreiber jenes Ereignis
gleichsam als eine Vorbedeutung der Ofifensivpläne des Dareios
darstellt. Er setzt sodann breit und redselig auseinander, wo-
durch die Gedanken des Grosskönigs auf Griechenland gelenkt
wurden und weshalb die ersten Perser dort erschienen; auch
wird die Eroberung von Samos mitgeteilt. Von den Thaten
des Dareios kommen nur die zur Sprache, welche sich direkt
oder indirekt auf Griechenland beziehen ^), ausser dass Herodot
sich wiederum nicht versagen kann, den Abfall und die Wieder-
eroberung von Babylon zu schildern (III 150 — 160). Hier war
ohne Zweifel die Stelle, welche er anfangs zur Einschaltung
der assyrischen Geschichte bestimmt hatte. Nachdem der
Historiker jedoch seine Kompositionsmethode vervollkommnet
hatte, musste er einsehen, dass es nicht anging, einem ohnehin
nicht zur Sache gehörigen Abschnitte einen ausführlichen
Exkurs, dessen Interessantestes bereits vorweg genommen war,
anzufügen. Hingegen konnte sich Herodot solche Abschweifungen
gestatten, als er die gegen die Skythen und ßarka gerichteten
1) Z. B. wird der 1, 130 berührte Aufstand der Meder uicht erzählt.
I
Herodot und Ktesias. 3g5
Züge schilderte, und selbst hier beobachtete er niclit mehr das
einlache Verfahren, welches bei Aegypten zur Anwendung ge
kommen war, sondern verteilte, was er über die Skythen und
ihre Nachbarn 7ai sagen hatte, in drei durch Erzählung ge-
trennte Abschnitte (IV. 1—82. 99—101. 103—117). Dagegen
ist die Schilderung der libyschen Völker (IV. 168 — 199) nicht
ungesucht, während es wohl passt, dass die ältere Geschichte
der Kyrenaika (IV 145 — 167) eingeflochten wird. In den
Episoden sind gewöhnlich Geographie, Sitten (\i6\loi) und Merk-
würdigkeiten (^wjxaTa, -ö-wiidata) behandelt, indes fasst sich Herodot
kürzer, wenn seine Nachrichten dürftiger sind oder auch wenn
er, wie bei der Landeskunde Persiens, die Vorgänger nicht zu
überbieten weiss. Von nun an läuft die Erzählung von der
Unterwerfung Thrakiens und Makedoniens ununterbrochen ohne
grosse Abschweifungen fort; nur am Anfange verleitet die
Ethnographie Thrakiens Herodot zu einem längeren Einschiebsel.
In einem Flusse kann er freilich nie erzählen ; jeden Augen-
blick fällt ihm etwas ein, sei es dass ein Detail ihm merk-
würdig scheint oder dass er in die Vergangenheit zurückgreift
oder auch etwas späteres vorwegnimmt. Bald kämpft auch
der Historiker gegen irrige Meinungen an, bald macht er
den Leser aufmerksam , dass er zuerst dieses und jenes beob-
achtet habe.
Das Werk schliesst, wie es uns jetzt vorliegt, mit dem
Falle von Sestos (478). Man kann darüber streiten, welches
Ende Herodot den Perserkriegen setzte, ob er das Jahr für
einen passenden Abschluss erachtete, wo die Offensive der
Perser zurückgewiesen war und die Dinge in gewissem Sinne
so lagen wie vor Kroisos' Zeiten, oder ob er mit den Thaten
Kimons dem Werke einen glänzenden Schluss geben wollte;
jedenfalls ist es wedervomGesichtspunkteder Komposition möglich,
dass Herodot seine Weltgeschichte mit einem so wenig epoche-
machenden Ereignis schliessen wollte, noch irgendwie glaublicb,
dass er ohne das kürzeste Nachwort die Feder weglegte^). Ohne
Zweifel wurde er durch den Tod verhindert, sowohl das Buch
zu vollenden als auch demselben die letzte Feile zu geben. So
1) Anders Bauer Herodots Biographie S. 392 und besonders Gomperz
Sitzungsber. der Wiener Akad. 103, 141 ff.
Situ, Geschichte der griechischen Literatur. II. 25
386 Elftes Kapitel.
schied er aus der Welt, ohne manches Versprechen, das er den]
Lesern gemacht hatte, zu erfüllen. Es ist nur ein Notbehelf,
wenn man annimmt, die Ermordung des Ephialtes (7, 123) sei
in der Lücke hinter 8, 120 erzählt gewesen ^). Aber die An-
kündigung 2, 161 wird im vierten Buche (c. 159) bloss unvoll-
kommen erfüllt. Auf eine noch auffallendere Lücke, das Fehlen
der 'Aaauptot Xöyoi, ^haben wir bereits früher hingewiesen und
sie zu erklären versucht^). Ausser manchen Ungleich mässig-
keiten ^) kommen zahlreiche Wiederholungen *) vor, die indesJ
bei einem so redseligen Schriftsteller nicht sonderlich auffallen,]
wiewohl man zugeben darf, dass Herodot bei der endgiltigei
Durchsicht seines Werkes viele davon entfernt hätte. Er be
mühte sich aber sofort bei der Niederschreibung, durch uner-
müdliche Vor- und Rückverweisungen'') die einheitliche Kompo-
sition des Werkes seinen Lesern klar zu machen. Dessungeachtet
gaben jene Mängel zugleich mit einem eigentümlichen Sprach-
gebrauche Herodots, welcher bei Verweisungen sv stepotat Xö^oiat
u. dgl. zu sagen pflegt, d. h. „an einer anderen Stelle" ^), der
1) Vgl. Ad. Kirch ho ff Sitzungsber. der Berliner Akad. 1885 S. 301 flf^
2) 1, 106. 184. Vergessen kann Herodot sein Versprechen nicht haber
weil er 4, 1 auf 1, 106 vei-weist. Ueber die Frage vgl. zuletzt E. Bachoi|
Jahrbb. f. Phil. 115, 577 fif. Karl Hachez de Herodoti itiueribus et scriptis
Göttingen 1878 p. 44 ff.
3) Ad. Scholl Philol. 9, 203 fif.
4) Kose hat Herodot sein Werk selbst herausgegeben? Giessen 18791
S. 7; Bachof quaestiuncula Herodotea, Eisenach 1880 S. 3 ff. (S. 7 ff . sindl
die Stellen verzeichnet, wo Herodot ausführlicher ist als an den ähnlichen 1
früheren , z. B. sind die persischen Kronrichter statt HI 14 erst c. 31 er-j
läutert). Die auffallendste Wiederholung (8, 104 vgl. 1, 175 am Aniang) wird
von Valckeuaer, Stein und Gomperz Sitzungsber. der Wiener Akad. 103,^
696 ausgeschieden.
5) Am vollständigsten bei Engelbr. Ammer Herodotus Halic. quo^
ordine libros suos conscripserit, Würzburg 1881 p. 9 zusammengestellt.
• 6) Ueber das Wort vgl. Ad. Bauer die Entstehung des herodotischen Ge
Schichtswerkes, Wien 1878 S. 7 ff. Wir haben zu unterscheiden I. Selbstcitate
im Perfekt: bestimmt 6, 36 ev T(j) nputxip tü»v "köfutv (= AoSiaxd 1, 92), ande
7, 93 EV xotGi itptuToio'. TÄv Xö^wv gegcu Anfang (1, 171); II. im Futur:
stimmt 2, 161 ev toiot Aißuxoiai Xo^oiot = 4, 159 fl'.; 1, 184 ev toIoi 'Aaoopiotot
'kö^o'.Qi; unbestimmt 1, 75 ev xolat oiriatu XofoiGi (= 1, 107 flf.), 6, 22 (= 8,1
137) u. 7, 213 ev t. ouio^e X., 1, 106 ev kxipoiai X., 2, 38 (= 3, 28) u. 6, 39J
(= 6, 103) ev äXXy Xö^ip; bloss Botepov 2, 101 (vgl. 149); ohne ZnsatJ
Äitirjifrjoojjiat 4, 145 (vgl. 1G6); umständlicher 6, 19 (vgl. 6, 77).
Herodot und Ktesias. 387
Anstoss zu der Theorie, dass Herodot zuerst historische Mono-
graphien verfasste und erst später auf den Gedanken, sie zu
einem Ganzen zusammenzuarbeiten verfiel, ohne dass ihm die
vollständige Durchführung seines Planes gelungen sein soll ^).
Nicht minder verbieten jene Wechselbeziehungen die Annahme,
dass zwischen der Abfassung der einzelnen Teile des Buches
längere Zwischenräume gelegen seien ^). Es mag die Phantasie
reizen, die Entstehung eines so kühnen Werkes sich vorzu-
stellen, doch spricht der objektive Thatbestand für die bisher
aufgestellten Hypothesen nicht. Höchstens könnten mit Hilfe
der Sprache die verschiedenen Schichten gesondert werden^).
Wenn der Mangel einer definitiven Bearbeitung schon in
den Details der Erzählung sich äussert, muss noch mehr die
stilistische Form*) darunter leiden. Herodot hat also ohne
Zweifel nicht sein volles Können gezeigt. So sind denn die
F'ehlerdes Stiles milde zu beurteilen. Von den älteren Historikern
unterscheidet seh Herodot darin, dass er nicht mehr naiv erzählt.
Im Satzbau weicht er von ihnen nicht bedeutend ab, wenn er
auch die lose und bequem neben einander gestellten Sätze
(£ipo[j.svTr] Xl^tc) mannigfaltiger baut^); zahlreiche Anakoluthe '^)
und Attraktionen '^) erschweren nicht das Verständnis, sondern
verhindern die Einförmigkeit und bringen doch zugleich den
1) Zuerst von Tbeod. Heyse quaestioues Herodoteae I. Berlin 1827
aufgestellt (sofort von Heinr. Jäger disputatioues Herodoteae duae, Göttingen
1828 bekämpft); Ad. Scholl Philol. 9, 193 ff. 10, 25 ff. 410 ff. (besonders
S. 427 ff.); Max Büdinger Sitzungsber. der Wiener Akad. 72, 561 ff.; Ad.
Bauer a. O.; O. Nitzsch Abhandlung über Herodot, Bielefeld 1873; vgl.
Rose a. O. und Bachof a. O.
2) Ad. Kirchhoff über die Entstehungszeit des herodotischen Ge-
schichtswerkes, 2. Aufl. Berlin 1878; vgl. oben S. 372 A. 3.
3) „Auch jetzt noch" heisst xal vöv exi I 167. 173. HI 48. vüv I'ti I 57
oder bloss xal vöv I 50. IV 12. 15 (wobei xal Satzpartikel ist) , hingegen in
der Geschichte der Perserkriege l'xt xal vöv VH 178. sxi v.a\ ec toSe VII 123,
umständlicher VIII 33. Das II. Buch geht mit der zweiten Gruppe (etc v.a\
vBv 99. ETI xal £<; toSe 135, aber auch xal vüv stt 135 ; mit VIH 33 vgl. II 99).
4) Zimmermann Bemerkungen über den Stil des Herodot, Clausthal
1851; Wen dt de oratione Herodoti, Greiffenberg 1856; Cassian Hof er über
die Verwandtschaft des herodotischen Stiles mit dem homerischen, Meran 1878.
5) Dionys. compos. verb. 4. Demetr. ic. epfXTjv. 12. Menand. iittBstxx
7 extr.
6) Samuel Me lau der de anacoluthis Herodoteis, Lund 1869.
7) Emau. O. May de attractiouis usu Herodoteo, Bre.slau 1878.
25*
388 t.}fies Kapitel.
Schein der Zwangslosigkeit hervor. Die Wortstellung ^) ist
keineswegs natürlich und ungesucht, weil Herodot z. B. das
Subjekt mit Vorliebe hinter das Zeitwort stellt und die zusammen-
gehörigen Worte durch Einschiebsel trennt; manchmal ist die
Stellung sogar rein dichterisch ^). Noch mehr beansprucht
Herodot im Wortgebrauch die Freiheiten der Dichter, z. B
vergleicht er die Mauern mit Gewändern {zBiyßoiv xt^tövsc 7, 139)
und bezeichnet schöne Frauen als ,, Augenschmerzen" (aX^rj^övac:
o^'&aXfiwv 5, 18)^). Von Homer hat er die epische Breite ange-
nommen ^). Ausdrücke werden häufig durch Zusätze (z. B.
Verba durch Partizipien) verstärkt oder näher bestimmt; Paren- :
thesen oder grössere Einschiebsel schliesst Herodot gerne in
epischer Weise mit den nämlichen Worten, wie er sie einge-
leitet hatte ; an das Epos erinnern gleichfalls eigentümhche
Pleonasmen wie wenn ein Kausalsatz nicht unmittelbar zu der i
dadurch begründeten Thatsache tritt, sondern diese apodiktisch
hingestellt und dann mit der Partikel y^P und jenem Neben-
satze verbunden wird ^). Ein gerechtes Urteil über Herodots
Stil zu fällen scheint, weil von der älteren Prosa der Jonier;
sonst höchst dürftige Ueberreste vorliegen, unserer Wissenschaft
versagt; denn wir können weder sagen, wie sich Herodot im
einzelnen zu seinen Vorgängern verhielt noch ob er von den
älteren Sophisten (Protagoras, Hippias und Prodikos) wirksame
Anregungen erhalten hatte. Soviel dürfte aber feststehen, dass
Herodots Stil nicht naiv, sondern künstlich geformt ist, gerade
wie auch sein Wortschatz nicht den der jonischen Volkssprache
repräsentiert^). Ein genauerer Nachweis des letzteren ist aber
1) Ilepl Z'^ooi 22 p. 272, 31 flf. Demetr. n. ipp-fjv. 112.
2) Z. B. 7, 10 am Ende •»] oe -(e.
3) Getadelt lUpl ü^/oüc 4, 7; im allgemeinen Demetr. n. ^pfi"$v. 112.
Euötath. in Odyss. p. 1867. Eine Wendung von 7, lül ist aus einem Epi-
gramm entlehnt (Plut. Cim. 7, vgl, H. Weil Revue de philol. 1877 p. 96).
4) C. M. Zander de epanalepsi Homerica et Herodotea, Land 1871.
6) Z. B. 8, 110 'Aö'Tfjvaiot oi ETCetä-ovtO' eTteiSv] ^äp xal irpötepov SeSoffisvoc
eivat aofbz e^pdvYj eöuv aXTjö-ecuc ootpoc te xal eüßoükoc, irävTtuc itoijxoi -rjoav
6) Hermog. n. 18. p. 362, 14 flf.i Ealey Transactions of the Cambridge
Philosoph. Society XI 2 (1869) p. 369 fl'. vergleicht die homerische Sprache.
'Ojj.Tjpcxu)TaToc heisst Herodot Ilepl ü({/oui; 2, 3.
Herodot und Kfresias. 389
jetzt nicht möglicli. Das Dritte „ignorabimus" gilt der Gestalt
des jonisclieu Dialektes. Welche Mundart hat Herodot gewählt
und in welchem Grade hat er sie mit homerischen Formen
versetzt? ^) Dies sind Fragen, auf welche die in dieser Be-
ziehung stark abweichenden Handschriften keine Antwort
geben, und auch die Inschriften, wenn deren mehr gefunden
würden, könnten nicht weiter helfen ^). Soviel aber hat die
Durchforschung von Halikaruassos klar gestellt, dass Herodot,
obwohl er sich als Dorier und echten Hellenen fühlte (7, 99),
keine fremde Mundart anwendete; es sprachen ja auch seine
Mitbürger jonisch.
Will man das Ansehen, in welchem Herodots Werk stand,
richtig abschätzen, so muss Inhalt und Form gesondert be-
sprochen werden. Die älteren uns bekannten Urteile beziehen
sich insgesammt auf den ersteren. Thukydides hat Herodot
wahrscheinlich in der Einleitung benützt, doch auch, ohne
seinen Namen zu nennen, mehrere Angaben seines V^orgängers
bestritten und verbessert ^). Plato ignorierte ihn zu Gunsten
1) Dionysios, welcher übrigens epist. ad Pomp, de praecip. liist. 3 p. 130
Herodot 'JdtSot; apizxor xavcov nennt (vgl. Phot. cod. 60 am Anfang), fand
solche bereits in seiner Handschrift, weshalb ihm der Dialekt im Vergleich
mit dem des Hekataios ttoixiXy] schien.
2; K. L. Struve quaestionum de dialecto Herodoti spec. I. II. IH.
1828—30 (Opnscnla seleeta II p. 256—362); Ferd. Bredovius quaestt. critt
de dialecto Herodotea libri IV., Leipzig 1846 ; W. Dind or f in der Didotschen
Ausgabe p. I — XLIV. (der strenge Analogie fordert); im einzelnen G. Klo p p
de augmento Herodoteo, Schleusing 1848; E. Abicht Philol. 11, 270 ff.;
über Kontraktion Abicht quaestt. de dialecto Herodotea spec. I. Göttingen
1859, Reinh. Merzdorf quaestt. gramm. de dial. Herod. Leipzig 1875
(Curtius' Studien 7, 125 ff.), W, L. Meyer über die Contraction der Verba
auf otu bei Herodot, Ilfeld 1868; E. E. Noren de contractione verborum in
EU) exeuntium apud Herodotum comment., Upsala 1876; Emil Spreer de
verbis contractis apud Herodotum, Stettin 1874.
3) 1, 126 (vgl. 5,71). 138 (8, 58). 2, 8 (6, 98). 5, 55 ff. (1, 20. 6, 54);
vgl. Ernst Salomon de Herodoto et Thucydide quaestt. histor. spec, Berlin
1851 (Pr. des Friedr. Werd. Gymn.); Hugo Lemcke hat Thucydides das
Werk des Herodot gekannt? Stettin 1873; Herm. Lämmer hl rt de Herodoti
fide quaestt., Halle 1874; Schömann Jahrbb. f. Phil. 111, 449 ff.; Ad.
Bauer Herodots Biographie S. 392 ff. A. 3; anderes bei Lipsius Bursians
Jahresber. 1878 III S. 284. Thukydides scheint an ein paar Stellen Herodot
missverstanden zu haben, falls er dort nicht gegen andere polemisiert.
ü
390 Elftes Kapitel.
des Ktesias. Dieser selbst ^) und Manetho ^ setzten seinem An-
seilen hart zu. Aristoteles nannte ihn einen Fabelerzähler ^)
und dieser Ruf blieb seitdem an ihm haften.*) Die Gelehrten
hatten keine Veranlassung, Herodot den besser unterrichteten
Historikern, welche nach ihm lebten, vorzuziehen. In der
Kaiserzeit richteten Aelius Harpokration ^) und der bekannte
Plutarch, der aus Lokalpatriotismus gegen den Historiker gereizt
war, ^) besondere Schriften gegen die Glaubwürdigkeit Herodots
und beschuldigten ihn der bewussten Fälschung. Hingegen gab
Herodots Buch für Laien eine angenehme Lektüre ab; ') die
ältere Geschichte Roms wurde bekanntlicli aus seinen orien-
talischen Geschichten interpoliert. Der Rhetor Dionysios von
Halikarnassos zog seinen Landsmann dem Thukydides vor.^)
In dem Zeitalter vollends, wo der Roman sich bildete und man
für das Naive schwärmte, wurde Herodot von allen Gebildeten
gelesen. Man teilte sein Werk in neun Bücher, um sie nacli
den Musen zu nennen^). Historiker^") und gelehrte Sophisten ^^),
1) Bei Phot. bibl. cod. 72 p. 35 b 41 ff. 43 b 21 ; Theopomp Strab. 1, 43.
2) Joseph c. Apion. 1, 14. ^H|
3) Müd-okö'^oc, de animal. gener. p. 756 a (5, vgl. Bauer a. O. S. 396 A.^T
4) Diogea. prooera. 9, z. B. Strab. 13, 618. Cic. leg. 1, 1, 6. Plutarch.
Aristid. 19. de e.su carn. 3. Gell. 3, 10, 11 u. ö. Lucian. philops. 2. ver. hist.
2, 31. Dio Chrysost. 18, 10. Hermog. n. 58. 2, 4 p. 357, 29 u. s. w.
5) Ilepl Toö v-axti^sbad-ai tvjv 'HpoSotoo loxopiav Suidas.
6) Ilepl zr^z 'HpoSoxou %a-/ioYjO'£ia<;; einige Widersprüche zwischen dieser
und anderen Schiiften veranlassten, obwohl derartiges auch sonst bei Plutarch
vorkommt, dass die Echtheit angefochten wurde; vgl. Gust. Lahmeyer
de libelli Plutarchei qui de maliguitate Herodoti iuscribitur et auctoritate et
auctore, Göttingen 1848; K, Alb. Häbler qnaestiones Plutarcheae duae,
Leipzig 1873 I.; H ol z a p f el Philol. 42, 23 ff.; F. Majchrovics de
auctoritate libelli Plutarchei qui n. 'H. x. inscribitur, Leraberg 1881.
7) Athen. 14, 620 d ist aber für 'IJpoSoxou 'HoiöSou zu lesen.
8) Ad Pomp, de Plat. 3 u. de praecipuis historicis; Cic. orat. 12, 39
sine Ullis salebris quasi sedatus amnis fluit.
9) Diese Einteilung war in der hadrianischen Zeit schon ganz gewöhnlich
und Jedenfalls älter, weil damals bereits Kei)halion wetteifernd neun nach den
Musen benannte Bücher herausgab (Phot. bibl. 68 p. 34 a7fF.). Pausanias affektiert
die herodotische Citiermethode (3, 2, 3. 10, 32, 8). Auf eine andere Eintei-
lung könnte höchstens Schob luven. 13, 199 (in VII. historia»= 6, 86) führen.
10) Dionysios (Gomperz Sitzungsber. der Wiener Akad. 103, 169, 1),
Arrianos (H. R. G r u n d m an n quid in elocutione Arriani Herodoto debeatur,
Berlin 18S4), Appianos, Cassius Dion (Muemos. m. s. 7, 47), Prokopios,
Agathias u. A.
11) Pausanias (Pfundtner Jahrbb. f. Phü. 99, 441 ff. C. Wernicke
Herodot und Ktesias. 392
Romanschreiber^) nicht ausgeschlossen, zehrten von herodoteischen
Gedanken und Phrasen. Es entwickelte sich sogar eine Treib-
hausliteratur jonischer Mundart, die mit Arrianos und Lukianos
auhob und bis in das vierzehnte Jahrhundert vegetierte ''^).
Die Beliebtheit des Autors machte damals bereits eine kritische
Ausgabe zu einem Bedürfnis ; nachdem Philemon über ver-
derbte Stellen gehandelt hatte, unterzog sich Alexander von
Kotyaion im hadrianischen Zeitalter dieser Aufgabe ^). Andere
schrieben erläuternde Abhandlungen ^). Notwendiger war die
Erklärung der jonischen Idiotismen ; während das Glossar des
Apollonios ^) unterging, ist ein kleines Verzeichnis noch er-
halten *^). Lexikographen eitleren endlich einen Auszug, welchen
Theopompos (natürlich nicht der berühmte, obgleich dies jene
geglaubt zu haben scheinen) anfertigte/).
Die Handschriften ^) waren, wie aus der oben citierten
de Pausaniae peiiegetae stiuliis Herodoteis, Beilia 1884), Aelianus (Bernhardy
zu Suidas v. gIxy|v, ■S-jocoX-ric, npoaxstfAEVot, aoßapöc, ttjiYiaatfi.Yjv), Philostratos
(Cobet var. lect. "410) uud audere (Beiuhardy zu Suidas v. thpo-r\Xa.zov
und MsvavGpoc p. 781).
1) lieber Chaiiton s. Cobet Muemos. 8, 236 ff.
2) Lucian. bist, couscrib. 16 (25). Bekannt sind uns Arrianos 'IvSixdt,
Lukianos icspl t-rj«; Xoplv)? •S-cOÖ und Hcpl dLO'zpo'ko'(if]z (mit vielen Sprach-
fehlern ^. z. B. M e r z d o r f de dialeclo Herodotea p. 207) ; dann Abydenos
'Aaaopio'.y.a und Uranios 'Apaßtv.ä und die Kaisergeschichten von Quadratus
(Suidas V. Koopäxoq), Eusebios (ein Stück ist unter den konstantinischen
Excerpten itspl iroXtopxtwv erhalten und von Wescher Revue archeol. 17
(1868) S. 401 ff. herausgegeben) uud Praxagoras (Phot. bibl. cod. 62 p. 21 b 16) ;
endlich die gefiilschte Horaerbiographie (Bd. I S. 54 f.) und t-^v.üJit.iov
sl? xov ßaai/ia von Nikephoros Gregoras; einzelne jonische Formen
kommen auch bei Philostratos (Scheibe Ztsch. f. Alterthumsw. 1847 Sp. 437),
Agathias, P.'iellos (Sathas, fxsa. ßtßX. V 126) uud anderen Byzantinern vor.
3) Porphyr, quaest. Hom. 8 p. 286 f. Sehr., vgl. H. Stein vindiciae
Herodot, p. 17 sq.
4) Eirenaios Lexic. Cantabrig. p. 675, 4 P. E. Miller, melanges de
litt, et crit. p. 7 97 (vgl. H aupt Opuscula II 434 fl.) ; die durch Suidas bekannten
Schriften des Heron, Tiberios und Salustios sind wahrscheinlich rhetorischen
Inhalts.
5) 'E^-fiY'^iai? Tcüv 'Hpo^oToo y^wx^oäv Etym. Magu. v. vctotpoc und aocptax-fic,
vgl. Porphyr, a. O. Bei Eustathios stehen mehrere Herodotglossen , s. den
Index von Devarius p. 207).
6) In zwei Recensionen, hrsg. v. Stein II 443 ff.; ders. S. 431 ff. teilt
einige wertlose Schollen mit.
7) Phot. (Suid.) V. övaß-rjvat xbvliznov, xaxoßioc, rfo-^MzÖGai. Suid. eeoitoiiTros.
8) Vgl. auch: LXIII ocos ex Herodoto excerptos qui ex conlectaneis
392 EKiea Kapitel.
Stelle des Porphyrios erhellt, schon frühzeitig sehr fehlerhaft;
die bisher verglicheueii scheinen in zwei Klasson zu zerfallen,
über deren Wert das Urteil schwankt und so lange schwanken
wird, als der Sprachgebrauch Herodots nicht gründlich erforscht
ist. ^) Nach der lateinischen Uebarsetzung von L-inrentius
Valla (Venedig 1474)''^), welche trotz ihrer F^ehlerhaftigkeit oft
wiederholt und überarbeitet wurde, erschien der griechische Text
zuerst bei Aldus Venedig 1502. Die Humanisten gewannen
dem Buche keinen rechten Geschmack ab; H. Stephanus, der
es Paris 1570. 1592 mit Benützung von Pariser Handschriften
recensierte, hatte in seiner ,,apologie pour Hörodote" (1566)
nicht sowohl eine ernsthafte Verteidigung des Historikers als
vielmehr die konfessionelle Polemik im Auge. Das Studium
Herodots wurde, wie das Xenophons, zuerst in England belebt,
indem Th. Gale eine Ausgabe mit kritischem Apparat voran- j
staltete (London 1679). Dadurch erhielt Jac.Gronov den Anstoss,<
sich mit Herodot zu beschäftigen ; er zog in der zu Leiden'
1715 erschienenen Recension bereits die Codices der medi-j
ceischen Bibliothek , darunter die bedeutende Handschrift
Mediceus A (F) aus dem zehnten oder elften Jahrhundert heran.
Sein Landsmann Peter Wesseling sammelte alles ihm zugäng-
liche Material in der bedeutenden Amsterdamer Ausgal^ von!
1763, in welcher er auch für die Emendation viel leistete ^).
Schweighäuser führte in seiner sechsbändigen Ausgabe (Strass-
burg 1816, London 1824) die zweite Handschriftenklasse, ver-
treten durch den Parisinus A (P) aus dem zwölften oder, drei-
zehnten Jahrhundert ein ; Gaisford legte seiner Ausgabe den
ähnlichen Sancroftianus (S) zu Grunde (Oxford und Leipzig
1824—26 ßd. I. H. 3. A. Oxford 1849). Wilh. Dindorf stelltej
sich, weil er das Prinzip der Analogie durchführte, zu den
Coustantini Augusti Porphyr. Tzspl apsxriz xal xaxia<: in codice Peiresciano*
exstant rec. Jnl, Wollenberg, JJerlin 1862.
1) Ausser mehreren syntaktischen Monographien sind zu nennen Joh. j
Schwel ghäuscr lexicou Herodoteum, Strassburg 1824 2 Bde. u. C. Jacobitzi
speciraen lexici Herodotei, Progr. der Nicolaischule Leipzig 1870.
2) Vgl. Wesseling dissertatio Herodotea cap, VIII. und V a h 1 e n
Vallae opuscula tria p. 361 ff.
3) Der Ausgabe ging die wichtige Dissertatio Herodotea ad Tiberinm
Hemsterhusium, Traject. 1758 voraus.
Herodofc nnd Ktesias. 393
Handschriften solbstcändiger (Paris 1844). Die neueren Aus-
gaben von Abicht (Leip/.ig 1869, 2 Bde.) ^) und Stein, welclier
den reichsten kritischen Apparat gesammelt hat, jedoch nicht
vollständig mitteilt'^), folgen der ersten besonders durch Mediceus
A vertretenen Klasse; m neuerer Zeit haben sich aber gewich-
tige Stimmen zu Gunsten der zweiten Klasse (Parisinus, Romanus
und Sancroftianus) erhoben'^).
Auf sichererem Grunde ruht die Erklärung des Geschichts-
werkes durch die Ausgaben von Bahr (Leipzig 1830 — 35.
M 856— 61, 4 Bde.), Abicht (5 Hefte, Leipzig in 2.-4. A.),
K. W. Krüger (5 Hefte, Leipzig 1855—57, H. 2. 3. in 2. A.)
und Stein (Berlin 1872—77, 5 Hefte in 3.-5. A.), sowie die
enghsche Uebersetzung von G. Ravvlinson (Lond. 1858. "M876,
4 Bde.)^). Naturgemäss müssen die den orientalischen Ver-
hältnissen gewidmeten Abschnitte mit den Ergebnissen der
Aegyptologie und Keilschriftforschung verglichen werden. Hiefür
:-iellt nach Rawlinson das Buch von A. H. Sayce, The ancient
ompires of the east, Herodotus books L — III. (London 1883)
den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft dar, während er
Ilerodot selbst nicht gerecht wird. Von den zahlreichen Ueber-
setzungen sind nur die des sechszehnten Jahrhunderts einer
ausdrücklichen Erwähnung wert, weil der Stil jener Zeit dem
lierodotischen näher kam ; z.B. rührt die stilgerechteste franzö-
sische Uebersetzung von dem Jesuiten Salliat (1575, neu hrsg.
von Eugene Talbot, Paris 1864) her.
Nächst den Thuriern fand Herodots Buch anfänglich gewiss
unter den Bürgern seiner asiatischen Heimat die meisten Leser;
so lernte es ein Knidier, der am persischen Hofe lebte, kennen
und wurde dadurch angeregt, die günstige Gelegenheit benützend
ein genaueres Werk über die persische Geschichte zu schreiben.
Ktesias von Knidos *^) war ja nicht ein vielgereister und an
1) Vgl. Philol. 21, 78 ff. uud de codicum Herodoti fide atque auctoritate,
Naumburg 1869 (Pvogr. v. Pforta). Die Teubucrsche Textausfrabe ist von
Dietsch besorgt (I.^ 1884 vou Kalleiiberg mit kritischer Einleitung).
2) Berlin 1869—72, 2 Bde.; kleinere A.usgabe Berlin 1885, 2 Bde.
•>) Cobet Muemosyne n. s. 10, 400 ff.; Gomperz Sitzungsber. der
Wiener Akad. 103, 149 ff.; Wehr mann de Herodotei codicis Roraani auc-
toritate, Halle 1882.
4) Das 7. Buch ist von J. Sitzler, Gotha 1885 bearbeitet.
ö) Ctesiae Cnidii quae supersunt ed. Alb. Lion, Göttingen 1823; operum
394 Elftes Kapitel.
mannigfachen Kenntnissen reicher Mann gleich seinen Vor-
gängern, sondern ein geschickter Arzt, welcher dem knidischen
Asklepiadengeschlechte angehörte '). Da die griechischen Aerzte
im Altertum dieselbe Rolle wie die jüdischen im Mittelalter spielten,
schwang er sich im Jahre 415 zum Leibarzt der griechen freund-
lichen Königin Parysatis auf'-^). In der Schlacht von Kunaxa
hatte er das Glück, dem verwundeten Artaxerxes Hilfe leisten
zu können ^). Seitdem wurde der geschickte Arzt auch zu
diplomatischen Verhandlungen beigezogen ^). Siebzehn Jahre
lang hatte Ktesias am persischen Hofe eine angesehene Stellung
behauptet, als er Ol. 95, 3 (398) als Gesandter nach Spart
ging. Da gelang es Pharnabazos in Susa durchzusetzen, das
der Perserkönig, indem er Konou an die Spitze der Flott
stellte, den Bruch mit Sparta besiegelte. So desavouiert, kehrt
Ktesias nicht mehr nach Persien zurück, sondern begab sic|
in seine Heimat und von da nach Sparta % Seine weiterei
Schicksale entziehen sich unserer Kenntnis.
Jene Stellung hat nun Ktesias verwertet, um eine ausführlich«
23 Bücher^) umfassende Geschichte der orientalischen Monar^
einen abzufassen. Der erste kleinere Teil (aus sechs Buchen
bestehend) stellte das assyrische und medische Reich dai
während der zweite Teil die persische Geschichte von Kyroij
bis zum Jahre 398 herabführte; den Schluss bildeten ein«
üebersicht des persischen Reiches und eine Königsliste. Eil
besonderes Buch verzeichnete eingehend, was die Unterthanei
dem Grosskönige zu steuern und zu liefern hatten, wobeil
Ktesias die verschiedenen unterthänigen Völkerschaften charak-l
reliquiae ed. Felix Bahr, Frankfurt 1824, diiiin von Karl Müller der Didot
ausgäbe des Herodot von W. Diudorf (1844) beigefügt.
1) Galen, coniin. in Hippocr. XVIII 1, 731 K. ; Sohn des Ktesiöchc
Tzetz. cliil. 1, 82.
2) Er war 17 Jahre in Persien (Diodor. 2, 32, 4. Tzetz. chil. 1, 86)j
Parysatis Ctes. bei Phot. bibl. 44 a 32. Nach Diodor. 2, 32, 4 kam er kriega
gefangen an den persischen Hof; Tzetz, chil. 1, 84 bezieht dies irrtümlicl
auf den Zug des jüngeren Kyros.
3) Xenoph. anab. 1, 8, 26.
4) Bei Euagoras und Konon (bestätigt durch Plut. Artax. 21) Phot
p. 44 b 20 fl'.
6) Phot. p. 44 b 37 ff. ; der Schluss xpioi«; Kpö? loüs AaxeSatjjioviooc
ttYY^^oo? ev *P6?i(j) xal ä<peotc ist nicht recht klar.
6) Diodor. a. O. Tzetz. chil. 1, 86 (irrtümlich steht xä llepotxdc).
Heiodot nnd Ktesias. 395
terisierte ^). Der Untergang dieses inhaltsreichen Werkes ist
ein schwerer Verlust, für welchen die Excerpte, die Photios in
seiner ,, Bibliothek" von dem zweiten Teile anfertigte''^), nicht
entschädigen; erregt doch manches gerechte Zweifel an der
Genauigkeit des belesenen Patriarchen. Noch weniger kann
die moderne Quellenforschung durch die zuversichtliche Auf-
stellung, wie viel in den ersten drei Büchern des Diodor^) und
der plutarchischen Biographie des Artaxerxes^) von Ktesias
herrührt, den Verlust ersetzen. Förmlich citiert wird der
Historiker recht selten.
Vergleicht man die dürftigen Reste des grossen Werkes
mit Herodot, so fällt sofort die bedeutende Verschiedenheit
ihrer Berichte in die Augen. Darum gehört es zu den wichtigsten
Problemen der Geschichte des alten Orients, welcher von beiden
Schriftstellern den Vorzug verdiene^). Da die Keilinschriften
liiefür keine sichere Entscheidung an die Hand geben, muss
man durch Betrachtung der beiderseitigen Quellen und der
Persönlichkeit der Historiker sich ein Urteil zu bilden ver-
suchen. Es unterliegt nun meines Erachtens keinem Zweifel,
dass Ktesias viel gründlichere Studien als Herodot zu machen
im Stande war. Jener lebte ja volle siebzehn Jahre in der
Hauptstadt des persischen Reiches, wohin Abgesandte der ent-
legensten Länder zusammenkamen, dieser machte einige Reisen
in der westlichen Hälfte des Landes, ohne irgendwo dauernden
Aufenthalt zu nehmen. Ktesias war bestimmt mit der persischen
Sprache vertraut, während Herodot nur einige Worte davon
kannte. Der eine war ein angesehener Hofbeamter, dem die
königlichen Archive zugänglich waren, der andere ein einfacher
Privatreisender. Ktesias standen also viel zahlreichere und
1) IIspl TÖJv v.axGc tvjv 'Ao'.av cpoptov Athen. 2, 67 <a. 10, 442 b.
2) Bibl. codex 72.
3) Da jedoch das Ktesias ausdrücklich zngeschriobene in manchem ab-
weicht, nimmt Carl .Tacoby Rhein. Mus. 30, 555 flf. an, dass Diodor Ktesias
indirekt (etwa durch Vermittlung des Kleitarchos) benützte. Wer glaubt,
dass Ktesias Niniveh an den Euphrat versetzte (Diod. 2, 7, 2)?
4) M. Hang die Quellen Plutarchs in den Lebensbeschreibungen der
Griechen S. 92 f. ; Schottin observatt. de Flut, vita Artax. p. 3 flf.
5) Friedr. Spiegel Ausland 1877 S. 641 ff. 673 ff. 701 ff. 727 ff.
792 ff. 806 ff.; Euter de Ctesiae Cnidii fide et auctoritate, Gütersloh 1873.
396
Elftes Kapitel.
genauere Nachrichten zu Gebote, wie auch Missverständnissc
durch seine Kenntnis von Sprache und Sitte weniger leichtj
vorgekommen sein dürften. Im Bewusstsein dieser günstigenj
SeUung zog der eitle Manu gegen Herodot und andere Historikerf
scharf los, was die Neueren gegen ihn von vornherein einge-
nommen hat.
Wenn wir die Zuverlässigkeit des reichen Materials a priori
erörtern wollen , ist zunächst der die Vorläufer der Perser
behandelnde Teil abzusondern; für diesen benützte Ktesias,
wie die Sprachwissenschaft konstatieren kann, das persische
Königsbuch ^). Wie gross die Glaubwürdigkeit dieser offiziellen
Clironik gewesen sei, kann man an den ähnlichen Produkten
der orientalischen Höfe ermessen, wo die ältere Geschichte einj
Gemisch von wenig Wahrheit und sehr viel Dichtung zu sein
pflegt. Sobald jedoch Ktesias zu den Thaten des Kyros ge]
langte, legte er die offizielle Chronik bei Seite und schriet
fernerhin sowohl nach mündlichen Erkundigungen als nacl
Autopsie^), wodurch das seltsame Verhältnis entstand, dass der
persische Hofleibarzt viel weniger den Persern zu Gefaller
schrieb als Herodot, der von loyalen Persern berichtet war;
Die Hoflegende von Kyros findet man bei Ktesias nicht, ii
Gegenteil erklärt er, dass der Ahnherr der Achaemenidei
von niederer Herkunft war. Zu der Eroberung von Aegy{
ten trägt nach seinem Bericht Kambyses nur wenig bei, dem
das Hauptverdienst kommt einem Eunuchen zu. Ueberhaup(
weist der gründliche Kenner der orientahschen Hoflebens
den Eunuchen den ihnen gebührenden Anteil an der Weltg«
schichte zu ^); ebenso entsprach es gewiss den wirklichen Ver
hältnissen, wenn Günstlinge bei ihm eine sehr bedeutende
Rolle^) spielen. Auch Serailgeschichten fanden die gebührende
Beachtung •''). In diesen kloinen Ursachen mit grossen Wir-<
kungen war Ktesias natürüch sehr bewandert; vieles hörte er
1) Spiegel a. O. S. 676 f.; dadurch wird bestätigt, dass ihm wirklichj
die ßaoiXixal Sitpö-epat zu Gebote standen (Diodor. 2, 32, 4).
2) Phot. p. 36 a 1 ff., vgl. Spiegel a. O. S. 792 ff.
8) Phot. p. 36 b 21. 37 a 30. 35. b 32. 40.
4) Phot. p. 38b 35. 39b 31. 40. 41a 24. 40.. 42a 11. b 3 ff. 43 a 6i
Leibärzte 40 a 21. 41 b 10 ff.
5) Phot. p. 39 b 34 ff. 41b 8 ff. 43 b 15.
fierodot und Ktesias. 397
wohl von älteren Kollegen, selbst seine Herrin liess sich herab ihm
manches zu erzählen, i) In wiefern Ktesias' Quellen auf dem
(Jebiete der persischen Geschichte Glaubwürdigkeit besassen,
kann man aus dem Gesagten ermessen. ^) Ob er selbst aber
die ihm zugekommenen Nachrichten treu mitteilte, mit anderen
Worten, ob er nichts fälschte oder unterschlug, ist eine
schwierigere Frage. Dass er dem persischen Hofe niclit
schmeichelte, ^) zeigen die Reste seiner Geschichte ; es lag ja
kein Grund dazu vor, da er im freien Hellas schrieb, im Gegen-
teil könnte der Historiker eher verstimmt gewesen sein, falls er,
was wahrscheinHch ist, Susa nicht aus vollkommen freiem Ent-
schlüsse mied. Wenn Ktesias für jemand parteiHch war, dann
begünstigte er die Spartaner, zu denen ihn seine dorische Ab-
kunft hinzog. ^) Die Eitelkeit endlich, welche ihn trieb, sich
als einen vielverwendeten Diplomaten hinzustellen, thut der
Richtigkeit der betreffenden Ereignisse keinen Eintrag ^), Somit
wird der Schluss nicht abzuweisen sein, dass Ktesias' Buch
einen bedeutend höheren Wert als das Werk Herodots besessen
1 laben muss.
Trotz der scharfen Polemik, welche Ktesias gegen den
Inhalt der herodotischen Geschichte richtete, verkannte er
die äusseren Vorzüge derselben nicht, sondern strebte sie auch
I hierin zu überbieten. Wie er durch orientalische Wunderge-
I chichten ^) und Novelletten '^) für die Unterhaltung der Leser
)! sorgte, so legte er seine Geschichte mindestens in den Teilen,
j welche er auf Grund eigener Erfahrung eingehend berichtete,
nach Art eines Romanes an ^). Ein Meisterstück spannender
1) Phot. p. 42 b 12.
2) Die Ereignisse des zweiten Perserkrieges hat natürlich erst Photios
(39 a 40 ff.) verwirrt.
3) So meinte Lucian, histor. conscrib. 39.
4) Klearchos besprach, er sehr freundlich (Plut. Artax. 13).
5) Xenophon (Auab. 2, 1, 7) straft seine Behauptung, dass er zu den
Zehntautend geschickt wurde, Lügen (Plut. Artax. 13). Man sagte Ktesia.s
nach", er habe durch Fälschung eines Briefes erreicht, dass er mit Konon
unterhandeln durfte (Plut. Artax. 21).
6) Phot. p. 36 b 9 fl'. 33 flf. 38 a 3 ff.
7) Frg. 25—28.
8) Plutarch. Artax. G -npöc to [j.uÖ'wSec iial 8ptx|xanx6v IxtpEirofAEVOi;;
Demetr. ip|XYjv. 215 f.
398 Elftes Kapitel.
Erzählung war der Bericht, wie ein Perser der Königin Pary-
satis den Ausgang der Schlacht bei Kunaxa meldete^). Die
Ausdrucksweise war klar und anmutig, doch hielt Ktesias in
Wiederholungen und Pleonasmen nicht Maass^). Im Allge-
meinen stand sein Stil hinter dem herodotischen zurück. So-
wohl dieser Mangel als der grosse Umfang des Werkes veran-
lasste, dass es, obwohl Xenophon es in der Anabasis citierte,
Plato dasselbe an Stelle Herodots benützte ^) und Fälscher
Gewinn daraus zogen*), gegen Herodot allmälig zurücktrat
und endlich unterging. Nicht einmal der dreibücherige Aus- i
zug der Pamphila ist erhalten^). fll
Unter den Grenzvölkern des persischen Reiches erregte
ausser den Aethiopen kein anderes das Interesse der Griechen
in so hohem Grade wie die Inder. Herodot hatte von Indien
nicht viel mehr als mehrere Namen und einige Wunderge-
schichten mitzuteilen vermocht; musste nicht ein Mediciner,
der sich dem geheimnisvollen Lande verhältnismässig so nahe
befand und heilsame Kräuter daraus erhielt, nähere Kunde
einzuziehen aus allen Kräften streben ? Nachdem er selbst einen
Teil (vielleicht das Pendschab) bereist und sonst durch persisd^Mi
Kaufleute Nachrichten erhalten hatte, *') beschrieb er Indien iHI
einer besonderen Schrift ('IvStxa), welche durch Alexanders Zug
allerdings ihren Wert verlor, ') aber den Griechen den äussersten
Osten zum ersten Male wirklich bekannt machte. Später imr
mehr als Fabelbuch gelesen^) und von Lukianos parodiert^),
1) Demetr. Ipfiirjv. 216.
2) Deraetr. ^pixYjv. 212 ff.
3) Nöldeke Hermes 5, 457.
4) Daraus erklärt sich Polious eTtiatoXT] npöc i^tuxvjpivSav itepl ffjc Kttj-
otoo xXoTC7]5 (Porphyr, bei Euseb. praep. ev. 10, 3, IG).
6) Suidas v. Ila|X(fiX7].
G) Phot, bibl. 72 p. 49b 39 ff. ; vgl. Lassen indische Alterthumskunde
II 636 f.; Spiegel a. O. S. 643, wo der persische Ursprung nachgewiesen
ist, »Sachlich Malte-Bruu Nouvelles annales des voyages, Paris 1819 II 2,
307 ff.; H. H. Wilson notes of the Indica of Ctesias, Oxford 1836; J. W.
Mac Cruindle ancient India as described by Ctesias, Calcutta 1881 (niil
indi.schen Quellen verglichen) und in The Indian Antiquary X. (1881).
7) Vgl. Aristot. bist. an. 2, 1 p. öül a 25. 3, 22 p. 523 a 26. 8, 28 p. 606 a 8.
8) Gell. 9, 4, 3.
9) Uobde der griechische Roman S. 192 A. 2. 193 A.
Herodot und Ktesias. 39g
ist sie gleich dem Hauptwerke durch einen Auszug des Photios
(cod. 72 p. 45 ff.) bekannt, wozu einige Bruchstücke und drei
kürzüch entdeckte Excerpte treten. ^) Photios macht dazu die
merkwürdige Bemerkung, dass die „Indika" mehr jonisch ge-
schrieben seien ; ^) selbstverständhch bediente sich Ktesias selbst
des nämhchen Dialektes, den er übrigens, ein echter Dorier,
von Herodot übernahm, dagegen war die Überlieferung des
Textes beider Werke verschieden, beispielsweise etwa so wie
die des herodotischen in den zwei Handschriftenklassen.
Wie es sclieint, hat Ktesias ferner eigene Erfahrungen und
vielleicht persische Reiseberichte benützt, um ein geogra-
phisches Handbuch zu schreiben; es ist nur durch einige
Citate bekaimt. ^) Endhch gibt es ein medicinisches Excerpt
KiTjaioD TTspl sXXsßöpoo, das freilich auch von einem späteren
Ktesias desselben Geschlechtes herrühren kann.*)
Die Persergeschichte des Kolophonier Deinon^) muss den
Werken des Herodot und Ktesias geglichen haben , weil sie
ihrem ansehnlichen Umfange gemäss^) sehr detailliert war; von
Deinon erfuhr man z. B. ganz genau, was der König Xerxes
ass und trank. Er schrieb, als das Perserreich bestand, weil
er dessen Einrichtungen wie noch vorhanden berichtet, doch
war bereits die Eroberung von Aegypten, welche 340 ^) stattfand
in dem Buche erwähnt (fr. 30). Weil also Deinon so spät
schrieb, bediente er sich der attischen Mundart, welche damals
bereits die andej-en aus der Prosa verdrängt hatte. Das Werk
begann wie die älteren gleichartigen Schriften mit dem baby-
1) Sp. Lambros laToptxa fjiEXeT-fjfJLata, Athen 1884 Kap. 4.
2) Phot. p. 45a 21 ev oic fi.äXXov IwvtCs^
3) 'Ev npcuxu) TiEpinXcuv Steph. B. v. St^ovoc, ev tw TCEptirXu) 'Aoia? Suidas
V. SxtdrtoSei;, tpit-fl ntpi-q-^-tiaziuc, Steph. B. v. Koaözt] (über Umbrien), ev xü)
ä izEpt68ü>v Schol. Apoll. Rh. 2, 1017 (Meursius irspi hpütv), ev ß' 2, 401.
4) Medicorum XXI veteruin et clarorum Graecorum varia opuscula ed.
Ch. F. de Matthaei, Moskau 1808, bequemer bei C. Müller a. O. p. III.
5) Diodor. 2, 20, 3 ; C. Müller fragm. histor. Graec. II 88 ff. Kolo-
phonier heisst er in den Indices des Plinius.
6) Es werden drei ouvta^Etc citiert: ev x^ e xdiv IlEpoatMV xyj? iiptuXTjc
oovxä^Eujc fr. 21, £v ß' xyjc OEUxspac Guvxä^Ecuc fr. 4. ev xw a xyjc xpixY)? ir, 8;
nach einer anderen Einteilung werden £v x-jj irsjxTtxig xwv loxoptuiv und ev
xpixü) nspotxÄv (Athen. 11, 503 f) angeführt.
7) Schäfer Demostlienes und seine Zeit I 437 ff.
400
Elftes Kapitel.
loniscbeii König Ninus (fr. 1). Die Zuverlässigkeit Deinons
wird gerühmt;^) sein Sohn war Kleitarchos, der bekannte Ge-
sehichtssclireiber Alexanders.
Herakleides von K y m e schrieb gleichfalls seine Perser-
gescliichte noch vor denl Untergang des Reiches;^) auch er
schilderte den Luxus des Grosskünigs ausserordentlich eingehend.
Herakleides bediente sich ebenso der attischen Mundart.
1) Cornel. Nepos 9, 5, 4 sagt von ihm: Dinon historicns cni uos pliuiinm
de Persicis rebus credimus.
2) C. Müller IVagm. histor. Graec. II p. 95 ff.; Atlieuaics citiert fr.
lind 4 SV Tolz £K{.'( pa'fO^itMoiz jrapaaxsuaaxixolc.
Zwölftes Kapitel,
Thukydides und. Philistos.
Thukydides: Biographien, Leben, Abfassungszeit seines Buches, religiöse
und politische Ansichten, Zuverlässigkeit, Komposition des Werkes, Eeden,
Stil, Wertschätzung bei den Späteren, Schollen, Handschriften und Ausgaben ;
Philistos und Athanas.
Wiewohl Hörodot die Geschichtsschreibung dadurch zu einer
Kunst erhob, dass er einen innerlich abgeschlossenen Stoff
wählte und für diesen eine gefällige künstlerische Form fand,
wurde er durch die Beschaffenheit seines Stoffes verleitet, von
der streng historischen Darstellung abzugehen. Denn weil
Herodot von den geschichtlichen Ereignissen, die er schilderte,
kein einziges erlebt hatte, ergänzte die Phantasie die Lücke der
Überlieferung. Die Wissenschaft wurde also erst dann wahrhaft
erweftert, wenn mit der Einheitlichkeit des Themas die eigene
Erfahrung sich verband, die im Altertum, wo der Geschichts-
schreiber nicht aus Dokumenten ein Mosaikbild zusammensetzte,
allein eine eingehende und doch nicht halb erdichtete Darstellung
ermöglichte. Diesen Fortschritt machte Thukydides.
Von den biographischen Quellen verdient die anonyme Thukydides-
handschriften beigegebene Biographie, sowie eine Lobrede des Ehetors Aph-
thonios (p. 37, 20 ff. Sp.) keine Beachtung. Wertvoll dagegen ist MapxsXXivou
EX Tcüv sie öoüv.uotSYjV a)(oXt(uv irspl Toö ßtou ahzoö 0ooxo3i8ou xal tt]? zoü
XoYou ISeac. So lautet der Titel im codex Palatinus. Wie er andeutet, hat
Markellinos, vpahrscheinlich eine Person mit dem Ehetor, welcher einen Kom-
mentar zu Hermogenes verfas.ste (Walz , rhetor. Gr. IV 39 ff.) und Schol.
Aeschin. p. 285 Seh. citiert wird, aus Schollen einiges ausgewählt. Man
kann noch drei verschiedene Stücke, die einst Schollen einleiteten (vgl. 1 u.
51 am Ende) unterscheiden: Der Hauptteil §. 1—44 ist aus guten Quellen
geschöpft; angeführt werden Antyllos (22. 36) und Didymos, der indes eine
besondere Biographie nicht verfasste (vgl. Eitter Didymi Chalcenteri opuscula
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. II. ^'^
402 Zwölftes Kapitel.
p. 1 ff. Rud. Scholl Hermes 13, 442 ff.). Dieser Einleitung sind zwei aus
einigen biographischen Notizen und einer Beurteilung der Schreibart bestehende
Stücke angehängt (§ 45—53 und 54—58; § 65 wird Antyllos mit hohem
Lobe citiert, § 58 ein Asklepios). lieber die Ungleichartigkeit der Biographie
vgl. Journal litteraire ä la Haye 1714 vol. IV 429 fl., W. H. Grauert Rhein.
Mus. 1 (1827) S. 169 ff., Wuttke de Thucydide scriptore belli Peloponnes.
Breslau 1839 p. 12, Rose her Klio S. 83, Fr. Ritter Rhein. Mus. 3, 321 tf.,
Schumann de Marcellini quae dicitur vita Thucydidia, Colmar 1879 (Diss.
von Jena). Endlich ist der durch zwei Zusätze vermehrte Artikel des Suidas
zu nennen.
Aus neuerer Zeit verdienen Erwähnung K. W. Krüger Untersuchungen
über das Leben des Thukydides, Berlin 1832 u. epikritischer Nachtrag zum
Leben des Thukydides, Berlin 1839; Röscher Klio L Leben Werk und
Zeitalter des Thukydides, Göttingen 1842. Die eigentliche Kritik der Ueber-
lieferung beginnt mit Ritter a. O.; Eugen Petersen de vita Thucydidis,
Dorpat 1873 führt sie methodisch durch (s. dazu A. Schöne Bursians
Jahresber. 2, 811 ff.). Weiter geht ü. v, Wilamowitz die Thukydides-
legende, Hermes 12, 326ö. (berichtigt von Rud. Scholl Hermes 13, 433 ff.[
vgl. auch R. Hirzel a. O. S. 46 ff. O. Gilbert Philol. 38, 243 ff.).
Thukydides von Athen entstammte einer thrakischel
Fürstenfamilie, welche der berühmte Miltiades, indem
Hegesjpyle heiratete, für die athenische Politik und die griechischij
Bildung gewonnen hatte. ^) Sein Vater Orolos oder Oloros,
wahrscheinlich ein Neffe jener Hegesipyle, besass das athenisch^
Bürgerrecht im Gau Halimus, ^) während seine grossen Bi
Sitzungen, auf denen sich Goldbergwerke befanden, um Skaptehyl^j
an der thrakischen Küste lagen. '^) Thukydides war also nicl
ein Vollblutathener, sondern 'durch seine Herkunft von mancher
athenischen Vorurteil frei, zugleich aber in so günstiger Lage
dass er die Bildungsmittel der Kunststadt sich aneignen könnt«
Man darf annehmen, dass er Protagoras, der aus einer nahe
liegenden Stadt stammte, hörte; von Prodikos lernte er Begriffe
1) Ueber die Verwandtschaftsverhältnisse Krüger S. 3 ff., Röscher S. 89 f.
Müller-Strübing Aristophanes und die historische Kritik S. 637 ff. Die
Mutter des Thukydides benennt Marceil. 2 nach der Frau des Miltiades. Der
Zusammenhang mit den Feisistratiden (Hermipp. bei Marc. 18, vgl. Rühl
Jahrbb. f. PhU. 117, 313 ff.) scheint kombiniert.
2) 'üpöXoo stand nach Didymos (Marcell. 16) auf der Grabstele; 'ÜXopou
bieten eine Inschrift (Bergk Ztsch. f. Alterthumsw. 1846 Sp. 964 A.) und
die gesammte handschriftliche Ueberlieferuug. Tomaschek Sitzungsber.
der Wiener Akad. 60, 390 nimmt als Grundform Varala an.
3) 'AXifjLOüato'; auf der Grabstele (a. O.).
4) Thucyd. 4, 105, 1, vgl. Plutarch. Cim. 4. Miltiad. 14. Fabel Marcell. 19.
Thukydides und Philistos. 4Q3
definieren und verwandte Begriffe scharf sondern. ^) Ura ein
Schüler des Gorgias zu werden, 2) war Thukydides bei dessen
Auftreten zu alt, doch mag er seine Vorträge gehört und die
Schriften studiert haben. Die Alten stellten ferner seit CaeciHus ^)
die Vermutung auf, dass Antiphon ihn unterrichtet habe, indes
besteht der einzige und nicht stichhaltige Beweis in dem warmen
Nachrufe, den der Historiker jenem weihte (8, 68, 1). Seinen
rehgiösen Freisinn endüch leitete man von dem Unterricht des
Atheisten Anaxagoras her. *) Dass Thukydides im Mannesalter
sich am öffentlichen Leben beteiligte und oft ins Feld zog,
lehrt sein Werk auf jeder Seite. ^) Er selbst schweigt darüber
völhg. Als im Jahre 424 Brasidas die thrakischen Besitzungen
der Athener bedrohte, wurde Thukydides wegen des Ansehens,
das er in der dortigen Gegend genoss, als Stratege abgesandt,
kam jedoch zu spät, iim Amphipolis zu retten; es gelang ihm
nur, Eion zu besetzen. Thukydides wurde deswegen als Hoch-
verräter verbannt.*') War er schuldig?^) Die Athener haben
oft nach dem Erfolge geurteilt. Die Haltung, welche Thukydides
in seinem Geschichtswerke einnahm, beweist nichts für ihn, weil er
seine wirkliche Gesinnung nicht zu enthüllen brauchte. Es muss
indes Verdacht erregen, dass er seine Besitzungen offenbar be-
hielt und nachher mit beiden kriegführenden Parteien ver-
kehrte. ^) Wie dem auch sein mag, Thukydides benützte die
1) Antyllos bei Marceil. 36; Spengel auvaYcuyr] zsjyüy p. 53 ff.
gibt Proben.
2) Antyllos bei Marceil. 36. 51. Philostr. epi.st. 13 p. 919 H. Eusebio.s
setzt ihn in das Jahr, wo Gorgias nach Athen kam. (Ol. 88, 1 armen, u.
Synkellos, 87, 4 Hieron., 87, 3 F).
3) Interpol ator des T^yphon Spengel rhetor. III 201, 8.
4) Antyllos bei Marceil. 2.
5) Daher hat Dionys. epist. ad Cn. Promp. 3, 9 mehr Recht, als Marc. 2, 3,
der ihm alle politische Thätigkeit abstreitet. Bei den Quellen seines Werkes
wird davon zu sprechen sein, dass man bestimmte Feldzüge, welche er aus
eigener Anschauung kannte, namhaft machen will.
6) 4, 107, 2., 6, 26, 5. Erfindungen sind Marceil. 46. 55. Anon. 3.
Seine Abneigung gegen Kleon führte man darauf zurück, dass dieser ihn
anklagte (Marcell. 46; vgl. 26).
7) W. Oncken Sybels histor. Zeitschrift 10, 289 ff. Herm. Hiecke
über den Hochverrath des Geschichtsschreibers Thukydides, Pr. des Fr. Wer-
derschen Gymn. Berlin 1869.
8) Grote und Mure glauben an Verrat; Oncken und Müller -Strübing
26*
404 Zwölftes Kapitel.
unfreiwillige Müsse, um von allen Seiten Nachrichten über die
Kriegsereignisse zu sammeln und die wichtigsten Schauplätze zu
besichtigen; unter anderem besuchte er jedenfalls Unteritalieu
und Sicilien. ^) Volle zwanzig Jahre blieb Thukydides seiner
Vaterstadt fern, erst im Jahre 404 durfte er mit den übrigen
Verbannten kraft des Friedensvertrages heimkehren, ^) Sonst
wissen wir nur, dass er zu Athen in dem Familiengrabe Kimons
begraben lag^) und einen Sohn Timotheos hinterliess. *) Die
alten Literarhistoriker erschlossen aus dem unvollendeten Zustande i
seines Werkes, dass der Historiker eines plötzlichen Todes ge-j
storben sei. ^) Weil er ferner des makedonischen Königs Archelaosj
freundlich gedenkt, versetzte man ihn an dessen Hof, *') vvorauj
sich wiederum die Annahme schloss, dass er seinem dort ver-
storbenen Landsmann Euripides die Grabschrift fertigte. ^) Wannj
und in welchem Alter Thukydides sein Leben beschlossen habe,]
darüber gibt das Werk selbst einige Andeutungen. Er stand]
nämlich bei Beginn des Krieges bereits in reifem Mannesalter, ^)
geben die Möglichkeit zu. Schol. Thucyd. 5, 26 behauptet, dass Thukydides]
in den Peloponnes ging.
1) Timaios übertrieb dies zu der Behauptung, dass Thukydides in Italien
wohnte und starb (Marcell. 25. 33). Der Thukydides, welcher auf Äigina
Wuchergeschäfte betrieb, war gewiss ein anderer (Marcell. 24. Anon. 7).
2) 6, 26, 5, wie Pausanias 1, 23, 9 versichert, auf ein Dekret des]
Oinobios hin (vgl. K. Scholl Hermes 13, 438 ff. Gilbert Philol. 38, 243 flf.
Müller-Strübing Aristophanes und die hist. Kritik S. 627 f.), s. jedoch]
Andocid. myster. 73 — 80, besonders 80.
3) Polemon bei Marcell. 17 (statt 'HpoSotoo ist 'OjioXoa zu lesen), vgl.
65. Pausan. 1, 23, 9.
4) Polemon bei Marcell. 17.
5) Ermordet in Athen (Didymos bei Marcell. 32 f. aus Zopyros und|
Kratippos, Pausan. 1, 23, 9) oder in Skaptehyle (Plutarch. Cim. 4, vgl. Mar-'
cell. 32. 45, 55, wo eine Vermittlung versucht ist); da die Grabstele mit
einem txpiov verziert war, schloss man, dass sie ein Kenotaph bezeichne*
ol jiev Marcell. 30 f.),
6) Vgl. R. Scholl a. O. S, 446 ff., auch Prell er ausgewählte Auf-
sätze S. 106 f. Marcell. 29 aovexpovtoe. — ^^aofj.dad'Y] bezieht sich, denke ich,
auf xixapxoz äXXoc 6. nourjfrj?.
7) Vita Euripid. p. 5, 1 N. (Thukydides oder Timotheos). Anthol. Palat.
7, 45 cod. C. Athen. 5, 187 d.
8) 5, 26, öerteßiiuv 81 8iä ttavTic aüxoü (xoö itoX^ftoo) aiafl-avoixevoc xs x^
4jXixiqt (also nach griechischen Begriffen über dreissig Jahre alt). Apollodoros
liess daher seine &x}jiy| mit dem Beginn des peloponnesischen Krieges zusam-
menfallen (entstellt Pamphila bei Gell. 15, 23, vgl. Diels Rhein. Mus. 31,
Thukydides und Philistos. 405
SO dass er die perikleische Zeit nicht bloss erlebte, sondern auch
mit Verständnis durchlebte. Nach seiner Rückkehr genoss
Thukydides die bürgeriichen Rechte gewiss mehrere Jahre, in
denen er an dem zweiten Teile seines Werkes arbeitete. Ein
bestimmtes Jahr des Todes ist aber nicht festzustellen. Nach
2, 100 scheint der Geschichtschreiber den König Archelaos,
welcher 399 starb, überlebt zu haben; dagegen kannte er, als
er 3, 116 schrieb, den Aetnaausbruch von 396 noch nicht.
Doch ist es möglich, dass dies zu den Spuren der früheren
Abfassung der ersten Bücher zu rechnen ist.
Ein widriges Geschick hat Thukydides missgönnt, die
Geschichte des peloponnesischen Krieges sowohl äusserlich zu
Ende zu führen als in den Einzelheiten durchzuarbeiten. Letzteres
wäre um so notwendiger gewesen, als die Niederschreibung des
Erhaltenen über einen langen Zeitraum sich erstreckte. Wenn
Thukydides am Eingange versichert, sofort beim Beginne des
Krieges die Sammlung von Notizen begonnen zu haben, so ist
damit allerdings nicht gesagt, dass er auch an die Darstellung
der Ereignisse sogleich Hand anlegte, ^) indes kann er nicht erst
nach Beendigung des ganzen Krieges ^) das Buch geschrieben
haben. Ullrich hat aus mehreren Stellen der ersten Bücher
nachgewiesen, dass Thukydides den Krieg der Peloponnesier und
Athener mit dem Frieden von 421 abgeschlossen meinte und,
als er zu schreiben begann, nur den archidamischen Krieg im
Auge hatte. ^) Dieses Resultat wurde durch die folgende Polemik
modificiert, aber im Ganzen nicht erschüttert.^) Ludwig
48 f.). Nach Marceil. 34 (Xi^txai) starb er über fünfzig Jahre alt, was Diels
Rhein. Mus. 31, 50 und Hermes 11, 292 deutet: zwanzig Jahre, nachdem er
das Strategenamt erhielt (wozu ein Alter von über dreissig Jahre erforderlich
war). Oder setzte dieser Grammatiker die äxfiYi in das Jahr der Strategie
und betrachtete 410 als das Todesjahr? Johann Stahl de morte Thuc,
Münster 1875.
1) Vgl. Sadee Dissertatt. Argentor. II 264.
2) Dionys. de Thuc. jud. 6. 12, vgl. Marcellin. 45. Aber in Skaptehyle
zeigte man die Platane, unter welcher er sein Werk geschrieben haben soll
(Marcell. 25, vgl. 46 f.), wie am Ida eine Homerpinie stand. Nach Vita
Thucyd. 8 (epcxai) ist nur das Proömium nach dem Kriege verfasst.
3) Ullrichs Abhandlungen sind : Beiträge zur Erklärung des Thukydides
Pr. des Johanneums Hamburg 1846. Beiträge zur Kritik des Th. 1850. 1851.
1852, Beiträge zur Erkl. u. Kritik des Th. 1862.
4) Gegen Ullrich sprachen sich aus C lassen und Stahl in ihren
Ausgaben; J. Welti über die Abfassungszeit des Thucydideischen Geschichts-
406 Zwölftes Kapitel,
Cwiklinski versuchte in die Entstehungsgeschichte des Buches
noch tiefer einzudringen^), wodurch er auf die neueren Forschungen
sehr anregend gewirkt hat, ohne jedoch überzeugendes zu
bieten. *)
In der ausführhchen Einleitung denkt Thukydides nicht
an eine rechtfertigende Auseinandersetzung, warum er den zehn-
jährigen Krieg mit der durch einen erhebhchen Zwischenraum
getrennten sicilischen Expedition und ihren verderblichen Folgen^)
wie einen und denselben Krieg betrachte, ebenso wenig wird
gerechtfertigt, dass er gerade bei der Epidamnosfrage beginnt,
da doch die Athener und Spartaner schon vorher manchen
Kampf unter einander gehabt hatten. Würde der Historiker
ferner auf den ganzen Krieg zurückblicken, so brauchte er seine
These, der pelonnesische Krieg sei das grossartigste Ereignis
der griechischen Geschichte, nicht so ausführlich zu verteidigen.
Kurz, die Einleitung passt nur für eine Geschichte des archida-
mischen Krieges. ^) Am Anfange des zweiten Buches spricht
Werkes, Winterthur 1870, Heinr. Welzhofer Thukydides und sein Ge-
schichtswerk, München 1878; fär Ullrich traten ein Poppo in seiner Aus-
gabe (vgl. de historia Thucydidea, Leipzig 1866), Ludwig Ztsch. f. österr.
Gymn. 1864 S. 497 flf. und Jul. Steup quaestiones Thucydideae, Bonn 1868.
1) Quaestiones de tempore quo Thucydides priorem historiae partem
composuerit , Giessen 1873 (Diss. v. Berlin), vgl, auch L. Breitenbach
Xenophons Hellenika, Berlin 1873 I S. 157 f. u. Jahrbb. f. Phil. 107, 186 ff.
2) P. L e 8 k e übei* die verschiedene Abfassungszeit der Theile der
Thukydideischeu Geschichte, Berlin 1875 (Pr. v. Liegnitz); Fri'edr. Zimmer
mann quaestiones de tempore quo historiarum libri a Thucydide compositi
quoque editi sint, Halle 1875; Jul. Helmbold über die successive Ent-
stehung des Thucydideischen Geschichtswerkes, Colmar 1876 (Pr, v, Geb-
weiler); Ad. Schmidt das perikleische Zeitalter II 365 ff.; O. Struve
de compositi operis Thucydidis temporibus, Halle 1878; F. Vollheim zur
Entstehungsgeschichte des Thucydideischen Geschichtswerks, Eisleben 1878;
Ed. Ippel quaestiones Thucydideae, Halle 1879.
3) Ueber den Ausdruck SSs 6 TCoXefjLO«; u. dgl. Herbst Philol. 38, 521 ff.
Friedr. Kiel quo tempore Thucydides priorem operis sui partem composuerit, Han-
nover 1880 (Diss. V. Göttingen), Gg. Meyer quibus temporibus Thucydides
historiae suae partes scripserit, Nordhausen 1880 (Diss. v. Jena) p. 11. Da
das Imperfekt, welches bei Thukydides auch zur Zeit des Niederschreibens
noch fortdauernde Ereignisse bezeichnet, missverstanden wurde, sei erwähnt,
dass mittelalterliche Chronisten sich dieselbe Freiheit gestatteten (Scheffer-
Boichorst, Beilage zur Allgem. Ztg. 1884 S. 1050).
4) Auch erwartete man 1, 23, 3 einen Hinweis auf die der sicilischen
Expedition verhängnisvolle Mondsünsternis ; 1, 10, 2 ist ungenau.
I
I
Thukydides und Philistos. 407
Thukydides von einem zusammenhängenden Kriege und zwei
Stellen desselben müssen vor 414 geschrieben sein.^) Dagegen
linden wir im dritten Buche keine solchen Aeusserungen, im
Gegenteil zwei, welche die Fortsetzung des Krieges voraus-
setzen. 2) Das gleiche ist von dem vierten Buche zu sagen. '^)
Nachdem Thukj^dides sodann den Frieden des Nikias erzählt
hat, kündigt er ausdrückHch an, dass er hier nicht abbrechen,
sondern bis zur Schleifung der athenischen Mauern fortfahren
werde (26); zugleich nennt der Historiker, weil ein neuer Ab-
schnitt beginnt, seinen Namen abermals und bringt seine Grund-
sätze in Erinnerung (20).
Es war Thukydides nicht beschieden, seinen Plan auszu-
führen; eben mit den Ereignissen des Jahres 411 beschäftigt,
musste er die Feder für immer niederlegen und so blieb das
Werk ein Torso. *) Aber auch dem bereits Geschriebenen hatte
Thukydides nicht die endgiltige Form gegeben. Als nämhch
die sicilische Expedition und der dekeleische Krieg das Gesammt-
bild vollständig veränderten, verschob Thukydides, indem er
in seiner Arbeit unbeirrt fortfuhr, die zeitgemässe Revision der
ersten Bücher auf später ; vorläufig legte er nur einige Nach-
träge in sein Manuskript ein. Der umfangreichste wurde der
Einleitung angehängt; sobald nämlich Thukydides den Ent-
scheidungskampf von Athen und Sparta zur Grundidee seines
Werkes zu machen begonnen hatte, fühlte er sich genötigt, auch
das Entstehen und die allmählige Verschärfung des Gegensatzes
zu schildern, zumal nachdem Hellanikos in seiner „Atthis" die
den Perserkriegen folgende Zeit kurz und flüchtig dargestellt
1) II 54, 3. 57. 2; dagegen sind die Versuche, II 9, 2 (wegen V 82, 1.
vni 3, 2) und 48, 2 (Schol. Aristoph. Av. 997) chronologisch zu bestimmen,
unsicher.
2) III 82, 1. 86, 4, nicht sicher 98, 4. 113, 3. Müller-Strübing
thukydid. Forschungen S. 42 flf. nimmt an, III 104 wisse Thukydides noch
nicht, dass Nikias 421 eine Brücke von Delos nach Kheneia schlug.
3) IV 48, 5 (vgl. Diodor. 13, 48). 81, 2; unsicher 74, 4 (Diodor. 13, 65).
4) Ueber die Ansicht des Dionysios (de Thuc. 12, vgl. 10), dass er die
Geschichte absichtlich unvollendet liess, braucht man nicht zu diskutieren.
Wegen y£TP"?^ 5, 26, 1 vermutet Ludwig Jahrbb. f. Phil. 95, 152, dass
der Schluss von Thukydides geschrieben worden, aber in seinem Nachlass
verloren gegangen sei; vgl. auch Müller-Strübing a. O. S. 73 flf.
408 Zwölftes Kapitel.
hatte (I 97, 2); aus diesen Gründen wurden I 89 — 118^) eing'
fügt und zwar geschah dies, wie die Nennung des Hellanikot.
zeigt (S. 361), nach dem, Ende des Krieges. Im übrigen dürfte
Thukydides nicht mehr als zwei Zusätze, welche psycliologisch
leicht erklärbar sind, gemacht haben: In dem einen (II 65,
11 — 13)^) will er Perikles gegen die Vermutung, dass dieser die
sicilische Expedition gleichfalls unternommen hätte, schützen ;
II 100, 2 steht ein Nachruf auf den König Archelaos, mit dem
er höchst wahrscheinlich persönlich bekannt war. Bei einer
genaueren Durcharbeitung hätte Thukydides jene Spuren der
früheren Auffassung entfernt und, wie dies seine Art wc^fl
sentenziöse Anspielungen auf die späteren Ereignisse einge-
flochten.
In anderer Weise zeigt sich die Unfertigkeit der nach
415 geschriebenen Abschnitte. Die Geschichte der sicilischen ■
Expedition arbeitete Thukydides in dem Bewusstsein , dass sie
die Glanzpartie seines Buches werden würde, mit grosser Sorgfalt
aus; er eilte augenscheinlich zu diesem interessanten Abschnitte
zu gelangen, weshalb er die antiquarische Einleitung aus Antiochos
falsch excerpierte und die uninteressante Periode der Unter-
handlungen und des latenten Krieges ein wenig vernachlässigte.
Hier waren ja trockene Vertragsurkunden einzufügen und poli-
tische Reden nicht am Platze. Etwas anders liegt die Sache
bei dem achten Buche. ^) Hier fehlen direkte Reden gänzHch,
1) Die Episode auf I 97 — 118 zu beschränken (Cwiklinski a. O.
p. 18 ff. A. Kirchhoff Hermes 11, 371), könnte höchstens I 93, 5 veran-
lassen ; doch scheint dort der Geschichtsschreiber die Niederreissnng der
Mauern vorauszusetzen.
2) Es ist nicht notwendig, dass »oan die vorhergehenden Paragraphen
dazu rechnet; § 7 wäre, von der sicilischen Expedition gemeint, recht schwach
ausgedrückt.
3) Ant. .lerzykowski octavo historiae Thucydideae libro extremam
manum non accessisse demonstratur, Breslau 1842; W. Mewes Untersuchungen
über das achte Buch der thukydideischen Geschichte, Pr. v. Brandenburg 1 868.
Friedr. O. Dietrich quaestiones Thucydidiae, Halle 1873; Paul Hellwig
de Thucydidei operis libri Vin. indole ac natura, Halle 1876; Fellner
Forschuugs- und Darstellungsweise des Thukydides gezeigt an einer Kritik
des achten Buches, Büdingers Untersuch, aus der alten Geschichte, H. 2. Wien
1881; Fr. J. Cüppers de octavo Thucydidis libro non perpolito, Münster
1884 sucht nachzuweisen, dass auch andere Bücher Spuren der Un Vollendung
tragen.
Thukydides und Philistos. 4Q9
obgleich Veranlassungen dazu nicht gemangelt hätten ; ausserdem
ist die Erzählung lückenhaft und unklarer als man bei Thukydides
gewohnt ist. Im UrteiP) sowohl als im Ausdruck 2) erscheint
eine gewisse Unsicherheit ; an anderen Stellen hingegen drückt
Thukydides seine Ansichten über Verfassung 3) und einzelne
Personen^) unverhohlener als sonst aus. Diese Eigentümhchkeiten
fielen bereits den Alten auf, von denen manche das achte Buch
deswegen der Tochter des Thukydides oder seinen Fortsetzern
Xenophon und Theopompos zuschrieben.'^) Davon kann jedoch
keine Rede sein teils weil Thukydides am Ende jedes Jahres
sich zu nennen fortfährt teils weil seine ausgeprägte Individualität
auch hier nicht zu verkennen ist.") Von dem achten Buche
liegt also nur das Koncept vor. Wenn nun auch die Be-
schreibung des siciüschen Feldzuges von dem Vorhergehenden
wie von dem auf sie Folgenden sich hinsichthch der Aus-
arbeitung abhebt, kann doch Thukydides dieselbe nicht als ein
besonderes Werk abgefasst haben. ^) Denn dieser Krieg ist
einerseits von dem Dekeleischen auf keine Weise zu scheiden,
andererseits hängt seine Vorgeschichte mit dem archidamischen
Kriege enge zusammen.
Thukydides war durch verschiedene günstige Verhältnisse
wie geschaffen zum Historiker: Durch seine Geburt war er
zwischen Hellenen und Barbaren, durch sein Lebensgeschick
zwischen die kriegführenden Parteien gestellt; grosser Privat-
besitz gewährte ihm mit der Müsse die Möglichkeit, sich Nach-
richten von allen Seiten zu verschaffen und selbst Reisen zu
unternehmen. Dazu kamen militärische Erfahrung und ein unge-
wöhnhches politisches Talent. Im Vollgefühle dieser günstigen
Stellung , worin im Altertum nur Polybios mit ihm wetteifert,
trat er auf, um ein XTyjjia st? aet (I 22, 4) zu schaffen und
seinen Lesern nicht augenblickliche Unterhaltung, sondern Be-
1) Aoxsl fioi, tly.öz, Xk'^ziw. kommen ungewöhnlich häufig vor.
2) Jerzykowski p. 14 ff.; Dietrich p. 14 ff.; Hellwig p. 42 ff.
3) 24, 4 ff. lobt er die Spartaner, 97, 2 die gemäs.sigte Demokratie.
4) Z. B. 68 Antiphon, 73, 3 Hyperbolos.
5) Marceil. 43; vgl. Vita 8.
6) Krüger Dionyjsi historiogr. p. 266 ff. Leben des Thukj^dides S. 74 ff.;
Poppo 11 1, 77 ff. und Gö Her I 35 ff. in ihren Ausgaben.
7) So Cwiklinski Hermes 12, 23 ff., Zimmermann a. 0. und
G. Meyer p. 18 ff. (bestritten von Struve p. 21 ff.).
410 Zwölftes Kapitel.
lehrung zu gewähren , denn die Geschichte galt ihm als Lehr-
meisterin der Zukunft, ^) eine Ansicht, welche seitdem die alte
Geschichtsschreibung beherrschte.
Wir haben bei Herodot gesehen, wie der religiöse Stand-
punkt seine Auffassung der Geschichte beeinfiusste ; Thukydides
unterscheidet sich ganz von ihra.^) Zwar glauben beide an die
persönlichen Götter nicht und wissen, was von den Sonnen -
und Mondsfinsternissen zu halten sei. ^) Dagegen fehlt Thukydides
das religiöse Gefühl, welches Herodot erfüllt, gänzlich ; er glaubt,
weder an Orakel noch an Wunder und selbst die unklare Tych«
zu nennen überlässt er lieber den Personen, welche er reden(
einführt. Nichts desto weniger äussert sich Thukydides mil
Rücksicht auf sein Publikum sehr vorsichtig.*) Ausserdei
rechnet er gleich Macchiavelli mit den religiösen Empfindungei
wie mit einem politischen Faktor, weshalb er die Abnahme dei
Gottesfurcht bedauert. ^) Thukydides selbst beurteilt die Hand-
lungen der Bürger vom Gesichtspunkte des Nutzens (Sopi'fspov),
nicht der Gerechtigkeit (Stxatov). Man braucht nicht sentimenti
zu sein , um sich über die Ruhe zu entsetzen , mit welche^
Thukydides von den Massenmorden gefangener Griechen spricht.*
Als es sich nm die Hinschlachtung des schuldlosen Demos voi
Mytilene handelt, haben seine Athener nur darüber eine Meinungs
Verschiedenheit, ob das Gemetzel räthch sei oder nicht. Aucl
bei der Verhandlung von Melos wird das sittliche Moment nichj
hervorgehoben. Wer MacchiaveUi kennt, wird in dieser Gleicl
giltigkeit wiederum eine frappante Ähnlichkeit zwischen beider
Historikern finden.
1) I 22, 4 ooot 8i ßouXYjOOVtai tcüv te Ysvofievtuv xö orx^zq oxortslv xa
TÄv (AsXXovKwv nozi auö-i? xata tö äv^ptuKEtov totoutcuv xal itapa^X-fjoimS
eoEod'ai, ü)tf(EX'.jj.a xpiVEiv auxa ftpxouvTa»^ l^ti ; II 48 öccp' (uv xtc oxojtwv, Etitoi
xal auö-ti; STCtTCeao:, [xciXiox' äv tyoi xi Tzpozi^uxz p.V] U'(votl\i, xaüxa SfjXiuaw.
2) Klix Thucydides und die Volksreligion, ZüUichan 1864; Bocki
ha mm er die sittlich -religiöse Weltanschauung des Thukydides, Tübingei
1862 (Pr. V. Urach); Ed. Voss de zö^q Thucydidea, Düsseldorf 1879.
3) II 28. VII 50, 4 ; vgl. H e i s de eclipsibus apud Thucydider
Köln 1834.
4) n 8, 2. 17, 2. 47, 4. 54, 3. III 96. V 16, 2. 26, 4. VI 27, 3,
Classens Ausgabe I S. LXI ; offener spricht er V 103, 2.
6) n 68, 4 f. III 82, 6.
6) Z. B. m 68. IV 67, 4. V 16. 32, 1. 116, 4.
Thukydides und Philistos. 411
Beide haben ferner dies gemein, dass man sie keiner der
politischen Parteien ihrer Zeit zurechnen kann, weil sie ohne
Voreingenommenheit eigentlich nur vor einer Regierung, die
besonnen und kräftig geführt wird, gleichgiltig welchen Namen
sie trägt, Achtung haben. Wiewohl also Thukydides im Herzen
mehr der Aristokratie als der unstäten Demokratie ^) zugethan
war, missbiiligte er den Fanatismus der Ohgarchen und trug
Perikles , dem kraftvollen zielbewussten Herrscher des Demos,
aufrichtige Bewunderung entgegen; dennoch lesen wir bei ihm,
dass Athen nie so gut regiert war wie zur Zeit der gemässigten
Demokratie, wie sie 411 kurze Zeit bestand. 2)
Eine ähnliche Stellung nahm Thukydides zu den krieg-
führenden Parteien ein. Wiewohl der Athener naturgemäss
gegen seine Mitbürger wohlwollender gestimmt war, als gegen
die Spartaner, bemühte er sich wenigstens, die Unparteilichkeit
zu wahren. Gylippos und noch mehr Brasidas werden, weil
sie vortreffliche Generäle waren, obgleich Athen dadurch das
grösste Unheil erwuchs, mit unverkennbarem Vergnügen dar-
gestellt; hingegen fühlt man vor den Schlachten von Syrakus
eine gewisse Ironie durch, wenn Thukydides auf das Flotten-
wesen der Peloponnesier zu sprechen kommt. Auf der anderen
Seite wird die Zerfahrenheit des athenischen Volkes, welche der
Kriegführung schädlich war, nicht verhehlt ^). So hat denn
Thukydides aufrichtig und ohne Heuchelei gesprochen, wenn
er versichert, dass er die Ereignisse nicht oberflächlich und
willkürhch dargestellt habe (I 22, 2). Die Alten priesen last
ausnahmslos die Unparteilichkeit des Thukydides^). In neuerer
Zeit wurde gegen diese Ansicht Einsprache erhoben und, mag
auch MüUer-Strübing ^) vielfach in das entgegengesetzte Extrem
1) Ueber OKtp «piXel Srjfxoc rcoielv und ähnliche Ausfälle F e 1 1 n e r
Forschungs- und Darstellungsweise des Th. S. 31.
2) Kort um zur Geschichte hellenischer Staatsverfassungen, Heidelberg
1821; Heinr. Colombel Thucydidis de reipublicac constitueudae et admini-
strandae ratione quae fiierit sententia, We^lburg 1871 f^Pr. v. Hadamar).
3) S. B. II 21, 2. 3. 69, 1. 2. 65, 10 ff. HI 36, 4. IV 28, 5. VI 63, 2.
4) Dionys. de Thucyd. jud. 8 (anders ad Pomp, de Plat. 3). Plutarch.
malign. Herod. 3; Joseph, contra Apion. 1, 2 ist tendenziös. Ungünstig Vita.
Thucyd. 4.
5) Aristophanes und die historische Kritik; Leipzig 1873 und thukydi-
deische Forschungen, Wien 1881; vgl. auch O. Kämmel Comment. phil.
Script, semin. philol. reg. Lips. sodales, Leipzig 1874 p. 255 ff. Karl Haupt
de Thucydidis quam vocant fide historica, Hanau 1875.
412 Zwölftes Kapitel.
verfallen , so ist doch jedenfalls die ideale Auffassung der
früheren Gelehrten nicht haltbar. In erster Linie dreht sich
der Streit darum, ob Thukydides Kleon Unrecht Ihut, wenn er
ihn als Friedensstörer hinstellt, und ob dies aus persönhcher
Gereiztheit geschieht *). Er ist für uns nicht entscheid bar,
sicherhch aber fiel die bürgerliche Ehrenhaftigkeit des Volks-
führers für Thukydides bei der Beurteilung seiner staats-
männischen Fähigkeit nicht ins Gewicht.
Angenommen nun, dass der Historiker das ihm vorliegend
Material, wenn auch nicht mit übermenschlicher Objektiviti
so doch in treuer ehrenwerter Weise benützt hat, war jenes
sich so zuverlässig, dass er die Wahrheit überall sagen könnt
Den Quellen nach war Thukydides günstiger als Herodot g\
stellt, weil er, wenn wir von der Einleitung • und wenig
Episoden absehen, nur von Ereignissen, die er selbst erlebt hatte
oder von Augenzeugen erfahren konnte, handelte. Nach sein
eigenen Versicherung (I 22, vgl. V 26) begnügte er sich nie
mit den ihm beiläufig zugekommenen Berichten, sondern z
von beiden Parteien und von verschiedenen Individuen Kun
ein. Da ergab sich natürHch, dass die Berichte je nach der
Gedächtniskraft oder der Parteistellung der Erzähler abwichen;
besonders schwierig war die Aufgabe , das Bild eines v^H
wickelten Gefechtes aus den Detailangaben der Einzelnen ziff!
sammenzusetzen (VII 44). Thukydides wusste auch recht gut,
was für eine Bewandtnis es mit den Verlustangaben habe (5, 74),
Ueberhaupt pflegen Zahlen nur dann angegeben zu werden,
wenn sie aus zuverlässiger Quelle stammten oder eine Nach-
prüfung möglich war ^),
Thukydides war also oft auf Kombinationen angewiesen, |j
wer wüsste aber nicht, wie oft das Wahrscheinliche und die
Wirklichkeit nicht zusammenfallen? Manchmal ist es ihm
jedoch nicht einmal geglückt, eine glaubwürdige Schilderung zu
i
de
1) Besonders V. 16 Ysvo|j.evY)? Yjoü^^iac xatatpaveotepoc vo}JLtC">v 5v slvai
xaicoüpY<"V xal curiototepo? SiaßäXXcuv. Die ältere diese Frage ])ehandelude
Literatur ist bei K. Fr. Hermann griech. Staatsalterthümcr § 163, 9 und
W. Vischer kleine Schriften I 415 flf. verzeichnet; vgl. Max Büdinger
Kleon bei Thukydides, Sitzungsber. der Wiener Akad. 96, 367 flf. (für Kle(.n
günstig).
2) Z. B. V GS.
Thukydides und Philistos. 413
entwerfen, weil die genaue Ortskenntnis fehlte. So gil>t die
Belagerung von Plataiai in der Form, welche Thukydides bietet,
'/AI vielen Bedenken Anlass^). Ebenso sind seine Ortsbeschrei-
bungen, speciell von Inseln, die er wahrscheinhch vom Schiffe
aus sah, manchmal unkorrekt ^). Ausserdem beeinträchtigt die
ünvollständigkeit des Materials nicht selten die Treue des
Bildes. Ueber die Athener standen ihm, wie es natürlich war,
reichlichere Mitteilungen zu Gebote als über die gegnerische
Seite, selbst was die Kriegsmittel (II 13) anlangt. Ferner tritt
die innere Geschichte Athens zu sehr zurück^), obgleich sie auch
auf die Kriegsvorgänge oft Einfluss übte. Dass Thukydides
überhaupt von Vollständigkeit weit entfernt ist, zeigt ein Ver-
gleich mit den übrigen Quellen des peloponnesischen Krieges.
Ist Thukydides seinem Vorgänger durch die Beschaffenheit
des Gegenstandes weit überlegen, so möchte dies bezüglich
seiner Behandlung der älteren Geschichte ^) nicht unbedingt zu
behaupten sein. Während nämlich Herodot auf die Heran-
ziehung der sagenhaften Zeit so gut wie ganz verzichtet, ist
Thukydides nicht so skeptisch, sondern er betrachtet die epischen
Gedichte wie historische Quellen , bei denen nur poetische
ITebertreibungen in Abzug zu bringen seien. ^) Abgesehen von
dieser Voraussetzung ist die Methode, mit welcher er ein Bild
der ältesten griechischen Geschichte entwirft, wahrhaft bewun-
derungswürdig. Aus den Epen werden kulturhistorische und
nationalökonomische Folgerungen gezogen, zu deren Bestätigung
alte Gebräuche der thukydideischen Zeit ^) und selbst die Ergeb-
nisse von Ausgrabungen dienen müssen. Für die spätere Zeit
1) G. Cox history of Greece II 603 ff. Paley Journal of philology
10, 8 ff. Müller-Strübing Jahrbb. f. Philol. 131, 289 ff. (er zieht andere
Folgerungen daraus).
2) Sphakteria E. Curtius Peloponnesos II 179; Thera Kiepert Vor-
bericht zum neuen Atlas von Hellas S. 2; Kythera E. Weil Mittheil, des
deutschen arch. Inst. V 240 f.
3) Müller-Strübing Aristophanes und die historische Kritik S. 385 ff.
4) Gust. Glogau die Entdeckungen des Thukydides über die älteste
Geschichte Griechenlands, Nenmarkt i. Westpr. 1876; U. Köhler Commen-
tatt. in hon. Mommseni, Berlin 1877 p. 370 ff.; Ad. Bauer Themistokles.
Marburg 1881 S. 28 ff.
5) I 10, 3. 11, 3. 21, 1.
6) I 5, 2. 6, 2. 3, 5. c. 7.
414 Zwölftes Kapitel.
I
4
benützt der Historiker hauptsächlich Herodot ^) , aus dessen
Notizen er sogar chronologische Schlüsse zu ziehen wagt. Doch
polemisiert er wiederholt stillschweigend gegen ihn, wie auch
gegen andere^). Die Pentekontaetie^) ist nicht in allem glaub-
würdig dargestellt.
Die Verschiedenheit des Stoffes bedingte zugleich, dass die
Komposition des thukydid eischen Werkes von dem des
herodotischen vollkommen abweicht. Weil der Historiker einen
bestimmt abgegrenzten Gegenstand gewählt hatte, durfte
sich keine erheblichen Abschweifungen mehr gestatten, nachdei
er den eigentlichen Krieg zu erzählen begonnen hatte
ältere Geschichte Siciliens (VI 1 ff.), welche wahrscheinlich dem
Buche des Antiochos entlehnt ist, hängt, indem die ethno-
graphischen Verhältnisse der Insel von politischer Bedeutung
waren , mit der Geschichtserzählung zusammen ; das gleiche
gilt von der Vorgeschichte des Odrysenreiches (II 96 f.) Bei
den übrigen Excursen dagegen war ein persönliches Interesse
im Spiel : Seine nordische Abkunft führte ihn auf den Ursprung
Makedoniens (II 99) und die mythischen Traker (II 29); na
Akarnanien (II 102) kam Thukydides wahrscheinlich mit Demi
sthenes' Heer, das übrige bezieht sich auf Athenisches, wie dl
Bemerkungen über die Lage von Altathen (U 15) und die delisc
Panegyris (III 104). Ein üeberblick dieser Stellen zeigt sofo:
dass sie fast sämmtlich zum ersten Teile des Werkes geh()re:
Seitdem Thukydides sein Thema durch die Fortsetzung d
Krieges erheblich vergrössert sah, vermied er solche Episoden
der Manier des Herodot; umsomehr überrascht es , wenn
in der Geschichte des sicilischen Krieges übermässig ausführli
von Harmodios und Aristogeiton (VI 54 — 59) spricht*). Thuk
dides entschuldigt dies selbst mit der Begründung, dass nich
einmal die Athener die richtige Ueberlieferung hätten. Herodot
spricht freilich bei Gelegenheit^) den wahren Sachverhalt aus,
1) Aus einer schriftlichen Qaelle muss auch der Briefwechsel des Pau-
sanias mitgeteilt sein.
2) Z. B. 1, 138 bezüglich der Lehrer des Themistokles gegen Stesiinbrotos.
3) W. Pierson Philol. 28, 40 fi. 193 ft.; vgl. Duucker Geschichte
des Alterthums Vm 158 ff. 243 A. 2. 323 A. 1.
4) I 20, 2 war zu einer ausführlichen Behandlung der Frage kein Platz.
6) V 66 f. VI 128.
I
Thukydides und Philistos. 415
darum kann sich aber Thukydides nicht kümmern, weil er ein
eingewurzeltes Vorurteil seiner Bürgerschaft wissenschaftlich
(werden doch sogar zwei Inschriften aufgeboten) widerlegen
wollte. Der Eifer des Gelehrten hat eben einmal über die
Strenge der Komposition gesiegt.
Thukydides hat an Stelle des herodotischen Einschach-
telungssystemes in der Geschichte des peloponnesischen Krieges
die Zeiteinteilung zur Grundlage genommen. Da bei der
Mangelhaftigkeit des Kriegswesens und der Schifffahrt der
Winter die Operationen gänzHch unterbrach oder doch auf ein
Minimum beschränkte, war die annalistische Einteilung nahe
liegend. Der Historiker wählte aber dazu nicht nach dem Bei-
spiele seiner Vorgänger das offizielle ßeamtenjahr, sondern,
wie er ausdrückhch hervorhebt (V 20), das natürliche^); das
Jahr zerfiel ihm also in die gute (^^poc) und schlechte Zeit
(/st^tüv). Hie und da wird auch der Herbst oder der Stand
von Getreide und Wein ^) zur genaueren Zeitbestimmung ge-
nannt. Diese Einteilung, welche nur am Anfang (II 34) ein
wenig verletzt wird, hat Thukydides im ganzen Werke durch-
geführt, indem er jedes Jahr durch eine Schlussformel, welche
dessen Zahl und den Namen des Verfassers enthält, von dem
folgenden abgrenzt. Die Erwähnung der jährlichen Beamten ^)
oder der olympischen Sieger *) dagegen erleichtert sehr selten
die Zeitrechnung. Wie wenig diese strenge Regelmässigkeit,
welche allerdings einem, der von Herodots Lektüre kommt,
einförmig dünken mag, den Tadel unpraktischer Rhetoren '*)
1) Aug. Mo in m se u Mittelzeiten. Ein Beitrag zur Kunde des griechischen
Klimas, Schleswig 1870; auch Vöniel quo die secundum Thucydidem bellum
relopounesiiicum inceperit, Frankfurt 1846; Heinr. L. Schmitt quaestt.
chronologicae ad Thucydidem pertinentes, Leipzig 1882; H. Müller-
Strübing Jahrbb. f. Phil. 121, 578 ff. 615 ff.; U. v. Wilamowitz
Index lect. Gotting. aest. 1885 p. 8 ff.; Kubicki das Schaltjahr in der
griech. Kechnungsurkunde C. I. A. vol. I u. 273, Ratibor 1885. Das bürger-
liche Jahr verteidigt Unger Sitzungsber. der bayer. Akad. 1875 I 28 ff.
II 1 fi. 1878 I 88 ff.
2) II 19, 1. III 15, 2, IV 1, 1. 2, 1. 6, 1, vom Wein IV, 84, 1. Man
sieht, dass im zweiten Teile solche Angaben fehlen.
3) Argivische, lakonische und athenische Rechnung U 2.
4) III 8 und V 49, weil von Olympia die Rede ist.
5) Dionys. de Thucyd. jud. 9; ttvE? bei Doxopatris Walz II 220, 25.
410 Zwölftes 'Kapitel .
verdient, zeigt das Gegenbild, die Verwirrung in den Hellenika
Xenophons, welcher von Thiikydides' Neuerung abging. Hin-
gegen konnte Thukydides im dritten Buche vermöge seines
Schemas die mannigfaltigen verwickelten Unternehmungen ganzj
deutlich neben einander darsteilen.
Weil das Streben des Historikers, wie wir oben sahen,'
darauf gerichtet war, nicht sowohl zu unterhalten als zu be-
lehren, musste er einen Mittelweg zwischen der unkünstlerischen
Weise der älteren Geschichtsschreibung und der romanhaften«
Manier Herodots suchen. Jene missfiel dem rhetorisch gebil-
deten Manne, diese schien die Ereignisse zu entstellen und erj
war zu wenig poetisch veranlagt, um Unterredungen, die kein
dritter gehört hatte, unbefangen des Langen und Breiten zul
erzählen. Nur einmal (HI 113) teilt Thukydides zur Steigerung]
des Pathos ein Gespräch mit, welches damals offenbar ii
athenischen Heere vor Ambrakia umlief. Dennoch wollt
er auf die belebende Wirkung der direkten Rede nicht ver-|
ziehten.
Wenn in Athen auch viel protokolliert und geschrieben
wurde, beruhte das öffentliche Leben doch zuvörderst auf den
mündlichen Verhandlungen des Volkes; Thukydides' Begeisterung
für Perikles war nicht vor den Urkunden des Staatsarchives
anempfunden, sondern durch die Gewalt seines lebendigen
Wortes entzündet. Wo nun ein moderner Geschichtsschreiber
ein politisches oder militärisches Exposö geben würde, wählte
der Grieche eine anschaulichere Darstellungsart, indem er die
Gedanken von bedeutenden Männern in Reden') aussprechen
1) W. Vi seh er Schweiz. Museum HI 1 flf. = kleine Schriften I 416 ff.
G. Langreuter num orationes Thucydideae revera habitae sint , Celle
1853 ; C. T i e 8 1 e r über die R. des Th., Posen 1854 ; W. U h r i g de con-
cionibus Thucydideis, Darmstadt 1869 ; H. Steinberg Beiträge zur Wür-
digung der thuk. R., Pr. des Wilhelmsgymn. in Berlin 1870; Cwiklinski
a. O. (S. 40G A. 1) p, 42 flf,; G. Rosen er de orationibus operi Thucydidio
insertis, Greiflfenberg 1874; Michaeler über die R. im Geschichtswerke
des Th., Bozen 1874; O. H ü p p e de orationibus operi Thucydidis insertis,
Gr. Strehlitz 1874; Emil Junghahu Jahrbb. f. Phil. 111, 657 flf. 117,
691 flf. ; Kleist über den Bau der thuk. R., Dramburg 1876; Joh. Leh-
mann Thucydidem in orationibus suis vere babitas minus respicere demon-
stratnr, Putbus 1876 (Pr. v. Jena); O. Drefke de orationibus quae in
priore parte historiae Thucydideae insunt et directis et iudirectis, Halle 1877 ;
Ol I , ^_
Thiikydides und Philistos. 417
Hess. Es ist dabei charakteristisch für Thukydides, dass er es
nicht unbefangen that, sondern die Leser in der Einleitung
über den Grad der Authenticität aufklärte (I 22, 1). Demzu-
folge knüpfte der Historiker stets an wirklich gehaltene Reden
an und hielt auch überall die Tendenz fest, während er das
Einzelne so gestaltete, wie es gerade für seine Zwecke not-
wendig war. Am häufigsten flicht Thukydides Reden ein, wo es
gilt, die leitenden Gedanken feindlicher Staaten oder politischer
J^arteien gegenüberzustellen, so dass dem Leser selbst die Ent-
scheidung zufällt. Für solche Redepaare bietet sich eine Ge-
legenheit, wenn die Gesandten beider Gegner vor einer noch
unentschlossenen Bürgerschaft erscheinen ^) oder zwei Parteien
in einer Volksversammlung sich die Wage halten,^) wobei die
Gestaltung der Zukunft wirklich von der Ueberzeugungskraft
der Reden abhängt. Beide Gruppen gleichen einander nach
Zahl und Schauplatz merkwürdig. An sie schliessen sich zu-
nächst die Redenpaare an, bei welchen die eine Partei zugleich
spricht und richtet: So ist das Gespräch von Platäern und
Archidamos (11 71 f.) und vor allem die berühmte Unterredung
von Meilern und Athenern (V 85 flf.) angelegt; hier setzt der
Geschichtsschreiber der Herrschaft der Gewalt gewissermassen
die moralische Ueberlegenheit gegenüber. Die übrigen Reden
zerfallen in politische und militärische. Jene sind in ganz be-
stimmte Grenzen eingeschränkt. In Athen nämlich achtet
Thukydides den einzigen Perikles so hoch, dass er dessen
Gegner nach ihm gar nicht zu Worte kommen lässt. Perikles
Joh. S ö r g e 1 .Tahrbb. f. Phil. 117, 331 fif. ; L. A u f f e n b e r g de orationibus
operi Thucydideo insertarum origine vi bistorica compositione, Crefeld 1879 ;
Cl. Cammerer quaestt. Thucydideae, Burghausen 1881; Herbst Philol.
38, 563 fif.; Swoboda thukydideische Studien S. 27 ff. ; K. Jebb die R.
des Th., übers, v. Imelmann, Berlin 1883; Zeitschel de Thucydidis in-
ventione cum usu oratorum congruente, Nordhausen 1884.
1) In Athen Kerkyräer und Korinther I 32 ff. ; vor den Spartanern
Korinther und Athener I 68 ff., Platäer und Thebaner III 53 ff.; in Kama-
rina Syrakusaner und Athener VI 76 ff. (nur hier werden bestimmte Sprecher
genannt).
2) In Athen Kleon und Diodotos HI 37 ff., Nikias und Alkibiades VI 9
(Nikias hat eine Duplik); in Sparta Archidamos und ^Sthenelaidas I 80 ff. ;
in Syrakus Hermokrates und Athenagores VI 33 ff'.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. II. 2"
418 Zwölftes Kapitel.
ist es, der seine Mitbürger zum Kriege fortreisst (1 140 ff.), der
Athens Ruhm in der berühmten Leichenrede mit den herr-
lichsten Worten verkündet (II 35 ff.)> ^©r endHch kurz vor dem
Tode Rechenschaft über seine Politik ablegt (II 60 ff.)- Den
Feinden dagegen gesteht Thukydides mehrere Redner zu, aber
keiner derselben nahm in seiner Heimat eine ebenso gebietende
Stellung ein; daher verfolgen alle den Zweck, andere Staaten
gegen Athen aufzurufen^). Die vor den Schlachten gehaltenen
Reden sollen die militärischen Chancen erläutern und auf dU
Bedeutung des Kampfes einen Ausblick eröffnen. Auch hie
gebraucht Thukydides dreimal Redenpaare, von denen abe^
nur die Reden, womit Nikias und Gylippos vor Syrakus di^
Entscheidungsschlacht einleiten , gemäss der ausserordentliche!
Wichtigkeit des Treffens einen ansehnlicheren Umfang haben.
Sonst sind die Reden der Feldherrn überhaupt kurz , waj
Thukydides von den bramarbasierenden Geschichtsschreiberi
der nachklassischen Zeit vorteilhaft unterscheidet ^), Das längst
militärische Aktenstück ist der berühmte Brief des Niki«
(VII lOff.), welchen Thukydides, wie Sprache und Inhalt gleicl
deutlich zeigen, nicht im Staatsarchive kopierte, sondern selbsj
entwarf, indem er die Angaben von Bürgern, welche das Originf
vorlesen hörten, benützte. Dies bewog den Historiker auch, das
er den Brief nicht, wo er die Absendung erzählte, sondern be|
der durch denselben veranlassten Volksversammlung einfügte
Damit wurde die Anschaulichkeit der Erzählung gefördert]
ähnlich zählte Thukydides die Hilfsmittel Athens nicht selbs
auf, weil es weniger trocken klang, wenn Perikles sie dem Volk^
vorrechnete.
Die Form der Reden und die oingeflochtenen Sentenzen *|
gehören natürlich Thukydides ganz und gar an; indes gab ei
hervorstechende Eigentümlichkeiten der Sprecher wieder, z. B*
1) Korinther I 120 flf. uad Lesbier III 9 ff. vor den Peloponnesier
Brasidas in Akanthos IV 85 ff., Herraokrates vor den Siciliem IV 69
Alkibiacles in Sparta VI 89 ff.
2) II 87 u. 89; IV 92 u. 95; VU 61 ff. u. 66 ff.
3) Archidamos 11 11 u. Teutipalos HI 80 sprechen nicht vor eine
Schlacht; Demosthenes IV 10, Nikia.s VI 68, Gylippos VII 77.
4) Vgl. z. B. U. V. Wilaniowitz Hermes 11, 294 f.
Thukydides und Philistos. 419
gebraucht Alkibiades die meisten Metaphern ^). Die Einfügung
der Reden war in der Blütezeit der athenischen Demokratie
ganz ungesucht und in der Hand eines Thukydides vor Miss.
brauch gesichert; seine Neuerung ward jedoch der Geschichts-
schreibung verderblich, seitdem Isokrates' Schüler nur um des
Deklamierens willen Reden fingierten. Wie die besonnene An-
wendung dieses gefährlichen Mittels Thukydides zur Ehre ge-
reicht, so gibt es einen Massstab für den historischen Sinn der
einzelnen späteren Geschichtsschreiber ab.
Thukydides zeigt in diesem Punkte eine wahre Scheu vor
allem CJeberflüssigen wie auch sonst in der Erzählung, was ihm
Diouysios lächerlicher Weise zum Vorwurfe macht. Er erzählt
nicht alles mit gleicher Ausführlichkeit, sondern je nachdem
es in politischer oder militärischer Hinsicht Beachtung verdient,
z. B. werden die Vorgänge von Sphakteria mit grosser Aus-
führlichkeit geschildert , weil die Spartaner hier durch eine
merkwürdige Verkettung widriger Umstände den schwersten
Schlag, der sie im ersten Kriege traf, erlitten und dadurch zum
Frieden geneigter wurden. Was hingegen von keinem Belange
ist und von jedem verständigen Leser ergänzt wird, lässt
Thukydides ganz weg oder deutet es flüchtig an ; des jährlicli
Wiederkehrenden (z. B. der öffentlichen Leichenrede) gedenkt
er nur einmal bei einer passenden Gelegenheit. Ueberall
strebt er nach Anschauhchkeit der Darstellung; der Leser
seines Werkes wird nach einem Urteile des Plutarch^) zum Zu-
schauer.
Weniger glücklich war Thukydides in der Bildung seines
Stiles 3). Der belehrende Charakter des Werkes hielt ihn ab,
J
m, l) Dies bemerken die Scholien zu 6, 18. Die Kürze der Dorier und
H die Umständlichkeit des Nikias werden vielleicht angedeutet, wenn Arehi-
I damos das Heer kurzweg mit avSpsc' IlsXoiiovvfiotot xal 46fA}iaxoi (II 11), Gy-
^ lippos mit tu Süpaxootot xal 46|J.|JLaxot (VII 66) anredet, während Nikias
spricht (VII 61): avSpec; oxpaxt&tai 'A^^vivatcuv te xal twv aXXtov oDfXjxaxwv.
Maxim. Planud. Walz V 527, 13 steUt die Reden hinsichtlich der Charak-
teristik mit Menanders Dramen zusammen.
2) Plutarch. glor. Athen. 3.
3) Eine einseitige Charakteristik gibt des Rhetors Dionysios zweiter
Brief an Ammaeus nspl xÄv 600x081800 ISiwpiatwv , welcher die Hauptschrift
•Ksfi toü öoüXüSiSoo x^apaxTYjpoc begründen soll.
27*
42Ö Zwölftes Kapitel.
den lässigen Plaudertou Herodots beizubehalten, dagegen fand
der Historiker an der Sprache der Sophisten solchen Gefallen,
dass er sich dieselbe zum Muster nahm ^) ; vielleicht ist es
richtiger, wenn ich sage, dass er mit ihren Figuren seinen Stil
reich verbrämte, denn nächst Tacitus ist Thukydides der subjek-
tivste Stilist des Altertums. Der Wortschatz'-^) stand wohl dem
gorgianischen am nächsten, Thukydides liebte ja gleichfalls
veraltete und seltene Wörter, eben so sehr aber poetische
Ausdrücke und Bilder, welche meist der Tragödie entstammten^!
doch war Thukydides selbständig genug, um teils selbst neudHI
zu schaffen, teils das entlehnte eigenartig umzugestalten. ')
Starke und schroffe Ausdrücke waren ihm jederzeit lieber als
die üblichen durch den Gebrauch gleichsam abgenützten. *)
Begierig ergriff ferner Thukydides die Neuerung der Sophisten,
dass abstrakte Substantiva, wenn sie einen Genitiv mit sie
führten, durch das Neutrum des entsprechenden Eigenschaft
Wortes ersetzt wurden und wagte sogar das Neutrum ein^
aktiven Participiums zu substantivieren ^). Der Kraft des Ai
drucks wegen war er Pleonasmen nicht abgeneigt*^); andere
seits hatte Prodikos auch ihn die scharfe Definition ui
Sonderung ähnlicher Wörter gelehrt'^).
Durch diese und andere Künste der Sophistik hätte Thuk^
dides das Verständnis nicht erschwert, würde er zugleich
übersichtliche Gleichmässigkeit der Rhetorik angenommen habei
Aber wiewohl er Antithesen liebte ^), die Satzglieder gelegentlicl
1) Joh. Becker de sophisticarum artium vestigiis apud Th., Berlin 186
F. Stein de figurarum apud Thucydidem usu, Cölu 1884.
2) L. A. C y r a n k a de orationum Thucydidearum elocutione ci
tragicis comparat.i, Breslau 1875; Phü. Both de Antiphontis et Thucydic
geuere dicendi, Marburg 1875 p. 19 ff. 25 f.
3) Demetr. ic. ^pfi.*rjv. 113 führt iteptppuxoc als Beispiel an.
4) Derselbe Rhetor verweist c. 49 auf xexpaYo»? = ßoJiv und ^tj^v
{LCVOy = (p3p6}l.EVOV.
6) Both a. O. p. 36 ff.; Wenzel Kl o ucek 1. Ueber den sogen. No«
nativus absolutus bei Thukydides. 2. Die Substantivirung des Neutr. sLug
im Sinne eines abstrakten Substantivs bei Thuk., Leitmeritz 1859/60;
Nietzki de Thncydideae elocutiouis proprietate quadam , Königsberg 18^
p. 16 f. 26 f.
6) Both a. O. p. 28 f., 81 f.
7) S p e u g e 1 auva^tof "»j xe^^vcüv p. 64 fl.; B e c k e r a. O. p. 46 ff.
8) Becker a. O. p. 27 f. ; Both p. 29,
Thukydides und Philistos. 421
genau übereinstimmen Hess') oder durch gorgianisclien Gleich-
klang zusammenschloss '^), erhielt das Ungleichmässige bei ihm
in der Regel den Vorzug. Kein Schriftsteller hat so oft wie
er verschiedenartiges, z. B. Substantive und ganze Sätze oder
Partizipien zu einer äusseren Einheit zusammeugezwungen. ^)
Die Worte stehen häufig so verschränkt, dass die Leichtigkeit
des Verständnisses darunter leidet. ^) Jenes ist um so schlimmer
als Thukydides seine Gedanken mit möglichst wenigen Worten
darlegen und allzu viel in einen Satz zusammendrängen will.
So sind die für Thukydides charakteristischen Sätze entstanden,
welche mit schroff und unvermittelt an und aufeinander ge-
häuften Participien belastet sind.*) Im gegenseitigen Verhältnis
der Sätze kommen Anakoluthe nicht selten vor. ^)
Bringen wir ausserdem noch in Anschlag, dass die Wörter
nicht getrennt geschrieben und die Sätze oft schlecht inter-
pungiert waren, so wird jeder Cicero gerne glauben, dass er
die Reden des Thukydides schwer verstand.^) In den Reden
traten freilich die Fehler des Stiles am stärksten hervor, während
in der einfachen Erzählung seine Vorzüge zur Geltung kamen.
Knappheit, Kraft und hohe Würde sind die hauptsächlichen
Grundzüge des thukydideischen Stiles, die naturgemäss bei der
Schilderung von Katastrophen besonders wirkungsvoll sind, so
dass es keine Übertreibung ist, was Macaulay über den Rück-
zug der Athener von Syrakus sagte, er sei das nonplusultra
menschlicher Kunst.
Dadurch dass Thukydides den Lesern zuviel geistige An-
strengung zumutete — mau möchte Goethes Vers ,,Ich schreibe
1) Demetr. n. epfjL-rjv. 25.
2) Becker a. O. p. 30. 32 f.; Quintilian. 9, 4, 18.
3) Edm. Paanicke de austera Thucydidis compositione, Berlin 1867;
vgl. Dionys. comp. verb. 10. Cic. orator 13, 40. Demetr. ^pfi^iv. 48.
4) J. J. Braun de collocatione verborum apud Thucydidem, Braunsberg
1861; Franz Darpe de verborum apud Th. collocatione, Warendorf 1866
(Diss. V. Münster). Theon TcpoYOfiv. p. 82, 19 f. Sp. tadelt den übermässigen
Gebrauch des Hyperbaton.
5) Am. Wilde de coacervatis participiis apud Thucydidem, Görlitz
1862 (Diss. V. Breslau); im Allgemeinen : Aug. Theoph. Lange de periodorum
Thucydidiarum structura. Fr. des Friedrichgymn. Breslau 1863, additamenta 1865.
6) P. Kampfner de anacoluthis apud Thucydidem, Münster 1868.
7) Cic. orator 9, 30.
422 Zwölftes Kapitel.
nicht euch zu gefallen, ihr sollt' was lernen" seine Devise
nennen — schränkte er selbst die Verbreitung seines Lebens-
werkes ein. Lange Zeit drang es über die Kreise der Fach-
gelehrten und höher Gebildeten nicht hinaus. Dass die
Historiker das Buch hochschätzten, bezeugen die Fortsetzungen,
welche Xenophon, Theopompos und Kratippos verfassten. Der
letztgenannte, der wahrscheinlich geraume Zeit vor Dionysios
lebte, ^) sprach in der Einleitung über Thukydides , wobei er
die Behauptung aufstellte, der Geschichtsschreiber habe im
achten Buche absichtlich die Reden weggelassen , weil er ihre
Unzuträglichkeit erkannte. Trotzdem aber dass Thukydides
den Jüngeren imponierte , fand er eigentlich keinen Nachfolger,
wenn man von Agatharchides ^) und einigen um Originalität^
bemühten Historikern ^) absieht ; von Philistos soll nachher di(
Rede sein. Noch weniger Bedeutung hatte Thukydides für die
Beredsamkeit, ^) immerhin hielt es Dionysios von Halikarnasso?
für nötig, gegen einige Rhetoren , welche in Thukydides das
Musterbild der politischen Beredsamkeit erblickten,^) eine ein^
gehende Polemik zu eröffnen. ^) Mehr Freunde fand die herbe
Art des Thukydides in Rom, wo sie auf die klassische G(
Schichtsschreibung einen erheblichen Einfluss ausübte, indei
Sisenna die Disposition, Sallust') die rhetorische Erörterung dei
1) Dionys. Halic. jud. de Thuc. 16, der alle Historiker älter macht, b«
haaptet, er sei ein Zeitgenosse des Thukydides; aber er citiert« Zopyro
(Marcellin. vit. Thuc. 33). Fragmente in C. Müllers fragm. histor. II 75
2) Phot. biblioth. cod. 213 p. 171b 10.
3) Dionys. jud. de Thucyd. 62.
4) Dass Demosthenes Thukydides studierte (S. 170 A. 1), sprächet
Dionysios und Caecilius noch als Vermutung aus (de Piaton. 8 am Endel
begründet de Thuc. jud. 63 fi.). Isokrates soll im Panegyrikos den Epw
taphios benüt/.t haben (Phot. bibl. 260 p. 487 b 35).
6) Dionys. jud. de Thucyd. 62, vgl. 60. Zu ihnen gehörte Lesbons
(Blass griech. Beredsamkeit von Alexander S. 166 f.).
6) C. E. Hesse Dionysii Halic. de Thucydide judicia examinantnr^
Leisnig 1877; J. Wichmann D. H. de Th. j., Halle 1878. Trotz de
scharfen Kritik, welcher Dionysios den Historiker in zwei Monographien
(billiger de Plat, 3) unterzieht, hat er ihn gelegentlich nachgebildet (z.
Sadöe Dissert. Argentor. H 294).
7) Poppos Ausgabe VI 372 ff.; Dolega de Sallustio imitatore Thucy^
didis Demosthenis aliorumque scriptorura Graecorum, Breslau 1871; Joh^
Bobolski SaUastius in couformanda oratioue quo jure Thucydidis exemplui
Thukydides und Philistos. 423
politischen und militärischen Fragen von dem Athener überkamen.
Auch einige Redner, unter ihnen Asinius Polho, wählten sich
den thukydideischen Stil zur Nachahmung, wogegen Cicero
Widerspruch erhob. ^) Die Gegnerschaft der angesehensten
Rhetoren, zu denen sich das abfällige Urteil des Grammatikers
Didymos gesellte, 2) vermochte Thukydides' Buch nicht in den
Hintergrund zu drängen, im Gegenteil gehörte es seit Hadrians
Zeit zu den im rhetorischen Unterrichte gebrauchten Schul-
büchern. FreiHch mag der Grund davon nicht allein in
dessen Gedankentiefe zu suchen sein, sondern, als für den
Stil jeder Literaturgattung ein Musterschriftsteller aufgestellt
wurde, konnte man weder Herodot, weil er jonisch schrieb,
noch Xenophon, weil er nicht eigenthch ein Historiker war,
zum Kanon des historischen Atticismus bestimmen. Es blieb
also nur Thukydides.^) Aus dem gleichen Grunde vertrat er
in der klassischen Dreizahl der Byzantiner (Demosthenes, Plato,
Thukydides) die Geschichtsschreibung; mit ihrer Begeisterung
für Thukydides, welchen sie den Historiker xat' I^o/tjv nannten,*)
secutus e.sse existimetur , Halle 1881. Ueber Tacitus Abhandlung von Roth
in Poppo's prolegomena I.
1) Orator 9, 30 flf. ; Lucretius bildet 5, 222 fi. die thukydideische Schil-
derung der Pest nach.
2) Er schrieb Tispl tcüv Yj[j.apT7)[JLev(uv Tiapä ty]v avciXo-fiav 0ooxt)8i§-g (vgl.
Dionys. de Thuc. jud. 53 x6 ooXo'.xo^aviq).
3) Vgl. Lucian. Lexiphan. 22. Von den Historikern, welche Thukydides
nachahmten (Lucian quom. hist. conscr. sit 15. 19 (27). 26 (34)), nenne ich
Arrianos (E. Meyer de Arriano Thucydidio, Rostock 1877, Nachträge bei
Grundmanu quid in elocutione Arriani Herodoto debeatur, Berlin 1884
p. 12 ff.), Plutarchos (über die Benützung S i e m o n quomodo Plutarchus
Thucydidem legerit, Berlin 1881), Cassius Dien (besonders in den Reden
Phot. bibl. cod. 71, vgl. Roger "Wilmans de Dionis Cassii fontibus, Berlin
1835 p. 32 ff. Jacoby Jahrbb. f. Phil. 127, 841 ff.), Dexippos (Phot. bibl.
cod. 82 p. 64a 19), Prokopios (Meineke Hermes 3, 362 ff.), Agathias
(Niebuhrs Ausgabe S. 418) und Johannes von Epiphania (Hase zu Leo Diac.
p. 169 sq. ed. Paris.), denen Pausanias (U. v. Wilamowitz Hermes 12,
347 A. 31) und Lukianos als Verfasser der wahren Geschichten (Ad. Bauer
Lucianea, Görz 1884 3. Kap.) angereiht werden können. Ausserdem sind
Chariton (C o b e t Mnemos. 8, 229 ff. nov. lectt. p. 372 f.), die angeblichen
Phalaris und Herakleitos (Diels Hermes 13, 6 f.) n. A. zu erwähnen; vgl.
Themist. orat. 4, 71. 23, 350. Thukydides xavcuv der attischen Mundart
Phot. bibL 60 p. 19 b 18.
4) Z. B. Aphthon. 12 p. 46, 21 Sp. mit den alten Kommentaren,
Michael Psellos Sathas }jieaatu>v. ßtßX. IV 136.
424 Zwölftes Kapitel.
hielt gewiss die Mangelhaftigkeit des Verständnisses gleichen
Schritt. Von jeher hatte man ja zur Lektüre grammatische Er-
läuterungen bedurft. ^) In der Kaiserzeit schrieben mehrere
Rhetoren zum Nutzen ihrer Schüler erklärende Abhandlungen ; ''*)
die Reden scheinen zum Schulgebrauche excerpiert worden
zu sein. ^)
Die Byzantiner gaben fast allen Handschriften Schollen
bei, welche sehr wortreich sind, aber nicht viele gelehrte Be-
merkungen enthalten.*) Eine bessere Ausgabe als die Poppos
ist sehr notwendig; A.Schöne gab die Schollen zum ersten und
zweiten Buche (Berlin 1874) kritisch heraus. Neues bot eine
Handschrift von Patmos. ^)
Ein so eigenartiger und schwer verständlicher Schriftsteller
wie Thukydides bereitete den gewöhnlichen Abschreibern selbst-
verständlich grosse Schwierigkeiten und so kam es, dass die
alten Grammatiker bereits über die Verderbnis des TextejB
klagten.^) Wie unser Text von Fehlern wimmelt, thun die
inschrifthchen Zeugnisse dar,'') namentlich die Reste der Urkunilen,
welche Thukydides in sein Werk aufnahm. *) Auch ein paar
1) Dionys. de Thuc. judic. 51. 56.
2) Aus Suidas kennen wir folgende Schriften : 6no|i.VY]}jLaTa von Tiberi
Sabinoa (unter Hadrian) und Heron, uito^eoetc von Alexandros Numeniu ;
uepl ayrni.a.'zuiv v. Klaudios Didymos und des Porphyrios eic tö 0oüxü8i8oi)
7tpooi}j.tov; Khetoren waren auch Antyllos (E. Schwabe de schol. Thucyd.
fontt. p. 71 ff.) und Phoibammon (Schol. 1, 53; eine rhetorische Schrift in
Walz rhet. Graec. Vm 487 ff.).
8) (Dionys.) rhetor. 8, 9 ev t(}> tni'fpafo\i.ivu> STrixatpiuj.
4) Emil Doberentzde scholiis in Thucydidem, Halle 1876, Dissertatt.
philol. Halenses U 221 ff. (vgl. Egenolff in Bursians Jahresber. 13, 136 ff.)
u. de scholiis in Thucydidem qnaestiones novae, Magdeburg 1881; über die
Benützung der attischen Glossarien F. Goslings observatt. ad scholia in
Thucydidem, Leiden 1874 und Ernst Schwabe quaestiones de scholiorum
Thucydideorum fontibus, Leipzig 1881, Leipziger Studien IV 67 ff. (p. 146 ff.
handelt er über die Thukydidesglossen des Suidas).
6) Sakkelion und Duchesne Revue de philol. n. s. I (1877).
p. 182 ff.
6) Porphyr, quaest. Homer, p. 286 f. Sehr.
7) S. 93 A. 9.
8) Kirchhoff Hermes 12, 368 ff. (vgl. auch .\. Schöne 12, 472 ff.
Niese 14, 429) u. Sitzungsber. der Berliner Akad. 1882 S. 909 ff. 1883
S. 829 ff.
1
Thnkydides und Philistos. 425
Papyrusstücke von Fajüm, welche zum achten Buche gehören
und zugleich Schollen enthalten, bieten verhältnismässig viele
Varianten, ^) wie auch die Citate bei Dionysios von Halikarnass ^)
und dem Geographen StephanosJ) Von vornherein darf man
voraussetzen, dass der knappe Stil des Schriftstellers durch zahl-
reiche kleine Einschiebsel verständlicher gemacht und verwässert
worden ist. Ein merkwürdiges Beispiel einer grösseren Inter-
polation ist die bereits in den Schollen verworfene Moral III 84,
welche ein Rhetor in schwulstigen Phrasen über die Greuel
von Kerkyra zum Besten gab. *) Die Schäden der Überlieferung
würden jetzt offener vor uns Hegen, wenn nicht gelehrte Gram-
matiker den Text durchgesehen hätten. Eine solche Recension
liegt, wie es scheint, in der vatikanischen Handschrift vor;-'')
sie unterscheidet sich besonders dadurch von den übrigen, dass
der Text von 6, 94 bis zum Schlüsse wortreicher, also interpoliert
ist. Die Bewunderung für Thukydides hat bisher noch immer
nicht eine planmässige Sammlung des kritischen Materials
hervorgerufen. ^)
Die unseren Ausgaben gemeinsame Einteilung, wonach
das Werk des Thukydides in acht Bücher zerfällt, kannten
1) Wessely Wiener Studien VII (1885) S. 116 ff. mit Facsimile.
2) Leon Sadee Dissertationes Argentorat. II (1879) p. 207 ff.
3) Niese Hermes 14, 423 ff.
4) Müller - Strübing , Classen und Steup Rhein. Mus. 24, 350 ff. ver-
werfen III 17, wogegen sich Herbst Philol. 42, 681 ff. mit Recht aus-
spricht. Müller-Strübing meint, dass ein Gegner der athenischen Demokratie
allerlei ihr abträgliche Einschiebsel in den Text gebracht habe (thukydideische
Forschungen, Wien 1881). Einen Ueberarbeiter des thukydideischen Nach-
lasses nimmt U. v. Wilamowitz Index lect. aest. 1885 p. 17 f. an, vgl.
Junghahn Jahrbb. f. Philol. 111, 657 ff. 119, 353 ff. .T. Helm b cid,
über die successive Entstehung des thucydideischen Geschichtswerkes II;
Widerlegung der Annahme einer Redaktion von fremder Hand, Mühl-
hausen i. E. 1882.
5) Jerzykowski octavo historiae Thucydideae libro extremam manum
non accessisse demonstratur. Breslau 1842 p. 36 ff.; Job. Eggert de Vati-
cani codicis Thucydidei auctoritatet Berlin 1882; U. v. Wilamowitz index
lect. Gotting. aest. 1885 p. 1 ff. Für a"« wird konsequent xx geschrieben.
6) Ueber eine alte Handschrift des brittischen Museums aus dem
10. oder 11. Jahrhundert Müller-Strübing Aristophanes und die
historische Kritik S. 281, A. u. ö.; über eine ialienische Rud. Prinz Jahrbb.
f. Phil. 99, 759 f.
426 Zwölftes Kapitel.
schon Dionysios und Diodor *), daneben erwähnt letzterer aber
auch, dass man es, entsprechend Herodots ,, Musen" in neun
Bücher einteilte^) ; einem Scholiasten lagen sogar dreizehn Bücher
vor. ^) Die jetzige Einteilung ist mit Einsicht gemacht: Das
erste Buch umfasst die Einleitung, die nächsten drei je drei
Kriegsjahre; die sicilische Expedition sondert sich ohnehin ab
und hat die Ankunft des Gylippos als Peripetie; der Rest füllt
das fünfte und achte Buch. Der Titel io-^^^pafpri ist den Anfangs-
worten entnommen ; die Citate variieren bedeutend ^).
Den Humanisten war Thukydides zu schwer und unele-
gaut; Lorenzo Valla machte wenigstens den Inhalt durch eil
flüchtige lateinische Uebersetzung bekannt^). Nur der Kaise
Karl V. ahnte die Bedeutung des Historikers, dessen Geschieh
sein Lieblingsbuch war. In dem Zeitalter der grossen Bucl
drucker ging Thukydides, von den alten Schollen geleite^
aus den berühmtesten Offizinen hervor: Aldus Manutius gfc
ihn schon 1502 heraus ^) ; dann folgten Junta (Florenz 1506
1526), Herwagen (Basel 1540, von Camerarius besorgt) und
Stephanus (1564. 1588). Die einzige selbständige Leistung
welche nachher vor unserem Jahrhunderte erschien, war di
Ausgabe von J. Hudson (Oxford 1696), einem Landsmann d(
Philosophen Hume, welcher den Ausspruch that : ,,Das ersi
Blatt des Thukydides ist zugleich das erste der wahren G^
schichte und Geschichtsschreibung". In unserem Lande weckt
1) 13, 42. 22, 37. Marcellin. am Ende; ebenso Schol. Platon. p. 144 bifl|
Die wiederholte Nennung des Verfassers spricht gegen die Annahme von Bii
(das antike Buchwesen S. 444), dass das Werk in einer einzigen Rolle zu
Ausgabe gelangt sei,
2) Ebenso Marcellin. a. O. ; daher ev t^ yj (= C) Phrynich. ecl. 246.
3) Schol. 2, 79. 4 am Anfang u, 76; vgl. Osann Philol. 9, 646
U. V. Wilamowitz a. O. p. 6 f.
4) Z. B. 'loToptai Porphyr, bei Clem. ström. 6, 740 = 620; HsXotiov
vY|ot(a)xa Schol. Clem. Alex, paedag. p. 233. Joseph. Rhacend. Walz in bb\
24 ; Pausanias 6, 19, 6 sagt herodoti.sch Xö-foi.
6) Schon im fünfzehnten Jahrhundert s. 1. et a. gedruckt. Euge
Jul. Golisch de Thucydidis interpretatione a Laur. Valla Latine facti
Olsnae 1842. Ueber eine dunkle Nachricht von einer älteren Uebersetzung
Voigt Wiederbelebung des klassischen Alterthums 11' 257.
6) Die Schollen kamen im nächsten Jahre hinter Xenophons He
lenica heraus.
Thukydides und Philistos. 427
erst Niebuhr^) ein warmes Interesse für den Historiker. Imni.
Bekker begründete die Texteskritik durcb die Ausgabe von
18212). £)iß reichhaltigste Sammlung kritischen und exege-
tischen Stoffes bietet noch immer die grössere Ausgabe von
Ernst Poppo (Leipzig 1821—40, 4 Abteilungen mit 11 Bänden,
kleinere Ausgabe Gotha-Leipzig 1843—56, 4 Bde., erneuert von
Stahl 1866—83); das historische wurde mehr betont von Rob.
Ad. Morstadt (Frankfurt 1832—35) und dem Engländer T.
Arnold (London und Oxford M847fF. mit Exkursen, ausführ-
lichem Register und Karten^), während die sprachliche Erklärung
bei K. W. Krüger (2. u. 3. A. Berlin 1860, 4 Hefte) und J.
Classen (2. A. BerHn 1871 ff., acht Hefte) vorwiegt*). Der Text
ist recensiert von Job. Stahl (Leipzig 1873 — 74, 2 Bde.) und
van Herwerden (Utrecht 1877 — 82, 5 Bde.)^). In neuerer Zeit
sind die historischen Fragen, besonders die Belagerung von
Syrakus, in Monographien erörtert worden ^). Ein praktisches
Hilfsmittel ist endlich das Lexicon Thucydideum von Betaut
(Genf 1843, 2 Bde'').
Thukydides' Werk wurde auch in dem Lande, wo der
herrlichste Teil desselben spielt, gewürdigt und regte hier ein
treffliches Talent an. Wenn die Geschichte irgend einer
hellenischen Gegend, gestattete die sicilische eine einheithche
Darstellung, weil die geographische Lage, obgleich der Zu-
sammenhang mit Griechenland stets gewahrt blieb, eine unab-
hängige und doch bedeutungsvolle Entwicklung beförderte. Es
ist somit beinahe notwendig, dass die einzige Landesgeschichte,
1) Vgl. kleine Schriften II 155.
2) Berlin in drei Bänden (mit den Schollen); der Text erschien 1868 in
2. Auflage. Vgl. Nachtrag von Varianten zum Thucydides, Monatsber. der
Berliner Akad. 1855 S. 470 ü. Englische Handschriften und die zwei ältesten
Ausgaben sind kollationiert von Rieh. Shilleto, London 1872.
3) Karten und Pläne sind auch der englischen Ausgabe von S. T. Bloom-
field (London 1842—43, 2 Bde.) beigegeben.
4) Ausserdem sind die erklärenden Ausgaben von Franz Göller (Leipzig.
M836, 2 Bde. mit zwölf Karten), Gtfr. Böhme (Leipzig 1854 2 Bde.) und
Böhme-Widmann (Leipzig 3. — 5. A. 4 Hefte) anzuführen.
5) Die Teubnerausgabe ist von Böhme (*1875, 2 Bde.) besorgt.
6) Vgl. z. B. C. Conrad t Jahrbb. f Phil. 129, 529 ff.; H. L. Schmitt
quaestiones chronologicae ad Thucydidem pertinentes, Leipzig 1882.
7) Em. Fr. Poppo Lexici Thucydidei supplementum L— III., Progr.
v. Frankfurt 1845, 47, 54.
428 Zwölftes Kapitel.
welche mit den klassischen Geschichtswerken wetteifern konnte,
von einem sicilischen Griechen herrührte.
P h i 1 i s 1 0 s ^) entstammte einer vornehmen Familie von
Syrakus.^) Er benützte sein Ansehen und Vermögen, um dem
älteren Dionysios Ol. 93,3 (406/5) zur Tyrannis zu verhelfen^),
weshalb ihm lange Zeit die Citadelle anvertraut war. ^) Nichts-
desto weniger wurde er Ol. 98, 4 (385/4) nach Hadria ver-
bannt und seine Güter eingezogen ^). Erst nach dem Tode des
Tyrannen Ol. 103, 2 (367/6) durfte Philistos nach Syrakuaj
zurückkehren und gewann das einstige Ansehen wieder.^) Als
Dion Ol. 106, 1 (356/5) die Stadt bedrohte, leitete PhiHstos das
Heer des Dionysios, aber wie er aus Leontinoi geworfen wurde^
so war er zur See gegen Herakleides unglücklich. Der greise
Feldherr fiel selbst in die Hände der Republikaner und wurde
von ihnen schmählich getötet.') Damals stand Philistos schoi
in sehr hohem Alter, da er älter als Dionysios I, gewesen zi
sein scheint.^)
In jener Zeit der unfreiwilligen Müsse verfiel Philistos au|
den Gedanken, eine ausführliche Geschichte Siciliens zu schreibenJ
und gab diese Absicht auch nach seiner Rückkehr nicht aufJ
Zuvörderst ward die Geschichte Siciliens von der ältesten Zei|
bis zum Jahre 406 in sieben Büchern dargestellt; fünf Büchei
behandelten die Regierung des älteren Dionysios und die zwei letzter
1) Die Fragmente wurden zuerst von Franz GöUer in der Abhandlung
„de situ et origiue Syracusarum" (Leipzig 1818) p. 145 ff. gesammelt, dam
in C. Müllers fragm. bist. Graec. I p. XLV ff. 185 ff. IV 624 ff., vgl. 477 ;|
G. Wolfg. Körber de Philisto rerum Sicularum scriptore, Breslau 1874.
2) Sein Vater hiess Archonides (Suidas, verderbt 'Ap/o[j.ev18yjc Pauss
6, 23, 6).
8) Diodor. 13, 91, 4. 14; 8. Flut. Dio 11. 35. Mit ihm verwandt nacl
Snidas v. 4>iXtaxo(;.
4) Plutarch. Dio 11.
6) Flut. Dio 11. Timol. 16. de eiilio 14 (nach Epirus) ; abweichend
Diodor. 15, 7, 3. 4.
6) Flut. Dio 11. Com. Nep. Dio 3, vgl. Fs. Fiat. ep. 3 p. 671. Ma
behauptete, dass er Plato entgegenarbeitete.
7) Timaeus bei Flut. Dio 36. Tzetz. Chil. 10, 830 f.; vgl. Diodor. 1(
11, 3, ungenau Suidas v. <I>iXioxoc.
8) Man beschuldigte ihn, mit dessen Mutter in intimem Verhältniaa
zu stehen (Flut. Dio 11).
Thukydides und Philistos. 429
stellten die ersten fünf Regierungsjahre seines Nachfolgers dar.^)
Offenbar wurde Philistos durch den Tod an der Weiterführung
des Werkes gehindert. Man sieht also, was von der Insinuation
zu halten ist, Philistos habe den Tyrannen geschmeichelt, damit
er zurückberufen werde. ^) Wie seine Lebensgeschichte zeigt,
war er eine treue aufrichtige Stütze der Dynastie; dass er die
Geschichte der Dionyse mit Wohlwollen schrieb, ist folglich
auch ohne eigennützige Beweggründe verständlich. Unpar-
teiische Männer, wie Ephoros ^) und Cicero*), haben Philistos
hochgeschätzt, während Timaios auch ihn nicht verschonte.^)
Es scheint, dass Philistos nicht eigentlich die Unwahrheit sagte,
sondern bloss die Frevel, welche Dionys sich gegen die Barbaren
erlaubte, verschwieg ^).
Die Alten stellen Philistos gerne mit Thukydides zusammen,
wiewohl sie die Aehnlichkeiten nicht im einzelnen anführen.')
Wahrscheinlich erinnerte der allgemeine Eindruck an den
athenischen Geschichtsschreiber, weil Philistos knapp erzählte,
Abschweifungen vermied ^) und in politischen und militärischen
Dingen ein gutes Urteil bekundete. Auch flocht er Reden ein.^)
Dagegen bemühte sich Philistos mehr darum, dass er den Lesern
das Verständnis nicht erschwerte, sondern die Lektüre angenehm
1) Diodor. 13, 103, 3. 15, 89, 2. Man teilte diese vierzehn Bücher in
zwei auvta^ei<; von je sieben Büchern, vgl. Cic. ep. ad Qu. fr. 2, 11 (13), 4.
Dionys. ad Cn. Pomp. 5. Suidas kennt eine andere Einteilung in elf (fünf
und sechs) Bücher.
2) Pausan. 1, 13, 9, womit die Angabe von Plut. de exilio 14, dass er
seine Geschichte in der Verbannung schrieb, zusammenhängt,
3) Plutarch. Dio 36.
4) Cic. div. 1, 20, 39 et doctum hominem et diligentem.
6) Plutarch. Dio 36; er hat Plutarch und Dionysos beeinflusst.
6) Plutarch. de malign. Herod. 3 rechnet ihm dies zum Lobe an. Auf-
fallend ist Mareen, vit. Thuc. 227 4>iXtoxoc U tu» vsu) Aiovualcu TOt(; Xö-cok;
7) Cic. ad Qu. fr. 2, 11 (13), 4Siculus ille capitalis creber acutus brevis,
paene pusiUus Thucydides; Brut. 17, 65 (mit Thukydides verbunden) horum
concisis sententiis, interdum etiam non satis apertis tarn brevitate quam
nimio acumine; vgl. de orat. 2, 13, 57. Dionys. vet. cens. 3,2. ad Cn. Pomp.
5. Quintil. 10, 1, 76.
8) Dionys. ad Cn. Pomp. 5. Theon npoYü|xv, p. 80, 27 ff.
9) Dionys. a. O. <^o<f(i>Uic. zohz SfifiiriYopoüvTac
TCOlSt.
430 Zwölftes Kapitel.
machte. Daher war sein Stil durchsichtig ^) ; der Ausdruck
klang, obgleich Philistos seltene Wörter vermied, nicht gewöhn-
lich.^) Hingegen erregten Wortstellung und der einförmige Satzbau
Tadel ^). Der Unterhaltung der Leser zu Liebe ging Philistos
in der Kritik nicht so weit wie Thukydides, sondern teilte
hübsche Erzählungen, Anekdoten und lebhafte Schilderungen
mit. So las man bei ihm, wie der Sikanerkönig Kokalos den
flüchtigen Daidalos aufnahm ^). und die berühmte Fabel des
Stesichoros ^). Auch entwarf der Geschichtsschreiber ein glänzen-
des Bild von den Rüstungen, welche der ältere Dionys gegen
Karthago veranstaltete und dem prunkvollen Begräbnisse des]
Tyrannen (fr, 34, 42), Ueberhaupt liess er sich sehr auf Details]
ein,^) worunter die Uebersichtlichkeit der Erzählung litt ''). Inj
religiöser Beziehung stand Philistos gleichfalls Herodot näher,]
weil er auf Träume und Vorzeichen (fr. 47, 48) Wert legte.
Bemerkenswert ist, dass Philistos nach Olympiaden rechnete]
(fr. 6); diese Zeitbestimmung scheint zuerst von Sicilien aus]
sich verbreitet zu haben. Sie war ja für die Griechen inter-
national. Wahrscheinlich bediente sich der Historiker desj
attischen Dialektes, wenn man auch Sikelismen bei ihm fand.
Phihstos' Geschichte erlangte bald einen Fortsetzer; nach!
Diodors Angabe schilderte Athanis^) die Jahre 362 — 355, um]
den Zusammenhang herzustellen, während den Hauptteil des]
Werkes von dreizehn Büchern die Geschichte Dions einnahm:
1) Quintil. a. O.
2) Ilepl 54<ous 40.
i3) Demetr. tt. ipfi^jv. 198 (er wirft ihm nXafiotfiTac vor). Dionys. adJ
Cn. Pomp. 6.
4) Theon itpoYojtv. p. 66, 27 Sp,
6) Fr. 17, vgl. Theon p. 66, 10 ff.
6) Dionysios ad Cn. Pomp. 6 nennt ihn jitxpoXoYO? ; der Name von;
Gelons Hnnd (fr. 44) dürfte bei der Aelian. var. hist. 1, 13 erzählten Ge-
schichte vorgekommen sein.
7) Dionys. ad Cn. Pomp. 6. vet. Script, cens, 3, 2.
8) Steph. Byz. v. 'Ajißpaxia.
9) Diodor. 16, 94, 4 (Variante 'AMvtic, 'Aö-iva?); vgl J. F. J. Arnoldt
de Athana rerum Sicularum scriptore, Gumbinnen 1846; ders. Timoleon,
Gumbinnen 1860 S. 12 ff.
Thukydides und Philistos, 431
Die drei erhaltenen Fragmente^) beziehen sich jedoch auf die
sonderbaren Wörter des älteren Dionys und auf Timoleon,
Auch Athenis nahm in Syrakus eine sehr angesehene
Stellung ein ^).
1) Müller, fragm. histor. H 81 ff.
2) Theoporap. fr. 2! 2 bei Steph. E. v. Aü|jlyj.
Dreizehntes Kapitel.
Xenophon.
Biographie und Charakter; Anabasis (Sophaiuetos) , Hellenika, Agesilaos;
Kyropädie nnd sokratische Bücher; über den spartanischen Staat und die
athenischen Finanzen ; Schriften über den Reiterdienst ; Jagdbuch ; Hieron ;
Reihenfolge der Schriften; der jüngere Xenophon; Stil; Wertschätzung
Handschriften und Ausgaben.
^1
Der Schriftsteller, den man jenen zwei Klassikern der GHI
Schichtsschreibung beizufügen pflegt, wurde von den Alten nicht
eigentlich als Historiker von Fach betrachtet; Xenophon er-
streckte ja in der That seine Thätigkeit auf verschiedenartige
Gebiete. Dennoch dürfte es mit den geringsten Bedenken
verbunden sein, wenn man ihn den Geschichtsschreibern bei-
zählt.
Über die Jugendzeit Xenophons, ^) dessen Vater Gryllos
Bürger im athenischen Gau Erchia war, ^) ist nur soviel über-
liefert, dass er zu den Schülern des Sokrates gehörte.^) Da
ihm als Aristokraten die Zustände, welche in Athen nach der
1) Alte Biographie von Diogenes Laertios II c. 6; K. W. Krüger
de Xenophontis vita quaestt. critt., Halle 1822 = histor. philol. Stud. 2,
262 flF.; F. Ranke de Xenophontis vita et scriptis, Berlin 1861 (mehr über
den Charakter); Alfr. Croiset Xenophon son charactöre et son talent
Paris 1873; A. Roquette de Xenophontis vita, Königsberg 1884; Xenophon
als Offizier: W. Rüstow militärische Biographien I S. 37 — 246.
2) 'Ep^uu*: Diog. 48; über rp6XXo<; oder FpoXoc Roquette im Anhang.
3) Anekdote über ihre Bekanntschaft Diog. 48, Stob. flor. Bd. II p. 2l9,
6 ff. Wachsm. ; davon, dass Sokrates in der Schlacht von Delion Xenophon
rettete (Strabo 9, 403. Diog. 2, 22), weiss Plato sympos. 220 de nichts. Daran,
in Verbindung mit der Nachricht, das« er Gastfreund des Böotiers Proxenos
war, schloss sich die Behauptung, dass er in Böotien gefangen genommen
wurde (Philostr. vit. soph. 1, 12).
I
Xenophon. 433
Vertreibung der Dreissig eintraten, nicht gefielen, nahm Xenophon
ohne Bedenken die Einladung des Böotiers Proxenos an, mit
ihm unter Kyros gegen die Pisidier zu fechten. ^) Wohl oder
übel musste er, als Kyros seine wahre Absicht enthüllte, ihm
nach Babylonien folgen. Eine bestimmte Stelle bekleidete er
in dem Heere nicht; als aber die Katastrophe von Kunaxa
erfolgt war, zeigte er so viel Geistesgegenwart, dass er unter
die Führer des Rückzugs gewählt wurde. Der improvisierte
General dürfte damals nicht viel über dreissig Jahre gezählt
haben. *) Wie glücklich der Rückzug verlief, ist bekannt ; indes
darf ich nicht verschweigen, dass Xenophon seinen Anteil an
dem glücklichen Ausgange wahrscheinlich vergrössert hat, da
Diodor, welcher den Rückzug der Zehntausend nach anderer
Quelle ausführlich schildert, nicht ein einziges Mal seinen Namen
nennt. Im März 399 trat Xenophon mit den ihm treu ge-
bliebenen Söldnern in den Dienst der Spartaner, welche damals
mit dem Perserkönig Krieg führten. Zuvor hatte er nach
Athen zurückzukehren gedacht, aber dies wurde ihm jetzt durch
das Verbannungsurteil, welches die Athener über ihn verhängten,
unmöglich gemacht. Was veranlasste nun dieses Urteil?^)
Man muss hier zwischen Vorwand und wirklichem Grund wohl
unterscheiden. Letzteren deutet Xenophon selbst an,*) es war
1) Anab. 3, 1, 9.
2) Nach Anab. 3, 1, 14 (uoiav 8' -rjXixiav efiaoTu» eX^elv &va[JLEVü)). 25.
2, 37 (vEcuxatot) war er jung , wie es die Griechen verstanden. Seuthes hält
es Anab. 7, 2, 38 für möglich, dass Xenophon eine heiratsfähige (also min-
destens zwölf Jahre alte) Tochter habe. Krüger historisch-philol. Studien
2, 262 ff. und kritische Analekten 2, 42 ff. kann, weil er der Anekdote von
Delion Glauben schenkt, das Geburtsjahr nicht nach 444 ansetzen, was den
obigen Stellen widerspricht. Vgl. Athen. 5, 2]6d. Cobet variae lectiones
p. 534 ff. (um 425); Selchau Nordisk tidskrift for fllologi n. r. 7, 1 ff. Die
Alten bestimmten die Zeit Xenophons nach der Anabasis (Ol. 94, 4 Diog. 55)
oder nach Sokrates (Ol. 89, 1, wo die Wolken des Aristophanes zur Auf-
führung kamen, oder Ol. 95, 1, dem Todesjahre des Sokrates, Euseb. Suidas).
Als Sokratiker wird er sogar an den Hof des älteren Diouysios f Athen, 10,
427 f) und nach Megara (Epist. Socrat. 21) versetzt.
3) Nicolai Jahilbb. f. Phil. 89, 811 ff. Schenkl Sitzungsber. der
Wiener Akad. 60, 639 ff., 80, 154 A.
4) Anab. 8, 1, 5. Daraus ist Pausan. 6, 6, 5. Dio Chrys. or. 8, 1, vgl.
Diog. 58. Epist. Socrat. 5, 1 geschöpft; Diog. 51 stammt aus Anab. VII 7, 57
(06 Y"? '^<" <{''^<poc o-hzib £ii'?ixxo ^AQ-r^vriai nepl <p!>Y'*l'^)-
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. U. 28
434 Dreizehntes Kapitel.
die Beteiligung am Aufstande des Kyros, welcher von jeher
der thätigste Freund der Spartaner gewesen war. Doch durften
die Athener dies nicht öffentlich aussprechen, weil sie im Jahre
399 noch unter Spartas Herrschaft standen. ^) Der vorgeschobene
Grund ist natürlich nicht zu bestimmen, etwa weil Xenophon
sich der Dienstpflicht zu Hause entzog. Die Spartaner ent-
schädigten Xenophon für den Verlust der Heimat, zu der seine
Neigung ohnehin nicht stark war, vollauf. Nachdem er an
ihren Kämpfen in Asien teilgenommen hatte, ^) begleitete er
den König Agesilaos, dem er mit aufrichtiger Begeisterung
zugethan blieb, nach Griechenland zurück und focht in der,
Schlacht von Koroneia gegen sein Vaterland. ^) Für die Über-
lieferung des Söldnerheeres erhielt nun Xenophon den Lohn,]
der wahrscheinlich früher bereits vereinbart worden war, näm-
lich die Ehre der Proxenie*) und ein Gut im Gebiet desj
elischen Städtchens Skillus. ^) In dem lieblichen von Wäldern]
durchzogenen Hügellande führte der Condottiere mit seiner^
Gattin Philesia und den zwei Kindern Gryllos und Diodoros^)]
ein idyllisches Leben ; der fromme Mann errichtete der ephesischenj
Artemis eine Votivkapelle und die Söhne stellten ihr zu Ehrei
Jagden in den wildreichen Wäldern an. '') Erst die Folgen derl
Schlacht von Leuktra zerstörten dieses Stillleben. Xenophon
musste, von den Eleern des Gottesfrevels angeklagt, nach
Lepreon flüchten, ^) worauf er in Korinth seineu Wohnsitz nahm.
1) Xenoph. Hell. 3, 1, 4.
2) '0 tÄv Kopstüjv npoEOTfjxux; Hell. 3, 2, 7 ist jedenfalls er.
3) Plutarch. Ages. 18, vgl. Anab. 5, 3, 6. Es ist unwahrscheinlich, ds
die Verbannung erst deswegen ausgesprochen wurde (Niebuhr kleine hist.l
Schriften I 467; Grote history of Greece IX 240); Anab. 6, 3, G f. beweistj
dies nicht.
4) Diog. 51 ; nach Diokles (Diog. 64) durften seine Söhne in Sparta^
erzogen werden.
6) Pausan. 5, 6, 6, vgl, Anab. 6, 3, 7.
6) Dinarch. u. Demetr. Magn. bei Diog. 62. Er war anscheinend schon
zu Sokrates' Lebzeiten verheiratet (Aeschines bei Cic. inv. 1, 31, 61); im
Jahre 399 hatte er aber noch keine Kinder (Anab. 7, 6, 34).
7) Anab. 6, 3, 7 ff.
8) Diog. 53; die rätselhaften Worte tlq ttjv ^HXiv Tcpotepov finden ihre
Erklärung durch Pausan. 5, 6, ü. Der Zusatz der Eleer, dass er sein Gutj
zurückerhielt und dort begraben wurde, scheint tendenziös, denn Siuiplikiosj
ad Epictet. p. 153 Salm. (Xenoph. opp. ed. Schneider IV p. XXIV) sagt^
X(I>v 'OXu]Xrtttuv e^exYjpü/^O'Yi.
'
Xenophon. 435
Doch bald gestaltete sich seine Lage wieder günstiger. Nachdem
nämlich die Athener 363 mit den Spartanern ein Bündnis
gegen die übermächtigen Böotier geschlossen hatten, suchten
sie sich Agesilaos dadurch zu verpflichten, dass sie den Ver-
bannten auf Antrag des Eubulos in alle bürgerlichen Rechte
wieder einsetzten.^) Dem siebzigsten Jahre nicht mehr ferne,
machte Xenophon für sich davon vielleicht keinen Gebrauch, ^)
dagegen Hess er seine beiden Söhne in die athenische Ritter-
schaft eintreten. 3) Auch diese Freude sollte ihm getrübt werden :
Gryllos fiel heldenmütig kämpfend in der Reiterschlacht von
Mantineia.^) Da zeigte sich, wie berühmt und angesehen der
Führer der Zehntausend war. Sein Sohn ward mehr als je
ein griechischer Held gefeiert. Die Schriftsteller, unter denen
selbst der berühmteste Redekünstler der Zeit nicht gefehlt haben
soll , wetteiferten in Enkomien und ähnlichen Gelegenheits-
schriften, ^) zu Athen erhielt Gryllos in der bildlichen Darstellung
der Schlacht den Ehrenplatz^) und Mantineia errichtete ihm
ein Denkmal.'') Der greise Vater soll die Todesnachricht mit
männlicher Fassung ertragen haben. ^) Die folgenden Jahre
verbrachte er trotz seinem hohen Alter in reger Thätigkeit; an
der griechischen Geschichte schrieb er noch mindestens 359 ^)
und die Schrift über die athenischen Finanzen ist gar erst 355
verfasst. Bald darauf dürfte Xenophon sein langes wechsel-
volles Leben beschlossen haben und zwar in Korinth,^^) denn
in Athen scheint man kein Grabmal gefunden zu haben.
1) Istros bei Diog. 59 ; dieser bezeichnet Eubulos zugleicb als Urheber
der Verbannung. Nach Letronne (bei Dindorf ed. Oxon. p. XLI ff.) war aber
letzterer der Archon von Ol. 96, 3.
2) Ps. Plutarch. Demosth. 845 d ist nur eine Vermutung.
3) Diogen. 53.
4) Ephoros bei Diog. 54 ; daher ist es eine Fabel, dass er Epaminondas
die Todeswunde beibrachte (Pausan. 8, 11, 6).
5) Aristotel. und Hermipp. bei Diog. 55, vgl. Eose Aristoteles pseudepi-
graphus p. 76 f.
6) Pausan. 1, 3, 4. 9, 15, 5.
7) Pausan. 8, 9, 5.
8) Diog. 54. 55.
9) In diesem Jahr wahrscheinlich wurde Alexandros von Pherai er-
mordet (A. Schäfer Demosthenes I 133 A. 2); Stesikleides (Diog. 56) meinte,
wie xaT£aTps4*s zeigt, dass er in diesem Jahre seine Ceschichte vollendete,
nicht dass er starb. Ueber 90 Jahre alt nach Ps. Lucian. }j.axpoß. 21.
10) Demetr. Magn. 56.
28'
436 Dreizehntes Kapitel.
Xenophons Persönlichkeit ^) ist uns durch seine zahlreichen
Schriften genauer als die irgend eines anderen Atheners bekannt. ,^^
Seine ganze Neigung gilt dem Kriegswesen und den bei denfll
Griechen damit zusammenhängenden Beschäftigungen, Reiten
und Jagen; die Freude an Pferden und Hunden gibt sich in
vielen Bemerkungen kund. Gegen seine Nebenmenschen er-
scheint Xenophon wohlwollend gestimmt. Er tritt im Oikonomikos
für eine bessere Stellung der Frauen und Sklaven ein; die
Barbaren werden so unparteilich geschildert als einem Griechen __.
möglich war. Gerne würzt er die Erzählung mit etwas trockenem ^
Humor. ^) Was aber Xenophon charakterisiert und von Herodot
oder gar Thukydides auffallend unterscheidet, das ist sein
religiöser Standpunkt. Er hängt ja noch ganz an dem alther-
gebrachten Götterkulte ^) und empfiehlt die üblichen frommen
Bräuche in seinen theoretischen Schriften häufig an. Vor jeder
wichtigen Unternehmung erforscht er den Willen der Götter,
sei es bei einem Orakel oder im Felde aus den Opfern, wobei ,
er selbst in der Eingeweidebeschau dilettiert; ein Zweifel ^nfl
der Wahrheit der Orakel oder an der Wirksamkeit der Opfer «
steigt ihm nie auf. Nehmen wir dazu, dass Xenophon auf
militärischem Gebiete gründliche Kenntnisse besass und sich
für alles interessierte, *) so stellen wir uns einen strenggläubigen
Offizier, mit dem angenehm zu verkehren war, vor.
Leider wird dieses Bild durch entstellende Züge getrübt
1) Eanke u. Croiset a. O.; Jos. Borscht de Xenophontis pietatej
deorum fiducia atque ratione historiae scribendae. Speier 1861; Carl Bra-
bau der quaestiones Xenophonteae, Lüdenscheid 1870 (Diss. v. Göttingeu) ;
Fr. Butters Xenophon als Patriot, Zweibrücken 1872 ; F. Cocian quaeritur
qualis sententias in historia Graeca secutus sit Xenophon de rebus divinis et i
publicia, Budweis 1879.
2) Z. B. Cyrop. 2, 2 (Demetr. n. ipjiTjv. 134); Scbimmelpf eng znrj
Würdigung von Xenophons Anabasis, Berlin 1870.
3) Daher bekämpft er memor. 4, 7, 6 fl". den Atheisten Anaxagoras;
Eckh. Coli mann de Xenophontis circa res divinas seuteutia, Marburg 1833;
J. H. Lindemann über die sittlich -religiöse Lebensausicht des Xenophon,
Coiutz 1843; O. Fabricius zur religiösen Anschauungsweise des Xenophon,
Königsberg 1870.
4) Dass ihm im herrlichen Pontaslande der Sinn für Naturschönheit ^
fehlte (Fallmerayer Fragmente aus dem Orient I 290 f.), ist ihm als]
Uriecheu und nach solchen Erlebuisseu uicht zu verargen.
Xenophon. 437
Xeuophon trieb die Abneigung gegen die Demokratie ^) soweit,
dass er nicht bloss dem Staate, der kurz vorher Athens Mauern
gebrochen und die Dreissigmänner eingesetzt hatte, ein stattliches
Heer zuführte, sondern sogar gegen seine Mitbürger kämpfte.
Seine griechische Geschichte vor allem ist ein trauriges Zeugnis,
wie man aus Parteileidenschaft die Flecken der eigenen Sache
verschwieg und den Gegner kleinlich herabsetzte. Auch die
Art der Herausgabe der Anabasis, wovon wir später sprechen
werden, wirft auf Xenophons Charakter kein schönes Licht.
Niebuhr ging freilich zu weit, als er schrieb:^) ,, Wahrlich
einen ausgearteteren Sohn hat kein Staat jemals ausgestossen
als diesen Xenophon!" Aber auch ein ruhigerer Beurteiler
kann nicht umhin, erhebliche Charakterschwächen anzuer-
kennen.
In der Stille von Skillus und dann in Korinth benützte
Xenophon seine Müsse zu schriftstellerischen Arbeiten. Seine
Schriften zeigen klar, dass er nicht von Jugend auf dazu sich
heranbildete, sondern im Vergleiche mit den übrigen Klassikern
der griechischen Prosa gewissermassen ein Dilettant war, dem
die regelrechte Schulung fehlte.
Man darf daher glauben, dass Xenophon zuerst durch eine
ihn persönlich berührende Angelegenheit gereizt der Schriftstellerei
sich zuwandte, und welche konnte ihm näher gehen als wenn über
den Rückzug, dem er seinen Ruhm verdankte, ein ihm un-
günstiger Bericht erschien? Unter den Führern der Söldner
hatte sich auch Sophainetos von Sty mphalos befunden. Dieser
veröffentlichte nicht sehr lange nach der Rückkehr ^) eine Dar-
stellung des Zuges, in der Xenophons Name kaum vorkam;
1) Paul Werner quae fuerit Xenophon tis de rebus publicis sententia,
Breslau 1851; W. Engel Xenophons politische Stellung und Wirksamkeit,
Stargard 1853.
2) Kleine historische u. philol. Schriften I 464 fi.; gegen ihn Ferd,
Delbrück Xenophon. Zur Kettung seiner diirch B. G. Niebuhr gefährdeten
Ehre dargestellt, Bonn 1829.
3) Nach Xenoph. Anab. 5, 3, 1. 6, 5, 13 war er einer der ältesten
Anführer (vgl. Sehen kl Sitzungsber. der Wiener Akad. 60, 635); Xenophon
erwähnt ihn selten und dann ungünstig (5, 8, 1. 6, 5, 13). Nur Stephanos
von Byzanz hat einige Fragmente bewahrt (v. KapSoöxoc, Tko/oi, 4>6oxoc,
Xapfidvo-ri). Xenoph. Anab. 1, 8, 18 ki-^ooai U xcvs; u. s. w. scheint von
einem Leser beigefügt.
438 Dreizehntes Kapitel.
man nimmt wenigstens an, dass Diodors Erzählung auf ihn
zurückgeht. ^) Xenophon entschloss sieh daher, eine ausführliclie
Gegenschrift, die berühmte Köpoo avdßa okz,^) herauszugeben.^)
Weil er nun darin sich selbst möglichst hervorheben wollte,
was auch den Griechen nicht recht zienilich erschien, wählte
er einen Ausweg, den schwerlich jemand vor ihm eingeschlagen
hatte. Xenophon ist nämlich der Erfinder der Pseudonymität.
Wider die Gewohnheit der Historiker liess er das Vorwort weg,
um weder seinen Namen noch den eines anderen ausdrückUch
nennen zu müssen, und in der Erzählung selbst machte er]
einige ungeschickte Versuche, das Buch wie aus den Berichten]
von Augenzeugen, doch nicht von einem Teilnehmer verfasstl
hinzustellen,^) Im Titel stand wahrscheinlich der Name einesi
Themistogenes von Syrakus; denn Xenophon verweist in den]
Hellenika (3, 1, 2) auf diesen, welcher den Zug der Zehntausend
erzählt habe. ^) Leugnet man diese Identität, so bliebe nur diei
wenig wahrscheinliche Annahme übrig, dass Xenophon, als er]
das dritte Buch der griechischen Geschichte schrieb, au die Ab-
fassung der Anabasis noch nicht dachte. Es ist ihm nicht]
gelungen, die Verfasserschaft einem anderen zuzuschieben, so]
1) Volquardsen Untersuch, über die Quellen der griech. und sicil.
Geschichten Diodors S. 131 f.
2) Die Alten sagen häufig allein avdßaatc wie izaihtia. H. Schenkl
Xenophontische Studien I. Wien 1869 (Sitzungsber. der Wiener Akad. 60,,
563 flf.); H. Taine Xenophon. L'anabase, Essais de crit. et histoire Parisj
1874 p. 49 ff.
3) Anab. 6, 6, 9 beweist, dass er nach dem Ausbruche des korinthischen^
Krieges schrieb; 5, 3, 7 ff. urgiert Schenkl a. O. S. 633 ff. 80, 163 das
Imperfekt, aber s. S. 406,3 und wxelto Anab. 1, 4, 11. Gerade bei einer so
persönlichen Sache war das Präsens in einer Pseudonymen Schrift nicht
am Platze.
4) 1, 8, 6. 18. 2, 2, 6. 4, 7, 15. 5, 4, 34; sTi-fiXa-oiiev 7, 8, 25 gehört zu
einem unechten Stücke.
5) So Plutarch. glor. Athen. 1 u. Tzetz. Chil. 7, 940 (Suidas v. Wefiiaxo-
fivfiz hält diesen irrtümlich für den wirklichen Verfasser und schreibt ihm,
wie es bei verschiedenen geschieht, „andere" Schriften zu); ebenso Wester-
mann ad Voss. bist. Gr. p. 53, C. Müller fragm. bist. II p. 74 u. A.
Jacobs Vermischte Schriften VI 45 ff. besonders 68 ff. und Bernhard y
zu Suidas glauben, er habe Xenophons Werk herausgegeben oder ihn sonst-
wie unterstützt. Andere nehmen zwei verschiedene Werke an (z. B. Schneider,
Creuzer historische Kunst S. 230, zurückgenommen Wiener Jahrbb. der
Litteratur 122, 3, und Lincke Hermes 17, 283).
Xenophon. 439
deutlich hat er sich sowohl durch den Stil als durch die
Einzelheiten , die ihn persönlich angehen , gekennzeichnet. ^)
Nächst der Selbstverherrlichung leitete den Historiker sicherlich
der (jedanke, die Pläne des Agesilaos zu fördern und den
Wünschen der Patrioten, welche in einem Perserkrieg das Allheil-
mittel für die innere Zerrüttung des Vaterlandes erblickten,
entgegenzukommen, indem er die Hilflosigkeit des ungeheueren
Reiches an einem drastischen Beispiel darstellte. Mag auch
Xenophon, wenn er von sich oder von seinen Feinden redet,
nicht vollen Glauben verdienen, so haben doch die Reisenden
unserer Zeit der geographischen Genauigkeit des Geschichts-
schreibers ein günstiges Zeugnis ausgestellt.^) Der Historiker,
welcher eigene Erlebnisse schildert, erzielt in der Regel grösseren
Erfolg bei dem Publikum als der gelehrte; die Wirkung der
Anabasis vollends wurde durch die Aufregung verstärkt, mit
welcher der Leser die kühne Schaar alle Gefahren, die in der
fremdartigen Gegend erheblich gesteigert erscheinen, überwinden
sieht, bis sie endlich wieder zu Landsleuten gelangen. So
kommt es , dass die letzten Bücher der Anabasis , weil die
Spannung gemindert ist, an Reiz weit hinter dem Vorhergehenden
zurückstehen.
1) Z. B. 3, 1, 4 ff. 5, 3, 5 ff. 7, 8, 6. 23 ff.; im allgemeinen K. W.
Krüger de authentia et integritate Anabaseos Xenophonteae, Halle 1824 =
kritische Analekten III. (Berlin 1874) S. 115 ff. gegen Sam. Natb. Morus,
welcber in der Leipziger Ausgabe von 1775 die Echtheit bestritt.
2) Ausser Moltkes „Briefen aus dem Orient" sind zu erwähnen James
ßennell illustrations of the history of the expedition of Cyrus, London
1816, übers, von Lion, Göttingen 1825; Karl Koch der Zug der Zehn-
tausend nach X. Anab. geographisch erläutert, Leipzig 1850; Gust. Hertz-
berg der Feldzug der zehntausend Griechen, Halle 1861. ^1870; W. Strecker
u. H. Kiepert Beiträge zur geographischen Erklärung des ßückzuges der
Zehntausend, Berlin 1870 (Ztsch. der Ges. f. Erdk. IV.); Kiepert Ztsch.
der Gesellschaft für Erdkunde 18, 388; F. Eobiou itineraire des Dix-mille,
Paris 1873 (Bibl. de l'^c. des hautes et. fasc. 14); ausserdem W. Voll brecht
Philol. 36, 349 ff. u. zur Würdigung und Erklärung von Xenophons Ana-
basis, Eatzeburg 1880; ders., die Expedition gegen die Drileu, Philol. 35,
446 ff.; E. A. Richter Jahrbb. f. Phil. 117, 601 ff. und Altes und neues
zur Expedition Xenophons in das Gebiet der Drilen, Altenburg 1880;
O. Kämmel die Berichte über die Schlacht von Kunaxa Philol. 34, 516 ff.
665 ff.; W. Mangelsdorf zu Xenophons Bericht über die Schlacht bei
Kunaxa, Karlsruhe 1884.
440 Dreizehntes Kai>ite].
Um dieser Eigenschaft willen erwarb sich das Buch ein
zahlreiches Publikum, zumal unter den jüngeren Altersklassen
und in militärischen Kreisen, aber auch gelehrte Leser fehlten
nicht, welche allerlei zum Teil sachkundige Zusätze machten;
mehrere derselben sind dadurch erkennbar, dass sie nicht in
allen Handschriften überliefert sind ^). Am meisten Wert be-
sitzt das Verzeichnis asiatischer Völker, Fürsten und Gouver-
neure, welches jetzt das Werk abschliesst ^). Die Abweichungen
in den Truppenzahlen ^) dürften dagegen eher durch die Nach-
lässigkeit der Abschreiber als durch Einschiebsel veranlasst]
sein. Eine buchhändlerische Massregel war die Einteilung in,]
Bücher, deren man sieben feststellte ^). Daran knüpfte sich die]
Einfügung von Rekapitulationen, wobei, wie die Codices zeigen,
verschiedene Hände thätig waren ^).
Wie die Anabasis, so ist auch Xenophons ,, griechisch!
Geschichte" ('EXXirjvtxd)^) kein rein historisches Werk, sonderni
eher eine Tendenzschrift. Da der Verfasser ein Schlusswort
beifügt, darf man annehmen, dass er dieses Mal mit dei
1) Schenk 1 Sitzungsber. der Wiener Akad. 60, 595; über die Inter'^
polalionen im allgemeinen Krüger a. O. S. 143 ff. u. E. A. Richter krit
Untersuchungen über die Interpolationen in den Schriften Xenophons voi
zugsweise der Anabasis u. den Hellenicis, Leipzig 1873 (Jahrbb. SupplJ
6, 559 ff.).
2) Von Krüger S. 121 ff. verworfen; über den Wert Schenkla. O.
696 f. L incke Hermes 17, 285 f.; Kiepert Ztsch. f. Gymnasialweaen 5,2
vermutet, dass es aus dem Buche von Sophainetos stammt.
3) Ritschi Rhein. Mus. 13, 136 ff. = Opusc. I. 437 ff.; Rud. Nei
b e r t de Xenopbontis anabasi et Diodori .... parte bibliothecae, Leipzig I SS
p. 1—24.
4) Schon bei Athenaios (Schenkl a. O. 60, 573, l) und Diog. 2, 57|
5) Schenkl a. O. 60, 594, vgl. Lincke Hermes 17, 284; Birt d«
antike Buchwesen S. 464 ff. Nur das sechste Buch entbehrt eines Proömiuma
die Interpolation, welche unsere Ausgaben c. 3 bieten, fehlt in den besseren Hand
Schriften. Die Proömien wurden zuerst von Jacob üsserius annales veter
et novi testameuti, Genf 1722 p. 125 verworfen. Ephoros (Diod. 16, 76,
scheint solche Rekapitulationen eingeführt zu haben. Wa.s Georgios Lekj
penos und Phavorinos angeblich aus der Anabasis anführen , ist erfunde
(Dindorf ed. Oxon. p. XXX; Schenkl a. O. S. 632 A. 1).
6) So lautet der Titel in den besten Handschriften ; andere habe
'EXXtjvixtj toTopia, 'EXXfjvtxai latopiai, 7tapaXeiit6|j.eva "KXXfjvtxcüv oder 'PjXXi
vtxTjc; loTopiac oder öooxo8i5ou, vgl. Bull, de corr. hellen. 1878 p. 152; 'KXXirj«
vixat Harjwcr. v. ava^xalov; loxoptat Diodor. 16, 76, 4.
Xenophon. 4^|
Publikum nicht Verstecken gespielt, sondern in einem Vor-
worte, wie es üblich war, seinen Namen aufrichtig genannt
und den Plan des Werkes dargelegt hat. In dem Zustande
jedoch, wie es uns heute vorliegt, setzt es abgerissen mit \isza
Ss Taota ein, wodurch die Hellenika zu einer unmittelbaren
Fortsetzung des thukydid eischen Werkes geworden sind. Dass
Xenophon selbst so unselbständig war, wie ein mittelalterlicher
Chronist genau dort anzuknüpfen, wo den Vorgänger der Tod
von der Arbeit abgerufen hatte, darf man nicht glauben; da
nun beide Werke nicht genau an einander passen ^), dürfte dies
ein äusserer Beweis dafür sein, dass ein Späterer Xenophons
Werk ungeschickt verstümmelte, um eine fortlaufende Erzählung
herzustellen. Gab ihm dazu der Schriftsteller selbst ein ge-
wisses Recht, indem er Thukydides' Werk fortführen wollte"?
Gewiss nicht! Denn er wich beinahe in allen Punkten von
seinem Vorgänger ab (er hielt nur an der Einfügung politischer
Reden fest) und zuvörderst wurde die allgemeine Anlage ver-
ändert, weil er die annalistische Einteilung des Thukydides auf-
gab. Die Alten haben nie mehr als wir besessen ^). Wie viel
verloren gegangen ist, kann man nicht erraten, aber es scheint
mir, dass Xeaophon den Fall Athens zum Ausgangspunkte
nahm, während die vorhergehenden Ereignisse (etwa seit der
sicilischen Niederlage) , nur damit der Zusammenhang mit
Thukydides hergestellt wäre, kurz geschildert wurden.
Die Hellenika machen weder dem Charakter noch der
historischen Anlage Xenophons Ehre. Er schrieb freilich mit
Ueberzeugung und nicht aus materiellen Gründen zur Ehre
des spartanischen Staates, indes überschreitet seine Anhänglich-
keit an diesen die erlaubten Grenzen^) Die Spartaner werden
1) Bü chseusch üt z Philol. 14, 508 ff., bestritten von Volckniar
de Xenophontis Hellenicis, Göttingen 1837 p. 27 1f. u. Breitenbach
Philol. 2, 441 ff. n, in seiner Ausgabe § 68 ff.; vgl. auch Alfr, Ludwig
Jahrbb. f. Phil. 95, 151 ff. Grosser Jahrbb. f. Phil. 95, 737 ff.
2) Diod. 13, 42, 5. Beide Werke vFurden in ein Corpus zusammen-
gefügt, woraus Diog. 2, 57 und Marceil. vit. Thuc. 43 zu erklären sind.
Grosser Jahrbb. f. Phil. 105, 25 f. nimmt an , dass es einen zusammen-
hängenden Auszug von Thukydides und den Hellenika gab; nur die zweite
Hälfte desselben soll erhalten sein.
3) W. M e y e r de Xenophontis Hellenicorum auctoris in rebus scribendis
fide et usu, Halle 1867; Fellner in Historische Untersuchungen Arnold
Schäfer gewidmet, Bonn 1882 S. 47 ff. ,
442 Dreizehntes Kapitel.
Überall, selbst wenn sie die ärgsten Gewaltthaten verüben '),
mit Rücksicht behandelt; ihre Niederlagen verschweigt Xeno-
phon oder beschönigt die Misserfolge, so dass z. B. die Schlacht
von Koroneia wie ein entschiedener Sieg erscheint, während er
knidischen Niederlage kaum einige Worte widmet. Die Gottes-
furcht der spartanischen Feldherrn wird geflissenthch hervor-
gehoben und der Leser soll sich für die geringste Kleinigkeit,
die Xenophons Gönner Agesilaos angeht, interessieren. Der
aber dunkel und unklar ist und Euphemismen liebt, wenn es
sich um Spartaner handelt, derselbe drückt sich über die
Ausschreitungen der Demokraten merkwürdig klar und scharf
aus; diese spielen die Tyrannen^) und hier, nicht bei den
Spartanern sind die gehassten ,,Harniosten" zu finden ^). Am
schlimmsten ergeht es den ßöotiern, weil sie es gewagt haben,
Sparta zu besiegen : Pelopidas erscheint ein einziges Mal (7,l,33fF.)
und da nur, damit er als Bittsteller beim Perserkönig verächtlich
gemacht werde. Der lebende Epaminondas hat Xenophon keii^l
Anerkennung entringen können, bis seii.i Tod den Historiker zu
kärglichem Lobe bestimmte^). Die Befreiung Messeniens schweigt
er tot. Der in militärischen Dingen sonst so beredte Mann spricht
kaum von den bedeutenden Reformen des Epaminondas ui^A
Iphikrates ; sie wurden ja seinen Parteigenossen verderblich. Sogar
hinsichtlich seiner eigenen Landsleute richtet Xenophon sein
Urteil nach ihrem Verhalten: -Er behandelt sie gehässig^), wo sie
den Spartanern widerstrebten (selbst Theramenes ^ war ihm zu
gemässigt), milder in neutralen Dingen, obgleich die Thätigkeit
des Timotheos'') und Iphikrates die gebührende Anerkennung
nicht findet, wohlwollend endlich, so lange sie mit den Spartanern
verbündet sind. Es stände schlinmi um die griechische Ge-
schichte jener Zeit, wenn Xenophons Hellenika allein erhalten
wären.
1) Lysanders Grausamkeit wird II 1, 31 f. ausführlich verteidigt; an
der Gewaltthat der Dreissig tragen die Spartaner nicht die geringste Schuld
(II 3, 21).
2) Topavveüovxec 4, 4, 6.
3) 4, 8, 8. 7, 1, 43. 3, 4.
4) Deiter de Epaminonda Xenophonteo et Diodoreo, Emden 1874.
6) Z. B. 2, 2, 3. 10 u. ö.
G) Vgl. Pöhlig der Athener Theramenes, Jahrbb. Suppl. 9, *i24 ff.
7) Vgl. Schäfer Demosthenes I 44 A. 1.
Xenophon. ^^q
Diese sittliche Schwäche ist nicht einmal durch literarische
Vorzüge verhüllt. Durch die Hellenika bekundet Xenophon
im Gegenteil, dass ihm der historische Sinn abgeht. In der
Anabasis war seine Kleinmalerei, weil er ein beschränktes
Thema mit gleichbleibender Ausführlichkeit behandelte, nicht
störend. Sowie er sich aber mit den Ereignissen eines langen
Zeitraumes zu beschäftigen hatte, stellte sich heraus, dass ihm
die Empfindung für das Wichtige mangelte. Da er doch in
einem massigen Werke (es füllt jetzt sieben Bücher)^) die Vor-
kommnisse seit 411 bis zur Schlacht bei Mantineia, also von
fast fünfzig Jahren schildern wollte, musste er einzig das Be-
deutungsvolle herausheben. In Wirklichkeit bethätigt Xenophon
eine auffallende Vorliebe für Nebensachen, wobei, wie oben ge-
sagt ist, seine persönliche VorHebe mitspielt. Dagegen tritt
vieles wichtige ganz zurück, weil es kurz oder unklar mitgeteilt
wird. Statt dass die Stellung der leitenden Mächte, Sparta,
Athen und Theben stets genau markiert wird, erfahren manche
Kleinstaaten, wie Phleius, eine unverhältuismässige Berück-
sichtigung. Ein solches Gemisch von Nebensächlichem und
Notwendigem kann allerdings nicht einmal massigen Ansprüchen
genügen, ebenso wenig hat es aber das Aussehen einer Epitome
eines grösseren Originals ^). Weil derartige Ungleichheiten auch
1) Ueber die Bucheinteilung Lewis Classical Museum II 1 ff. ; Arn.
Schäfer Jahrbb. f. Phil. 101, 527 (Er weist nach, dass es wahrscheinlich
auch in neun Büchern eingeteilt wurde).
2) Teil Philol. 10, 567 f., Campe Einl. zur Uebersetzung von Xen.
griech. Gesch. 1856 S. 8, besonders KoTcpiavoc ^tspl xoiv 'EXXir]vtv.üiv toö
Scvocpcüvxoc , Athen 1859 und OtXbxcup 11 339 ff., D ittrich-Fabricius
Jahrbb. f. Phil. 93, 455 ff. 95, 721 ff.; die Hypothese beruht hauptsächlich
auf dem ,, Ergebnis" der Quellenforschung, dass Plutarch und Diodor voll-
ständigere Hellenika gehabt hätten (Eich, Grosser Jahrbb. f. Phil. 93,
7 21 ff. 95, 737 ff. 105, 723 ff. zur Charakteristik der Epitome von Xenophons
Hellenica, Barmen 1873, Ztsch. f. Gymnasialw. 30, 257 ff.); aber s. über
Diodor Volquaidsen Unters, über die Quellen der griech. u. sicil. Ge-
schichten bei Diodor, Kiel 1868 u. Collmann de Diodori Sic. fontibiis, Mar-
burg 1869, über Plutarch Herm. Stedefeldt de Lysandri Plutarchei fou-
tibus, Bonn 1867 u. Büchsenschütz Jahrbb. f. Philol. 103,217 ff. Weitere
Literatur verzeichnet Otfr. Schambach Unters, ü. Xenophons Hellenika,
Jena 1871 S. 7. Vgl. J. Hänel besitzen wir Xenophons hellenische Ge-
schichte nur im Auszuge? Berlin 1872 ; Breitenbach Rhein. Mus. 27,
497 ff.; W. Vollbreoht de Xenophoutis Hellenicis in epitomen non coactis.
444 Dreizehntes Kapitel.
den ersten Teil des Werkes entstellen, kann dieser gleichfalls
nicht in verkürzter Fassung vorliegen. Der Unterschied der
Teile besteht nur darin, dass Xenophon, bevor er sich aus
Athen entfernte, hauptsächlich auf das, was er dort hörte, be-
schränkt war, während später die Q.uellen über das Spartanische
reichlich flössen; der Schriftsteller schöpft also mehr aus dem
Vollen, was seiner Darstellung mehr Lebhaftigkeit und An-
schaulichkeit verleiht. In Hinsicht auf den Stil endlich verdient
das Werk gleichfalls kein Lob. Sorgsame Beobachtungen haben
aus dem Sprachgebrauch dargethan, dass Xenophon an den
Hellen ika nicht in einem Zuge, sondern mit längeren Unter-
brechungen arbeitete. Indes ist die scharfe Sonderung der
Abschnitte unthunlich, weil er selbst ohne die geringste Pause
erzählt und Perioden nicht unterscheidet ^). Da der Historiker
in der Anabasis (2, 6, 4) den Leser offenbar auf die Hellenika
verweist, ohne das dort gegebene Versprechen zu erfüllen, war
er damals bereits mit den Vorarbeiten beschäftigt ^). Er schrieb
noch im Jahre 359 (S. 435) daran. Dank der Länge seines
Lebens war Xenophon glücklicher als Thukydides, insofern als
er sein Werk zu Ende brachte. Die Fortsetzung überliess der
Hannover 1874 (Diss. v. Göttingen). Nur die zwei ersten Bücher hält
Sehen kl Sitzungsber. der Wiener Akad. 60, 632 f. für Excerpte, indem er
sich auf Auab. 2, 6, 4 (aXXip '^ifpaKzai) beruft, vgl. jedoch über das Perfekt
Bernhardy Gnindiiffs der griech. Litteratur 11' 1, 210.
1) Zuerst wurde Niebuhr Khein. Mus. I 194 ff. (mit Nachtrag kleine
bist, und philol. Schriften I S. 464 ff., vgl. dazu Delbrück Xenophon
S. 179 ff.; Krüger historischphilol. Studien I 244 fi'. ; A. Lipsius über
den einheitlichen Charakter der Hellenika des Xenophon, Luckau 1857) zur
Unterscheidung von zwei Teilen veranlasst; W. Nitsche über die Abfassung
von Xenophons Hellenika, Berlin 1871 (vgl. Fr. Rosenstiel de Xeno-
phontis historiae Graecae parte bis edita, Diss. v. Göttingen, Jena 1882)
scheidet I — VI (angeblich SSVs verfasst) und V 2 — VH., Grosser a. O.
S. 737 ff. I — n 3, 10; n 3, 11 — V 3; V 4 — VII., Dittenberger
Hermes 16, 330 A. 2 ebenso ausser dass er den zweiten Teil mit V 1 be-
schliesst, was auch Roquette (de Xenophontis vita) thut. Nach H. Sauppe
Nachrichten von der Gott. Ges. der Wiss. 1882 S. 297 ff. ist VH 2 gleich-
zeitig mit dem ersten Teile verfasst.
2) Die Verschiedenheit von Hell. 3, 1, 1 und Anab. 1, 2, 21 fällt den
Abschreibern zur Last; Anab, 1, 1, 1 zeigt nur, dass Hell. 2, 1, 9 u>5
äppu>otd)v nicht ein erdichteter Vorwand war.
Xenophon. ^^g
Greis in dem Schlussworte, das vielleicht auf die Wirren des
heiligen Krieges anspielt, ausdrücklich einem Anderen i).
Diese Hoffnung wurde nicht vor dem fünfzehnten Jahr-
hundert erfüllt, wo der bekannte Philosoph Gemistos Plethon
zwei Bücher hinzufügte; es ist also nicht zu verkennen, dass
die Hellenika den Männern von Fach missfielen 2). Erst als
man so ausführliche Werke wie Theopomps Geschichte nicht
mehr liebte und die Mode die eigenthchen Attiker einseitig
bevorzugte, trug Xenophon den Sieg über den Nebenbuhler so
entschieden davon, dass manche Kritiker die Hellenika als
klassisches Geschichtswerk anpriesen ^). Weil sich aber bei einer
gründhchen Lektüre herausstellte, dass die Kriegsjahre ober-
flächlich und nicht scharf gesondert seien, suchten gelehrte
Leser diesem Mangel durch Einschiebsel abzuhelfen, weshalb
wiederholt Bemerkungen über die eponymen Beamten eines
Jahres eingefügt sind. Da jedoch Xenophon eine bestimmte
Ordnung der Ereignisse nicht einhielt, bHeben dem Interpolator
Missgriffe nicht erspart*). Zu diesen annahstischen Angaben
traten manche synchronistische Notizen, welche Ereignisse in
Asien, SiciHen und Thessalien betreffen und aus guten Quellen
entlehnt sind % Die Angaben über Tempelbrände und Wunder-
1) Nach Wyttenbach ecl. hist. p. X , Sauppe Xenoph. opp. IV
p. X flf., Didotausgabe p. 5 und Breitenbach Xenophons Hellenika I-
p. XXIX § 56 sind die Hellenika unfertig im Koncept hinterlassen.
2) Nach Polion (Porphyr, bei Euseb. praep. 10, 3, 6) beutete Theo,
pompös die Hellenika aus; natürlich musste vieles beiden Werken ge-
meinsam sein.
3) Dionys. epist. ad Pomp. 4, 2. Diodor. 1, 37, 4 (hier wird er gar
Thukydides an Glaubwürdigkeit gleichgestellt). Lucian, hist. conscrib. 39.
4) Diese Interpolationen wurden zuerst von H. Dodwell und Marsham
(Fabr.-Harles b. G. III 9) erkannt. G. R, Sievers commentatt. histor. de
Xenophontis Hellenicis I. Berlin 1833 p. 107 ff.; C. Aug. Brückner de
notationibus annorum in Historia Graeca Xenophontis suspectis, Pr. v.
Schweiduitz 1838; Dindorf in der Oxforder Ausgabe; (verteidigt von Emil
Müll er de Xenophontis historiae Graecae parte priore, Leipzig 1856 S. 20 f.);
Breite nbach Jahrbb. f. Philol. 105, 80. 89. Ueberhaupt alle Jahresanfänge
(TU) 8'aXX(u zzti u. dgl.) verwirft J. Beloch Philol. 43, 261 ff.
6) I 1, 37. 2, 19. 5, 21. II 1, 8 f. 2, 14, immer am Ende des Jahres,
abweichend II 3, 4. 5. Vgl. Riemann qua rei criticae tractandae ratione
Hellenicon Xenophontis textus constituendus sit, Paris 1879 p. 59 flf. G, F.
Unger die bi.storische Glosseme in Xenophons Hellenika, München 1882
446 Dreizehntes Kapitel.
zeichen^) passen so vortrefflich für Xenophon, dass ich keinen
Grund für die Verwerfung sehe; ebenso ist gegen die Verzeich
nisse der spartanischen Ephoren und der athenischen Dreissig
männer schwerlich etwas einzuwenden^).
Darf man auch diese zwei Schriften, die Anabasis und die
Hellenika, nicht als das Ergebnis unbefangener, absichtsloser
Forscliung bezeichnen, so wahrte doch der Verfasser die Form
wirklicher Geschichtswei^ke. Bei allem übrigen dagegen, was
Xenophon schrieb, verhehlte er nicht, dass ihn eine be-
wusste Absicht zur Veröffentlichung der einzelnen Schriften be-
wog. Des lehrhaften Charakters ermangelt nur eine kleine
Abhandlung, welche vielmehr Xenophons königlichen Gönner
verherrlichen sollte.
Seit der Nekrolog von Isokrates in die Literatur eingeführt
war, hatte sich diese Gattung in kurzer Zeit rasch beliebt ge-
macht. Xenophon, der beim Tod des Gryllos selbst mit der-
artigen Produkten geehrt worden war, konnte daher nicM
umhin, wie andere,^) dem Agesilaos als Zeichen des Dankes
einen literarischen Nachruf zu widmen. Der ,, Agesilaos" zeij
nun, dass Xenophon die Technik des Enkomions bloss ob
flächlich sich aneignete und im epideiktischen Stile ungeü
war. Jeder Schüler des Isokrates hätte die typischen Forme
gewandter gehandhabt als der greise Historiker, welcher das
Enkomion behandelte, wie wenn es eine Episode in einem
Geschieh ts werke bilden sollte. Dies zeigt bestimmt, dass der
„Agesilaos" wirklich von Xenophon herrührt und nicht von
irgend einem Rhetor verfasst ist"*). Die Sprache stimmt eben-
elP
(Sitzungsber. der Akad.), auch Teil Philol. 10, 567 fl". und Campe in seiner
Uebersetzung, Stuttgart 1856.
1) I 3, 1. 6, 1.
2) II 3, 2 f. 10. J. Beloch verwirft beides.
3) Ps. Isoer. epist. 9, 1.
4) Der Agesilaos wurde zuerst von Valckenaer diatribe IX. ad Herod.
3, 134. 9, 27 u. ad Phalar. epist. p 320 (350) verworfen. Die ältere Literatur
verzeichnet Sauppe ed. stereot. 1866 V p. 125 fi. ; später verteidigten die
Echtheit Ad. G r u n o de Agesilai qui fertur Xeuophontei elocutione atque
dictioue, Pr. v. Neustadt - Eberswalde 1873 uud Bergk fünf Abhandl. zur
Gesch. der griech. Philos. S. 8 f. Die Unechtheit vertreten Gerb. Terwelp
de Agesilai qui Xenophontis nomine fertur auctore, Münster 1873; Ad.
Sachse über Xenophons Agesilaus, Göttingen 1875 (Diss. v. Jena); M. Evers
Xenophon quomodo Agesilai mores desciipserit, I. Düsseldorf 1883; über die_l
I
Xenophon. ^^n
falls mit der der sicher echten Werke überein, wenngleich
Xenophon in manchem rhetorischer als gewöhnlich zu sprechen
sich bemüht, z. B. wendet er die gorgianische Regel, die Wörter
unverändert oder doch ankhngend zu wiederholen, an^). Was
das Historische betrifft, so weicht der „Agesilaos" allerdings in
einigem von den Hellenika ab ^y, indes sind diese Verschieden-
heiten derart, dass sie nur zeigen, Xenophon verstehe nicht
schlechter als die professionsmässigen Panegyriker dfen Stoff
für seine Zwecke umzumodeln. Endlich hat der Verfasser das
Haus des Agesilaos selbst gesehen (8, 7). Es bleibt also nur
ein wirklich angreifbarer Punkt, ^) die fast wörtliche Ueberein-
stimmung ganzer Abschnitte und der Stellen der Hellenika,
welche Agesilaos angehen. Sieht man jedoch näher zu, so be-
merkt man, dass die Uebereinstimmung bloss den ersten Teil
der Hellenika betrifft^) und die kleinen stiHstischen Varianten
nach den neuesten Untersuchungen eher zu Gunsten des
„Agesilaos" sprechen. Demnach hat Xenophon den ,, Agesilaos"
bereits ausgearbeitet, als die Hellenika noch unvollendet in
seinem Pulte lagen. Manche Störungen der Disposition, be-
sonders die Einmischung ungehöriger Dinge und die Vergess-
lichkeit, welche verschuldet hat, dass das § 2 versprochene
Urteil ausbleibt, können recht gut dem alten Manne selbst zu-
getraut werden. Mit dem ,,Euagoras" des Isokrates zusammen-
gestellt, zeigt der „Agesilaos", wie aus einem rein rhetorischen
Nekrologe allmälich die historische Biographie erwuchs, deren
Ursprung sich noch darin äussert, dass sie in panegyrischer
eigentümliche Ansicht von Hub. Beck haus de Xenophon teo qui fertur Age-
silao, Berlin 1863 s. u.
1) lieber die Sprache Gruno a. O. K. Kyovsky stilistische Eigen-
tümlichkeiten in Xenophous Agesilaos, Pilsen 1884; über die Gorgianismen
u. Ä. Terwelp p. 56 ff.
2) Herrn. Hagen quaestionum Xenophontearum fasc. I. de Xenophonteo
qui fertur Agesilao, Bern 1865; Sachse a. O. p. 16 ff.
3) Es ist nicht wahr, dass vor Cicero (epist. 5, 12) die Schrift nicht
citiert v^ird (die späteren testimonia sind in den Ausgaben von Baumgarten
und Heiland und in der Dissertation Hagens p. 5 ff. gesammelt). Der Perieget
Polemon schrieb uspl xoo Trcxpa Ssvotpdüvxi v-avad-poo (Athen. 4, 138 e), d. h.
über Ages. 8, 7 ; Dikaiarchos scheint die Schrift bereits berührt zu haben
(Plutarch, Ages. 19, 5). Bergk a. O. bezieht sogar Plato Theaet. 175 d ff. auf
unsere Schrift, was E. Rohde Götting. Gel. Anz. 1884 S. 14 widerlegt.
4) B r e 1 1 e u b a c h HeUeuika II p. LVI A.
448 Dreizehntes Kapitel.
Absicht geschrieben ist, wie z. B. auch Timonides oder Simo-
nides, ein Genosse Dions, dessen Leben schilderte.*)
Sonst hat Xenophon, wie gesagt, nur lehrhafte Schriften
verfasst, von welchen die grösseren erzählende Form haben,
während bei den kleineren Aufsätzen Xenophon in eigener
Person spricht.
Von jener Gattung, wo Sokrates und Kyros von Xenophon
als Musterbilder aufgestellt werden, nähert sich den historischen
Schriften am meisten die sogenannte Kyropädie (Kopoo
TuatSsia).^) Nicht als ob sie Xenophon selbst für ein wirkliches
Geschichtswerk ausgegeben oder die Alten sie in diesem Sinne
gelesen hätten! ^) Doch behielt er die äusseren Formen der
Geschichtsschreibung bei, auch verwertete er für die Schilderung
des persischen Staates die Erfahrungen^ welche er auf seinem
Zuge gemacht hatte ; er kannte auch die Werke des Herodot^)
und Ktesias und mag manche mündhche üeberlieferung gehört
haben.'') Aber das Historische, das übrigens nicht gründlich
gearbeitet war,^) bildete nur die äussere Dekoration einer Lehr-
schrift. Obgleich Herodot die Organisation des persischen
Reiches Dareios zugewiesen hatte, nahm Kyros bei den grie-
chischen Philosophen diese Stelle ein, weil Dareios den Griechen
wegen Marathon verhasst war; auch die Erzählungen der
Perser stellten Kyros in glänzendes Licht. So gedenkt Plato
1) Plutarch. Dio 22. 31. 36, dem Speusippos gewidmet Diog. 4, 5.
2) Die Alten eitleren häufig nur ev itatSeia z. B. Athen. 8, 368a. 37 3d;
«atSstac Küpou Gell. 14, 3, 3; iraiSelat Max. Planud. Walz V 444, 5. Der
unglückliche Titel stammt aus I 1, 6. flemardinquer la Cyropedie,
Paris 1872 ; L ö h 1 e der Charakter des Cyrus nach Xenophons Cyr., Tauber-
bischofsheim 1876—76.
3) Z. B. Cic. ad Qu. 1, 1, 8 Cyrus ille a Xenophoute non ad historiae
fidem scriptus. Hieronymus' Ansicht hat dagegen keinen Wert. Max
Büdinger Sitzungsber. der Wiener Akad. 92, 216 ff, u, 96, 477 ö". be-
trachtet die Kyropädie als historische Quelle, A, Gylden de Cyropaediue
Xen, fide historica, Helsingfors 1828; O. Isensee der geschichtliche Wert
von Xenophons K., Schleusingen 1868; Ferd.Seelmanu de historica Xeuo-
phontis in institutione Cyri fide, Potsdam 1870.
4) Schubert Geschichte der Könige von Lydien, S. 119.
5) I 2, 1 beruft er sich auf persische Lieder; die Mischung von Wahr
heit und Dichtung deuten die Worte an ooa ouv xal sjtud'öfi.EO-a v.a.\ Tgo^Tjod«'.
8üxoö}j.ev nspi aöxoö, xaüta neipaoop-Ed-a Sifjf "JjoaaS-at I 1, 6.
6) Nöldeke Hermes 6, 466 f.
Xenophon. ^g
seiner wiederholt mit Ehren, Antisthenes benannte philo-
sophische Dialoge nach ihm und unser Xenophon wusste keinen
besseren Namen für das Ideal eines guten Regenten als den
des Kyros. Das Musterbild eines Herrschers verspricht Xeno-
phon selbst zugeben;^) da aber ein unbefangener Republikaner
die Vorteile der Alleinherrschaft zunächst hinsichtlich des Krieges
anerkannte und dieses Gebiet Xenophon persönhch nahe lag,
gestaltet sich die Kyropädie zur Schilderung eines musterhaften
Kriegsherrn.^) Darum lasen die römischen Offiziere, unter
welchen Scipio Africanus, dessen Lieblingsbuch sie war, ^) und
Lucullus Erwähnung verdienen, das Werk; auch Macchiavelli
fasste es so auf, als er mit der Vita di Castruccio Castracani
Xenophon zu überbieten gedachte. In der Darstellungsweise
will sich Xenophon offenbar an Herodot und Ktesias, indem
er zahlreiche Episoden, Gespräche und Anekdoten einflicht,
anschliessen ; selbst eine Liebesgeschichte „Abradatas und
Pantheia", zu welcher wahrscheinlich Ktesias den Anstoss gab,
findet in dem Buche einen Platz und dürfte die Veranlassung
gewesen sein, warum man Xenophon in der Kaiserzeit mehrere
Romane beilegte. ^) Leider sind solche anziehende Episoden
gar nicht häufig, vielmehr wird er den dozierenden pedantischen
Ton selten los. Trotzdem hatte die Kyropädie im siebzehnten
Jahrhundert, gerade wie bei den Byzantinern, grossen Erfolg
und rief zahlreiche ,, philosophische Romane" hervor, welche,
in Frankreich entstanden und besonders von der Scudery ge-
pflegt, rasch die Nachbarländer überschwemmten.
Xenophon stellte also Kyros' Handlungsweise zur Nach-
ahmung dar. Musste indes nicht ein denkender Leser an ihrer
dauernden NützHchkeit zweifeln, wenn er auf die damalige Zer-
rüttung des persischen Reiches bHckte? Darum fügte Xenophon
1) I 1, 3, woraus Dionys. de Plat. 4, Gell. noct. Att. 14, 3, 3 und Max.
Planud. Walz rhet. V 444, 4 ff. schöpfen; die eigentliche Einrichtung des
Reiches wird fast nur gestreift (VII 5, 70—86. VIII 1. 2).
2) Ad. Nicolai Xenophons Cyropädie und seine Ansichten vom Staate,
Progr. V. Bernburg 1867 und „zur Literatur über Xenophon", Cöthen 1880
A. 3 betont diese Seite etwas schroff. Cicero ad Qu. fr. 1, 1, 8 sagt richtig:
effigiem justi imperii.
3) Cic2ro a. O.
4) Kohde der griechische Koman S. 346 A. 2.
29
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. U.
450 Dreizehntes Kapitel.
eineD Epilog bei, worin er den einstigen und den jetzigen Zu-
stand verglich. Natürlich kam er zu dem Schlüsse, dass die
Perser körperlich und geistig herabgekommen seien; zwischen
den Zeilen kann man lesen: ,,Also ist ein Angriff ohne
Schwierigkeit." ^) Der Epilog erstrebt also dasselbe Ziel wie die
Anabasis.
Dem Ideal des Alleinherrschers stellte Xenophon das
Musterbild des einfachen Bürgers gegenüber, wozu er keine
bald sagenhafte Person der Vergangenheit auswählte, sondern
seinen verehrten Lehrer Sokrates. Doch verfolgte er noch ein
anderes Ziel, wenn er ,j^Erinnerungen an Sokrates"
(a7ropYj[JLOV£u{AaTa) ^) herausgab. Sokrates' Verurteilung war ja
ein Thema, dass in Athen sowohl mündlich öfter zur Sprache
kam als besonders in der Literatur von verschiedenen Stand-
punkten erörtert wurde. Auf der einen Seite standen gewandte
Dialektiker, unter welchen Polykrates durch des Isokrates
ßusiris bekannt ist (S. 73), auf der anderen Rhetoren gleicher
Quahtät (wie Lysias) und die Sokratiker. Auch Xeoophon
fehlte unter den Verteidigern seines Lehrers nicht. Obgleich
er sich in der Einleitung gegen „den Ankläger" wendete, als
ob er nur Meletos vor sich hätte, steht es doch fast sicher,
dass er die Anklagerede des Polykrates kannte und berücksich-
tigte;^) wahrscheinlich nahm er sogar auf mehrere ähnliche,
1) Dav. Schulz de Cyropaediae ultimo capite quod non Xenophontia
esse probatur, Halle 1806, dem Diodorf und Schenkl Jahrbb. f. Phil. 88J
540 ff. beistimmen, verwirft den Epilog; mit Recht verteidigen ihn Friedr^
Bornemann der Epilog der Cyropädie von Xenophon, Leipzig 1819, Brei-^
tenbach in seiner Ausgabe u. Cobet Mnemos. nov. s. III 66 ff. Ander
ansehnliche Interpolationen sucht Carl Lincke de Xenophontis Cyropaediae
interpolationibus, Berlin 1874 nachzuweisen.
2) E. Köpke über die Gattung der a7ro}j.vY)|xoveujJLaxa, Jahrbb. f. Phil.
79 (1859) S. 10 ff. 436 ff. Gellius (14, 3, 5) übersetzt den Titel: dictorumj
atque factorum Socratis commentarios. Ungewöhnlich Schol. Aristid. p. 718, 6J
ev Tol? a7to(pfl"6Y}i.aot Scuxpaxoüc. Lud. Dissen de philosophia morali in Xen.i
de Socr. commentariis tradita, Gott. 1812 = kleine lat. u. deutsche Schriften^
S. 59 ff. G. Cobet prosopographia Xenophontea, Leiden 1836.
3) Ueber Alkibiades vgl. Isoer. Bus. 6; mit I 2, 58 stelle man Schol. |
Aristid. p. 480, 29 zusammen. Vgl. Cobet nov. lect. 1863 p. 662 ff.i
Schenkl Sitzuugsber. der Wiener Akad. 80, 87 ff. u. Xenophontische|
Studien II Kap. 1 (bestritten von B r e i t e n b a c h Jahrbb. f. Phil. 99, 801 ff.
116, 465 ff.).
Xenophon. 452
Schriften (14, 1) Bezug. Allerdings war Xenophon nicht so
pedantisch, die Anklagepunkte des Meletos von denen des Poly-
krates genau zu scheiden, sondern er wählte der Lebhaftigkeit
und der grösseren moralischen Bedeutung wegen die gesprochene
Anklage zur Zielscheibe seiner Polemik.^) Die formelle Wider-
legung der Anklage nun enthalten die zwei ersten Kapitel.
Weil aber Xenophon überhaupt darlegen will, wie nützlich
Sokrates' Rat uhd Lehre für alle Seiten des bürgerlichen Lebens
war, erzählt er, nachdem er ein allgemeines Charakterbild des
Philosophen entworfen, zahlreiche Beispiele aus seiner eigenen
Erinnerung, wie durch ,,ich weiss, ich hörte einmal" und ähn-
liche Wendungen angedeutet wird. Daher fallen alle mitge-
teilten Gespräche und Anekdoten in die Zeit , wo Xenophon
persönlich um Sokrates war.'^) Bloss bei einigen Episoden be-
ruft er sich auf Berichterstatter. Innerhalb der vier Bücher,
welchen man jetzt den Titel ,, Erinnerungen" im besonderen gibt,
nehmen Zwiegespräche des Sokrates und bestimmter Personen
den grössten Raum ein; nur manchmal, häufiger im vierten
Buche, fasst Xenophon selbst in kurzen Worten zusammen,
wie sich Sokrates einer gewissen Gruppe gleichartiger Fälle oder
einer ganzen Klasse von Menschen gegenüber verhielt. ^) Hie
und da wird man eine bewusste Ordnung der Erzählungen ge-
wahr, z. B. sind die dem politischen Leben geltenden Rat-
schläge, bei welchen Xenophon natürlich die militärischen
Würden hervorhebt, in einen Abschnitt (III 1 — 7) zusammen-
gestellt. Sonst findet man fast nur Gruppen von zwei oder
drei Abschnitten. Dieser Mangel einer Disposition hat solche,
welche von Xenophon eine zu vorteilhafte Meinung haben,
angereizt, bedeutende Stücke auszuscheiden, damit ein Zu-
sammenhang hergestellt werde i"^) die Schuld an der Verwirrung
soll ein späterer Bearbeiter tragen.^) Von grösserer Bedeutung
1) Daher gebraucht er stets den Singular: 6 xaz-i]fopoz, stf-q u. dgl.
2) Vgl. über die Frage Jul. Sander Bemerkungen zu Xenophons Be-
richten über Leben und Lehre des Sokrates, Jahrbuch des Pädagogiums in
Magdeburg 1884 S. 17 ö.
3) Deshalb wahrscheinlich meint Bergk Philol. 14, 181, das Werk sei
zum Teil im Auszuge überliefert.
4) Dindorf in der Oxforder Ausgabe p. VII ff, (Er verwirft IV 3—5. 8).
5) Sehen kl Sitzungsber. der Wiener Akad. 80, 115 ff., noch kühner
Aug. Krohu Sokrates und Xenophon, Halle 1875.
29*
452 Dreizehntes Kapitel.
1
ist die in die Geschichte der Philosophie tief eingreifend«
Frage, ob Xenophon die Lehren des Sokrates treulich geschildert
habe oder (wie man das Problem gewöhnlich fasst) ob treuer
als Plato. ^) Philosophische Untersuchungen werden hierüber
nicht so zur Klarheit führen wie eine Erwägung der Persön-
lichkeit und der Absichten Xenophons. Obgleich er mit Sokrates
mehrere Jahre verkehrte, war er ebenso wenig wie z. B. Kriton
ein eigentlicher Philosoph, der sich die Philosophie zum Lebens-
berufe auserkoren hätte ; ferner schrieb er auch nicht für Philo-
sophen, sondern hatte athenische Durchschnittsbürger im Auge.
Endlich durfte sich Xenophon gemäss seiner Absicht nicht
über die speculative Philosophie Sokrates' verbreiten, sondern ihm
genügte dessen Lebensweisheit im engeren Sinne. Man darf
demnach bei Xenophon nicht ein vollständiges System der
sokratischen Philosophie suchen. Aber hat Xenophon innerhalb
jener Grenzen die Worte und Thaten seines Meisters genau
wiedergegeben? Daran darf man zweifeln. Xenophon haM
nämlich, wie aus der Bekämpfung des Polykrates hervorgeht
(S. 73), geraume Zeit nach dem Tode des Sokrates geschrieben ^
die Ereignisse der Anabasis und des korinthischen Kriege
Hessen ihm keine Zeit den Erinnerungen naclizuhängen, Aui
Zeichnungen aber scheint er nicht gemacht zu haben ^) und so"
dürfte Xenophons Phantasie oft dem Gedächtnisse zu Hilfe_
gekommen sein. Hat doch der ganze Ton der Gespräche weni
von der sokratischen Frische,^) wogegen er nur zu sehr an di<
Kyropädie erinnert. Ueberdies ist mindestens an einer Gattun{
von Aussprüchen ganz klar, dass Xenophon die Lehren de
Sokrates mit seinen eigenen Gedanken vermengte. Denn we
i
1) Zeller PhUosophie der Griechen II'» 1, 150 flf. 199 ff. Für Xenophon
günstiger Strümpell Geschichte der praktischen Philosophie der Griechen
S. 466 ff.;, vgl. Karl Kunz über Xenophons philosophische Schriften I.
Troppau 1862; Ch. H. Bertram der Sokrates des Xenophon und der des
Aristophanes , Magdeburg 1865; Bronisl. Cybichowski quae Socratis de
diis et daemonio fuerint opiniones et quae Xenophon ti Platonique in iis tra-
dendis fides adjungenda sit, Breslau 1870; Sigurd Kibbing über das Ver-
hältnis zwischen den xenophoutischen und den platonischen Berichten über
die Persönlichkeit und die Lehre des Sokrates, Upsala 1870.
2) I 3, 1 xoüxcuv 8*r] "cp"'}^ Cijrciaa &v oiafjLVY]|AOV£üoai.
8) Jos. Grulich de verbosa Socratis Xeuophoutei in disputando jejuni-
tate, Meiasen 1820.
Xenophon. 453
glaubt, dass Sokrates so eingehend über Kriegswesen sprechen
konnte und wollte, wie ihn Xenophon (z. ß. III 5, 27) thun
lässt ?
Noch mehr Xenophontisches enthält das fünfte Buch der
Erinnerungen, welches seit alter Zeit unter dem Titel Oikono-
mikos abgesondert steht. ^) In der Form unterscheidet es sich
von den vorhergehenden Büchern nicht, ausser dass es aus
einem einzigen Zwiegespräche, welches Sokrates mit Kritobulos
hält, besteht ; Xenophon erzählt dies, wie er sagt, ebenfalls aus
seiner Erinnerung. Der erste Dialog (c. 1 — 6) gibt den Dialog,
der zwischen Sokrates und Kritobulos über den bürgerlichen
Haushalt stattfindet, zunächst einfach wieder. Da wagt Xenophon
eine Hj'-postasis ; aber während Plato in solchen Fällen nie ein
längeres Zwiegespräch vorführt, erzählt der Xenophontische
Sokrates ein Gespräch, das er früher mit einem Ischomachos
hatte (c. 7 ff.), und damit nicht genug! Letzterer berichtet
seinerseits Sokrates, wie er zu seiner Frau gesprochen und
was sie geantwortet habe (c. 7, 10 ff.). Die Kühnheit dieser
Komposition, die sonst vielleicht nur in Dantes Inferno ihres-
gleichen findet, wäre an sich nicht gerade zu tadeln, wenn
nicht Xenophon in dem Bestreben, ein vollständiges System,
wie ein Bürgerhaus nach innen und aussen bestellt sein soll,
zu entwickeln, die Natürhchkeit der Gespräche ausser Acht
liesse ; namentlich die Unterredung des Ischomachos und seiner
Gattin ist nicht aus der Situation heraus gedacht, sondern
rein doktrinär angelegt, z. B. passt das breit angelegte dem
Kriegswesen entlehnte Beispiele. 8, 4 ff. für diese Personen nicht.
Xenophon hat mit diesem Buche wiederum eine neue Bahn
eröffnet, weil er hier zuerst eine Wirtschaftslehre aufzustellen
versucht hat. Man kann nicht zweifeln, dass er auf diese Idee
nicht eher verfiel als bis er zu Skillus durch mehrjährige Praxis
mit dem Stoffe vertraut war. 2) Theophrastos würdigte die
1) K. Sehen kl Sitzuugsberichte der Wiener Akad. 83, 103 ff. Galenos
XVIII 1 p. 301 K. bezeiclinet den Oikonomikos als fünftes Buch; auch
Stobaios citiert ihn wenigstens einmal (floril. 55, 19) £H twv ä;ro|j.VY]}j.oV£OfJ.aTU)V.
Doch las ihn bereits Cicero sen. 17, 59 abgesondert. Der Titel ist persönlich
(„der kluge Hausvater») zu fassen (R. Hirzel Hermes 10, 63). Allzu kritisch
Lincke in der Ausgabe „Xenophon nepl olxovo^tta?" Jena 1879. Vgl. noch
Ludw. Breitenbach quaestionum de Xenophontis oeconomico, Halle 1837.
2) Schenkl Sitzungsber. der Wiener Akad. 80, 152 f.
454 Dreizehntes Kapitel.
Trefflichkeit seiner Aufstollungen in dem unter Aristoteles'
Schriften erhaltenen Oikonomikos^) und Cicero bearbeitete das
Buch unter Beiziehung anderer Quellen zu einem Werke von
drei Teilen. ^)
Einen formellen Abschluss haben die a7ro|xv7j[i.ov£6{jLaTa, zu
denen wir den Oikonomikos rechnen, nicht; der Leser wird
dadurch auf eine Fortsetzung hingewiesen und diese findet sich,
schon äusserlich durch die Partikel aXXa als unselbständig be-
zeichnet, mit dem Titel Symposion.^) Xenophon erachtet
nämlich das Bild des Musterbürgers Sokrates für unvollständig,
wenn nicht auch gezeigt werde, dass der Philosoph selbst in
heiterer Gesellschaft beim Becher lehrreiche Worte einzuflechten
liebte. Von dieser schon früher (IV 1, 1) angedeuteten Absicht
geleitet, erzählt Xenophon ein Festmahl, dem er selbst beiwohnte;
der bekannte Kallias gab es zu Ehren eines ihm lieben Knaben,
des Autolykos, weil dieser Ol. 89, 3, (421/0) im Pankration
gesiegt hatte.*) Der Verfasser erspart uns weder etwas von
dem Augen- und Ohrenschmaus, welchen der reiche Wirt de
Gästen bot, noch die hie und da etwas trivialen Witze der Gäste
ja nicht einmal die Einfälle des Spassmachers werden ver-
schwiegen. Dazwischen lässt Xenophon in fast regelmässigen
Absätzen philosophische Fragen unter der Leitung des Sokrates
und Antisthenes erörtern , ohne dass ein einheitlicher Grund-
gedanke sichtbar würde. Der Schluss ist derb realistisch. Als
Genrebild ist das ,, Gastmahl" hübsch erzählt und komponiert,
obwohl der moderne Geschmack es vorzöge, wenn der Ver-
fasser die Disposition weniger durch einförmige Übergänge
n
1
r-^
1) Schömann opuscula III 214 ff.
2) Cic. off. 2, 24, 87. Colum. XII. praef. Serv. Verg. Georg. 1, 43.
Schenk] a. O. 83 S. 106 f. Philodemos polemisiert in dem Buche irepl
olxovo}i,ia<: (p, 44, 2) gegen Xenophon. Auch Virgil benützte ihn, wie Servius
Georg. 1, 43 bemerkt, in den Georgica (vgl. Morsch de Graecis auctoribus
in Georgicis a Vergilio expressis, Halle 1878).
3) Sehen kl a. O. 83, 141 ff. Schol. Aristid. p. 667, 26 D. citiert 4, 27
aus den lirtOfjiv/jfJLOVEÖfj.axa; wiederum ist es Cicero, der de senect. 16, 46 das
Symposion für sich anführt. Wie Böckh de simnltate quam Plato cum
Xen. exercuisse fertur p. 10, verbindet Schenkl a. O. S. 142 f. alle drei
Schriften zu einer Einheit.
4) K. Fr. Hermann de temjwre convivii Xenophontei, ind. 1. Göt-
tingen 1844 und 1845; Fr. Vater Jahns Archiv 9, 49 ff. 13, 485 ff.
Xenopbon. 455
sichtbar gemacht hätte ; doch bleibt Wielands Lob, ^) es sei
,,ein in jeder Hinsicht schwer zu übertreffendes Muster einer
dialogisierten Erzählung", schwer begreiflich. Die Sprache ist
bei den nicht philosophischen Gesprächen volkstümlich und
mit Sprichwörtern und Anspielungen'^) versetzt, in den philo-
sophischen Keden hingegen höher als es sonst Xenophons Ge-
wohnheit ist, gegriffen; dies geschieht teils im Ernste teils
parodisch, wie in der Parabel ,, Herakles am Scheidewege", wo
der gorgianische Stil verspottet wird. Doch gibt dieser Zug
kein Recht, das Symposion Xenophon abzusprechen.^) Dass
Plato der Erfinder des Symposions ist und nicht Xenophon, ist
S, 326 f. dargethan worden.*)
Das Symposion beschliesst die eigentlichen „Erinnerungen
an Sokrates" heiter und naturalistisch, wie ein Satyrspiel eine
Tetralogie. Indes wollte Xenophon auch der natürlichen Frage
begegnen, warum ein so vernünftiger Mann bei der Gerichts-
verhandlung die Geschworeneu derart vor den Kopf stiess, dass
die Verurteilung nach attischem Brauche unvermeidlich war.
Es folgt daher unter dem Titel ,,Verteidigu ngsred e des
Sokrates" (aTioXoYia XcoxpdTODc) ^) eine rechtfertigende Dar-
stellung des Benehmens, das der Philosoph vor Gericht und
nach der Verurteilung beobachtete. Die eigentliche Verteidigungs-
rede ist dramatisch angelegt, indem bald die Richter Sokrates
unterbrechen bald der Ankläger dazwischen spricht. Es tritt
nämlich, wie am Anfange der ,, Erinnerungen", ein Haupt-
ankläger auf. Der Schluss bezieht sich offenbar auf das ge-
sammte Werk, nicht auf die Apologie allein. Da überdies
nichts einen Deklamator verrät, sehe ich keinen Grund, warum
1) Versuch über das Xeuophoutische Gastmahl als Muster einer dialogi-
sierten Erzählung, Attisches Museum IV 2, 99 if. ; im Sinne "Wielands
G. F. Kettig Xenophons Symposion ein Kunstwerk des griechischen Geistes,
Philol. 38, 269 ff.
2) Unklar 2, 20.
3) K. O. Müller de sacris Minervae Poliadis p. 17 (Kunstarchäol.
Werke I 1,06 A. 4), Steinhart Piatons Leben S. 95. 300 f., Gail oeuvres
de Xenophon VII 2, 110 f., Krohn Sokrates und Xenophon S. 98, Joh.
Herchner de symposio quod fertur Xenophontis, Halle 1875.
4) Die Literatur ist verzeichnet von Ascherson in Böckhs kleinen
Schriften IV 1 flf. und Hug in seiner Ausgabe p. XXIII ff.
5) Schenkl a. O. 83, 169 flf.
450 Dreizehntes Kapitel.
man die Apologie verwerfen^) soll. Denn der Nachweis ist
nicht erbracht, dass die Apologie aus dem heutigen Schlüsse der
Apomnemoneumata excerpiert sei. '^) Im Gegenteil wurde dieser
mit Ausnahme der letzten Worte erst, nachdem die ersten
vier Bücher von dem Folgenden abgesondert waren , diesen
angehängt.
Es verdient Beachtung, dass Xenophon auch dieses Werk,
den ersten Versuch einer philosophischen Biographie, ^) ohne
seinen Namen herausgab; denn er spricht I 3, 8 ff. von sich
gerade so wie von einem Fremden.
Neben diesen vier grossen Werken, welche man der histo-
rischen Gattung im weiteren Sinne zuteilen darf, verfasste
Xenophon mehrere kleine Broschüren, von dogmatischer Form.
Die älteste derselben ist die Abhandlung über den lake-
dämonischen Staat (AaxsSai[Aovi(öv jroXiTsia), ein in konser-j
vativen Kreisen sehr beliebtes Thema. Der Verfasser erklärt'
gleichsam zur Begründung seiner Schrift, wie der spartanische j
Staat mit seiner wenig zahlreichen Bürgerschaft zu einer solchen;
Höhe emporsteigen konnte, habe er erst begriffen, als er dessenj
Einrichtungen kennen lernte. Xenophon gibt der Abhandlung]
dadurch, dass er ohne weiteres mit aXX' sy^ anhebt, den Charakter]
einer improvisierten Rede.*) Zunächst stellt er die für die
einzelnen Lebensalter geltenden Satzungen dar (c. 1 — 4. 10,|
1) Zuerst verwarf sie Valckenaer als des Xenophon unwürdig, ebenso |
Delbrück und die meisten neueren, besonders A. Hug hinter Köchlys Akadem.
Reden und Vorträgen (Zürich 1859) S. 430 flF. ; Rud. Lange de Xenophontis
quae dicitur apologia et extremo commentariorum capite, Halle 1878;;
W. Caspers de apologia Socratis Xenophonti adjudicanda, Recklinghausen |
1836 = .Jahns Archiv 8, 101 flf.
2) Für die Priorität der Apologie Jak. Geel de Xenophontis apologia]
Socratis ac postremo capite memorabilium , Leiden 1836 und Dindorf ed. i
Oxon. p. XIII f. XVIII; anders Schneider in der Ausgabe der Memora-
bilien, Leipzig 1801; Hug Jenaische Literaturztg. 1874 S. 679 fi.; Emil
Po hie die angeblich Xenophonteische Apologie in ihrem Verhältniss znm
letzten Capitel der Memorabilien , Altenburg 1874 u. Schenkl a. O. 80,
135 ff. (er setzt die Apologie in das zweite Jahrhundert v. Chr.). ,
3) Diogen. 2, 48. Snidas.
4) Solche Anfange sind der manierierten Sophistik der Kaiserzeit g©-]
läufig, vgl. Dio Chrys. or. XII. XV. XXIX. Apnl. metara. ; ein Vergleich der |
Anlange der Kyropädie und der Erinnerungen scheint nachzuweisen , dass
nichts verloren gegangen ist.
Xenophon. 457
1 — 3), worauf er die allgemeine Lebensführung (5 — 9. 10, 4 ff.)
und die Kriegsordnung (c. 11--13) schildert. Diese Disposition
will der Verfasser gemäss seinen eigenen Bemerkungen zu
Grunde gelegt wissen. Hier spricht er so, als ob die Ein-
richtungen des Lykurgos — diesem wird ja alles zugeschrieben —
noch fort beständen. Da musste ihn aber der Augenschein Lügen
strafen. So gesteht denn Xenophon c. 14, ähnlich wie in der
Kyropädie, ein, dass der spartanische Staat jetzt allerdings herab-
gekommen sei, doch sei der Grund gerade der, dass man sich
um die lykurgischen Gesetze nicht mehr kümmere. Das Kapitel
kann nicht unecht sein, ^) weil es die Zustände , wie sie in
Sparta zwischen dem Ende des peloponnesischen Krieges und
der Schlacht von Leuktra bestanden, voraussetzt. ^) Auf dieses
Kapitel folgt ein weder mit dem Plane des Vorhergehenden
zusammenhängender noch äusserlich vermittelter Abschnitt,
welcher von den Rechten und Pflichten der Könige handelt.
Schon die ungeschickte Palinodie und der ungeeignete Schluss
würden uns an der Unversehrtheit der Schrift zu zweifeln be-
rechtigen. Dass wir aber nicht einmal eine unvollendete ^) oder
durch fremde Zusätze entstellte^) Arbeit, sondern eine Art
Excerpt vor uns haben, erhellt aus einem Citat bei Polybios
(VI 45), das man in unserem Texte vergeblich sucht. •^) Nach
dem Erhaltenen zu schliessen, wollte Xenophon nicht den Staat
1) Seit Weiske (in Schneidere Ausgabe VI p. 8) wird es von vielen
verworfen, vgl. K. Sehen kl Bursiaus .Tahresbericht 17, 28. H. Stein Be-
merkungen zu Xenophons Schrift vom Staate der Lacedämonier, Glatz 1878
versucht durch Aenderung und Interpretation die Widersprüche (besonders
14, 3. 7 vgl. 7, 6. 8, Ij zu entfernen (widerlegt von Alb. Wulff quaestiones
in Xeuophontis de republica Lacedaemoniorum libello institutae, Münster 1884).
2) Unhaltbar sind die Ansichten, welche die Schrift vor das Ende des
peloponnesischen Krieges (Böckh u. Wachsmuth) oder um 402 (Oncken) ver-
setzen. Nach Grote, Cobet und G. Erler quaestiones de Xenophonteo libro
de rep. Lac, Leipzig 1874 ist sie zwischen 394 und 372 , nach Neumann
387—85 (c. 14 378), nach Haase, Schömann (griech. Staatsalterthümer I^ 296)
und Lehmann später als 371 verfasst.
3) Sauppe praef. p. XXIX.
4) Cwiklinski Ztsch. f. österr. Gymn. 1878 S. 495 f. u. Schenkl
Bursians Jahresbericht 17, 26 beanstanden c. 8; Schenkl will c. 15 und 8
hinter 10 stellen; H. K. Stein a. O. S. 2 verbindet mit c. 13 c. 8.
5) Köchly und Rüstow Gesch. des griech. Kriegswesens S. XIII,
Bergk, Cobet u. A. (bestritten von Wulff S. 43 flf.).
458 Dreizehntes Kapitel.
der Lakedämonier , wie er zu seiner Zeit war, verteidigen,
sondern die Verfassung des Lykurgos, welche die Sokratiker
priesen und sein königlicher Freund wieder herstellen wollte,
empfehlen ; darum verherrlichte er sie in zum Teil übertriebener
Weise (z. B. 7, 5). Ein probehaltiger Grund, warum die Schrift
Xenophon abgesprochen werden soll, ^) ist incht vorhanden.
Jedenfalls darf man sich nicht darauf berufen, dass Aristoteles,
als er sich auf die den lakonischen Staat behandelnde Literatur
bezieht, von Xenophon schweigt ; ^) denn er führt nur die Schrift^
des Thimbron an und fügt die Worte ,,und andre" beis
Warum soller jene Arbeit der Xenophons nicht haben vorziehei
dürfen?^) Die lykurgisclie Verfassung war ja seit Kritias eil
Gegenstand , für den sich alle Aristokraten und Philosophei
interessierten ; solchen ideahsierenden tendenziösen Darstellungei
ist es zu danken, wenn jene allmälig in ganz falschem Licht
erschien. Ob der aus Xenophons Schriften bekannte Thibron
der Verfasser jener Abhandlung war-, daran ist ein Zweifel
gestattet; waren doch die spartanischen Generäle besser m^
dem Schwerte als mit der Feder vertraut. *) Noch zweifelhafte!
ist es, ob er eine so bedeutende Schrift abfassen konnte, dasii
Aristoteles sie eigens erwähnte.
1) Aeltere Literatur in Sauppes Ausgabe p. XXI; nach Kud. LeW
mann die unter Xenophons Namen überlieferte Schrift vom Staate der Lacc-
däraonier und die panathenaische Rede des Isokrates, Greifswald 1853 soll
die Schrift wegen Isoer, panatb. 199 von einem Isokrateer verfasst sein, der
nach Beckhaus „der jüngere Xenophon" ist. Die Echtheit schützen Em-
Haase in den Prolegoraena seiner Ausgabe (Berlin 1833), Ang. Fuchs
quaestt. de libris Xenophonteis de republica Lacedaemoniorum et de rep.
Atheniensiura, Leipzig 1838, E. Naumann de Xenophontis libro qui Aaxe-
Saifiovtwv itoXtTEia inscribitur , Berlin 1876, H. Stein a. O. Die Athetese
des Demctrios Magues (Diogen. 2, 57) bezog sich ursprünglich wohl nur auf
die Schrift vom athenischen Staate.
2) Polit. 7, 14 p. 1333 b 18 ff.
3) Oncken vermutet, dass Xenophon sein Buch unter dem Namen des
Thimbron herausgab; aber wie entdeckte man nach Aristoteles den wirklichen
Verfasser? Was Stein a. O. S. 16 zum Beweise beibringt, dass Aristoteles
unsere Schrift benützt habe, ist notwemlige in der Sache liegende Ueberein-
stimmung.
4) Sogar Lysander liess sich eine politische Rede (nicht eine Denkschrift)
über Verfassungsreform von dem Halikarnassier Kleon aufsetzen (Plntarch.
Ages. 20. Lys. 25. 30. Diodor. 14, 13, 8).
Xenophon. 459
Auf dem Gebiete der Staatsverfassung wusste Xenophon
nichts besseres als vorhandene fremde Einrichtungen zu em-
pfehlen; denn dass die Schrift über den Staat der Athener nur
durch äussere Umstände ihm beigelegt wurde, steht fest (S.
86 ff.). ; wo er sich dagegen heimisch fühlte , wagte er selbst
a priori Bestimmungen zu treffen. Wir haben gesehen , dass
er im fünften Buche der sokratischen Erinnerungen durch
seinen Lehrer Ratschläge über den bürgerlichen Haushalt vor-
tragen lässt; später, fast am Ausgange seines langen Lebens
schrieb Xenophon ohne eine derartige Hypostase eine kleine
Schrift „die Einkünfte (jzöpoi) des athenischen Staates."^)
Die eigentümlichen Finanzverhältnisse Athens brachten es mit
sich, dass, so lange es sogenannte Bundesgenossen und Unter-
thanen besass, diese die Ausgaben des Vorortes zum grossen
Teile zu decken hatten. Durch die Stiftung des zweiten See-
bundes standen nun zwar Athen von neuem fremde Gelder zu
Gebote, doch bald nach der Schlacht von Mantineia regte sich
eine gefährhche Unzufriedenheit unter den Bundesgenossen.
Die Einsichtigen erkannten die drohende Gefahr, unter ihnen
Xenophon. Jetzt hatte er Gelegenheit, der Heimat einmal durch
seine Studien zu nützen,- indem er nachwies, wie die eigenen
Finanzkräfte Attikas gehoben werden könnten, damit die Bundes-
genossen nicht belastet würden. Die Einleitung, welche von
den Vorzügen des attischen Landes ein glänzendes Bild ent-
wirft, (I 2 — 8) verdient als der erste Versuch einer Anthropo-
geographie Beachtung. ^) Den Wert seiner Vorschläge, für die
der fromme Mann zum Schlüsse den Segen der Götter wünscht,
haben wir hier nicht zu prüfen, doch sei die Bemerkung ge-
stattet, dass Xenophon die plötzhche Erschöpfung der Silber-
bergvverke nicht voraussehen konnte. Wann wurde die Schrift
verfasst? Wäre der Aufstand der Bundesgenossen schon aus-
gebrochen gewesen , ^) dann hätte Xenophon irgendwo und
1) Die Haudschriften setzen einfach 7i6pot; Tcepl nopwv Athen. 6, 272 c.
Diog. L. 2, 57. Hilclebraud Xenophontis et Aristotelis de oeconomia
publica doctrinae, zwi Prograiume Marburg 1845.
2) Eob. Pöhlmann hellenische Anschauungen über den Zusammenhang
zwischen Natur und Geschichte, Leipzig 1879 S. 55 fl'. ; ähnliche Erörterungen
stehen mem. III 5. Cyr. I 2. 5. VI 2, 21 f.
3) Wegen der 5, 9 erwähnten, aber sonst unbekannten Friktionen, die
um das delphische Heiligtum bestanden , uahmeu dies B ö c k h Staatshaush.
460 Dreizehntes Kapitel.
irgendwie der veränderten Verhältnisse gedenken müssen; ii
Wirklichkeit spricht er am Anfang von der Bedrückung der
Bundesstädte und lässt 5,8 hoffen , Athen könne eine Art voi
Plegemonie über Hellas wiedergewinnen , woran nach dem AW
falle der Inselstaaten nicht einmal gedacht werden konnte.
Das letzte bestimmt erwähnte Ereignis ist der 369 zwischen
Lakedaimon und Athen geschlossene Bund (5,7); eben ist ein
Krieg zu Ende gegangen und das Meer dem Handel wieder
geöffnet, wenn auch noch Verwirrung in Hellas herrscht,^)
von Philipp aber weiss der Verfasser noch nichts. Mithin
ist die Schrift wahrscheinlich Ol. 105, 3 (357) zwischen
dem Anschlüsse Euböas und dem Aufstande der Bundesge-
nossen verfasst. Xenophon wendet sich an das athenische
Volk, das er von 4,40 an direkt anredet; doch beweist dies^
nicht (mag er auch 6,1 ,,wir" sagen), dass er sich damals ii
Athen selbst aufhielt. Seine Vorschläge haben weder den Beij
fall der damaligen Leiter des athenischen Volkes^) noch dei
ßöckhs gefunden ; ^) immerhin machen sie Xenophon in Anbe
tracht, dass ihm die praktische Erfahrung mangelte, kein^
Schande.
Ganz anders bewandert war Xenophon in militärischeil
Dingen und in allem, was Pferde anging; beide Gebiete nahi
er vereint zum Gegenstand von zwei nützlichen Schriftei
Die eine, 'IjcTrap/ixöc betitelt, belehrt einen athenischen Reitei
führer über seine Pflichten in Krieg und Frieden; über di(j
der Athener I 778 ff., Zur borg de Xenophontis libello qui itöpot inscribitt
Berlin 1874 u. Th. Gleiniger de X. 1. q. k. i., Halle 1874 an; H. Hagej
Eos II 149 ff., nach welchem die Schrift aus zwei Reden (I 1 — IV 33. IV
— VI 3) kompiliert ist, setzt sie sogar nach dem philokrateischen Friedet
ähnlich Holzapfel Thilol. 41, 242 ff. Dann könnte die Schrift nicht avoI
von Xenophon sein, aber Bakius Nova acta soc. litt. Rheno-Traj. ISSj
p. 11 ff., Zurborg a. O. p. 19 ff. und Gleiniger a. O. p. 61 ff. 61
rechtfertigen die Echtheit aus der Sprache und den Gedanken. Der Verfaa
war schon ein alter Mann (4, 26), was für Xenophon passt.
1) 4, 50. 6, 12; tapax-f) 6, 8 erinnert an das Ende der Hellenika.
2) Auch nicht den des Eubulos, dessen Anregung die Schrift angeblic^
ihre Existenz verdankt.
3) Böckh Abhandl. der Berliner Akad. 1816 S. 85 ff. 138 ff. Staat
haush. I '781 ff. Daraus schlössen Bergk und Oncken (Isokrates und Ath«
S. 96 ff.), die Schrift sei Xenophous nicht würdig.
Xenophon. 461
Person desselben wurde die ansprechende Vermutung aufge-
stellt, ^) dass Xenophon den Leitfaden dem Befehlshaber, unter
dem Gryllos in den Feloponnes ausritt, bestimmte. Seine Er-
fahrungen fasst er in allgemeinen Regeln zusammen, ohne
(ausser 9,4) bestimmte Beispiele vorzubringen. Die Götter führt
Xenophon so oft im Munde, ^) dass er selbst sich am Schlüsse
entschuldigen zu müssen glaubt mit dem Satze: „Den
Frommen begnadigen die Götter mit Vorzeichen in Opfern,
Vogelflug, Stimmen und Träume." Die kleine Schrift gewährt
in die lockere Disziplin der Bürgerwehr, die dürftige Taktik
und den Aberglauben der Führer tiefe Einblicke.
Xenophon entschloss sich später (c. 12, 14), für seine
,, jüngeren Freunde", welche dem Ritterstande angehörten, An-
weisungen über den Reiterdienst (litmv.6(:)^) zusammen-
zustellen. Hier fanden sie Ratschläge, welche den Ankauf,
die Pflege und Abrichtung der Pferde betreffen; zum Schluss
wird die zweckmässigste Ausrüstung der Reiter und das Fechten
zu Pferde besprochen. Die Einleitung streift nicht sonderhch
freundlich eine Schrift, welche der Athener Simon über den
gleichen Gegenstand verfasste ; Xenophon citiert sie im weiteren
noch einmal. Sie muss vortrefflich gewesen sein, weil sie trotz
Xenophon noch in der Kaiserzeit benutzt wurde.*)
Da man wusste, dass Xenophon an der Jagd Freude fand
und gerne davon sprach, enthält die Sammlung seiner Schriften
auch ein Jagd buch (xDVTjYSTtxd?). Ein seltsames Produkt!
Es beginnt mit den berühmten Jägern der Mythologie und
Heroensage; hierauf werden die Jagdgeräte und die Jagd auf
die verschiedenen Tiere geschildert ; das Ende bildet eine durch
viele Abschweifungen gedehnte Apologie der Jagdkunst. Die
1) Krüger historischphilologische Studien II 282.
2) I 1. V 14. VI 1. VII 3 zweimal. 4. 14. VIII 7. IX 3.8.
3) Also keine Jugendschrift, wie Eühl Ztsch. f. österr. Gymn. 1880
S. 411 ff. annimmt. Depl lirjnxTjc lautet der Titel Athen. 3, 94 e.
4) Pollux gehrauchte sie nehen Xenophon, wie Reinh. Michaelis de
Julii Pollucis studiis Xenophonteis, Halle 1877 zeigt. Vgl. Plin. nat. hist.
34, 76. Suidas v. "Aij^optoc (hier heisst er Kijacuv) und TpiXXTj. Nach diesen
zwei Stellen scheinen auch die Pferdekrankheiten darin besprochen gewesen
zu sein. Ein Stück nepl s'ihooz xal £xXoy"?jc iTtmuy teilt Darem her g notices
et extraits des manuscrits medicaux , Paris 1853 p. 169 f. mit (vgl. dazu
Fr. Blass Liber miscell. a soc. philol. Bonn, editus, Bonn 1864 p. 49 ff.).
462 Dreizehntes' Kapitel.
Schrift ist sachkundig geschrieben, wie man aus dem sehr
günstigen Urteile eines engUschen Sportraanns ^) schliessen darf,
und zeigt dadurch, dass menschliche Ausdrücke auf Hunde
angewendet sind^), den Verfasser als einen grossen Hundefreund,
indes sprechen die ganze Anlage der Schrift, die mythologische
Gelehrsamkeit und die Eigentümlichkeiten der Sprache^) gegen
Xenophon. Glücklicherweise wird der Verdacht durch äussere
Zeugnisse gestützt. Wenn in der Einleitung eine Form der
Aeneassage (I 15) erscheint, welche nicht älter als das dritte
Jahrhundert sein kann, *) so schliesst man daraus richtig, dass
der Abschnitt lange nach Xenophon entstand^). Dasselbe gilL
aber von der ganzen Schrift^): Der Verfasser erwähnt nämlicH
indische Hunde und spricht von Jagden, die ausserhalb Griechen-
lands, z. B. in Syrien abgehalten werden. "') Er lebte also,
wenn auch vor der römischen Herrschaft, ^) doch unter dei^
Diadochen und schwerlich im eigentlichen Griechenland, son^m
hätte er mehr von der lakonischen Jagd gesprochen. Jedenfalls
hätte Xenophon letzterer eine eingehende Behandlung zu Tei
werden lassen. Der Autor war ein Privatmann (ISicottj? 13,
und auf die Sophisten nicht gut zu sprechen (13). Es missfä
ihm besonders ihre gesuchte Ausdrucksweise. Er selbst geh1
mit der Feder nicht sehr gewandt um, wie es denn zu seinen
Eigentümlichkeiten gehört, eine Menge von Eigenschaften ohne
Verbindung aufzuzählen (z. B. 4, 1). Der Name Xenophons
ward dieser Schrift wegen seines bekannten Jagdeifers vorge-
setzt, vielleicht trugen auch äussere Gründe dazu bei, indem das
Jagdbuch an die eben besprochenen Abhandlungen angehängt
1) Bei Ad. Breunecke de authentia et integritate cynegetici Xeno-
phon tei, Posen 1868 (Diss. v. Breslau).
2) Herniog. tz. 18. 2, 4 p. 361, 18 ff.
3) Brennecke p. 10 ff. verzeichnet fast 360 Wörter, die Xenophon fremd
sind; 7, 6 steht die uuattische Form "Hßa.
4) Fr. Eühl Ztsoh. f. österr. Gymn. 31, 411 fl.
6) So zuerst Vaickenaer de Aristobulo p. 114 adn. Auch C. 12 — 13
verwerfen Schneider und Andere, weil 13, 18 auf c. 1 sich bezieht, T. D.
Seymour Transactious of the American philological associatiou 1878 lässi
bloss I 18. II 1-8. VI 7— X. (ausser kleineu Interpolationen). XII 1—16 übri:
6) Vaickenaer ad Eurip. Hippolyt. 86.
7) 9, 1. 10, 1; 11, 1. Vgl. auch 2, 4.
8) Das älteste Zeugnis ist das Tryphous (Athen, 9, 400a).
Xenophon. 463
wurde. Im Zeitalter Hadrians las es Arrianos bereits in der
heutigen Gestalt, wie ein echtes Werk, dem er eine vollständigere
Darstellung desselben Gegenstandes zur Seite setzte.
Ein Ueberblick der echten Literatur zeigt, dass Xenophon
als praktischer Mann nicht für die Nachwelt, sondern zu be-
stimmten Zwecken schriftstellerte ; dagegen ist es sehr fraglich,
ob er philosophische Schriften verfasste. Der sogenannte
,, zweite Alkibiades" ward bloss vermutungsweise ihm statt Plato
zugewiesen (S. 303) und der Echtheit des erhaltenen Dialoges
Hieron ^) stehen gewichtige Bedenken entgegen. ^) Denn er
behandelt einen Xenophon ferne liegenden Gegenstand in einer
ihm fremden Weise. Der Tyrann Hieron stellt nämlich dem
Dichter Simonides, ^) der zunächst eine wenig selbständige Rolle
spielt, die widrige Lage eines Tyrannen dar, worauf ihm Simo- '
nides die Mittel, wie ein Alleinherrscher trotz alledem die Liebe
seiner Unterthanen erwerben kann, . auseinander setzt. Dass
Sokrates nicht auftritt, würde gegen Xenophon keineswegs
sprechen, da sich ja auch Antisthenes nicht eine solche Be
schränkung wie Plato auferlegte.
Ausserdem scheint Xenophon manche philosophische Ab-
handlung, die jetzt verloren gegangen ist, beigelegt worden zu
sein; denn die Grammatiker führen allerlei an, was jetzt bei
Xenophon nicht gelesen wird. ^) Mag auch mancher Irrtum
dabei mit unterlaufen, so mahnt doch ein bestimmtes Citat des
Stobaios zur Vorsicht (flor. 88, 14). Dieses klärt uns aber nicht
darüber auf, in welchem Verhältnis die von ihm angeführte
Schrift über Theognis zu der moralischen Abhandlung des
Antisthenes, welche denselben Gegenstand behandelte (S. 280)
steht f) wahrscheinlich wurde dieselbe aus irgendwelchem Grunde
1) 'lipoiv Yj tupavvtv.6i; Diog. 57. Athen. 3, 121 d. 4, 171 e.
2) Angezweifelt von F. Ranke de Xenophontis vita et scriptis, Berlin
1851 p. 25 u. J. Sitzler de Xenophonteo qui fertur Hierone, Taiiber-
bischofsheim 1874; verteidigt von Ad. Nicolai über Xenophons Hiero,
Dessau 1870 u. Nitsche Bursians Jahresber. 1877 I 25 ff. Vgl. O. Schmidt
.specimen commentarii ad Hieronem Xenophonteuni, Eisenach 1881.
3) Simonides philosophischer Berater Hierons Cic. nat. d. 1, 22, 60.
4) Heiland Ztsch. f. Alterthumswiss. 1847 Sp. 603 ff.; Grosser
Jahrbb. f. Phil. 93, 727; Sauppe ed. stereot. V 293 ff.
5) Vgl. Bergk poetae lyr. Gr. 11* 136 zu Theogn. 183 ff".; vgl.
E. V. Leutsch Philol. 29, 519 ff. Alfr. Eausch quaestiones Xenophonteae,
Halle 1881 p. 33 ff'. Nach Heiland war der Abschnitt einst in den voll-
der
ruejfl
atcM
464 Dreizehntes Kapitel.
von einigen Xenophon zugesprochen. Die Briefe, welche be-
sonders Stobaios anführt, sind natürlich unecht; ^) die schlechteste
Mache weisen die im Briefwechsel der Sokratiker stehenden
(Nr. 35. 18. 19. 21. 22) auf.
Wie bei Plato , ward die Reihenfolge und Entstehungszeit
der xenophon tischen Schriften der Gegenstand eifriger Unter-
suchungen, welche durch mehrere Andeutungen des Schrift-
stellers erleichtert werden. In seine letzten Lebensjahre gehören
darnach die drei für Athen bestimmten Abhandlungen, der
Agesilaos und die letzten Bücher der Hellenika; wenn feru^
die sokratischen Bücher eine Einheit gebildet haben, dann sin«
sie wegen des Verhältnisses, in dem das Symposion zum plat
nischen steht, nach 385 verfasst, ^) Die Schrift über den S
der Lakedämonier fällt vor die Schlacht von Leuktra. Hin'
gegen fehlen in der Anabasis, der Kyropädie und den Hellenika
derlei Anhaltspunkte, ausser dass die nach 399 geborenen Söhne
Xenophons in der Skillusepisode der Anabasis bereits als Jüng-
linge auftreten. Eröffnet nun das letztere Buch, wie wir ver-
mutet haben, Xenophons literarische Thätigkeit, dann erstreckt
sich dieselbe über eine Zeit von nicht viel mehr als .zwanzig
Jahren. In der That kann man zwischen den so zahlreichen
und mannigfaltigen Werke keine tiefgehenden Unterschiede en
decken. Im Gegenteil sind sie, abgesehen von der Gleic
mässigkeit des Stiles und der Denkungsart, durch mannigfac
Bande verknüpft. Anabasis und Hellenika sammt dem Agesila
welche eine besondere Gruppe bilden, sind unter sich dur
gegenseitige Citate verbunden. Aber die Erfahrungen d
Anabasis hat Xenophon in der Kyropädie und den zv
kavalleristischen Schriften verwertet, während der ,,Agesilaoi
dem ,, Staat der Lakedämonier" und auch der Kyropädie na
steht. Die beiden letzteren Schriften hängen auch unter si
in gewissem Sinne zusammen, weil Xenophon in der Kyropädi
I 2, 2 — 16 ein Seitenstück zur Schilderung Spartas liefert. Die
Kyropädie und die sokratischen Bücher ergänzen sich gegen-
ständigeren äitojj.vTjfioveufi.aTa eutbalteu. Für Xenophon würde der Vergleich
atoiTEp ei tk; litnixö? Jiv (jo-^fpä.t^tt.tv nepl InnixYjc recht gut passen.
1) Fragmente in Herchers Epistolographi Graeci p. 788 fl".
2) Memor. 3, 9, 2 (vgl. Teichmüller literarische Fehden I 21 f.)
beweist nichts.
i
Xenophon. 465
seitig, wie der Oikonomikos ^) und die Schrift über die Ein-
künfte; endlich nehmen die „Erinnerungen" gelegentlich auch
auf Spartas Einrichtungen Bezug.^) Will man nun die histori-
schen Anspielungen durch sprachhche Untersuchungen ergänzen,^)
so bietet sich hier eine schwierigere Sachlage als bei Plato; denn
die Schriften gehören verschiedenen Stilgattungen an, wiewohl
diese bei Xenophon niclit voll ausgeprägt sind, dann aber sind
sie teilweise nicht zu Ende geführt, sämmtliche aber nicht mit
der Genauigkeit ausgefeilt als wir von den griechischen Klassikern
gewohnt sind; treffliche Kenner Xenophons nehmen sogar an,
dass Xenophon die meisten Schriften unvollendet hinterlassen
habe. ^) So viel dürfen wir aber für gewiss annehmen, dass
Xenophon am wenigsten unter den klassischen Prosaikern sich
bestimmte Ansichten über den Sprachgebrauch gebildet habe.
Wir sahen oben , dass die Anabasis und die Hellenika
sachkundige Zusätze erhielten; die ünzuverlässigkeit der Ueber-
lieferung ist in neuerer Zeit übertrieben worden, indem man
überall Interpolationen und Umstellungen zu entdecken glaubte,
damit die ideale Vorstellung von Xenophon nicht getrübt würde.
Ebenso wenig ist es zu verwundern, wenn man dafür einen
einzigen Bearbeiter verantwortlich machte,^) obgleich bei den
Rekapitulationen der Anabasis der urkundliche Nachweis ihrer
allmähgen Entstehung noch möglich und nirgends eine plan-
massige Arbeit erkennbar ist. Durch den Missgriff eines By-
zantiners schien dieser Bearbeiter greifbare Gestalt anzunehmen :
Photios ^) setzte nämlich , als er aus der Quelle des Pseudo-
1) Oecon. 4, 18. 19 beziehen sich auf Anab. 1, 9, 29. 31, werden aber
von Nitsche über die Abfassung von Xenophons Hellenika S. 22 ff. u.
K. Schenkl Sitzungsber. der Wiener Akad. 80, 155 verworfen, doch hängt
das ganze Kapitel mit der Anabasis und der Kyropädie zusammen.
2) III 5, 15 f. IV 4, 15.
3) Bitten berger Hermes 16, 330 ff. (er ordnet: 1. cyneg. Hell. I 1, 1
— II 3, 10; 2) oecon.; 3a. memor. symp. Hiero Anab. Cyrop. Hell. II 3, 11
— V 1; 3b. Hell. V 2 — VII. und die Monographien); Eoquette de Xeno-
phontis vita et scriptis, Königsberg 1884 stellt auf Grund weiterer Unter-
suchungen dieselben Gruppen auf und sucht die Abfassungszeit festzusetzen.
4) Sauppe; Breitenbach bei Blass, attische Beredsamkeit II 452 A. 3.
5) Lincke Hermes 17, 282.
6) Bibl. cod. 260 p. 486b 36; bei Ps. Plut. 837c fehlt Xenophon; in
der Stelle, an welche sich Photios erinnerte, als er die Interpolation beging,
war Sokrates wie so oft (Schäfer Ztsch. f. Alterthumsw. 1848 Sp. 250) mit
Isokrates verwechselt.
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. U. 30
466
Dreizehntes ß!apitel.
plutarch die Biographie des Isokrates und unter anderem aucl
das Verzeichnis von dessen Schülern abschrieb, zu Theopora[
und Ephoros de suo „Xenophon des Gryllos Sohn" hinzi
Nun sprach der Redner Deinarchos in einem Prozesse gegei
einen Xenophon, dem er dabei das unpatriotische Benehmet
seines berühmten Namensvetters vorwarf; ^) jener war also eii
jüngerer Verwandter, vielleicht ein Enkel'-) des SchriftstellersJ
Xenophon interessierte sich ferner für die Aufsehen erregendei
Erscheinungen des Buchhandels, er las Plato, Polykrates un(
natürhch auch Isokrates, dessen Anschauungen den seinigei
nahe standen, und, wie er aus der Lektüre des Gorgias unc
der Gorgianer manches zog, so nahm er vielleicht gelegentlicl
etwas von Isokrates, z. B. den Anfang der sokratischen Er^
innerungen aus dem berühmten Panegyrikos, dessen Eingang
Theophrastos in ähnlicher Weise verwertete. Endlich musij
ich auch noch erwähnen, dass Pseudoplutarch Demosthen(
mit Xenophon in Verbindung setzte (845 d) ; der Name de
Redners könnte vielleicht in einem der verlorenen Briefe g€
standen haben, es wäre dies nicht der einzige Anachronismi
dieser Produkte. Die Aufführung aller dieser Funkte war not
wendig, weil eine Fabel daraus zusammengesetzt wurde, welcheij
jeder Halt fehlt. ^) Die Behauptung, dass der jüngere Xenophoi
ein Schüler des Isokrates, die Schuld an den Mängeln trägt
entspringt wiederum der Abneigung, die Meinung von Xenophoi
herabstimmen zu müssen.
Dennoch wird nichts anderes übrig bleiben, wenn mai
nicht an Xenophon einen viel weniger strengen Massstab alsj
an seine Zeitgenossen anlegen will. Er erhielt ja, wahrscheinlicl
schon bei Zeiten ein Freund ritterlicher Uebungen und dea
Krieges, offenbar höchstens eine oberflächliche Ausbildung ii
der Rhetorik. So blieb Xenophon, weil er weder im Kriegs^
lager noch auf seinem Landsitze Gelegenheit hatte, das Ver-
säumte gründlich nachzuholen , durch sein ganzes Leben hiu-j
durch ein Dilettant. Freilich besass er natürliches Talent unc
1) Dionys. Dinarch. 12. Diog. 2, 62.
2) G r o t e history of Greece IX 246, 2.
3) Hub. Beckhau. s Xenophon der Jüngere und Isokrates, Posen 1871
(Pr. V. Kogasen) und Ztsch. f. Gymnasial w. 26, 256 ff. (vgl. dagegen Blas^
die attische Bereds. II 447 ff.).
Xenoplion. 467
besonders war ihm die leichte Beredsamkeit der Attiker, wie
die Anabasis zeigt, nicht versagt. Auch studierte er, wie wir
vorhin sahen, die bedeutendsten Schriften seiner Zeitgenossen;
die Dichter seines Volkes waren ihm wohlbekannt, wenn er in
iinien auch zunächst die Lehrer des Edlen und Guten schätzte. ^)
Doch blieb er stets ein Autodidakt.
In diesem Sinne ist der Stil Xenophons zu beurteilen.
Er drückt sich in der Regel natürlich und einfach aus , ^) wes-
halb er in Schilderungen oder in einfachen Auseinandersetzungen
am glücklichsten ist. Dagegen vermisst man in der Erzählung,
wie Dionysios treffend bemerkt, ^) das eigentliche Historische,
die Kraft und Würde. ,,Er erhebt sich höchstens wie ein
Landwind, der sich rasch wieder legt." Dennoch wäre es un-
richtig zu glauben , Xenophon sei auf den schlichten und
treffenden Aasdruck allein bedacht. Sein Dilettantismus gibt
sich vielmehr abgesehen von der häufigen Wiederholung der-
selben Wörter in der Ungleichmässigkeit der Sprache*) kund.
Sie spiegelt die Mannigfaltigkeit seiner Studien und zugleich
sein ruheloses Leben ab, kontrastieren doch vor allem mit der'
gewöhnlichen Einfachheit Xenophons die poetischen Wörter,
die er hie und da, entweder aus den Dichtern selbst oder aus
sophistischen Schriften, unerwartet einflicht ;^) auf eigene Hand
den Dichtern nachzustreben , wagt der Schriftsteller selten,
sondern gebraucht statt kühner Metaphern lieber Vergleiche.^)
Aus der Kunstprosa entnimmt er viele imposante Zusammen-
setzungen (mit ED-5ua-xaxo-7coXo-7rav-^tXo-a^to- '') und -Yacot;, *)
1) Memor. 1, 6, 14. 3, 10, 5. 8, 4. symp. 4, 6, vgl. Alfr. Rausch
quaestiones Xenophonteae, Halle 1881 p. 5 ff.
2) 'AtpsXs'.a Hermog. tz. IS. 2, 5 p. 365, 10 ff. (Dionys.) rhetor. 2, 9
u. A. ; ioyyäc, Phot. bibl. 58 p. 17 b 20; Dionys. ret. Script, ceus. 3, 2 aatp-rj«;
v.a\ £vapY"fii;.
3) Ad Cn. Pomp, de Plat. 4, vgl. vet. Script, cens. 3, 2.
4) S a u p p e lexilogus Xenophontis sive index Xenophontis grammaticas,
Leipzig 1868.
5) Hermog. k. 18. 2, 12, 6. Zurborg de Xenophontis libello qui rzöpoi
iuscribitur, Berlin 1874 p. 19; Gust. Eichler de Cyrupaediae capite extremo
p. 7—9.
6) Demetr. ^pp.Y]v. 80; ein geschraubter Ausdruck ist z. B. sv 4'jXtvoi(;
T£U)^eat Anab. 7, 5, 14.
7) Zurborg a. O. p. 20 ff.
8) Zacher de nomiuibus Graecis in atoc aia atov, Halle 1877 S. 111 ff.
30*
468
brfeizehntes Kapitel.
für die jetzt seine Schriften die meisten Belege liefern. Manches
mag ihm auch von der Lektüre Herodots her im Gedächtnisse
gebheben ein. Doch selbst wenn diese Elemente in Abzug!
gebracht werden, bleibt vieles, was wir bei den attischenj
Klassikern nicht finden. ^) Xenophon mag sich während dei
langen Zeit, die er von seiner Heimat ferne war, manches, ^
was dort nicht üblich war, angeeignet haben, doch stimmt erj
nicht selten mit den Komikern und Hypereides überein, sol
dass der Schluss nahe liegt, er sei mehr dem Vulgärattischenj
als der Schriftsprache der gebildeten Athener gefolgt.
Der Satzbau ist, wie man von Xenophon ohnehin erwarten
darf, klar und übersichtlich, aber ohne Kunst '') und oft ein-j
förmig gestaltet; wenn er die Inversion anwendet, was häufig
geschieht, verdeutlicht er sie durch ein Demonstrativ. Schiebtl
er etwas ein , so nimmt er gerne nach Herodots Weise das]
vorhergehende umständlich auf. Vielleicht kein griechischen
Prosaiker hat so sehr wie Xenophon bald durch einleitende]
und abschliessende Bemerkungen bald durch Rekapitulationen!
dem Publikum den Gedankengang seiner Schriften eingeprägt;!
dies tritt bei den Lehrschriften am meisten und sogar störendl
hervor. Die erzählenden Schriften haben diesen Fehler natur-
gemäss weniger; sie besitzen im Gegenteil einen grossen Reiz
an den Reden und Gesprächen, die Xenophon einzuflechten
liebt, wenn anders das Doktrinäre darin nicht vorwiegt.^)
Sonst zeichnen sie Schlagfertigkeit, Humor und Naivetät aus]
1) Am eingehendsten , aber nicht ohne üebertreibung ist diese Frage
nach G. Sauppe (a. O. und in der Ausgabe I p. XV) in „The new Phrynichus, ,
by Rutherford, London 1881" (s. Index S. 539) behandelt, besonders p. 163 fF.,j
wo die angeblich unattischen Wörter verzeichnet stehen. Unter den P^igen-
tümlichkeiten der Syntax ragt der übermässige Gebranch der Präposition ouv
hervor, welchen Tycho Mommsen aufgedeckt hat; vgl. noch Fuhr animadvers.
in oratores Atticos p. 41, 1, Phil. Weber Entwicklungsgeschichte der Ab-
sichtssätze II S. 89, Zycha Wiener Studien 7, 106, Franz Fassbenderl
de optativo futuri, Münster 1884. Dionysios hielt die Sprache Xenophons
noch für rein attisch (de Plat. 4. Script, ceus. 3, 2), ebenso anfangs Phryiiichos
(bei Phot. bibl. p. 101 b 8). Als aber der attische Sprachgebrauch genau
erforscht war, erkannte man die Abweichungen (Phrynich. ecl. 71, Helladios,
bei Phot. bibl. 279 p. 633 b 26, vgl. Galen. I 414 K.).
2) Die ouvö-eotc ist angenehm aber nicht schön (Dionys. compos. 10).
3) Dionys. vet, script. cens. 3, 2 Jiepcxc^elc ävSpäotv l8iu»Tatc >ia't ßap-
ßdpotc ^oB-' Zte Xo^oo? (piXooofpooc.
Xenophon. 469
und der Historiker sorgt für Individualisierung, indem er z. B,
den Reden der Sj^artaner durch Dorismen einen lokalen Anstrich
verleiht. ^) Seine Vorzüge kann er jedenfalls am besten in der
Anabasis entfalten, ^) wo die Beschränktheit des Stoffes kräftige
Töne nicht fordert und die bunte und überraschende Folge
der Ereignisse eine gewisse Einförmigkeit des Vortrags verdeckt;
zugleich hatte er hier den Leser nicht in seiner etwas pedan-
tischen Weise zu belehren.
Dieses Werk ist es denn auch, welchem Xenophon den
grössten Teil seines Ruhmes bei der Nachwelt verdankt. Wie-
wohl aus den oben entwickelten Gründen seine Schriften nie
zu den eigentlichen Musterbüchern des rhetorischen Unter-
richtes geliörten , erfreuten sie sich doch eines ansehnlichen
Leserkreises. Seine Kyropädie wurde nicht lange nach seinem
Tode von Onesikritos, einem Schüler des Kynikers Diogenes,
in der Alexandropädie nachgebildet;^) manche Enthusiasten
versicherten , Xenophons Sprache redeten die Musen, *) oder
nannten ihn geradezu die attische Muse; ^) der Rhetor Dionysios
stellte ihm, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, ein
ehrenvolles Zeugnis aus und Cicero rühmte den Schriftsteller
hoch, wiewohl er es nicht billigte, dass zeitgenössische Redner
ihn nachahmten, ^) Xenophon kam aber erst in der Zeit des
forcierten Atticismus recht in die Mode. Bekanntlich erwählte
ihn Arrianos sich zum Vorbild, wodurch er den Ehrennamen
des jüngeren Xenophon gewann. ^) Ein begeisterter Verehrer
Xenophons war ferner der Sophist Dion, welcher ihn durch
eine besondere Deklamation feierte und unter den alten
1) K. Schenkl Sitzungsber. der Wiener Akad. 60. 668, vgl. Hell. 8
3, 2. 4, 4, 10.
2) Dio Chryso.st. or. 18, 15 f.
3) Diogen. L. 6, 84.
4) Cicero orator 19, 62 (ferunt).
5) Diogen. 57, 'Attixt] (j-EXitT« Suidas.
6) Orator 9, 32 nielle dulcior, vgl. Val. Max. 5, 10 ext. 2. Quintilian
10, 1, 82. Tacit. dial. 31.
7) Phot. bibl. cod. 58; vgl. C. Kenz Arrianus quatenus Xenophontis
Imitator sit, Kostock 1879; H. Doulcet quid Xenophonti debuerit Arrianus,
Pams 1882; Nacbträge bei Grün dm aun quid in elocutioue Arriani Herodoto
debeatur, Berlin 1884.
470 Dreizehntes Kapitel.
Prosaikern am meisten für den Unterricht empfahl. ^) So ver-
drängte selbst sein mangelhaftestes Werk die Konkurrenzschrift
Theopomps. Wie Suidas mitteilt, schrieben die Rhetoren Zenon,
Heron, Aelius Theon, Metrophanes und Tiberios über Xenophon.
Hephaistion und Polemon erörterten einzelne Punkte. ^) Ein
Harpokration besprach die Anabasis vom militärischen Stand-
punkte;^) denn die Alten haben Xenophon jederzeit als Kriegs-
kundigen respektiert, darum studierten ihn Scipio Africanus
und andere Römer, wenn sie in den Krieg ziehen mussten.
Dagegen wurde über seinen historischen Wert verschieden ge-
urteilt, insofern als man lieber an Herodot und Thukydides
den historischen Stil darlegte und studierte. "*) Immerhin wurde
aber Xenophon auch in Byzanz fleissig gelesen und (wie von
Joannes Kinnamos und Anna Komnena) nachgeahmt. ^) Wie
wenig man ihn aber damals richtig zu beurteilen wusste, lehrte
der Beiname, den ihm die Byzantiner gaben ; während nämlich
die Früheren Xenophon von seinen Namensgenossen durch den
Zusatz „Sokratiker" ^) unterschieden, bezeichnen ihn die Byzan-
tiner gerne als Rhetor. Erst in der letzten Zeit des Byzan-
tinismus war man so leseträge , dass Xenophon excerpiert
wurde. '')
Die handschriftliche Ueberlief erung ist je nach
den einzelnen Schriften verschieden; indes gab es auch grosse
Sammelhandschriften, in welchen die Bücher fortlaufend gezählt
waren. ®) Was die erhaltenen Plandschriften betrifft, so sind sie
in Karl Schenkls Xenophontischen Studien (I. Beiträge zur
Kritik der Anabasis, Sitzungsberichte der Wiener Akademie
60, 563ff., separat Wien 1869; IT. Beitr. zur Kritik der Apo-
\
1) Vm., vgl. auch XVIII 14 ff. Chariton (Cobet Mneraos. 8, 229 flf.
nov. lect. 372 f.), Achilleus Tatios (E. Rohde der griechische Roman S. 481 A.)
und Andere ahmten Xenophon nach.
2) S. 66. 447 A, 3.
8) riepl Tiöv itapä Ssvocpüivxt ta^Ecuv Suidas.
4) Daher werden manchmal bloss Herodot und Thukydides zusammen
genannt z. B. Julian, epist. 42 p. 645, 16. Joh. Glykas de syntaxi p. 49, 22.
5) Vgl. Joseph Rhacend. Walz III 521, 23.
6) Preziösere s.-igten Ssvo'^dtv b xaXcii; ii. dgl.
7) Von Makarios-Chrysokephalos in der ^oSwvcdc und Gemistoa Plethon
(Cod. Monac. Graec. 48. 69).
8) Fr. Rähl Jahrbb. 127, 735 ff.
Xenophon. 47 1
mnemoneumata 80, 87fif. Wieu 1875; III. Beitr. zur Kritik des
OikoDomikos, des Symposion und der Apologie 83, 103 ff. Wien
1876) so übersichtlich zusammengestellt und beurteilt, dass ich
einfach auf sie verweise. Unter den Abhandlungen, welche
diese Studien ergänzen, ist 0. Riemanns Buch qua rei criticae
tractandae ratione Hellenicon Xenophontis textus constituendus
sit (Paris 1879) hervorzuheben. ^) Neben den Handschriften
verdienen die Citate, vor allem was Stobaios aus unserem Autor
anführt, Beachtung, da sie teilweise auf bessere Texte zurück-
gehen ; ^) ob Cicero eine abweichende Ueberlieferung der Kyro-
pädie vor sich hatte, ist fraglich. ^)
In der Renaissancezeit wurden die grösseren Werke Xeno-
phons viel gelesen;*) besonders waren die Kyropädie, lateinisch
von Filelfo (Rom 1474), italienisch von Poggio (Florenz 1521),
deutsch von Boner (Augsburg 1540) und französisch von De
Vintemille (Paris 1547) und die Anabasis (lateinisch von Romulus
Amasaeus, Bologna 1533, französisch von Cl. Seissel, Paris
1529, deutsch von Boner 1540 und itahenisch von Lod. Dome-
nichi, Venedig 1547) beinahe Volksbücher. Dagegen verhielten
sich die eigentlichen Gelehrten anfangs etwas kühl : Aldus
fügte die griechischen Hellenika seinem Thukydides von 1502
1) P. 70 ff. handelt er von der Orthographie Xenophons (vgl. noch Fr.
Riemann observatt. in dialectum Xenophouteam spec. I. Jever 1883). Zur
Anabasis (deren zwei Handschriftenklassen — die zweite ist interpoliert,
doch nicht ganz wertlos — schon im zweiten Jahrhundert existierten): Cobet
nov. lect. 422; A. Hug de Xenophontis Anahasis codice C, Zürich u. Leipzig
1878; Ad. Matthiae de lituris et correctionibus quae inveniuntur in Xenoph.
Anab. cod. C (Paris 1640), Berlin 1884 (Pr. v. Bochum); zu den Hellenika:
Rieh. Schneider quaestiones Xenophonteae , Bonn 1860; O, Riemann
Bulletin de corresp. Hellenique H 133 ff. 317 ff, gibt eine Kollation von
Ambros. A. 4 P. inf. u. Paris. 317, sowie den kritischen Apparat zu I 1
(ergänzt von Studemund Philol. Anzeiger 14, 509 ff.); Discussion in der
Revue critique zwischen Graux 1879 H 441 ff. u. Riemann 1880 p. 99 ff'.;
zur Kyropädie K. Sehen kl Bursians Jahresber. 17, 2 u. A. Hug Ver-
handl. der Karlsruher Philol. Vers. Leipzig 1883 S. 274 ff.; zu den (i n o |j. v t]-
|xove6[j.axa Schenkl a. O. S. 12 ff.; zum Hieron Schenkl Melanges
Graux p. lll ff.; Victoriana zu Hierou, Symposion, Agesilaos Acta philol.
Monac. 3, 355 ff.
2) Breitenbach Jahrbb. f. Phil. 115, 462 ff.
3) Jul. Sommerbrodt Rhein. Mus. 21, 285 ff.
4) S. den Index von Voigt Wiederlebung des klassischen Alterthums,
unter „Xenophon".
472 Dreizehntes Kapitel.
bei, aber erst 1516 erschien die erste nicht ganz vollständige
Sammlung bei Junta in Florenz; vollständiger und um den
Agesilaos vermehrt gab sie Aldus 1525 heraus; die erste wirk-
liche üesammtausgabe jedoch, in welcher auch die Apologie
nicht mehr fehlte — sie war von Reuchlin mit Agesilaos
und Hieron bereits 1520 inHagenau bekannt gemacht worden — ,
veranstaltete Melanchthon in Halle 1540; Henricus Stephanus
förderte in den Pariser Ausgaben von 1561 und 1581 die Besserung
des Textes bedeutend. *) Von ihm an bis zur Begründung der
modernen Philologie ist keine Ausgabe von Belang zu verzeichnen;
unter den Bearbeitungen einzelner Schriften verdient Erwähnung,
was Petrus Victorius (Florenz s. a.) für die,, Erinnerungen" leistete.
Nach dem Zeitalter der grossen Buchdrucker bestand nirgends
mehr ein lebendiges Interesse für Xonophon, ausser etwa in
Frankreich ; sein üikonomikos war bei den dortigen Landedel-
leuten in der Übersetzung von LaBoötie so beliebt wie Vergilsj
Georgica bei Italiens Signori und die Kyropädie gab den An-
stoss zu zahlreichen philosophischen Romanen. Das Zeitalter]
der Natürlichkeit brachte Xenophon wieder zu Ehren. Seit]
Shaftesbury wurde es Sitte, für den „schönen^' oder gar , .schön-
guten" Sokratiker zu schwärmen. Winckelmann stimmte einen!
begeisterten Panegyricus auf ihn an, ^) Klopstock wusste ihnj
fast auswendig, auch Herder und Johannes v. Müller fanden
in Xenophon ihren Lieblingsschriftsteller. Aus dieser Sentimen-
talität zog auch die Wissenschaft indirekt Vorteil. Nachdem
ein Landsmann Shaftesburys, Thomas Hutchinson die Kyropädie
(Oxford 1727 u. ö.) und die Anabasis (1735) herausgegeben
hatte, führte Joh. Aug. Ernesti Xenophon in die deutsche Ge-
lehrtenrepublik ein; er selbst gab die Memorabilien (zuerst
Leipzig 1737, 5. Aufl. 1772) heraus und veranlasste Thiemes
Sammelausgabe (cum notis variorum Leipzig 1763 — 64 4 Bde.,
2. Aufl. 1801—1804). Das Beispiel fiuid rasch Nachahmung.
Sam. Morus bearbeitete die Anabasis (Leipzig 1778), J. C. Zeune
fast sämmtliche Schriften einzeln. ^) Die sechsbändige Ausgabe
1) lieber seine Handschriften L. Breitenbach Ztsch. f. Alterthumsw.
1847 Nr. 123 f.
2) Justi Winckelmann I 608 flF.
3) Die politischen und praktischen Abhandlungen erschienen Leipzig
1778, die Kyropädie 1780, die Memorabilien 1781, die kleinen philosophischen
Schrillten 1782 und endlich die Anabasis 1785.
Xenophon 473
von Weiske (Leipzig 1798 — 1804) rausste sofort der von Joli.
Gottl. Schneider, welchen Wolf unterstützte, den Platz räumen;
letztere, zuerst 1790 — 1821 in sechs Bänden gedruckt, erschien
1825 — 49 (teilweise von Bornemann und Saupjie hearheitet) in
zweiter Auflage. Die moderne Textkritik repräsentieren die
Ausgaben von Gust. Sauppe (Leipzig 1865 — 67, 5 ßde.),^)
Ludwig Dindorf (s. u.) und Karl Schenkl (leider noch unvoll-
endet)^) An kritischen Einzelausgaben sind die Bearbeitungen
der Anabasis von Ludwig Breitenbach (Halle 1867), Cobet
(Amsterdan:! ^1880) und Arn. Hug (Leipzig 1878 ed. major
auf Grund des Codex Paris. 1640>, der Hellenika von Cobet
(Amsterdam ^1880) und der ,, Einkünfte'- von Ilerm. Zurborg
(Berlin 1876) zu erwähnen. Sehr wichtig sind Ludwig Dindorfs
kritische Ausgaben (Kyropädio Oxford 1857, Hellenika 1852,
Memorabilien und xVpologie 18(i2, kleinere Schriften 1866).
Noch zahlreichere Arbeiten beziehen sich auf die Erklärung
xenophontischer Schriften: Bei der Anabasis verdient die
Ausgabe von K. W. Krüger (lateinisch Halle 1826, verkürzt
und deutsch 1830, 6. Autl. LS71) wegen der gründlichen Sprach-
erklärung besondere Hervorhebung; deninächst sind die Sannnel-
ausgabe von E. Poppo (Leipzig 1827) und die Schulausgaben
von Kaph. Kühner (Leipzig 1851-52), Ferd. Vollbrecht (Leipzig
1857—58, jetzt 7. und 6. Aull.) und C. Kehdantz (Berhn
1863 — 64, jetzt I.'^ von ü. Carnuth)'') zu nennen. Die Kyro-
pä die versorgte Poppo Leipzig 1821 ebenfalls mit notis variorum^)
Schulausgal)en sind von Ericdr. K. Hertlcin (Berlin 3. AuÜ.)
und L. Breitenbach (Leipzig, 3. und 2. Aufl.) hergestellt. Die
umfassendste Erklärung der Hellenika gab L. Breitenbach
(Berlin 1873 — 7(5, I.- 1884), dagegen für Schulzweckc Beridi.
ßüchsenschütz (Leipzig 1860 4. Aufl.) und Emil Kurz (München
1873 — 74). Die Apom nem onoumata fanden Erklärer an
Gust. Sauppe (Leipzig 1834), l\a[)li. Kühner (Leipzig 1850, 4 A.),
L. Breitenbach (Berlin 1854, jetzt 5. A.) und M. Seilfert (Leipzig
1) Appeudicula ad Xeu. editionem stereotypain contineus auiiot. crit.
in scripta minora, Leipzig 1869.
2) Vorläufig sind erschienen vol. I. AuaV>asis; II. Libri Socratici,
Berlin 1869—76.
3) Kritischer Anhang zu Xenophons An., Berlin 1865.
4) Joh. Fr. Fischer commeutarius in Xeu. Cyrop., Leipzig 1803.
474
Dreizehntes Kapitel.
* 1 883). Der 0 i k o n o m i!c o s ist von Ed. Herbst (Leipzig 1 840]|
Ch. Graux (Paris 1878, nur cap. 1—11.), H. A. Holden (Londoi
1884) und Wedderburn and Collingwood (Orpington 1883) ei
klärt. Was die kleineren Schriften anlangt, so bearbeitet
L. Breitenbach Agesilaos und Hieron (Gotha 1846), Bornemani
die Apologie mit dem Symposion (Leipzig 1824, auch beid^
separat), G. Aug. Herbst (Halle 1830) und Rettig (Leipzig 1881]
das Symposion , Gust. Sauppe Convivium Hiero Agesilaus,
Helmstedt 1841, Karl H. Frotscher (Leipzig 1822) und A. Holdeuj
(London 1883) den Hieron i) und Fr. Haase (Berlin 1833) dei
Staat der Lakedämonier. Von den lexikaHschen Hilfsmittel!
verdienen Erwähnung: Fr. W. Sturz, lexieon Xenophonteui
Leipzig 1801—1804, 4 Bde., G. A. Koch, vollständiges Wörter
buch zu Xenophons Memorabilien, Leipzig ^1870, G. Ch. Crusius
vollständiges Wörterbuch zu Xenophons Kyropädie, Leipzig
*1860 und die Wörterbücher zur Anabasis von G. A. Krüge^
(ßerhn ^872), Suhle (Breslau 1876), Theiss (Leipzig »187^
und Vollbrecht (Leipzig 31876).^)
1) Joh. H. Bremi Philol. Beyträge aus d. Schweiz I 167 ff.; O. Schmidj
specimen couimentarii ad Hieronem Xenophoutemn, Eisenach 1881.
2) Vgl. noch: Catalogue of the British Museum of printed — booka
Xenophon, London 1883.
Vierzelintes Kapitel.
Die Fachliteratur.
Naturforscher: Anaxagoras, Archelaos und Diogenes; Leukippos und Demo-
kritos ; Ion und Andren; Uiagoras; Pythagoreer (Timaios, Okelos, Philolaos
undArchytas). Mathematiker, Astronomen und Mediciner. Militärische Literatur.
Gelehi'ter und Schriftsteller sind zwei Begriffe, welche sich
nicht häufig decken. Dies gilt nicht etwa bloss von unserer
Zeit, wo die wissenschaftliche Forschung durch die einseitige
Konzentrierung, bei welcher für die schöne Form kein Raum
bleibt, die grössten Erfolge erzielt, sondern nicht minder von
der Blütezeit Griechenlands. Wir sahen bei der Geschichts-
schreibung, dass sie nicht von Anfang an den Namen einer
Literaturgattung beanspruchen konnte; während aber dort der
Stoff nicht so spröde war, dass die Möglichkeit einer künst-
lerischen Entwickelung gefehlt hätte, blieben die den exakten
Wissenschaften und praktischen Fertigkeiten gewidmeten Schrift-
werke hinsichtlich der Form stets so ziemlich auf derselben
Stufe , ^) mochten auch manche Gelehrte durch Sorgfalt und
Eleganz des Ausdruckes von ihren Genossen abstechen.
Unter den vorsokratischen Philosophen gehörten die
beredtesten zum jonischen Stamme. Manche Kritiker erkannten
die älteren Schriften dieser Gattung (Bd. I. S. 351 ff.) nicht
an,^) sondern schrieben die Priorität Anaxagoras^) von
1) Vgl. Dionys. de vi Deraosth. 2.
2) Clem. Alex, ström. 1, 364.
3) Anaxagorae Claz. fragmenta quae supersunt omnia, von Ed. Schau-
bach, Leipzig 1827, mit Diogenes von Apollonia, herausgegeben von W. Schorn,
Bonn 1829; Fr. Panzerbieter scriptio de fragmentorum Anaxagorae ordine,
Meiningen 1836; Mullach fragmenta philosophorum Graec. 1 243 ff. (Nachtrag
Diel 8 Hermes 13, 3 f.).
4-76 Vierzehntes Kapitel.
Klazoinenai ') zu. Dieser Philosoph , der sich den Studien mii
solchem Eifer hingab, dass er darüber sein Vermögen verlor,'^
kam um die Zeit des Xerxeszuges nach Athen, ^) wo zuerst
Themistokles,*) dann Perikles^) sich um ihn annahmen. Er
hielt Vorträge über seine Wissenschaft, ^) bis er, wahrscheinlich
des Landesverrates angeklagt , Athen verlassen musste. ') Die
Bürgerschaft von Lampsakos nahm den Flüchtling freundlich
auf und begeisterte sich für Anaxagoras, den auch das Unglück,
seine Söhne zu verlieren, traf , ^) so sehr, dass er nach seineni_
Tode in dem hellespontischen Städtchen wie ein Heros verehi
wurde. ^) Man pflegte später zu behaupten, die Anklage hal
1) Die Heimat ist durch Isokrates (15, 235) und Aristoteles bezeu|
Der Vater hiess Hegesibulos (Aristot. s. Diels, doxogr. p. 228, nicht Eubal
Diogen. 2, 6).
2) Ps. Plato Hipp. maj. p. 283 a (Anekdoten bei Valer. Max. 8, 7 ext.
Diogen. 2, 6. 7).
!J) Demetr, Phaler. bei Diog. 2, 7 (Itäv sTy.octv uiv ist ein Zusatz
Diogenes). Nach Aristoteles metaph. 1, 3 p. 984 a 11 (vgl. Theophra
p. 477, 17 D.) war er vor Enapedokles geboren (nach Alkidanias bei Diog. 8,
sogar sein Lehrer) , veröffentlichte aber seine Theorie später als dieser,
war auch älter als Zenon (Aleidamas a. O.) und Demokritos, v/ie dieser seit
angab (Diog. 9, 41, ihm feindselig 2, 14). Die Zeitangaben der alten Liter
historiker (Diels Ehein. Mus. 31, 27 ff. Zeller Philosophie der Griecl
I S. 865 ff.) reducieren sich auf zwei; Ol. 80, 1 (Todesjahr des Themistokl^
nach Apollodoros, der Stesimbrotos folgte, Todesjahr, nach anderen Blütez
(dann Ol. 75, 1 zwanzig Jahre alt) und Ol. 88, 1 (Piatos Geburt) Todesjj
(Diogen. 2, 7, daher, wenn die Blüte Ol. 80, 1 war, 72 Jahre alt) oder Bli
(Hippolyt. 1, 8 p. 563, 14 D.). In einer Anekdote ist er als Greis bei Peril
(Plnt. Pericl. 16); wertlos Diogen. 2, 10.
4) Stesimbrotos bei Plutarch. Themist. 2.
6) Plato Phaedr. 270 a. Alcib. I 118 c. Isoer. 15, 235.
6) Vgl. Aeschin. Socrat. bei Athen. 5, 220 b.
7) Der Ankläger hiess Sosibios (Aristot. bei Diog. 2, 46, nicht Thul
dides, Perikles' Gegner, vgl. Müller-Strübing Aristophanes und
historische Kritik S. 317 ff.). Anaxagoras wurde in absenti zum Tode vfl
urteilt. Dies geschah nach Diodor. 12, 39,' 2 (ähnlich Plut. Pericl. 82)
87, 2 = 43 Vo (Diog. 2, 7 denkt, dass er Ol. 80, 1 nach Athen kam, we
er seineu Aufenthalt aut 30 Jahre berechnet). Ueber den Grund Satyros
Diog. 2, 12. Ein ähnliches Schicksal traf den Dichter Timokreon.
Anaxagoras trug aber vermutlich der Ruf des Atheismus zur Verurteilung
8) Demetr, Phal. bei Diogen. 2, 13.
9) Alkidamas bei Aristot rhet. 2, 28 p. 1398 b 15; Feier seines Tod^
tages Diogen. 2, 14 f.; Grabschrift Diog. 2, 16. Aelian. v. h. 8, 19.
Die Fachliteratnf. 477
auf Gotteslästerung gelautet, ^) aber bei Sokrates' Prozesse war
von diesem angeblichen Präcedenzfall keine Rede, im Gegenteil
kursierte das Buch, welches die angeblich inkriminierte Aeusserung
über die Sonne enthielt, in Athen ungehindert und muss
grossen Absatz gefunden haben , weil ein Exemplar nur auf
eine Drachme zu stehen kam. ^)
Es war vielleicht nicht die einzige Schrift des Philosophen,^)
aber wahrscheinlich die einzige den Späteren bekannte. ^) Man
rühmt von ihr, dass sie zugleich angenehm und pathetisch ge-
schrieben war. ^) Wir dürfen in Anbetracht der frühen Ab-
fassungzeit diesen Lobsprüchen unbedenklich das Wort „ver-
hältnismässig" beisetzen.
Bezüghch des etwas jüngeren Atheners Archelaos stehen
weder über sein Leben*') noch über sein Buch nähere Angaben
zu Gebote.^) Wenn er mit dem Elegiker identisch ist, war er
mit Kimon befreundet;^) sicherer steht die Nachricht, dass
sich Sokrates in seiner Jugend an Archelaos anschloss.^)
Diogenes von Apollonia ^*^) soll, wie Anaxagoras, der für
1) Cyrill. c. Jul. 6, 190. Er entfernte sich, als der philosoplienfeindliche
Antrag des Diopeithes durchging (Plutarch. Pericl. 32). Dagegen erhob nach
Sotiou (Diog. 2, 12) Kleon die Anklage und .setzte die Verbannung saiumt
einer hohen Geldstrafe durch. Anaxagoras wurde nach Herrn ippos (Diog. 2,
13, vgl. Plutarch. Nie. 23. de profect. in virt. 15. de exil. 17) in das Ge-
fängnis geworfen, nach Hieronymos (Diog. 2, 14, vgl. Joseph, c. Apion. 2, 37)
auf die Verteidigungsrede des Perikles hin freigesprochen. Vermittlung bei
Olympiod. in Aristot. meteor. p. 5 a.
2) Plato apolog. p. 26 d.
3) Plato a. O.; vgl. anuitor. p. 132a. Aristot. de plantis 1, 6 p. 817 a
25. Ilcpl ßaatXsiac schrieb Anaxarchos, nicht Anaxagoras (U. v. Wilamo-
witz ind. schol. Gryphisw. aest. 1884 p. 10).
4) Diogen. 1, 16; Athen. 2, 57 d nennt sie (puaiv.a. Plutarch. exil. 7
p. 338 und Vitruv. 7 praef. sprechen nicht dagegen.
5) Diogen. 2, 6.
6) Aus Athen (auch Hippolyt. 9 p. 563, 14. Ps. Plut. plac. phil. 1, 3.
Riniplic. in Arist. phys. 6 v 56) oder Milet, Sohn des Apollodoros (auch Ps.
J'iut. a. O. Epiphan. p. 590, 1 D.) oder Mydon (Diogen. 2, 16, Milton tivsc
bei Epiplian.). Euseb. praep. ev. 10, 4, 9 ist aus Clem. ström. I 301 a entstellt.
7) Citiert von Hierax bei Strob. flor. 10, 77.
8) Plut. Cim. 5 (am Ende) aus Panaitios.
9) Ion bei Diog. 2, 7.
10) Schwerlich aus der kretischen Stadt dieses Namens (Stephan. Byz.),
da er jonisch schrieb; Sohn des ApoUothemis (Aristotel. p. 228 Diels).
478 Vierzehntes Kapitel.
seinen Jjehrer galt/) zu Athen in Todesgefahr gekommen
sein. ^) Die schriftliche Darstellung seiner Philosophie zerfiel
in zwei Teile, wovon der zweite ,,über die Natur des Menschen"
handelte.^) So bezeichnet das Buch äusserlich den Uebergang
von der metaphysischen Spekulation zur empirischen Natur-
wissenschaft, wie Diogenes denn auch zu den letzten Natur-
philosophen zählte.'*)
Zahlreichere Schriften vertraten die atomistische Lehre.
Ueber Leukippos freilich, den angeblichen Begründer der
Sekte, ist nicht das mindeste, nicht einmal die Heimat •'^) über-
liefert, ein deutliches Zeichen, dass kein Buch seinen Namei
trug ; es gab allerdings eine Schrift, ^üfaq 8idxoa{ioc: betitelt, voij
der man nicht wusste, ob sie von Leukippos oder Demokritc
verfasst sei.^)
Leukippos galt für den Lehrer des Demokritos,'') welchei
1) Antisthenes bei Diog. 9, 57.
2) Demetr. Phal. bei Diog. 9, 57.
3) Vgl. Simplic. in Aristot. phys. 32 v 35 ff., der den zweiten Teil
nicht mehr las , mit Rufu.s bei Galen. 2. in epid. Hippocr. V p. 473. Frag-
mente bei Schorn in der Ausgabe des Anaxagoras, separat hrsg. von Friedr.
Panzerbietcr , Leipzig 1833, auch bei Mullach 1 252 ff.; vgl. Sohle icr-
m acher sämmtliche Werke 3. Abth. II 149 ff.
4) Theophrast. p. 477, 5 Diels; jünger als Leukippos ders. p. 477, 7.
Er erwähnte den Meteorfall von Ol. 78, 2.
6) Die Alten rieten bald auf diese bald auf jene Stadt: Theophrasti
(Diels doxogr. p. 483, 11) nannte Elea oder Milet, weil Leukippos als Schüler!
der Eleaten (Zenon Galen, bist. phil. 3 p. 601, 9 D. oder Parmeuides Theo-j
phrast. p. 483, 12 D., daher eptotixöc) oder Nachfolger der Hylozoisten ga
(Epiphan, p. 590, 26 Diels); Diog. 9, 30 (wo MyjXio? aus MiX-rjotoc korrumpier
scheint) und Ps. Galen, bist. phil. 19, 229 fügen Abdera, die Heimat Dem«
krits, bei.
6) Aristot. de Melisse c. 6 p. 980a 7 ev toic Aeuxcititou xaXoü|xevotj
Xo-yot? ; es war dies offenbar der i>.i'(o.<: Staxoofjioc, welchen Theophrast Let
kippos zuteilte, während er sonst für ein Werk des Demokrit galt (Thrasylk
bei Diog. 9, 46). Bedenklich ist ev x(f voö Stob. ecl. 1, 4. Die Unsicherhei
der Ueberlieferung wies E. Rohde Verhandlungen der Philologen vers.
Trier 1879 S. 64 ff. nach (anders Diels Verhandl. der Philologen vers.
Stettin 1880 S. 96 ff.).
7) Theophrast. p. 484, 1 Diels, Diog. 10, 13 (evtoi v.al 'A7toXX68ü>poc
'Entxoüpeioi;) , geleugnet von Epikur; doppelsinnig Aristot. metaph. 1,
p. 985 b 6, der das Wort exaipoc gebraucht.
Die Facliliteratur. 479
alle übrigen Gelehrten, die vor Aristoteles gelebt haben, an
Scharfsinn , Fruchtbarkeit und Formgewandtheit weit liinter
sich Hess. Demokritos , ^) der Sohn eines reichen Bürgers von
Abdera , ^) benützte die väterlichen Schätze nur dazu , um die
Naturwissenschaft aus ihrem kindlichen Zustande durch uner-
müdliche Forschungen zu einer wahren Wissenschaft zu er-
heben. Im Alter durfte er von sich rühmen, er habe weitere
Reisen als irgend einer seiner Zeitgenossen gemacht und so
viel Wissen gesammelt, dass ihn nicht einmal die ägyptischen
Gelehrten überträfen,^) Der Philosoph konnte den Studien
mehr Zeit als andere Menschen widmen, weil er nicht nur ein
ausserordentlich hohes Alter erreichte,*) sondern noch als er
von dem hunderten Jahre nicht mehr ferne war, Kraft und
Lust zur literarischen Thätigkeit besass. ^) Demokritos war
jünger als Anaxagoras , dessen Lehren er bekämpfte , ^) und
erlebte noch den schrecklichen Untergang der achäischen Stadt
Helike, also das Jahr Ol. 101, 4 (373/2).^) Als Lehrer trat er
1) Fragmente separat von Aug. Mullach , Berlin 1843 gesammelt (vgl.
quaestt. Democritearum spec. I. Berlin 1835. II. 1842), auch in den fragm.
philos. Graec. I 330 ff.; Louis Liard de Democrito philosopho, Paris 1873;
Gern per z Sitzungsber. der Wiener Akad. 83, 585 S.
2) Durch mehrere Stellen des Aristoteles (Bouitz, Iudex p. 175 a) ge-
sichert; u)<; Eviot M'.X-fjoio? Diog. 9, 34 von Leukippos entlehnt, Kwot; Sozomen.
hist. eccl. 2, 24 von seinem Freunde Hippokrates, aus Megara Schol. Juvenal.
10, 50. Der Vater hiess Hegesistratos (auch Tzetz. chil. 2, 979. 13, 85),
Atheuokritos oder Damasippos (Diog. 9, 34. Suidas. Epiphan. p. 590, 30 D.,
Theodoret. 4, 792. Hippolyt. 13).
3) Clem. Alex, ström. 1, 15 p. 131 S. = 356 P. (vgl. Sozomen. a. O.),
bestätigt durch Theophrast. bei Aelian. var. hist. 4, 20 und Megasthenes bei
Strab. 15, 703. Nech Diodor 1, 98, 3 war Demokrit fünf Jahre in Aegypten.
4) 90 Jahre nach Diodor. 14, 11,5; 100 Eusebios, über 100 Antisthenes
bei Diog. 9, 39; 104 Ps. Lucian. |xay.poß. 18, vgl. Phlegon 2; 109 Hipparch.
bei Diog. 9, 43 (wie Gorgias, oder nicht ganz 108 Censorin. 15); bnip-^ripiuz
Hermipp. bei Diog. 9, 43, matura vetustas Lucret. 3, 1037.
5) In dem A. 3 citierten Fragmente sagt Demokrit, er sei achtzig Jahre
gereist (Ten Brink Philol. 7, 354 ff. vermutet: 18).
6) Diogen. 9, 34. 41.
7) Seneca quaest. nat. 7, 16. Er sagte ausserdem, er habe den [iixpöc
o'.äv.oo]i.oz 730 Jahre nach Trojas Zerstörung geschrieben (Diogen. 9,41); aber
wann setzte er diese? Ueber die Zeitangaben s. Diels Khein. Mus. 31, 29 ff.;
sie lassen sich auf folgende Formeln reducieren-. jünger als Anaxagoras
(Ol. 80, wo letzterer starb, ApoUod. bei Diog. 9, 41), älter als Sokrates
(Ol. 77, 3 nach Thrasylos, weil letzterer Ol. 87, 3 blühte ; älter war Demokrit
480 Vierzehntes Kapital.
nicht auf, sondern zog es sogar in Athen vor unbekannt 7a\
bleiben. ^) So viel teilte Demokritos selbst in seinen Schriften
gelegentlich mit, ^) wenn aniiers alle einschlägigen Werke echt
waren.
Die Geschichtsschreiber der Philosophie machten dieser
unermüdlichen einzig um die Wissenschaft bekümmerten G(
lehrten zum Gegenstande vieler Sagen ; sie betreffen haupt
sächlich seinen unersättlichen Wissensdurst,^) seine an übei
natürliche Kräfte streifenden Künste*) und endlich das Verhältnis
zu seinen Mitbürgern, ■') das später, als Abdera in den bekannter
Ruf geriet, in das Komische umschlug.^) Seltsam ist es, daslj
Demokritos zum „lachenden Philosophen" gemacht wurde;
in der That nach Aristot. part. an. 1, 1 p. 642 a 26) und Plato (er starl
Ol. 88), Jüngling zur Zeit der Perserkriege (Diogen. 2, 7, ungenau Euseb.)]
nach der Sage wurde nämlich Dcmokrit von den Magiern zum Danke dafiu
unterrichtet, da-^is sein Vater Xerxes bewirtete (Diog. 9, 34, vgl. Valer. MaJ
8, 7 ext. 4). Das Todesjahr Ol. 94, 4 (Hieron., 94, 2 Euseh., 95, 2 Synkell
94 Diodor. 14, 11, 5) scheint errechnet, indem man Ol. 77, 3 als Blut
(vierzigstes Jahr) und ein Alter von 109 Jahren (s. o.) in Rechnung setzte.
1) Demetr. Magn. bei Diog. 9, 36. Cic. Tusc. 5, 36, 104 (in Dem. Phs
bei Diog. 9, 37 liegt kein Widerspruch).
2) Vgl. Ten Brink Philol. 6, 689 ft.
8) Ps. Hippocr. epist. X. Diog. 9, 36. Patron, sat. 88. Luc.ian. phiIopseud|
32. Er blendete sich freiwillig (Cic. fin. 5, 29, 87. Tnsc. 6, 39, 114. Laberii
bei Gell. 10, 17. Tertull. apol. 46, verworfen von Plutarch. de curios. 12).
4) Diog. 9, 42. Tzetz. alleg. Hom. 1, 89; wie er sein Leben um einigt
Tage verlängerte Job. Alexandr. Hermes 5, 213 f. (Dagegen spricht deii
Epikureer Lucrez 8, 1037 von Selbstmord).
5) Erbe eines ungeheuren Vermögens, liess er es im Stiche (Cic. fin. 5,
29, 87. Horat. epist. 1, 12, 12. Val. jMax. 8, 7 ext. 4. Lact. inst. div. 3, 28,
Philo provid. 2, 13. Dio Chrys. or. 54, 2. Origen. c. Cels. 2, 41) oder braucht
seinen Teil vollständig auf (Demetr. bei Diog. 9, 36), worauf ihn sein Briidej
ernähren musste (Antisthen. bei Diog. 9, 39). Die Abderiten wollten ihi
deshalb bestrafen, als er ihnen aber seinen fisY^C Staxoofioc vorlas, erhielt
100 oder gar 500 Talente Ehrensold (Autisth. u. Demetr. a. O.; vgl. Athen
4, 168b. Clem. Alex, ström. 6, 755 = 631). Sie nannten ihn <piXooo<pt«
(Aelian. var. bist. 4, 20) oder ootp'.a (Clem. Alox. a. O. Suidas).
6) Hippokrat«s (über seine Verbindung mit Demokritos D i e 1 s Rheil
Mus. 31, 33) soll über seinen Geisteszustand referieren (Ps. Hippocr. epist.
Soranos vit. Hippocr. Z. 31 f. Tzetz. Chil. 2, 983 IT).
7) D i e 1 8 doxographi Graeci p. 265 f., dazu Anthol. Palat. 7, 66. 5S
59. Horat. epist. 2, 1, 194 If. Seueca trnnqu. au. 15. Juvenal. sat. 10, 33
Aelian. v. h. 4, 20 (reXaolvo«;, wie Suidas). 29. Lucian. Peregr. Prot. 6|
Cosmas Mai spicil. Rom. II 93.
t)ie Fachliteratur. 481
diese Auffassung ging wohl von der epikureischen Sehule
aus, weil der Atomist in gewissem Sinne der Vorläufer ihres
Meisters war,
Diogenes verzeichnet sechzig angeblich echte Schriften des
Demokrit, welche Thrasyllos wie Piatos Werke in Tetralogien
ordnete;^) eine so umfassende und vielseitige Schriftstellerei
würde in der klassischen Zeit einzig dastehen , wenn sich nur
nicht vieles ungehörige unter die echten Schriften gedrängt
hätte. Mag auch der Kritiker, dem Suidas folgt, wenn er nur
zwei Schriften {[fA'(CLc 0'.äxoa[xoc und zzpl 'fooeox: xdajtoo) dem Philo-
sophen selbst zugesteht, zu weit geheuj so ist doch grosse Vor-
sicht* angezeigt. Unbedenklich darf man die acht moralischen
Schriften, von denen Aristoteles nichts weiss, ^) verwerfen, ob-
gleich durch die Spruchbücher gerade aus ihnen zahlreiche
Fragmente erhalten sind. ^) Auch die acht Sammlungen von
alxia.1^) und die Abhandlungen über Poesie, Malerei, Taktik
u. dgl. ^) sind recht bedenklich. Melir Vertrauen flössen von
vornherein die seclizehn philosophischen Schriften, unter
welchen der „grosse" und der „kleine" 8idxoo[io? hervorragen,
ein , ferner zwölf Bücher über die mathematischen Wissen-
schaften , ^) wozu sich die musikalischen Untersuchungen
1) Diog. 9, 46 ff.
2) S. dagegen part. au. 1, 1 p. 642 a 24 ff.
3) Bereits von Meiners Geschichte des Ursprung», Fortganges und
Verfalles der Wissenschaften in Griechenland I 728 fl. augezweifelt; vgl. Ten
Briuk Philol. 6, 577 ff. 23, 555 ff. F. Lortzing über die ethi.schen
Fragmente Demokrits, Pr. des Sophieng. Berlin 1873 n. besonders E. Roh de
Verhandl. der Philologenvers, in Trier S. 70 ff. A. 2 ; über die Schrift itepl
eid-up-iY)? Rad. Hirzel Hermes 14, 354 ff, Ueber die Spruchsummlungen
Curt Wachsmuth Studien zu den griechischen Florilegieu, Berlin 1882
S. 121 ff. ; Demokritos wird hier häufig zu Demokrates verderbt (s. auch
Suidas V. Ka/v).tp.ayo(; und Wen rieh de auctorum Graec. versionibus,
Leipzig 1842 p. 93).
4) Die No|xixa oXx'.a erkannte Thrasyllos nicht au. Ailianos benutzte
die atxtai uepl I^üxjjv in den Tiergeschichten.
fa) Thrasyllos selb.st verwarf Trspl loTop'.Yjc; xaxttxov wird Aelian. tact. 1
ignoriert. Doch ist für diese Kh^sse Philodem, de mus. col. 36 in Erwägung
zu ziehen : xal itsp; zu l3topoü|j.Jva oooevö^ tjxxov no\oKpä'f\).üiv.
6) riepl xä»v EtSüJV ist bereits von Theophrast p. 514, 4 D. citiert. Eine
der astronomischen Schriften benützt Ptolemaios (de appar. p. 93 d) unter
dem Titel tpatvöfiEva; die Echtheit derselben dürfte gesichert sein, weil die
Slttl, Geschichte der griechischen Literatur. U. 31 •
480 Vierzelmtes Kapitel.
nicht auf, sondern zog es sogar in Athen vor unbekannt zu
bleiben. ^) So viel teilte Demokritos selbst in seinen Schriften
gelegentlich mit,^) wenn anders alle einschlägigen Werke echt
waren.
Die Geschichtsschreiber der Philosophie machten diesen
unermüdlichen einzig um die Wissenschaft bekümmerten Ge-
lehrten zum Gegenstande vieler Sagen ; sie betreffen haupt-
sächlich seinen unersättHchen Wissensdurst,^) seine an über-
natürliche Kräfte streifenden Künste^) und endhch das Verhältnis
zu seinen Mitbürgern, '') das später, als Abdera in den bekannten
Ruf geriet, in das Komische umschlug. *') Seltsam ist es, dass
Demokritos zum ,, lachenden Philosophen" gemacht wurde;'')
in der That uach Aristot. part. an. 1, 1 p. 642 a 26) und Plato (er starb
Ol. 88), Jüngling zur Zeit der Perserkriege (Diogen. 2, 7, ungenau Euseb.);
nach der Sage wurde nämlich Demokrit von den Magiern zum Danke dafür
unterrichtet, dass sein Vater Xerxes bewirtete (Diog. 9, 34, vgl. Valer. Max
8, 7 ext. 4). Das Todesjahr Ol. 94, 4 (Hieron., 94, 2 Euseb., 95, 2 Syukell,
94 Diodor. 14, 11, 5) scheint errechnet, indem man Ol. 77, 3 als Blüte
(vierzigstes Jahr) und ein Alter von 109 .Tahren (s. o.) in Rechnung .setzte.
1) Demetr. Magu. bei Diog. 9, 36. Cic. Tusc. 5, 36, 104 (in Dem. Pbalj
bei Diog. 9, 37 liegt kein Widerspruch).
2) Vgl. Ten Brink Philol. 6, 589 ft.
3) Ps. Hippocr. epist. X. Diog. 9, 36. Petron. sat. 88. Lucian. philopseud.
32. Er blendete sich freiwillig (Cic. fin. 5, 29, 87. Tusc. 5, 39, 114. LaberiusJ
bei Gell. 10, 17. Tertull. apol. 46, verworfen von Plutarch. de curios. 12).
4) Diog. 9, 42. Tzetz. alleg. Hom. 1, 89; wie er sein Leben um einige
Tage verlängerte Joh. Alexandr. Hermes 5, 213 f. (Dagegen spricht der
Epikureer Lucrez 3, 1037 von Selbstmord).
5) Erbe eines ungeheuren Vermögens, liess er es im Stiche (Cic. fin. ö,
29, 87. Horat. epist. 1, 12, 12. V.il. Max. 8, 7 ext. 4. Lact. inst. div. 3, 23.
Philo provid. 2, 13. Dio Chrys. or. 54, 2. Origen. c. Cels. 2, 41) oder brauchte
seinen Teil vollständig auf (Demetr. bei Diog. 9, 36), worauf ihn sein Bruder
ernähren musste (Antisthen. bei Diog. 9, 39), Die Abderiten wollten ihn
deshalb bestrafen, als er ihnen aber seinen |XEYac SiaxoGfio«; vorlas, erhielt er
100 oder gar 500 Talente Ehrensold (Antisth. u. Demetr. a. O.; vgl. Athen.
4, 168b. Clem. Alex, ström. 6, 755 = 631). Sie nannten ihn (ptXoao'fia
(Aelian. var. bist. 4, 20) oder ootpia (Clera. Alax. a. O. Suidas).
6) Hippokrates (über seine Verbindung mit Demokritos D i e 1 s Kbcin.
Mus. 31, 33) soll über seinen Geisteszustand referieren (Ps. Hippocr. epist. X.
Soranos vit. Hippocr. Z. 31 f. Tzetz. Chil. 2, 983 ff.)-
7) Di eis doxographi Graeci p. 265 f., dazu Anthol. Palat. 7, 56. 58.
59. Horat. epist. 2, 1, 194 ff. Seneca tranqu. an. 15. Juvenal. sat. 10, 33 ff.
Aelian. v. h. 4, 20 (FeXacIvo?, wie Suidas). 29. Lucian. Peregr. Prot. 6.
Cosmas Mai spicil. Rom. H 93.
t)ie Fachliteratur. 481
diese AufPassung ging wohl von der epikureischen Schule
aus, weil der Atomist in gewissem Sinne der Vorläufer ihres
Meisters war.
Diogenes verzeichnet sechzig angeblich echte Schriften des
Demokrit, welche Thrasyllos wie Piatos Werke in Tetralogien
ordnete;^) eine so umfassende und vielseitige Scliriftstellerei
würde in der klassischen Zeit einzig dastehen , wenn sich nur
nicht vieles ungehörige unter die echten Schriften gedrängt
hätte. Mag auch der Kritiker, dem Suidas folgt, wenn er nur
zwei Schriften {\jA-(ac di6.yt.oi[xoc und zBpl ^oasw«: y.6o]xoo) dem Philo-
sophen selbst zugesteht, zu weit gehen_, so ist doch grosse Vor-
sicht angezeigt. Unbedenklich darf man die acht moralischen
Schriften, von denen Aristoteles nichts weiss, ^) verwerfen, ob-
gleich durch die Spruchbücher gerade aus ihnen zahlreiche
Fragmente erhalten sind.^) Auch die acht Sammlungen von
alzlai'^) und die Abhandlungen über Poesie, Malerei, Taktik
u. dgl. ^) sind i-echt bedenklich. Mehr Vertrauen flössen von
vornherein die sechzehn philosophischen Schriften, unter
welchen der „grosse" und der ,, kleine" 8tdxoa[jLog hervorragen,
ein, ferner zwölf Bücher über die mathematischen Wissen-
schaften , •^) wozu sich die musikalischen Untersuchungen
1) Diog. 9, 46 flf.
2) S. dagegen part. an. 1, 1 p. 642 a 24 flf.
3) Bereits von Meiners Geschichte des Ursprungs, Fortganges und
Verfalles der Wissenschaften in Griechenland I 728 fl. augezweifelt; vgl. Ten
Briuk Philol. 6, 577 ff. 23, 555 ff. F. Lortzing über die ethischen
Fragmente Demokrits, Fr. des Sophieng. Berlin 1873 u. besonders E. Roh de
Verhandl. der Philologenvers, in Trier S. 70 fi. A. 2 ; über die Schrift itepl
e6ö"üfj,iYj(; Rud. Hirzel Hermes 14, 354 ff, lieber die Spruchsammlungen
Cnrt Wachsmuth Studien zu den griechischen Florilegieu, Berlin 1882
S. 121 ff. ; Demokritos wird hier häufig zu Demokrates verderbt (s. auch
Suidas V. KaX>,[(j.a)(0(; und Wen rieh de auctorum Graec. versionibus,
Leipzig 1842 p, 93).
4) Die No|j.ixa aitta erkannte Thrasyllos nicht au. Ailianos beuützte
die aixiai itepi t^ü>uiv in den Tiergeschichten.
ö) Thrasyllos selbst verwarf irspl loToptTjc; taxttocov wird Aelian. tact. 1
ignoriert. Doch ist für diese Ivhisse Philodem, de mus. col. 36 in Erwägung
zu zieheu : xal iisp; xa 'caTopc<ü[X£va ooosvoc yjxxov noKoK^ä-^\).uiV.
6) Ilepl xd>v elSiJüv ist bereits von Theophrast p. 514, 4 D. citiert. Eine
der astronomischen Schriften benützt Ptolemaios (de appar. p. 93 d) unter
dem Titel (paivofjiEva ; die Echtheit derselben dürfte gesichert sein, weil die
Sittl, Geschichte der griechischen Literatur. II. 31 •
482 Vierzehntes Kapitel.
wohl fügen, und vier wichtige, die Medizin betreffende
Schriften.^)
In Aegypten entwickelten sich Magie, Alchymie und ähn-
liche Geheimwissenschaften wahrscheinlich schon sehr früh;
dort lernten sie die Griechen im Zeitalter der Ptolemäer kennen.
Die Geheimbücher griechischer Sprache prunkten daher mit
ägyptischen Weisen, aber auch der imponierende Name des
Naturforschers von Abdera deckte manches dieser Produkte. ^)
Da gab es Uebersetzungen der Zauberbücher des Apollobeches
von Koptos und des Phönikers Dardanos, die Demokritos aus]
dem Grabe holte, ^) sowie der Stele des babylonischen Weisen]
Akikaros, ^) es gab Schriften über die heiligen Bücher von]
Babylon und Meroe und was sonst die verirrte Phantasie derj
Menschen noch ausbrütete. ^) Selbst die Christen benützten dei
Wunderraann zur Verkündigung des Messias. ^) Aus solchenl
phantastischen Büchern zog man vielleicht schon im dritten
Jahrhundert der Kaiserzeit eine Rezeptensammlung (^oatxa xai
poTixa) aus, die so grossen Anklang fand, dass sie von mehreren]
kommentiert wurde und allein von allen demokriteischen
Schriften erhalten blieb ; '^) der Name ist aber vielleicht erst
später hinzugesetzt, weil im Texte nichts speziell auf Demokrit
deutet. Ausserdem enthalten die Handschriften verschiedene!
Angaben ungefähr die geographische Breite von Abdera voraussetzten (vgl.
Ptolem. a, O. p. 94 a). Anderes bei Mullach ist dagegen nach römischem
Kalender eingerichtet. lieber Demokrits Mathematik Carl Blass de Piatone j
mathematico, Bonn 1861 S. 8 f.
1) Eine fünfte ^epl itoptzoö xal tiüv (nTzb v6ooi> ßirjooovxcov nahm Thra-
sylos nicht auf.
2) H. Kopp Beiträge zur Geschichte der Chemie I 108 ff. Berthelot
Journal des savants 1884 p. 620 flf.
3) Plin. nat. bist. 30, 2.
4) Clem. Alex. I p. 131 S = 356 P.
6) Diogen. 9, 49. Plin. nat. bist. 24, 102 (vgl. dazn die kritische Be-
merkung von Gell. 10, 12, 8).
6) Theophilus bei Malalas p. 85, 3 ff. ed. Bonn, ev tg 'fikoaö'fio abxob
oüYYpa<p*.
7) Lateinisch unter dem Titel „de arte magna sive de rebus naturalibua"
mit den Kommentaren des Synesios, Pelagios und Stephanos von Alexandrien
von Pizinenti, Padua 1673 herausgegeben, wieder abgedruckt bei Kopp a. O.
S. 137 ff. Den dialogisierten Kommentar des Synesios, welcher an den
alexandrinischen Serapispriester Dioskoros gerichtet, also vor 389 abgefasst
Die Fachliteratur. 483
naturhistorische und abergläubische Kleinigkeiten unter dem
Namen des grossen Gelehrten. M
Der Untergang sämmtlicher Schriften, welche Thrasyllos
als echt anerkannte, während das Produkt des Aberglaubens
erhalten und sogar vielgelesen blieb , ist für die Wissenschaft
der späteren Kaiserzeit nicht sehr rühmlich, zumal da vorher
kein Gelehrte!" in weiteren Kreisen eine solche Beliebtheit
genossen hatte, wie gerade Demokritos. Wussten doch nicht
allein die Philosophen und Fachgelehrten, z. B. der kongeniale
Aristoteles und seine Schüler, ^) Demokrits Forschungen zu
schätzen, selbst die Grammatiker und Rhetoren ^) respektierten
den Schriftsteller, welcher seine Untersuchungen in bilderreicher
poetischer und doch klarer Sprache mitteilte, *) gelegentlich
auch amüsante Geschichten nicht verschmähte; so erzählte er,
als er über das Walten des Schicksals sprach, eine Fabel vom
Adler und der Schildkröte. ^) Diesen Eigenschaften verdankte
es Demokrit, dass seine Schriften im ersten Jahrhundert n. Chr.
durch Thrasyllos eine Recension erfuhren und eine propädeu-
tische Einleitung erhielten ; *') fünfhundert Jahre später aber las
Simplikios nichts mehr von ihm, doch gelangten einige Schriften
zu den Arabern. ')
ist und zu unserem Texte nicht ganz passt, gab Fabricius in der bibliotheca
Graeca VIII p. 233 ff. (Hamburg 1717) heraus, vgl. Ameilhon Notices et
extraits VII 2, 222; Kopp a. O. S. 144 ff. Hier und in ähnlichen Hand-
schriften werden mehrere sonst unbekannte Schriften „Demokrits" citiert.
Nepualii fragmentum iiepl xtuv xaxä ftviiTräO-siav xai ooiAJtdfl-stav et Democriti
nepi cofXTta^etwv xal ^cvTOTaS-si&v reo. W. Gemoll, Striegau 1884 war mir
nicht zugänglich.
1) Oionys. perieg. rec. Bernhardy p. XXXVII; Rhein. Mus. 28, 266 ff,
279; Hermes 14, 358 ff.
2) Theophrastos schrieb uspl xy|(; Af]|j.oxpixou ftaxpoXoYioK; (Diog. 5, 43)
und nspl A7](jLoxpixou (ib. 49), Herakleides itpoc xöv Avjaoxptxov £4"'i'('*'l°^''^
(Diog. 5, 88).
3) Kallimachos iciva^ xcüv A"r][j.oxpöxou •(■^^'"^awv (sie) v.al aDvxaYJJiaxcuv
Suidas; 'HY^joidva^ TptuaSeui; itepl X7)(; A-rj[j.oxptxoo Xe^scuc Steph. Byz. Tpcuiä?,
Hesychios und Suidas haben mehrere Glossen aus Demokrit.
4) Cicero de orat. 1, 11, 49. orator 20, 67 (mit Plato verglichen), de
divin. 2, 64, 132. Dionys. de comp. verb. p. 372. Plut. quaest. conviv. 5, 7, 6
(8aip.oviü>c 'ki'^ziv v.a.\ ^i.t'(aKonptKGyc,),
6) E. Roh de Jahrbb. f. Phil. 121, 22 ff.
6) Tcc upö XYjc ftvaYvcuaEcuc xcöv AYjfxoxpixou ßtßXiaiv Diog. 9, 41.
7) Dschemaluddiu kannte „de corporum solutioue in atoma, tractatus
31*
484 Vierzehntes Kapitel.
Ueber die Seliriften seiner unmittelbaren Schüler ist nichts
überliefert; hier ist aber ein später Demokriteer zu nennen, der an
der FälschungderdeniokriteischenMagicanichtvnibeteiligt gewesen
7Ai sein scheint. Bolos aus dem ägyptischen Mendesgau wird
nämlich in Verbindung mit dem Titel Trspi ai)[i,7:a^(£t)(i>v xal
avTi7ra^(ec)ü)V citiert^) und D;ro|xvfj[iaTa waren zwisclien ihm und
DemokritoB streitig. ^) Ausserdem heisst er nicht bloss Pytha-
goreer, sondern auch Demokriteer.^)
Auch in der philosophischen Literatur der klassischen Zeit
war die mystische Richtung nicht ganz ohne Vertreter. Der
vielseitige Ion von Chios verfasste ein merkwürdiges Buch
TptaY[iö<; oder TpiaY{ioi', worin er alles auf die Zahl drei zurück-
führte.^) Kallimachos teilte diese seltsame Schrift fälschlich dem
Astrologen Epigenes aus Rliodos oder Byzanz zu, welcher über
die orphische Dichtung und die chaldäische Astronomie schrieb;^)
seine Zeit ist nicht genauer bekannt. Hier sei auch der eigen-
artigen Schrift ,,Dreifuss" (tpiTiooc:) des Ephesiers Androu ge-
dacht, welche von einer verbreiteten auf die sieben Weisen
bezüglichen Anekdote den Namen hatte; ^) sie soll von dem
Historiker Theopompos benützt worden sein. '')
Der reine Atheismus endlich scheint keine literarische Ver-
de pbilosophia und Briefe" (Wen rieh de auctorum Graec. versionibns p. 94).
In dem unechten Briefwechsel des Hippokrates stehen zwei Demokritos bei-
gelegte Briefe XVIII. (XIX.) XXIII.
1) Suidas V. BäXoc. Schol. Nicand. Ther. 764.
2) Columella 7, 5.
3) Jenes Suid,, dieses Schol. a. O.
4) Isoer. 16, 268. Harpocr. v. "Iwv; vgl. Bentley epist. ad Job. Mil-
lium p. 508 flf, (opu.scula, Leipzig 1781); Lobeck Aglaopbamus p. 340 f.;
Fr. Scholl Rhein. Mus. 32, 158 f. Fragmente bei Stobae. flor. I p. 218, 16
Wachsm. (Diels doxogr. p. 356) n. Job. Philop. in Aristot. i:. '(sv. xal tpö'op.
fol. 46 b, Eine merkwürdige Parallele liefert dazu die Zeit des Humauisinus
in Renchlins Schrift de verbo mirifico.
6) Kallimachos Harpocr. (dagegen spricht das Zeugnis des Isokratcs);
aus Rhodos Varro, Colum. u. l'liii. n. h. iud. VIII. X. XIV. XV, 7, 56, aus
Byzanz Sen. quaest. nat. 7, 3, Censoriu. 7; korrupt Uzpi-fh-qz iv tü) ntpX rijc
XaXxt^txTji; Twv (lies it, xwv XaXSaixuiv) fj.a9-Yj|jLaTixd>v Schol, Apoll. 3, 1378,
vgl. Stichle Philol. 6, 763.
6) Fragmente in Müllens fragm. bistor. Graec. II 347.
7) Porphyr, bei Euseb. praep. ev. 10, 3, 4.
Die Fachliteratur. 485
tretung gefunden zu haben, da die angeblichen Prosaschriften
des bekannten Meliers Diagoras gefälscht waren. ^)
Alle diese Philosophen veröffentlichten ihre Lehren, um
dieselben der Nachwelt zu überliefern und in ihrer eigenen
Zeit Schüler zu gewinnen; beides traf bei dem pythagoreischen
B u n d e nicht zu. Die älteren Pythagoreer, welche über die
achäischen Städte Unteritaliens verbreitet waren, vermieden
jegliche Veröffentlichung ihrer Lehren so sehr, dass sie, wie es
heisst, Hipparchos wegen Herausgabe einer Schrift aus dem
Vereine stiessen.^) Allerdings existierten in der Kaiserzeit nicht
wenige die Namen alter Pythagoreer führende Schriften, doch
deckt der Dialekt derselben sofort ihre Unechtheit ^) auf, denn
die alten Pythagoreer sprachen weder dorisch noch jonisch. *)
In jener Mundart aber ist die Hauptmasse der Literatur abgefasst,
von welcher uns Stobaios den grössten Theil kennen lehrt,
weil die meisten Schriften morahsche Themata behandelten ; ^)
manches davon ging in die Spruchsammlungen über , die
Sprüche der Theano (Pythagoras' Gattin) wurden sogar in die
syrische Sprache übersetzt. ^) Ausserdem existierten einige
Darstellungen der pythagoreischen Kosmologie '^) und von diesen
sind noch zwei erhalten.
1) Vgl. Philodem. k. suasß. p. 85 G. ; 4>p6Yiot loyot Tatian., äitoTCup-
YiCovTsc Siiidas, vgl. Cyiill. c. Julian. 6, 190.
2) Clem. Alex, ström. 5, 680 = 674 P.
3) Bentley dissertatiou upon Pbalaris p, 381 f. (383 Wagn.) sprach
zuerst Zweifel aus; vgl. Gruppe über die Fragmente des Archytas und der
älteren Pythagoreer, Berlin 1840; A. Ed. Chaignet Pythagore et la Philo-
sophie Pythagoricieuue contenant les fragments de Philolaus et Archytas,
Paris 1873. 2 Bde.; U s e n e r, Rhein. Mus. 28, 431 flf.
4) Ueber den Dialekt dieser Fälschungen Ad. Matthäi de dialecto
Pythagoreorum, Göttingen 1878.
5) Ausserdem wird Eurytos Tispl töx«? (Clem. Alex, ström. 6, 662 P)
angeführt.
6) Herausg. v. Sachau Inedita Syriaca, Wien 1870 (s. S. IV, dazu S. V).
7) Thearidas von Metapont (Jamblich. vit. Pyth. 266) ixepl cpooeo«; Clem.
Strom. 5, 728=; 611 (vgl. Jumblich. 104), Athamas von Poseidonia (Jamblich.
267) Porphyr, bei Clem. 6, 746 = 624; ist auch nepl xy]c teTpavttooc, vier
Bücher mit dem Naiuen des Telauges (Sohn des Pythagoras und der Theano
Suidas V. ösavo) u. iluS-aYopac, Porphyr, vit. Pyth. 4) dorisch geschrieben?
Diogenes 8, 43 kennt es noch nicht. Das mathematische Buch des Hippasos
(Jarablich. bei Villoison Anecd. II 216) ist nach Demetrios Magnes entstanden
(Diogen. 8, 84). Simplikios in Arist. phys. citiert lol. 178 v 28 Paron und
161 r 7 Xuthos.
486 Vierzehntes Kapitel.
Der platonische „Timaios" gab den Anlass, dem Pytha-
goreer Timaios von Lokroi eine Schrift unterzuschieben; diese
aus Citaten bekannte Fälschung ^) wurde durch die erhaltene
„7repl(};o-/äc xöojioo xal 96010?" verdrängt.^) Letztere ist nichts weiter
als ein Excerpt des platonischen Dialoges,^) weshalb später Piatos
Selbständigkeit in Zweifel gezogen wurde; der Neupythagoreer
Nikomachos von Gerasa, der im ersten oder zweiten Jalirhunderte
n. Chr. schrieb, deutet bereits auf sie hin.'*)
Ein anderer Pythagoreer 0 k e 1 o s ^) ist als Lukanier eine
fremdartige Erscheinung unter den Philosophen, aber gerade
dies mochte einen Fälscher reizen. Dieser gab sich wenig
Mühe, sondern sclirieb sein Produkt, das schon Yarro vorlag, ^)
unter dem Titel „über die Natur des Weltalls" '^) aus Aristo-
xenos und Peripatetikern zusammen. Es scheint sogar aus der
verhältnismässigen Reinheit des Ausdrucks hervorzugehen, dass
er an dem Wortlaut seiner Quellen wenig änderte. ^) Während
die politischen und morahschen Schriften, die man Okelos
ebenfalls zuteilte,^) untergingen, blieb jenes Büchlein in mehreren
Handschriften erhalten, ^°) da es aber in Schulen gelesen wurde,
1) Plin. nat. bist, 2, 8. Clem. AI. 5, 116 Kl. Stob. ecl. phys. p. 16,
14 Wachsm.
2) In mehreren Handschriften heisst sie Ti\).aio<; b (xixpo?; sie ist mit
Plato überliefert und gedruckt. Zuerst erschien eine von Georgius Valla an-
gefertigte Uebersetzung (Venedig 1488, 1498).
3) Tennemann System der platonischen Philosophie I 93 ff.; W. Anton
quaest. de origine libelli n. (p. x. x. 4'- iuscripti qui vulgo Timaeo Locro
tribnitur I. Berlin 1861 u. Erfurt 1883, quaestio de origine libelli Timaeo
L. tributi continuata, Essen 1869.
4) Harmon. I p. 24 Meibom mit den Worten (f xal EXatcuv napvjxo-
XoöS-Yjas. Schol. Plat. p. 220 B (nach diesem schrieb er auch jJLaO^jiaTixd)
u. A. Theon von Smyrna erwähnte das Buch noch nicht.
5) Die Schreibung schwankt zwischen "ßxeXC^)©!:, "OxeXoc und "OxxeXoc
(Mnllach fragm. philos. Graec. I p. 388 Anra. Diels doxographi p. 187, 2).
Bergk Ztsch. f. Alterthumswiss. 1848 Sp. 1033 A. vergleicht das oskische Aukil.
6) Diels doxographi p. 187 f.; „Philo" de incorrupt. mundi, wo am
Ende von c. 3 Okelos gleichfalls citiert wird, ist unecht (Diels a. O. p. 107).
7) riept TT)? xoö Tzixvzbz (pooeux;, bei Procl. in Tim. 160e ^apl (puoecoc.
8) Roh de Rhein. Mus. 27, 52 f.
9) Brief des Archytas (!) bei Diogen. 8, 80 (nach Usen er Rhein. Mus.
28, 433 von dem Fälscher der erhaltenen Schrift erdichtet); Stob. ecl. phys.
1, 13 p, 139, 17 Wachsm, citiert uepl v6|jloo.
10) Zuerst Paris 1539 gedruckt, besser von Nogarola Venedig 1569
herausgegeben, mit Kommentar von Vizzanius TBologna 1646, Amsterdam 1661)
Die Fachliteratur. 487
wurden die dorischen Formen durch die der Koine ersetzt; nur
ein Citat des Stobaios zeigt, dass der Fälscher dorisch geschrieben
liat.^) Das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert fand an dem
Buche merkwürdig Geschmack.
Neben dieser umfangreichen dorischen Literatur stand ver-
einzelt ein in jonischer Mundart verfasstes Buch, welches also
anhob: „Alkmaion^) von Kroton, des Peirithoos Sohn, sagte
folgendes zu Brontinos, Leon und Bathyllos".^) Manche hielten
es, vielleicht durch den Dialekt bewogen, der an den Geburts-
ort des Pythagoras erinnerte, für die erste Pythagoreerschrift.*)
Es war jedoch gewiss nicht minder gefälscht; Plato und Aristo-
teles ^) dürften über Alkmaion mündliche Ueberlieferungen benützt
haben.
Schärfere Kritiker*') betrachteten als das älteste Literatur-
denkmal der pythagoreischen Lehre ein Buch des Ph il o lao s , '^)
des ersten Pythagoreers, der nach dem eigentlichen Griechenland
kam. Wie er durch die ünterrichtung von Schülern von der alt-
pythagoreischen Geheimthuerei abwich, so wagte er auch zuerst
mit einer Schrift in die Oeffentlichkeit zu treten. Dies ge-
schah zur selben Zeit, als Sokrates in Athen wirkte.^) Sein
und Aug. Fr. Rudolphi (Leipzig 1801) ; zuletzt von Mullacb hinter Aristo telis
de Melisso etc. Berlin 1845 und Fragm. philos. Graec. I 383 ff. bearbeitet.
1) Stob. ecl. phys. 1, 20 (24) p. 173, 20 ff. Wachsm., worauf schon
Vizzanius in seiner Ausgabe prolegg. fol. *** aufmerksam machte, vgl.
Bentley dissertat. upon Phalaris p. 383 f. (384 f.).
2) Maur. A. Unna de Alcmaeone Crotoniata ejusque fragmentis quae
supensunt, in Petersens historischpbilol. Studien S. 41 ff.; Zeitgenos.se des
Pittakos und zu den sieben Weisen gerechnet Cyrill. c. Jul. I p. 12.
3) Diogen. 8, 83; eine Sentenz Porphyr, bei Clem. ström. 6, 746 == 624.
Philoponos (in Arist. de anima c. 8) las die Schrift nicht mehr.
4) Diogen. 8, 83. Clem. ström. I 364 = 308 (= Theodoret. I p. 400
Seh.; hier und p. 822 steht 'AXv.[j.äv).
5) Rud. Hirzel Hermes 11, 240 ff.
6) Demetrios Magnes bei Diog. 8, 85.
7) A. Böckh Philolaos des Pythagoreers Lehren nebst den Bruch-
stücken seines Werkes, Berlin 1819; skeptisch Gruppe (S. 485 A. 3) und
Carl Schaarschmidt über die augebliche Schriftstellerei des Philolaos
und die Bruchstücke der ihm zugeschriebenen Bücher, Bonn 1864.
8) Lehrer des Siramias und Kebes Plato Phaedo 61 d; Aristoxenos kannte
seine Schüler persönlich (Diog. 8, 46). Daran ist festzuhalten gegenüber den
Bemerkungen von Apollod. Cyuic. bei Diog. 9, 30. Cic. de orat. 3, 34, 139.
Plutarch. gen. Socr. 13. Schob Plat. p. 86 B. Jamblich. vit. Pyth. 104. Ueber
die Zeit der jüngeren Pylbagoreer Unger Sitzungsber. der bayer. Akad. 1883
I S. 190 ff.
4B8 Vierzehntes Kapitel.
Werk war, da er selbst ein Dorier war, *) in dorischer Sprache
abgefasst und von geringem Umfang. Während man an dessen
Echtheit, weil bereits Timon von Phleius (um 280) seiner gedenkt,''')
nicht zweifehl darf, traten später mehrere Fälschungen hinzu, ^)
wobei orakelhafte Dunkelheit den Schein der Tiefsinnigkeit er-
wecken sollte. *)
Noch mehr als das Buch des Philolaos gab die Schrift-
stellerei des Taren tiners A r c h y t a s ^) zu jener pseudopythagorei-
schen Literatur dorischer Mundart den Anstoss. Nach den
ältesten Quellen war er Zeitgenosse und Freund Piatos, ^) bei
dessen dritter Sicilienfahrt er eine Rolle gespielt haben soll
(S. 288, 4), und obendrein vielleicht jünger als der athenische
Philosoph. ^) Obgleich Archytas seiner Vaterstadt als Feldherr
1) Aus Tarent Vitruv. 1, 1, 16 p. 10, 15. Claud. Mam. 2, 3 p. 105, 7
Eng. Jamblich. vit. Pyth. 267, dagegen aus Herakleia Jamblicb. a. O. 266
oder Krotou Diog. 8, 85. Alles übrige ist ganz unsicher (Diog. 8, 84 ; bei
Synes. de dono astrolab. p. 307 Pet. u. Theophyl. Simoc. epist. 71 mit Archytas
verwechselt).
2) Gell. 3, 17, 4 flf. (vgl. S. 292 A. 1); auch Xenokrates (Jamblich, theol.
arithm. p. 61 f.) und Neanthes (Diog. 8, 65) scheinen die Schrift gekannt zu
haben. Von Aristoteles sucht Zelle r Hermes 10, 178 ff. dasselbe nachzu-
weisen. Der Titel war irspl (puaecuc (Theon Plat. math. 49. Damasc. princip. 50
p. 133) oder nepl xoafxto (Stobaios ecl. 1, 21 (22) p. 187, 14 flf. W.). Von
drei Büchern sprechen Satyros bei Diog. 3, 9. Diog. 8, 15. Jamblich. vit.
Pyth. 199 (vgl. Ps. Plato bei Diog. 8, 84), aber nicht wie von des Philolaos
eigenen Werken.
3) 'Ev T(|) npuitif) <puotxt}) Nicomach. barm. I p. 176, Bdxj^ai Procl. comm.
in Euclid. p. 22, 15 Friedl. Stob. ecl. phys. 1, 15 (16) p. 148, 4. 25 (26)
p. 214, 21, das dritte Buch von irspl pü8-fj.wv Claud. Mamert. de statu an. 2, 7
p. 120, 13 flf. E., nepl ^ox&Z Stob. 1, 20 (21) p. 172, 9; im allgemeinen
Vitruv. 1, 1 p. 10. 15. Claud. Mam. 2, 3 p. 105, 6 flf. Böckh gestand nur ein
einziges Werk zu.
4) Schol. Plat. p. 87 B. Claud. Mam. p. 105, 6 flf.
6) E g g e r de Archytae Tar. Pythagorici vita operibus et philosophia,
Paris 1833; Gust. Hartenstein de Archytae Tarentiui tiagmentis philoso-
phicis, Leipzig 1883; Mull ach fragm. philos. II p. XIV ff. 117 flf. Aristo-
xenos von Tarent schrieb seine Biogiaphie; sein Vater hiess Hestiaios
Aristox. bei Diog. 8, 79, nicht Mnesagoras).
6) Ps. Plato epist. 7, 338 c. 350a, Zeitgenosse des jüngeren Dionysios
(Aristox. bei Athen. 12, 545 a).
7) Nach Eratosthenes bei Eutoc. in Archim. du sphaera II 2 p. 144 Ox.
war er ein Schüler Piatos ; nach Psellos epist. 182 (Satlias |i.eoatü>v. ßißXioO-.
V 462) citierte er sogar Theophrastos, doch war die betreffende Schrift sicher
nicht von ihm.
Die Fachliteratur. 489
die wiclitigsten Dienste leistete,^) fand er daneben Zeit, die
|)Ositiven Wissenschaften mit grossem Erfolge zu l)etreiben und
(!ie Ergebnisse durch zahh'eiche Schriften zu veröffenthchen.
Leider wurde auch hier das echte von dem unechten über-
wuchert. ^) Wir wollen die von Stobaios erwähnten Schriften
'■»ei Seite stellen/) auch der kleine Abriss „über die zehn Kate-
fiorien", dessen Sprache manche Dorismen enthält, kann selbst-
verständlich nicht von Archytas herrühren ; *) von den Schriften,
welche dann noch bleiben, können wir die eine Gruppe die
naturphilosophische nennen. Die Echtheit dieser fast nur
durch die Aristotelesscholiasten bekannten Bücher'') mag dahin-
gestellt bleiben, hingegen darf man dem, was Archytas an
mathematischen und musikalischen Untersuchungen beigelegt
wird, von vornherein mehr Vertrauen schenken. Vor allem ist
die Echtheit des mathematischen Werkes nicht zu bezweifeln ;^)
auch das Buch ,,über die Flöten" scheint dem Tarentiner
Archytas gesichert.'')
Diese dorisch geschriebenen Werke des Archytas regten
sowohl seinen jüngeren Landsmann Aristoxenos als auch die
Produktion angebhch alter Pythagoreerschriften an, bei welcher
mehr philosophischer Eifer als Gewinnsucht die Triebfeder war. ^)
1) Aristox. bei Diog. 8, 82 u. Athen. 12, 545a; Fs. Plat. epist. 9
Plutarch. praecept. ger. reip. 28, 5, nach Aelian. v. h. 7, 14 sechsmal, nach
Diog. 8, 79 siebenmal Feldherr.
2) Porphyr, in Ptoleni. härm. p. 236 ou fj-dcXioxa xal '^M-r^oia Xi'^fzru thai
T« QO'i'(pa\i\).r/.':rj., Varro s. Di eis doxographi p. 188.
3) Zu den gefälschten Moralia gehört auch ntpl oo'xiiaz Jamblich, protrept.
p. 12 ff.
4) Abgedruckt in Mullachs fragm, philosoph. I 570 ü., erwähnt Schol.
Hermog. Walz IV 297, 2.
5) Simplikios zu den Kategorien und zur Physik und Sophonias zur
Schrift über die Seele. Ausserdem citiert Claudian. Mamert. de statu an.
2, 7 p. 121, 5 ff. eine Schrift de rerum natura mit hohem Lobe.
6) Fragmente von Fr. B 1 a s s Melauges Graux p. 573 ff. gesammelt,
vgl. All man Hermathena 1884 p. 190 flf.
7) Athen. 4, 184 e (aus Aristoxenos ?) ; der Pythagoreer Euphranor schrieb
über denselben Gegenstand, ebenso Aristoxenos; hingegen ist 'Apyuxac 6 ap-
}j.ovix6^ bei Athen. 13, 600 f oflenbar der gleichnamige Musiker aus Mytilene
(Diogen. 8, 82).
8) Die bekannte Stelle David in Aristot. categ. p. 28 a wird mit Un-
recht verallgemeinert; sie besagt nur, dass der König Juba mit angeblichen
Werken des Pythagoras betrogen wurde, spricht aber weder von einer allge-
meinen Verbreitung derselben noch von den Pythagoreern.
492 Vierzehntes Kapitel.
„Über die Ernährung der Gesunden" herausgegeben haben. ^)
Man wird an dieser Stelle die Besprechung der hippokratoischen
Schriften erwarten; sowohl in Anbetracht jedoch, dass Aristo-
teles noch keinen Schriftsteller Hippokrates kennt, sondern eine
Stelle unserer Sammlung aus Polybos citiert,^) als auch aus
anderen Gründen kann ich nicht umhin, mich denen anzu-
schliessen, welche die Entstehung des hippokrateischen Corpus
der Zeit nach Aristoteles zuweisen, und hoffe dies an einem
anderen Orte darlegen zu können, Aristoteles erwähnt auch
einen Arzt Syennesis aus Kypern und- einen gleichfalls
von der halbbarbarischen Insel stammenden Naturforscher NikaHl
goras.^)
Im übrigen wurden nur über mihtärischen Fragen Bücher
geschrieben,'^) weil dieses F^ach gleichfalls von den Sophisten
gelehrt wurde. Ein Zufall hat wenigstens ein Stück eines solchen
Werkes gerettet. Ueber Aineias,^) wie der Verfasser heisst,
wüssten wir einzig und allein, dass er vor Kineas, dem Minister
des Königs Pyrrhos, welcher das ausführhche Werk in einen
Auszug brachte, ^) gelebt hat, wenn nicht die historischen An-
spielungen seines Werkes gerade bis zum Jahre 357 herab-
reichten;'') andererseits kannte er die grossartigen Erfindungen
Phihpps wahrscheinlich nicht. ^) Niemand , nicht einmal der
Arkadier Polybios, deutet an, dass dieser Aineias der Stym-
phalier, welcher unter den Zehntausend Hauptmann war und
366 das Bundesheer der Arkadier befehhgte, sei.^) Im Gegen-
1) Suidas : itspl laTpixYj(; = Jtepl Tpief?]«; ÖYtstvöJv ßtßXiov a' ; Diogened
8, 66 teilt ein Epigramm, das Empedokles angeblich an ihn richtete, mit.
2) Aristot. hist. an. 3, 3 p. 612 b 12 = de natura hominis 6.
3) Hist. an. 3, 3 p. 611b 2:5; Diels doxogr. p. 228.
4) Die t£)(V7j ■(pa\).ii.äzu)'^ des Künstlers C laukos von Samos Schol. Plat.
p. 91 li. beruht auf einem ungeheuerlichen Missverständnis.
5) Arn. Hug Aineias von Stymphalos, Zürich 1877 (Progr. der Univ.).
6) Aelian. de instr. acie 1.
7) Hug S. 6 flf. (vgl. Köchly (u. Küstov.) griech. Kriegs-schriftsteller
I p. 7) verzeichnet die Belege bis zum Jahre 3ü0 ; das späteste Ereignis
(c. 31, 18 Krieg gegen den jüngeren Dionysios) hat A. v. Gutschmid
Literar. Centralblatt 1880 Sp. 589 nachgewiesen.
8) C. 32, 8 — 10 sind nach Hug proleg. p. 8 interpoliert; ebensowenig
kennt er die Hellenika Xenophons.
0) Xenoph. anab. 4, 7, 13. Hell. 7, 3, 1. Für die Identität Hug a. O.
dagegeu Ad. Lauge de Aeneae commeutario poliorcetico, Berlin 1879 p. 7 — 22.
Die Fachliteratur. 493
teil ist es fraglich, ob dieser im Jahre 357 überhaupt am Leben
war, jedenfalls berücksichtigt unser Aineias die Ereignisse,
welche an der Propontis und in ihrer Umgebung vorfielen , so
auffallend, dass der Schluss nicht gewagt ist, er sei dort zu
Hause gewesen. ^) Vielleicht lässt die Reinheit der Sprache ^)
auf einen Bewohner des thrakischen Chersones seh Hessen. Wie
dem auch sein mag, Aineias verfasste, wahrscheinlich durch
Xenophous Schriften angeregt, ■') mehrere selbständige Abhand-
lungen; er citiert selbst TrapaGxsoaaTr/cd? (c. 7, 4, 8, 5. 21, 1),
'KO[A<3ziv.6c, (14, 2), ozpaxoKzdtoxi-Mc. (21, 2) und axo6:5[i,aTa (38, 5).
Der in einem einzigen Ai-chetypus^) erhaltene Abschnitt führt
den Titel ;r£pl xoö ttw? '/^pq ;roXtop7,jD[jivoD<; avTS'/etv ^) und wurde
zuerst von C.asaubonus mit Polyb 1609 herausgegeben.") Die
neuesten Ausgaben von Rud. Hercher (Berlin 1870) und Arn.
Hug. Leipzig 1874 sind für Aineias' schriftstellerischen Ruf
förderlich gewesen, indes ist über Zahl und Umfang der fremden
p]inschiebsel noch kein Einverständnis erzielt.') Mag nun auch
Aineias' Stil besser sein, als man früher dachte, so hat sich
der Autor doch nicht gescheut, die historischen Beispiele fast
wörtlich aus seinen Quellen (Herodot und Thukydides) zu
entlehnen.^) Beiläufig wird noch ein alter Taktiker Xeno-
krates erwähnt.^)
Von den einzelnen Zweigen der Militärwissenschaft wurde
besonders die Reitkunst, weil die vermögenden Bürger sich
dafür interessierten , erörtert ; bei Xenophons einschlägigen
Schriften (S. 461) haben wir bereits seines Vorgängers Simon
gedachtt; falls er der Reiteroberst ist, welcher in den ,, Rittern"
1) Die Arkadier werden dagegen nnr einmal (27, 1) erwähnt und zwar
zur Erläuterung von ttvec-
2) Hug S, 27.
3) Hug S. 19. 24.
4) Medie. 55, 4, wovon es Abschriften gibt.
5) In der Handschrift ist diesen Worten AlXtavoü taxxtxöv 6Tc6|xvVj|i.a,
das aus der subscriptio der vorhergehenden Schrift eindrang vorgesetzt; die
Unterschrift lautet AIve'.ou noXtopxYjTixa [yj AlXtavoö xatJ-wc yj i5cp)(*fjj.
6) Ausserdem sind die Ausgaben von Jac. Gronovius (Leiden 1675) und
Joh. Cour. Orelli (Leipzig 181& mit Kommentar) zu nennen.
7) Hug prolegomena critica ad Aeneae Poliorcetici editioneni, Zürich 1874.
8) Hug Aineias S. 9 ff.; er benützte auch mündliche oder schriftliche
Anweisungen älterer Taktiker, z. B. 27, 1,
9) Diog. 4, 15.
494 Vierzelintes Kapitel.
des Aristophanes (242) vorkommt, gehörte seine Schrift zu den
ältesten Denkmälern der attischen Prosa.
Der Kuriosität wegen sei erwähnt, dass Traum- ^) und
Kochbücher^) auf Leser rechnen durften; die gastronomische
Literatur entwickelte sich, nachdem die ersten Versuche bei den
Gourniands Siciliens entstanden waren , in Athen freilich erst
seit Alexander dem Grossen, als man sich für den Verlust
der Grossmachtstellung durch materielle Genüsse zu trösten
begann. ^)
1) Plut. Aristid. 27; über Xen. anal). 7, 8, 1 s. aber Scheu kl
Sitzungsber. der Wiener Akad. 60, 589.
2) Von dem Sicilier Mithaikos Plat. Gorg. 518 b, ,,
3) Der erste Verfasser einer wissenschaftlichen Speisekarte , der Parasit
Chaireplion, war ein Zeitgenosse der jüngeren Komödie (Calliinach. bei
Athen. 6, 244a. Machon ib. 243 a flf.).
f^9{
Nachträge und Berichtigungen.
S. 44,2: Nach Dionys. eoiiipos. verb. 12 schrieb Gorgias Tispl xatpoö.
S. 53: Vgl. E. Tal bot de ludicris apud veteres landationibus,
Paris 1850.
S. 63,3: Die Eede gegen Herodes ist, wie §76. 77 zeigen, lange nach
dem Jahr 420 verfasst.
S. 66, 2: Zu Melampus Tispl TiaXfiJiv ist beizufügen c. 33 p. 461 Franz.
S. 67, 4: Aus dejn Voikomraen von ca oder xx habe ich absichtlich
keine Schlüsse gezogen, weil die handschriftliche üeberliefernng zu unsicher
und vor allem von Grammatikern nach ihren Theorien geregelt ist. Es ver^
dient übrigens Beachtung, dass sich die Kritiker auch bei Plato für aa ent-
schieden 'Ael. Dionys. bei Eustath. II. K 385, vgl. Dionys. Lys. 2); dann
bliebe tx nur den Komikern, den Rednern (Antiphon allein ausgenommen; und
— Xenophon. Immerhin dürften die älteren Schriftsteller, solange Athen
in der Prosa noch nicht das entschiedene Uebergewicht erlangt hatte, diesen
Idiotismus vermieden haben.
S. 72, 2 : A für Isaios kollationiert bei S c h e n k 1 Wiener Studien
3,195 fif. und Bürmann in seiner Ausgabe 1883; Blass der Codex Oxo-
niensis insbes. des Lykurgos, Jalirbb. f. PhiL 111, 597 flf.
S. 244: Von der Teubnerausgabe gab Blass 1885 den ersten Band neu
heraus und zwar erschien nicht bloss der Text, sondern auch eine editio major.
S. 275, 9 Z. 4 lies „erhaltene".
S. 299, 4 Z. 1 lies Diog. 4, 5.
S. 842, 5 lieber die Handschriften des Hermeias Schanz Hermes 18, 129 ff.
S. 342, 6 : Kommentar zum Parmeuides Damasc. tz. äpy^ütv p. 128 Kopp.
S. 343, 6: Zu Rose vgl. L. Traube Rhein. Mus. 39,467 f.
S. 344, 5: Dieser Kommentar wird im Cod. Monac. Graec. 100 einem
Stratou beigelegt; diesen citiert Damasc. a. O. p. 174, 177.
S. 858, 1 : Ein neues Fragment Jahrbb. f. Philol. 93, 165.
S. 360, 5 : Zwei weitere Bruchstücke a. O. S. 163.
S. 390 A. 10 Z. 3 lies Mnemos. n. s. 7, 47.
S. 415 A. 1 : über den Kriegsaufang Lipsius Leipziger Studien 8,
161 ff.; U. V. Wilamowitz Hermes 20,477 ff
S. 417 a. E. lies Athenagoras.
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CiL
KüL. Hof- und UnivrrsitXts-Buchdruckkrbi von Dr. C. Wolf & Sohn.
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T. MAR 2
PA
3057
S57
T.1-2
Sittl, Karl
Geschichte der
griechischen literatur
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