Skip to main content

Full text of "Geschichte der griechischen Literatur bis auf Alexander den Grossen"

See other formats


HANDBOUND 
AT  THE 


UNIVERSITY  OF 
TORONTO  PRESS 


m^ 


GESCHICHTE 


DER 


GRIECHISCHEN    LITERATUR 


BIS  AUF 


ALEXANDER  DEN  GROSSEN 


VON 


D«    KARL   SITTL. 


As 


ERSTER 


TEIL.    —  'T^j^^^^^       \  JJjOI 


MÜNCHEN 

THEODOR    ACKERMANN 

KÖNIGLICHER  HOFBUCHHaNDLKR 

1884. 


ii96S03  . 


HERRN  PROFESSOR 


Dr   CONRAD  BURSIAN 


IN  DANKBARER  VEREHRUNG 


DER  VERFASSER 


10 


Inhalts-Uebersicht. 


/ 


Seite 

Einleitung 1 

1.  Kapitel:    Lyrische  Volksdichtung 8 

Indogermanische  Dichtung;  Wiegen-,  Bettel-,  Hochzeits-  und 
Klagelieder,  Skolieu ,  Tan/,-  und  Kriegsgesänge,  Lieder 
der  Arbeiter,  Rätsel  —  Hymnen  an  Apollo  (Chiyso- 
themis,  Philammon,  Ölen,  Melauopos),  Artemis,  Demeter 
(Musaios,  Eumolpos,  Pamphos),  Dionysos,  Poseidon  (An- 
thes)  nnd  Aphrodite  —  die  thrakischen  Säuger  Orpheus 
und  Thamyris  —  orientalische  Klagelieder  (Linos,  Adonis- 
lied  u.  8.  w.). 

2.  Kapitel :    Epische  Dichtung  vor  Homer .      2« 

Si)richvv()rt  und  Fabel  (Äsop)  iMärchen  —  epische  Lie- 
der —  Entwicklung  vom  Einzelliede  zum  P^pos  — 
Ausbildung  der  Sagen  —  Vorläufer  Homers. 

3.  Kapitel:    Die  homerischen  Epen .•      ^^ 

Charakteristik  der  homerischen  Dichtung  —  Homer  als 
Persönlichkeit  (Biographien,  Heimat,  Zeit,  Bild,  Name) 

—  homerische  Frage  (Wolf  und  seine  Vorgänger,  Nie- 
derschreibung des  Textes,  Thätigkeit  des  Peisistratos, 
moderne  Theorien)  —  Methode  der  Forschung  —  Ana- 
lyse der  Ilias  —  Chorizonten  —  Analyse  der  Odyssee  — 
Aöden  und  Klyipsoden  —  Geschichte  des  Textes  — 
Geschichte  der  Homerexegese  —  Bedeutung  Homers  für 
die  Literatur  (Centonen,  Parodien,  Batrachomyomachie) 

—  Verhältnis  zur  Kunst. 

4.  Kapitel:    Das  nachhomerische  Heldenepos 167 

Der  epische  Kyklos  —  Verhältnis  zu  den  homerischen  Epen 

—  Kyprien   —    Aithiopis    —   Iliupersis  —  kleine  Ilias 

—  Nosten  —  Telegonie  —  Thebais  und  Oidipodeia, 
Epigonen  und  Alkmaionis  —  Heraklesepeu  (Oichalias 
Einnahme,  Minyas  nnd  Phokais,  Aigimios,  Hochzeit 
des  Keyx,  der  hesiodische  Schild;  Kinaithon,  Demo- 
dokos,  Diotimos,   Phaidimos,  Peisinus  und  Peisandros) 

—  Theseis   —    Argonautika   —    Antimachos   von   Teos 

—  Magnes. 


Seite 


5.  Kapitel:    Historisch-genealogische  Epen 185 

Chersias  —  Fraueukatalog  —  Eöen  —  Naupaktische  Ge- 
sänge —  Eamelos  —  Phorouis  —  Danais  —  Kinaithou 

—  Hegesinus  —  Asios. 

6.  Kapitel:    Epische  Hymnen  und  Theogonien 193 

Jlomerische  Hymnen  —  Titanomachie  —  hesioilische  Theo- 
gonie  —  Orpheus,  Musaios  und  Epimenides  —  Melara- 
podie  —  Al)aris  und  Aristeas. 

7.  Kapitel:    Didaktische    Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.    215 

Spruclidichtung  —  Hesiod  (Eiga)  —  Erga  niegala  —  Cheiron 

—  Pittheus  —  Periandros  —  philosophische    Gedichte 
des   Xeuophanes   —  Orakel    —    Kerkopen   —  Margites 

—  homerische  Epigramme  —  metrische  Grabinschriften. 

8.  Kapitel:    Die  homerische  und  hesiodische  Schule 241 

9.  Kapitel:    Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung     .     244 

Ursprung  der  Elegie  —  Dialekt,  Metrum,  Strophenbau  — 
Einführung   in   die   Literatur    —    Kallinos  —  Tyrtaios 

—  Mimnermos  —  Solon  —  Andere  der  sieben  Weisen 

—  Demodokos    —    Theognis  —   Ursprung   des  Jambos 

—  Archilochos  —  Simonides  von  Amorgos  —  Hipponax 

—  Ananios,  Diphilos  und  Herodas  —  Aristoxenos. 

10.  Kapitel:    Die  eigentliche  Lyrik  (Melik) 285 

Nomendichtung-  Terpandros,  Klonas,  Ardalos,  Sakadas, 
Echembrotos  und  Polymnestos  —  Chorisdie  Poesie: 
Thaletas,  Xenodamos,  Xenokritos,  Alkraan,  Stesiehoros, 
Xanthos,  Ibykos  und  Tyunichos  —  Dithyrambos:  Arion 

—  Melik:    Alkaios,  Sappho,  Erinna  und  Anakreon. 

M.  Kapitel:    Anfänge  der  Prosa 342 

Entstehung  der  Prosa  —  Logographen  —  Kadmos,  Eude- 
mos,  Amelesagoras,  Deiochos,  Demokies,  Eugaion,  Heka- 
taios  —  Pherekydes,  Anaximandros,  Anaximenes,  Hera- 
klcitos,  die  Pythagoreer. 

12.  Kapitel:    Schluss 358 


Einleitung. 

Eine  einheitliche  Charakteristik  der  gesammten  griechischen 
Literatur  zu  geben,  ist  eine  unmögliche  Aufgabe,  weil  die 
griechische  Kultur  durch  grossartige  Umwälzungen  mehr  als 
einmal  völlig  neu  gestaltet  wurde.  Was  wir  als  specifisch  griechisch 
bewundern,  scheidet  sich  scharf  von  dem  kosmopolitisch  ange- 
hauchten Hellenismus,  der  seit  Alexanders  des  Grossen  Zeit 
herrscht,  den  modernen  Menschen  aber  gerade  durch  seinen 
modernen  Anstrich,  weil  er  ihm  nichts  neues  bietet,  abstösst. 
Der  Reiz  der  hellenischen  Literatur  beruht  dagegen  auf  der 
ungetrübten  Harmonie  des  Lebens  und  diese  hat  wiederum  als 
Grundpfeiler  die  festen  Stützen  des  Patriotismus  und  der  Re-, 
ligiosität.  Begränzt  ist  der  Kreis,  in  dem  sich  der  Hellene 
bewegt  und  behaglich  fühlt.  Nationalität,  Stamm,  Vaterstadt, 
Geburt  und  Vermögen  bilden  ebenso  viele  Schranken;  die 
wichtigste  Lebensregel  ist  Mass  zu  halten,  doch  sie  unterdrückt 
die  wunderbare  Kraft  der  Phantasie  nicht,  sondern  lenkt  sie 
weise  und  bew^ahrt  sie  vor  verderblichen  Uebertreibungen.  Das 
hat  die  griechische  Kultur  gross  gemacht,  während  dem  Orientalen 
die  Schranken  der  Sitte  zur  Fessel  wurden,  in  der  das  geistige 
Leben  erstickte.  Jenes  angeborene  Masshalten  lehrte  den  Schrift- 
steller, nachdem  er  die  Eigenart  seiner  Begabung  wohl  erw^ogen, 
sich  mit  richtigem  Blicke  ein  Ziel  zu  stecken  und  zu  dessen 
Erreichung  alle  seine  Kräfte  methodisch  einzusetzen.  Deshalb 
tritt  jeder  echte  Grieche  als  Spezialist  auf;  eine  Gattung  hat 
er  sich  auserkoren,  damit  er  es  in  ihr  zur  Vollkommenheit 
bringe.  So  werden  die  einzelnen  Arten  mit  allen  Feinheiten 
und  mit  deutlichen  Unterschieden  ausgebildet,  weshalb  bei  den 
Griechen  mehr  als  bei  irgend  einem  anderen  Volke  die  eido- 
graphische  Darstellung  der  Literatur  zuläs.sig  wäre.    Aber  auch 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  1 


2  Eiuleitung. 

ein  solches  unverdrossenes  Bearbeiten  eines  beschränkten  Gebietes 
würde  nicht  zu  den  höchsten  Erfolgen  führen,  wenn  jeder  seinen 
eiorenen  Weg  gehen  wollte:  ohne  dass  von  Zünften  die  Rede 
sein  könnte,  steht  doch  jeder  Schriftsteller  auf  den  Schultern 
seines  Vorgängers ;  an  ihm  bildet  er  sich ,  von  ihm  lernt  er 
gleichsam  die  Griffe.  Auch  sonst  scheut  er  sich  nicht,  was  ein 
Aelterer  ersonnen,  wiederum,  allerdings  in  selbständiger  Weise, 
zu  benutzen.  Da  Streben  nach  falscher  Originalität  dem  Griechen 
ferne  liegt,  finden  wir  so  viele  gemeinsame  Züge ;  deshalb  besitzt 
auch  jede  Literaturgattung  ihre  feste  Typik,  die  sich  teilweise 
bis  auf  die  Sprachformen  erstreckt.  Die  Entwicklung  der  Indi- 
vidualität lag  nach  moderner  Anschauung  damals  erst  in  den 
Anfängen;  das  Städteindividuum  stand  noch  höher  als  der 
einzelne  Mensch  und  ebenso  in  der  Literatur  die  Art  höher  als 
der  einzelne  Schriftsteller.  Das  Publikum  war  überdies  so  ver- 
ständig und  so  wenig  verwöhnt,  dass  es  mehr  auf  die  vollständige 
Beherrschung  des  Gemeingutes  und  weniger  auf  das  persönliche 
Schafien  Gewicht  legte.  Endlich  sei  nicht  vergessen,  dass,  wenn 
es  jedem  frei  stand,  sein  Gebiet  zu  suchen,  er  natürlich  nur 
der  Art,  für  die  er  sich  beanlagt  fühlte,  seine  Thätigkeit  zu- 
wandte und  es  verschmähte,  in  thörichter  Ehrsucht,  wie  es  jetzt 
so  häufig  vorkommt,  mehrere  umspannen  zu  wollen  und  seine 
Kräfte  in  nutzlosem  Ringen  aufzureiben.  Aus  diesem  Grund 
fehlen  sowohl  die  Künsteleien  als  der  Dilettantismus  ;  der  Brust- 
ton der  Ueberzeugung,  um  dieses  viel  missbrauchte  aber  doch 
bezeichnende  Wort  anzuwenden,  klingt*  überall  durch  und  zu- 
gleich gilt  Boileaus  Wort:  Rien  n'est  beau  que  le  vrai.  Denn 
wiewohl  die  Griechen  Realisten  waren,  war  ihr  für  das  Schöne 
empfängliches  Auge  nicht  in  krankhafter  Phantasie  auf  das 
Hässliciie  und  Schlechte  gerichtet;  sie  sahen  es  zwar  auch,  ab- 
strahierten jedoch  die  schöne  Natur  davon,  wie  der  Archäologe 
die  Selnnutzflecken  und  Risse  eines  Kunstwerkes  vergessen  lernt. 
Dieser  Realisnnis  macht  aber  auf  der  anderen  Seite  eine  Schwäche 
der  hellenischen  Literatur  aus;  denn  sie  blieb  zwar  nicht  bei 
der  objektiven  Auffassung  des  Epos,  dem  das  Aeusserliche  die 
Hauptsache  war,  stehen,  aber  die  Darstellung  der  Gefühle  ist 
ebenso  einfach  wie  die  altgriechische  Tonleiter,  während  ihre  feinere 
Analyse  und  das  Auf-  und  Abwogen  der  Empfindungen,  was 
jetzt    unerlässlich    scheint,    die   echten    Griechen   nie   gekannt 


Einleitung.  3 

haben.  Es  fehlt  ihnen  daher  nicht  allein  die  Sentimentalität. 
Auch  das  Naturgefühl  ^)  ist  dem  Hellenen  noch  fremd,  denn  er 
nimmt  die  Schönheit  der  ilm  umgebenden  Natur  als  etwas 
selbstverständliches,  das  keine  weitere  Beachtung  verdient,  hin. 

So  stellt  sich  die  hellenische  Literatur  dem  Beschauer  dar, 
im  Grossen  und  Ganzen  eine  Einheit,  wenn  auch  im  einzelnen 
wieder  Nuancen  hervortreten.  Weil  die  Gattungen  einander 
ablösend  in  raschem  Wechsel  folgen  und  die  Blütezeit  der  einen 
immer  mit  dem  Archaismus  der  anderen  zusammenfällt,  kann 
man  sie  nicht  in  eine  archaische  und  eine  klassische  Periode 
zerlegen.  Ein  Einteilungsgrund  ist  daher  eher  in  der  Herr- 
schaft einer  Gattung  oder  in  der  eines  Landes,  was  bei  den 
Griechen  ungewöhnlicher  Weise  zusammenfällt,  zu  suchen. 

Die  erste  Periode  ist  die  epische  und  asiatische. 
Homer  steht  an  der  Spitze  und  verhilft  dem  Epos  zum  Ehren- 
platze ;  an  dieses  lehnt  sich  die  Elegie  an  und  auch  die  Melik 
entzieht  sich  seinem  Einflüsse  nicht.  Als  die  Lyrik  grösseren 
Raum  zu  gewinnen  anfängt,  dominiert  wieder  Asien,  indem  der 
Lesbier  Terpander  die  Kunstlyrik  begründet.  Endlich  gehen 
ebenso  die  Anfänge  der  Prosa  von  Asien  aus.  Den  Endpunkt 
dieser  Zeit  möchte  etwa  die  Tyrannis  der  Peisistratiden,  welche 
Athen  zum  Beginne  seines  Siegeslaufes  anspornen,  bezeichnen, 
während  die  Niederlage  der  aufständischen  Jonier  an  der  Küste 
Asiens  alle  Verhältnisse  zerrüttete. 

Die  zweite  Periode  ist  die  rhetorische  und  at- 
tische. Die  Sophisten  lehren  die  feine  Bildung  der  Sprache 
und  begründen  die  Kunstprosa,  welche  in  dem  redegewandten 
Athen  ihren  Mittelpunkt  findet.  Die  Redekunst  gelangt  in 
Demosthenes ,  die  rhetorische  Geschichtsschreibung  in  Thuky- 
dides  und  Xenophon,  die  philosophische  Prosa  durch  Plato  zur 
höchsten  Blüte.  Unter  dem  Beistande  der  Redekunst  wird  das 
Drama  in  Athen  geschaffen.  Pindar  und  Simonides  vertreten 
als  Virtuosen  die  Lyrik.  Das  abgestorbene  Epos  gelangt  da- 
gegen nicht  mehr  zu  einer  lebensfrischen  Schöpfung. 

Der  peloponnesische  Krieg  erschütterte  bereits  die  hellenische 
Nation   in   ihren  Grundfesten.     Die    fortwährenden    politischen 


1)  Zuletzt    Alfred    Biese    die    Entwicklung    des    Naturgefühls    bei    den 
Griechen  und  Römern  I.     Kiel  1882. 

1* 


4  Einleitung. 

Kämpfe,  die  rasch  wechselnden  Bündnisse,  das  Feilschen  um 
die  Gunst  des  Perserkönigs  untergruben  das  strenge  National- 
gefühl undden  Municipalismus;  zugleich  traten  an  die  Stelle  des 
naiven  Anthropomorphismus  nüchterner  Rationalismus  und. 
wundersüchtiger  Aberglaube  in  seltsamem  Bunde.  Schon  Ion 
versuchte  sich  in  mehreren  Fächern^);  Euripides  ersetzte  das 
Ethos  durch  das  Pathos,  die  kunstvolle  Zeichnung  der  mensch- 
üchen  Leidenschaften;  Jungathen  empfand  endlich  auch  für 
die  Natur  ein  etwas  sentimentales  Gefühl.  Als  nun  vollends 
die  griechischen  Freistaaten  dem  makedonischen  Königreiche 
erlagen,  waren  alle  Lebensbedingungen  des  hellenischen  Wesens 
vernichtet.  Wir  haben  von  nun  an  nicht  mehr  Hellenen ,  sondern 
den  unbegrenzten  Hellenismus ,  der  alle ,  welche  die  Sprache 
des  Demosthenes  verstehen ,  umfasst.  Zugleich  wächst  die 
Zahl  der  Schriftsteller  ins  ungeheuere ,  wobei  leider  nur  die 
Narthexträger  sich  vermehren ,  während  der  ßakchen  immer 
weniger  werden.  Es  ist  allerdings  nicht  ganz  unrichtig,  wenn 
man  diese  Periode  das  Zeitalter  der  Reproduktion  nennt;  denn 
die  Masse  der  Literatur  will  nur  die  alten  Vorbilder  abspiegeln. 
Aber  es  fehlte  bei  niedriger  gestellten  Zielen  das  selbständige 
Schaffen  nicht.  So  gelang  manch'  hübsches  Sittenbild,  manch' 
artiges  Epigramm  oder  ähnliche  Werkchen,  ohne  dass  man 
deshalb  z.  B.  behaupten  dürfte,  die  jüngere  Komödie  gehöre  noch 
zur  attischen  Periode.^)  Aber  wie  Sokrates  sagt,  die  Tugend  sei 
lehrbar ,  so  glaubten  die  Hellenisten ,  das  poetische  und  st^■ 
stische  Gefühl  seien  lehrbar.  Zu  dem  rechten  Schriftsteller  ge- 
hörte also  seit  Alexander  nicht  blos  Fleiss  im  allgemeinen, 
sondern  zuvörderst  fleissiges  Studium  der  älteren  Autoren.  Je 
mehr  aber  von  der  Schriftsprache  sich  die  Volkssprache  ent- 
fernte, desto  mehr  verloren  die  Gebildeten  die  Fühlung  mit  dem 
Volke  ;  ^)  das  feine  Gefühl  ihrer  Nation  hielt  sie  zwar  noch  lange 
ab  in  leeren  FormaHsmus  zu  verfallen;    als  jedoch    die  Volks- 

1)  Ion,  Chairemou  und  Timokles  waren  zugleich  Tragiker  und  Komiker ; 
der  erste  schrieb  obendrein  Memoiren.  Jene  Verbindung  erschien  Meineke 
ffragm.com.  I.  430.  521fr.)  so  ungriechisch,  dass  er  die  Treue  der  Nachrichten 
verdächtigte. 

2)  Bergk  wann  beginnt  die  alexandrinische  Periode  der  griecbischen 
Literatur?     Ztsch.  f.  Alterth.  1853  Nr.  16.  17. 

3;  Nebenher  geht  die  Entfremdung  der  Städter  und  der  Landleute,  die 
zur  bukolischen  Poesie  führt. 


Einleitung.  5 

spräche  erstarkt  war  und  in  die  Literatur  eintrat,  begann  der 
eigentliche  verrufene  Byzantinismus.  In  einer  Geschichte  der 
griechischen  Literatur  hat  er  nur  als  letzter  Nachhall  derselben 
anhangsweise  Platz.  Als  Grenzpunkt  möchten  wir  etwa  die 
Regierung  des  Konstantinos  Porphyrogennetos  (911 — 59)  setzen; 
der  Hellenismus  schliesst  mit  grossartigen  Unternehmungen 
würdig  ab,  um  dann  zur  Mumie  einzutrocknen. 

Man  macht  sich  gewöhnlich  mit  den  Abschnitten  der 
hellenistischen  Perioden  wenig  Mühe.  Die  Zerstörung  Korinths, 
der  Bau  Konstantinopels  und  die  Schliessung  der  Universität 
Athen  (527)  übten  jedoch  auf  die  Literatur  einen  äusserst  ge- 
ringen Einfluss.  Als  Marksteine  scheinen  vielmehr  die  Zeit 
des  Augustus  und  ungefähr  die  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts 
vorzuziehen  zu  sein.  Was  aber  den  Schluss  anlangt,  so  war 
es  nach  jeder  Hinsicht  höchst  gleichgiltig,  ob  einige  Epigonen 
der  neuplatonischen  Mystiker  ein  Paar  Jahre  früher  gezwungen 
oder  später  freiwillig  in  Athen  zu  deklamieren  aufhörten;  dass 
die  christlichen  .  Schriftsteller  allmälig  die  heidnischen  ver- 
drängten, war  ebenso  unwichtig ,  weil  in  der  östlichen  Reichs- 
hälfte die  Religion  nichts  zur  Sache  that.  Während  nämlich 
im  Abendlande  ein  Kirchenlatein ,  das  die  meisten  Theologen 
niclit  eben  vorteilhaft  von  den  Vertretern  des  Heidentums 
unterschied ,  ausgebildet  war ,  gab  es  kein  Kirchengriechisch, 
'sondern  die  Theologie  stellte  im  Gegenteil  mehrere  der  vor- 
züglichsten Prosaisten. 

Der  erste  Abschnitt  reicht  also  von  Alexander  bis 
auf  Augustus.  Da  die  Reproduktion  der  Alten  auf  wissen- 
schaftlichem Wege  geschehen  sollte,  stand  die  Philologie  natür- 
lich im  A^ordergrunde;  auf  diesem  Gebiete  war  noch  so  gut 
wie  alles  zu  thun  und  sie  unterzog  sich  der  schweren  Aufgalie 
mit  aller  Gewissenhaftigkeit.  Textkritik  und  Literaturgeschichte 
machten  damals  hauptsächlich  ihr  Gebiet  aus.  Dagegen  stand 
es  mit  der  Prosa,  vom  formalen  Gesichtspunkt  aus  ^)  betrachtet 
schlimm,  da  ihren  Stil,  nachdem  die  Beredsamkeit  aus  Mangel 
an  bedeutenden  Stoffen  bedenklich  gesunken  war,  teils  die 
trockene  Schreibart  der  Grammatiker  und  Antiquare  teils  die 
nicht  zierlichere  Kanzleisprache  der  Diadochenhöfe  beherrschte ; 


1)  Bei  Polyb  steht  Form  iiud  Inhalt  unstreitig  in  starkem  Gegensatze. 


g  Einleitung. 

aus  letzterer  ging  die  xoivtj  ,  die  Sprache  der  hellenistischen 
Literatur  hervor.  ^)  In  den  Schriften  der  alexandrinischen  Juden 
vereinte  sich  mit  dem  griechischen  Elemente  das  orientalische. 
Zu  ansprechenderen  Werken  gelangte  die  Poesie:  ^)  Sie  beruhte 
freilich  auf  Gelehrsamkeit,  die  der  Dichtung  nicht  vorteilhaft 
zu  sein  pflegt ;  ^)  aber  es  wäre  ungerecht ,  was  Ovid  dem  Kal- 
limachos  vorwirft,  von  ihr  zu  sagen:  Quamvis  ingenio  non 
valet,  arte  valet.  Die  Notizen  der  Grammatiker  geben  uns 
einen  schlechteren  und  weniger  deutlichen  Begriff  davon  als 
die  ihren  Geist  atmenden  Vasen  und  Wandgemälde.  *)  Die 
Stoffe  sind  klein,  teilweise  unbedeutend,  wie  es  viele  Vorwürfe 
der  gleichzeitigen  Kunst  sind  ;  aber  geistreiche  Behandlung  und 
Phantasie  lässt  sich  keinem  Gedichte  absprechen ,  im  Gegen- 
teil besitzen  die  Alexandriner  in  reicherer  Phantasie  und  sorg- 
fältigerer Schilderung  des  Seelenlebens  —  die  Liebesleiden  seh  aft 
ist  vor  allen  anderen  beliebt  —  gewisse  Vorzüge,  die  den 
Hellenen  mangeln.  Wir  vergleichen  diese  Gedichte  am  passend- 
sten mit  der  lateinischen  Literatur  der  Renaissance. 

Der  zweite  Abschnitt  umfasst  ungefähr  die  ersten  vier- 
hundert fünfzig  Jahre  unserer  Zeitrechnung:  Dionysios  von 
Halikarnass  und  Cäcilius  von  Kaieakte  muntern  zum  beson- 
deren Studium  der  attischen  Redner  auf,  woraus  das  Zeitalter 
der  jüngeren  Sophistik  entspringt.  Die  Beredsamkeit  er- 
obert sich  wieder  den  ersten  Platz  und  beherrscht  die  übri-* 
gen  Literaturgattungen ;  auch  die  Philologie,  der  jetzt  Gram- 
matik und  Lexikographie  besonders  am  Herzen  liegen,  tritt 
in  ihren  Dienst.  Sie  führt  überdies  zu  einem  neuen  Auf- 
schwünge des  Epos,  indem  Nonnos  mit  seiner  Schule  die  abge- 
storbene Poesie  durch  die  Hilfe  der  Rhetorik  künstlich  belebt. 
Als  Historiker  ragen  Dionysios  von  Halikarnass  und  Plutarch, 
daneben  Diodor  und  Cassius  Dion  hervor ;   die  Philosophie  ver- 


1)  .Jerusalem    Wiener    Studien    1,32    ff.;    veraltet  S  t  u  r  z   de   dialecto 
Macedonica  et  Alexandrina.  Lpz.  1808. 

2)  Vgl.  die  schöne  Charakteristik  in  Roh  de  der  griechische  Roman  und 
seine  Vorläufer  S.  11  ff. 

3)  Callim.  fr.   442  änäptupov  oüSlv    äslSw;    Philetas    bei    Stob.    flor.   81,1 

4)  Heibig    Untersuchungen    über    die    kampanische   Wandmalerei    Cap, 
20—23. 


Einleitung,  7 

treten  Plutarch  und  mehrere  Neuplatoniker ;  unter  den  Theo- 
logen sind  Basilius  und  Gregor  von  Nazianz  bedeutende  Sti- 
listen. Wir  können  die  ganze  Periode  am  besten  und  kürzesten 
als  Renaissance  der  schönen  Prosa  bezeichnen. 

Der  dritte  Zeitraum  von  450 — 950  weist  auf  dem  Gebiete 
der  Geschichtsschreibung  bedeutende  Werke  auf;  ich  nenne  nur 
die  Namen  des  Agathias  und  Prokop.  Sonst  sind  die  Sammel- 
werke hervorzuheben,  welche  das  ungeheuere  von  den  älteren 
Gelehrten  aufgespeicherte  Material  praktisch  zurichten,  z.  B.  die 
grossen  Arbeiten  des  Hesychios  von  Milet  und  des  Photios ; 
die  gelehrten  Kommentare  verdünnen  sich  zu  Schollen,  denen 
das  törichte  Gerede  der  eigentlichen  Byzantiner  noch  ferne  steht. 
Die  Poesie  hat  ausser  versificierten  Schriften  nur  Epigramme 
und  andere  Gedichtchen  aufzuweisen.  Den  Abschluss  bilden 
etwa  die  umfassenden  und  wertvollen  Sammlungen,  die  Kon- 
.stantinos  Porphyrogennetos  veranstaltete. 


1,  Kapitel» 
Lyrische  Volksdichtung. 

Indogermanische  Dichtung;  Wiegen-,  Bettel-,  Liebes-,  Hochzeits-  und 
Klagelieder,  Skolien,  Tanz-  und  Kriegsgesänge,  Lieder  der  Arbeiter,  Eätsel  — 
Hymnen  an  Apollo  (Chrysothemis ,  Philammon,  Ölen,  Melanopos),  Artemis, 
Demeter  (Musaios ,  Eumolpos ,  Pamphos) ,  Dionysos ,  Poseidon  (Anthes)  und 
Aphrodite  —  die  thrakischen  Sänger  Orpheus  und  Thamyris  —  orientalische 
Klagen  (Linos,  Adonislied  u.  s.  w.). 


Als  die  Griechen  von  ihren  indügermanischen  Brüdern 
sich  trennten,  war  ihnen  die  Dichtkunst  längst  nicht  mehr  fremd. 
Bei  noch  wenig  entwickelten  Völkern,  deren  feiner  musika- 
lischer Sinn  lange  und  kurze  Silben  scharf  scheidet,  ist  es  na- 
türlich, ich  möchte  beinahe  sagen,  notwendig,  dass  häufig  wieder- 
holte Sprüche,  an  deren  Wortlaut  viel  liegt  oder  die  feierlich 
klingen  sollen,  also  namentlich  Vorschriften  und  Gebete,  einen 
gewissen  Rhythmus  bekommen  und  endlich  in  regelrechte  Verse 
übergehen.  Steht  ein  Volk  einmal  auf  dieser  Stufe,  dann  dehnt 
sich  das  Gebiet  der  Poesie  ungemein  rasch  aus,  da  ,,der  poe- 
tische Gehalt  gewaltsam  auch  das  poetische  Gewand  herbei- 
führt." Was  die  Griechen  an  Dichtungen  aus  der  proethnischen 
Periode  übernahmen,  wer  vermöchte  dies  anzugeben.  Höchstens 
weisen  ähnliche  Beinamen  auf  eine  Gleichartigkeit  der  vedischen 
und  altgriechischen  Hymnen  hin.  Eher  können  wir  über  ge- 
meinsame Dichtungsformen  etwas  sagen :  Trochäischer  und  jam- 
bischer Bau  der  Verse,  dazu  die  lockereu  Bande  der  Allittera- 
tion^)  und  des    Reimes^)   sind  keinem   indogermanischen  Volke 

1)  Schmeller  Abh.  der  bayer.  Akad.  hißt.-phil.  Cl.  IV.  (1844)  209  und 
K.  Blind  Fräsers  Magaz.  1877  Juni,  im  einzelnen  "Williams  Indian 
wisdom  "451  f.;  Wölfflin  Sitzungsber.  der  bayer.  Akad.  hist.-phil.  Cl.  1881 
n.  1  ff.;  Zeuss  gramm.  Celtica  lib.  VI.  cap.  2;  Heinze  die  AUitteration  im 
Munde  des  deutschen  Volkes,  Lpg.  1882. 

2)  W.  Grimm  zur  Geschichte  des  Reims,  Berlin  1852. 


Lyrische  Volksdichtung.  9 

fremd  und  scheinen  gleich  den  einfachsten  Dekorationsele- 
menten ^)  bereits  vor  der  Trennung  entwickelt  gewesen  zu  sein ; 
freilich  traten  gerade  bei  den  Griechen  Reim  und  Allitteration 
in  den  Hintergrund  ^).  Auch  der  strophischen  Gliederung  der 
von  Chören  gesungenen  Lieder^)  und  dem  damit  zusammen- 
hängenden Refrain^)  dürfte  ein  nicht  minder  hohes  Alter  zu- 
kommen. 

Den  Zeitraum,  der  zwischen  jenen  spärlichen  Anfängen 
und  der  wunderbaren  Erscheinung  der  homerischen  Gedichte 
liegt,  erleuchten  nur  wenige  dürftige  Notizen.  Da  mit  Aus- 
nahme der  Homer  unmittelbar  vorhergehenden  Zeit  die  Volks- 
dichtung ohne  Nebenbuhlerin  herrscht,  kann  sich  so,  wa? 
wir  von  der  Poesie  des  griechischen  A^'olkes  im  allgemeinen 
wissen,  in  den  geschichtlichen  Rahmen  einfügen ;  denn  über 
die  Grenzen  der  Zeit  erhaben  ist  alles,  was  das  Volk  singt  und 
sagt,  und  die  Fortschritte  der  Kunstliteratur  üben  kaum  einen 
merkhchen  Einfluss  darauf  aus.  ^)  Bei  den  Griechen  verdunkelte 
aber  ihr  Glanz  jene  bescheidenen  Erzeugnisse  des  Volksgeistes 
so  sehr,  dass  nur  sehr  geringe  Proben  uns  geblieben  sind.  ^)  Was 
sind  diese  wenigen  Reste  gegen  den  Reichtum ,  den  wir 
schon  im  Hinblick  auf  das  heutige  Griechenland  voraussetzen 
dürfen;  begleitete  doch  das  Lied  den  Hellenen  getreulich 
durch  das  ganze  Leben.     Den  Kleinen   wiegten   in   den  Schlaf 


1)  Conze  zur  Geschichte  der  Anfänge  der  griech.  Kunst,  Wien  1870 — 3. 

2)  Nichtsdestoweniger  gibt  es  zahlreiche  Abhandlungen ,  von  denen  wir 
uur  zwei  von  allgemeinerem  Inhalte  nennen :  Brandes  der  Reim  in  der 
griechischen  Poesie,  Lemgo  1867  und  Gustaf ssou  de  vocum  in  poematis 
Graecis  con.sonautia  (Acta  soc.  scieut.  Fenn.  11,  297  ff.).  Interessant  ist  der 
Reim  im  Spruche  des  Blas  (Gell.  5,    11,  2):   £'-  v.a'/.YjV,  i'^Ji^  v.o-.vyjv,  ec  S'a-axpav, 

B^S'.'Z    7tO'.Vf]V. 

3)  Westphal  Verh.  der  Breslauer  Philologenvers.  1857  S.  51  ff. 

4)  Christ  Metrik  ^648  ff. 

5)  Noch  in  der  Diadochenzeit  entstanden  Volksgesänge;  ich  erinnere  an 
deu  Anfang  eines  Reiterliedes :  "\tzkoz  \i.B  «peps^  ßaatXsuc  [j.e  xplcpsc  (Diogenian. 
5,  31,  vgl.  Hör.  ep.   1,   17,  20). 

6)  Zell  Ferienschriften,  Freiburg  1826  1,  53  ff.;  Kost  er  de  cantilenis 
popularibus  veterum  Graecorum,  Berlin  1831;  Ch.  Benoit  des  chants  pop. 
daus  la  Grcce  ant.,  Nancy  1857;  über  die  Namen:  Athen.  14,  c.  10.  11  und 
Ritschi  opuscula  1,  250  ff.;  Fragmente  in  Schueidewius  delectus  poesis  Gr. 
und  Bergks  poetae  lyrici  Graeci  als  Anhang. 


IQ  1.  Kapitel. 

die  ßaDxa  Xr]{iaTa  (xataßaoxaXifjastf:) ^),  nicht  eben  tiefsinnig 
und  gedankenreich,  weshalb  sie  der  Arzt  Sextus  ^)  ärgerUch  ein 
metrisches  Gewinsel  nannte.  Das  SpieP)  gewann  erst  durch 
das  Singen  von  Verslein  die  rechte  Freudigkeit.  Zu  bestimmten 
Zeiten  des  Jahres  zogen  die  Kinder  herum  und  sagen  Bettel- 
lieder  ab,  wie  es  wohl  in  ganz  Europa  noch  jetzt  Sitte  ist. 
Im  PXilding  führten  sie  das  Bild  einer  Schwalbe,  der  von  allen 
Griechen  froh  begrüssten  Frühlingsbotin,  mit  sich  und  tragen, 
selbst -/sX'.Sovtatat  benannt,  das  Schwalbenlied  ((/sX'.Sov.aixö?)  vor"*); 
wir  kennen  noch  den  schlichten  Gesang  der  rhodischen  Knaben 
(Bergk  Nr.  41.)^)  Er  verkündet  zuerst  in  Anapästen,  dass  die 
Schwalbe-  gekommen  sei  und  Speise  und  Trank  erbitte;  dann 
drängt  der  Anführer  zum  raschen  Geben,  indem  er  scherzhafte 
Drohungen  beifügt.  Zur  selben  Art  gehört  das  Krähenlied 
i^xopwvtajia) '')  und  wahrscheinlich  auch  das  Homer  beigelegte 
Kramraetsvogellied  (Itci/'-^XiSs?).  ^)  An  anderen  Orten  trugen  die 
Knaben  einen  mit  heiligem  Wollfaden  umwundenen  Oliven- 
oder Lorbeerzweig  von  Thür  zu  Thüre^);  wer  kennt  nicht  die 
hübsche  darauf  bezügliche  Etpeatwvrj,  die  unter  den  homerischen 
Epigrammen  stellt?'-^)     Auch   die   Bettler    und  unter  ihnen  be- 


1)  Oft  genannt,  Theoer.  24,  7  ff.  nachgebildet. 

2)  adv.  math.  6.  32. 

3)  Bergk  Nr.  20.  21.  22  b.  Grasberger  Erziehnng  und  Unterricht  im 
Altertum   1,   132   ff. 

4)  Eust.  in  II.  p.  1914,  44;  die  gewöhnlich  angewandte  Form  yE/v'^ovt^jia 
ist  neugriechisch. 

6)  Da  die  Griechen  Sitten  und  Gebräuche  an  berühmte  Namen  anzu- 
knüpfen liebten,  .sollte  der  weise  Kleobulos  es  eingeführt  haben  (Theognis  bei 
Ath.  8,  360  b). 

<■))  Jedoch  von  Männern  (-/topüjviaxat  Pamphilos  bei  Ath.  8,360  b;  Hci^ych.) 
vorgetragen ;  der  Jambograph  Phönix  dichtete  ein  solches  (Athen.  9,359  e  ff.). 

7)  Von  den  Homerbiographen  erwähnt,  ausserdem  Ath.  2,65  a  aus 
Menaichmos,  vgl.  14,639  a. 

8)  Vgl.  Suid.  V.  Kipsa'ü>v*f).  Auf  einer  attischen  Münze  (Beule  mon- 
naies  d'Athenes  p.  368)  und  einem  Relief  (Bot ti eher  Philol.  22,  391  f.  mit 
Tafel)  abgebildet;  anders  beschreibt  Sehol.  Demosth.  im  Bull,  de  corr.  Hell. 
1,  149,  20  flF.  den  Brauch  und  gedenkt  des  Liedes  nicht. 

9)  II  gen  KtpEO'.ojvfj  Homeri  et  alia  poeseos  Graee.  mendieae  specimina, 
Lpg.  1792;  Göttling  opusc.  aead.  S.  176  ff.  Das  Gedichtehen  ist  künstlieh 
umgebildet,  wie  der  erhaltene  Anfang  eines  ähnlichen  (Bergk  III*  681). 


Lyrische  Volksdichtung.  ^]^ 

sonders  die  Blinden  suchten  bei  den  öffentlichen  Festen  singend 
die  mitleidige  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken.  ^) 

War  der  Knabe  zum  Jüngling  erwachsen,  so  begeisterte 
ihn  Aphrodite  zum  Gesänge^);  aber  Sappho  und  Anakreon  Hessen 
das  volkstümliche  Liebeslied,  dem  sie  wohl  manches  ver- 
dankten^), in  das  Dunkel  der  Vergessenheit  sinken.  Nur  abge- 
legene Ländchen,  wie  Lokris  gewährten  ihm  ein  Asyl^)  und  ent- 
wickelten sogar  neue  Formen,  wie  das  im  Mittelalter  so  behebte 
Tagelied '") ,  während  in  Attika  Anakreon  es  verdrängte.  '^)  Die 
Hochzeitsfeier  war  unzertrennlich  vom  Gesänge.  ^)  Beim 
Hochzeitsschmause  sangen  die  Gäste*),  den  Zug  begleitete  der 
Hymenäus^),  ein  Lied  von  etwas  schwermütigem  Charakter, 
da  in  den  Festjubel  die  Trauer  um  das  Entschwinden  der 
Jugend  und  Jungfräuhchkeit  sich  mischte.  ^^)  Den  Tag  be- 
schloss  das  Epithalamion  vor  dem  Brautgemache ^^)  und  am 
folgenden  Morgen  fehlte  das  Weckhed  (SuYspnxöv)  nicht  ^^); 
beide  Lieder  trugen  in  der  Regel  Chöre  von  Jungfrauen  vor.  ^^) 

1)  Arist.  rhet.  2,  24,  7;  später  rekrutierten  sich  die  Bänkelsänger  aus 
den  Paphlagouiern  (Schol.  zu  Philostr.  vita  Apoll,  p.  93,  14  Kayser).  Vgl. 
Bergk  Nr.  42. 

2)  Plutarch  (quaest.  conv.   1,5)  motiviert  dies  ausführlich. 

3)  Welcker  kleine  Schriften  1,  117  ff.  Ritschi  opusc.  1,  253.  „Wenn 
ich  ein  Vöglein  war'"  hallt  noch  bei  Arist.  Av.  1337  f.,  Eurip.  Hippol.  732  f., 
Theoer.  3,   12  nach. 

4)  Athen.  14,  639a  (aus  Klearchos).  15,  697b;  vgl.  auch  Proklos  bei 
Phot.  cod.  239  p.  321  a  15.  Aristaen.  ep.   1,  8. 

5)  Bergk  Nr.  27. 

6)  Aristoph.  Eccl.  882  ff. 

7)  Härtung  Philo].  3,  238  ff.  Gull.  Kör  her  de  Graecornm  hymenaeis 
et  epithalamiis ,  Breslau  1877,    ■(a\i.r^\:oc,   wl-i]  Eu.seb.  praep.  ev.  3,  2  lemma. 

8)  Plut.  quaest.  conv.  4,  3,  2. 

9)  Arist.  Pax  1333  ff.  Av,  1720  ff.  Eurip.  Troad.  308  ff.  Schon  S  493 
und  Hes.  A.  274  wird  er  erwähnt.  Der  Kefrain  war  TfXYjV  u)  'TfjLEvaiE.  Vgl. 
Bergk  Nr.  25. 

10)  Prell  er  griech.  Mythologie  IP  490  f.  Wachsmuth  das  alte 
Griechenland  im  neuen  S.  87;  Phot.  bibl.  cod.  239  p.  321,  19  ff.  xaxä  Tt&^ov 

]  1)  Ein  STttö-aXiifi.tov  auf  Peleus  und  Thetis  stand  bereits  in  einem 
hesiodischen  Epos. 

12)  Aesch.  Danaid.  fr.  40  D.  Apoll.  Rh.  4,  1160.  Theoer.  18,  57  mit 
Schollen,  noch  jetzt  in  Griechenland  üblich  (Wachsmuth  das  alte  Griechen- 
land im  neuen  S.  99). 

13)  Pind.  Pyth.  3,   18.     Aesch.    Prom.  556.    Eur.   I.  A.   1042.    Theoer.   18, 


12  1-  Kapitel. 

Wie  der  Gesang  das  Kind  begrüsst,  so  bleibt  er  dem 
Menschen  auch  an  der  Bahre  treu;  denn  unter  dem  Klange 
des  •9-pf^vo?*)  erweisen  die  Angehörigen  dem  Toten  die  letzte 
Ehre.  Scherz  und  Ernst,  Vergnügen  und  Arbeit  gab  das  Lied 
die  Weihe.  Beim  Mahle  reichte  einer  dem  anderen  die  Lyra 
und  einen  Myrten z weig  ^)  und  forderte  ihn  damit  auf,  irgend 
ein  oxoXtöv  genanntes  Liedchen,  das  sich  gewöhnlich  um  eine 
triviale  Sentenz  drehte ,  vorzutragen.  ^)  Während  zu  Homers 
Zeit  wenigstens  die  asiatischen  Jonier  diesen  hübschen  Brauch 
noch  nicht  kannten,  war  er  zu  Athen,  als  Aristophänes  dich- 
tete, bereits  aus  der  Mode  gekommen  *) ;  denn  selbst  die  kon- 
servativen Bürger  sangen  lieber  Stücke  aus  Kunstlyrikern  ^) 
oder  lyrische  Stücke  von  Dramen  *') ,  ausser  dass  die  Patrioten 
noch  gerne  das  Andenken  der  Tyrannenmörder  in  Liedchen  ^), 
die  nach  Inhalt  und  Form  äusserst  einfach  sind,  feierten.  Nach 
Artemon  ^)  sangen  alle  Gäste  zusammen  oder  in  Wechselchören 
oder  einzeln ;  auf  letztere  Art  kamen  die  künstlicheren  Stücke 
zum  Vortrag.  Auch  an  eigentlichen  Trinkliedern  fehlte  es 
nicht');    Herakles   pflegte   solche  auf  der  Bühne,    nachdem  er 

anders  Proklos  bei  Phot.  cod.  524  und  Longos  4,  40  (die  ganze  Gesellschaft 
singt  oxXfjpä  v.rA  änTjvel  f^  <p<"v-g).  Das  von  CatuU  übersetzte  Hochzeitslied  der 
Sappho  sangen  abwechselnd  Jünglinge  und  Mädchen. 

1)  Schon  bei  Homer  ii  720  ff.  oi  60. 

2)  TCpöc  jVjppivYjv  Arist.  Vest,  1231  (Nub.  1364).  PoUux  6,  108.  Suidas 
8.  V.,  dargestellt  bei  Jahn  Philol.  26,  225  T.  3,  2.  Weniger  üblich  war  ein 
Lorbeerzweig  (Com.  ine.  fr.  347.  Dicaearch.  bei  Schol.  Arist.  Nub.  1367.  Said. 
1.  c.  Schol.  Plat.  p.  158B.) 

3)  ilv-ö/aa  h.  e.  carmina  convivalia  Graecorum  ed.  C.  D.  Ilgen,  .Tena  1798; 
Köster  comm.  de  scoliis  I.  Flensburg  1846;  Fr.  Ruuck  de  scoliorum  origine 
et  U8U,  Berlin  1876  (Diss.  v.  Rostock);  A.  G.  Engelbrecht  de  scoliorum 
poesi,  Wien  1882.  Die  Fragmente  stehen  am  besten  in  Bergks  poetae  lyr. 
Oraeci  HI*  643  ff.  Im  Altertum  schrieben  Tyrannion  (napl  xo'j  av.oX'.oö  jjLjtooa) 
und  Didymos  (3U|j.i:o3'axa)  darüber. 

4)  Teuffei  zu  Arist.  Nub.  1366.  Terpander  soll  die  Melodie  festgestellt 
haben. 

6)  Arist.  Nub.  1356  (Simonides),  fr.  208  (Alcäus).  Sa'.ta)..  fr,  (Anakreou 
und  Alcäus);  Eupolis  fr.  310  (Stesichoros) ;  vgl.  Aristoxenos  bei  Suid.  v.  oxo/.-.ov. 

6)  Arist.  Nub.  1365  ff.  Equ.  529  f.,  besonders  •  A o(j.-fiToii  'kÖ'(oz  Eupolis 
fr.  424.  Arist.  Ve.sp.  1239.  Suid.  v.  itäpotvoi;.  Letzterer  erwähnt  auch  Adfiircuvoc 
y-iloz,  wofür  Schol.  Plat.  p.  168B  Telamon  nennt. 

7)  Bergk  Nr.  9—18. 

8)  Ath.   16,  694  ab. 

9)  Kapotvia  z.  B.  Arist.  Ran.  1301  (vulg.  nopvtSüov). 


I 


Lyrische  Volksdichtung.  lä 

genug  gegessen  und  getrunken  hatte,  anzustimmen.^)  Dem 
Vergnügen  diente  der  Gesang  beim  Tanze^),  wobei  der 
kretische  Waffentanz  besondere  Aufmerksamkeit  verdient^);  an 
letzteren  reihen  wir  das  bekannte  herausfordernde  Lied,  das 
die  Spartaner  bei  Festparaden  in  Altersklassen  geghedert  sangen.^) 
Auch  im  Ernstfalle  zogen  sie  unter  dem  Schalle  des  sjxßaT'/jpiov 
gegen  den  Feind.  ^)  Die  Verwundeten  sollte  am  besten  eine  Art 
Zauberlied^)  heilen,  wie  nach  dem  Volksglauben  vor  einem 
metrischen  Spruche'')  die  Hexen  flohen. 

Endlich  dürfen  wir  auch  die  Arbeitslieder  im  weitesten 
Sinne  nicht  vergessen.  ^)  Besonders  wer  ein  einförmiges  Ge- 
werbe trieb,  kürzte  sich  die  Zeit  gerne  mit  Singen;  so  thun 
bei  Homer  Kalypso  und  Kirke,  während  sie  weben.  ^)  Die 
Wächter  brachten  die  langen  Nächte  damit  zu  ^°) ,  die  Hirten 
sangen,  wenn  sie  nicht  auf  der  Flöte  bUeseu,  die  ßoo%oXt(a)o[xot^^), 
Drescher  ^2)  und  Winzer  ^^j,    wasserschöpfende  Mägde  ^"*),    selbst 


1)  Anon.  de  com.  VIII  §  27. 

2)  Ath,  14,  629  e  (Bergk  Nr.  19).  Plut.  quaest.  Gr.  35  (Nr.  23).  DidymoR 
bei  Ath.  4,  139  e  aus  Polykrates.  Die  Epiker  dachten  sich  gerne  die  Musen 
tanzend  und  singend,  während  Apollo  spielte  (A  603  f.  u.  ö). 

3)  Ueber  eine  angebliche  Spur  eines  solchen  Liedes  bei  Homer  s.  Hentze 
Anhang  zu  H  239.  An  Khythmen  kennen  wir  den  Choriambos  (Kretikos !) 
Pyrrhichios  und  Parömiacus  (Ivo^Xioc). 

4)  Plut.  Lycurg.  21  (Bergk  Nr.   18). 

5)  Das  Gleiche  gilt  von  den  Arkadern  (Ephoros  bei  Ath.   14,  626  c). 

6)  l7tao'.5-fj  X  457  u.  ö.  Ikw^'Öc,  Clem.  AI.  paedag .  2  p.  100  P.  vgl.  Mart. 
Cap.  9,  926.  «vtiijloXtcov  axo?  Aesch.  Ag.   17. 

7)  Bergk  Nr.  26. 

8)  Die  Corai  tJiv  [j.taO'cuxüJv  tüjv  sc  tou?  ä'^pobz  '.poiTcuvTujv  und  ßaXavsiouv 
Coorj.':  (Ath.  14,  619  a)  scheinen  aus  einzelnen  Komödienscenen  genommen 
zu  sein. 

9)  Der  Gesang  der  Weberinen  hiess  später  sK'.voc,  (Epicharm.  bei  Ath.^ 
14,  618d). 

10)  Aesch.  Agam.   16.   Arist.  nub.  721.  Lucr.  5,  1404  lif. 

11)  Tryphon  bei  Ath.  14,  619a.  Diod.  4,  84.  Eust.  in  II.  p.  1164,  12. 
Hesych.  Et.  M.  208,  9;  deshall)  verehrten  die  Hirten  neben  Pan  die  Musen 
(Schol.  Theoer.  1,  6).  Nach  EiJicharm  hiess  der  erste  Hirtensänger  Siciliens 
Diomos  (Ath.  a.  0.).    Von  Eriphanis  erzählt  Klearchos    bei  Ath.   14,  619  c. 

12)  7ixLoxf/.öy  Ath.   14,  619  a,  nach  Pollux  4,  55  Flötenraelodie. 

13)  xeXsu(o)fi.a  Hieron.  in  Jes.  5,   10. 

14)  '.{lalov  ji-eXoc  Arist.  ran.  1324  mit  Schollen  faus  Kallimachos);  Hesych, 
s.  v.  u.  V.  l\i.aoii6z. 


14  1-  Kapitel. 

die  unglücklichen  Müblsklaven  ^)  erheiterten  sich  mit  der  Gabe 
der  Musen.  Bei  den  Hirtenliedern  handelte  es  sich  häufig  um 
poetische  Wettkämpfe,  wie  sie  noch  jetzt  in  den  deutschen 
Alpen  vorkommen. 

Ich  brauche  kaum  zu  sagen,  dass  der  Gesang  nicht  selten 
dem  Spotte  und  Hohne  diente;  eine  kleine  Probe  bietet  das 
angebliche  MtiUerlied  auf  Pittakos,  das  schwerlich  aus  alter 
Zeit  stammt.  ^) 

Zum  Schlüsse  verdienen  auch  die  Rätsel^)  eine  Er- 
wähnung, weil  diese  Ausflüsse  des  volkstümUchen  Scharfsinnes, 
die  den  Griechen  hauptsächlich  ein  geistreiches  Nachtischver- 
gnügen *)  waren ,  in  der  Regel  metrische  Form  hatten ;  ihre 
literarische  Wichtigkeit  beruht  abgesehen  von  den  kunstreichen 
Rätseln  des  Kleobulos  und  seiner  klugen  Tochter  Kleobulina 
darauf,  dass  die  Rhapsoden  in  Rätselspielen  wetteiferten^)  und 
später  die  Komiker  dieselben  zu  scherzhaften  Episoden  benützten. 

Bei  einem  Rückblicke  auf  die  profane  volkstümliche  Literatur 
tritt  der  Unterschied  der  einzelnen  Staaten  bedeutungsvoll 
hervor ;  denn  in  den  Gegenden ,  wo  ein  gewisser  bäuerlicher 
Sinn  die  Masse  der  Bevölkerung  erfüllte,  in  Sparta  ^),  in  Sicilien 
und  jedenfalls  auch  in  Arkadien,  dem  zweiten  gelobten  Lande 
der  Hirten,  dauerte  die  VolkstümHchkeit  der  Literatur  viel 
länger,  weil  der  Kunstpoesie,  die  in  Athen  jene  rasch  ver- 
drängte, weniger  Gelegenheit  gegeben  war,  störend  einzugreifen. 


1)  lfi.alo; ,  dorisch  IjAaXic  Tryphon  bei  Ath.  14,  618  d;  Arist.  Byz.  ib. 
619  b;  Photios  p.  107,  21;  Suid.  Hesych.  iKiivjh.oq  Eu.st.  iu  II.  p.  1164,  12. 
lioXwö-pö-:  Eust.,  an  den  Dämon  Nostos  oder  Eunostos  gerichtet  (Steph.  Thes. 
IV  689  b);  vgl.  Arist.  Nub.  1358.  Die  elpsoia  (Plut.  Alcib.  32.  Opp.  hal. 
6,  296)  ist  blosse  Melodie;  anders  freilich  Longos  3,  21. 

2)  Bergk  Nr.  43,  zur  Erklärung  Welcker  Rhein.  Mus.  10,  407  A.  **, 
über  die  metrische  Form  liergk  im  Kommentare  1.  c. 

3)  Felix  Morawski  de  Graecorum  poesi  aenigmatica,  Münster  1862; 
Jos.  Ehlers  a'iv'.Y(A*  xal  ^pi'fo':,  Bonn  1867  und  de  Graecorum  aenigmatis 
et  griphis,  Prenzlau  1876;  Bergk  Nr.  29 — 38.  Klearchos  schrieb  Ktp\  fpirfonv 
{Ath,  14,  648  f). 

4)  Pollux  6,  107  rechnet  sie  zu  den  o'j|j.TCOT'.xä. 

6)  Certamen  Homeri  et  Hcsiodi  und  Bergk  zu  Nr.  30  \1II  *  666  ft.). 
Daraus  erklärt  sich  die  Sage  von  Homers  Tod.  Vgl.  Joh.  Schmidt  Disa. 
phüol.  Hai.  2,  200  A.  1. 

6)  Probus  in  Verg.  buc.  praef.  p.  2,   18  Keil. 


Lyrische  Volksdichtung.  15 

Plutarch  ^)  charakterisierte  die  spartanischen  Lieder  mit  den 
Worten:  „Die  Sprache  war  schHcht  und  kräftig  (afpsX-rjc  xal 
ad-poTTTOc),  der  Inhalt  ernst  und  sittlich  erhebend."  Wenngleich 
die  Heloten  wenige  Rechte  besassen,  singen  durften  sie  doch 
und  manche  ihrer  Lieder  verbreiteten  sich  so  weit,  dass  Ari- 
stophanes  ^) ,  wenn  die  Schollen  Recht  haben ,  auf  ein  solches 
anspielt. 

Leider  kennen  wir  nur  wenige  unverfälschte  Proben  dieser 
liebenswürdigen  Aeusserungen  des  Volksgeistes  ^),  da  die  Griechen, 
selbst  als  sie  für  das  Hirten-  und  Bauernleben  schwärmten, 
sich  gleichgiltig  dagegen  verhielten;  vielleicht  vermögen  wir 
aber,  wenn  wir  neugriechische  Volksdichtungen  heranziehen, 
ein  deuthcheres  Bild  au  gewinnen.  ^)  Unter  diesen  verdienen 
wegen  des  gleichartigen  Stoffes  Wiegenlieder '") ,  '/^sXido'jiG^a.za 
und  ähnliche  Bettelgesänge  ^),  sowie  die  Totenlieder  ^)  besondere 
Aufmerksamkeit.  Nur  liegt  durch  den  Druck  der  langen  Fremd- 
herrschaft auf  den  nieisten  der  neugriechischen  Lieder  ein 
trüber  Schleier,  den  wir  für  das  Altertum  durch  sonnige  Lebens- 
freude ersetzen  müssen. 

Während  das  profane  Volkslied  der  Kunstproduktion  nur 
geringe  Widerstandskraft  entgegensetzen  konnte,  erhielten  sich 
die  Reste  der  ältesten  Zeit,  die  mit  dem  Gottesdienste  zusam- 
menhingen, gleich  den  kindhch  rohen  aber  immer  wiederholten 
Idolen  weit  dauerhafter.  Da  Apollo  schon  früh  als  Gott  der 
Musik  gedacht  wurde,  diese  Kunst  aber  bei  den  Griechen  in 
engster  Verbindung  mit  dem  Gesänge  stand ,  pflegten  gerade 
seine  Verehrer  den  Hymnus  und  entwickelten  ihn  mannigfaltig, 
wobei  die  apoUinischen  Festgenossenschaften  von  Delphi  und 
Delos   sich    einflussreich    zeigten.     Denn    von  dem  Apollokulte 


1)  Lycurg.  21. 

2)  Equ.   1230. 

3)  Die  Mahnung,  der  Leser  möge  deshalb  nicht  ein  ungünstiges  Vorurteil 
gegen  die  hellenische  Volkspoesie  fassen,  scheint  mir  nicht  überflüssig. 

4)  C.  Fauriel    chants   pop.    de   la  Grece  mod.  discours   prel.   p.   102  fl. 
Fr.  T  hier  seh  über  die  neugriechische  Poesie,  München  1828  S.  34  flf. 

5)  vxvvap'lafiata  Passow  carm.  pop.  Graeca  207 — 16. 

6)  Fauriel  a.  O.  1,  28.  112  f.    Wachsmuth    das    alte  Griechenland  im 
neuen  S.  36  f. 

7)  Xapa)V£ta  und  fioipoXÖYia  Wachsmuth  a.  O.  Anhang  III  S.  105 — 25, 
vgl.  Gennadios  Abh.  der  bayer.  Akad.  7,  386  ff. 


16  1.  Kapitel. 

ging  der  Anstoss  aus,  die  Götter  auch  ohne  besondere  Veran- 
lassung beim  Opfer  7ai  besingen,  während  dies  die  homerischen 
Griechen  noch  nicht  thaten.  Die  beiden  Hauptformen  des 
apollinischen  Liedes  sind  der  Päan^)  und  der  Nomos.  Jener, 
nach  dem  Refrain  lyj  Tuatav  iy]  ;catäv  genannt,  drückt  immer  eine 
freudige  hoffnungsvolle  Stimmung  aus;  ,, selbst  der  Jammer 
der  Thetis  um  ihren  Sohn  schweigt  und  der  Niobefels  hört  zu 
weinen  auf,  wenn  der  Ruf  itj  Ttatdcv  erschallt."^)  Die  Achäer 
singen  den  Päan  nach  Hektors  Falle  (X  391)  und  suchen  beim 
Hekatombenopfer  mit  einem  solchen  Preisliede  den  Gott  gnädig 
zu  stimmen.  ^)  Dieselbe  Absicht  verfolgen  die  Dorier ,  wenn  sie 
beim  Beginne  der  Schlacht  den  Päan  anheben,  ^)  Der  delphische 
Gott  befahl  einmal  ausdrücklich,  wenn  der  Frühling  nahe, 
Päane  zu  singen ;  sie  sollten  also  die  Freude  der  Menschen, 
dass  der  Winter  vorbei  und  die  Natur  wieder  erwacht  sei,  aus- 
drücken. ^)  Im  Winter  dagegen  schweigt  der  Päan.  *')  Später 
übertrug  man  diese  Liedform  auch  auf  andere  Götter')  und 
Menschen^),  die  man  als  ,, Retter"  verehrte.  Der  Päan  hatte  zwar 
nicht  den  aufgeregten  Ton  des  Dithyrambus^);  aber  wegen  seiner 
Lebhaftigkeit  gaben  die  Griechen  bald  die  Phorminx  ^^)  auf  und 
begleiteten   ihn   lieber  mit  dem  Schalle  der  Flöten. ")     Ernster 


1)  Seraos  von  Delos  .schrieb  über  die  Päane  (Athen.  14,  618  d.  622  a — d). 

2)  Callim.  hymn.  2,  20  ff. 

3)  A  473,  zunächst  an  Apollon  Paion  {aKziiv.r/.v.o<;)  gerichtet. 

4)  Teuffei  zu  Aesch.  Pers.  388. 

5)  Apoll,  hist.  mirab.  40. 

6)  Plut.  de  EI  c.  9. 

7)  Zunächst  Asklepios  (Sophokles,  Bergk  carm.  pop.  [sie]  47  von  Makedoi  aus 
römischer  Zeit,  eben.so  Athen.  6,  250  c)  und  Hygieia  (von  Ariphron  Athen. 
16,  702a);  auf  Zeus  dichtete  schon  Pindar  einen  Päan.  Bei  Poseidon,  dem 
Gotte  der  Erdl)eben ,  erwähnt  ihn  Xenophon  (Hell.  4,  7,  4).  Eine  Inschrift 
von  Thasos  gibt  bei  einem  Kulte  des  Hermes  und  der  Nymphen  au.sdrücklich 
an  :  ou  natuivtCstat  (Kohl  Inscr.  antiq.  379). 

8)  Ly.siinder  Plut.  Lys.  18,  Titus  Flamininus  Plut.  Flam.  16;  das 
korinthisrhe  Lied  auf  Agemon,  den  Vater  der  Alkyoue,  hatte  wenig.stens  den 
päani.schen  Refrain  (Ath.  15,  696  f).  In  Athen  waren  aber  die  religiösen 
Bedenken  noch  zu  Aristoteles'  Zeit  so  stark,  dass  mau  diesen,  weil  er  einen 
Päan  auf  Hermias  dichtete,  verbannte. 

9)  Plutarch  de  E  I  p.  389  b  nennt  ihn  TetaYixEvfjv  xal  ctotppova  |j.oöaav. 

10)  Hymn.  2,  337  ff. 

11)  Enrip.  Tro.  126.  Plut.  Lys.  11. 


1 


Lyrische  Volksdichtung.  27 

und  ruhiger  war  der  Nomos,  über  dessen  Stellung  in  Lyrik 
und  Musik  wir  noch  bei  Terpander  zu  reden  haben  werden. 
Er  stammt  aus  Kreta  und  kam  von  hier  nach  Delphi,  wo  die 
Apollodiener  in  dieser  Form  Apollo  besonders  als  Drachentöter 
feierten.  ^)  Weil  ihn  nicht ,  wie  den  Päan ,  ein  Chor ,  sondern 
ein  einzelner  vortrug,  treffen  wir  hier  zuerst  die  Priestersänger, 
welche  in  Griechenland  und  Indien  ^)  die  Staffage  der  mythischen 
Zeit  bilden,  ohne  dass  der  Forscher  aus  der  üeberlieferung  die 
Thatsachen  herauszuschälen  vermöchte.  An  der  Urgeschichte 
des  pythischen  Nomos  haftet  der  Name  des  Kreters  Chryso- 
themis,  der  ihn  zuerst  im  Festgewande  vorgetragen  haben 
solP);  es  ist  auch  wohl  nicht  zweifelhaft,  dass  der  Nomos  wie 
das  Orakel  selbst  von  Kretern  gestiftet  wurde.  Auf  Chrysothemis 
folgte  nach  der  Tradition  Philammon.  ^) 

Die  priesterliche  Dichtung  von  Delos  verkörpert  der  an- 
geblich aus  dem  apollinischen  Lande  der  Lykier  oder  Hyper- 
boreer stammende  Olen^);  dieser  Mann  verdient,  weil  schon 
Herodot  Olenische  Hymnen ,  die  in  Hexametern  gedichtet 
waren,  kannte^),  besondere  Beachtung.  Die  delische  Tempelsage 
stempelte  ihn  sogar  zum  Erfinder  des  Hexameters,  obgleich 
dieses  Versmass  im  Apollokulte  nicht  von  Anfang  an  heimisch 
ist.  Dagegen  geht  aus  den  berühmten  Versen  des  an  den 
delischen  Apollo  gerichteten  Hymnus  (V.  158  ff.)  zur  Genüge 
hervor,  dass  Delos  dem  pythischen  Heiligtume  in  der  Pflege 
der  musischen  Künste  nicht  nachstand. 


1)  An  den  pythischen  Nomos  knüpft  sich  die  Sage  vom  Lokrer  Eu  n  omos 
(Ael.  hist.  an.  5,  9.  Antig.  mirab.  in.  Clem.  AI.  cob.  1,  rationalistisch  Strabo 
6,  260.  Anthol.  6,  54.  9,  584.)  Lucian  nennt  ihn  ver.  hist.  2,  15  unbefangen 
neben  Arion,  Anakreon  und  Stesichoros. 

2)  Zimmer  altindisches  Leben  S.  337  ff. 

3)  Prokl.  bei  Phot.  320  b  1.  Paus.  10,  7,  2  ;  vgl.  die  Abbildung  in  Müller- 
Wieselers  Denkmäler  der  alten  Kunst  1,  32,  141a.  Die  Quelle  von  Suid.  v. 
Tep-avSpot:  ignoriert  ihn. 

4)  Spätere  führten  mehrere  terpandrische  Namen  auf  ihn  zurück  (Plut. 
mus.  5) ;  Herakleides  schrieb  ihm  melische  Gedichte  auf  die  Geburt  der  Leto, 
des  Apollo  und  der  Artemis  zu  und  nennt  ihn  den  ersten  Chordichter  (ib.  3, 
eben.so  Schol.  Od.  x  432). 

5)  Der  Name  braucht  nicht  barbarisch  zu  sein,  vgl.  'ß),EViov. 

6)  4,  35;  Pausanias  las  noch  olenische  Hymnen  und  erwähnt  sie  mehr- 
mals; vgl.  ausserdem  Callim.  h.  in  Del.  304  f.  und  Boio    bei  Paus.    10,  5,  7. 

.'^ittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  2 


18  ].  Kapitel. 

In  dem  politischen  Mittelpunkte  der  Dorier,  in  Sparta,  bot 
das  Karneenfest  ^)  seit  alter  Zeit  eine  günstige  Gelegenheit  für 
die  Übung  in  Gesang  und  Musik ;  bei  den  Hyakinthien  ^  sangen 
zuerst  die  Knaben  unter  Flötenbegleitung  hellstimmig  zum 
Gotte,  worauf  Chöre  von  Jünglingen  einheimische  Lieder  vor- 
trugen. Zum  apollinischen  Kreise  soll  endlich  Melanopos 
von  Kyme  gehören ;  Hellanikos  machte  ihn  zum  Vorfahren 
Homers  3)  und  der  vielbelesene  Pausanias  (5,  7,  8)  kannte  von 
ihm  einen  Hymnus,  der  von  den  Hyperboreerinnen  Opis  und 
Hekaerge  erzählte.*) 

Den  Doriern  lag  neben  Apollo  auch  die  Verherrlichung 
seiner  Schwester  Artemis  am  Herzen,  wenn  gleich  hier  jene 
grossen  Vororte  und  Brennpunkte  fehlten.  Nur  die  oonq-^oi, 
welche  der  Artemis  Upis ,  der  Behüterin  gebärender  Frauen, 
galten,  waren  bekannter  ^) ;  doch  nennen  die  Grammatiker  über- 
dies ländliche  Lieder,  die  in  Sicilien  und  Lakonien  ^)  Artemis 
zu  Ehren  gesungen  wurden. 

Für  Attika  steht  der  Demeterkult  im  Vordergrund. 
Wir  hören  nun  zwar  hier  von  Musaios^),  dem  Sohne  des 
Antiophemos  undEumolpos,  dem  Ahnherrn  der  Eumolpiden ^), 
aber  nur  F  a  m  p  h  ö  s  ist  von  dem  Verdachte ,  eine  blosse  Per- 
sonifikation zu  sein,  frei.  Obgleich  in  der  Kaiserzeit  der  Freund 
religiöser  Literaturinkunabeln    einen   ganzen   Band    altattischer 


1)  Hermann  griech.  Altertümer  II  §  53,  29  flf. 

2)  Polykrates  bei  Ath.  4,  139  e. 

3)  Man  erinnere  sich ,  dass  Lucian  (Dem.  enc.  9)  Homers  Mutter  Mela- 
nope  nennt. 

4)  Das  angeblich  an  Apollo  gerichtete  Lied  fiXr^Kiäq  (Athen.  14,  619  b) 
ist  nicht  weiter  als  der  Ruf  der  Knaben  „Komm'  hervor  liebe  Sonne"  (Bergk 
Nr.  22  A),  wenn  Wolken  die  Sonne  verdunkeln. 

6)  Ath.  14,  619  b.  PoUux  1,  38.  Theodoret.  serm.  IV  p.  640,  speciell 
in  Trözen. 

6)  Hier  hiessen  sie  ä-tpaßix<i  „Karrenlieder"  (Probus  in  Verg.  Bucol. 
p.  2,  21  Keil);  vgl.  Proleg.  Bucol.  Nr,  VI  (Ahrens  II  p.  4).  Ein  dorisches 
Fragment  teilt  Dikäarch  bei  Athen.  14,  636  d  mit.  Jedenfalls  verehrten  auch 
die  Arkader  Artemis  Hymnia  (Prell er  griech.  Myth.  I^  243)  mit  Liedern, 
da  sie  den  religiösen  Gesang  ausserordentlich  pflegten  (Athen.   14,  626  b). 

7)  Eberhard  de  Panipho  et  Musaeo,  Münster  1864. 

8)  Herakleides  dichtete  ihm  eine  Titanomachie  an. 


Lyrische  Volksdichtung.  19 

Hymnen  kaufen  konnte^),  befürwortete  bei  Musaios  Pausanias 
selbst  blos  die  Echtheit  eines  Demeterhymnus.  ^)  Die  Familie  der 
Lykomiden  ^)  rühmte  sich  die  Dichtungen  des  Pamphos  zu  be- 
wahren, indes  ist  ein  Eroshymnus  zu  Athen  wenigstens  für 
die  alte  Zeit  schwer  glaublich  und  die  Erwähnung  des  Oitolinos 
in  einem  anderen  Hymnus^)  spricht,  da  das  Linoshed  mit 
Athen  nichts  zu  thun  hat,  entschieden  gegen  die  Echtheit.  Ein 
höheres  Alter  kann  nur  der  lulos  oderUlos^)  beanspruchen, 
der  analog  dem  Päan  nach  dem  Refrain  TcXslatov  ooXov  o\i\ov 
ist  IodXov  ut  benannt  ist.  ^)  Das  Lied  war  so  populär,  dass  es 
auch  oft  das  Wollekrempeln  begleitete^);  hie  und  da  galt  es 
Demeters  Tochter.  ^) 

Weil  der  Dionysoskult  nicht  in  frühe  Zeit  zurückreicht, 
kann  er  keine  alten  Namen  aufweisen  ^) ;  die  berühmteste 
Gattung  der  Dionysoshymnen  ist  der  Dithyrambos,  über  dessen 
volkstümliche  Anfänge  wir  nichts  erfahren.  Daneben  spielten 
aber  sclion  früh  die  das  Herumtragen  des  Phallos  begleitenden 
Lieder  (^aXXoipoptxa)  eine  nicht  unbedeutende  Rolle  ^^) ;  von 
diesen  stammt  der  Name  des  ithyphallischen  Metrum.  Auch 
dem  Kelterfeste  fehlte  ein  besonderer  Hymnus  (iTrtXijvtov  [jlsXoc)  ^^) 
nicht.  Endlich  sind  die  Lieder,  welche  Frauen  dem  Dionysos 
selbst  ^^)  oder  Erigone^^)  zu  Ehren  sangen,  nicht  zu  vergessen. 

1)  Pollux  10,  162  ev  zolc,  'Axtixol?  upoic,  vgl.  Krates  bei  Ath.  14,  65'ib  ; 
Orion  führt  im  Etym.  M.  293,  46  eine  Sammlung  peloponnesischer  Hymnen 
aus  Euripidesscholien  an. 

2)  1,  22,  7,  vgl    4,  1,  5. 

3)  Lob  eck  Aglaoph.  982  f.;  er  zieht  die  Form  Auv.ofiYjSa'.  vor. 

4)  Paus.  9,  29,  8;  die  Verse  bei  Philostr.  heroic.  2,  19  p.  693  sind 
parodisch. 

5)  ouXoc,  touXoi;  Didymos  bei  Schol.  Ap.  Rh.  1,  972  ,  auch  xaKXiouXoc, 
oder  AY](jL7]TptoüXo<;  nach  Semos  bei  Ath.  14,  618  d  (Eust.  in  II.  p.  1162,  42) 
genannt. 

6)  Semos  bei  Ath,  14,  618  e. 

7)  Athen,  a.  O.  (Semos).  d  (Tryphon).  Eust.  in  II.  p.  1164,  11,  doppel- 
deutig Eratosth.  Mercur.  fr.  8  B. 

8)  Athen.  14,  619  b. 

9)  lieber  Orpheus  und  seine  Genossen  s.  u. 

10)  Heraklit.   bei    Clem.  AI.  protr.  p.  30;    Proben    bei   Ath,  14,  622  b— d 
aus  Semos  (Bergk  Nr.  7.  8)  6,  253  c  (Nr.  46)  und  Arist.  Acharn.  263  ft. 

11)  Kallixenos  bei  Athen.  5,  199  a.  Pollux  4,  55;  für  Athen  vgl.  Bergk  Nr.  5. 

12)  In  Elis  Bergk  Nr.  6. 

13)  In  Athen  (äXYjxtc  Athen.  14,  619  e.  Pollux  4,  55).  ' 

2* 


20  1-  Kapitel. 

Der  Dienst  des  Poseidon  blieb  für  die  Literatur  ohne 
Bedeutung,  wiewohl  Herakleides ^)  An  thes  aus  dem  böotischen 
Anthedon  zu  einem  uralten  Hymnendichter  machte,  während 
sein  Name  in  Wirklichkeit  der  Geschichte  der  Mantik  angehört.  ^) 
Aehnliches  gilt  auch,  Artemis  ausgenommen,  von  den  weib- 
lichen Gottheiten;  indes  feierten  die  Spartaner  beim  Tanze 
Aphrodite^)  und  von  einem  Hymnus  an  dieselbe  Göttin  teilt 
Piutarch  ein  kleines  Fragment  mit.  ^) 

Pausanias,  der  besteKenner  der  griechischenKircheninkunabeln, 
urteilt  über  die  ihm  bekannten  ältesten  Hymnen,  sie  ständen 
an  Schmuck  der  Sprache  hinter  den  homerischen  zurück,  über- 
träfen sie  aber  an  religiösem  Gefühle.  °)  Im  Hinblick  auf  die 
Veden  dürfen  wir  annehmen,  dass  sie  in  verhältnismässig  ein- 
facher Sprache  das  segensreiche  Walten,  die  Macht  und  die 
Thaten  einer  Gottheit  priesen  und  am  Schlüsse  eine  Bitte  um 
Gewährung  persönlicher  Wünsche,  die  sich  wohl  meistens  auf 
Erhaltung  und  Mehrung  des  Besitzes  bezogen,  enthielten.  Um 
das  Ohr  des  Gottes  sicher  auf  sich  zu  lenken ,  rief  man  ihn 
gerne  mit  vielen  Beiwörtern  an;  daher  heissen  die  Götter  ,,viel- 
namig"  (TroXuwvofxo?)  ^). 

Bisher    hatten    wir   immer   mit  rein  nationalen  Elementen 
zu  thun.    Ein  fremdes  Element  scheint  aber  in  den  PriestedH 
Sängern  Pieriens  hinzuzutreten.  Die  Anfänge  der  griechische^^ 
Dichtung  knüpfen    sich  nämlich  teilweise   an  den  Musenkult  ^ 
und  dieser  wieder   an  Pierien,    das   gesegnete  Land    am  No 
abhänge  des  Olympbs,   von  wo  aus  er  nach  dem  Helikon  vei 
pflanzt  wurde.  ^)  Die  Tradition  des  späteren  Altertums  verset 

1)  Plut.  mus.  3. 

2)  Die  Spartaner  bewahrten  Orakel  auf  seiner  Haut  (Philostephanos  bei 
Steph,  Byz.  v.  'Av9-dva). 

3)  Luc.  Salt.   10  (Bergk  Nr.  17);  von  Alkman? 

4)  quaest.  symp.  3,  6,  4  (Bergk  Nr.  4). 

6)  9,  30,  12  (speciell  von  den  Hymnen  der  Lykoruideu).  Er  redet  an 
derselben  Stelle  von  den  orphischen  Hymnen,  Jiber  sie  geboren  einer  jungen 
Zeit  an.  Der  angeblich  älteste  Gewährsmann  Plato  (leg.  8,  829  e)  rodet 
offenbar  von  dem  mythischen  Gesänge  des  Orpheus  und  Thumyris,  jedoch 
nicht  von  wirklichen  Hymnen. 

6)  Bergk  Jahrb.  81,  408. 

7)  Deiters   die  Verehrung  der  Musen  bei  den  Griechen,  Bonn  18ü8. 

8)  O.  Müller  Orchomenos  S.  379  ff.  Die  Ortsnamen  Pieriens  sind 
durchaue  griechisch  (Giseke  thrakisch-pelasgische  Stämme  S.  26). 


Lyrische  Volksdichtung.  21 

hieher,  im  besonderen  in  die  Städtchen  Leibethra  und  Pimpleia 
die  Heimat  mehrerer  frommer  Sänger ,  die  Thraker  heissen.  ^) 
Was  haben  nicht  alte  und  moderne  Gelehrte  aus  diesen  ge- 
macht! Wie  viele  geistreiche  Kombinationen  sind  vorzüglich 
von  0.  Müller  aufgestellt  und  geglaubt  worden^)  und  doch 
halten  sie  alle  vor  der  einzig  berechtigten  historischen  Be- 
trachtung nicht  Stand.  3)  Die  hochgebildeten  Südthraker  zer- 
fliessen  in  nichts,  wie  die  thrakische  Herkunft  dieser  pierischen 
Sänger.  Orpheus  ist  überhaupt  kein  Thraker,  sondern  ein 
indogermanischer  Sängerheros ^),  das  Ideal  eines  Sängers,  wie 
es  der  halb  kindlichen  Phantasie  eines  schlichten  Volkes  vor- 
schwebt. Was.  er  singt,  erfahren  wir  nicht,  aber  die  Macht 
seines  Gesanges  ist  so  gross,  dass  er  selbst  Bäume  und  Felsen 
bezaubert.  Somit  gehört  Orpheus  gleich  Horand  in  der  Gudrun 
und  Wannemuine  bei  der  Finnen  der  Mythologie  und  nicht 
der  Literaturgeschichte  an.  ^)  Dem  thrakischen  Dionysosdienste 
stand  er  noch  bei  Aschylus  feindlich  gegenüber,  bis  die  jüngeren 
Orphiker  seine  Mysterien  mit  den  bakchischen  Orgien  ver- 
schmolzen ^) ;  damals  wurde  Orpheus  zunächst  zu  einem  Dio- 
nysospriester und  dann  auch  zu  einem  wirkhchen  Thraker ''), 
eine  Umbildung  der  Sage,  zu  welcher  die  Auswanderung  der 
Pierier  gewiss  viel  beitrug.  ^)  Von  attischen  Orphikern  ging  auch 
die  Thrakisierung  des  Eumolpos  und  Musaios  aus.  ^)  Es  kann 
nicht  zweifelhaft  bleiben,    dass    die  Griechen    einst  in  Pierien 


1)  Viel  Material  gibt  Giseke  a.  O.  S.  26  £f.  117. 

2)  Prell  er  Griech.  Mythologie  I''  399  erdichtete  sogar  eine  Sängerzunft 
dieses  Namens;  vielleicht  verführte  ihn  die  Erinnerung  an  das  delphische 
Geschlecht  der  Thrakiden. 

3)  Diesen  Weg  schlug  AI.  Riese  Jahrbh.  115,  225  fi".  ein.  Schon  Androtion 
(Ael.  V.  h.  8,  6)  hatte  die  Unwahrscheinlichkeit  der  Sagen  erkannt. 

4)  Im  Sanskrit  ribhüs  (Curtius  Etym.  437  vergleicht  unrichtig  op-^v-rj)  ; 
daher  ist  der  Kult  in  Pierien  uralt  und  des  Orpheus  Bild  ein  hölzernes  Idol 
(Riese  a.  O.  S.  229  A.  6). 

5)  Soll  etwa  die  Geschichte  der  griechischen  Musik  mit  Amphion  be- 
ginnen ?  Herakleides  legt  diesem  (Plut.  mus.  3)  i-i^v  xt^-apüjSix-rjv  uro'.Yjaiv  bei. 
Oder  hätte  ich  auch  die  Sirenen  nicht  übergehen  sollen? 

6)  Die  erste  Spur  findet  sich  Herod.  2,  81. 

7)  Am  frühesten  Eurip.  Ale.  966  ff.,  wo  auch  seine  Schriften  zuerst 
erwähnt  werden. 

8)  Herod.  7,  112.  Thuc.  2,  99. 

9)  Zuerst  Eurip.  fr.  362,  48  Nauck  und  Rhesos  946. 


22  1-  Kapitel. 

ßassen,  ohne  dass  wir  dadurch  das  Recht  haben,  von  eigenthch 
pierischen  Sängern  zu  sprechen.  Der  Musenkult  war  am  Fusse 
des  Olympos  heimisch,  weil  man  sich  die  Göttinen  auf  seinen 
Höhen  wohnend  dachte  und  dort  die  von  ihnen  geliebten 
schön  gelegenen  Bergquellen  fand.  Auch  wenn  der  Olymp 
zum  Götterberge  erhoben  wurde,  haben  die  Pierier  kein  Ver- 
dienst daran;  denn  weil  die  arische  Anschauung  den  Götter- 
berg immer  ungefähr  gegen  Sonnenaufgang  sucht  ^) ,  entstand 
jene  Ansicht  in  Nordthessalien  oder  Epirus. 

Thamyris  (bei  den  Attikern  auch  Thamyras  genannt)^) 
repräsentiert  dagegen  wie  Marsyas  und  seine  Landsleute  die 
feindliche  Kultur  der  Barbaren.  Wie  Marsyas  vor  dem  hel- 
lenischen Apollo  unterliegt,  so  lässt  sich  Thamyris  in  einen 
Wettkampf  mit  den  Musen  ein,  der  für  ihn  unglücklich  endet. 
Mit  griechischer  Poesie  hat  er  nichts  zu  thun ,  wenngleich  die 
Fremdenführer  in  Delphi  Pausanias  ^)  erzählten,  er  sei  dort  bei 
den  Pythien  aufgetreten ;  an  Orpheus'  Freundeshand  wandelt 
jedoch  der  mythische  Feind  der  Griechen  in  das  versöhnende 
Dunkel  der  Mysterien  hinüber  und  erscheint  nun  als  ehrwürdiger 
Priestersänger.  ^) 

Bewegten  wir  uns  also  bisher,  da  nicht  einmal  von 
pelasgischen  Sängern  irgendwo  die  Rede  ist,  durchweg  auf 
nationalem  Boden,  so  finden  wir  in  den  Klageliedern  ein 
sicher  fremdes  Element.  Es  ist  eine  eigentümliche  Erscheinung, 
dass  bei  den  Griechen  die  Klage  so  sehr  zurücktrat  ^) ;  es  liebt© 
ja  ihr  heiteres  Gemüt  nicht,  zu  oft  und  allzu  grell  an  die  Ver- 
gänglichkeit der  Freude  und  der  Schönheit  erinnert  zu  werden. 
An  der  Bahre  eines  eben  Verstorbenen  entsprang  der  Threnos 
dem  natürUchen  Gefühle  des  Schmerzes;  selbst  die  Musen 
klagten,    wie  man  meinte,    wenn  ein  Göttersolxn  in  der  Blüte 

1)  So  war  der  Demawend  für  Iran  und  der  Himalaya  für  die  vedischen 
Inder,  als  sie  noch  im  Pendschablande  sassen,  heilig,  vgl.  Duncker  Gesch. 
des  Alterthums  V*  102. 

2)  Welcker  die  griechischen  Tragödien  1,  419. 

3)  10,  7,  2. 

4)  Lobon  erlog  eine  Theologie  in  3000  Versen  (Suid.  Bergk  I  405.  Hill  er 
Bhein.  Mus.  33,  622).  Tzetzes  spricht  von  einer  Kosmogonie  in  6000  Hexa- 
metern (chil.  7,  84  ff.) 

6)  Aach  in  Kom  stammt  die  nenia  dem  Namen  nach  (phrygisch  vYiviatov 
PoUux  4,  79)  aus  Kleinasien,  vgl.  J.  Wehr  Göttinger  Abschiedsschrift  für 
G.  Curtius  1868  8.  U  ff. 


4 


Lyrische  Volksdichtung.  23 

seiner  Jahre  dahingerafft  wurde.  ^)  Aber  die  gleichsam  geregelte 
wilde  Klage  überliess  die  Griechin  gedungenen  fremden  Frauen, 
meist  Karerinen ,  die  zu  karischen  Flöten  ^)  ihre  ungestümen 
Weherufe  heulten;  die  Rhythmen  glichen  nach  Maximos  Pla- 
nudes  ^)  den  politischen  Versen.  Anders  im  Oriente!  Mit  den 
sinnlichen  Ausschweifungen  paarte  sich  in  den  asiatischen  Re- 
ligionen eine  wahre  Wollust  des  Schmerzes.  Das  frische  Grün 
schwindet  in  heissen  Ländern ,  wenn  der  Hundsstern  aufgeht 
und  die  Sonne  die  ärgste  Glut  entsendet,  dahin;  da  dichteten 
die  Orientalen  von  einem  schönen  Jünglinge,  den  Hunde  zer- 
fleischten oder  den  sonst  ein  schwarzes  Geschick  vor  der  Zeit 
in  die  Unterwelt  sendete.  Die  Kyprier  nannten  ihn  mit 
semitischem  Namen  Adonis,  den  ,, Herrn";  daher  erklang  auf 
Kypern  besonders  das  Adonislied,  das  aus  Syrien  gekommen 
war.  ^)  Es  verbreitete  sich  rasch  nach  dem  Westen,  da  es  bereits 
Sappho  benützte.  °)  Neben  Adonis  stand  auf  der  Insel  der 
Aphrodite  wahrscheinlich  Kinyras;  der  Name  bezeichnet 
wenigstens  zugleich  eine  zehnsaitige  Harfe.  ^)  In  Bithynien  be- 
klagten ^die  Mariandyner  die  von  den  Nymphen  geraubten 
Knaben  B  o  r m  o  s  ')  und  H  y  1  a s  ^) ;  jener  war,  wie  der  phrygische 

1)  tu  190,  vgl.  II  457.  675.  *'  9.  5  197.  Ein  Klagelied  in  poetischer 
Prosa  gibt  Lucian  de  luctu  13;  es  erinnert  an  die  berühmten  voceri  der 
Korsikaner  (vgl.  auch  Vl'^achsmuth  das  alte  Griechenland  S.  109  ff.) 

2)  Plato  legg.  7,  800e,  nach  Athen.  4,  174  f.,  und  Pollux  4,  76  zum 
phönikischen  Gingras. 

3)  Bachmanns  Anecd.  2,  98.  Der  sogenannte  antispastische  Rhythmus 
(Christ  Metrik  '•^70.  467j  hiess  Kapixöc?  was  O.  Müller  Literaturgesch.  1, 
176,  5  hieher  bezieht.  Die  Griechen  sahen  mit  Verachtung  auf  diese  ixsXvj 
'{lyiftay'zä.  (Axionikos  bei  Athen.  4,   175b).^ 

4)  Movers  Phönizier  1,  200  ff.  Brugsch  die  Adonisklage  und  das 
Linoslied,  Berlin  1852.  Der  Refrain  war  wahrscheinlich :  „Wehe  um  den 
Herrn,  wehe  um  seinen  Glanz"  (Jerem.  22,  18);  bei  den  Syrern  hiess  Adonis 
Tammüz.  Flöten  begleiteten  das  Lied,  weshalb  Y^VTP**  zugleich  den  Adonis 
und  eine  Flötenart  bezeichnete  (Demokleides  bei  Ath.  4,  174  f). 

5)  Eine  Adonisklage  besitzen  wir  noch  von  Biou  (id.  1)  und  Theokrit 
(15,   135  ff.).     Vielleicht  hatte  der  adonische  Vers  damit  zu  thun. 

6)  phönik.  u.  hebr.  kinnor,  vgl.  Joseph,  ant.  7,  12,  3.  8,  3,  8;  Flach 
Gesch.  der  griech.  Lyrik  1,  100  f 

7)  Bcupfioc,  Aesch.  Pers.  937  T  mit  Schol.  Hesych.  s.  v.  Nymphis  bei 
Ath.  14,  619  f  620a.  Pollux  4,  55;  Nauck  Piniol.  12,  646,  Welcker, 
kleine  Schriften  1,  10  ff.,  O.  Kämme  1  Heracleotica ,  Plauen  1869  S.  12  ff. 
23  ff.,  W.  Mannhardt  die  Korndämonen,  Berlin  1868  S.  34  f. 

8)  Sprichwörtlich  töv  "VXav  xpaDyäCst?  (vgl.  Suid.  s.  v.  mit  Bernhardys  Note). 


24  1-  Kapitel. 

Lityerses^),  eigentlich  ein  Korndämon,  den  die  Schnitter 
während  der  Arbeit  anriefen.  Ein  anderes  Schnitterlied ,  das 
wohl  ebenfalls  Kleinasien  angehört,  hiess  lalemos.^)  Bei  den 
stammverwandten  Thrakern  finden  wir  einen  Gesang,  der  Ha r- 
palylie^),  die  windschnelle  Tochter  des  Boreas,  beklagte.  Die 
grösste  Verbreitmig  fand  aber  das  Linoslied.  Movers*)  er- 
kannte mit  genialem  Blicke,  dass  Linos  nur  eine  Personifikation 
des  oft  wiederholten  Klagerufes  al'Xivoc  sei  und  dieser  dem 
semitischen  ai  le  -  nu  ,,wehe  uns"  entspreche.  Die  Griechen  aber 
fdssten  wie  immer  den  Gegenstand  der  Klage  in  eine  konkrete 
Form  und  betrauerten  bei  der  Weinlese ,  vielleicht  überhaupt 
bei  den  Erntefesten  den  schönen  jungen  Linos.  ^)  Die  Sagen 
sind  in  Argos  ^),  Theben  und  Chalkis,  drei  Knotenpunkten  des 
orientalischen  Importes,  lokahsiert.  Mit  Theben  hängt  wohl 
auch  das  interessante  hesiodische  Fragment  (132)  zusammen  : 
,,Alle  beklagen  beim  Mahle  und  Reigentanze  den  Linos  und 
rufen  ihn  am  Anfang  wie  am  Ende."  Die  auswandernden 
Böoter  brachten  das  Linoslied  auch  nach  Lesbos,  wo  Sappho 
den  Oitolinos  besang.  ^)  Da  die  attischen  Hymnen  des  Pamphos, 
wo  er  gleichfalls  vorkam,  von  sehr  zweifelhafter  Autorität  sind, 
scheint  das  Linoshed  auf  jene  Gegenden  beschränkt  zu  sein ; 
dort  mag  auch  die  Beschreibung  des  homerischen  Schildes,  in 
welcher  Winzer  die  Linosklage  anstimmen  (V.  570),  entstanden 
sein.  Dagegen  verbreitete  sich  der  Refrain  viel  weiter  und 
trat  überhaupt  zu  KlageHedern.  ^)  Pollux  (1,  38)  nennt  den  Linos 


1)  Auch  AotapoYii;,  vgl.  Apollod.  bei  Schol.  Theoer.  10,  41  f.  Atli.  10, 
416b.  14,  619a  (aus  Semos}.  Eustath.  in  II.  p.  1164,  11.  Ael.  v.  h.  1,  27. 
Tzetz.  Chi).  2,  592  ff.  und  die  Lexikographen;  eine.Probe  bei  Theoer.  10,  42  ff. 

2)  Apollod.  1.  c.  Arist.  Byz.  bei  Ath.  14,  619  c.  Asklep.  bei  Schol.  Eur. 
Rh&i.  892,  ausserdem  oft  bei  Dichtern;  sprichwörtlich  von  einem  kläglichen 
Versemacher  Zenob.  4,  39. 

3)  Aristox.  bei  Ath.  14,  619e. 

4)  Phönizier  1,  244  ff. 

6)  Vgl.  ausser  der  Schrift  von  Brugsch  Jul.  Ambrosch  de  Lino,  Berlin 
1829,  Welcker  kleine  Schriften  1,  8  ff.,  zuletzt  J.  Stamm  er  de  Lino,  Bonn 
1866.  Das  erhaltene  Linoslied  (Bergk  e.  pop.  2)  ist  aus  einem  hexametrischen 
Gedichte  entlehnt. 

6)  Die  frpTjvot  "Ap-ftlo:  erwähnt  auch  Aristides  I  p.  421. 

7)  Paus.  9,  29,  8. 

8)  Z.  B.  im  ersten  Stasimon  des  Agamemnon,  vgl.  Etyra.  M.  p.  35,  1. 
Nach  Herodota  Behauptung  (1,  79,  vgl.  Nymphis  bei  Athen.  14,  620a)  war  der 


I 


Lyrische  Volksdichtung.  25 

und  Lityerses  l^ereits  Gesänge  von  Taglöhnern  und  Bauern. 
Erst  die  alexandrinische  Zeit  verband  Linos  mit  den  Thrakern, 
so  dass  er  als  Dichterphilosoph  und  Urtheolog  erschien.  ^)  Auch 
nach  Arkadien  gelangte  jene  orientalische  Sitte,  da  die  Tegeaten 
bei  der  Ernte  den  Skephros^)  beklagten. 

Soweit  geht  der  Einfluss,  den  der  Orient  auf  die  griechische 
Literatur  ausübte.  ^)  Während  in  der  Kunst  die  Griechen  alles 
handwerksmässige  von  den  Semiten  lernen  konnten ,  war  die 
Dichtung  schon  bei  dem  selbständigen  Auftreten  der  Griechen 
ohne  Zweifel  so  entwickelt,  dass  sie  fremder  Hilfe  nicht  mehr 
bedurfte,  sondern  vielmehr  den  Orient  rasch  überflügelte.  Zu- 
nächst geschah  dies  insoferne,  als  sie  statt  einseitiger  Ausbildung 
der  Lyrik  auf  viel  breiterer  Basis  erwuchs. 


ägyptische  Maneros  (nach  Brugsch  mää-nehra  ,, kehre  wieder")  von  dem  Linos- 
liede  nur  dem  Namen  nach  verschieden  und  hing  gleichfalls  mit  dem  Ackerbau 
zusammen. 

1)  Dionysios  bei  Diod.  3,  67.  Diog.  L.  pro.  3,  4  erwähnt  eine  erdichtete 
Kosmogonie  (Mull ach  fragm.  philos.  1,  155  ff.).  Noch  Dante  (Inf.  4,  139) 
nennt  ihn  unter  berühmten  Philosophen.  Ueber  Citate  iu  den  Fragmenten 
des  Aristobulos  Karinsky  Journal  ministcrva   1877  S.  1   ff. 

2)  Paus.  8,  53,  2  f.  E.  Curtius  Peloponnes  1,  253.  271.  Svi-fpo?  ent- 
spricht ?Yip6c,  bezeichnet  also  die  Dürre.  Ueber  andere  phönikische  Spuren 
Oberhummer  Phönizier  in  Akarnanien  S.  17  ff. 

3)  Die  frommen  Kreise  Englands  denken  freilich  anders ;  Milton  fand 
noch  in  den  griechischen  Dichtern  das  alte  Testament  „ill  imitated"  (Par. 
reg.  IV).  In  modernisierter  Form  lehnt  Gladstone  die  Ilias  an  die  ägyptische 
„Ilias"  des  Pentaur  an. 


2.  Kapitel. 
Epische  Dichtung  vor  Homer. 

Sprichwort  und  Fabel  (Äsop)  —  Märchen  —   epische  Lieder  —  Entwicklung 
vom  Einzelliede  zum  Epos  —  Ausbildung  der  Sagen  —  Vorläufer  Homers. 


Kein  Volk  lebt  blos  in  der  Gegenwart  und  am  wenigsten 
begnügt  sich  die  Dichtung  mit  dem  eben  geschehenden.  Gegen- 
wart und  Vergangenheit,  Lyrik  und  Epos  reichen  sich  in  den 
Mischgattungen  des  Sprichwortes,  der  Tierfabel  und  des  Märchens 
die  Hand.  Das  Sprichwort  wendet  die  Erfahrung  früherer 
Jahre  auf  einen  vorliegenden  Fall  an ;  die  Griechen  drückten 
dieses  Verhältnis,  das  bei  dem  jetzt  üblichen  Präsens  leider 
verblasst  ist,  durch  den  sogenannten  geomischen  Aorist  sehr 
glücklich  aus.  Obgleich  der  reiche  Schatz,  den  namentlich 
späte  Sprichwörtersammlungen  bieten  ^),  in  kundiger  Hand  den 
schönsten  Ertrag  zu  Hefern  verspricht,  ist  er  weder  für  die 
Literaturgeschichte  noch  für  die  Erkenntnis  des  Volksgeistes 
recht  nutzbar  gemacht  ■^) ;  ebenso  notwendig  ist  eine  Vergleichung 
mit  den  neugriechischen  Sprüchen.  ^)  Dem  Epos  steht  die 
Fab  el^),  durch  deren  Verkürzung  viele  Sprichwörter  entstehen  % 
bereits  um  einen  Schritt  näher;  denn  hier  wird  (5ie  Sentenz 
vor  Aller  Augen  aus   einem  Ereignisse,   das   in   der  Zeit   ,,als 


1)  Corpus  paroemiographorum  Graecorum  edld.  E.  v.  Leutsch  et  F.  G. 
Schueidewin,  Gott.  1839—51.  2  Bde.;  Nachträge  Wolff  Philol.  27,  741  flf. 
28,  360  flF.  Finckh  PhUol.  30,  427  fif.  Graux  Revue  de  philol.  n.  s. 
3,  219  ff. 

2)  Vorarbeiten  in  Zell  Ferienschriften  1,  91  ff. 

8)  Wachsmuth  das  alte  Griechenland  im  neuen  S.  46  ff. 

4)  XÖYOC,  aivoc,  }Jiü*oc  (Keller  Jahrbb.  Snppl.  4,  310),  bei  den  Römern 
Apologus. 

5)  Wackernagel  Poetik  S.  118. 


^ 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  27 

die  Tiere  poch  sprechen  konnten"  vorfiel,  gezogen;  diesen 
Vorfall  entrückt  die  beliebte  Einleitung  ,,Asop  erzählte  einmal"  ^) 
oder  auch  ,,Eine  Kyprierin  erzählte  einmal"  ^)  der  Gegenwart 
noch  mehr.  Die  Fabel  erscheint  nicht  als  indogermanisches 
Erbteil,  sondern  gelangte  vielmehr  erst  in  fast  historischer  Zeit 
aus  Vorderasien  nach  Griechenland;  denn  dorthin  weist  die 
Schilderung  verschiedener  Verhältnisse.  ^)  Wo  aber  die  Fabel 
zuerst  entstand,  ist  eine  nicht  zu  lösende  Frage;  Indien  hat 
jedenfalls  gewichtige  Ansprüche  auf  diesen  Ruhmestitel.  *)  Die 
Griechen  selbst  wiesen  die  Erfindung  dem  phrygischen^)  Sklaven 
Aisopos  zu  und  es  ist  in  der  That  nicht  zu  bezweifeln,  dass 
kleinasiatische  Diener  ihren  griechischen  Herrn  die  Fabeln  ihrer 
Heimat  mitteilten.  Eine  andere  Frage  aber  ist,  wie  wir  über 
die  Persönlichkeit  des  Äsop  denken  sollen.  Bereits  Herodot 
(2,  134)  spielt  auf  die  den  Griechen  geläufige  Erzählung  an, 
welche  folgendermassen  lautet:  Äsop  kam  im  Auftrage  des 
Krösus^)  nach  Delphi,  um  dort  zu  opfern  und  Geld  zu  ver- 
teilen; als  er  aber  die  Sittenlosigkeit  der  Delphier  sah,  unter- 
liess  er  es,  worüber  jene  so  erbittert  waren,  dass  sie  ihn  auf 
eine  falsche  Anklage  hin  töteten.  Nach  dem  Willen  des  Apollo 
Hessen  sie  dann  ausrufen,  der  Herr  des  Äsop  solle  ein  Sühnegeld 
holen ,    worauf  sich  ein  Enkel  des  Samiers  ladmon  meldete.  ^) 

1)  Fab.  Aes.  60.  106  Halm. 

2)  Theou  prog.  3  (p.  73  Sp.),  vgl.  v.  Leutsch  Philol.  33,  417. 

3)  O.  Keller  Globus  40,  157. 

4)  A.  Wagener  mem.  des  savants  etrangers  T.  XXV  (1852)  (vgl.  J. 
Grimm  Gott.  Gel.  Anz.  1863  S.  1361  ff.),  entschieden  dagegen  A.  Weber 
indische  Studien  3,  327  ff.,  vermittelnd  Benfey  in  der  berühmten  Einleitung 
zur  Ausgabe  des  Pantschatantra  und  K e  1 1  e r  Jahrbb.  Suppl.  4,  332  ff.;  über 
andere  Theorien  ders.  S.  320  ff. 

5)  Einen  Thraker  nennt  ihn  Heracl.  Pont.  pol.  10  ;  vgl.  Eugeiton  bei 
Suid.  s.  V. 

6)  Er  gilt  daher  als  Zeitgenosse  der  sieben  Weisen  (Ol.  52  Hermippos  bei 
Diog.  L.  1,  7,  Ol.  59  Heraclid.  pol.  10,  Ol.  40  Suid.)  vgl.  Da  üb  Jahrbb. 
123,  244  f. 

7)  Aristoph.  Vesp.  1446  ff.  m.  Schol.  Heracl.  pol.  22.  Plut.  de  sera  num- 
viud.  12.  Ael.  v.  h.  11,  5.  Zenob.  1,  47  u.  A.  Orientalen  und  Byzantiner 
schmückten  die  Geschichte  noch  mehr  aus.  Der  griechische  Roman  (Eber- 
hard fabulae  Eomauenses  Graece  conscriptae  I.  Lpg.  1872  S.  226  ff.),  der 
lange  vor  dem  angeblichen  Verfasser  Maximos  Planudes  entstand,  wurde  oft 
übersetzt  und  bereicherte  selbst  die  Volksliteratur  (z.  B.  Finamore  tradiz. 
pop.  abbruzzesi  I  Nr.  33  le  fatte  de  Jisopre).  Die  arabischen  Sagen  von 
Lokman  hängen  ebenfalls  davon  ab. 


28  2.  Kapitel. 

Welcker^),  der  zuerst  den  sagenhaften  Gehalt  der  ^Erzählung 
erkannte,  nahm  an,  dass  Äsop  eine  blosse  Fiction  sei  und  nichts 
anderes  als  den  Äthiopen,  also  den  Orientalen  ^)  bezeichne.  Die 
Unfreiheit  drücke  den  versteckten  Charakter  der  Tierfabel  aus, 
die  Hereinziehung  des  ladmon  habe  blos  die  Eitelkeit  des 
Enkels  verschuldet.  0.  Keller  kehrte  dagegen  in  seinen  sorg- 
fältigen ,, Untersuchungen  zur  Geschichte  der  griechischen  Fabel"  ^) 
auf  den  konservativen  Standpunkt  zurück.  Wenn  ihm  auch 
zuzugeben  ist,  dass  Welcker  den  Namen  willkürlich  deutete, 
80  ist  es  doch  höchst  wahrscheinlich ,  dass  die  Kleinasiaten 
einem  ihrer  reichen  mächtigen  Herrscher,  deren  letzter  und  be- 
rühmtester Krösus  war,  einen  drolligen  Sklaven  als  Hofnarren 
an  die  Seite  stellten.  Die  Griechen,  zu  welchen  diese  Ge- 
schichte mit  den  Fabeln  gelangte ,  dachten  sich  letztere  bei 
einer  von  Krösus  gesendeten  Festgesandtschaft  nach  Griechen- 
land gebracht  und  der  Delphi  feindliche  Volkswitz  that  das 
übrige.  Was  ladmon  anlangt ,  werden  wir  uns  bei  Welckers 
Annahme  beruhigen  müssen;  Herodots  Bericht  zeigt  deuthch, 
dass  das  Volk,  offenbar  hier  der  beste  Gewährsmann,  Asop  mit 
Sa  mos  nicht  verband.  Alle  Bedenken  sind  freilich  nicht  zu 
heben,  aber  das  ganze  Problem  bedeutet  wenig,  weil  die  Tier- 
fabel den  Griechen  lange  vor  Äsop  bekannt  war.  Wir  finden  ja 
noch  jetzt  eine  Fabel  bei  Hesiod,  der  sie  in  den  Erga  (V.  202  if.) 
den  ungerechten  Richtern  vorhält;  zum  persönlichen  Angriffe 
beutete  diese  Gattung  dann  Archilochos  "*)  weidlich  aus.  Auch 
der  spiessbürgerliche  Frauenspiegel  des  Simonides  wäre  ohne 
sie  nicht  denkbar.  Die  Alten  lasen  sogar  schon  in  einem  dem 
Homer  zugeschriebenen  Gedichte  eine  Fabel. ^)  Stesichoros  endhch 
warnte  in  einem  Gedichte  sehie  Mitbürger  vor  Phalaris,  indem 
er  ihnen  eine  Fabel  erzählte.^)  Auch  in  verlorenen  Lehrgedichten 
scheinen  ahoi  nicht  gefehlt  zu  haben;   so  dürfen  wir  wohl  die 


1)  Kleine  Schriften  2,  228  flf. 

2)  Ebenso  Wilisch  Jahrbb.  123,  168  f.  Preller  ausgewählte  Aufsätze 
S.  440  bringt  daher  den  Negerkopf  auf  delphischen  Münzen  mit  Äsop  in 
Verbindung. 

Z,  Jahrbb.  .Suppl.  4  (1862)  S.  309  flf.,  speziell  S.  374  flf. ;  dazu  Dressel 
«ur  Geschichte  der  Fabel,  Berlin  1876  S.  24  flf. 
4)  Fr.  86.  89.  118. 
6)  Theon  progymn.  p.  73,  15  Sp. 
6)  Arist.  rhet.  2,  20,  vgl.  Ael.  h.  a.  17,  37. 


^ 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  29 

hexametrischen  Fragmente  ^)  deuten.  Im  übrigen  war  die 
äsopische  Fabel  vor  Sokrates,  der  zuerst  einige  in  Verse  brachte, 
durchaus  volkstümlich  ^) ;  besonders  die  Athener  ^)  liebten  es^ 
sie  ihren  Kindern  zu  erzählen  und  das  Publikum  verstand  jede 
Anspielung.  Hier  entstand  auch  die  erste  Sammlung,  über  die 
wir  zugleich  mit  den  wahrscheinlich  im  attischen  Zeitalter  ent- 
standenen Spielarten  später  sprechen  werden. 

Neben  den  Fabeln  hörten  auch  die  Kleinen  gerne  Märchen,, 
die  gerade  wie  bei  uns  oft  mit  den  Worten  ,,Es  war  einmal" 
begannen ;  die  Ammen  erzählten  sie  ihnen,  bald  um  sie  zu  er- 
freuen, bald  um  sie  schrecken.^)  Lamia  war  damals  der  griechische 
Kinderschreck,  wie  sie  es  heute  noch  ist.  ^)  Die  einzige  über- 
lieferte Geschichte^)  dürfte  leider  wie  das  Märchen  von  Amor 
und  Psyche  nichts  anderes  als  eine  von  dem  Sophisten  Dion 
erfundene  Parabel  sein. 

Neben  dem  Märchen  stellt  sich  unmittelbar  die  epische 
Erzähl-ung,  die  dem  historischen  Ereignisse  näher  stehf) 
Sobald  ein  Volk  eine  Geschichte  besitzt,  besingt  es  das,  was 
ihm  besonders  denkwürdig  erscheint ,  berühmte  Helden  (xXsa 
avof/wv)  grosses  Unglück  oder  schwere  Frevel,  in  kurzen  Liedern.*) 
Bald  findet  man  an  ihrer  Einfachheit  nicht  mehr  Genüge  und 
begehrt  grössere  Kunstfertigkeit  der  Erzählung  und  des  Vor- 
trags. Da  aber  solche  Gaben  nur  wenigen  verliehen  sind,  bildet 

1)  Bergk  griech.  Literatur  in  der  Allg.  Encykl.  S.  316  A.  97. 

2)  Stellen  des  Aphthoni,)s,  Plutarch  und  Suidas  beweisen  nicht,  das» 
Äsops  Fabeln  früher  niedergeschrieben  wurden. 

3)  Plato  rep.  2,  377  a;  Hesych.  Kptoö  5iav.ovia. 

4)  Julian,  or.  7  p.  294,  12  H.  u.  A.,  s.  Grasberger  Erziehung  und 
Unterricht  I  227. 

5)  Wachsmuth  das  alte  Griechenland  im  neuen  S.  55  flf. 

6)  Dio  Chrys.  or.  1,  49  ff. ;  er  will  dieses  Heraklesmärchen  am  Alpheios 
gehört  haben. 

7)  lieber  die  Entstehung  eines  Epos  vgl.  Wackerna  gel  Schweiz. 
Museum  I  341  ff.  II  76  ff.  243  ff.,  wieder  abgedruckt  in  seiner  Poetik,  Rhetorik 
und  Stilistik  S.  42  ff.;  Haupt  Verh.  der  sächs.  Gesellschaft  der  Wiss.  1848 
II  100  ff.  Niese  Entwicklung  der  hom.  Poesie  S.  233  ff.  leugnet  alle  Vor- 
stufen der  homerischen  Poesie !  Vgl.  dagegen  die  trefflichen  Bemerkungen 
von  Kammer  Jahrbb.  123,  497  ff.  Auch  für  G.  Hermann  gab  es  einst  vor  Homer 
blos  didaktische  Poesie.  Natürlich  gehen  epische  und  lyrische  Volkspoesie- 
neben  einander  her. 

8)  Die  historischeu  Lieder  der  Neugriecheu  zählen  in  der  Regel  weuigcr 
als  hundert  Verse. 

/ 


30  2.  Kapitel. 

sich  mit  der  Zeit  ein  besonderer  Stand  von  Sängern.  Diesen 
Zustand  schildern  uns  die  homerischen  Dichter  als  achäisch; 
an  jedem  Königshofe  befindet  sich  ein  Sänger  ohne  Nebenbuhler, 
der  nach  der  Mahlzeit  und  bei  festlichen  Gelegenheiten  ein 
episches  Lied  vorträgt,  wie  es  ihm  gerade  die  Muse  eingibt. 
Er  hat  in  der  Regel  von  einem  älteren  die  Kunst  erlernt,  weil 
Phemios  (x  345  ff.)  mit  Stolz  von  sich  selbst  rühmt,  er  sei 
Autodidakt.  Das  Hauptgewicht  ruht  noch  nicht  auf  dem 
schönen  und  reichen  Ausdrucke,  geschweige  denn  auf  der  ge- 
schickten Anordnung  des  Stoffes ,  sondern  ausschhessHch  auf 
der  genauen  und  vollständigen  Aufzählung  der  Ereignisse. 
Dies  ist  es,  was  Odysseus  an  Phemios  lobt^);  darum  heisst  die 
Mutter  der  Musen  ,, Erinnerung"  (Mnemosyne)  und  die  Musen 
selbst  bei  den  Anwohnern  des  Helikon  Mvfj(nrj  (Gedächtnis), 
MsXetY]  (sorgsames  Studium)  und  'AotSi]  (Gesang).  Der  Dichter 
dagegen  trägt  noch  nicht  den  Namen  , .Schaffer"  (TroiYjtigc),  son- 
dern den  allgemeineren  eines  Sängers  (aoiSöc).  Trotzdem  erleidet 
•das  epische  Lied  im  Munde  eines  kunstgeübten  Sängers  eine 
bedeutende  innere  und  äussere  Umgestaltung.  Zunächst  wird 
es  umfangreicher^)  und  genauer,  woraus  wieder  zahlreiche  Re- 
formen entspringen.  Für  das  Volkslied  in  seiner  Schlichtheit 
und  Knappheit  eignet  sich  nur  ein  schlichtes  rasch  vorwärts 
strebendes  Metrum ;  auf  die  Analogie  der  indischen,  italischen 
und  germanischen  Dichtung  gestützt^)  dürfen  wir  uns  die 
epischen  Volkslieder  in  einem  Doppelverse  von  vorherrschend 
jambischen  oder  auch  trochäischem  Gange  gedichtet  vorstellen. 
Während  auch  bei  den  ältesten  epischen  Gesängen,  wie 
wir  zum  Unterschiede  von  jenen  sagen  wollen,  dieser  Zustand 
sich  schwerlich  geändert  haben  wird,  bringt  es  doch  eine  längere 
schulmässige  Gesangesübung  immer  mit  sich,  dass  die  Technik 
nicht  blos  an  Sicherheit  und  Methode  zunimmt,  sondern  auch 
verfeinerter  und  künstUcher  wird.  So  gingen  die  griechischen 
Sänger  —   durch    welche  Mittelstufe,    ist  unbekannt*)  —  von 

1)  »  489  fr. 

2)  Die    parallel    stehenden    Dichtungen    der  Slawen    steigen    oft    bis    za 
tansend  Versen. 

3)  Westphal  allg.  griech.  Metrik  S.  254  flf.;  K.  Bartsch  der  saturnische 
Vers  und  die  altdeutsche  Langzeile.  Leipzig  186T. 

4)  Bergk    über    das  älteste  Versmass  der  Griechen,   Freiburg  1854  und 
Literaturgesch.  I  S.  283  ff.  nimmt  als  Urform  zwei  paroemiaci,  deren  Anfang 


I 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  31 

der  Langzeile  zum  Hexameter  über,  zugleich  erfolgte  ein  voll- 
ständiger Bruch  mit  der  früheren  Dichtungsvveise.  Der  Hexa- 
meter eignet  sich  von  vornherein  nur  für  längere  Gesänge  mit 
breiter  Behandlung  der  Details;  denn  in  ihm  paaren  sich  die 
für  die  Erzählung  notwendige  Raschheit  und  die  zu  Episoden 
und  Schilderungen  dienende  Retardierung  auf  die  glücklichste 
Weise.  Wer  möchte  das  nicht  fühlen,  wenn  er  sich  auf  der 
anderen  Seite  irgend  eine  Ballade  in  Hexametern  abgefasst 
denkt?  Während  nun  ferner  für  die  Volkslieder  strophischer 
Bau  nicht  unwahrscheinlich  ist,  fügt  sich  der  beinahe  unauf- 
haltsam dahingleitende  Hexameter  einer  solchen  Schranke  nicht. 
Nur  wo  er  eigentlich  nicht  an  seiner  Stelle  ist,  also  wo  er 
schildert  oder  aufzählt  oder  ein  in  lyrischen  Metren  gedichtetes 
Lied  ^)  umschreibt,  tritt,  schon  um  dem  Gedächtnis  als  Stütze  zu 
dienen,  eine  gewisse  strophische  Gliederung  ein.  ^)  Das  breitere 
Metrum  "passt  zur  breiteren  Anlage,  die  schon  vieles  für  die 
poetische  Vervollkommnung  gewährt.  Die  Reden  der  auf- 
tretenden Personen  -können  einen  etwas  grösseren  Raum  ein- 
nehmen, während  dem  Volksliede  abgerissene  kurze  Wechsel- 
reden, selbst  ohne  die  Ankündigung  ,,der  oder  der  sprach, 
antwortete"  eigen  sind;  die  einzelnen  Helden  treten,  indem  ihr 
Bild  in  schärferen  und  helleren  Umrissen  erscheint,  deutlicher 
aus  der  Masse  hervor. 

Wir  haben  aber  vorläufig  noch  Einzellieder,  die  irgend 
ein  wichtiges  Ereigniss  aus  einem  Sagenkreise  herausgreifen. 
Der  Leser  der  Odyssee  erfährt,  dass  z.  B.  ein  Sänger  den  Sturm, 
den  die  zürnende  Athene  über  die  heimkehrenden  Achäer  ver- 
hängte (a  326  f.)    oder  den  Streit  des  Achilleus  und  Odysseus 


abgefallen  sei,  au,  E.  v.  Leutsc h  Philol.  12,  12  ff.  einen  daktylischen 
Tetrameter  und  Dimeter;  Fr.  Allen  Ztsch.  f.  vergl.  Sprachf.  24,  556  ff., 
vergleicht  ohne  Glück  indische  Maasse.  Rösch  Korrespondenz blatt  f.  Gel.- 
und  Realschulen  Würtembergs  1881  S.  208  f.  kehrt  wieder  zur  Ansicht  zurück, 
dass  die  Cäsur  auf  einen  Doppelvers  von  je  drei  Hebungen  deute.  Ueber  die 
Fabeln  der  Alten  vgl.  Santens  Kommentar  zu  Terentianus  Maurus.  In  den 
Apollokult  kam  der  Hexameter  erst  durch  das  Epos,  nicht  umgekehrt;  dies 
beweist  der  Dialekt  der  Orakel  und  der  ganze  Charakter  des  Verses. 

1)  ii  723  ff.,  vgl.  zuletzt  Max  Seibel,  die  Klage  um  Hektor  im  letzten 
Buche  der  Ilias,  München  1881. 

2)  Beloc h  Rivista  di  filol.  1875  S.  305—27  will  bei  Homer  auch  sonst 
Strophen  von  je  zwei  oder  vier  Verse  durchführen. 


32  2.  Kapitel. 

(0-74  fF.)  oder  auch  als  grösseres  Thema  die  List  mit  dem 
hölzernen  Pferde  und  die  daran  sich  knüpfende  Zerstörung 
Trojas  {d-  499  ff.)  zum  Gegenstande  seines  Liedes  wählte.  Auf 
dieses  Herausgreifen  aus  der  Sagenmasse  bezieht  sich  der  Aus- 
druck £v{^ev  eXcöv  (d-  500). 

Durch  die  eifrige  Thätigkeit  mehrerer  Jahrhunderte  ent- 
stehen so  ganze  Reihen  oder  Cyklen  von  Liedern,  die  eine 
ziemlich  zusammenhängende  Kette  von  Ereignissen  darstellen. 
Auf  dieser  Stufe  sind  die  meisten  Völker  stehen  geblieben,  ich 
nenne  nur  der  massenhaften  Produktion  wegen  die  Liedercyklen 
der  Slawen,  der  .Finnen^)  und  der  türkisch-tatarischen  Stämme.^) 
In  organischer  Entwicklung  kann  aus  solchen  Liederreihen  nur 
ein  agglutinierendes  Epos^)  entstehen,  d.  h.  jene  können  durch 
einen  von  aussen  hineingetragenen  Grundgedanken  oder  die 
Personeneinheit  zusammengehalten  und  Unebenheiten  ausge- 
glichen werden,  so  dass,  wiewohl  von  eigentlich  poetischer  Kom- 
position keine  Rede  ist,  der  blosse  Verstand  gegen  eine  solche 
chronikartige  Erzählungsweise  nichts  einzuwenden  hat.  Auf 
solche  Weise  entstanden  in  Spanien  das  Poema  del  Cid  und 
die  Cronica  rimada  del  Cid  aus  einem  älteren  Liederbuche,  dem 
Romancero  del  Cid.  Aehnliches  gilt  von  dem  Nibelungenliede 
und  den  Epen  des  griechischen,  keltischen  und  französischen 
Mittelalters,  wenn  anders  wir  hier  wirklich  von  Epen  sprechen 
wollen. 

Denn  ein  wahres  Epos  mit  einheitlicher  Handlung  entsteht 
erst  dann,  wenn  der  Dichter  es  verschmäht,  hier  einen  Helden 
von  seiner  Geburt  oder  gar  von  der  Hochzeit  seiner  Eltern  an 
zu  begleiten  ,  dort  einen  Krieg  mit  allen  seinen  Gründen  und 
Ursachen  der  Reihe  nach  zu  erzählen  Er  rauss  mit  dem 
Blicke  des  Genius  den  richtigen  Moment,  in  dem  sein  Held 
zur  höchsten  Bedeutung  emporsteigt,  erschauen,  er  muss  im 
Kriege  den  entscheidenden  Wendepunkt,  nach  dem  der  endliche 
Ausgang  nur  mehr  eine  Frage  der  Zeit  ist,  erkennen.  Ein 
solches    Epos    entsteht    ebenso    wenig    auf   organischem    oder 


1)  Unter  dem  Namen  Kalewala  von  Lönnrot  zusammengefa.sst. 

2)  W.  Radioff  die  Sprachen  der  türk.  Stämme  Südsibiriens  und  der 
dsungarischen  Steppe  I.  Petersb.  1866-73,  4  Thle.;  Berge  die  Dichtungen 
transkaukasischer  Sän;jer  1868. 

3)  Der  Auadruck  rührt  von  Steiuthal  her. 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  33 

mechanischem  Wege  aus  Liederreihen  als  die  Götterideale  aus 
den  Typen,  sondern  erst  das  Wunder  des  Genies  stellt  einen 
scheinbaren  Zusammenhang  her.  Diesen  Schritt  machte,  wenn 
wir  recht  sehen ,  zuerst  der  Dichter  der  Rias ,  dem  wohl  der 
Name  Homer  zukommt,  indem  er  durchschaute,  dass  der  Ruhm 
Achills  positiv  in  der  Erlegung  des  trojanischen  Vorkämpfers, 
negativ  in  der  furchtbaren  Niederlage  der  Achäer,  als  er  sie 
verlassen  hat,  gipfelt;  gleichzeitig  konnte  es  Homer  nicht  ent- 
gehen, dass  mit  Hektors  Tod,  auch  wenn  Achill  später  selbst 
fiel,  der  trojanische  Krieg  eine  entscheidende  Wendung  nahm. 
Mögen  diesem  Epos  auch  im  Einzelnen  Mängel  ankleben,  z.  B. 
Verletzung  der  Wahrscheinlichkeit,  um  die  Komposition  zu 
fördern,  sie  erscheinen  als  unvermeidlich ,  sobald  man  sich  die 
Kühnheit  des  Schrittes  vergegenwärtigt.  Ein  ebenbürtiger 
jüngerer  Dichter  fühlte  hier  das  Geheimnis  der  epischen  Kom- 
position erschlossen.  Nachdem  er  aus  den  Sagen  von  der  Heim- 
kehr der  achäischen  Helden  die  Odysseusmythen  ausgewählt, 
begann  er  nicht  mit  der  Abfahrt  von  Troja;  er  hebt  vielmehr 
mit  dem  Augenblicke  an,  wo  ihm  die  Heimkehr  durch  den 
offenkundigen  Willen  des  Zeus  unabänderlich  sicher  steht, 
schreitet  aber  zu  vielleicht  höherer  Kunst  als  Homer  vor,  weil 
er  es  verschmähte,  die  früheren  Erlebnisse  seines  Helden  blos 
andeutungsweise  oder  episodisch  zu  behandeln.  Der  Sänger 
wählte  lieber  die  Mittel  der  Selbsterzählung,  wobei  er  vielleicht 
auf  der  Gewohnheit  seines  Vorgängers  fusste,  irgend  eine  Moral 
an  einem  früheren  Vorgange  exempHficieren  zu  lassen;  vielleicht 
regte  ihn  auch  die  alte  Sitte  des  Orientes  an,  nach  welcher  in 
den  Inschriften  die  Könige  ihre  Regierungsthaten  selbst  er- 
zählten. ^) 

Indem  so  ein  kleines  Kapitel  der  Sagenwelt  ausgesucht 
wurde,  konnte  der  Epiker  es  nach  allen  Richtungen  hin  durch- 
arbeiten: die  Charaktere  vertiefen,  dem  Detail  grössere  Auf- 
merksamkeit zuwenden ,  die  eigene  Phantasie  gegenüber  der 
Ueberlieferung  walten  lassen  und  so  auch  zu  einer  selbständigen 
Stellung  als  wirklicher  ,, Schaffer"  gelangen.  ^) 


1)  Das  mittelirische  Epos,    welches  die  Finn  (Fingal)  •  Sagen  zusaramen- 
fasst,  gebraucht  denselben  Kunstgritf,    vgl.  Windisch  irische  Texte  S.  150. 

2)  Nicht   wenige   glauben  freilich,    Homer   klebe  ängstlich  au  den  Nach- 
richten der  alten  Lieder;  wie  viel  Freiheit  das  Epos  der  Phantasie  gewährte, 

iittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatui'.  3 


34  -■  Kapitel. 

Den  Späteren  ging  in  dem  Eifer,  Homer  äusserlich  zu  er- 
gänzen und  seine  glanzvolle  Technik  nachzubilden,  jenes  Ge- 
heimnis der  Komposition  verloren.  Die  hochgerühmte  Thebais 
scheint  jedoch,  wenn  wir  aus  dem  Proömium  ^Singe,  o  Muse, 
das  durstende  Argos,  aus  dem  die  Fürsten  auszogen"  so  viel 
schliessen  dürfen,  die  Schicksale  des  Ödipus  erst  später  nach- 
geholt zu  haben ;  auch  Arktiuos'  Epen  dürfen  nicht  mit  den 
übrigen  Liedercyklen  zusammengeworfen  werden.  Aristoteles 
entdeckte  mit  scharfsinnigem  Blicke  den  fundamentalen  Unter- 
schied zwischen  homerischem  und  kyklischem  Epos  wieder  und 
Horaz  sagte  es  ihm  nach ;  aber  obgleich  seine  Worte  'in  medias 
res'  und  'ab  ovo'  zu  geflügelten  wurden,  scheint  der  Gedanken- 
inhalt derselben  nicht  in  gleicher  Weise  Gemeingut  zu  sein. 

Während  die  vergleichende  Betrachtung  anderer  Literaturen 
eine  (wenn  auch  hypothetisclie)  Rekonstruktion  der  inneren  Ent- 
wicklung eines  Epos  ermöglicht,  fehlen  uns  zu  einem  ähnlichen 
Versuche,  was  die  formale  Ausbildung  anlangt,  alle  Anhalts- 
punkte. Ich  beschränke  mich  daher  auf  die  oben  gegebenen 
Andeutungen  und  eine  Charakteristik  der  homerischen  Epen, 
die  unten  ihren  geeigneten  Platz  finden  wird. 

Dagegen  ist  es  unumgänglich  notwendig,  da  bei  den  Griechen 
mehr  als  sonst  irgendwo  der  Stoff  auf  die  Form  einwirkte,  den 
Ausbau  der  epischen  Sagen,  so  gut  es  eben  geht,  anzudeuten.  ^)j 
Womit  beschäftigen  sich  also  die  epischen  Lieder  der  Griechen ?j 
Einen  bedeutenden  Anteil  haben  wirkliche  historische  Vorgänge;] 
de; in  im  Liede  leben  herrliche  Heldenthaten,  schwere  Unglücks- 
schläge, grausige  Frevel,  überhaupt  alles,  wodurch  ein  Mensch 
die  Schranken  der  gewöhnlichen  Verhältnisse  durchbriciit,  fort  ^), 
so  dass  äot5i[i.o?  geradezu  berühmt  und  berüchtigt  (Z  358)  heisst. 
In  poetischer  Verklärung  erfüllt  die  achäische  Periode  mit  ihren 
kyklopischen  Burgen  und  wunderbai-en  Schatzhäusern,  mit  ihren 
Ruhmesthaten    und  Greueln   den  Sinn   des   epischen  Sängers ; 

möge  die  fast  gäuzlich  wenn  auch  meist  im  Anschlüsse  an  die  älteren  Epen 
erdichtete  Äthiopi.s  des  Arktiuos  lehren. 

1)  Vgl.  auch  Mülleu hoff  deutsche  Altertumskunde  I  S.  8  ff.,  der  eine 
wesentlich  verschiedene  Ansicht  vertritt.  AUe  Mühe  wäre  umsonst,  wenn 
Niese  die  Entwickelung  der  hom.  Poesie,  Berlin  1882  Eecht  hätte;  er  be- 
trachtet die  troische  Sage  als  reine  Erfindung  der  homerischen  Dichter,  was 
dem  antiken  Geiste  ganz  zuwider  läuft. 

2;  Vgl.  Hom.  Y  204.  *  580.  w  197  ff. 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  35 

■was  früher  war,  ist  längst  vergessen  und  verschollen ;  die  Um- 
wälzungen der  späteren  Zeit  aber  liegen  den  Dichtern  noch  zu 
nahe,  als  dass  sie  schon  der  romantische  Schimmer  der  Sage 
hätte  umwehen  können.  Darum  hören  wir  immer  von  den 
alten  Herrschersitzen,  als  ob  sie  fort  und  fort  ständen.  Die 
Erinnerungen  an  die  achäische  Periode  sind  also  der  historische 
Unterbau,  auf  dem  sich  das  Epos  erhebt.  Es  unterliegt  aber 
keinem  Zweifel,  dass  die  Griechen  aus  Asien  bereits  anders- 
geartete Sagen ,  die  weit  mehr  zu  poetischer  Gestaltung  ein- 
luden, in  ihre  späteren  Wohnsitze  brachten.  Alle  indogermanischen 
Stämme  besitzen  als  Gemeingut  gewisse  mythologische  Ideen, 
deren  Niederschlag  zur  pseudohistorischen  Sage  wurde  und  mit 
der  eigentlichen  Geschichte  verschmolz.  Der  Kampf  des  Lichtes 
und  der  Finsternis,  der  winterlichen  Kälte  mit  dem  Grün  des 
Frühlings,  der  dunklen  Wolken  mit  Sonne  und  Mond  erscheint 
ihnen  als  Kampf  eines  Heldengottes  mit  einem  Drachen  oder 
anderen  Ungetüm.  Bei  den  Indern  besiegt  Indra,  bei  den 
Deutschen  Siegfried  die  Schlange.  In  Griechenland  dagegen 
verzweigt  sich  die  Sage :  Bei  den  Doriern  übernimmt  Apollo 
oder  Herakles  das  Amt,  an  den  Küsten  des  Peloponnes  treffen 
wir  Perseus  und  Bellerophon,  die  über  das  Meer  nach  Klein- 
asien weisen,  und  Athen  nennt  im  Hinblick  auf  Kreta  den 
Theseus.  Am  Pehon,  wo  ostgriechische  Seefahrer  sitzen  ^),  geht 
das  Andenken  an  den  Drachenmord  verloren,  während  der 
Name  des  Drachentöters  bleibt;  denn  Achilleus  heisst  offenbar 
nichts  anderes.  ^)  Ausserdem  bewahrt  die  Pelionsage  auch  die. 
Erinnerung  an  den  überseeischen  Zug,  der  bei  jenen  drei 
anderen  Helden  der  Küstenstämme  gleichfalls  auftritt.  Nimmt 
man  dazu,  dass  Helena  sicher,  wie  schon  der  Name  ausdrückt, 
eine  Lichtgottheit  ist ;  so  liegt  die  Folgerung  nahe ,  Helenas 
Entführung  und  ihre  Wiedererkämpfung,  deren  Verdienst  nach 
allen  Berichten  in  erster  Linie  Achill  zusteht,  sei  nichts  anderes 
als  ein  Reflex  der  alten  indogermanischen  Sage,  welche  unter 
mannigfachen  Gestalten  erzählt,  wie  das  Licht  (gewöhnhch  in 
Rindern  personificiert)  durch  den  Unhold  der  Finsternis  ent- 
führt   und    vom    Sonnenhelden    nach    hartem   Kampfe    befreit 


1)  E.  Curtius  die  Jonier  S.  24  f. 

2)  Es  sind  jedoch  nicht  blos  Wassermythologeu,  die  'Ay.X/.ey^  lieber  mit 
'AysXwo?  und  'A/spwv  (deutsch  Ache)  zusammenstellen. 

3* 


30  2.  Kapitel. 

wird.  ^)  Ohne  historische  Stütze  würde  dieser  Mythus  zum 
blossen  Märchen  herabsinken ;  er  findet  jedoch  in  allen  Ländern 
von  bedeutender  Vergangenheit  an  dieser  einen  starken  Rück- 
halt. In  Deutschland  verbindet  sich  die  Siegfriedsage  mit  den 
liistorischen  Schauerthaten  des  fünften  und  sechsten  Jahr- 
hunderts; die  Griechen  dachten  dagegen,  wenn  sie  hörten,  dass 
der  Götterheld  dem  Räuber  über  das  Meer  nacheilte,  am  ersten 
an  die  grossartigen  Auswandererschaaren,  die  das  ägäischeMeer 
durchzogen,  um  sich  an  der  asiatischen  Küste  eine  neue  Heimat 
zu  suchen.  Dort  aber  lokalisierte  man  den  Wohnsitz  des  Räubers 
in  Ilion ,  teils  weil  dieser  Name  am  meisten  an  die  ,, Höhle" 
des  Mythus,  wo  der  Raub  versteckt  wurde,  erinnerte,  teils  weil 
dieser  alte  Herrschersitz  wirkHch  von  den  Flammen  vernichtet 
worden  war.  ^)  Indem  nun  ein  scheinbar  historischer  Rachezug 
sich  ergab,  wurde  Helena  aus  einer  Lichtgöttin  zur  Königin 
von  Sparta,  deren  Zurückholung  vor  allem  dem  berühmten 
Geschlechte  der  Atriden  oblag.  Mythus  und  Geschichte  ver- 
einigten die  Griechen  so ,  dass  Achilleus'  Teilnahme  entweder 
durch  einen  Rachebund  oder  durch  die  Suzeränität  von  Mykenä 
erklärt  wurde.  Der  Ehrgeiz  der  Adelsgeschlechter  ruhte  nun 
nicht,  bis  die  zurückholenden  Helden  fast  aus  ganz  Griechen- 
land zusammengekommen  zu  sein  schienen.  Bei  einem  Vereine 
achäischer  Helden  gebührte  aber  der  materiellen  Macht  nach 
die  Führung  unbestritten  Agamemnon ,  dem  Fürsten  von  My- 
kenä. So  entwickelt  sich,  wie  bei  Herakles  und  Eurystheus, 
ein  tragischer  Zusammenstoss  des  idealen  Mythus  und  der 
nüchternen  Wirklichkeit.  Jener  rächt  sich  an  dieser,  indem  die 
Sage  sehr  viele  Heldenthaten  des  Achilleus,  jedoch  von  Aga- 
memnon keine  einzige  zu  berichten  weiss.  ^) 

Wo  hat  sich  aber  nun  die  endgiltige  Mischung  von  Ge- 
schichte und  mythischem  Niederschlage  vollzogen?  In  der  Regel 
entscheidet  man  sich  dahin,  dass  die  Jonier  von  den  Äoliern 
bereits    den    Hauptteil    des    troischen    Sagenkreises   ausgebildet 


1)  Oskar  Meyer  qnaestiones  Homericae,  Boon  1867.  Forchhammer  sieht 
bekanntlich  im  troischen  Kriege  den  Kampf  der  Gewässer  mit  dem  troischen 
Lande. 

2)  Darch  Hchliemanns  Verdienst  ist  allbekannt,  dass  die  zweite  (nicht  wie 
er  früher  meinte  die  dritte)  seiner  Städte  durch  Feuer  unterging. 

3)  Der  Pelide  stirlit  wie  Siegfried  und  Ko.stem  durch  Meuchelmord. 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  37 

Überkämen  und  nur  einiges,  namentlich  die  Neieidensagen  auf 
eigene  Hand  hinzufügten.  Smyrna,  der  an  der  Grenze  gelegene 
Zankapfel  beider  Stämme,  soll  dabei  die  Rolle  des  Tausch- 
marktes gespielt  haben.  Wenn  auch  in  Schottland,  das  sicher 
den  grössten  Teil  seiner  Heldensage  von  Irland  empfing ,  ein 
Beispiel  vorliegt  ^),  ist  es  doch  rätlich,  vor  einer  so  bedenklichen 
Annahme  die  Verhältnisse  genauer  zu  untersuchen.  Jene  Be- 
hauptung entspringt  besonders  aus  der  Hypothese,  dass  der 
troische  Krieg  gleichsam  eine  prähistorische  Fatamorgana  der 
äolischen  Wanderung  sei^),  eine  Hypothese,  der  jeder  Halt 
fehlt.  Die  Aolier  haben  vielmehr  mit  dem  trojanischen  Kriege 
weit  weniger  als  die  Jonier  zu  thun  ;  denn  die  Achäer  gehören 
nicht  zu  den  äolischen  Stämmen  %  da  schon  in  den  hesiodischen 
Eöen,  die  doch  in  Mittelgriechenland  entsprang,  der  Stammvater 
Achaios  nicht  mit  Aiolos  zusammensteht,  sondern  als  Bruder 
des  Ion  gilt.  Ferner  berichten  die  Alten  nirgends,  dass  Achäer 
an  der  äolischen  Kolonisation  teilnahmen,  womit  man  die  seit 
Hellanikos  populär  gewordene  Behauptung,  ein  Atride  habe  den 
Zug  geführt,  nicht  verwechseln  möge;  denn  wie  wir  aus  den 
Sagen  von  der  dorischen  Wanderung  erkennen,  kann  der  Führer 
einem  anderen  Stamme  als  seine  Schaaren  angehören.*)  Wahr- 
scheinlich ist  jedoch  jene  Erzählung  von  einem  Atriden^)  nicht 
weniger  als  die  von  den  Herakliden  ein  politisches  Märchen, 
und  selbst  wenn  sie  wahr  wäre ,  würde  sie  nur  darauf  führen, 
dass  die  Fürsten  des  asiatischen  Äolis  ein  persönliches  Interesse 
an  Liedern,  welche  die  Thaten  der  Atriden  feierten,  hatten. 
Duncker*^)  will  mit  Hilfe  der  rätselhaften  Magneten  am  Sipylos 
auch  Achilleus  hereinbringen,  indes,  wie  mir  wenigstens  scheint. 


1)  W indisch  irische  Texte  S.  153  ö. 

2)  Besonders  E.  Curtius,  griech.  Gesch.  I''  118  f.;  man  nimmt  auch 
■wohl  an,  die  homerischen  Epen  hätten  den  Mut  der  kämpfenden  Äoler  be- 
geistert. Aber  die  Phormiux  erklingt  nur  im  Frieden,  wenn  kein  Feind  zu 
fürchten  ist;  Achilleus'  Unthätigkeit  wird  dadurch  am  deutlichsten,  dass  er 
spielt  und  singt.  Des  Sängers  Platz  ist  vielmehr  im  Königshause,  wenn  dem 
Frieden  keine  Gefahr  droht. 

3)  Strabo  8,  513,  tler  allein  die  Achäer  zu  den  Äoliern  rechnet,  ist  be- 
kanntlich hierin  ohne  Autorität. 

4)  Vgl.  Paus.  7,  2,  2. 

5)  Schon  über  seinen  Namen  schwanken  viele. 
ß)  Gesch.  des  Alterthums  V^  166. 


38  2.  Kapitel. 

oline  Glück.  Der  Kern  der  Bevölkerung  stammt  vielmehr  aus 
BOotien^),  deshalb  hat  er  mit  den  trojanischen  Sagen  nichts 
zu  thun. 

Wie  zahlreiche  und  feste  Bande  knüpfen  dagegen  die 
Jonier  an  den  troischen  Sagenkreis!  Die  zuvor  in  Masse  den 
Norden  und  Osten  des  Peloponnes  besiedelt  hatten,  wussten 
von  ihren  einstigen  Zwingherrn ,  von  der  Macht  und  deiiL 
Reichtume  der  Atriden^)  und  von  der  Heldenhaftigkeit  des 
Diomedes  zu  erzählen.  Die  Minyer  ^),  einst  am  Pelion  sesshaft^ 
und  die  Molosser*),  die  Achill,  dem  Ahnen  ihrer  Könige,  gött- 
liche Ehren  erwiesen,  berichteten  von  der  Jugendkraft  und  dem 
frühen  Tode  ihres  Heros.  ^)  Des  alten  Nestor  wortreiche  Weis- 
heit und  die  liebenswürdige  Gestalt  seines  Sohnes  fanden  durch 
ihre  Nachkommen ,  welche  die  Gewinnung  mehrerer  jonischen 
Städte  leiteten^),  den  gebührenden  Ruhm.  Die  Seeleute  von 
Salamis,  dem  alten  laonien,  werden  den  Ruhm  der  Äakiden 
nicht  untergehen  haben  lassen.  Endlich  fehlten  auf  den  Flotten, 
die  gegen  Osten  schwammen,  gewiss  auch  die  Schiffer  des- 
jonischen  Meeres  und  die  raublustigen  Söhne  Kretas  nicht. 
Alle  diese  lokalen  Sagen  gruppierten  sich  um  den  Mythos  von 
Helenas  Raub.  Kleinasiatische  Mythen  traten  in  geringer  Menge 
hinzu,  weshalb  von  den  Troern  nur  der  Herrscher  selbst  und 
der  ursprüngliche  Hauptheld  Ihons  ^),  der  ,, Kämpfer"  genannt, 
der  den  einheimischen  Bogen  führt,  asiatische  Namen  tragen.^) 
Die  Jonier  haben  sie  aus  anderen  Quellen  als  die  Aoler  erhalten. 


1)  Orion  im  Et.  M.  37,  23  ;  über  politische  Verbindung  iu  .späterer  Zeit 
Thac.  3,  2,  2.  7,  57,  5.  8,  5,  2.  100,  3;  Hektors  Gebeine  sollten  in  Theben 
ruhen  (Paus.  9,  18,  6).  Die  Chronographen  setzen  den  Einfall  der  Böoter 
und  die  äolische  Wanderung  gleichzeitig  (sechzig  Jahre  nach  Trqjas  Fall), 
dagegen  der  Zug  der  Dorer  erst  zwanzig  Jahre  später. 

2)  In  Klazomenä  genoss  Agamemnon  Heroenehren  (Paus.  7,  5,  11) 
ephesische  Sagen  knüpfen  sich  an  ihn  (Guhl  Ephesiaca  130  f.). 

3)  Herod.  1,  146. 

4)  Herod.  1,  146. 

6)  Nach  Parthenios  c.  5.  6  bewohnten  Magneten  von  Pherä  auf  ihren 
Wanderzügen  eine  Zeit  lang  Ephesos. 

6)  Mimn.  fr.  9.  10;  vgl.  Herod.  1,  147.  Strb.  14,  633.  Pau.s.  7,  2. 

7)  Die  alte  Bedeutung  des  Paris  schimmert  noch  in  der  Tötung  des 
Achilleu.s  durch. 

8)  Die  gelehrte  Genealogie  in  Y  der  Ilias  ist  später  zugedichtet;  Äneas 
tritt  wenigstens  in  den  älteren  Partien  der  Ilias   nicht  so  stark  hervor,    das» 


Epische  Diclitnng  vor  Homer.  39 

weil  sie  den  Herrscher  statt  Perramos  Priamos  ^)  nennen.  Auch 
Hektor  scheint  nicht  von  den  griechischen  Sängern  rein  er- 
funden, da  nach  Hesychios  sein .  eranischer  Name  Dareios  „der 
Besitzer"  war;  aber  andererseits  war  seine  Geschichte  bei  den 
Epiroten  und  den  ihnen  verwandten  Messapiern  lokaUsiert^),  so 
dass  man  fast  vermuten  möchte,  Hektor  sei  als  Gegner  des 
Achilleus  von  Nordgriechenland  nach  Asien  gewandert.  Auf 
jeden  Fall  bedurfte  es  zu  diesen  wenigen  Zügen  nicht  der  un- 
mittelbaren Nachbarschaft  Jlions;  der  Anblick  der  hohen  Gräber 
und  des  Burgberges  mit  seinen  Ruinen  erregte  die  Phantasie 
des  jonischen  Küstenfahrers  ^)  und  erweckte  die  Erinnerung  an 
die  alten  Kämpfe.  Was  bedurften  da  die  Jonier  ihrer  nördlichen 
Nachbarn  ?  Wie  hätte  der  Reiche  von  dem  Armen  borgen 
sollen?  Die  Jonier  hätten  schwerlich  fremde  Sagen  so  eifrig 
gepflegt  und  ihre  eigenen  Herren  über  denen  eines  anderen 
Stammes  vernachlässigt. 

Da  die  Sage  zwischen  dem  troischen  Zuge  und  der  Anlage 
der  hellenischen  Kolonien  ursprünglich  nur  wenige  Berührungen 
zuliess,  mussten  nach  Erreichung  ihres  Zieles  die  überlebenden 
Helden  wieder  in  ihre  Heimat  kehren;  weit  entfernt,  sich  an 
der  schlichten  Heimkehr  genügen  zu  lassen,  benützten  die 
Griechen  oder,  wie  ich  lieber  sofort  sagen  will,  die  Jonier  jene 
als  historischen  Hintergrund  für  die  Schiffererzählungen,  die  in 
ihren  Städten  aus  allen  Weltgegenden  zusammengeflossen  waren. 
Die  meisten  Wunder  barg  für  die  älteste  Zeit  das  Mittelmeer, 
in  das  zuerst  jonische  Schiffer  von  Phokäa  .eindrangen.  Wen 
hätten  sie  lieber  als  ihren  Patron  haben  können  als  Odysseus, 
den  Beherrscher  der  westlichsten  Inseln  Griechenlands,  die  jenen 
Wunderländern  am  nächsten  lagen,  zumal  ihn  auch  seine 
echt  griechische  Schlauheit  zu  der  Rolle  befähigte?  Mit  seiner 
Heimkehr  verbanden  sich  also  zunächst  die  geographischen 
Märchen,    die    den    sogenannten    Nostos    ausmachen.*)     Auch 

man    eine    Beeinflussung   der    Sänger    durch    die    Äneaden    von   Skepsis    an- 
nehmen dürfte. 

1)  Diese  Form  beruht  nicht  etw^a  auf  Volksetymologie,  da  erst  ApoUodor 
und  Hygin  eine  etymologische  Sage  angeben. 

2)  Deecke  Rhein.  Mus    36,  581. 

3)  Vgl.  die  schönen  Verse  der  Ilias  H  87  ff. 

4)  Gerland   altgriechische    Märchen   in   der   Odyssee,    Magdeburg  1869, 
Jülg  die  griechische  Heldensage  im  Wiederscheine  bei  den  Mongolen,  Verh. 


40  '^-  Kapitel. 

phönikisches  Gut  mag  darin  stecken;  aber  wer  möchte  die 
Heimat  der  über  die  ganze  Welt  zerstreuten  Erzählungen  be- 
stimmen? Die  Blendung  des  einäugigen  Menschenfressers  kehrt 
beispielsweise  unzählige  Male  auf  der  ganzen  Erde  wieder.  ^) 
Die  Jonier  knüpften  sie,  weil  sie  die  unpersönlichen  Geschichten 
nicht  hebten ,  an  die  Person  des  Odysseus.  Dazu  kam  noch 
eine  wahrscheinlich  mythologische  Sage  ^) ,  wie  der  Held ,  der 
lange  in  der  Ferne  weilt,  heimgekehrt  seine  Gattin  im  Begriffe 
findet,  dem  ungestümen  Freier  nachzugeben;  Müllenhoff  ver- 
gleiciit  die  deutsche  Orendelsage,  deren  Träger  auch  wohl 
Heinrich  der  Löwe  oder  I^rzog  Ernst  heisst.  ^)  Die  Mischung 
dieser  drei  verschiedenen  Bestandteile  vollzog  sich  wahr- 
scheinUch  schon  lange  vor  unserer  Odyssee,  da  in  ihr  das 
mythologische  Element  wenigstens  für  den  gewöhnlichen  Menschen 
kaum  bemerkbar  ist. 

Der  trojanische  Sagenkreis  hat,  weil  sich  das  Volk  auch 
in  der  Sagengeschichte  immer  Lieblinge  erwählt,  die  eifrigste 
Ausbildung  erfahren.  Bei  den  Deutschen  war  es  Siegfried, 
während  die  zwiespältige  Natur  der  Griechen  in  Achilleus 
und  Odysseus  sich  verkörpert  fand.  Weil  sie  die  Grundzüge 
der  troischen  Sagen  als  allgemein  bekannt  voraussetzen,  halten 
es  die  homerischen  Dichter  nicht  für  notwendig,  ihre  Zuhörer 
über  die  auftretenden  Haupthelden  zu  orientieren;  z.  B.  heisst 
Patroklos  das  erste  Mal  einfach  der  Menoitiade  und  Achilleus 
trägt  den  Beinamen  des  Schnellen,  worüber  uns  jetzt  erst  Pindar 
Aufschluss  gibt. 


der  Philologeuvers.  in  Wfirzburg.  1868  S.  58  ff.,  auch  Fr.  Schwartz  Ztsch. 
f.  Gyinn.- Wesen  1863  S.  465  ff.;  Kasp.  Schnorf  der  myth.  Hintergrund  im 
Gadrunlied  und  in  der  Odyssee,  Zürich  1879;  Skylla  lebt  noch  iin  neu- 
griechischen Märchen  fort  (Passow  carm.  pop.   Graeca  401). 

1)  am  vollständigsten  Nyrop  sagnet  om  Odysseus  og  Polyphem  in  Nor- 
disk  Tidskrift  for  Filologi  N.  R.  V  Nr.  13,  dazu  Liebrecht  Literaturblatt 
f.  gerni.  u.  rom.  Philol.  1882  Nr.  1,  Finamore  trad.  pop.  abbruzzesi  I 
Nr.  38 ;  eine  ol>erflächliche  Aehnlichkeit  hat  die  chiische  Sage,  wie  der  Meer- 
riese Orion  geblendet  wird  (Prell er  griech.  Myth.  1='  369);  vgl.  auch  W. 
Grimm  die  Sage  von  Polyphem  (aus  den  Abb.  der  Berliner  Ak.  1867). 

2)  E.  W.  Osterwald  hom.  Forschungen  I.  Hermes- Odysseus,  Halle  1853, 
Steinthal  über  Homer  und  insbesondere  die  Odyssee,  Zeitschr.  f.  Völker- 
Iksych.  7,  1  ff. 

8}  Bartsch  Herzog  Krnst  S.  CXIV  ff. 


% 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  41 

Daneben  spielen  aber  die  homerischen  Gesänge  oft  auf 
andere  Sagenkreise  an^);  dies  ist  auch  deshalb  von  Interesse, 
weil  wir  sehen ,  dass  lokale  Sagen  in  dem  vielzersplitterten 
Griechenland  die  Marksteine  eines  Gemeinwesens  oder  eines 
Stannnes  überschritten  und  in  die  entferntesten  Stätten  hel- 
lenischer Kultur  drangen,  sobald  die  Liedform  ihnen  eine  natio- 
nale Bedeutung  verheben  hatte.  Die  Argonautensage  war 
wohl  bei  den  Joniern  entstanden  ^) ;  doch  teilt  die  IHas  vorerst 
nur  mit,  dass  lason  nach  Lemnos  schiffte  (H  467  ff.  <I>  41). 
Die  weitere  Ausdehnung  der  Fahrt,  die  erst  nach  dem  Muster 
der  Odyssee  erfolgte,  wird  blos  in  Interpolationen  des  zwölften 
Gesanges  der  Odyssee  (besonders  V.  69  ff.)  angedeutet;  hier 
heisst  Argo  bereits  allbekannt  (räat  [xlXoooa).  Das  Fürstenhaus 
der  Neleiden  machte  den  Joniern  die  pylischen  Sagen  geläufig.  ^) 
In  Diomedes  hängen  Thebens  grausige  Schicksale  mit  dem 
trojanischen  Kriege  zusammen.  '*)  Korinthisches  kommt  Z  152  ff. 
X  592  vor,  Ätolisches  I  533  ff.  und  die  Aloiden  treten  E  385  ff. 
auf  Nach  Thessalien  weist  der  Kampf  der  Lapithen  und  Ken- 
tauren. Von  diesem  bunten  Gemische  hebt  sich  die  Gestalt 
des  Herakles  deutlich  ab.  Sagen  von  urwelthcher  Wildheit  ^) 
stehen  aber  neben  anderen  von  milderem  Geiste ,  z.  B.  bedarf 
er  e  362  ff.  Y  Üb  der  Hilfe  freundHcher  Götter.  Ilions  Er- 
oberung wird  in  der  Rhodierepisode  (E  638  ff.)  und  E  250  ff. 
erwähnt;  bei  der  Versöhnung  erzählt  Agamemnon,  Hera  habe 
durch  List  den  edelsten  Helden  einem  Feigling  unterthan  ge- 
macht (T  96  fif).  Eine  feindliche  Gesinnung  verrät  «p  26  tf., 
wo  er  seinen  Gastfreund  Eurytos  frevelnd  erschlägt.  An  dorischen 
Sagen  machen  sich  noch  die  von  dem  Dioskurenpaare  F  237 
X  299  bemerkbar. 

Alle  diese  Lieder  sind  in  den  jüngeren  Dichtwerken  auf- 
gegangen, wie  überhaupt  jede  bestimmte  Nachricht  über  die 
vorhomerischen  Gesänge  fehlt.    Während  bei  den  Hvmnen  von 


1)  Nitzsch  Beiträge  zur  Geschichte  der  epischen  Poesie  S,  147  ft". 

2)  E.  Curtius  Jouier  S.  22  ff. 

3)  H  132  ff.  A  670  fl'.   »l"  630  ff.  ().  281  ff.)  o  225  ff. 

4)  A  372  m  E  801  ff.  K  285  ff.  S  113  ff'. 

5)  E  392  ft'.  verwundet  er  Hera  und  Hades,  0  18  ff",  geisselt  Zeus  seinet- 
wegen Hera,  0  638  ff",  getraut  sich  Eurystheus  nicht,  von  Muud  zu  Mund 
mit  ihm  zu  reden. 


42  2-  Knpitol. 

den  Namen  der  alten  Dichter  ^)  irgend  eine  Spur  auf  die  Nach- 
welt kam,  entbehrte  die  weltliche  Poesie  auch  der  Stütze  einer 
geistUchen  Tradition.  Für  die  Griechen  war  daher  die  Ge- 
schichte des  vorhomerischen  Epos  ein  leeres  Blatt,  obschon  sich 
einige  Grammatiker  den  Anschein  gaben,  mehr  zu  wissen.^) 
Selbstverständlich  sollten  die  Sänger,  die  Homer  erwähnt,  Demo- 
dokos  und  Phemios,  historische  Personen  sein;  Demetrios  von 
Phaleron^)  stellte  aber  bereits  eine  ganze  Liste  vorhomerischer 
Epiker,  die  alle  aus  dem  Peloponnes  und  Doris  stammen,  auf; 
unter  ihnen  war  Automedes  von  Mykenä  vielleicht  in  den 
Nosten  als  Vertrauter  des  Agamemnon  genannt.  Die  anderen 
Grammatikerfabeln  dürfen  wir  bilHg  übergehen,  da  nur  in 
einigen  Fällen  die  Fälschung  ins  Werk  gesetzt  wurde.  Ich 
erinnere  an  die  Troika  des  Sisyphos  von  Kos'^),  eines  angeb- 
lichen Genossen  des  Teukros,  und  die  in  lateinischer  Sprache 
vorhandenen  Lügenbücher  des  Diktys  und  Dares.  Die  Ver- 
nünftigen stimmten  zwar  Ciceros  Ansicht  (Brutus  §  71)  bei: 
Nee  dubitari  debet  quin  fuerint  ante  Homerum  poetae,  aber 
sie  resignierten  sich  mit  Sextus  Empiricus  (adv.  math.  1,  202): 
,,Am  ältesten  ist  die  homerische  Poesie;  denn  es  ist  keine 
ältere  Dichtung  auf  uns  gekommen."  Die  neueren  Philologen 
haben  nicht  ganz  diese  Resignation ;  manche  glaubten  nämlich, 
in  den  Aolismen  der  homerischen  Sprache  einen  Kest  der 
äolischen  Lieder,  aus  denen  wenigstens  die  Ilias  hervorgegangen 
sein  sollte,  zu  finden  und  demgemäss  die  Formeln,  welche 
unjonisches  enthielten,  davon  herleiten  zu  dürfen.  Wir  haben 
aber  bereits  oben  nachgewiesen,  dass  an  eine  Entlehnung  des 
Stoffes  nicht  zu  denken  sei ,  was  ein  ungünstiges  Vorurteil 
gegen  jene  Aolismen  erregt.  Die  überquellende  Menge  der- 
selben, die  aus  der  alten  Grammatik  überkommen  war,  ver- 
minderte Hinrichs  in  der  fleissigen  Abhandlung  de  Aeolicae 
elocutionis    vestigiis   Homericis    (Jena   1875)   sehr  bedeutend.^) 

1)  Vgl.  die  ve(li.schen  Hymnen  und  die  Psalmen. 

2)  Sengebusch  diss.  Hom.  I  p.  91. 

3)  Schol.  Y  267 ;  Suidas  (v.  0(i|xopi(;)  erwähnt  zwei  Listen  vorhonierischer 
Epiker. 

4)  H.  Haupt  Philol.  40,  107  ff. 

6)  Brngman  lit.  Centralblatt  1875  Nr.  45,  Giseke  Bursians  Jahresber. 
1874/6  S.  132  ff.)  und  Ca  pelle  philol.  Anz.  7,  265  f.  verringerten  die  Zahl 
noch  mehr. 


Epische  Dichtung  vor  Homer.  4S- 

Aber  auch  die  von  ihm  nicht  angefochtenen  Formen  kann  ein& 
Untersuchung,  die  auf  dem  jetzigen  Stande  der  griechischen 
Sprachwissenschaft  fusst,  zum  grössten  Teil  als  Archaismen, 
aber  auch  manche  als  sonst  weit  in  Griechenland  verbreitet- 
nachweisen.  Archaismus  muss  das  Losungswort  der  modernen 
homerischen  Grammatik  sein;  sonst  gelangt  sie  wieder  auf  den 
Standpunkt  der  Alten,  die  alle  möglichen  Dialekte  Griechenlands 
bei  Homer  in  buntem  Gemisch  friedlich  vereint  wieder  finden 
wollten.  Was  also  zwar  später  dem  äolischen  Stamme  eigen 
war,  früher  aber,  teils  in  homerischer,  teils  auch  in  vorhomerischer 
Zeit  allen  Griechen  gemeinsam  gewesen  sein  muss,  das  Aohsmen 
zu  nennen,  haben  wir  ebenso  wenig  Recht,  als  die  Alten^ 
Dorisches,  Kyprisches,  Rheginisches  u.  ä.  bei  Homer  zu  finden.^) 
Unter  diesen  Gesichtspunkte  fallen  z.  B.  die  persönlichen  Pro- 
nomina; denn  ajAfjtsc  und  ojjljasc  sind  nur  die  natürlichen  Vor- 
stufen von  Tjixsc  und  djxsc.  ^)  Die  äohschen  Lieder  sind  also 
sachlich  und  sprachlich  eine  blosse  Hypothese  ohne  sichere 
Stützen ;  auch  die  Vergleichung  der  bei  den  Lyrikern  erscheinen- 
den Aolismen  thut  nichts  zur  Sache,  da  erst  nachgewiesen 
werden  müsste,  dass  Dichtungen  einer  niedereren  Stufe  hoher 
ausgebildete  eines  anderen  Stammes  so  sehr  beeinflussen  können. 
Denn  jene  äolischen  Lieder,  deren  es  freilich  ohne  Zweifel 
einige  gab,  müssten  doch  bedeutend  unter  Homer  gestanden 
sein,  weil  nicht  einmal  die  eifrigen  Munizipalhistoriker  Hel- 
lanikos  und  Ephoros  von  ihnen  eine  Spur  entdecken  konnten. 
Die  asianischen  Aolier  beteiligten  sich,  wie  wir  später  sehen 
werden,  an  der  epischen  Dichtung  in  keiner  Weise  und  be- 
wiesen nur  für  die  Lyrik  Sinn  und  Talent.  Wenn  es  daher 
wirklich  äolisierende  Formeln  gab,  dann  würde  ihre  Heimat  eher 
in  Nordjonien  zu  suchen  sein.  Dagegen  sei  es  mir  gestattet, 
auf  eine  nicht  archaische  oder  äolische  Eigentümlichkeit  einiger 
homerischen  Formeln  hinzuweisen :  Die  Verdumpf ung  des  Thema- 
vokals 0  zu  o  (z.  B.  im  aXXoStc  aXXfj)  kennen  wir  sonst  blos  aus 
dem  Arkadischen   und  Pamphylischen ;  nun    leitet   aber  schon 


1)  Monro  Journal  of  philol.  9,  252   flf.   1882  S.  110  ff. 

2)  8o  ist  statt  a|j.|jL£?,  u[jL}i.E(;,  •fut.Bl^,  u|X£l(;  zu  schreiben;  letztere  beiden 
Formen  haben  bei  Homer  keine  Berechtigung,  da  unter  79,  resp.  44  Stellen 
an  75,  resp.  40  riiiiz  und  ojxsc  zulässig  sind,  während  an  den  übrigen  *rj}j.eEC 
und  üfj-EEc  den  Vorzug  verdienen. 


44  2.  Kapitel. 

Kalliiios  die  Paraphylier  von  heimkehrenden  Achäern  ab,  die 
mit  Kolophon  in  Verbindung  gebracht  werden.  Vielleicht  be- 
wahren jene  Formehi  das  Andenken  an  einen  Bruchteil  des 
achäischen  Volkes,  der  später  (zu  Kolophon?)  in  die  Jonier 
aufging.  ^) 

Jedenfalls  liegt  vor  dem  homerischen  Epos  eine  lange  Ent- 
wicklungszeit; denn  die  Technik  ist  dort  vollkommen  ausge- 
bildet und  kaum  eine  Spur  von  Archaismus  haftet  der  Sprache 
und  dem  Versbau  an.  In  den  homerischen  Gedichten  findet 
sich,  höchstens  die  Komposition  ausgenommen,  nirgends  mehr 
ein  unsicheres  Tasten ;  alle  Striche  sind  von  der  sicheren  Hand 
eines  Meisters  gezogen. 


1)  Man  kann  auch  an  die  epbesischeu  Arkadier  (Guhl  Ephesiaca  p.  28 
adn.  14)  denken.  Oder  sollten  die  geheimnisvollen  arkadischen  „Wohlthäter 
Homers"  in  dem  bekannten  Läuserätsel  im  Spiele  sein?  Vgl.  über  diese  die 
phantasievolle   Rede  Sengebuschs  , .Arkadier  als  W.  H.",  Berlin  1877. 


3.  Kapitel. 
Die  homerischen  Epen. 

Charakteristik  der  homerischen  Dichtung  —  Homer  als  Persönlichkeit 
(Biographien,  Heimat,  Zeit,  Bilder,  Name)  —  homerische  Frage  (Wolf  und 
seine  Vorgänger,  Niederschreibung  des  Textes,  Thätigkeit  des  Peisistratos, 
moderne  Theorien)  —  Methode  der  Forschung  —  Analyse  der  Ilias  —  Chori- 
zonten  —  Analyse  der  Odyssee  —  Aöden  und  Rhapsoden  —  Geschichte  des 
Textes  —  Geschichte  der  Homerexegese  —  Bedeutung  Homers  für  die  Literatur 
(Centonen,  Parodien,  Batrachomyomachie)  —  Verhältnis  zur  Kunst. 


An  der  Spitze  der  griechischen  Literatur  stehen  die 
homerischen  Epen  als  grösstes  Problem  der  allgemeinen  Literatur- 
geschichte. Es  empfiehlt  sich,  bei  dem  Wirrsale  der  subjektiven 
Meinungen  vorläufig  von  der  Person  des  Dichters  oder  der 
Dichter  zu  abstrahieren  und  rein  objektiv  ein  Bild  der  Epen 
selbst  zu  entwerfen  ^),  wobei  überdies  der  Unterschied  von  der 
Volksdichtung  hoffentlich  in  ein  helles  Licht  treten  wird. 

Rias  und  Odyssee  gehören  nicht  mehr  der  Volkspoesie  an, 
obwohl  sie  noch  durch  tausend  Fäden  mit  ihr  zusammen- 
hängen. ^)  Sie  sind  bereits  Kunstdichtungen,  wenn  auch  nicht 
in  dem  Sinne  der  nach  klassischen  Periode,  wo  man  mit  jenem 
Namen  in  Gedanken  gelehrte  und  mühselige  Studien  verbindet. 
Vielmehr  haben  sich  diese  Kunstepen  aus  der  Volksliteratur 
soweit  organisch  entwickelt  als  überhaupt  auf  den  Gebieten  des 
geistigen  Schaffens,  wo  wir  mit  dem  Wunder  des  Genies  rechnen 
müssen,   eine   regelrechte  stufenweise  Entwicklung  möglich  ist. 

Wie  die  Kunst  mit  dem  Handwerke,  so  berührt  sich  Homer 


1)  Bischoff  über  hom.  Poesie,  Erlangen  1875;  Hess  über  die  komischen 
Elemente  im  Homer,  Bunzlau  1866.  Einige  Monographien  verzeichnet  Hüb ner 
Grundriss  zu  Vorl.  über  die  griech.  Syntax  1883  S.   98  ft'. 

2)  Schnorr  von  Carolsfeld  Jahrbb.  91,  805  ff. 


46  3-  Kapitel. 

mit  dem  Volksliede  durch  die  Benützung  der  dort  fest  über- 
lieferten Typik.  ^)  Zu  der  normierten  poetischen  Sprache  des 
Volkes  gehören  vor  allem  die  stehenden  Beiwörter,  die 
in  keinem  Lande  fehlen,  wenngleich  die  Griechen  sie  in  be- 
sonderer Fülle  und  Mannigfaltigkeit  ausgebildet  haben.  Die 
Beiwörter  führen  bald  die  Gegenstände  mit  einem  Worte  dem 
Hörer  wesenhaft  vor  Augen,  bald  drücken  sie  die  Bewunderung 
aus,  die  der  Erzähler  für  gewisse  Personen  empfindet,  trotzdem 
dass  das  Kunstepos  derartigen  subjektiven  Gefühlen  sonst  keinen 
Platz  mehr  einräumt.  Wir  haben  also  anschauliche  und  lobende 
Epitheta.  Wer  kann  sagen,  wie  alt  viele  derselben  sein  mögen? 
Manche  Beinamen  der  Götter  und  der  von  ihnen  beschützten 
Städte  reichen  gewiss  zu  sehr  alten  Hymnen,  manche  der 
ersteren  vielleicht  selbst  in  die  indogermanische  Vorzeit  hinauf.^) 
Wegen  des  langen  Gebrauches  passen  schon  in  den  ältesten 
Bestandteilen  der  homerischen  Gedichte  die  Beiwörter  nicht 
mehr  zur  augenblicklichen  Lage,  sondern  geben  die  konven- 
tionelle Scheidemünze  des  Dichters  ab,  verleihen  aber  nicht  am 
wenigsten  der  Rede  jene  vielgerühmte  Anschaulichkeit.  Der 
Dichter  brauchte  seine  Kraft  nicht  mit  dem  Ersinnen  unge- 
wöhnlicher Beiwörter  zu  zersplittern;  herrschte  doch  damals 
auch  im  Leben  trotz  mancherlei  fremden  Prunkstückes  noch 
patriarchalische  Einfachheit  und  Einförmigkeit,  die  zugleich  der 
ältesten  Kunst  ihre  regelmässig  wiederkehrenden  Gruppen  ge- 
stattete. Da  die  Epiker  deshalb  wenig  nach  Originalität  streben, 
ergibt  sich  mindestens  für  den  Laien  ein  auffallend  gleich- 
massiger  Ton.  Zum  grossen  Teil  beruht  er  auf  den  Formeln^), 
■die  immer  wieder  zu  erzählende  Nebenumstände  auch  mit  den- 
selben Worten  bezeichnen.  Der  Sänger  fiuid  an  ihnen  eine 
be(iueme  Stütze  der  Erzählung,  die  ihm  den  wichtigeren  Dingen, 
<ia  die  Zuhörer  noch  nicht  verwöhnt  waren,  seine  volle  Auf- 
merksamkeit zuzuwenden   erlaubte.     So  oft  jene  also  z.  B.  die 

1)  Aehnliche  Zustände  treten  in  der  Geschichte  des  Kun.sthandwerkes  zu 
Tage.  Jede  einfache  Kultur  ist  zugleich  einfönuig  und  diese  Einförmigkeit 
erstreckt  sich  sogar  auf  die  Gesichtszüge  (Roh de  der  griechische  Roman 
S.  229  A.  3). 

2)  Z.  B.  entspricht  5pT7jf>e;  eatov  dem  vedischen  datäras  vasQnSm. 

3)  Fr.  Am  eis  .lahrbb.  73,  657  ff.  O.  Böhmer  de  formulis  Homericis, 
Lpg.  1869.  Ft.  Schnorr  v.  Carolsfeld  Archiv  für  Literaturgesch.  10,  309  ff. 
Jiuch  Lentz  de  versibus  apud  Homerum  perperam  iteratis,  Bartenstein  1881. 


I 


Die  hoiuerischeu  Epen.  47 

Worte  „wSs  6§  v.c.  eiTrsaxs"  hörten,  wussten  alle,  dass  die  fol- 
gende Kede  die  Stimmung  der  anwesend  gedachten  Menge 
ausdrückte  und  der  Dichter  hätte  bei  einem  neuen  Ausdrucke 
desselben  Gedankens  wahrscheinlich  nicht  ebenso  das  augen- 
blickliche Verständnis  erzielt.  Nur  ein  so  gefälliges  Publikum 
nahm  es  hin,  dass,  wenn  ein  Bote  sich  seines  Auftrages  ent- 
ledigt oder  irgend  jemand  etwas  zum  zweiten  Male  erzählt,  er 
dies  mit  den  nämlichen  schon  vorher  gebrauchten  Versen  thut. 
Durch  diese  häufige  Wiederkehr  der  Formeln  wurden  aber  die 
Dichter  verleitet ,  Verse  anderer  Art  von  ihren  Vorgängern  zu 
entlehnen.^)  Wenn  sich  jedoch  schon  die  Formeln,  je  öfter 
sie  zur  Anwendung  kommen,  immer  mehr  von  ihrem  Urbilde 
entfernen,  tritt  dies  bei  jenen  individuell  gefassten  Versen 
natürlich  weit  mehr  ein.  Da  sie  an  der  einen  Stelle  nicht 
genau  ebenso  gut  wie  an  der  anderen  passen  können,  werden 
sie  ein  wichtiges  Hilfsmittel  der  höheren  Kritik.  Doch  hier 
haben  wir  nur  davon  zu  sprechen,  dass  kein  homerischer 
Dichter  von  dieser  unser  Gefühl  nicht  sonderlich  angenehm 
berührenden  Manier  frei  war,  wenn  sich  auch  natürlich  der 
Begabtere  durch  die  geschicktere  Handhabung  von  dem  Stümper 
leicht  unterschied. 

Zu  den  Formeln  gehört  noch  die  Typik  der  Zahlen^); 
wie  vieles  dauert  neun  Tage  und  kommt  am  zehnten  zum  Ab- 
schlüsse •'*),  wie  vieles  wird  dreimal  versucht  und  misslingt  dreimal ! 
Sieben  Jahre  herrscht  Agisthus  (y  304) ,  weilt  Odysseus  bei 
Kalypso  (r^  259)  und  der  Bettler  in  Ägypten  (|  285)  u.  s.  w. 

Während  das  Epos  in  der  gewöhnlichen  Breite  der  Dar- 
stellung sich  von  dem  Volksliede  abgewendet  hat,  kehrt  es 
manchmal  zu  dessen  sprungweiser  Darstellung  zurück.  Beim 
ruhigen  Verlaufe  der  Ereignisse  ist  zwar  die  eingehende  Schil- 
derung alier  Einzelheiten  das  gewöhnhche;  tritt  jedoch  ein 
beschleunigtes  Tempo  ein ,  wechselt  der  Schauplatz  oder  treten 
neue  Personen  auf,    so    neigt    der  Dichter    gerne  zu  grösserer 


1]  Materialsammluug :  Elleudt  drei  hom.  Abb.  Lpzg.  1864  S.  55  fl. 
Jahrbb.  95,  194  ff.  und  Anhang  von  H.  Dun  bar  a  complete  concordance  to 
tbe  Odyssey  and  hynins  of  Homer,  Oxford  1880. 

2)  Einiges  bei  Gladstone  hom.  Studien  S.  449  ff. 
;    3)  La  Roche  hom.  Studien  §  6,  2. 


48  3.   Kiipitel. 

Knappheit.  Oft  werden  deshalb  Züge  übergangen  ^),  deren 
Mangel  einem  pedantischen  Revisor  grosses  Kopfschütteln  ver- 
ursacht. Sollte  nicht  der  Verfasser  der  Teleraachie  einen  solchen 
der  Ungewissheit ,  was  aus  Athenes  im  Männersaale  stehenden 
Speere  wurde,  entreissen?  Manches  ist  freilich  von  grösserer 
Bedeutung;  so  passen  bei  Einschub  einer  episodischen  Scene, 
wenn  der  Dichter  das  vorhergehende  wieder  aufnimmt,  Ende 
und  der  neue  Anfang  manchmal  nicht  genau  aneinander.  Das 
meiste  der  Art  haben  schon  die  Scholiasten  aufgestöbert  und 
eine  Figur  xara  tö  atwrwiAevov  statuiert.  Es  verlohnte  gewiss 
die  Mühe,  diesen  ,, Schwächen"  Homers  systematisch  nachzu- 
forschen ,  schon  um  dem  Missbrauche  dieser  Erscheinungen 
einen  festen  Riegel  vorzuschieben. 

Was  könnten  wir  nicht  noch  alles  anführen ,  das  den 
Volkston  glücklich  wiedergibt !  Die  bequeme  Art  der  Ausdrucks- 
weise, die  etwas  durch  ein  Pronomen  unbestimmt  kennzeichnet 
und  erst  nachher  den  Hörer  darüber  orientiert,  mit  wem  er  es 
zu  thun  hat,  erinnert  an  die  Sitte  des  täglichen  Lebens.  Das 
Gespräch  des  Achilleus  mit  seinen  Rossen  (T  399  ff.)  kehrt  in 
der  neugriechischen  Volkspoesie  wieder.  ^)  Ganz  besonders  mutet 
uns  aber  die  sinnliche  A  nschaulichkeit  und  Unmittel- 
barkeit der  homerischen  Gedichte  volkstümlich  an.  ^)  Bei 
einer  solchen  Betrachtungsweise  treten  selbstverständlich  die 
äusseren  Dinge  besonders  hervor  und  die  inneren  Vorgänge 
spiegeln  sich  blos  in  den  zu  Tage  tretenden  Folgen.  Homer 
schildert  unübertrefflich  alle  Dinge,  wie  sie  sich  den  leiblichen 
Augen  darbieten.  Selbst  die  seelischen  Empfindungen  werden 
durch  Zusätze  wie  xata  ipp^vac,  xata  ^o[aöv  auf  ihren  körper- 
lichen Ausgangspunkt  zurückgeführt."*)  Die  überirdischen  Mächte 
erscheinen  in  Gestalt  von  Göttern,  die  wenig  mehr  als  die 
Unsterblichkeit  von  den  Menschen  scheidet,  da  der  homerische 


1)  Schöniann  de  retlcentia  Horneri  1853  (opascula  HI  p.  1—26)  und 
Naber  quaestt.  Homericae  p.  7  ff. 

2)  Fauriel  chants  pop.  de  la  Gr^ce  II  134,  Firmen  ich  ipafooouj. 
'Pü>|ia£y.ä   II  21. 

3)  Adam  das  Plastische  im  Homer,  München  1869. 

4)  Fulda  Untersuchungen  über  die  Sprache  der  hom.  Gedichte  I.  Der 
pleouastische  Gebrauch  von  ^o\i6r^  '^p-rjv  und  ähnlichen  Ausdrücken,  Duis- 
burg J865. 


^ 


Die  homerischen  Epen.  49 

Dichter  jede  Abstraktion  scheut.  ^)  Ja  selbst  den  Schild  des 
Achilleus  beschreibt  der  Sänger  zwar  kunstreich  und  schön, 
aber  so  oberflächlich,  dass  er  bei  den  Jahreszeiten  wenigstens 
nicht  zu  wissen  scheint,  was  er  darstellt. 

Schiller^)  beurteilt  also  Homer  ganz  richtig,  wenn  er 
schreibt:  ,, Seine  Dichtungen  haben  eine  unendliche  Fläche, 
aber  keine  solche  Tiefe.  Was  sie  an  Tiefe  haben,  das  ist  ein 
Effekt  des  Ganzen,  nicht  des  Einzelnen;  die  Natur  im  ganzen 
ist  immer  unendlich  und  grundlos."  Der  homerischen  Dichtung 
fehlt  daher  im  allgemeinen  die  Reflexion,  obschon  sie  in  den 
jüngeren  Gesängen,  durch  eine  zur  Didaktik  neigende  Zeit- 
strömung angeregt,  sich  hie  und  da  einzunisten  begonnen  hat; 
auf  jenem  Mangel  beruht  gerade  der  Zauber,  den  die  Epen  auf 
ein  von  der  übertriebenen  und  affektierten  Subjektivität  der 
neuen  Zeit  abgestossenes  Gemüt  ausüben.  Wann  wurde  in 
Deutschland  für  Homer  so  sehr  geschwärmt  als  in  und  nach 
der  Sturm-  und  Drangzeit?  Während  der  moderne  Dichter 
den  Gründen  der  Ereignisse  nachstrebt  und  gerade  dem  inneren 
Seelenleben  seine  Aufmerksamkeit  zuwendet^),  erzählen  die 
griechischen  Epiker  blos,  was  sie  mit  Augen  sehen  oder  sehen 
könnten  und  dies  ganz  gleichmütig,  ohne  teilnahmslos  zu  sein; 
es  ist  ihnen  eben  alles  so  selbstverständlich,  wie  es  einem  Bauer 
die  Naturschönheit  seiner  Gegend  ist.  Demnach  erscheint  es 
natürlich,  dass  das  Ethische  völhg  fehlt ^);  besonders  schön 
sucht  es  M.  Carriere  in  der  Ilias  und  der  Odyssee  nachzu- 
weisen, so  schön,  dass  man  nur  wünschte,  es  sei  Homer  nicht 
blos  untergelegt.  ^)  Homer  betrachtet  vielmehr  auch  die  Tugenden 
und  Laster  als  selbstverständlich  und,  wo  keine  äusseren  Folgen 
daraus  entspringen,   auch   als    nebensächlich.     Sein  Ziel   ist  ja, 


1)  Dem  Epos  ist  überall  ein  anthropomorpher  Zug  eigen ;  selbst  in  dem 
christlichen  Ludwigsieich  von  881    spricht  Gott   persönlich   mit  dem   Könige. 

2)  Briefwechsel  mit  W.  von  Humboldt  S.  379. 

3)  Der  psychologische  handlungslose  Roman  der  Neuzeit  und  das 
homerische  Epos  sind  die  Extreme,  zwischen  denen  sich  die  epische  Dichtung 
der  letzten  drei  Jahrtausende  bewegt. 

4)  Goethe  sagt  über  die  wahre  Darstellung':  „Sie  billigt  nicht ,  sie  tadelt 
nicht,  sondern  sie  entwickelt  die  Gesinnungen  und  Handlungen  in  ihrer  Folge 
und  dadurch  erleuchtet  und  belehrt  sie." 

5)  Kunst  im  Zusammenhang  der  Knlturentwicklung  2,  44  ff.,  ähnlich 
Nitzsch  und  Bäumlein. 

Sittl,  Geschichte  der  griechisclien  Literatur.  4 


50  3.  Kiipitel. 

wie  gesagt,  die  höchste  AiischauHchkeit  des  Sichtbaren;  in 
dieser  erreicht  er  aber  auch  eine  so  holie  Stufe  des  schönen 
Keahsmus,  dass  sich  vielleicht  nur  Dante  an  Kraft  der  Phantasie 
mit  ihm  messen  kann.  Homer  und  Dante  vermögen  den  Ge- 
schöpfen der  Phantasie  das  Gepräge  der  Wirklichkeit  zu  ver- 
leihen und  das  Wunderbarste  zur  höchsten  Wahrscheinlichkeit 
und  Natürlichkeit  zu  erheben.  Wo  die  Handlungen  selbst 
diesem  Zwecke  nicht  dienen,  wird  zu  Beiwörtern  und  Gleich- 
nissen') gegriffen.  Von  den  bereits  besprochenen  Epithetis 
gehören  blos  die  anschaulichen  hieher.  Die  Gleichnisse  sind 
bis  auf  sehr  wenige  durchaus  malerisch,  während  schon  in  den 
ältesten  Hymnen  der  Inder  die  Abstraktionsfreude  dieses  Volkes 
zu  Tage  tritt.  ^)  Homer  liebt  sie  aus  dem  Leben  der  Menschen 
und  der  Natur  zu  entnehmen;  bald  deutet  er  den  Vergleich 
nur  an,  bald  führt  er  ihn  weiter  aus.  Es  ist  längst  erkannt, 
dass  die  letztere  Art  namentHch  die  trockene  Einförmigkeit  der 
Zweikämpfe  anmutig  beleben  soll.  Dagegen  bedarf  die  Odyssee 
der  grösseren  Gleichnisse  nicht  so  sehr,  weil  hier  ohnedies  Natur 
und  friedliches  ijeben  mit  der  Handlung  enge  zusammenhängen. 
Wenn  also  den  178  Gleichnissen  der  Bias  in  der  Odyssee  blosj 
29  gegenüberstehen ,  so  hat  nicht ,  wie  manche  sagen ,  dei 
plastische  Sinn  abgenommen ;  vielmehr  würde  eine  gleiche  Meng« 
der  Odyssee  einen  schwülstigen  Charakter  geben. 

Alle  diese  Eigenschaften  machen  die  homerischen  Epen  zuj 
volkstümlichen  Dichtungen  im  edelsten  Sinne,  ohne  dass  si( 
mit  der  Volkspoesie  auf  eine  Stufe  zu  stellen  wären.  Schon 
die  besprochenen  Mittel  der  letzteren  beherrschen  die  Dichter 
der  Ilias  und  Odysse  mit  einer  Sicherheit  und  Meisterschaft, 
dass  die  schlichteren  Volkslieder  vor  einem  solchen  Glänze 
zurückstehen  müssen.  Auch  was  diese  nicht  verschmähen,  um 
der  Erzählung  einen  feierlicheren  oder  belebteren  Ton  zu  ver- 
leihen, wird  hier  zum  rhetorischen  Kunstmittel,  z.  B.  die 
riietorische  Frage    unmittelbar  am  Anfange  der  IHas  ti«;   t'  ap 


1)  Jahrbb,  Supi)!.  3,  786  ff.  verzeichnet,  vgl.  E.  H.  Fried  lande  r 
Beitr.  zur  Kenntnis  der  honi.  Gleich nis-se  ,  Berlin  1870—71;  J.  L.  Hoff- 
mann  die  Bildersprache  Homers,  im  Albnm  des  liter.  Vereins,  Nürnberg 
18C6  u.  A. 

2)  Da«  beliebteste  abstrakte  Gleichnis  Homers  ist  die  Schnelligkeit  des 
Gedankens. 


Die  homerischen  Epen.  51 

<5'fw=  {>£töv  u.  s.  w.,  schon  in  den  alten  Hymnen  beliebt,  denn 
eine  stehende  Anrnfungsformel  lautet:  „Wie  soll  ich  Dich  be- 
singen ?"  Die  Apostrophe  dient  sogar  zur  Charakteristik  der 
Helden,  da  wir  den  ungewohnten  Anteil,  den  der  Dichter  an 
Menelaos,  Patroklos  und  Eumaios  nimmt  darin  fühlen  und  so 
unsererseits  für  sie  erwärmt  werden.  ^) 

Die  homerische  Dichtung  leistet  überhaupt  in  der  Charak- 
teristik der  Personen  mit  den  einfachsten  Mitteln  ausser- 
ordentliches. Obgleich  die  Volksdichtung  die  Persönlichkeit 
ihrer  Helden  nicht  ganz  übergeht,  beschränkt  sie  sich  doch  auf 
blosse  Andeutungen.  Wie  viele  Sänger  müssen  an  dem  Ge- 
mälde der  achäischen  Vorkämpfer  gearbeitet  haben,  bis  der 
Dichter  der  Ilias  alle  vereinzelten  Züge  genial  zu  einem  gross- 
artigen Gesammtbilde  zusammen fasste  und  auch  seinen  Nach- 
eiferern ein  unverlorenes  Beispiel  gab,  wie  durch  die  blosse 
Rede  oder  ein  kleines  scheinbar  unbedeutendes  Motiv  ein 
Charakter  deutlich  umrissen  M'erden  kann.  In  letzterer  Hinsicht 
erinnere  ich  nur  an  das  düstere  Lächeln  des  Aias,  als  er  zum 
Zweikampfe  schreitet;  die  Geschicklichkeit,  den  Personen  die 
passendsten  Worte  in  den  Mund  zu  legen,  reicht  an  vShakespeares 
Talent  fast  heran.''') 

Während  Homer  in  dieser  Weise  auf  die  poetische  Wahrheit 
ungemein  bedacht  ist,  sorgt  er  sich  weniger  darum,  ob  die  Per- 
sonen in  den  gegebenen  Verhältnissen  wirklich  so  gesprochen 
haben  können,  falls  er  dadurch  seinen  Zuhörern  auf  anmutige 
Weise  neues  mitzuteilen  vermag.^)  Wäre  es  manchen  Kritikern 
wirklich  lieber,  wenn  er  statt  dessen  gewissenhaft,  woher  es 
der  Redende  wusste,  hinzugefügt  hätte?  Die  einzige  niclit 
unberühmte  Ausnahme  (^  389  f.)  ist  eine  handgreifliche  Inter- 
polation, die  entstand,  als  man  an  das  Epos  nicht  mehr  unbe- 
fangen   herantrat.^)     Ueberhaupt     dürfen     wir    die    (von    den 

1)  Liesegang  Philol.  6,  564,  Nitzsch  Philol.  16,  151  ff.,  Bergk 
griech.  LG.  1  615  f.  0  865  und  X  152  passt  sie  bei  dem  Gotte  nicht;  0  582 
steht  in  einer  jüngeren  Einlage,  auch  T  2  (von  Achilleus)  könnte  später  sein. 

2)  Theon  progj'mn.  p.  149  W  (II  60,  27  Sp.)  vgl.  68,  22) :  "Ojj.'/jpov  sita'.- 
voö[X£v  OTi  olxsiooc  Xo^oo?  icsp'.ts^etxsv  Exdtaxü)  to)v  7:po3o>K(uv,  vgl.  Gell.  6 
(7),  14,  7. 

3)  Z.^B.  in  den  'AXx-voo  tx^oKo-^oi:  •.  183  ff.  x  103  ff',  u.  ö. 

4)  Vgl.  eine  ähnliche  Interpolation  im  Nibelungenliede  nach  Str.  506 
Bartech,  die  beginnt :  Nu  sprichet  liht  ein  tumber  „Ez  mac  wol  lüge  wesen.'' 

4  « 


52  ,3.   Kapitel. 

Homerikern  leider  zu  wenig  beherzigte)  Regel  aufstellen,  dass, 
wenn  die  prosaische  Wahrscheinlichkeit  mit  einem  poetischen 
Zwecke  in  Konflikt  gerät,  regelmässig  letzterer  siegt.  Denn 
dem  Jonier,  der  die  ängstliche  Gewissenhaftigkeit  der  Dorier 
nicht  kennt,  ist  das  Fabulieren  Hauptsache.  Aber  auch  die 
vortreölichsten  Künstler  aller  Zeiten  haben  zuweilen  absichtlich, 
um  den  Gesammteindruck  zu  verschönern,  gegen  die  gemeine 
Wirklichkeit  gefehlt,  i) 

Kaum  mehr  Beachtung  und  Verständnis  findet  eine  andere 
Eigentümlichkeit  des  Epos:  Der  Dichter  führt  ein  Motiv  ein, 
um  bestimmte  Absichten  zu  erreichen,  z.  B.  wenn  er  die 
Handlung  retardieren  will;  ist  nun  der  Zweck  erfüllt,  lässt  er 
das  Motiv  einfach  fallen.^)  Die  ,, Loser"  der  homerischen  Frage 
fragen  dann  triumphierend ,  wo  es  hingeraten  sei :  Der  Zwei- 
kampf des  Menelaos  und  Paris  lenkt  den  Gang  der  Ereignisse 
absichtHch  von  der  geraden  Linie  ab,  bis  der  Schuss  des  Pan- 
daros  die  früheren  Verhältnisse  herstellt,  nur  dass  der  Kampfesmut 
beider  Parteien  gewachsen  ist.  Pandaros  fällt  sogleich  bei  Be- 
ginn der  Schlacht  an  einer  ungewöhnlichen  Wunde,  die  gewiss 
mit  dem  Vertragsbruche  zusammenhängt;  sonst  ist  für  den 
Dichter  weder  Zweikampf  noch  Schuss  später  vorhanden.  Oft 
geben  sich  die  Nachdichter  die  Mühe,  Rückbeziehungen  einzu-dH 
flechten,  aber  ihre  Arbeit  ist  ebenso  unnütz  wie  die  Verwertung^^ 
jener  Unterlassungen  für  die  auflösenden  Tendenzen  verkehrt 
ist.  Ueberdies  dürfen  wir  von  dem  ersten  eigentlichen  EposilH 
beständige  Vor-  und  Rückbeziehungen  keineswegs  erwarten. 

Einer  ähnhchen  ungerechten  Beurteilung  unterliegen  aber 
ganz  besonders  die  retardierenden  Momente.  „Eine 
Haupteigenschaft  des  epischen  Gedichtes  ist,  dass  es  immer  vor- 
und  zurückgeht,  daher  sind  alle  retardierende  Motive  episch."^) 
Die  Tragödie  will  Schlag  auf  Schlag,  das  Epos  schlendert  da- 
gegen ruhig  und  gemächhch  dahin;  freilich  steht  das  jjeitmotiv 
von  Anfang  an  gleichsam  als  dunkle  Wolke,  die  immer  mehr 
heraufsteigt,  am  Horizont.     Manche    machen  es  jetzt  Zeus  bei- 

1)  Aristot.  poet.  25  aSuvata  nejioifjtai  •  •rjjiäptYjTat,  ftXX'  äpfl-üic  syji,  el 
TüYX^"  '^'^^  teXoo?  to5  ohjtyic  u.  s.  w.,  24  extr.  tolz  difrx^olr:  h  irotYjr})? 
ä^aviCEi  •fjSövojv  zh  ätojcov  u.  a. 

2)  So  verschwindet  auch  im  Nibelnngenlide  Brunhilde ;  Sophokles  vergisst 
im  König  Odipus  die  Pest. 

8)  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  8,  71. 


Die  homerisohen  Epen.  53 

nahe  zum  Vorwurfe ,  dass  er  nicht  unmittelbar  nach  Thetis' 
Bitte  an  die  ErfüUung  seines  Versprechens  gegangen  sei ;  zum 
Glück  ist  es  an  jenem  Tage  schon  zu  spät!  Aber  am  nächsten 
Morgen  sollte  er  sofort  die  Niederlage  der  Achäer  herbeiführen ! 
Mit  Nichten.  „Die  Mühlen  der  (epischen)  Götter  mahlen  langsam 
aber  fein"  sagt  ein  einsichtiger  Kritiker. 

Liebt  doch  das  homerische  Epos  in  allem  die  behagliche 
Breite.  Auch  der  Stil  ist  breit  angelegt  uud  ausführlich,  wes- 
halb er  sich  für  ein  grösseres  Gedicht  vorzüglich  eignet.  Wie 
dieses  ist  er  retardierend,  indem  teils  Beiwörter,  teils  andere 
Erläuterungen  etwas  nachschleppen.  Auch  der  Satzbau  trägt 
keineswegs,  wie  man  oft  behauptet,  das  Gepräge  einer  be- 
sonderen Schlichtheit;  für  Verse  überhaupt  und  besonders  für 
so  alte  Verse  ist  die  Periode  kunstreich  entwickelt  und  von  der 
Einfachheit  des  Volksliedes  und  des  teilweise  gleichalterigen 
Rigveda  weit  entfernt.  Zudem  verziert  der  Dichter  seine  Er- 
zählung di^rch  Wortspiele^),  Tonmalerei^)  und  ähnliche  Mit- 
telchen ,  so  dass  die  Alten  von  ihm  sagen  konnten ,  er  habe 
allen  Künsten  der  Beredsamkeit  den  Ursprung  und  ein  Muster 
gegeben.^) 

Wir  können  die  Mittelstellung  Homers  zwischen  Volks- 
poesie und  Kunstdichtung  (oder  richtiger  akademischer  Dichtung) 
nicht  besser  wiedergeben  als  es  Herder^)  mit  folgenden  Worten 
gethan  hat:  ,, Dieser  Sänger  Griechenlands  trifft,  wie  mich 
dünkt,  eben  auf  den  Punkt,  der  schmal  wie  ein  Haar  und 
scharf  wie  die  Schärfe  des  Schwertes  ist,  wo  Natur  und  Kunst 
in  der  Poesie  sich  vereinigen." 

Vom  rein  poetischen  Standpunkte  betrachtet  sind  die 
homerischen  Gedichte  in  ihrer  Art  unübertroffen.  Man  ver- 
gleiche unser  Nibelungenhed  nicht  mit  ihnen;  denn  beide  ge- 
winnen bei  dem  Vergleiche,  beide  verlieren.  Jenes  steht  durch 
die  gemütvolle  Auffassung  ebenso  weit  über  dem  griechischen 
Epos,  als  es  in  Fülle  und  Schmelz  der  Farben,  in  feiner 
Komposition  und  Durchbildung  hinter  ihm  zurückbleibt.  Leider 

1)  z.  B.   B  758   llpö9-0Dc  O-oqc,  oj  46-5   Kb-jtO-jj  neiö'ovTo. 

2)  z.  B.  P  265  •tj'iry/s'z  ßoöcuaiv  sps'jYojj.Jvr^':  äVoq  l'^to,  durch  den  Plato 
von  der  Nachahmung  Homers  abge«chreckt  worden  sein  soll. 

3)  Quintil.  10,  1,  46:  omnibiis  eloquentiae  partibus  exemplum  et 
ortum  dedit. 

4)  Ursprung  der  Sprache  S.  163. 


54  4.  Kapitel. 

fehlt  uns  der  Massstab,  um  Homers  Stellung  innerlialb  des 
griechischen  Epos  richtig  zu  würdigen.  Wir  sind  jetzt  be- 
sonders darüber  im  Unklaren,  was  ein  von  den  Musen  nicht 
hervorragend  begabter  Sänger  leisten  konnte. 

So  deutlich  auch  die  dichterische  Persönlichkeit  bei  einer 
Betrachtung  von  Ilias  und  Odyssee  hervortiitt,  so  wenig  ver- 
raten sie  über  die  äusseren  Verhältnisse  der  Verfasser.  Daran 
trägt  die  Objektivität  des  Epos  Schuld.  Sie  besteht  nicht  in 
der  reinen  Unparteilichkeit,  denn  kein  Epiker  unterdrückt  alle 
seine  Gefühle  künstlich^);  aber  er  legt  den  vollen  Ruhm  seiner 
Dichtung  der  angerufenen  Muse  bei.  Sonst  fehlen  jedoch  ab- 
gesehen von  dem  wehmütigen  Vergleiche  der  glanzvollen  Hel- 
denzeit ^)  mit  der  Gegenwart  alle  persönlichen  Beziehungen.  ^) 
Wir  sind  daher  wie  die  Alten  auf  sehr  viele  Kombinationen 
und  sehr  wenige  Traditionen  angewiesen ;  der  Kritiker  hat  beide 
in  den  alten  Quellen  sorgfältig  zu  scheiden. 

Die  Alten  führten  Ilias  und  Odyssee  auf  den  blinden 
Sänger  Homeros  zurück.  Darüber  waren  so  ziemlich  alle  einig, 
während  über  Heimat,  Zeit  und  Lebensschicksale  die  Meinungen 
ausserordentlich  abwichen. 

Was  die  alten  Homerbiographien  anlangt,  so  gibt  der  Kirchen- 
vater Tatianos  in  der  Rede  an  die  Heiden  (c.  48)  eine  lange 
Liste  der  Gelehrten,  die  über  das  Leben  Homers  schrieben; 
sie  beginnt  mit  Theagenes  von  Rhegion  und  Stesimbrotos  von 
Thasos,  die  beide  während  der  Perserkriege  lebten.  Auch  Pindar 
erzählte  schon,  dass  Homer  seiner  Tochter  die  Kyprien  zur 
Aussteuer  geschenkt  habe.  Aber  alle  älteren  Schriften  scheinen 
sein  Leben  nur  nebenbei  behandelt  zu  haben ;  die  erste  chrono- 
logisch gesicherte  Monographie  rührt  von  dem  smyrnäischen 
Arzte  Hermogenes  unter  der  Regierung  Hadrians  her.  In  die- 
selbe Zeit  gehört  wohl  die  erhaltene  Schrift,  welche  den  Titel 
führt 'lipo 5 ÖT 00  i^YjYYjott:  Tcepl  t-^c  tou  'OfiTjpou  Y6VS010?  xal  ßtot'^c.^) 
Sie  ist  in  jonischer  Mundart  abgefasst,  masst  sich  aber  Herodots 
Namen    mit    Unrecht    an.     Die     künstHche    Anwendung     des 


1)  Am  beliebtesteu  ist  der  Ausruf  v-rirtto?  (B  38  u.  ö.) 

2)  Oioi  vüv  ßfiotoi  eia'.v. 

3)  Bcrgk  1,  468  ff.  nimmt  willkürlich  Auspielungeu  auf  Zeitgenossen  an. 

4)  Welcker  der  ep.  Cyklus  I  136  f.    178  ff.    456  ff.;    Joh.  Schmidt 
de  Herodotea  quae  fertur  vita  Homeri  (1876)  in  Diss.  philol.  Hai.  II  p.  97  ff. 


Die  homerischen  T->peii.  55 

Dialektes^),  wie  auch  einige  sprachliche  Ersclieinuiigen  weisen 
auf  das  zweite  Jahrhundert  nach  Christus'^);  indes  sind  die 
Quellen  bedeutend  älter,  z.  ß.  rühren  die  äolisierende  Tendenz 
und  die  meisten  Daten  von  dem  Historiker  Ephoros  her.  J^ie 
versifizierten  Reden  Homers,  die  unter  den  Epigrammen  die 
Nummern  1,  2.  4 — 13  und  16  tragen,  stammen  wahrscheinlich 
aus  einer  poetischen  Biographie,  die  dem  'HaioSoc  des  Eratosthenes 
parallel  stand.  ^)  Der  Wert  der  Biographie  besteht  darin ,  dass 
sie  viele  Sagen  vereinigt,  bei  denen  der  Verfasser  sich  redlich 
bemüht,  sie  in  Einklang  zu  bringen.  Von  Pseudoherodot 
hängen  ein  Teil  des  Artikels  des  Suidas  *)  und  eme  ungedruckte 
Epitome^)  ab.  Die  zweite  grössere  Biographie  heisst  nicht 
minder  unrechtmässig  plutarchisch  und  ist  betitelt  kö[A  zob  ßiot> 
xal  xfjc  TTO'.Yjaswc  D[x,r|poo.  Sie  zerfällt  in  eine  Darstellung  der 
homerischen  Khetorik  und  Stilistik  und  eine  Lobrede  auf  die 
Polymathie  Homers  (c.  92 — 160),  wobei  die  Mythen  eine  alle- 
gorische Erklärung  finden.  Diese  zweite  Hälfte  stammt  aus 
derselben  stoischen  Quelle,  die  den  Allegorien  des  Herakht  und 
den  Cv/TTj^iata  des  Porphyrios  zu  Grunde  liegt.'"')  Das  Ganze 
dürfte  um  das  Jahr  200  abgefasst  sein.  ^)  Die  dritte  Stelle 
nimmt  der  auf  Hes.  E.  299  ff.,  wo  ein  Sieg  des  Hesiod  be- 
richtet wird,    aufgebaute  'OjAr^poo  xat  'Ho'.öSoo   aytov   ein.**)     Der- 

1)  Man  denke  an  die  jonischen  Schriften  des  Lucian,  Arrianos  nnd 
Aretaios. 

2)  Beigk  I  S.  442  ff.  setzt  die  Schrift  vor  Ol.  111;  aber  das  früheste 
sicherste  Citat  ist  erst  Steph.  B.  s.  Nsov  ztlfnz  (nicht  Tat.  adv.  Gr.  31).  Joh^ 
Schmidt  p.  218  schreibt  sie  ohne  Wahrscheinlichkeit  jenem  Hermogenes  zu. 

3)  Bergk  führt  die  „Epigramme"  auf  Theagenes  zurück;  Joh.  Schmidt 
(p.  214),  der  den  Biographen  mit  Recht  von  dem  Verdacrhte  der  Fälschung 
freispricht,  weiss  nichts  damit  anzufangen. 

4)  11  1,   1101,  3  ff.  Beruh.  Vgl.  Daub  Jahrbb.   1881   S.  241. 

5)  Von  Allatius  de  patria  Homeri  p.  122  citiert. 

6)  Schrader  Porph.  quaestt.  Hom.  p.  395  ff. 

7)  Diels  doxographi  p.  99.  E.  Schmidt  de  Plutarchi  quae  vulgo  fertur 
Homeri  vita  Porphyrio  vindicanda,  Halle  1850  nennt  Porphyrios  als  Verfasser. 
Dem  widersprechen  die  chronologischen  Angaben  des  Porphyrios  bei  Suidas 
(s.  "OiA-rjpo':.  'Haioooc),  vgl.  E.  Mehl  er  Mnemos.  1852  p.  126  ff.  und  Diels 
doxogr.  p.  98.  Bergk  I  S.  444  A.  8  denkt  an  die  Schule  des  Longin.  In 
einem  Ambrosianus  steht  vor  Excerpten  aus  Pseudoplutarch :  Toöxo  H  ;ia).auov 
ävSpujv  b  nop'fopoYsvvYjTrjc  ^uvaiJ-poiaac  s^E^wxE  (W ach smuth  Rhein.  Mus.  18, 
;36  ff'). 

8)  Benutzt  von  Tzetzes  im  Voiworte  seiner  Allegorien. 


5(3  3.  Kapitel. 

unbekannte  Verfasser  schildert,  nachdem  er  zuerst  die  Heimat 
inid  Genealogie  beider  Dichter  besprochen,  ihren  Wettkampf  in 
Chalkis,  der  zu  Gunsten  des  Hesiod  ausschlägt,  und  schliesst 
mit  den  letzten  Schicksalen  der  Sänger.  Aus  der  Erwähnung 
des  apotheosierten  Hadrian  (p.  314,  14)  ergibt  sich  ein  sicherer 
terminus  post  quem  für  das  merkwürdige  Elaborat.  Nietzsche  ^), 
der  es  in  den  Acta  societatis  philologorum  Lipsiensium  I  p.  1  ff. 
zuerst  kritisch  herausgab^),  wollte  es  zu  einem  Excerpt  aus 
dem  Museion  des  Rhetor  Alkidamas  ^)  stempeln.  Jedoch  be- 
weist das  Citat  bei  Stobaios  (flor.  tit.  120)  gar  nichts  und  die 
Anführung  des  Alkidamas  (p.  323,  12)  gerade  dies,  dass  er 
nur  eine  Quelle  abgab.  Zu  den  drei  grösseren  Schriften  kommen 
noch  kleine  Biographien  vor  der  Chrestomathie  des  Proklos, 
bei  Suidas  und  Tzetzes*),  endlich  neun  anonyme,  meist  von 
geringem  Umfang  und  Wert.  ^)  Wie  viel  altes  Gut  in  diesen 
Denkmälern  steckt ,  können  wir  nicht  erraten.  Das  Mittelalter 
scheint  noch  manche  andere  Fabeln  gelesen  zu  haben.  ^) 

Für  eine  wissenschaftliche  Betrachtung  kommen  allein  die 
Nachrichten  über  Heimat  und  Zeit  in  Betracht '');  alles 
andere  ist  reine  Erfindung,  da  man  dem  Dichter  bald  götthchen 
Ursprung,  bald  Abstammung  von  den  berühmtesten  alten 
Sängern  beilegte,  die  Ansprüche  der  verschiedenen  Städte  durch 
erdichtete  Wanderzüge  abzufinden  suchte  und  endlich  Homer 
rationalistisch  mit  Phemios,  Tychios  und  ähnlichen  nicht 
heroischen  Personen  seiner  Epen  bekannt  sein  Hess.  Viele 
Städte  und  Länder  wollten  aus  Ehrsucht  den  gefeierten  Dichter 
geboren  haben.  Wir  werden  aber  zur  Rettung  aus  dieser 
Wirrsal  weder  mit  Apion  den  Geist  Homers  von  einem  Medium 
eitleren  lassen,    noch    wie  Hadrian   ein  Orakel  befragen,   noch 


1)  Rhein,  Mus.  25,  628  ff,   28,  211  ff.;  dagegen  Leutsch  Philol.  30,202  ff. 

2)  Jetzt  steht  die  Schrift  am  bequemsten  in  GÖttling-Flachs  Ausgabe  des 
Hesiod  S.  367  ff. 

3)  O.  Friedel  diss.  phil.  Halen.s.  I  179  ff. 

4)  Vgl.  dazu  das  Prooemium    seiner  homerischen  Allegorien. 

6)  Sechs  stehen  am  Anfang  von  Westermanns  Biograph!  Graeci .  ein« 
siebente  teilt  St.  Blackie  Homer  and  the  Hiad  I  82  ff.  mit. 

6)  Abulfaragins  p.  40  (Fabricius-Harles,  bibl.  Graeca  I  664j, 

7)  Alles  Material  ist  von  M.  Sengebusch  in  den  dissert;atione8  Homericae 
duae,  die  vor  Dindorfs  Homerausgabe  stehen,  zusannuengetrageri.  Vgl.  zur 
Sichtung  Job.  Schmidts  oben  erwähnte  Di.ssertation. 


Die  lionierischen  Epen.  57 

auch  ZU  der  geistreichen  Auskunft  Antipaters ,  die  ganze  Welt 
sei  die  Heimat  des  Mäoiiiden,  unsere  Zuflucht  nehmen.  Mindert 
sich  doch  dem  mutig  näher  tretenden  die  Zahl  der  berechtigten 
Orte  bedeutend.  Man  scheide  nur  die  gelehrten  Kombinationen 
aus ,  vor  allem  die  Sitze  gepriesener  homerischer  Helden ,  wie 
Argos,  Ithaka  und  Pylos,  oder  die  Heimat  der  einst  Homer 
zugeschriebenen  Epen,  z.  B.  Kypros,  um  von  reinen  Paradoxa^), 
wie  dass  Homer  ein  Kömer,  Syrer  oder  Ägypter  gewesen  sei, 
ganz  zu  schweigen.  Kyme  werden  wir  dem  patriotischen  Eifer 
des  Ephoros  zu  gute  rechnen.  Auch  Athen  hat  nur  insofern, 
als  von  hier  aus  Kolonisten  nach  Smyrna  zogen ,  ein  Anrecht 
auf  Homer;  freilich  behauptete  kein  geringerer  als  Aristarch 
selbst,  dass  Homer  ein  Athener  gewesen  sei,  aber  nicht  einmal 
die  athenischen  Kedner,  die  ihr  Vaterland  mit  allen  Ehren 
überhäuften ,  wagten  dessen  Ruhmeskranze  dieses  Blatt  einzu- 
fügen. Kolophon  knüpfte  sein  Anrecht  an  den  Margites ,  der 
in  seinen  Mauern  spielte.  Am  entschiedensten  nahmen  aber 
Ghios ,  Smyrna  und  los  den  Ruhm  in  Anspruch.  Letzteres 
Inselchen  barg  das  Grab  Homers  ^)  und  die  leten  ehrten  ihn 
durch  jährliche  Opfer  und  Weihung  eines  Monats^);  aber  Ari- 
stoteles gestand  ihnen  blos  zu ,  dass  die  Mutter  des  Dichters 
aus  los  stamme.  "*)  In  Smyrna  war  ein  grosses  Heiligtum  mit 
Statue  und  Säulenhallen  erbaut  und  in  einer  dortigen  Grotte 
sollte  er  gesessen  sein.  Bereits  Stesimbrotos  nannte  diese  Stadt 
Homers  Geburtsort.  Indes  war  Smyrna  einst  eine  Stadt  mit 
äolischer  Bevölkerung,  die  wahrscheinlich  im  achten  Jahr- 
hundert dem  Anstürme  der  Jonier  weichen  musste. ")  Viel 
bedeutungsvoller  als  alle  Heiligtümer  und  Opfer ,  die  nur  für 
die  Ehrsucht  und  Leistungsfähigkeit  einer  Bürgerschaft  sprechen, 
ist  das  chiische  Sängergeschlecht  der  Homeriden,  dessen  bereits 
Hellanikos  gedenkt^);  da  in  Smyrna  derai'tige  Erinnerungen  und 


1)  Parodiert  von  Lucian.  ver.  lii.st.  2,  20. 

2)  Der  Holländer  Pasch  van  Krienen  wollte  es  1771  aufgefunden  haben 
(Welcker  kleine  Schriften  3,  284  ff)- 

3)  '^0|AY|pEwv  Ross  vermischte  Aufsätze  2,  684. 

4)  Ps.  Plut.  p.  21.  22. 

5)  Um  700  war  Smyrna  bereits  jonisch ;  O.  Müller  nahm  ohne  genügende 
Beweise  an ,  dass  die  Jonier  es  schon  vor  den  Äoliern  besessen  hätten ,  vgl. 
dagegen  Roh  de  Rhein.  Mus.  36,  391   f. 

6)  s.  u. 


5g  3.  Kapitel. 

andere  Anhaltspunkte  (wie  Beteiligung  an  der  jüngeren  Epik) 
für  die  Annahme  einer  Sängerschule  fehlen  und  überdies  die 
Alten  einstimmig  Ilias  und  Odyssee  in  Chios  gedichtet  werden 
lassen  *).  so  führt  alles  darauf  hin ,  dass  dieses  liebliche  Eiland 
Homer  oder  doch  der  homerischen  Poesie  das  Leben  gab. 
Sicherlich  lebten  die  homerischen  Sänger  in  Jonien;  damit 
stimmen  die  gelegenthchen  Hinweise  auf  bestimmte  Lokale, 
z.  B.  die  Erwähnung  der  asiatischen  Ebene,  des  Kaystros  mit 
den  Schaaren  der  Singschwäne,  des  Niobebildes  am  Sipylos, 
des  Berges  Tmolos  oder  die  Angabe,  dass  der  Zephyros  mit 
Boreas  von  Thrakien  her  weht.  ^)  Jonisch  dürfte  auch  die 
Hervorhebung  der  Wagenkämpfe  sein,  weil  gerade  die  weiten 
fruchtbaren  Gefilde  an  den  lydischen  Strömen  zur  Rossezucht 
einluden.^)  Die  drei  jonischen  Stammesgötter  Zeus,  Athene 
und  Apollo  werden  nicht  blos  bei  der  Eidesleistung  augerufen, 
sondern  auch  überhaupt  mit  besonderer  Ehrfurcht  behandelt, 
während  die  übrigen  Olympier  die  etwas  frivole  Leichtfertigkeit 
der  Jonier  empfinden  müssen.  Aus  diesen  und  anderen  Zügen'*) 
gewann  Plato^)  den  Eindruck,  den  er  in  die  Worte  kleidet: 
,, Homer  schildert  nach  jeder  Hinsicht  weniger  das  lakonische 
als  vielmehr  das  jonische  Leben."  ^) 

Gelangen  wir  also  zu  einer  verhältnismässig  sicheren  Be^H 
Stimmung  des  Ortes,  so  ist  derselbe  Erfolg  bezüglich  der  Zei^" 
nicht  zu  erzielen.  Hier  haben  wir  es  einzig  und  allein  mit 
Kombinationen  der  gelehrten  Kreise  zu  thun.    Daher  ist  es  ei 


1)  Mau  zeigt  noch  heute  beim  alten  Bolisos  an  der  Westküste  der  Insel 
die  wundervoll  gelegene  Schule  Homers;  vgl.  Ephoros  bei  Steph.  B.  v.  IiiuXia6;äH|l 
llajtaC'fjf:  ToO    'OjXYjpou    t^  TiExpa    im    Ilapvaaaoc  4,  640  ff.;    v.  Prokesch«^" 
Osten  Denkw.  aus  dem  Orient  1,  82  ff. 

2)  1  4.  ^^  229. 

3)  Aristot,  polit.  6  (4),  3.  Mimn.  fr.  14,  3.  Niese  Entw.  der  hom. 
Poesie  S.  120. 

4)  Die  Volksversammlung  sitzt  (^  16  nach  jonischem  Brauche;  T  403  ff'. 
(jedoch  wahrscheinlich  interpoliert)  beziehen  sich  auf  die  Panionia;  die 
Phratrien  (B  362)  sind  ebenfalls  jonisch. 

6)  Legg.  3,  680  d. 

6)  Zu  den  zahlreichen  ;iapäoo4a  'Oft-rjf-txä  gehört,  dass  M.  Klee  mann 
vocabula  Homerica  in  Graecorum  dialectis  et  in  eotidiano  semione  servata, 
Colmar  1876  und,  ohne  von  ihm  zu  wiasen,  Fick  die  Entstehung  des  hom. 
Dialektes  in  Bezzenbergers  Beiträgen  1882  vS.  139  ff.  behaupten,  die  homerischen 
■Gedichte  seien  in  äolischer  Mundart  abgefasst  gewesen. 


4 


Die  houurischen  Epen.  59' 

arger  Fehler,  wenn  Sengebusch  alle  chronologischen  Angaben 
für  alte  Tradition  nahm  und  arglos  zu  einer  angeblichen  Ge- 
schichte der  homerischen  Dichtung  verwertete.  ^)  Die  Alten 
fixierten  Homers  Ijebenszeit  bald  im  Verhältnis  zum  trojanischen 
Kriege,  bald  zur  jonischen  Wanderung  oder  sie  setzten  ihn, 
weil  Ijykurg  seine  Dichtungen  nach  Sparta  gebracht  haben 
sollte,  dem  grossen  Gesetzgeber  gleichzeitig;  andere  Hessen  sich 
wieder  von  anderen  Gedanken  leiten.  Aus  Pietätsrücksichten 
erwähne  ich  Herodots  Annahme,  wonach  (2,  53)  Homer  und 
Hesiod  vierhundert  Jahre  vor  ihm  gelebt  hätten ;  die  übrigen 
Ansätze,  die  in  ihren  Extremen  um  fast  ein  halbes  Jahrtausend 
abweichen,  sämmtlich  anzuführen,  wirft  keinen  Gewinn  ab. 
Eben  so  w^enig  kann  ich  mich  entschliessen ,  auf  die  Kombi- 
nationen der  Neueren  einzugehen,  so  erheiternde  Episoden  auch 
eine  Musterung  derselben  ergeben  würde.  In  dieser  Hinsicht 
empfehle  ich  die  mit  beneidenswerter  Siegesgewissheit  vorge- 
tragenen Ansichten  von  A.  Krichenbauer  -)  und  Gladstone,  dessen 
Buch^),  weil  er  als  Staatsmann  bessere  Erfolge  aufzuweisen  hat, 
auch  einen  Uebersetzer  fand.  *)  Sämmtliche  Anhaltspunkte, 
welche  man  aufspürte ,  sind  hinfällig :  Die  Griechen  nannten 
gleich  den  Hebräern^)  die  phönikischen  Seeleute  nach  Sidons 
Rückgange  ebenso  gut  Sidonier  wie  vorher.  Der  Ruhm  von 
dem  (ilanze  des  hundertthorigen  Thebens^)  überlebte  ihn  selbst, 
wie  man  auch,  als  Krösus  schon  längst  tot  war,  noch  von 
seinem  ungeheueren  Reichtunie  hörte,  und  der  fabelhafte 
Wohnsitz  am  Ende  der  Erde,    wo  die  Kimmerier  hausen,  ver- 


1)  Jahrbb.  67,  241  ff.  362  ff'.  609  ff.,  daun  in  der  diss.  II.,  vgl.  Braiidis 
de  temporum  Graec.  autiquiss.  rationibus,  Bonn  1857  S.  1  ff.,  A.  v.  Gut- 
schmid  Jahrbb.  83,  20  ff.  Düntzer  die  hom.  Fragen,  Lpz.  1874.  Senge- 
buschs  Hypothesen,  die  zu  viel  Beilall  fanden,  zerstörte  E.  Rohde  in  einem 
nmstergiltigen  Aufsatze  (Rhein.  Mus.  36,  380  ff.  524  ff.)  für  immer. 

2)  Ztsch.  f.  öst.  Gymn.   1873  S.  641   ff'. 

3)  Homeric  synchronism,  London  1876  =  Homer  und  sein  Zeitalter, 
Jena  1877. 

4)  Nach  Gladstone  fiel  Troja  zwischen  1316  und  1226;  Homer  lebte 
nicht  viel  mehr  als  50  Jahre  später.  Er  lernte  von  dem  ägyptischen  Epikei 
Pentaur!  Achilleus  entspricht  Sesostris ! 

5)  Vgl.  Jesaias  23,  24.  Deut.  3,  9.  Ezechiel  32,  30. 

6)  Unt«r  der  22.  Dynastie,  934—898  v.  Chr.  nach  A.  v.  Gutschmid 
Beitr.  zur  Gesch.  des  alten  Orients  S.  133. 


jQQ  3.  Kapitel. 

bietet  eher  die  Erinnerung  an  ilire  verhängnisvollen  Züge.  ^) 
Den  Gedichten  selbst  folgend  können  wir  uns  die  Zeit  etwa 
so  vorstellen :  Wenigstens  als  die  Ilias  entstand,  war  die  Königs- 
li lacht  ungebrochen  und  noch  nicht  durch  Parteiungen  unter- 
graben, obgleich  bereits  einzelne  (ich  erinnere  an  Thersites) 
«ich  gegen  sie  aufzulehnen  suchten.  Auch  die  verderblichen 
Folgen  der  Vielherrschaft  (ß  204)  hatten  die  Griechen  schon 
-erprobt.  In  der  Odyssee  erscheint  die  aristokratische  Fronde 
ausgebildet ;  aber  noch  immer  steht  der  Sänger  auf  Seite  des 
Herrscherhauses,  ein  Beweis,  dass  er  sich  im  Saale  des  Königs- 
palastes am  sichersten  fühlte.  Ferner  entspringt  der  lebhaftere 
Betrieb  des  epischen  Gesanges  immer  dem  behaglichen  Gefühle, 
das  der  aus  blutigen  Kämpfen  entsprungene  Friede  oder  das 
glückliche  Ende  grossartiger  Unternehmungen  gewähren.  Seit 
■dem  ersten  Napoleon  ^)  zweifelt  nnemand  daran,  dass  der  Dichter 
der  Ilias  alle  Schrecken  des  Krieges  geschaut  und  jedenfalls 
«elbst  gegen  die  Barbaren  ins  Feld  gezogen  sei ,  weil  er  die 
Wunden  vortretflich  zu  schildern  versteht.  Wir  kommen  also 
auf  die  Zeit,  die  zwisclien  der  Konsolidierung  der  jonischen 
Kolonien  und  dem  allmäligen  Untergang  des  Königtums,  also 
etwa  zwischen  900  und  700  liegt.  Dieser  Spielraum  könnte 
noch  etwas  verringert  werden,  wenn  die  Ansetzung  des  Arktinos 
auf  die  erste  Dekade  der  Olympiaden  über  allen  Zweifel  erhaben 
wäre;  denn  seine  Äthiopis  setzt  die  abgeschlossene  Ilias  voraus. 

Von  den  Sagen  über  Homers  Lebensschicksale  verdienen 
nur  zwei  durch  ihr  Alter  Aufmerksamkeit:  Herakleitos ^)  erzählt 
bereits,  dass  der  Dichter  aus  Gram,  weil  er  ein  Rätsel  nicht 
lösen  konnte,  starb ;  dagegen  erschloss  Thukydides  (3,  104)  die 
Blindheit  Homers  nur  aus  dem  delischen  Hymnus,  der  ihm 
homerisch  dünkte. 

Den  Schluss  dieses  Abschnittes  mögen  einige  Worte  über 
die  bildlichen  Darstellungen  Homers  machen.  Begreiflicher 
Weise  regte  sich  bald  der  Wunsch,  den  geliebten  Sänger  auch 


1)  Was  Bergk  fl  468  ff.)  neues  bringt,  hat  noch  weniger  Gewicht. 

2)  Uebersicht  der  Kriege  Cäsars,  Stuttgart  1836  S.  218. 

8)  Bei  Hippel,  adv.  haer.  9,  9;  das  Epigramm  findet  .sich  auch  auf 
-einem  pompejanischen  Wandgemälde  (Dilthey  epigr.  Gr.  Pomp.  rep.  Zürich 
1876  p.   11    tl.  und   Ann.  d.  1.   1876  S.  300  ff). 


Die  homerischeu  Epen.  ()1 

mit  leiblichen  Augen  zu  schauen^)  und  den  Heroenkult  einem 
Bilde  darzubringen.  Daher  finden  wir  sein  angebliches  Porträt 
auf  Münzen  von  Chios^),  Smyrna^),  los  und  anderen  klein- 
asiatischen Städten;  auch  liebten  es  seine  Verehrer  auf  Gemmen 
zu  tragen.^)  Smyrna  verehrte  ihn  in  einem  alten  Schnitz- 
bilde ^)  und  der  König  Ptolemäus  Philopator  ^)  errichtete  ihm 
eine  Statue.  Wir  besitzen  mehrere  Idealköpfe,  einen  farnesischen, 
kapitolinischen  und  einen  in  Sanssouci  ^),  ferner  das  bekannte 
Relief  des  Archelaos  aus  dem  Anfange  der  Kaiserzeit,  die  soge- 
nannte Apotheose  Homers^)  und  ein  herculaneisches  Silber- 
gefäss  mit  ähnlicher  Darstellung.  ^) 

Während  die  Alten  demnach  Homers  leibhaftige  Existenz 
als  unzweifelhaft  betrachteten ,  ging  die  Skepsis  der  neueren 
Zeit  so  weit,  die  Existenz  eines  Homer  überhaupt  zu  leugnen. 
Zunächst  sahen  die  meisten  in  dem  Namen  "Oiatj^o?  ein 
Appellativ,  wodurch  Homer  eine  blosse  Personifikation  schien. 
Seit  A.  W.  Schlegel^'')  auf  Vyäsa,  den  ,, Sammler",  der  in  der 
ältesten  Literaturgeschichte  Indiens  eine  grosse  Rolle  spielt  ^^), 
hinwies,  bedeutet  Homer  für  Unitarier  den  „Verfasser"  und  für 
Anhänger    der    Liedertheorie    den    ,, Zusammenfüger".  ^^)     Aus 


1)  Pliu.  35,  2.  Das  wahrscheinlich  älteste  Bild  ist  uns  auf  einer  ietischen 
Münze  des  vierten  Jahrhunderts  enthalten  (Friedländer  das  kgl.  Münz- 
kabinet  Nr.   166  S.   78*). 

2)  Poll.  9,  6. 

3)  Mionnet  descr.  des  med.  in  291  ff.  suppl.  VI  303  ff.  u.  ö. 

4)  z.  B.  Lippert  dactyl.  II  p.   125. 

5)  Strabo  14,  646. 

6)  Ael.  V.  h.  13,  22,  vgl.  Luc.  Dem.  enc.  2. 

7)  Matz  Katalog  der  röm.  Bildwerke  Nr.  1754  I  487  weist  auf  eine 
Herme  hin,  die  wahrscheinlich  Homer  darstellt  und  einen  ungewöhnlichen 
Typus  zeigt. 

8)  Herausg.  v.  E.  Braun,  Leipzig  1849,  vgl.  Kortegarn  de  tabula 
Archelai,  Berlin  1862. 

9)  Millingen  anc.  uned.  mon.  2,  13.  Miliin  gall.  myth.  149.  O ver- 
beck Pompeji  II*  Fig.   330  b. 

10)  Indische  Bibliothek  II  221  ;  schon  Ilgeu  (Hymn.  Hora.  praef.  p.  XXIII) 
dachte  an  ö[j.oü  apcu. 

11)  Aber  hier  ist  die  Etymologie  unzweifelhaft.  Dann  sieht  ihn  auch 
die  indische  Sage  in  der  Hauptsache  als  blossen  Sammler  an  ;  überdies  be- 
richtete sie  von  mehreren  Vyäsas,  so  dass  die  appellative  Eigenschaft  des 
Namens  in  keiner  Hinsicht  zweifelhaft  ist. 

12)  Welcker  ep.  Cyklus  I  125  ff.,  M  üllen  ho  f  f  zur  Gesch.  der  Nibelungen. 


,Q2  ^-  Kapitel. 

•  den  resultatlosen  Streitigkeiten  geht  mit  Sicherheit  nur  hervor, 

•  dass  Homeros  keineswegs  wie  die  Heroen  der  ältesten  Kunst- 
geschichte einen  rein  appellativen,  also  allegorischen  Namen 
trägt.  Ebenso  wenig  kann  Homer  als  Mensch  gewordener  Gott 
gleich  Orpheus  betrachtet  werden.  Wenn  endlich  die  unkritische 
Volksmeinung    viele   Gedichte,    die    nach    seinem  Muster    ent- 

. standen,  ihm  selbst  beilegt^),  so  könnte  einer  die  Existenz  des 
Plautus  aus  demselben  Grunde  leugnen.  Erst  die  von  den 
.Sophisten  eingeführte  Interpretation  der  Literaturdenkmäler  und 
■  der  Beginn  der  Literaturgeschichte  öffnete  die  Augen  für  die 
grossen  Verschiedenheiten  und  verschaffte  genaueren  Traditionen 
-über  Verfasser  und  Heimat  jener  Dichtungen  Geltung.  So  viel 
wir  wissen,  sprach  zuerst  Herodot  dem  chiischen  Sänger 
Dichtungen  ab;  es  waren  die  Epigonen  und  die  Kyprien  (2,  116). 
Aber  für  die  jüngeren  Attiker  und  Aristoteles  sind  blos  Ilias, 
Odyssee  und  der  Margites  echte  Werke  des  Homer.  Solche 
äussere  Gründe  reichen  also  nicht  hin,  um  den  Dichter  in  das 
Reich  der  Fabel  zu  verweisen ;  darüber  müssen  die  Gedichte 
selbst  Aufschluss  geben.  Es  fragt  sich  jedoch  hier  nicht,  ob 
ein  Homer  gelebt  habe;  die  homerische  Frage  besteht 
vielmehr  darin :  Sind  Ihas  und  Odyssee  gänzlich  oder  dem 
Kerne  nach  die  Werke  von  Dichterindividuen  oder  bestehen 
sie  aus  kleineren  selbständigen  Gedichten,  die  erst  später  zu 
einer  Einheit  zusammentraten? 

Die  Geschichte  der  homerischen  Frage '^)    bildet  nicht  einei 
festgeschlossene  Kette;  denn  gelehrtes  Studium,  philosophische 
^Spekulation  und  ästhetische  Betrachtung  gehen  leider  ziemHch 


Not  S.  71,  Düntzer  honi.  Fragen  (Lpz.  1874);  Holtzmann  erklärt  Homer 
als  Samäsa.  G.  Curtins  de  nomine  Horaeri,  ind.  schol.  Kil.  hib.  1856/6, 
mit  coroU.  1856/7  gibt  den  Homeriden  5|j.Yjpo'.  „Gesellen"  zum  ursprünglichen 
Namen;  daraus  soll  erst  ein  Ahnherr  abstrahiert  worden  sein. 

1)  Soidas:  ava«pEj>5Tct'.  51  sie  'Ji'ixöv  xal  olKKu  x'.va  TCOi-fjiJLata  •  'A|J.aCovi»x 
(=  Ai8-.0T:i':),  M/.'.a;  {ji'.xpa,  Nöotoi,  'Kitu'.)^Xi5ec,  'Hö-c£i:av.TOj;  (vgl.  Bernhardys 
Komm.)  T|tot  '.«nßoi,  Mooßatpayojxayia,  'Apayvojxayia,  repavoixa/ia,  Kepa^iel':, 
'AfKptapäo'j  j^eXasK;  (r=  BYjßrxt^,  schon  nach  Kallinos,  vgl.  Welcker  ep. 
Cyklns  1,  198  f.),  llatYvta  (=:  Mr/.^j-( izr^i,  AT?),  Oly!/Ji.\irjLq  5/.W3'.!:,  'KTC'.d'aXei|i'.a, 
Küx/.or  (!),  Tiivot,   KoTipta  (auch  nach  Pindar). 

2)  R.  Volk  mann  Geschichte  und  Kritik  der  Wolf  sehen  Prolegoraena 
2U  Homer,  Lpg.  1874,  Nachträge  zur  G.  u.  K.  d.  W.  Fr.,  .lauer  1878;  L. 
Friedländer  die  homerische  Kritik  von  Wolf  bis  Grote,  Berlin  1863. 


Die  homerischen  Epen.  63 

unvermittelt  neben  einander  her.  Daher  wurde  nirgends  so 
viel  gegen  Poesie  und  Geschmack  gesündigt  als  bei  den  Ver- 
suchen, die  homerische  Frage  zu  lösen.  Wer  eine  Anzahl 
davon  durchgearbeitet  hat,  dem  ward  das  nil  admirari  als  vor- 
züglichste Errungenschaft.  ^) 

Während  im  Altertum  Niemand  an  der  Existenz  Homers 
und  der  im  Grossen  und  Ganzen  unversehrten  Erhaltung  seiner 
Gedichte  zweifelte,  stiegen  zuerst  Casaubonus  ^)  und  Perizonius^) 
wegen  einer  Stelle  des  Josephus^)  Zweifel  an  der  ursprünglichen 
Niederschreibung  auf.  ßentley  wurde  durch  die  unten  zu  be- 
sprechenden Aeusserungen  der  Alten  auf  die  Vermutung  geführt, 
Homer  habe  blos  einzelne  Gesänge  gedichtet  und  Peisistratos 
sie  zusammengestellt.  Französische  Schöngeister  und  der  ita- 
lienische Philosoph  Vico  ^)  läugneten  dann  überhaupt  einen 
Dichter  Homer,  jedoch  nur  von  dem  damals  modischen  Skep- 
ticismus  hingerissen.  In  die  Bahnen  der  philologischen  Forschung 
lenkte  wieder  die  Aufsehen  erregende  Schrift  von  Wood,  on  the 
original  genius  of  Homer  ^),  die  in  Voss'  Uebersetzung  den 
Zweifel  an  der  schriftlichen  Abfassung  nach  Deutschland  ver- 
breitete. Hier  fand  Wood  einen  günstigen  Boden  in  der  unge- 
lehrten Welt  vor,  da  durch  Ossian  und  die  hervorragende 
englische  Balladensammlung  Percys  die  Vorliebe  für  Volks- 
dichtung Wurzeln  geschlagen  hatte.  Herder  betrachtete  schon 
am  Anfange  der  siebziger  Jahre  Homer  unter  diesem  Gesichts- 
punkte^)   und  Zoega    machte    1788    in    einer    (erst  1817  unter 

1)  Lehrs  sorgte  durch  die  ergötzliche  Rede  „De  ironia  quatenus  in  historia 
studioruni  Homericorum  eernitur"  (Königsberg  1879)  dafür,  dass  man  nicht 
ob  der  Vergeudung  so  vieler  Kräfte  in  eine  trübe  Stimmung  versinke.  In 
den  wunderlichen  Hypothesen  hat  das  Heimatland  des  Spleen  den  Vorrang  ; 
Paley  behauptet  in  verschiedenen  Schriften  (z.  B.  Journal  of  philol.  6,  114  ff.), 
die  homerischen  Gedichte  seien  erst  in  der  Zeit  des  pelopounesischen  Krieges, 
vielleicht  von  Antimachos,  mit  Benützung  älterer  Epen  zusammengestellt.  Die 
Philologen  englischer  Zunge  nehmen  dieses  Problem  höchst  ernsthaft  und  der 
bekannte  A.s.syriologe  Sayce  trat  Paley  bei;  in  partibus  infidelium  hängt  nur 
Oberdick  der  neuen  Lehre  an. 

2)  Ad  Diog.  Laert.  9,   12. 

S)  Animadv.  histor.  p.  209  ff.  ed.  1771. 

4)  Contra  Apionem  1,  2. 

'))  Della  discoverta  del  vero  Homero  in  den  Opere  V  422  ff.  (Milano  !  854). 

Ü)  p.  271  ff",  suppl.  p.   57  ff.  70. 

7)  Volkmann  S.   79  ff. 


ß4  3.  Kiipitel. 

seinen  Abhandlungen  gedruckten)  Schrift  bereits  auf  die  Wider- 
sprüche aufmerksam.  Als  nun  F.  A.  Wolf  1795  mit  seinen 
Prolegomena  ad  Homerum  ^)  hervortrat,  war  seine  Behauptung, 
dass  die  homerischen  Gedichte  erst  von  Peisistratos  aufgezeichnet 
worden  seien  un<i  vorher  noch  nicht  zwei  Epen  gebildet  hätten, 
längst  nicht  mehr  neu.  Wenn  trotzdem  die  homerische  Frage 
von  den  Prolegomena  an  datiert  wird,  so  liegt  dies  daran,  dass  in 
seiner  Person  zuerst  ein  angesehener  Gelehrter  mit  den  Er- 
gebnissen langjähriger  Studien  ausgerüstet  scharfsinnig  ver- 
teidigte, was  seine  Fachgenossen  bisher  noch  nicht  in  ernste 
Erwägung  gezogen  hatten;  er  führte  somit  einerseits  die 
homerischen  Fragen  in  die  Fachwissenschaft  ein  und  verlieh 
den  schon  ziemlich  allgemein  geläufigen  Resultaten  anderer- 
seits in  den  Augen  der  Schriftsteller  durch  die  gelehrte  Unter- 
suchung den  Schein  der  Unerschütterlichkeit.  In  den  Ideen 
selbst  erhob  sich' Wolf  nicht  über  seine  Zeit,  obgleich  er  mit 
seinen  Schülern  die  Gedanken  der  Prolegomena  als  etwas  neues 
hinzustellen  liebte.  Die  nächsten  vierzig  Jahre  bezeichnen  für 
die  homerische  Frage  keinen  Fortschritt;  kritiklose  Hingebung, 
einerseits  unverständige  andererseits  unwürdige  Polemik  und 
wenig  erbaulicher  Gesinnungswechsel  charakterisieren  sie.  Wolf 
trug  vielleicht  am  meisten  zu  diesen  verworrenen  Zuständen 
bei,  es  war  ihm  nicht  gegeben,  zu  positiven  Resultaten  fortzu- 
schreiten und  in  mühsamer  Arbeit  seine  Theorie  weiter  zu 
führen  und  zu  ergänzen.  Er  bearbeitete  nur  die  beiden  Fragen : 
Wann  wurden  die  homerischen  Gedichte  niedergeschrieben  und 
welche  Stellung  haben  wir  dem  athenischen  Tyrannen  dabei 
anzuweisen?  Obgleich  sie  jetzt  die  ihnen  früher  beigelegte 
Wichtigkeit  verloren  haben,  müssen  wir  doch  des  Missbrauches 
wegen  auf  sie  eingehen. 

Zu  Homers  Zeit  war  die  Schrift  gewiss  den  Griechen 
unbekannt,  nicht  weil  Homer  die  Schrift  nicht  erwähnt;  thut 
dies  doch  auch  Virgil  nicht.  Hingegen  fehlt  sie,  wo  jeder 
eine  Hindeutung  darauf  erwartet,  nämlich  in  der  bekannten 
Stelle  II  170  ff. 2);  in  Z  169  aber  wird  sie  so  beschrieben,  dass 


1)  Mit   unbedeuteuclen  Noten    Bekkers    mehrinals   neu  gedruckt,    zuletzt 
Berlin   1876. 

2)  Die   homerischen  Helden    gebrauchten ,    wie   die  (.iernianen    und    noch 
der  von   Herod.  6,  8ü  erwähnte  Mann,  Hausmarken. 


n 


Die  homerischen  Epen.  65 

jeder  sieht,  der  Dichter  habe  nur  durch  das  (verlieht  von  einem 
orientalischen  Geheimmittel,  das  zunächst  wegen  seiner  Ge- 
fährlichkeit auffiel^),  erfahren.  Fragt  man  nach  den  ältesten 
Schriftdenkmälern  Griechenlands,  so  dürfen  wir  von  Sakristei- 
reliquien, wie  den  thebanischen  Dreifüssen  und  dem  Diskos 
des  Iphitos,  ebenso  von  den  später  zurückergänzten  Listen  der 
Olympioniken  und  Staatsbehörden  billig  schweigen.  Das  älteste 
echte  Denkmal,  das  den  Griechen  vorlag,  waren  die  Inschriften 
des  Kypseloskastens,  vielleicht  bald  nach  700  angefertigt.  Daran 
schliessen  sich  die  Beischriften  der  sogenannten  korinthischen 
Vasen.  Längere  Schriftstücke  kommen  in  den  Gesetzen  des 
Zaleukos  (um  630  bei  den  epizephyrischen  Lokrern),  Charondas 
(etwas  später  in  den  jonischen  Städten  Siciliens),  Drakon  (um 
520  in  Athen)  und  Solon  (494)  vor;  freilich  darf  man  zweifeln, 
ob  jene  ältesten  Gesetse  wirklich  niedergeschrieben  oder  gleich 
denen  des  Lykurg  mündlich  gegeben  waren.  ^)  Dort  diente  die 
Schrift  dem  Schmucke  oder  den  Zwecken  des  Staates;  für 
Privataufzeichnungen  verwendet  erscheint  sie  zuerst  —  wenig- 
stens chronologisch  bestimmbar  —  am  Koloss  von  Abusimbel 
(zwischen  594  und  589)  ^),  doch  sind  die  Inschriften  von  Thera 
wahrscheinlich  älter. ^)  Aber  selbst  wenn  wir  die  Möglichkeit 
nicht  leugnen,  dass  die  homerischen  Epen  etwa  um  700,  aber 
jedenfalls  erst  ziemlich  lange  nach  ihrer  Abfassung  niederge- 
schrieben wurden ,  hat  es  doch  mit  dem  Epos  eine  besondere 
Bewandnis.  Das  Heldengedicht  will  gehört,  das  Lehrgedicht 
eher  gelesen  werden.  Zeichnet  man  jenes  auf,  so  bedeutet  dies 
nichts  anderes  als  dass  man  seinen  Untergang  fürchtet;  in 
Deutschland  verdrängte  das  Christentum  die  alten  Heldenlieder, 


1)  Lope  de  Vega  stellt  in  dem  Lustspiele  'El  nuevo  mundo'  lustig  dar, 
wie  ein  Brief  den  Indianern  als  furchtbarer  Zauber  erscheint. 

2)  Von  Zaleukos  war  ersteres  freilich  die  allgemeine  Ansicht,  doch  be- 
sassen  die  Lokrer  später  jedenfalls  die  Gesetze  nicht  mehr,  weil  Timaios  ihre 
Existenz  leugnete  (Cic.  ad  Att.  6,  1,  18.  leg.  2,  6,  15). 

3)  Ol.  46,  3  —  47,  4  regierte  Psammetich  II.,  vgl.  Wiedemann  Ehein. 
Mus.  35,  364  flf.  Kirchhoff  Studien  zur  Geschichte  des  griech.  Alph.  ^  34  fif. 
setzt  die  Söldnerinschriften  zwischen  Ol.  40  und  47. 

4)  üeber  die  Steinmetzzeichen  der  sogenannten  servianischen  Mauer 
Jordan  Topogr,  der  Stadt  Rom  I  1,  259  ff.;  krit.  Beiträge  zur  Gesch.  der 
lat.  Sprache  S.   153  f.  358  f. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  5 


QQ  3.  Kapitel. 

aJs  sie  Karl  der  Grosse  aufzeichnen  Hess;  in  Griechenland  be- 
anspruchten wahrscheinlich  Lyrik,  Lehrgedicht  und  die  Anfänge 
der  Prosa  den  grösseren  Teil  des  Interesses  bei  dem  Publikum. 
Dagegen  mögen  die  Rhapsoden  selbst  zur  Stütze  des  Gedächt- 
nisses, obgleich  bei  Mangel  an  Schreibmaterial  dasselbe  eine 
Ulis  fast  unglaubliche  Tragkraft  erlangt^),  schon  verhältnismässig 
früh  die  Gesänge  ganz  oder  teilweise  aufgezeichnet  haben. 
Da  aber  vor  der  Aufschliessung  Ägyptens  ein  bequemes  Schreib- 
material fehlte,  ist  an  eine  grössere  Zahl  von  Handschriften 
nicht  zu  denken.  ^) 

Mehrere  Schriftsteller  rühmen  nun  den  athenischen 
Tyrannen  Peisistratos  wegen  dieses  Verdienstes  und  noch  mehr ! 
sie  behaupten  zugleich,  er  habe  die  homerischen  Gedichte,  die 
früher  einzeln  gesungen  wurden ,  erst  sammeln  lassen.  ^)  Alle 
Neueren,  welche  ihre  Einheit  leugneten,  waren  über  diese 
urkundliche  Bestätigung  ihrer  Hypothesen  so  erfreut,  dass  sie 
die  Festigkeit  der  Beweismittel  zu  untersuchen  vergassen.  Das 
älteste  Zeugnis  bietet  Cicero  (de  or.  3,  34) :  Pisistrati  qui  primus 
Homeri  libros  confusos  antea  sie  disposuisse  dicitur'*)  ut  nunc 
habemus.  Vorher  weiss  niemand  irgend  etwas  davon,  wie  die 
alten  Schollen  ausdrücklich  beweisen;  denn  Aristarch  bürdet 
zwar  die  Schuld  an  manchen  Interpolationen  den  SiaaxeoaoTat 
auf,  sucht  jedoch  bei  Versen,  welche  nach  den  Neueren  unter 
Peisistratos  in  den  Text  gekommen  sein  sollen ,  immer  nach 
anderen  Gründen  der  Athetese.  ^)  Dann  hätten  auch  die  Attiker 
den  Anteil  ihrer  Stadt  gewiss  bedeutend  hervorgehoben;  im 
Gegenteil  sagt  aber  der  Sokratiker,  welcher  den  Hipparchos 
verfasste,  erst  dieser  Sohn  des  Peisistratos  habe  die  homerischen 

1)  W.  Müller  hom.  Vorschule  S.  48. 

2)  Auch  iu  der  attischen  Periode  lerute  das  Publikum  die  Epeu  vorzugs- 
weise durch  die  Vorträge  der  Rhapsoden  kennen  (vgl.  Arist.  poet.  26  Auf.); 
schriftliche  Exemplare  besassen  in  der  Regel  nur  Rhapsoden  und  Lehrer. 

:})  Nitzsch  bist.  Hom.  II  fasc.  4  partic.  2;  Fr.  Ritschi  die  alex. 
Bibliotheken  unter  den  ersten  Ptoleniäem  und  die  Sammlung  der  hom.  Ged. 
diiich  P.,  Breslau  1838.  Bonn  M840  =  Opusc.  1,  1  —  112,  dazu  S.  238  ff.; 
Diintzer  hom.  Abh.  S.  1—27;  Nutzhorn  Entstehung  der  hom.  Gesänge 
1889  S.   16—66. 

4)  Wahrscheinlich  dachte  er  an  seinen  Zeitgenossen  Asklepiades  vou 
Myrleo,  dessen  grosses  Werk  ntpl  YpoifijJiaT'.xdiv  Suidas  gerade  bei  Orpheus  von 
Kroton  citiert;  vgl,  B.  ten  Brink  Mnemos.  3  (1854)  S.  261  ff. 

6)  Lehrs  de  Arist.  studiis  Iloraericis  ''447  ff.  ^442  ff. 


Die  homerischen  Epen.  67 

Oesänge  nach  Attika  gebracht  (228  b).  Aber  rasch  bildete  sich 
«ine  Peisistratoslegende  von  gelehrtem  Anstrich;  ein  anonymer 
Grammatiker,  der  über  die  Komödie  schrieb^),  erzählt  bereits 
genauer:  oi  Ss  Tsaaapai  tioi  tyjv  sttI  Hsioigz pAzoo  Stöpd-wotv 
avaipspouaiv  'Op'f  si  KpoTWVidn;] ,  Z(o;tüp(p  "^HpaxXswriQ ,  'Ovo[JLaxptT({) 
'A^Yjvai(})  %al  xaYSiclxoYXoXco.  Der  vierte  Name  sei  anderen  zur 
Enträtselung  überlassen ;  die  beiden  ersteren  sind  wahrscheinlich 
pythagoreische  Orphiker,  die  nicht  vor  dem  perikleischen  Zeit- 
alter in  Athen  gelebt  haben  können.  ^)  Onomakritos  von 
Athen  ^)  dagegen  erscheint  nur  mit  orphischen  und  anderen 
frommen  Schriften  beschäftigt  und  dies  so  eifrig,  dass  ihm  für 
Homer  keine  Zeit  übrig  bleiben  konnte.  Zudem  fehlen  orphische 
Elemente  bei  Homer  ^)  und,  wie  wir  später  sehen  werden,  nicht 
minder  bei  Hesiod.  Für  viele  liegt  hingegen  ein  unverwerf- 
liclier  Beweis  in  den  sogenannten  attischen  Interpolationen, 
indem  sie  von  der  Ansicht  auszugehen  scheinen,  alle  und  jede 
Erwähnung  von  Athen  sei  vor  dem  Tyrannen  verpönt  ge- 
wesen; die  uns  bekannten  Verse  ^)  sind  so  unbedeutend  und 
nichtssagend ,  dass  sie  ebenso  gut  oder  fast  wahrscheinlicher 
wohlwollenden  Joniern,  denen  ja  Athen  eng  verbunden  war, 
ihre  Entstehung  verdanken.  Wenn  späte  Schriftsteller  das  Gegen- 
teil behaupten,  so  stützen  sie  sich  dabei  nur  auf  Vermutungen, 
da  den  Alten  ein  peisistrateisches  Exemplar  nicht  vorlag.  Somit 
fehlt  der  Kommission  von  drei  oder  vier  Männern  eine  äussere 


1)  Bergk  Aristoph.  I.  praef.  p.  XXXVIII  §  22,  ausgeschrieben  von 
Tzetzes  in  seinem  Aristophaneskommentare ;  seine  Erzählung  lernte  man  1830 
in  lateinischer  Uebersetzung  durch  das  Scholion  Plautinum  kennen.  Jener 
Anonymus  weiss  schon  von  der  Fabel,  die  den  70  Dolmetschern  parallel  lief; 
70  Grammatiker,  geführt  von  Aristarch  und  Zenodot,  haben  das  Geschäft  der 
Ordnung  besorgt.  Schol.  Dion.  Thr.  p.  77  f.  spinnt  dies  zu  einem  hübschen 
Komane  aus,  worin  die  Interpolationen  als  Folge  von  auri  sacra  fames 
erscheinen. 

2j  Zeller  Philosophie  der  Griechen  I'^  240  If. 

3)  Ritschi  opuscula  I  160  ff. 

4^  X  604  vermittelt  zwischen  der  homerischen  und  der  dorischen  Sage. 

5)  A  265  (echt  nach  Paus.  10,  29,  10).  B  547  ft".  558.  T  144  (schon 
Kyklikern  bekannt).  A  327  f.  N  685.  y  307.  fj  80  f.  X  321  ff.  604  ff.  631. 
S  551b.  Faust  hom.  Studien,  Strassburg  1882  will  auch  die  Einführung 
des  Peisistratos  in  der  Telemachie  dem  Onomakritos  und  seinen  Genossen 
beilegen.  Den  verständigen  Kern  der  albernen  Erzählung,  dass  Solon  durch 
Einschiebung  von  ß  558  die  Megarer  übervorteilt  habe ,  gibt  Aristoteles 
(rhet.   1,   15);  'A^Y]vatot  '^0\i.r^^(ü  [j,äpxup'.  E)(p7]a'zvxo  uEpl   SaXa(j.Ivo?. 

5-* 


ßg  3.  Kapitel. 

Beglaubigung  vollständig,  wenn  wir  nicht  den  späteren  Gram- 
matikern übernatürliche  Intuition  eines  verhältnismässig  so 
frühen  Ereignisses  zutrauen  wollen.  ^)  Wir  können  auch  noch 
ziemHch  sicher  angeben,  wie  die  Legende  entstand.  Da  Peisi- 
etratos  sich  beliebt  zu  machen  und  den  Glanz  seines  Hofes  zu 
heben  suchte,  förderte  er  Literatur  und  Kunst  eifrig;  er 
schmückte  die  Stadt  mit  grossartigen  Bauten ;  auf  seine  Ein- 
ladung kamen  berühmte  Dichter  nach  Athen.  Die  grossen 
Nationalfeste  erweiterte  der  kunstsinnige  Regent  durch  musische 
Schauspiele ;  unter  seiner  Tyrannis  begannen  an  den  Dionysien 
Tragödien  aufgeführt  zu  werden  und  er  war  es  wohl  auch,  der 
an  den  Panathenäen  den  Vortrag  der  ganzen  llias  und  Odyssee 
ins  Werk  setzte.  ^)  Früher  hatten  sich  die  Athener  und  wahr- 
scheinlich in  der  Regel  alle  übrigen  Griechen  mit  ausgewählten 
Stücken  begnügt.  Ausserdem  soll  Peisistratos  auch  eine  BibHo- 
thek^),  worin  die  homerischen  Gesänge  natürlich  einen  Ehren- 
platz^) einnahmen,  angelegt  haben.  Indem  man  beide  Dinge 
verband  und  übertrieb^),  entsprang  die  in  der  Kaiserzeit  gang 
und  gäbe  gewordene  Sage.  ^)   Nur  eine  kleine  Athen  feindliche 


1)  Niemand  teilt  mit,  wer  unter  Lykurg  den  Text  der  Tragiker  fest- 
stellte, obgleich  diese  Revision  in  eine  —  literarhistorisch  betrachtet  —  sehr 
helle  Zeit  fällt. 

2)  Dies  steht  im  Zusammenhang  mit  dem  Vortrage  14  oicoßoX-^?  oder 
üTiöX-fj'^scüi;  (G,  Hermann  opusc.  V  300  ft".  VII  65  ff.  Nitzsch  ind.  1.  aest. 
Kil.  1837,  Böckh  kl.  Sehr.  4,  385  ff.  u.  A.);  vgl.  (mo^lr^iriy  A  292  und 
üt^ßä/.Xstv  T  80.  Dieuchidas  bei  Diog.  L.  1,  57  übertrug  die  Maasregel  auf 
Solon  als  Gesetzgeber  xax'  l^o/'H^i  ^^^^  hatte  dieser  wichtigeres  zu  thun. 
Ps.  Plato  (Hipparch.  228  b,  daraus  Ael.  v.  h.  8,  2)  teilt  auch  diese  Ehre 
seinem  allerdings  sehr  gebildeten  Helden  zu;  man  denke  nur  an  die  iwetischeu 
Grenzsteine,  die  er  setzte.  Indes  fügt  sich  die  Anordnung  bei  seinem  Vater 
besser  zu  den  anderen  Nachrichten.  Hipparch  scheint  sich  ausserdem,  wenn 
wir  uns  an  Simonides,  Anakreon  und  LasoS  erinnern,  für  Lyrik  am  meisten 
interessiert  zu  haben.     Lykurg  (in  Leoer.  102)    nennt  einfach    die  Vorfahren. 

3)  Gell.  7,  17,  l;  Athen.   1,  3a.  Tertull.  apol.  18. 

4)  Man  vergesse  nicht,  dass  die  Peisistratiden  ihr  Geschlecht  auf  Nestor 
zurückführten. 

5)  Auch  die  Missgunst  der  Megarer  wirkte  mit  (Plut.  Thes.  20). 

6)  .\el.  v.  h.  13,  14;  Paus.  7,  26,  13;  Schol.  Harl.  \  604;  Schol.  Vict. 
n.  Eust.  zn  K  u.  A.  Auch  das  bekannte  Epigramm  (Bekker  An.  768  und  in 
den  meisten  vitae),  das  zu  Athen  auf  einer  Statue  des  Tyrannen  stand,  niuss 
aus  einer  Zeit,  wo  das  republikanische  Gefühl  und  der  Tyranuenhass  ganz 
erstorben  waren,  stammen. 


% 


Die  homerischen  Epen.  69 

Partei  verteidigte  die  Ansprüche  des  spartanischen  Gesetzgebers. 
Nachdem  nämlich  Ephoros  den  Lykurg  mit  dem  berühmten 
Dichter  auf  Chios  liatte  zusammenkommen  lassen^),  dichteten 
einige^),  Lykurg  habe  die  homerischen  Gedichte  bei  den  Nach- 
kommen des  samischen  Rhapsoden  Kreophylos  kennen  gelernt  ^) 
und  eine  Abschrift  nach  Sparta  gebracht.  Diese  schlecht  be- 
zeugte Nachricht  entspringt  daraus,  dass  die  Spartaner  schon 
frühe  in  ihren  musischen  Agonen  Homer  vortragen  hörten. 

Diese  äusseren  Zeugnisse  sprechen  somit  durchaus  nicht 
gegen  eine  ursprüngliche  Einheit  der  Gedichte,  wenn  gleich  es 
noch  lange  dauern  wird,  bis  jene  unhistorische  Erzählung  keinen 
Glauben  mehr  findet.  Die  Vereinzelung  der  Gesänge  vor  Peisi- 
stratos  ist  aus  den  unzuverlässigen  vagen  Nachrichten  nicht  zu 
beweisen;  aber  auch  dass  llias  und  Odyssee  vielleicht  Jahr- 
hunderte hindurch  auf  mündliche  Fortpflanzung  angewiesen 
waren,  hat  nichts  auffälliges,  da  wir  ähnliche  Beweise  von  Ge- 
dächtnisstärke bei  anderen  Völkern  finden.^)  Von  dieser  Seite 
haben  die  Verteidiger  der  Einheit  keine  gefährlichen  Angrifife 
zu  erwarten;  ihre  Gegner  müssen  wie  sie  ihre  Waffen  den 
Dichtungen  selbst  entlehnen. 

Da  die  kunstvolle  Komposition  der  Odyssee  eher  als  die 
der  llias  einleuchtet,  müssen  bei  einer  Uebersicht  über  die 
mannigfaltigen  Hypothesen  beide  strenge  geschieden  werden. 
Wir  behandeln  zunächst  das  ältere  Gedicht  von  Achilleus' 
Zorne,  indem  wir  die  verwirrende  Fülle  der  Literatur  in  drei 
grosse  Gruppen  gliedern.  Die  Uni  tarier^)  halten  an  der 
Einheit  der  llias  mit  Zähigkeit  fest  und  geben  nur  wenige 
Stücke  als  Interpolationen  preis.  Sie  verdienen  im  allgemeinen 
die  Anerkennung,  dass  sie  ihren  Antipoden  an  poetischem 
Gefühle  weit  überlegen  sind,  wenn  sie  auch  besonders  in  der 
Darlegung  der  Komposition  zu  viel  in  die  Gedichte  hinein- 
interpretieren und  in  der  Polemik  die  Winkelzüge  der  theologischen 


1)  Strabo  10,  482,  vgl.  Geiz  er  Rhein.  Mus.  28,  3  f.  8. 

2)  Herakleides  polit.  2,  3.  Plut.  Lyc.  4.  Ael.  v.  h.  13,  14.  Chr.  He  in  ecke 
Homer  und  Lykurgos,  Lpz.   1833. 

3)  An  Stelle  von  Samo.s  setzt  Die  Chrys.  (or.  II  §  45)  Kreta,  vroher  man 
die  lykurgische  Gesetzgebung  ableitete,  oder  Jonien. 

4)  Grote  history  of  Greece  II  199  Anm. 

5)  Die  älteren  Vertreter  haben  nur  mehr  ein  historisches  Interesse. 


70  3.  Kapitel. 

Apologeten  getreulich  nachmachen.  Nitzsch  war  der  ange- 
sehenste Vertreter  dieser  Richtung,  trotzdem  errangen  seine 
Schriften  ^)  nur  einen  Achtungserfolg.  Dasselbe  Prinzip  ver- 
teidigten Nägelsbach  ^),  Bäumlein ^),  Gerlach*)  und  Nutzhorn. ^) 
Jetzt  hält  noch  Kiene  ^)  die  Fahne  der  Unitarier  unermüdlich 
aufrecht. 

In  entschiedenem  Widerspruch  steht  damit  die  Lied  er - 
theorie  mit  zwei  Nuancen.  Die  wissenschaftliche  hat  Lach- 
mann begründet.')  Da  er  zu  erkennen  glaubte,  dass  manche 
Gesänge  der  Ilias  in  sich  völlig  abgeschlossen  seien,  dehnte  er 
diesen  Grundsatz,  ermutigt  durch  seine  Zergliederung  des 
Nibelungenliedes,  auf  die  ganze  Ilias  aus  und  suchte  namentlich 
durch  Beobachtung  der  Widersprüche  und  Verschiedenheiten 
die  ursprünglichen  Einzellieder  herzustellen.  Auf  diesem  Wege 
zerlegte  er  die  Ilias  in  sechzehn  Lieder  mit  verschiedenen  Fort- 
setzungen und  Füllstücken,  wozu  noch  die  beiden  letzten  jungen 
Gesänge  traten.  Die  ersten  neun  Lieder  fallen  meistens  mit 
dem  Ende  der  heutigen  Gesänge  zusammen;  aber  die  Lieder 
Nr.  10 — 14  können  nur  durch  die  gewaltthätigsten  und  willkür- 
lichsten Mittel  zu  Stande  kommen.  Lachmann  scheint  instinktiv 
gefühlt  zu  haben,  dass  hier  die  schwächste  Stelle  seiner  Analyse 
sei;    denn   hier  (S.  356). spricht  er  am  selbstbewusstesten    und 


1)  Die  Sagenpoesie  der  Griechen  kritisch  dargestellt.  Braunschweig  1852 
(vgl.  Schümann  Jahrbb.  69,  1  ff.  129  ff.);  Beiträge  zur  Gesch.  der  epischea 
Poesie  der  Griechen,  Lpg.  1862. 

2)  Anmerkungen  zur  Ilias,  Nürnberg  ^1864. 

3)  Comm.  de  compo-sitione  Iliados  et  Odysseae,  Maulbronn  1847. 

4)  in  einem  schönen  Aufsatze  Philol.  30,  1  ff. 

5)  Die  Entstehungsweise  der  honi.  Gedichte,  Lpg.  1869  (mit  feinen 
Beobachtungen  über  die  Heroencharaktere). 

6)  Die  Komposition  der  Ilias,  Gott.  1864. 

7)  Betrachtungen  über  Homers  Ilias  mit  Zusätzen  von  M.  Haupt,  Berlin 
1847.  '  1874  (1837  und  1841  in  den  Akademieschriften  veröffentlicht);  Au.s- 
züge  aus  seineu  Briefen  an  Lehrs  bei  Friedländer  die  hom.  Kritik  von 
Wolf  bis  Grote,  und  Kammer  die  Einheit  der  Odyssee;  Briefwechsel  mit 
W.  Grimm  in  Zachers  Ztsch.  f.  deutsche  Philol.  2,  193  ff.  343  ff.  546  ff. 
Gleichzeitig  kam  Näke  ind.  prael.  aest.  Bonn  1838  bezüglich  der  beiden 
ersten  Gesänge  zu  ähnlichen  Resultaten.  Auch  G.  Hermann  hatte  schon 
ähnliches  geahnt  (Opusc.  5,  66  ff.  8,  11  ff,).  Lachmann's  Schrift  möge  der 
Leser  mit  der  berühmten  anonymen  Recension  in  den  Blättern  für  literarische 
Unterhaltung  1844  Nr.  126—29  (von  Weisse  oder  Gervinus)  zusammenhalten. 


I 


]j  Die  homerischen  Epen.  71- 

'I      schleudert  ein  berühmt  gewordenes  Dictum  gegen  die  Zweifler. 

'I  Das  fünfzehnte  (0  593  ff".  IL  P)  und  sechzehnte  Lied  (S— X) 
überschreiten  weit  den  Umfang  von  Einzelliedern.  Unter  seinen 
Nachfolgern  steht  Köc hl y  obenan,  der  in  sieben  Züricher  Pro- 
grammen, de  Iliadis  carminibus  dissertationes  betitelt  ^),  den  Um- 
fang der  Lieder  vielfach  eigenartig  begrenzte  und  es  sogar  wagte,  eine 
Ausgabe  der  ursprünglichen  Iliaslieder  zu  veranstalten.  "^)  Weniger 
selbständig  war  Haupt.  ^)  In  neuerer  Zeit  sind  Jacob  ^),  der  die 
Aufspürung  von  Widersprüchen  fast  krankhaft  betrieb,  und 
Benicken  wegen  seiner  unverdrossenen  Paraphrasierung  der 
Lachmannischen  Theorien  zu  erwähnen.  Aber  auch  diese 
Richtung  ist,  wenn  ich  nicht  irre,  jetzt  bei  den  Meisten  in 
Misskredit  gekommen.  Die  andere  erwähnte  Nuance ,  die 
ästhetisch-philosophische^),  wurde  von  Herder  eingeleitet,  steht 
aber  für  unser  Jahrhundert  mit  Recht  in  der  Ecke,  seitdem 
durch  die  vergleichende  Literaturgeschichte  die  verworrenen 
Ansichten  von  Volksdichtung  geklärt  wurden. 

Was  die  Liedertheorie  überhaupt  betrifft,  so  sprechen  alle 
Zeugnisse  dagegen.  ^  Lachmann  wies  zunächst  auf  die  peisi- 
strateisclie  Kommission  hin,  die  wir  als  Legende  erkannt  haben ; 
aber  auch  wenn  sie  wirklich  existiert  hätte,  durfte  er  sie  nicht 
zu  seinen  Zwecken  gebrauchen.  Denn  nur  wenig  später 
operieren  Herodot  und  selbst  der  grosse  Kritiker  Thukydides, 
der  die  Harmodioslegende  ihres  erborgten  Glanzes  entkleidet, 
so  unbefangen  mit  dem  Namen  Homers,  dass  sie  von  einer 
Zusammenflickung  durch  jene  Kommission  nichts  wissen  können. 
Wenn  man  Peisistratos  preisgibt  und  die  Sammlung  der 
Iliaslieder  in  frühere  Zeit  setzt,  so  gewinnt  man  nichts.  Es 
ahmen  schon  die  ältesten  Lyriker  homerische  Verse  nach  oder 
spielen  darauf  an  ^)  und  Kallinos  nennt  bereits  Homer  als  Ver- 


1)  Zürich  1850—59,  dazu  „Hektors  Lösung"  1859. 

2)  Lpg.  1861;  vgl.  W.  Eibbeck  Jahrbb.  85. 

3)  Vgl.  die  erwähnten  „Zusätze"  iind  Belgers  Biographie  S.   163  ff. 

4)  Uebev  die  Entstehung  der  Ilias  und  der  Odyssee,  Berlin  1856. 

5)  Minckwitz  Vorschule  zum  Homer,  Stuttgart  1863;  Steinthal 
Ztschr.  f.  Volke rpsy eh.  7,  1  fl.,  gut  abgefertigt  von  Kammer  Einheit  der 
Odyssee  S.  3  ff. 

6)  Renner  das  Formelwesen  des  griechischen  Epos,  Lpz.  1872  für  die 
Elegie;  mit  T  39.  E  774.  Y  138.  C  245.  jx  46  ff.  berühren  sich  Verse  des 
Alkman. 


72  3.  Kapitel. 

fasser  der  Thebais.  Ja  noch  mehr!  Es  kann  keinem  Zweifel 
miterliegen,  dass  die  sogenannten  Kykliker  die  Ilias  schon  in 
der  heutigen  Gestalt  vorfanden^),  da  die  Kyprien  genau  bis  zu 
ihrem  Anfange  reichen  und  die  Ereignisse  der  Ilias  sorgfältig 
vorbereiten ,  während  Arktinos  wieder  genau  an  den  Schluss 
anknüpft.  Die  Gesänge  ^  und  ß  setzen  endlich  für  eine  noch 
frühere  Zeit  die  Existenz  eines  grossen  Epos,  dem  sie  einen 
versöhnenden  Abschluss  verleihen  sollen ,  voraus.  Damit  fällt 
auch  die  psychologische  Begründung,  welche  Haupt  der  Agglo- 
meration gab,  weg.  Doch  vielleicht  sprechen  die  inneren  Gründe 
für  die  Liedertheorie  besser?  Wäre  es  nicht  höchst  merkwürdig, 
dass  ein  Kunstrichter  wie  Aristoteles  die  Komposition  der 
Ilias  hoch  über  die  der  Kyprien  und  der  Schwesterdichtungen 
stellen  konnte,  wenn  sie  wirklich  blos  von  einem  Sammler,  der 
nicht  einmal  im  Kleinen  den  Zusammenhang  durchführte,  her- 
stammte? Weil  die  Kyprien  sicher  eines  Dichters  Werk  waren, 
hätten  sie  an  Geschlossenheit  die  Ilias  weit  übertreffen  müssen. 
Aber  gerade  an  der  Komposition  dieses  Meisterwerkes  scheitert 
Lachmanns  Hypothese.  Wir  halten  nicht  an  dem  von  den 
Unitariern  aufgestellten  Gebäude  fest^),  wir  wollen  auch  nicht 
betonen ,  dass  an  die  Ilias  nicht  derselbe  Massstab  wie  an  die 
Äneis  oder  die  Gerusalemme  liberata  angelegt  werden  darf  und 
dass  das  echte  Epos  überhaupt  die  Straff/Äigigkeit  der  Tragödie 
vermissen  lässt,  aber  ich  sehe  mich  vergeblich  nach  einem 
Liedercyklus  um ,  der  irgend  wie  im  Baue  der  Bias  gliche. 
Welches  Volks-  oder  volkstümHche  Epos  beschränkt  sich  auf 
den  Knotenpunkt  einer  langen  Reihe  von  Ereignissen  ^),  statt 
diese  wie  an  einer  Schnur  aufzureihen,  wobei  Anfang  und  Ende 
des  Epos  mit  dem  der  Handlung  sich  decken?  Die  trivialen 
Beispiele  sind  abzuweisen:  Was  das  Nibelungenlied'*)  und  den 
Mahabharata    anlangt   —    grammatici    certant.     Die    finnische 


1)  A.  Kirchhoff  quaestt.  Homeric.  particula,  Berlin  1846. 

2)  Auch  Lachmann  verkennt  die  gemeinsamen  Grundzüge  nicht,  weist 
sie  jedoch  der  ,, Einheit  der  Sage"  zu,  obgleich  die  Sagenwelt  etwas  fliessendes 
nie  ruhendes  ist  und  erst  durch  das  dichterische  Genie  Konsistenz  erlaugt. 

3)  Schon  G,  Hermann  (op.  6,  1,  82)  warf  die  Frage  auf;  Lachmann  bei 
Friedländer  S.  VIII  und  Haupt  bei  Beiger  S.  176  f.   beantworteten  sie  nicht. 

4)  Gegen  Lachmann  und  Haupt  (opusc.  1,  246)  vgl.  Holtz  manu  Unter- 
such, über  da.s  Nibelungenlied,  Stuttgart   1854. 


D.e  homerischen  Epen.  "  73 

Kalewala  hat  erst  der  Herausgeber  Lönnrot,  der  Finnlands 
Peisistratos  zu  werden  gedachte,  aus  Liedern  zusammengestellt; 
auch  die  Chanson  de  Roland  ^)  ist  weder  ein  Epos  noch  an- 
einandergereihte Einzellieder,  sondern  gleichsam  ein  Urkunden- 
buch,  das  für  jeden  Punkt  die  verschiedenen  Fassungen  auf- 
zählt. Der  ,, Liederjäger"  wird  also,  wenn  er  in  Europa  bleiben 
will ,  mit  den  Romanen  des  Mittelalters  und  den  altslavischen 
Yolksepen  -)  vorlieb  nehmen  müssen.  Die  Oberflächlichkeit 
glaubt  ja  schon  genug  gethan,  wenn  sie  Griechisches  und  Fremdes 
nebeneiu andersetzt;  begegnet  uns  doch  in  der  Kunstgeschichte 
dasselbe,  nur  dass  man  dort,  durch  den  Augenschein  überführt 
nicht  leugnet,  dass  die  Griechen  über  die  Orientalen  hinaus- 
kommen konnten.  Da  schon  in  den  ältesten  Kunstdenkmälern 
den  Griechen  gerade  ein  wunderbares  Kompositionstalent  von 
seinen  Lehrmeistern  scheidet,  können  wir  nicht  begreifen,  warum 
nicht  dasselbe  Talent  auch  in  den  ältesten  Werken  der  Literatur- 
geschichte sich  gezeigt  haben  sollte.  Wäre  es  dann  nicht 
wunderbar,  wenn  die  Dichter  von  EinzeUiedern  gerade  ein  so 
schmal  begrenztes  Stück  des  troischen  Krieges  ausgesucht  und 
die  Geschichte  der  vorhergehenden  neun  Jahre  als  beinahe 
leeres  Blatt  liegen  gelassen  hätten;  denn  mit  der  llias  steht 
der  Hörer  erst  am  Anfange  des  ernsten  Krieges.  Lachmann 
lässt  ebenso  unerklärt,  weshalb  die  Kykliker  gerade  den  Stoff 
dieser  EinzelHeder  nicht  selbst  behandelten,  obgleich  sie  doch 
sogar  untereinander  —  ich  erinnere  an  Lesches  und  Arktinos 
—  diese  Rücksicht  nicht  übten.  Er  nahm  auch  die  zahlreichen 
wechselseitigen  Beziehungen  der  Gesäuge  zu  leicht,  indem  er 
den  ersten  Gesang  in  den  Vordergrund  stellte ;  daran  ist  so 
viel  wahr,  dass  der  Dichter  bei  seinen  Zuhörern  überhaupt  die 
Kenntnis  der  Hauptpersonen  und  den  Grundriss  der  Sage 
voraussetzt^),  was  die  Tragiker  nicht  minder  bei  ihrem  Publikum 
thaten.  Endlich  darf  ich  daran  erinnern,  was  ich  oben  bereits 
an  einigen  Stellen  ausgesprochen  habe,  dass  die  Technik  der 
homerischen  Gesänge    ein  Epos ,    aber    nicht   EinzeUieder    aus- 


1)  Paul  Meyer    rech,    sur   l'epopee    fran?.    p.  65  ff.     Tobler  Ztschr.  f. 
Völkerpsychol.  4,   139  ff. 

2)  Bi  Strom  Ztsch.  f.  Völkerpsych.  5,   180  ff.  6,   132  ff. 

3)  Vgl.    besonders    A    7.   69.    307.     Ebenso    beginnt    das   Hildebrandslied 
sofort:  ,,Ich  hörte  sagen,  dass  sich  Hildebrand  und  Hadubrand  herausforderten." 


74  3.  Kapitel. 

schmücken  könne.  ^)  Der  Leser  betrachte  nur  das  erste  Lied ! 
Wenn  man  mit  Lachmann  die  Chryseisepisode  ausscheidet, 
nehmen  die  Reden  fast  zwei  Drittel  des  ganzen  Gesanges  in 
Anspruch,  ungerechnet  iiire  Einführuugs-  und  Schlussforraeln. 
Wer  vermöchte  ein  solches  episches  Einzellied,  in  dem  die 
Reden  wirklich  Träger  der  Handlung  sind,  sonst  nachzuweisen?^) 
Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  die  Forschung,  wenn 
sie  nicht  die  Wahrscheinlichkeit  als  Gefährtin  verschmäht,  an 
der  ursprünglichen  Einheit  der  Ilias  festzuhalten  hat.  Lachmann 
hat  jedoch  das  unsterbliche  Verdienst,  mannigfache  Ungleich- 
heiten in  der  Dichtung  nachgewiesen  und  die  wissenschaftliche 
Einzelforschung  gegenüber  ästhetischen  und  philosophischen 
Spekulationen  begründet  zu  haben.  Seit  seinen  Untersuchungen 
ist  so  viel  wenigstens  sicher,  dass  die  Ansicht  der  Unitarier 
nicht  mehr  befriedigen  kann.  ^)  Es  handelt  sich  aber  nun  darum, 
den  ursprünglichen  Kern  zu  ermitteln  und  die  verschiedenen 
Schichten  zu  sondern.  Wir  können  diese  Theorie,  in  welcher 
sich  jetzt  die  meisten  Homeriker  zu  vereinigen  scheinen ,  die 
Kern-  oder  Kry stallisationstheorie  nennen.  Aber  so 
viele  Köpfe,  so  viele  Meinungen  über  den  Umfang  und  Inhalt 
der  Urilias  1  Doch  sondert  sich  eine  Gruppe  deutlich  ab.  Nach 
manchen  soll  nämHch  die  Ilias  aus  zwei  Epen  zasammengeflickt 
sein;  Düntzer^)  nimmt  als  Inhalt  des  einen  den  Groll  des 
Peliden,  seine  verderblichen  Folgen  und  die  Versöhnung  an^); 
das  zweite  Epos  bildeten  angeblich  die  Gesänge  F — H,  in  denen 
Hektor  als  Hort  der  Troer  erscheint.  Der  bekannte  Geschichts- 
schreiber Grote*')    zerlegte    die  Ilias    ähnhch   in    eine   Achilleis 


I 


1)  Die  Künstler  fanden  nur  sehr  wenige  abgeschlossene,  also  leicht  dar- 
stellbare Episoden  in  der  Ilias. 

2)  Diejenigen  altnordischen  Gedichte ,  die  fast  mir  aus  Wechselreden  be- 
8t«hen,  sind  nicht  episch. 

3)  Die  „Vermittlungsphilologie",  hier  durch  keine  geringereu  als  Welcker 
und  Bernhardy,  denen  iJentley  mit  einem  ähnlichen  Vorschlage  vorausgegangen 
war,  vertreten,  förderte  den  Mittelweg  zu  Tage,  Homer  habe  ältere  Lieder 
bearbeitet,  ohne  ihnen  ein  einheitliches  Gepräge  verleihen  zu  können;  wir 
haben  also  statt  der  peisistrateischen  Kommission  blos  einen  viel  älteren 
ebenso  ungeschickten  Bearbeiter,  den  man  Homer  zu  nennen  beliebt. 

4)  Zuletzt  in  der  Schrift  „die  hom.  Fragen"  Lpg.  1874. 
6)  Zwischen  A  und  ö  vermittelt  li  1—47. 

6)  History  of  Greece  II  (1846)  eh.  21. 


Die  homerischen  Epen.  75 

(A.  0,  A — X,  fortgesetzt  durch  W  und  ü)  und  eine  eigentliche 
Ilias  (ß — H  und  K) ,  eine  Ansicht ,  die  an  Friedländer  ^)  einen 
warmen  Verteidiger  fand,  obgleich  der  Sprung  von  A  bis  0  zu 
gross  ist.  Bisher  hatten  die  Achäer  und  Troer  noch  nie  im 
offenen  Felde  gekämpft  und  jetzt  sollte  die  Schlacht  ohne 
weiteres  beginnen?  Auch  diese  siamesischen  Zwillinge  können 
nicht  befriedigen,  da  die  Schwierigkeiten  kaum  vermindert 
werden.  Einer  so  starken  Verkürzung  der  Kämpfe,  welche  die 
Katastrophe  herbeiführen ,  widerspricht  übrigens  die  Achilleis 
selbst.'^)  Die  Einheit  bleibt  ja  doch  gewahrt;  denn  der  Groll 
wirft  beständig  seine  Schatten  auf  die  Handlung.  Oder  setzt 
nicht  die  angebliche  Ilias,  weil  Achilleus  fehlt,  den  Streit  not- 
wendig voraus? 

üeber  die  Ansichten  der  anderen  referieren  wir  vorläufig 
blos;  selbständige  Untersuchungen  stellten  über  die  ganze  Ilias 
besonders  Bergk ,  Naber  und  Niese  an.  ^)  Bergk^)  operiert 
viel  mit  der  bequemen,  aber  nur  im  äussersten  Notfalle  anzu- 
wendenden Annahme  der  Umarbeitung  ^) ;  seine  Ilias  besteht 
demnach  aus  A.  «B^  Ende  von  A.  *E^  Z.  *H— I.  A^  (»N~0?). 
*n.  (*P?).  T.  Schluss  von  T.  *<^.  X.  Er  lässt  an  den  Ausbau 
mehrere  jüngere  Dichter  Hand  anlegen  und  gibt  zum  Schlüsse 
noch  einem  Diaskeuasten  reichliche  Arbeit.  Naber^)  nimmt 
vier  Schichten  an.  Den  Kern  sollen  ausmachen  A.  A  1 — 596. 
0  306—66.  674  bis  zum  Schlüsse,  dann  U—T  und  <I>  526— 
X  393  zum  grössten  Teile ;  die  erste  Fortsetzung  bilden  B  1 — 
483.  r  1—14  (etwas  später  15—421).  A  422—544.  E.  Z.  H  1— 
309,  die  zweite  H  310  bis  zum  Ende.  0.  Schluss  von  A.  M — 0 
305.  367 — 673;  die  spätesten  Stücke  sind  ihm  l.  K.  Y — 4>  525. 
^\  il.  Auch  ihm  fehlt  eine  sichere  Methode,  die  allein  Ver- 
trauen erwecken  könnte.  Planmässiger,  aber  viel  zu  wenig 
vorsichtig  stellt  Niese^)  seine  Urilias  zusammen.    Sie  soll  blos 


1)  Die  hom.  Kritik  von  Wolf  bis  Grote,  Beriin  1853. 

2)  11  200  flf.  i:  125.  248. 

ü)  Von  W.  Christ  ist  eine  Iliasausgabe,  die  seine  Anschauungen  dariegen 
soll,  angekündigt. 

4)  Griech.  L.-G.  1,  552  ff. 

5)  Wir  bezeichnen  die  angeblich  umgearbeiteten  Stücke  mit  *. 

6)  Quaestiones  Homericae,  Amsterdam  1877,  dagegen  W.  Ribbeck  Rhein. 
Mus.  35,  623  ff. 

7)  Entwickelung  der  hom.  Poesie,  Berlin  1882,  besonders  S.  135. 


76  3.  Kapitel. 

aus  A  (mit  Ausnahme  des  Schlusses),  dem  Traumbilde  und 
Auszuge  in  IJ,  worauf  sogleich  der  Schluss  von  0,  der  Anfang 
von  11  und  Teile  der  späteren  Gesänge  bis  X  folgten,  bestanden 
haben ;  auch  N  kann  teilweise  alt  gewesen   sein.  ^) 

AVer  sich  eine  unabhängige  und  mehr  wahrscheinliche 
Ansicht  bilden  will,  wird  darauf  geführt,  die  bisher  ange- 
wendeten Mittel  einzeln  zu  prüfen  und  dann  systematisch  durch- 
zuführen. 

Die  Ausscheidung  unechter  Nachdichtungen  muss  auf 
feste  Gesetze  zurückgeleitet  werden;  wir  finden  diese  am  leich- 
testen in  den  Nachdichtungen  des  geringsten  Umfanges,  den 
interpolierten  Versen.  ^)  Ihre  Massen  sondern  sich  zunächst 
in  solche,  die  neues  bringen  und  die,  welche  das  vorhandene 
erweitern.  Erstere  zerfallen  wieder  je  nach  den  Absichten, 
welche  die  Verfasser  verfolgen,  in  Unterabteilungen:  Die 
politischen  Interpolationen  dienen  dazu,  dem  Stolze  ein- 
zelner Staaten ,  die  sich  von  Homer  nicht  erwähnt  fanden ,  zu 
schmeicheln.  Die  gewöhnlich  angeführten  attischen  Einschiebsel 
dienen  Athens  Ruhm  viel  zu  wenig,  als  dass  sie  hier  in  erster 
Linie  erwähnt  werden  dürften^);  dagegen  ist  Rhodos  unzweifelliaft 
mit  der  stolzen  Interpolation  des  Schiffskatalogs  (B  653 — 70  mit 
dem  Anhängsel  671 — 80)  und  der  Tleptolemosepisode  (K  628  ff.) 
beteiligt.  Redaktionelle  Interpolationen  dienen  ge- 
wöhnlich dazu,  die  Handlung  der  Ilias  oder  der  troischen  Ge- 
dichte überhaupt  unter  sich  enger  zu  verknüpfen,  indem  die 
Rliapsoden  Beziehungen  auf  die  Vergangenheit  einfügen  oder 
einen  AusbUck  auf  den  weiteren  Verlauf  eröffnen.  Jene  finden 
sich  z.  B.  E  206  ff.  auf  die  Verwundung  des  Menelaos, 
II  60  ff.  auf  I  650  fif.;  0  535  ff.  und  0  50  ff.  bereiten  dagegen 
die  folgenden  Ereignisse  vor.  Den  Zusammenhang  mit  den 
Kyklikern'*)  stellen   namentUch  Interpolationen    in  der  Odyssee 


1)  S.  131  ff.  versucht  Niese  eine  Entstehungsgeschichte  der  Ilias  zu  gelten. 

2)  Eine  wichtige  Parallele  bieten  die  Interpolationen  des  Nibelungen- 
liedes; der  Leser  findet  sie  von  K.  Hoffmann  in  den  Abhandl.  der  bayer. 
Akad.  philos.-philol.  Cl.  Bd.   13,   1,   1   fi'.  zusanimoigestellt. 

3)  Die  Partie    über  Athen,    die    der  Schiftskatalog    enthält,    ist   so    sym- 
metrisch (1   -j-  3  X  3  -|-  1)  nach  der  sonstigen  Art  des  Kataloges  gegliedert,   || 
dass  ich  mich  nicht  dazu  verstehen  kann,  einen  Vers  zu  streichen. 

4)  Christ  Jahrbb.  123,  433  ff.  Man  vergleiche  die  grosse  Interpolation 
des  Nibelungenliedes,  wo  Hagen  von  Siegfrieds  frühereu  Thaten  berichtet. 


Die  homerischen  Epen.  77 

her.  Andererseits  dienen  manche  Verse  der  Vereinzelung  der 
Gesänge,  wie  sie  bei  dem  gewöhnlichen  Vortrage  stattfanden.  ^) 
Da  die  Rhapsoden  sie  aus  dem  Zusammenhange  des  Epos 
herausreissen  mussten,  hatten  sie  für  einen  passenden  Anfang  und 
Abschluss  zu  sorgen.  Ersteres  Bedürfnis  empfanden  sie  weniger, 
da  sie  mit  einem  Hymnus  anhoben  und,  wie  es  z.  B.  bei  der 
Theogonie  geschah,  die  Zuhörer  dabei  geschickt  auf  das  Thema 
vorbereiten  konnten.  Christ  (S.  159  f.)  will  rhapsodische  Lieder- 
anfange  in  A,  der  Teichomachie  und  11  erkennen;  eher  möchte 
ich  auf  M  175  ff.  hinweisen.  Häufiger  fügt  der  Vortragende 
einen  oder  mehrere  Verse  am  Schlüsse  bei,  um  seinem  Liede 
die  nötige  Abrundung  zu  geben;  dies  beweisen  A  611.  Z  311. 
X  515  und  das  Ende  von  C  deutlich.'^) 

Neben  diesen  Arten  von  Interpolationen  haben  die  übrigen 
nur  den  beschränkten  Wert  von  Ornamenten  und  Arabesken ; 
doch  in  grösserer  Zahl  vereinigt  hemmen  sie  gleich  Schlingpflanzen 
den  Weg  nicht  wenig.  Während  die  homerischen  Dichter  von 
Reflexion  und  demgemäss  zugleich  von  sententiöser  Redeweise 
fast  völlig  frei  sind,  können  sich  die  Späteren  wohl  unter  dem 
Einflüsse  der  böotischen  Spruchdichtung  nicht  versagen,  an 
scheinbar  passenden  Stellen  ihre  banale  Moral  zum  besten  zu 
geben,  manchmal  geradezu  mit  hesiodischen  Versen.  ^)  Meistens 
aber  benützen  die  Rhapsoden  ihr  Vermögen,  einige  erträgliche 
Hexameter  zu  verfertigen,  indem  sie  kurze  Andeutungen 
ausspinnen,  z.  B.  A  515.  N  731.  H  793—804.  ^  158,  wobei 
häufig  Verse  aus  anderen  Stellen,  die  ähnliches  besagen,  ent- 
lehnt werden.*)  Bekanntlich  entsprang  sogar  die  Schilderung 
der  Alkinoosgärten  (yj  103  ff".)  einer  beiläufigen  Aeusserung  des 
Dichters  (C  293),  wie  auch  die  Inhaltsübersicht  der  Odyssee 
(t{>  310  ff.)  nur  eine  Erweiterung  des  alten  Berichtes  „Odysseus 
erzählte  seiner  Gattin  die  überstandenen  Leiden"  darstellt. 
Zudem   spielte   auch  die  mittelgriechische   und  peloponnesische 


1)  Christ  Jahrbb.  123,  145  ff. 

2)  Zweifeln  unterliegt  die  Annahme  bei  E  418  ff.  (Haupt  Zusätre  S.  106). 
506  ff.  N  345  ff.  658  f.  5:  356  ff. 

3)  ii  45  =  Hes.  E.  316. 

4)  Z.  B.  <I>  158  aus  ß  850.  Ueberhaupt  übt  die  Entlehnung  eines 
Verses  eine  eigentümliche  Anziehungskraft  auf  den  in  der  Origiualstelle 
folgenden  aus. 


^Q  3.  Kapitel. 

Vorliebe  für  Verzeichnisse  und  Genealogien  herein :  Hieher 
rechne  ich  die  Leporelloliste  S  317  ff.,  den  Nereidenkatalog 
1  39  fif.  und  den  Stammbaum  des  Äneas  T  76  ff.,  um  von 
dem  Schiflfskataloge  gar  nicht  zu  reden.  Wohl  die  jüngsten 
■dem  Ursprünge  nach  und  vielleicht  erst  ein  Erzeugnis  der 
Schule  sind  die  glossierenden  Verse;  das  bekannteste  Bei- 
spiel Hegt  in  0  528,  welcher  Vers  das  Wort  xYjpsaat^opTjTour 
erläutert,  vor.  Nicht  eigentlich  mit  Interpolationen  haben  wir 
es  bei  den  Doppelr ecensionen  zu  thun;  denn  nicht  wenige 
Stellen  finden  wir  in  doppelter  Fassung,  wobei  die  Entscheidung 
in  der  Regel  schwer  fällt.  ^) 

Für  die  Annahme  von  Interpolationen,  die  Düntzer  beinahe 
als  Panacee  gebraucht,  gilt  Kirchhoffs  Wort,  man  müsse  in 
jedem  Falle  den  Grund  der  Einschiebung  angeben  —  wir 
möchten  lieber  sagen:  jede  Interpolation  muss  psychologisch 
erklärt  werden. 

Das  gleiche  gilt  natürlich  auch  von  den  grossen  Ein- 
schiebseln, den  Eindicht  an  gen.  Aber  woraus  soll  der 
Kritiker  hier  sein  verdammendes  Urteil  ableiten?  Die  Ver- 
schiedenheit des  Tones,  der  Erzählungs  weise  oder 
des  poetischen  Gehaltes  hängt  immer  blos  von  dem 
.subjektiven  Gefühle  des  Einzelnen  ab,  weshalb  es  nicht  auffällt, 
dass  die  verschiedenartigsten  und  seltsamsten  Urteile  über  einen 
und  denselben  Gesang  zu  Tage  kommen.  Trotzdem  baut  Lach- 
mann sehr  viel  auf  sein  persönliches  Gefühl,  aber  gerade  seine 
Urteile  fordern  meistens  den  Widerspruch  heraus.  Der  Dichter 
der  lUas  konnte  überdies  ein  sehr  grosses  Talent  sein  und  doch 
mag  Horaz  Recht  haben,  wenn  er  sagt:  „Quandoque  bonus 
dormitat  Homerus."  Zudem  verdient  ein  Poet,  der  immer  den 
gleichen  Ton  wahrt ,  seinen  Namen  sicherlich  nicht.  ^)  Dass 
Shakespeare  den  Charakteren  und  Situationen  den  Ausdruck 
wunderbar  anzupassen  weiss ,  ist  zur  Scheidemünze  geworden ; 
Homer  dürfen  wir  das  gleiche  Lob  nicht  versagen.  Die 
Scliönheit  von  Lachmanns  erstem  Liede  bezweifelt  kein  Mensch, 
obgleich  oder  vielmehr  weil  der  Anfang  im  Tone  so  sehr  von 
der  eigentlichen  Erzählung  verschieden  ist !  Apollos  Erscheinen  ^ 

1)  Friedländer  anall.  Hom.  173. 

2)  Niebuhr    macht    im    Briefe    Nr.   224  a    der   Leben.suachrichteu    schöne 
Beraerkangen  darüber. 


Die  homerischen  Epeu.  79 

schildern  wenige  gedrungene ,  aber  wuchtige  Verse ;  da  der 
Dichter  den  Eindruck  des  Furchtbaren  erzielen  will,  fasst  er 
sich  kurz,  zumal  er  noch  in  der  Einleitung  steht.  Die  Haupt- 
aktion, die  für  das  folgende  verhängnisvoll  wird,  ist  breit  angelegt 
und  die  Streitreden  sorgfältig  bis  in  das  Einzelne  ausgeführt. 
Ebenso  nimmt  Pandaros'  Bogenschuss  durch  die  Schilderung 
alles  Details  viel  ßaum  in  Anspruch,  weil  er  für  den  Fortschritt 
der  Ereignisse  bedeutend  ist,  und  zugleich  mitten  in  friedlicher 
Ruhe  vorfällt.  Bei  der  Verteidigung  der  griechischen  Schiffe 
dagegen  folgen  die  Ereignisse,  welche  die  Katastrophe  herbei- 
führen, Schlag  auf  Schlag :  Aias  weicht  entwaffnet  zurück,  das 
Schiff  fängt  zu  brennen  an ,  Achill  drängt  jetzt  selbst  seinen 
Freund  zur  Eile,  Dies  alles  ist  in  markigen  Strichen  gezeichnet, 
ohne  dass  der  Dichter  sein  Publikum  mit  unnötiger  Spannung 
quält,  [ch  möchte  fast  sagen:  Gerade  die  Verschiedenheit  des 
Tones  verrät  oft  die  Gleichheit  des  Verfassers. 

Grösseres  Vertrauen  sollten  die  Schriften  erwecken,  die 
von  den  Abweichungen  der  Sprache  und  des  Vers- 
baues ausgehend  die  homerische  Frage  zu  lösen  strebten;  um 
es  jedoch  kurz  zu  sagen,  verdienen  alle  bisherigen  Versuche 
kaum  Erwähnung.  Nachdem  Geppert*)  einen  dürftigen  Anfang 
gemacht,  verwandten  besonders  C.  A.  Hoffmann  ^)  und  Giseke') 
unsäglichen  Fleiss  auf  statistische  Zusammenstellungen  und 
doch  war  alle  Mühe  vergeblich.  Bezüglich  der  Metrik  lässt 
man  den  ausserordentlichen  Einfiuss  der  Formeln  und  den 
innigen  Zusammenhang  des  Versganges  mit  dem  Stoffe  ausser 
Acht.  Den  sprachlichen  Forschungen  steht  aber  der  Mangel 
einer  systematischen  Grammatik  entgegen.  Als  besonders 
lächerlich  fällt  die  Mode  auf,  Monographien  über  einzelne  Ge- 
sänge oder  Stücke  mit  Verzeichnissen  der  oLzo-i  elpYjiJLEva  auszu- 
statten^), als  ob  jeder  Dichter  nur  die  abgedroschenen  Wörter 
fort  und  fort  gebrauchen  dürfte. 

1)  Ueber  den  Ursprung  der  hom.  Gesänge,  Lpg.  1840,  2  Thle. 

2)  Quaestiones  Homericae,  Clausthal  1843 — 8,  2  Bde. 

3)  Die  allmäliche  Entstehung  der  Gesänge  der  Ilias  aus  Unterschieden  im 
Gebrauche  der  Präpositionen  nachgewiesen,  Göttingen  1853;  homerische 
Forschungen,  Lpg.  1864. 

4)  Gründlich  widerlegt  von  L.  Friedländer  über  ä.  sl.  Philol.  6,  228  ff. 
und  zwei  hom.  Wörterverzeichnisse,  Jahrbb.  Suppl.  3  (1861).  Auch  die 
„Kritiker"  des  alten  Testamentes  bemächtigten  sich  dieses  Mittels. 


gO  3.  Kapitel. 

Um  Widersprüche  bei  irgend  einem  Dichter  herauszu- 
finden, bedarf  es  nicht  so  grosser  Vorkenntnisse,  sondern  nur 
eiijes  recht  nüchternen  Kopfes  und  des  ernsthchen  Vorsatzes, 
solche  zu  finden.  Beides  besass  Herodot  nicht,  wie  er  durch 
seine  ausdrückHche  Versicherung  (2,  116),  Homer  habe  sich 
nie  widersprochen,  beweist.  Erst  die  nachsokratischen  Philo- 
sophen machten  auf  Widersprüche  aufmerksam,  um  sie  für  ihre 
Theorie  von  Wirklichkeit  und  Schein  zu  verwenden;  Homer 
vermischte  diese  nämlich  nach  ihrer  Ansicht.  ^)  Auch  den 
Grammatikern  entgingen  jene  nicht,  fanden  indes  keine  be- 
sondere Beachtung.^)  Erst  Lachmann  verwertete  die  Wider- 
sprüche ausgiebig  für  seine  Theorien  und  verschmähte  selbst 
nicht  zu  beanstanden,  dass  das  Schwert  Agamemnons  einmal 
mit  goldenen  und  ein  anderes  Mal  mit  silbernen  Knöpfen  be- 
setzt heisst.  Bis  zur  Manie  beutete  Jakob  diese  Idee  aus.  Es 
ist  längst  gegen  Lachmann  bemerkt  worden ,  dass  seine  Zer- 
splitterung der  Ilias  hier  nicht  völlig  Abhilfe  geschafft  hat, 
z.  B.  widersprechen  sich  innerhalb  seiner  Einzellieder  A  151 
und  214,  r  279  und  323.3)  Die  Polemik  hat  ferner  ähnhche 
Unebenheiten  bei  anderen  Dichtern,  welche  sie  durch  fleissiges 
Ueberarbeiten  ihres  Handexemplars  hätten  vermeiden  können, 
zu  Tage  gefördert^);  wenn  Lachmann  behauptete,  schreibende 
Autoren  seien  solchen  Versehen  eher  ausgesetzt,  dachte  er  wohl 
an  die  Vielschreiber  unserer  Zeit,  die  mehr  auf  den  Reinertrag 
als  auf  die  Durchbildung  ihrer  Arbeiten  sehen.  Die  Schrift 
gestattet  vielmehr  jedenfalls  eine  planmässigere  und  glattere 
Ausführung.  Hoffen  wir,  dass  dieses  pedantische  Meistern  des 
Dichters^)  allmälig  ein  Ende  nimmt.  Bedeutungsvoller  als  jene 


1)  Dio  Chrys.  or.  53  p.  276  1.  c,  vgl.  atich  seine  11.  Rede. 

2)  A  424  änderten  manche  ertovTai;  Schimberg  anall.  Arist.,  Greifsw. 
1878  S.  23  ff.  .sucht  nachznwei.sen,  dass  Aristarch  eine  besondere  Schrift  über 
das  Wiederaufleben  des  Pylaimenes  verfasst  habe,  anders  Kammer  Bursians 
Jahresljer.  1878  I  8,  71  ff.  und  Friedländer  ind.  1.  Königsberg  1879  S.  4. 

3)  K.  Frey  Homer,  Bern  1880  S.  13. 

4)  Nutzhorn  die  Entstehungsweise  der  hom.  Gedichte,  Lpz.  1869;  R 
Volkmanu  Geschichte  und  Kritik  der  Wolfschen  Proll.  S.  159  ff'.;  K.  Frey 
Homer,  Bern  1880. 

6)  Selbst  Haupt  sagt  in  Belgers  Biographie  S.  144:  „Man  soll  einen 
Schriftsteller  nicht  logisch  meistern,  sondern  ihn  psychologisch  verstehen." 
Hätte  er  es  doch  auch  bei  Homer  gethan ! 


Die  homerischen  Epen.  81 

Kleinigkeiten  ist,  dass  Pylaimenes  (E  576  ff.  N  658)  und  Schedios 
(0  515.  P  306  ff.)  ^)  wieder  aufleben,  Lykaon  schon  T  333  gegen 
$  45  ff.  im  Heere  der  Troer  weilt  und  dass  es  an  dem  Haupt- 
schlachttage sowohl  A  86  als  11  777  Mittag  wird.  Aber  auch 
derartige  grössere  Varianten  sind  nicht  von  Belang,  sobald  man 
nachweisen  kann,  dass  der  Dichter  damit  einem  besonderen 
Zwecke  diente.  Anders  liegt  dagegen  die  Sache,  wenn  sich  in 
den  Grundanschauungen  der  Dichtung  oder  in  den  thatsäch- 
hchen  Verhältnissen,  die  der  Dichter  wie  sie  sind  lassen  muss, 
Differenzen  ergeben.  Von  diesem  Gedanken  ausgehend  haben 
Christ^)  und  Niese  ^)  selbständig  und  zum  Teil  in  den  Resultaten 
zusammentreffend  eine  Anzahl  Fragen  behandelt ;  Niese  verfährt 
dabei  mit  einer  Rücksichtslosigkeit,  die,  wie  ich  fürchte,  die 
angewandten  Mittel  in  den  Augen  besonnener  Forscher  kom- 
promittiert. 

Bezüglich  des  Schiffslagers  erhellt  mit  Evidenz,  dass 
nur  die  Verfasser  einiger  Gesänge  es  von  einer  Mauer  um- 
geben sich  vorstellen^);  es  sind  0.  1.  M.  0^)  und  Q.  Die 
Patroklie  kannte  die  Mauer  nicht,  da  Lachmann  11  512  und 
558  mit  Recht  ausscheidet,  während  S  215  aizb  zsi^BOc:  nicht 
in  den  Zusammenhang  passt.  ^)  Auch  in  die  folgenden  Ge- 
sänge kam  die  Mauer  blos  durch  Interpolation  (T  19).  Um  die 
Ignorierung  in  den  übrigen  Gesängen  zu  begründen,  schob  ein 
Nachdichter  am  Ende  von  H  die  Schilderung  des  Mauerbaues 
ein;  da  diö  späteren  Griechen  aber  keine  Spuren  mehr  sahen, 
wurde  eine  Zerstörung  durch  Götter  zuerst  in  M,  dann  auch 
in  H  eingelegt. 

Christ  (S.  157  f.)^)  findet  auch  in  der  Anordnung  der 
Schiffe  eine  wesentliche  Abweichung;  das  Schiff  des  Telamonier 


1)  Die  Verschiedenheit  der  Verfasser  erhellt  zudem  daraus,  dass  beide 
den  Schedios  zwar  Anführer  der  Phoker  nennen,  aber  ihm  verschiedene 
Väter  geben. 

2)  Die  sachlichen  "Widersprüche  der  Hias,  in  den  Sitzungsber.  der  bayer. 
Akad.  "phil.-philol.  Kl.  1881  II  125  ff. 

3)  Entwickelung  der  hom.  Poesie,  Berlin   1882. 

4)  Bergk  griech.  L.-G.  I  586. 

5)  KÖchly  will  diesem  Gesänge  die  Mauer  absprechen,  vgl.  dagegen 
Ribbeck  Jahrbb.  85,  30  und  Christ  S.  155  f. 

6)  Köchly  schreibt  anb  V7](l)y,  anders  Christ  S.  156. 

7)  Vgl.  auch  Kayser  hom.  Abh.  S.  56  A.  und  Niese  S.  96. 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  6 


32  3.  Kapitel. 

Aias,  das  nach  A  5—8  (vgl.  Ö  222).  806  und  K  113  am 
äussersten  Ende  des  Lagers  steht,  befindet  sich  N  681  in  der 
Mitte. ') 

Die  diesen  Vers  enthaltende  Partie  führt  uns  auf  die  all- 
mälige  Vergrösserung  des  griechischen  Heeres ^) ,  z.  B. 
treten  nur  dort^)  die  Lokrer  und  Athener  auf;  ebenso  erscheinen 
fast  nur  in  N  —  0  die  Phthier,  Epeier  (auch  A  517  ff.),  Ätolier 
(auch  H  168),  Böoter  (überdies  P  597  ff.)  und  Phoker  (auch 
P  306).  Der  König  der  Abanten  wird  blos  A  463  f.  erwähnt; 
die  Rhodier  beteiligen  sich  nur  in  einer  von  Köchly  bereits 
ausgeschiedenen  Kampfesepisode  (E  628 — 59)  an  der  Schlacht. 
Die  Arkadier  kennt  sogar  blos  der  Schiffskatalog.  Wir  gelangen 
somit  für  die  echten  Partien  zu  einer  vollkommen  hinreichenden 
Zahl  von  Helden,  nämlich  Achilleus  mit  Patroklos,  den  beiden 
Atriden  und  Aias,  Diomedes  und  Odysseus,  wozu  noch  Nestor 
mit  Antilochos  und  der  Arzt  Machaon  treten.  Damit  begnügt 
sich  Niese  (S.  115  ff.)  nicht;  nur  die  sechs  erst  genannten 
finden  bei  ihm  Gnade.  Auch  Bergk  verfolgt  mit  unbegründeter 
Hartnäckigkeit  den  König  der  Kreter,  obgleich  bereits  ein  hoch- 
altertümlicher  Gesang  der  Odyssee  (t  170  ff.)  von  der  Teilnahme 
dieses  Inselvolkes  weiss. 

Da  die  griechischen  Helden  Dank  dem  begreiflichen  Wunsche 
der  verschiedenen  Stämme,  einen  ihrer  alten  Fürsten  in  dem 
Nationalepos  verherrlicht  zu  sehen,  immer  mehr  an  Zahl  zu- 
nahmen, mussten  auch  die  Schaaren  der  troischen  Bundes- 
genossen entsprechend  anwachsen.^)  Die  Thraker  erscheinen 
in  der  Doloneia,  eben  dort  dieMyser,  Leleger  und  Kaukonen, 
ausserdem  aber  auch  S  512.  T  96  (Aneasepisode).  329  (inter- 
poliert?). 4>  86  f.  (unecht?),  il  278.  Dann  finden  wir  zweierlei 
Lykier^),  die  einen  aus  Troas,  die  andern  aus  dem  bekannten 
Lykien,  von  welchen  jene  kein  Bedenken  erregen,  da  Zeleia, 
ihre  Hauptstadt,  nicht  weit  von  Ilion  liegt.  Aber  warum  sollte 
das  entfernte  Volk  zur  Hilfe  herangezogen  sein?    Zuerst  fügte 


1)  La  Roche  bezieht  mit  Aristarch   deu  Vers  fälschlich  auf  Aias  Oileus; 
bei  N  695  geht  'O'.X-^oc  voraus. 

2)  Christ  a.  O.  S.  160  f. 

3)  Ich  sehe  überall  vom  Schiffskataloge  ab. 

4)  Niese  S.  108  ff. 
6)  Christ  8.  158  fl. 


Die  homerisclien  Epen.  83 

sie,  wie  es  scheint,  ein  Nachdichter  in  die  Patroklie  ein;  denn 
;ias  dieser  kann  man  die  Lykierepisoden  nur  mit  starken 
Mittehi  entfernen.  ^)  Dagegen  kamen  sie  in  H  (V.  13  ff.)  und 
E  (V.  426)  wahrscheinUch  blos  durch  Interpolation  herein  und 
in  E  (V.  471—93.  627—98  Kampf  mit  den  Fvhodiern)^), 
Z  (119—234)  und  M  (290—429)  lassen  sich  die  Scenen,  in 
denen  die  lykischen  Helden  Sarpedon  und  Glaukos  auftreten, 
glatt  ausschneiden.  Sie  sollten  dem  Stolze  der  jonischen  Fürsten 
schmeicheln ,  die  ihr  Geschlecht  auf  Glaukos  zurückführten.  ^) 
Auch  die  Päonier  mit  Asteropaios  in  M  102  (neben  Sarpedon), 
P  2*17  und  351  (hi  Erweiterungen  der  Patroklie)  und  4>  139  ff. 
(Erweiterung  des  Flusskampfes)  gehören  nicht  in  den  engen 
Rahmen  der  alten  Ilias.  Niese  will  sogar  Aneas,  Polydamas 
und  stillschweigend  Paris  entfernen.  Aber  ist  eine  Ilias  ohne 
Paris  denkbar,  kann  der  einzige  Hektor  seinen  zahh'eichen 
Gegnern  auch  nur  von  weitem  die  Wage  halten? 

Ausser  den  irdischen  erhielten  die  himmHschen  Heer- 
scbaaren  eine  bedeutende  Verstärkung.^)  Als  Schutzgötter  der 
Achäer  traten  natürlich  die  von  ihnen  am  meisten  verehrten 
Gottheiten  auf.  Mit  Hera,  deren  uraltes  Heiligtum  zu  Argos 
jeder  Grieche  kannte,  verband  sich  notwendig  Athene,  die  treue 
Helferin  aller  hellenischen  Helden.  Für  die  Troer  hätte  es 
nach  der  späteren  Anschauung^)  am  nächsten  gelegen,  weil  die 
Griechen  ihre  Burggöttin  Athene  nannten,  diese  zur  Schützerin 
zn  haben.  Daneben  genoss  aber  in  Kleinasien  das  Heiligtum 
des  thymbräischen  Apollo  grosses  Ansehen,  weshalb  Apollo  den 
Troern  Beistand  leistete.  Um  die  gleiche  Zahl  von  Helfern 
herzustellen,  fügte  der  Dichter  Aphrodite,  die  unter  den 
griechischen  Gottheiten  am  meisten  an  den  Orient  erinnerte 
und  überdies  in  der  Troade  verehrt  wurde  ^) ,  bei ,  damit  sie 
ihren   SchützHng  der  Rache   des    beleidigten   Gatten    entziehe. 


1)  II  419—683  strich  schon  Ho  ff  manu  allg.  Monatsschrift  für  Literatur 
1852  S.  289. 

2)  Hier  veranlasste  der  Interpolator  die  weitere  Störung;  dass  nun  die 
verschiedenen  Lykier  in  demselben  Gesänge  auftreten,  ohne  dass  wir  darüber 
orientiert  werden.     E  674  f.  weist  schon  auf  den  Tod  des  Sarpedon  hin. 

3)  Herod.  1,  147. 

4)  Christ  S.   162. 

6)  Erst  in  Z  erfahren  wir  davon. 

6)  Thiele  proU.  in  hymnum  in  Venerera  Homericum  Halle  1872  p.  50  ff. 

6* 


84  3.  Kapitel. 

Später  trat  auf  die  Seite  der  Griechen  der  jonische  Stammes 
gott  Poseidon;  er  greift  blos  in  den  Kampf  um  die  Schiffe  ein, 
sonst  beschränkt  sich  sein  Auftreten  ausserhalb  der  Götter- 
schlachten auf  eine  Interpolation  des  Flusskampfes  (<l>  284  ff'.) 
Auch  Hephaistos,  der  dem  Skamandros  gegenüber  wohl  an  der 
Stelle  ist,  muss  trotz  seines  Leibschadens  aus  der  Werkstatt 
zum  Kampfe  heraussteigen,  ebenso  wie  der  göttliche  Bote  nicht 
unbehelligt  bleibt.  ^)  Zu  Apollo  trat  seine  Schwester  Artemis, 
zu  Aphrodite  durch  Liebesbande  verknüpft  Ares.  Diese  zahl- 
reiche Schaar  gibt  zu  den  wunderlichen  Götterschlachten  T  4 — 
75  und  <l>  385 — 519  Anlass.  Niese  streicht  kurz  entschlossen 
alle  Götter,  Zeus  allein  ausgenommen. 

Schwieriger  gestaltet  sich  die  Untersuchung,  sobald  die 
Topographie  in  Frage  kommt.  ^)  Richtig  scheint  Christ's 
Annahme,  dass  in  E,  dem  Anfange  von  Z  und  A  die  Schlacht 
auf  dem  rechten  Ufer  des  Skamandros  stattfindet.  Anders  in 
der  Albe,  aTcäiTj  (S  432  ff".)!  Wahrscheinlich  übertrug  der  Ver- 
fasser die  Situation  der  Achilleis  ^) ,  wo  Achilleus  vom  linken 
Ufer  des  Flusses  aus  vordringt,  mit  den  Versen  $  1  f.  in  seine 
Partie.  Im  Gesang  0  (490  und  560)  stehen  die  Troer  zwischen 
den  Schiffen  und  dem  Skamander ;  ähnlich  durchfliesst  er  H  329 
quer  das  Schlachtfeld.  '*)  Ueber  die  sonstigen  Abweichungen 
in  der  Topographie^)  enthalte  ich  mich  des  Urteils;  jedenfalls 
können  so  viel  umstrittene  Dinge  nicht  als  Stütze  dienen.  Niese 
rügt  auch  den  wechselnden  Aufenthaltsort  des  Zeus;  da  aber 
A  183  und  337  der  Gott  auf  dem  Ida ,  nicht  auf  dem  Olymp 
sitzt,  wird  jener  übrigens  sehr  natürliche  Wechsel  nicht  zu 
vermeiden  sein. 

Im  einzelnen    wird  die  sorgfältige  und  unbefangene  Beob- 


1)  0  213  f.  steht  die  endgiltige  Liste  der  achäisch  gesinnten  Götter. 

2)  Christ  S.  130  ff.  Bei  der  Odyssee  ist  die  Frage  sehr  vereinfacht,  weil 
weder  der  alte  Dichter  noch  seine  Nachfolger  Ithaka  je  gesehen  haben. 
6egenäl)er  den  Enthusiasten,  die  alles  genau  in  Wirklichkeit  vorfanden  und 
selbst  den  Grundriss  von  Ody.s.seus'  Palaste  in  Ruinen  erblickten,  wies  Hercher 
Hennes  1,  203  ff.  nach,  da.ss  die  Schilderung  Ithakas  nur  ein  Phantasie- 
gebilde Hei. 

3)  Da  II  397  interpoliert  ist,  fehlt  für  die  Patroklie  jede  Andeutung. 

4)  Eine  andere  Dentung  von  ajxcpi  ist  grammatisch  nicht  möglich. 

6)  Christ  über  die  Topographie  der  troischen  Ebene  und  die  honi. 
Fnige,  in  den  Silzungsber.  der  buytr.  Ak.  1874  II  184  ff. 


Die  homerischen  Epen.  85 

achtung  von  Sitten  und  Gebräuchen  zu  manchen  Resultaten 
führen.  Was  z.  B.  die  Kampfesvveise  anlangt,  so  scheint  es 
mir,  dass  die  homerischen  Helden  zu  F el ds  t einen  ursprünglich 
nur  dann  griffen,  wenn  sie  ihren  Speer  abgeworfen  hatten  und 
nun  eines  andern  Wurfgeschosses  bedurften.  Ohne  diesen  Grund 
wählen  die  Kämpfer  diese  unedle  Waffe  A  518  (im  Zweikampf 
eines  Epeiers  und  Thrakers!),  B  321  (aus  E  302  wiederholt), 
M  380  (in  einer  Lykierepisode)  und  <I>  403  (aus  H  264).  Niese 
(S.  119  ff.)  will  den  alten  Helden  auch  die  Streitwägen  ab- 
sprechen. ^)  In  der  That  passt  der  nodac,  wxo?  Achilleus  mit 
seiner  leidenschaftlichen  Natur  viel  mehr  für  den  Fusskampf; 
bei  der  Entscheidungsschlacht  am  Graben  wären  die  Gespanne 
blos  hinderlich,  also  bleibt  nur  der  erste  Tag  frei  und  hier  ent- 
spinnt sich  wirklich  ein  Wagenkampf.  Wie  sollte  ihn  ein 
Sänger  in  späterer  Zeit,  als  man  davon  nichts  mehr  wusste^), 
eingelegt  haben?  Zudem  befindet  sich  unter  den  ältesten 
Funden  kostbares  Pferdegeschirr  und  Reiterei  kommt  erst 
später  vor.  ^) 

Dem  Aufsuchen  der  Verscliiedenheiten  muss  die  Beobachtung 
des  Aehnlichen  zur  Seite  geben;  sonst  gewinnt  der  Kritiker 
eine  falsche  Anschauung.  Ausserdem  muss  er  erstens,  wie 
gesagt,  überhaupt  das  Vorhandensein  eines  Einschiebsels  ps3'^cho- 
logisch  erklären,  zweitens  Widersprüche  und  Verschiedenheiten 
durch  Angabe  der  Gründe,  die  den  jüngeren  Dichter  zur  Ab- 
weichung veranlassen  konnten,  entschuldigen.  Letzteres  ge- 
scliieht  aber  selten.  Ich  will  nicht  läugnen,  dass  nicht  einmal 
in  Griechenland  alle  epischen  Sänger ,  die  zwischen  Homers 
Auftreten  und  der  Peisistratidenzeit  dichteten,  grosses  Talent  be- 
sessen haben;  ob  dies  aber  die  modernen  Gelehrten  berechtigt, 
gerade  die,  welche  an  Homer  ihre  Sporen  verdienten,  mit  der 
grüssten  Verachtung  zu  behandeln  und  wo  möglich  das  Werk 
durch  einen  ungewöhnlichen  Schwachkopf  krönen  zu  lassen  *), 


1)  Vgl.  Kammer,  zur  hom.  Frage  II  67  A.  Eyssenhardt  Jahrbb.  109, 
597  (dagegen  Giseke  Bursians  Jahresber.  I  113). 

2)  In   griechischen  Heeren   der    historischen  Zeit  erscheinen   Streitwägen 
blos  auf  Kypros  (Herod.  5,  113)." 

3)  Eigentliche  Reiter  sind  zuerst  auf  den  melischeu  Thongefassen  dargestellt. 

4)  Derartige  Sündenböcke   siud  Kaysers  interpolator,    Kirchhoffs  Ordner 
und  der  Diaskeuast  Bergks. 


g(J  3.  Kapitel. 

möchte  ich  doch  bezweifehi.  Ich  habe  auch  eine  zu  gute 
Meinung  von  der  damaligen  Kraft  der  Phantasie,  als  duss  ich 
annehmen  möchte,  die  Nachdichter  hätten  aus  älteren  Liedern 
geschöpft  und  seien,  sklavisch  an  der  Ueberlieferung  festhaltend, 
mit  Homer  in  Konflikt  geraten.  Die  Tradition  geht  nicht  so- 
in  das  Detail;  und  lagen  nicht  auch  Homer  dieselben  Quellen 
vor?  Dagegen  mögen  jene  aus  anderen  Sagen  poetische  Motive 
entlehnt  haben. 

DasProömium  derllias,  das  sich  von  der  Erzählung 
nicht  trennen  lässt,  deutet  bereits  auf  ein  grösseres  Epos,  da 
es  nicht  den  Streit  des  Achilleus  und  Agamemnon,  sondern 
den  daraus  entspringenden  Groll  des  Peliden  mit  seinen  ver- 
derblichen Folgen  als  Gegenstand  des  Liedes  in  Aussicht  stellt.  ^) 

Der  erste  Gesang  gehört  zu  den  vorzüghchsten  Partien 
der  Ilias  und  verrät  schon  dadurch  seine  Einheit,  dass  der 
Erzähler  durchgängig  die  Handlung  in  kurzen  scharfen  Zügen 
zeichnend  das  Hauptgewicht  auf  die  Reden  und  damit  auf  die 
Charakteristik  der  Personen  legt.  Trotzdem  will  Lachmann  den 
ersten  Gesang  spalten  und  nur  V.  1 — 348  als  alt  anerkennen; 
dieses  Stück  sei  zuerst  in  V.  431 — 92,  dann  mit  V.  348 — 429 
und  493 — 611  fortgesetzt  worden.  Von  dem,  was  er  dafür  vor- 
gebracht hat,  ist  nur  die  Abweichung  wirklich  von  Belang, 
dass  V.  423  die  Worte  d-öol  8'a[Aa  Trdvrsc  btzovzo  stehen,  obgleich 
Apollo  seine  Pfeile  in  das  Griechenlager  entsendet  und  Athene 
vom  Olympos  herabkömmt,  um  Achilleus  zu  besänftigen.  Für 
jenes  Bedenken  genügt  die  Antwort,  dass  der  Dichter  am  Tage 
der  Volksversammlung  von  Apollos  Thätigkeit  überhaupt 
schweigt.  "Was  das  andere  betrifft,  so  war  die  Abwesenheit  des- 
Zeus mit  seinem  Hofstaate  wahrschemlich  alte  Ueberlieferung; 
dagegen  erschuf  die  Phantasie  des  Dichters  um  den  kleinen 
Widerspruch,  der  den  Hörern  entging,  unbekümmert  jene 
herrliche  Scene,  in  der  Athene  auftrat.  Da  Homer  den  Streit 
nicht  in  Thäthchkeiten  ausarten  lassen  wollte  und  konnte,  be- 
durfte er  bei  dem  jähzornigen  Gemüte  des  Peliden  der  be- 
ruhigenden   Zuspräche    einer   Göttin.     Um    diesen    Zweck    zu 


1)  Der  Dichter  der  Kyprien  kennt  es  bereits  (Fr.  1,  6  f.).  Die  uns  be- 
kannten Varianten  können  sich  mit  der  Vulgata  nicht  messen;  die,  welche 
mit  ioitBte  vüv  fiot  Moüoat  beginnt,  verband  die  Ilias  mit  den  Kyprien  (Heitz 
zn  O.  Müller  Gesch.  der  griech.  Lit.  I^  114,  24). 


Die  homerischen  Epen.  87 

erreichen,  kümmerte  er  sich  weder  um  die  Kollision  mit  der 
sonstigen  Erzählung  noch  um  das  grössere  Bedenken,  dass  er 
an  die  Phantasie  des  Hörers  grosse  Anforderungen  stellt.  Athene 
erscheint  nur  Achilleus  sichtbar  und  spricht  blos  ihm  ver- 
nehmlich, während  die  übrigen  Personen  einfach  unberück- 
sichtigt bleiben.  Die  Pause  von  zwölf  Tagen,  während  deren 
Achilleus'  Groll  gleichsam  Wurzeln  schlägt,  füllt  der  Dichter 
ausserordentlich  geschickt  durch  die  Chryseisepisode  aus,  in  der 
sich  zwischen  die  aufregenden  Streitscenen  und  die  olympischen 
Vorgänge  ein  anmutiges  Bild  des  Friedens  schiebt.  Die  Ruhe, 
die  es  atmet,  spiegelt  sich  in  dem  reichlichen  Gebrauche  formel- 
hafter Verse.  ^) 

Als  Einleitung  gedacht  erfüllt  der  erste  Gesang  seine  Auf- 
gabe unstreitig  meisterhaft,  indem  er  die  Meinungsverschieden- 
heiten der  griechischen  Fürsten  darlegt  und  die  beiden  in 
einander  verschlungenen  Grundzüge  des  Epos,  den  Groll  des 
Achilleus  und  den  Ratschluss  des  Zeus  ihrem  Ursprünge"" 
nach  entwickelt.  Nicht  ebenso  klar  liegen  die  Motive  des 
zweiten  Gesanges.^)  Hier  lassen  sich  leicht  zwei  fremde 
Bestandteile  ausscheiden,  der  Schiffskatalog  (484 — 779,  vorbe- 
reitet durch  V.  360 — 68)  ^)  und  die  parallel  stehende  Uebersicht 
der  troischen  Streitkräfte  V.  816 — 77.  Der  Verfasser  des  ersteren 
Stückes  versucht  die  politischen  Zustände  der  achäischen  Zeit 
festzuhalten,  nicht  ohne  dabei  in  Anachronismen  zu  verfallen.  ^) 
Da  Stasinos  zwar  einen  Katalog  der  Troer,  aber  keinen  der 
Griechen  gab,  fand  er  den  unseren  bereits  im  Verbände  der 
Ilias  vor ;  dieser  kann  jedoch  nicht  aus  viel  älterer  Zeit  stammen, 
weil  der  Name  IlavsXXYjVäc  bereits  alle  Griechen  umfasst.     Den 


1)  Natürlich  für  Manche  ein  Grund,  um  das  ganze  Stück  für  einen  Cento 
zu  erklären,  vgl.  M.  Häseke  die  Entstehung  des  ].  Buches  der  Ilias,  Rinteln 
1881;  Hinrichs  Hermes  17,  59  ff.;  Gemoll  Hermes  18,  34  ff. 

2)  Der  Anfang  widerspricht  jetzt  dem  Schlüsse  des  ersten  Liedes ,  weil 
A  611,  welcher  dem  Einzelvortrage  diente,  in  den  fortlaufenden  Text  kam. 

3)  Nestors  ganze  Rede,  die  schon  sehr  unpassend  beginnt,  ist  wohl  ein- 
geschoben, um  zu  erklären,  warum  erst  hier  und  nicht  in  den  Kyprien  die 
griechischen  Streitkräfte  aufgezählt  werden;  ß  370  schreibe  man  statt 
YEpctv  (fiXoc. 

4)  Wenn  die  Böotier  schon  in  Böotien  wohnen,  so  nimmt  dies  der  Ver- 
fasser an ,  weil  ein  Gesammtname  der  älteren  Bevölkerung  fehlte ;  übrigens 
wohnen  die  Minyer  noch  in  Orchomenos. 


38  3.  Kapitel. 

Verfasser  haben  wir  in  Böotien  zu  suchen,  da  der  Katalog  nicht 
blos  mit  diesem  Lande  anhebt,  sondern  auch  die  Städte  des- 
selben, sowie  der  übrigen  Landschaften  Mittelgriechenlands  am 
eingehendsten  behandelt  und  die  anderen  Länder  im  Kreise 
herum  gruppiert.  Auch  das  vorhergehende  Gebet  an  die  Musen 
stimmt  zur  Sitte  der  hesiodischen  Schule,  wie  auch  die  strophische 
Gliederung  des  Kataloges.  Während  Köchly  fünfzeilige  Strophen 
annahm,  gelangen  wir  mit  sanfterer  Behandlung  des  Textes  zu 
Strophen  von  je  drei  Versen,  wobei  den  Abschnitten  oft  ein 
oder  zwei  Verse  als  Basis  und  Abschluss  dienen.'^)  Ein  Jonier 
hätte  gewiss,  statt  die  Völker  schematisch  aufzuzählen,  sie  etw^ 
bei  Gelegenheit  einer  Musterung  mit  grosserer  Lebendigkeit 
geschildert.  Jünger  ist  der  troische  Katalog,  da  ihn  Stasinos 
nicht  kannte;  weil  er  zur  Ilias  nicht  recht  stimmt,  scheint  der 
Verfasser  die  Kykliker  benützt  zu  haben.  ^)  Von  den  besprochenen 
Gegenden  kennt  er  nur  die  nordwestliche  Küste  Kleinasiens 
genauer.  Unter  den  übrig  bleibenden  Stücken  des  zweiten 
Gesanges  fällt  die  Beratung  der  Geronten  V.  53 — 86  aus  dem 
Zusammenhang  heraus^);  ein  Rhapsode  wollte  durch  sie  be- 
griffsstutzige Hörer  recht  nachdrücklich  aufklären,  dass  Aga- 
memnon vor  dem  Volke  nicht  ernsthaft  redet,  obgleich. dies 
nach  dem  Traume  ohnedies  einleuchten  sollte.  Dieser  führt  die 
Aufnahme  des  Kampfes  herbei,  sonst  dächten  die  Achäer,  ent- 
mutigt und   kriegsmüde  wie  sie  sind,    nicht   an   das  Kämpfen. 


1)  A.  Mommsen  Philol.  5,  522  ff.  B  535,  woraus  man  die  insulare  oder 
kleinasiatische  Herkunft  erschliessen  wollte,  kennzeichnet  sich  durch  seine 
Stellung  als  interijoliert ;  V.  626  lä.sst  verschiedene  Deutung  zu.  Nach  Niese 
der  hom.  .Schiffskatalog  als  hist.  Quelle  betrachtet,  Kiel  1873  geht  der  Katalog 
auf  eine  zwischen  770  und  740  entstandene  Periegese  von  Hellas  zurück  und 
ist  zwischen  630  und  600  verfasst ;  es  versteht  sich  aber  von  selbst ,  dass 
damals  eine  Periegese  unmöglich  war.  Niese  wurde  (Entwickelung  S.  228) 
selbst  in  dieser  Ansicht  schwankend  und  gab  die  Zeitbestimmung  ganz  auf; 
den  sicheren  terrainus  ante  quem  soll  die  Benützung  im  ersteu  homerischen 
Hymnus  (?)  abgeben. 

2)  Agamemnon,  Menelaos  und  Achilleus  werden  durch  hyperstrophische 
Zusätze  geehrt.  Der  strophischen  Gliederung  widerstreben  E  627 — 98,  die 
schon  deshalb,  weil  der  Dichter  des  Kataloges  von  der  dorischen  Wanderung 
nichts  wissen  will  (Bergk  I  559),  unecht  sind. 

3)  Wenn  er  blos  aus  dem  der  Kyprien  gezogen  wäre,  hätten  es  die 
Schollen  gewiss  bemerkt.  (Niese  Schiffskatalog  S.  52). 

4)  Sie  ist  jünger  als  die  Odyssee  (Wiederholungen  in  der  Odyssee  S.  76  f.). 


Die  liomerischeu  Epen.  39 

Diese  Verhältnisse,  welche  die  Ungeschicklichkeit  und  Energie- 
losigkeit des  Führers  noch  zerfahrener  gestaltet,  schildert  die 
TTSipa,  ein  in  rein  logischer  Hinsicht  von  Bedenken  nicht  freies 
aber  nach  Seite  der  Schilderung  ausgezeichnetes  und'  für  die 
Oekonomie  notwendiges  Stück. 

Der  dritte  Gesang  legt  entsprechend  die  Lage  Trojas 
dar.  Wie  der  Dichter  mit  jenem  Teile  der  Exposition  sogleich 
ein  wirkendes  Motiv  verband,  verschlingt  sich  hier  ein  retar- 
dierendes mit  der  Schilderung.  Beide  Heere  stehen  sich  zum 
ersten  Male  gegenüber :  Den  Troern  mag  es  vor  dem  Zusammen- 
stosse  mit  dem  überlegenen  Feinde  bangen,  die  Achäer  sind 
ebenfalls  durch  Achilleus'  Abwesenheit  etwas  unsicher,  weshalb 
beide  freudig  einem  Vertrage  zustimmen.  Zeus  (V.  365  ff.) 
vereitelt  andererseits  mit  Aphrodite  zunächst  die  Tötung  des 
Paris,  dann  bedient  er  sich  Heras  und  Athenes ,  um  darch 
Menelaos'  Verwundung  das  friedliche  Ende  des  Krieges  un- 
möglich zu  machen.  Davon  handeln  F  und  die  ungeschickt 
abgetrennten  Verse  A  1 — 219.  In  einzig  schöner  Weise  ver- 
bindet der  Dichter  damit  den  Rest  der  Exposition,  indem  er 
uns  sowohl  die  Stimmung  in  Troja  höchst  anschaulich  darlegt 
als  auch  den  Kampfpreis,  die  unselige  Ursache  des  Krieges 
selbst  vor  Augen  stellt.^)  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die 
Absichtlichkeit  mancher  Scenen  einem  sehr  kritischen  Beschauer 
etwas  bedenklich  vorkommen  mag.  Aber  wenngleich  die 
Teichoskopie  im  zehnten  Jahre  des  Krieges  Anstoss  erregen 
kann,  so  ist  sie  doch  jedenfalls  für  dieses  gedichtet-)  und  auch 
Sophokles  gestattete  sich  im  Odipus  eine  ähnliche  Freiheit. 
Homer  knüpfte  ja  nicht  an  die  Kyprien  an,  sondern  er  schuf 
offenbar  das  erste  troische  Epos.  Bei  dem  Auftreten  Helenas 
gibt  der  Dichter  mit  dem  denkbar  geringsten  Aufwand  von 
Mitteln  einen  poetischen  Ueberblick  über  die  griechischen  Haupt- 
helden ,  bei  dem  sich  ein  sorgfältiges  Meiden  jeglicher  Ein- 
förmigkeit zeigt.  ^)  Anders  müssen  wir  über  T  383 — 448  urteilen, 


1)  Der  weichere  Ton  des  Gesanges  passt  ausgezeichnet  zu  dem  asiatischen 
Staate. 

2)  r  126.  157.  205. 

3)  Auch  der  Schluss  ist  vortrefflich  gelungen;  Helena  wartet,  von  Sehn- 
sucht hingerissen,  Priamos'  weitere  Fragen  nicht  ab,  sondern  geht  auf  ihre 
Brüder  über.     F  230 — 3  sind  natürlich  interpoliert  (Bergk  I  569). 


gO  3.  Kapitel. 

weil  für  die  Exposition  diese  Episode   entbehrlich   ist  und   ihi 
Kaffinenieut   für    eine   jüngere   Entstehungszeit    spricht.     Ein« 
Nat    offenbart   sich   in    dem  Einschiebsel  T  451 — 61,   das  dei 
Versen  A  93  ff.  widerspricht  und  eine  seltsamer  Weise  unbeani 
wortete  Rede  Agamemnons   enthält.     A  82  und  157  ff.   weisei 
auf  die  Wiedereröffnung  des  Kampfes  hin,    die   als  selbstver-l 
ständlich  betrachtet  wird ;  daher  waffnen  sich  V.  220.  222  ^)  die 
Achäer    wieder   ohne   Verzug.     Es    folgt    dann    die    iTrtTrwXTjatc 
'AYa}i,£[ivovoc,    die   mit   der   Teichoskopie    parallel    läuft;    auch 
dieser  Sänger  will  die  griechischen  Helden  vorführen,  aber  an 
den  alten  Dichter  reicht  er  nicht  hinan.    Agamemnons  Poltern 
ist  nicht  böse  gemeint  und  doch  steht  es  dem  Könige  nicht  gut. 

Nachdem  der  Schluss  des  vierten  Gesanges  die  ersten 
Kämpfe  geschildert,  zeigt  der  fünfte  die  allgemeine  erbitterte 
Schlacht.  Wir  haben  im  ganzen  vier  besondere  Aristien  ein- 
zelner Helden,  des  Menelaos  in  F,  Diomedes  in  E,  Agamemnon 
in  A  und  des  Aias  im  Schiffskampfe;  die  Atriden  stehen  in 
verschränkter  Ordnung,  da  aber  Aias'  Rolle  wohl  der  alten 
Sage  angehört,  wählte  der  Dichter  für  Diomedes  gerade  diesen 
Platz.  An  den  vorigen  Gesang  knüpft  die  Tötung  des  Pandaros 
an;  dass  Diomedes  dabei  nicht  von  Rache  spricht,  ist  selbst- 
verständlich ,  da  er  den  Verwunder  des  Menelaos  nicht  kennt 
und  ihm  auch,  wenn  er  ihn  kannte,  das  nicht  vorwerfen  dürfte, 
wozu  ihn  die  ßchutzgöttin  der  Griechen  verführte.  Der  Dichter 
aber  tritt  wie  gewöhnlich  aus  seiner  Objektivität  nicht  heraus, 
sondern  lässt  die  Handlung  sprechen.  Wie  wir  schon  sahen, 
wurde  der  fünfte  Gesang  durch  die  Einführung  des  Ares  und 
der  Aphrodite  in  einem  frivoleren  Zeitalter  erweitert;  auch 
Sarpedon  kam  erst  später  herein. 

An  die  Diomedeia  reihen  sicli,  von  einigen  Eindichtungen 
unterbrochen,  mehrere  Scenen  von  hervorragender  Schönheit  an ; 
sie  schildern,  wie  auf  Helenos'  Rat  Hektor  in  die  Stadt  geht, 
um  Athene  anrufen  zu  lassen,  hier  mit  Andromache  und  Helena 
sich  unterredet,  Paris ^)  in  den  Kampf  zurückführt  und  den 
Tag  durch  einen  Zweikampf  mit  Aias  abschhesst.  Alle  diese 
in  Z  und  H  enthaltenen  Scenen  tragen  einen  mehr  lyrischen 
Charakter.     Wenngleich  sich  gut  hören  lässt,  dass  der  Dichter 

1)  A  221  ist  ati8  A  412  oder  P  107  entlehnt. 

2)  Z  889  weißt  anf  T. 


I 


Die  homerischen  Epen.  91 

die  Einförmigkeit  der  Kämpfe  durch  solche  anmutige  Familien- 
bilder unterbrechen  wollte ,  drängen  sich  zu  viele  Bedenken 
gegen  die  Ursprünglichkeit  auf,  zunächst  das  sachliche,  dass 
Athene  und  nicht  Apollo  von  den  Troern  angerufen  wird  ^), 
dann  die  auffallende  Wiederholung  des  Zweikampfes ,  obgleich 
der  Dichter  durch  denselben  nicht  das  mindeste  für  die  Oeko- 
Domie  des  Epos  gewinnt.  Aias  erhält  ja  ohnedies  später  seine 
Aristie  und  Hektor  selbst  wird  auch  sonst  hinlänghch  gefeiert. 
Ebenso  sind  die  in  Troja  spielenden  Scenen  nach  dem  dritten 
Gesänge  ziemlich  überflüssig.  Wir  wollen  damit  das  hohe 
Schilderungstalent  des  Nachdichters  keineswegs  herabsetzen ; 
aber  im  Hinblick  auf  das  gesammte  Epos  füllt  sein  Werk  eine 
Lücke  nicht  aus.  Jn  dieses  (doch  wohl  zusammenhängende) 
Stück,  vor  dem  der  jedenfalls  kurze  alte  Schluss  von  E  weichen 
musste,  drängten  sich  besonders  die  Glaukosepisode  (Z  119 — 236) 
und  vielleicht  der  Bericht,  wie  die  Griechen  ihr  Lager  um- 
wallten (H  436 — 64)  ein.  Weil  erstere  ganz  in  der  Luft  hängt, 
versetzten  sie  manche  alte  Gelehrte  an  eine  andere  Stelle.  ^) 
Die  letztere  Erzählung  könnte  aber  zu  der  grossen  Eindichtung 
gehören,  wenn  sie  nur  nicht  statt  auf  die  in  ihr  geschilderten 
Ereignisse  vielmehr  blos  auf  die  Zukunft  wiese. 

Die  KoXoQ  (xd/Tj  (0)  schildert  die  Ereignisse  des  zweiten 
Schlachttages.  Man  vermisste  ein»  positives  Eingreifen  des  Zeus 
am  ersten  Tage  und  fand  in  A  vielleicht  nicht  genügenden 
Ersatz.  Denn  dieser  Nachdichter  stellt  sich  das  Eingreifen  des 
Zeus  möglichst  lärmend  und  mit  viel  Blitz  und  Donner  ver- 
bunden vor.  Der  ganze  Gesang  ist  überhaupt  eigentümlich 
bewegt,  da  der  Kampf  in  Extremen  hin  und  her  schwankt 
und  Verzweiflung  mit  prahlerischer  Siegesfreude  wechselt.  Der 
Dichter  borgt  aber  verschiedenes  von  seinen  Vorgängern  und 
zwar  ausser  Versen  auch  ganze  Scenen,  z.  B.  ist  die  Wägung 
der  Looso  V.  69  ff.  sicher  aus  X  209  ff.  entlehnt.  V.  177  ff. 
setzen  den  Mauerbau  bereits  voraus. 

Die  bedenkliche  Situation ,  in  der  die  Achäer  am  Ende 
von  0  sich  beflnden,  bildet  für  die  üpsoßsia,  das  Werk  eines 
bedeutenden  Talentes,  die  Grundlage.     Während  Homer  selbst 


1)  Hier  wird  das  einzige  Götterbild  erwähnt. 

2)  Ariston.  zu  Z  119;  Bergk  (I  574)  verschiebt  sie  in  den  fünften  Gesang, 
Tgl.  Moritz  Schmidt  melet.  Hom    2,  13  ff. 


■Q2  3.  Kapitel. 

bei  Achill  von  Schuld  und  Strafe  nichts  weiss ,  sucht  ein 
Jüngerer  den  herben  Verlust,  den  der  Pelide  durch  den  Tod' 
seines  Freundes  erleidet ,  moralisch  zu  begründen ;  er  belastete] 
ihn  mit  einer  schweren  Schuld  ^),  indem  er  dichtete,  dass  Achilleu 
eine  Gesandtschaft  der  Achäer  trotz  der  gebotenen  Sühne  ab 
wies.  Der  Dichter  wählte  dafür  den  Abend  vor  dem  Ent- 
scheidungskampfe, obgleich  A  609  f.  Achilleus  selbst  von  einem 
Versöhnungs versuche  nichts  weiss. ^  Er  übersah  ferner,  dass, 
nachdem  die  Achäer  das  Verlangen  der  Thetis  und  ihres  Sohnes 
vollkommen  erfüllt,  eine  weitere  Unterstützung  durch  Zeus  unzu- 
lässig war.  Der  Gesang  enthält  manche  jüngere  Elemente, 
z.  B.  einen  Hinweis  auf  Ägypten  (381  ff.),  eine  Erwähnung  des 
pythischen  Orakels  (404  ff.);  messenische  Städte  gehören  zum 
Reiche  der  Atriden  (V.  149  ff)^).  In  mythologischer  Hinsich 
hören  wir  blos  hier  vom  unterirdischen  Zeus  (V.  457)  und  Per-! 
sephone  (V.  457).  Das  meiste  ungewöhnliche  enthält  die  Rede 
des  Phoinix,  so  die  eigentümliche  Allegorie  von  den  Liten 
(V.  502  ff.)  und  die  merkwürdige  Fassung  der  Meleagrossage. 
Dies  könnte  uns  geneigt  machen,  mit  Bergk  anzunehmen,  dass 
anfangs  immer  nur  im  Dual  von  den  Gesandten  gesprochen 
wird.  Aber  wie  erklärt  er  es,  dass  Phoinix,  der  Erzieher  des 
Achilleus,  nicht  bei  diesem  sich  befindet?  Eis  liegt  hier  ein 
Problem  vor,  zu  dessen  Lösung  unsere  Mittel  niciit  hinreichen. 
An  die  durch  S  und  den  Anfang  von  I  gegebene  Situation 
knüpft  deutlich  dieDoloneia  an.*)  Nach  den  viktorianischen 
SchoMen  und  Eustathios  ^)  soll  die  Rhapsodie  früher  ein  Einzel- 
lied gewesen  und  erst  unter  Peisistratos  in  die  Ilias  gekommen 
sein;  da  sie  aber  jedenfalls  in  den  jetzigen  Zusammenhang 
von  jeher  gehörte,  betrachten  wir  diese  Notiz  am  besten  als 
eine  missverständliche  Umschreibung  des  Gedankens,  dass  die 
Doloneia   jüngeren    Ursprungs    sei.     Mussten    doch    schon    die 


I 


1)  I  496  fr.  deuten  dies  an. 

2)  Patroklos  spricht  II  273  f.  ähnlich.  Dagegen  können  die  jungen 
Stellen  A  666  ff.  11  60  flf.  S  448  ff.  und  die  Versöhnung  in  T  nicht  auf- 
kommen. 

3)  Dies  setzt  vielleicht  den  ersten  messenischen  Krieg  voraus. 

4)  Bäum  lein  Ztsch.  f.  Altertumsw.  1848  Nr.  23. 

6)  Dieser  beruft  sich  auf  die  „Alten",  d.  h.  die  Scholieu  des  Apion  und 
Herodoros.  Nach  Bergk  I  698  A.  soll  Theageues  die  Quelle  sein. 


Die  homerischen  Epen.  93 

Alten  durch  die  zahlreichen  Abweichungen  in  Sprache  und 
Lebensverhältnissen^)  auf  diese  Ansicht  verfallen.  Der  Dichter 
ist  nicht  sonderlich  gewandt;  seine  Mängel  möchte  er  durch 
Uebertreiben,  z.  B.  wenn  er  Agaraemnons  Seelenzustand 
schildert,  verdecken.  Ein  schärferer  Kopf  hätte  sich  auch 
gescheut,  nach  der  Presbeia  die  Nacht  noch  mit  so  vielen 
Ereignissen  anzufüllen.  Die  Sprache  gleicht  vielfach  der  der 
Odyssee  und  ich  glaube  nachgewiesen  zu  haben  ^),  dass  dem 
Verfasser  an  ein  paar  Stellen  Verse  dieses  Epos  vorschwebten. 
Nach  diesen  von  Z  bis  K  reichenden  nachhomerischen 
Partien  tritt  uns  wieder  mit  A  alte  Dichtung  entgegen.  Der 
Gesang  setzt  die  Vorgänge  des  ersten  Tages  voraus.  An  diesem 
vereitelte  also  Zeus  die  friedliche  Uebereinkunft,  aber  der  Kampf 
neigte  sich,  weil  jener  noch  nicht  eingriff,  zu  Gunsten  der 
Achäer.  Auch  jetzt  würden  die  Griechen  Sieger  bleiben,  wenn 
nicht  Zeus,  so  oft  die  Troer  zu  weichen  beginnen,  ihnen  Hilfe 
brächte.  Der  Dichter  gesteht,  sich  als  Grieche  fühlend,  den 
Barbaren  an  sich  keine  Ueberlegenheit  zu,  weshalb  er  anfangs 
nachdrücklich  zeigt,  wie  wenig  jene  ohne  Zeus'  Hilfe  aus- 
richten. In  diesen  Teil  des  Kampfes  fällt  die  durch  eine  aus- 
führliche Schilderung  seiner  Waffen  vorbereitete  Aristie  Aga- 
memnons.  Sobald  aber  Zeus  energisch  eingreift,  vermögen  die 
tapfersten  Thaten  die  Katastrophe  nur  zu  verzögern.  Aga- 
memnon, Diomedes,  Odysseus  werden  getroffen;  als  auchMachaou 
eine  Wunde  erhält,  führt  ihn  Nestor  aus  dem  Kampfe.  Damit 
leitet  Homer  die  Peripetie  ein.  Als  nämlich  Achilleus  den 
trefflichen  Arzt  verwundet  sieht,  schickt  er  Patroklos  um  nach- 
zufragen ab.  Nestor  benützt  diese  Gelegenheit  und  fordert  ihn 
auf,  das  harte  Herz  seines  Freundes  durch  Bitten  zu  erweichen. 
Ein  Sänger,  für  den  der  pylische  Greis  nicht  mehr  als  ein 
alter  Schwätzer  war,  legte  die  lange  Geschichte  aus  Nestors 
Jugendzeit  (V.  668—762)  ^)  ein.  Patroklos  kehrt  H  1  ff .  zu 
I  Achilleus  zurück  und  entledigt  sich  seines  Auftrages,  wobei  er 
'  Machaon  ganz  vergisst;  denn  der  Dichter  hat  dessen  Verwundung 
i  nur  benützt,  um  den  Umschwung  herbeizuführen,  und  lässt,. 
i  nachdem  der  Zweck  erreicht  ist,  das  Motiv  fallen. 


1)  Vgl.  zuletzt  Ranke  die  Doloneia,  Lpg.   1881. 

2)  Wiederholungen  in  der  Od.  S,  30  ff. 

3)  Sie  ist  nach  der  Odyssee  verfasst  (Wiederholungen  S.  38). 


94  3.  Kapitel. 

So  schnell  geht  es  aber  in  der  jetzigen  Gestalt  des  Epos 
nicht.  Patroklos  trifft  auf  dem  Rückwege  Eurypylos,  der 
A  575  ff.  eine  Wunde  empfangen  hat,  und  wird  von  diesem 
aufgehalten.  Warum?  Die  Einlage  hängt  mit  einer  bedeutenden 
Erweiterung  der  Ilias  zusammen.  Wie  wir  bereits  in  den  Vor- 
bemerkungen erkannten,  sind  M  —  0  eine  jüngere  Zuthat.  ^)  Der 
Stolz  der  Griechen  gab  nicht  zu,  dass  ihre  Landsleute  ohne 
weiteres  zu  den  Schiffen  zurückgeworfen  würden ;  daher  erobern 
die  Troer  nur  mit  Hilfe  lykischer  Helden ,  von  denen  Fürsten 
der  Jonier  abstammen  wollten,  die  Mauer  und  trotzdem  dauert 
der  Kampf  noch  längere  Zeit.  Der  Dichter  lässt  den  höchsten 
Gott  wider  alle  Wahrscheinlichkeit  seine  Augen  von  der  Troade 
abwenden  und  sich  lange  nicht  um  den  Kampf  bekümmern; 
in  S  muss  dann  Hera  ihn  wirksamer  fesseln.  Die  ganze  Ein- 
lage M — 0  rührt  wohl  von  einem  einzigen  Verfasser  her^), 
der  bedeutende  Begabung  besitzt,  über  einen  leichten  und  an- 
mutigen Stil  gebietet,  aber  allzu  sehr  grosse  Reden  liebt.  Man 
lese  nur  Hektors  und  Pulydamas'  Zwiegespräch  (N  723  ff.)^) 
oder  vollends  wie  Idomeneus  mit  Poseidon  und  Meriones  redet 
(N  215 — 329)*).  Infolge  des  Figurenreichtums  geht  die  Handlung 
etwas  bunt  durcheinander  und  entbehrt  der  Einheit  und  Klar- 
heit. ^)  0  leitet  wieder  zum  notwendigen  Umschlag  über.  In 
der  alten  Ilias  waren  blos  0  405 — 746  zur  Fortführung  der 
Handlung  nötig;  die  Fuge  merkt  man  noch  an  der  Episode 
0  390 — 404,  die  Patroklos'  endliche  Rückkehr  berichtet.  Diese, 
wie  das  Füllstück  A  806 — 848  rühren  von  dem  Dichter  der 
Einlage  her,  weil  er,  um  seiner  Dichtung  Raum  zu  schaffen, 
Patroklos  künstlich  aufhalten  musste.*')  Gleich  künstlich  ist  die 


1)  Schon  Kayser  hom.  Abh.  S.  15  A.  schied  N — 0  aus. 

2)  Nach  Bergk  I  S.  602  flf.  und  Niese  S.  95  ist  M  später;  aber  wirk- 
same Gründe  mangeln.  In  N  lässt  der  Dichter  die  Fünfteilung  der  Troer 
fallen ,  weil  die  Sturmkolonnen  im  Kampfe  sich  rasch  zusammenballen. 
M  110  bezieht  sich  auf  N  384  flf. 

3)  Niese  S.  108  f. 

4)  Nitzsch  Sagenpocsie  S.  276  f.  Naber  quaestt.  Hom.  175.  Niese 
fi.  98  f. 

6)  3  259  erscheint  die  Nacht  ähnlich  den  hesiodischen  Anschauungen 
als  uralte  Göttin. 

6)  Nach  Niese  S.  84  ff.  ist  der  Botengang  des  Patroklos  jünger  als 
M  —  0,  weil  er  sich  diesem  anbequemen  muss. 


Die  homerischen  Epen.  95 

Erdichtung  der  Mauer;  denn  während  am  Ende  von  A  die 
Achäer  sich  bereits  gegen  die  Schiffe  zurückziehen,  wogt  am 
Anfange  von  M  der  Kampf  erst  um  den  Graben. 

Während  der  Flucht  der  Achäer  (0  405  ff.)  ist  Patroklos 
zu  Achilleus  zurückgekehrt  und  erbittet  H  1 — 101  (in  einer 
von  vielen  Interpolationen  durchgezogenen  Partie)  seine  Hilfe 
für  die  Achäer.  Inzwischen  ist  auch  Aias  gewichen,  ein  Schiff 
flammt  auf,  da  drängt  Achilleus,  der  es  nicht  zum  Aeussersten 
kommen  lassen  will,  seinen  Freund  selbst  zur  Eile^)  und  be- 
treibt persönlich  die  Rüstung  der  Myrmidonen.  Ihre  Abteilungen 
und  Führer  -bedeuten  für  die  Handlung  so  wenig,  dass  wir  mit 
Köchly  und  Bergk  IT  168—97  streichen.  Bergk  (I  627)  und 
Niese  (S.  92)  vermuten  sogar,  der  Menoitiade  sei  in  seinen 
eigenen  Waffen  zu  Felde  gezogen ;  dann  verlöre  das  Epos  eine 
Iveihe  der  schönsten  Motive;  die  Troer  werden  anfangs  durch 
den  Schein  getäuscht  und  leichter  in  die  Flucht  getrieben. 
Später  kann  Achilleus  seinem  Freunde  nicht  zu  Hilfe  eilen, 
aber  so  gross  ist  die  Furcht  vor  seinem  Heldenruhme,  dass 
seine  blosse  Stimme  die  Troer  zum  Weichen  bringt.  Ueberdies 
muss  der  rachgierige  Held  nun  bis  zum  anderen  Tage  die 
ßache  verschieben ,  so  dass  nicht  zu  viel  sich  auf  einen  Zeit- 
raum zusammendrängt.  Leider  müssen  wir  Patroklos  den 
grössten  Teil  seiner  einzelnen  Thaten  rauben,  weil  die  Lykier 
und  Päonier  ursprünglich  fehlten.  ^)  Die  jetzige  Tötung  oder 
richtiger  Abschlachtung  des  Menoitiaden,  an  der  sich  Apollo, 
Hektor  und  Euphorbos  beteiligen,  ging  —  zur  Ehre  des  alten 
Epos  sei  es  gesagt  — •  früher  anders  vor  sich;  denn  aus  den 
bestimmten  Angaben  des  siebzehnten  Gesanges^)  erhellt,  dass 
der  Leichnam  noch  die  Waffen  Achills  trug.  Erst  ein  Späterer, 
welcher  nicht  begriff,  dass  die  göttlichen  Waffen  den  Menoitiaden 
nicht  vor  dem  Tode  bewahren  konnten,  erklärte  sich  dies  auf 
etwas  rohe  Weise  durch  das  Eingreifen  des  Apollo.  *)  Auf 
die  zahlreichen  kleineren  Schäden  des  Textes  einzugehen,  ge- 
stattet der  Raum  nicht. 


1)  0äaaov  II  126  heisst  „schneller  als  Du  thust." 

2)  Die   Unterredung,    welche   Zeus   mit  Hera  über  Sarpedous    Schicksal 
hält  (H  431—61),  ist  der  über  Hektor  nachgebildet. 

3)  P  13.  16.   125.  187.  205. 

4)  Lachmann,  Düntzer  u.  A.  s.  Hentzes  Anh.  H.  6  S.  34  fi". 


96  3.  Kapitel. 

Der  siebzehnte  Gesang  ist  gleichfalls  stark  überarbeitet. 
Wenn  Rektor  die  erbeutete  Rüstung  anlegt,  so  widerspricht 
dies  mehreren  anderen  Stellen  und  ist  ein  Erzeugnis  eines 
praktischen  Rhapsoden.  ^)  Der  Kampf  um  die  Rosse  des 
Achilleus  (V.  424 — 542)  weist  manche  ansprechende  Züge  auf, 
ohne  dass  diese  die  zahlreichen  anderweitigen  Bedenken  auf-' 
wögen.  ^)  Wie  viel  von  dem  übrigen  echt  ist,  lässt  sich  nicht 
mehr  bestimmen ;  jedenfalls  widerspricht  dieses  verwirrende 
Hin-  und  Herwogen,  wobei  einmal  (V.  319)  die  Troer  bis 
Ilion  fliehen,  der  alten  Einfachheit.  Das  letzte  Stück  (P  702—61), 
welches  das  Zurücktragen  der  Leiche  und  den  allgemeinen 
Rückzug  der  Achäer  schildert,  steht  zu  der  am  Anfange  von 
£  folgenden  Erzählung  in  Gegensatz;  die  erste  Hälfte  des 
achtzehnten  Gesanges  durchziehen  aber  mindestens  viele 
kleinere  Interpolationen  (z.  B.  V.  356 — 68),  über  deren  Zahl 
jeder  Forscher  anders  denkt.  ^)  Wahrscheinlich  ist  es,  dass  erst 
ein  Ueberarbeiter  die  Rettung  der  Leiche  so  effektvoll  gestaltete.  *) 
Die  Beratung  der  Troer  ß  243—315)  trägt  den  sanguinischen 
zwischen  Gefühlsextremen  hin  und  her  schwankenden  Charakter, 
der  so  vielen  jüngeren  Dichtungen  eignet.  Sehr  passend^) 
greift  der  alte  Dichter  V.  369  auf  Thetis  zurück,  um  sie  zu 
Hephaistos  zu  bringen;  freilich  entsteht  dadurch  der  Schein, 
als  ob  sie  erst  am  folgenden  Morgen  dorthin  gekommen  sei.*) 
Im  folgenden  scheidet  man  nach  Zenodots  Vorgange  die  Schild- 
beschreibung (S  483— 608)  aus,  wozu  sprachliche  und  sachliche 
Neologismen  berechtigen. '')  Ausserdem  ist  es  nicht  recht 
glaublich,   dass   der  alte  Dichter  der  früher  keineswegs  langen 

1)  Hentze  a.  O.  S.  70  f.,  auch  Niese  S.  89,  vgl.  P  129  ff.  231. 

2)  Hentze  a.  O.  S.  78  ff.,  auch  Niese  S.  122. 

8)  Hentze  8.  HO  ff.  P  384  deutet  schon  auf  den  Abend;  trotzdem  geht 
erat  ^  230  die  Sonne  unter. 

4)  I.«<hinann8  Recensent  und  Bergk  scheiden  V.  148—231  aus  und 
Hentze  (.S.  120)  V.  148—240.  Niese  (S.  90  f.)  beanstandet  die  Sendung  des 
Antilochos,  weil  dieser  das  ihm  aufgetragene  Hilfegesnch  nicht  vorbringt; 
Achilleus  ist  eben  vor  Schmerz  fassungslos  und  erst  der  Zuspruch  einer 
Gottin  vermag  seinen  Geist  auf  andere  Gedanken  zu  bringen.  Bereits  Zeuodot 
8chie<l  den  hesiodisch  gearteten  Nereidenkatalog  (il  39—49)  aus. 

6)  Wenn  auch  Jakob  und  Bekker  daran  mäkeln. 

6)  Bergk  verwirft  deshalb  die  ganze  Scene. 

7)  Ueber  die  künstlerische  Möglichkeit  Brunn  Rhein.  Mus.  5,  340  ff. 
and  die  Kunst  bei  Homer,  München  1868  (Abh.  der  bayer.  Akad.). 


Die  homerischen  Epen.  97 

Achilleis  eine  so  umfangreiche  Einleitung  vorausschickte.  Diese 
musste  vielmehr  erst  wachsen,  um  dem  Schilde  gewachsen  zu 
sein.  Da  aber  Arktinos  die  Partie  bereits  kannte,  weil  er  in 
seiner  Äthiopis  ihr  eine  entsprechende  Beschreibung  von  Memnons 
Schilde  an  die  Seite  stellte,  ist  ein  terminus  ante  quem  gegeben. 

T  schildert  die  Sühne  und  den  Wiederauszug  des  Achilleus; 
Mährend  die  erstere  Partie  durch  Rücksichtnahme  auf  die 
Presbeia  mindestens  grossen  Schaden  erlitt,  scheint  die  andere 
ziemlich  unversehrt.  Abgesehen  davon,  dass  dort  die  lange 
Geschichte  von  der  Geburt  des  Herakles  (V.  95  ff.)  nur  eine 
frühere  einfache  Sentenz  ausführt^),  nötigen  die  zahlreichen 
Anspielungen  auf  die  Presbeia  V.  140 — 275  und  zugleich  wohl 
auch  277 — 356  zu  verwerfen.^)  Oder  sollen  wir  lieber  an 
T  137  f.  (=  I  119  f.)  I  121—34  anschUessen?  Dann  könnten 
wir  uns  mit  ziemlich  wenigen  Athetesen  begnügen.  Dagegen 
ist  der  Schluss  des  Gesanges  unzweifelhaft  alt  und  von  hervor- 
ragender Schönheit;  ich  erinnere  nur  an  das  Gespräch  des 
Achilleus  mit  seinem  Pferde. 

Der  Bericht  über  Achills  Thaten'^)  T — X  ist  bedeutend 
erweitert,  wahrscheinlich  damit  jener  alle  übrigen  Helden  der 
Ilias  in  den  Schatten  stelle.  T  75 — 350^)  schildert  mit  grosser 
Umständlichkeit  den  Einzelkampf  des  Achilleus  und  Aneas, 
wobei  wider  Erwarten  Poseidon,  der  doch  in  den  jüngeren  Ge- 
sängen mit  Recht  den  Griechen  beisteht,  den  troischen  Helden 
rettet  ^) ;  der  Dickter  dieses  Abschnittes  prunkt  mit  seiner  Sagen- 
kunde. ^)  Die  langen  Wechselreden  erinnern  an  die  Begegnung 
des  Glaukos  und  Diomedes  ^),  sind  aber  bei  dem  leidenschaftlich 
nach  Rache  dürstenden  Peliden  wenig  am  Platze.  Ueber  die 
Tötung  Lykaons  4>  34 — 135  ist  schwer  zu  urteilen,  doch  steht  der 
Annahme  der  Echtheit   nichts  im  Wege.     Dagegen   weiss    der 


1)  Bernhardy  II  1,  171. 

2)  Bergk  I  632;  besonders  V.  339  f.  nnd  die  Metapher  TcoXefioo  ot6|j.a 
(wie  K  8)  fallen  auf.  In  jenem  Stücke  werden  lange  Reden  über  das  wichtige 
Problem  gehalten,  ob  das  Heer  vor  der  Schlacht  noch  frühstücken  soll. 

3)  Kammer  zur  hom.  Frage  II.  Königsberg  1870;  M.  Schmidt 
meletemata  Homerica,  Jena  1878. 

4)  Bergk  I  633.  Niese  S.  102. 

5)  In  E  thut  es  Apollo! 

6)  V.  213  ff.  306  ff.  313. 

7)  Vgl.   r  176  ff.  mit  Z  121  f. 

Situ,  Geschichte  der  griechisclien  Literatur.  7 


^8 


2.  Kapitel. 


Dichter  sicher  noch  nichts  davon,  dass  Achillens  Asteropaios 
und  seine  Päonier  vernichtet.  Auch  beim  Kampf  mit  dem 
Skamandros  muss  ich  mir,  wie  Bergk  ^),  das  Urteil  vorbehalten. 
Mag  auch  der  Gedanke  genial  und  die  Ausführung  ebenbürtig 
sein,  so  erregt  doch  die  Umgebung  Verdacht.  V.  272 — 98 
rühren  jedenfalls  nicht  von  Homer  her,  weil  Athene  mit  Poseidon 
eingreift  und  beide  nichts  ausrichten.  Um  so  wirksamer  und 
passender  tritt  aber  Hephaistos  auf  Heras  Bitte,  die  auch  sonst 
dem  Achilleus  beisteht,  als  Gott  des  Feuers  gegen  den  Fluss- 
gott auf.  Weiters  spielt  Hektor  jetzt  eine  ungeschickte  Rolle 
vor  seinem  Ende:  Schon  T  364  ff.  würde  er  seinen  Feind  an- 
greifen, wenn  Apollo  ihn  nicht  auf  ungewöhnliche  Art  zurück- 
hielte; V.  419  ff.  tritt  er  ihm  aus  Schmerz  um  seinen  Bruder 
wieder  entgegen,  wird  aber  im  entscheidenden  Augenblicke 
gerettet.  Beide  Episoden  schoV)  man  ein^),  nachdem  einmal 
die  ganze  Erzählung  bedeutend  erweitert  war,  um  den  langen 
Aufschub  der  Rache,  nach  der  doch  Achill  so  heftig  begehrte, 
zu  erklären.  Neben  den  Kämpfen  gehen  jetzt  ausserdem 
Götterschlachten  einher,  welche  die  Fürchterlichkeit  der  Ent- 
scheidung erhöhen  sollten.  ^)  Die  Götter  kommen  T  4 — 75  und 
stellen  sich  zum  Kampfe  auf,  darunter  auch  der  Skamander 
gegenüber  Hephaistos,  was  jenen  Kampf  schon  vorbereitet. 
Erst  4>  383—513  kämpfen  die  Götter  wirkhch.^) 

Der  Schluss  des  alten  Epos  „Hektors  Tod"  ist  dagegen 
wenig  geändert.  X  98 — 131  zeigen  Hektdt'  im  Sinne  der 
jüngeren  Dichtung  als  milden  Helden,  der  weit  von  der  Ruhm- 
sucht des  Achilleus  entfernt  nur  für  das  Wohl  seines  Vater- 
landes und  die  Rettung  seiner  Lieben  kämpft;  auch  jetzt  denkt 
er  noch  an  Frieden  und  Versöhnung.^)  X  167 — 187  fühlen 
Zeus  in  ähnlicher  weicliherziger  Stimmung  vor;  als  der  Götter- 
könig tritt  er  dagegen  X  208  ft'.,  wo  er  die  Todesloose  wägt, 
auf.     Jetzt   weicht  Apollo,   jetzt    erst  (nicht   schon   V.  186  f.) 

1)  I  684  f.;  Mor.  Schmidt  melet.  Hom.  I  6  und  Niese  S.  102  halten 
ihn  für  später. 

2)  Niese  S.  103,  der  auch  *  544  —  X  20  streicht. 

8)  Nitzsch  Sagenpocsic  S.  289  f.  Lehrs  Arist.  MOS.  Bergk  I  636. 
Kammer  zur  hom.  Frage  2,  50  ff.  Niese  S.  101  f. 

4)  Vgl,  r  112—56.  Der  Verfasser  setzt  V.  396  und  421  die  Verwimduug 
des  Ares  und  der  Aphrodite  voraus. 

6)  V.  100  bezieht  sich  auf  I  249  ff.,  eine  Stelle,  die  wir  ausgeschieden  lial)cii. 


Die  homeiiscbea  Epen.  99 

tritt  Athene  zu  dem  Peliden.  Dass  sie  Hektor  täuscht,  berührt 
unser  sittliches  Gefühl  nicht  angenehm,  indes  muss  dem  Laufe 
Hektors  in  geschickter  Weise  Einhalt  gethan  werden.  Der 
troische  Held  fällt  und  wird  von  Achill  zu  den  Schiffen  ge- 
schleift; das  Schicksal  des  Leichnams  ahnen  wir  aus  X  335  f. 
Mit  der  herzzerreissenden  Klage  der  Wittwe  klingt  das  Gedicht 
hart  und  schrill  aus,  gleich  den  Nibelungen.  Die  Zukunft,  die 
den  Tod  des  Achilleus  (X  359  f.)  und  den  Fall  Trojas  in  sich 
birgt,  steht  drohend  im  Hintergrund.  Das  Nibelungenlied 
schhesst  in  so  heroischer  Art;  aber  den  jonischen  Griechen 
erschien  es  notwendig,  diese  Dissonanzen  aufzulösen  und  die 
Aufregung  zu  beschwichtigen.  Der  alte  Dichter  (denn  wir 
haben  keinen  Grund,  an  einen  Nachdichter  zu  denken),  fügte 
deshalb  das  im  Vorhergehenden  mehrmals  angedeutete  Begräbnis 
des  Patroklos  in  W  1 — 257  bei.  Es  ist  kein  sogenannter  ver- 
söhnender, aber  doch  ein  ruhiger  Abschluss;  Achilleus  selbst 
sieht  dem  Ende  seines  Heldenlebens  mit  voller  Fassung  (V  243  ff.) 
entgegen.  Mit  diesem  Schlüsse  begnügte  sich  jedoch  die  jüngere 
Zeit  nicht  ^),  sondern  einmal  wurden  Leichenspiele  zu  Ehren 
des  Patroklos  erdichtet,  um  die  Schilderung  prunkvoller  und 
lebhafter  zu  machen;  als  ferner  die  späteren  Dichter  in  Hektor 
das  Bild  eines  edlen  Verteidigers  seines  Vaterlandes  und  gefühl- 
vollen Familienvaters  gezeichnet  hatten,  wurde  das  ehrenvolle 
Begräbnis  dieses  Helden  zur  moralischen  Notwendigkeit ;  wie 
dies  vermittelt  werden  sollte,  konnte  X  416  lehren.  Der  Dichter 
der  Athla  zeigt  bei  seinem  spröden  Stoffe  besonders  eine  un- 
gemeine Gewandtheit,  jegliche  Monotonie  zu  vermeiden.  "^)  An 
diesem  Lobe  nehmen  aber,  wie  Lehrs^)  erkannte,  W  798 — 883 
nicht  nur  keinen  Teil,  sondern  sie  zeigen  recht  deutlich,  wie 
ein  geringeres  Talent  aus  demselben  Stoffe  nichts  besonderes 
(in    der    Menge    sicher    nur    langweiliges)    hervorbringt.     Das 


1)  Ueber  ^  und  ii  vgl.  Nitzsch  Sagenpoesie  S.  268  ff.,  Bergk  I  637  ff.; 
über  ii,  das  schon  im  Altertum  viele  Bedenken  erregte,  vgl.  Köchly  Hektors 
Lösung,  Zürich  1859,  Peppmüller  Commentar  des  24.  Buches  der  Ilias, 
Berlin   1876,   auch  Düntzer   hom.  Abh.  S.  236  fl". 

2)  Schiller  that  die  überschwäugliche  Aeusseruug:  „Wenn  man  auch 
nur  gelebt  hätte,  um  den  23.  Gesang  der  Ilias  zu  lesen,  so  könnte  man  sich 
über  sein  Dasein  nicht  beschweren." 

3)  De  Aristarchi  stud.  Hom.  'M30  ff. 

7* 


JQQ  3.  Kapitel. 

didaktische  Stück  W  303—50^)  stimmt  dagegen  gut  mit  dem 
Tone  des  ganzen  Gedichtes  überein,  da  sich  der  Sänger  überall 
bestrebt,  jede  Person  durch  Rede  und  Handlung  zu  charak- 
terisieren, wobei  der  berühmte  Pylier  nicht  leer  ausgehen  darf. 
Bei  Hektor  verzichtet  der  Dichter  des  letzten  Gesanges  mit 
feinem  Takte  auf  eine  ebenso  ausführliche  Beschreibung  des 
Begräbnisses.  Das  Hauptgewicht  ruht  hier  auf  der  Totenklage, 
die  einen  RückbHck  auf  die  Ihas  und  einen  prophetischen  Aus- 
blick auf  die  traurige  Zukunft  eröffnet.  ^)  So  schliesst  der  Ver- 
fasser, wenn  auch  nicht  mit  heiteren  Klängen  —  das  würde 
nicht  passen  — ,  so  doch  in  mildem  versöhnendem  Tone. 

Das  alte  Epos  setzte  sich  also  aus  dem  Kerne  von  A — E, 
A  und  0  ^ — W  ^  zusammen  und  umfasste  in  runder  Summe  vier- 
tausend Verse,  die  leicht  ungefähr  in  dem  gleichen  Zeiträume 
wie  eine  tragische  Tetralogie  vorgetragen  und  demnach  als 
Einheit  empfunden  werden  konnten.  Vergleichen  wir  damit, 
dass  bald  nach  Anfang  der  Olympiadenrechnung  ein  jedenfalls 
bedeutend  umfangreicheres  und  dazu  sicher  einheitliches  Epos 
in  der  Athiopis  vorliegt^),  so  fällt  jedes  Bedenken  gegen  die 
Einheitstheorie, 

Der  ihas  gegenüber  stand  die  Odyssee  auf  wesentlich 
verschiedenem  Boden.  Auch  die  Alten  erhielten  von  ihr  einen 
andersgearteten  Eindruck,  schoben  dies  jedoch  bald  auf  die 
Verschiedenheit  des  Stoffes,  bald  auf  das  höhere  Alter,  in  dem 
Homer  die  Odyssee  angeblich  dichtete.  Wie  aus  allem  hervor- 
geht, betrachteten  die  Griechen  die  Ihas  als  das  vorzüglichere 
Epos,  das  am  vollsten  die  Eigentümlichkeiten  der  homerischen 
Poesie  ausprägte.  Die  grosse  Frische  der  Erzählung,  die  Natür- 
lichkeit und  Anschaulichkeit  der  Schilderungen,  eine  gewisse 
Naivität  der  Auffassung  rechtfertigt  dieses  Urteil ;  diese  Um- 
stände hätten  aber  zu  einer  genaueren  Untersuchung  Anlass 
geben  sollen,  damit  die  Verschiedenheit  des  Verfassers  klar 
geworden  wäre.     Aristarch   verstand   sich  nicht  dazu,   obgleich 


1)  Nie«e  8.  59  Rtreicht  es. 

2)  Für  Dftntzer  endigt  da.s  Epos  mit  ü  676. 
8)  Anch  wenn   man    bei  der  Angabe    von  9100  Versen    die  'IXiou  Tcepoic 

niitrrchnet,  so  umfasste  dann  doch  die  Athiopis  etwa  V?  dieser  Summe,  also 


6600  Ver»e. 


Die  homerischen  Epen.  101 

ihm  die  C  li  o ri  z o  n te  ii,  an  ihrer  Spitze  Xenon  und  Hellanikos  ^), 
vorangegangen  waren.  Freilich  haben  diese,  wie  wir  aus  der 
Polemik  der  Schollen  ersehen,  nur  das  Verdienst,  dass  sie  das 
Richtige  dunkel  fühlten,  wiewohl  sie  es  nicht  wissenschaftlich 
bewiesen.  In  unserem  Jahrhunderte  brachte  Benjamin  Constant^) 
die  Frage  wieder  in  Fluss;  jetzt  nehmen  alle  an,  dass  die 
Odyssee  nicht  blos  von  einem  anderen  Verfasser,  sondern  auch 
aus  späterer  Zeit  stamme.^)  Je  gesicherter  aber  das  Resultat 
erscheint ,  desto  grössere  Vorsicht  ist  den  einzelnen  Beweisen 
gegenüber  anzuwenden.  Seit  Constant  spricht  man  namentlich 
viel  über  die  Veränderung  der  religiösen  Ideen ;  in  der  Ilias 
sollen  die  Götter  nämUch  mehr  plastisch  und  anthropomorph, 
in  der  Odyssee  dagegen  mehr  abstrakt  geschildert  sein.  In 
der  Ilias  sind  sie  menschlichen  Leidenschaften  unterworfen, 
hier  dagegen  angeWich  darüber  erhaben ,  so  dass  sie  nicht 
wegen  armseliger  Menschen  in  Streit  liegen,  von  anderem  ab- 
gesehen, das  sich,  von  einem  stilistisch  gewandten  Franzosen 
gesagt,  recht  gut  ausnimmt,  bei  einer  eingehenden  Prüfung 
jedoch  nicht  Stand  hält.  Die  Götter  richten  sich  eben  für  die 
homerischen  Dichter  nach  den  menschlichen  Verhältnissen ; 
überdies  kommt  in  der  Ihas  gerade  das  Eingreifen  der  Olympier 
sehr  oft  auf  die  Rechnung  der  Nachdichter.  Dagegen  ent- 
wickelt sich  der  eigenartige  Begriff  des  göttlichen  Rechtes 
(o-iiov)  erst  in  der  Odyssee  (z  423.  x  ^12);  erst  dieses  Epos 
kennt  im  Verein  mit  der  Presbeia  Orakel  (O'  77  ff.  I  404  ff.). 
Auch  Ägypten  kommt  blos  in  diesen  beiden  Dichtungen  vor 
(I  381  und  S  227  ff.  351.  ^  252  ff.);  überhaupt  hat  der  Ver- 
kehr mit  dem  Oriente  zugenommen:  Cypresse  (s  64.  p  340), 
Ceder  (s  64),    Palme   (C  163)   und  Lorbeer  {i  183)   treten    erst 


1)  Sturz  de  HeUanico  p.  30  fif.,  Grauert  Welckers  Rhein.  Mus.  1,  199  ff. 
Hellanikos  ist  ein  älterer  Zeitgenosse  des  Aristarch;  Thiersch  acta  philol. 
Monac.  II  581  wollte  Xenon  in  Zenodotos  ändern.  Ueber  Chorizonten  der 
Kaiserzeit  Sen.  brev.  vitae  13  und  Luc.  ver.  hist.  2,  20. 

2)  In  seinem  grossen  Werke  De  la  religion,  Paris  1830  III  316  ff.,  indem 
er  ausführte,  was  Herder  Adrastea  V  1,  141  Lpg.  1803  schon  geäussert; 
ausser  den  Literaturgeschichten  vgl.  noch  Barth.  Thiersch  de  diversa  Iliadis 
et  Odysseae  aetate  Jahrbb.  1,  95  ff'.,  Burnouf  revue  de  deux  m.  1865 
S.  735  ff'..  Niese  S.  48  ff'. 

3)  Seh ö  mann  Jahrbb.  19,    130  hielt  noch  die  Odyssee  für  älter. 


102  3.  Kapitel. 

in  der  alten  Odyssee  auf.  ^)  Der  Adel  hat  sich  bereits  ein 
höheres  Ansehen  errungen,  womit  zugleich  die  alte  religiöse 
Scheu  vor  dem  Herrscher  von  Zeus'  Gnaden  abnahm;  daher 
heissen  bei  den  Phaiaken  die  Geronten  selbst  Könige  2),  wie 
später  nach  dQra  Sturze  der  Monarchie.  ^)  Mit  Ü  hat  die  Odyssee 
Hermes  als  Götterboten  gemeinsam,  während  die  Ilias  und  die 
Irosepisode  (o  6  f.)  Iris  in  dieser  Eigenschaft  nennen ;  nicht  als 
ob  gerade  deswegen  die  Ilias  älter  sein  müsste.  *)  Auch  die 
Stellung  der  Sänger  wird  verschieden  genannt,  weil  in  der 
Ilias  die  Helden  selbst  singen,  wogegen  die  Odyssee  einen 
Sängerstand  voraussetzt;  aber  hat  etwa  ein  Dilettant  jenes 
Epos  gedichtet?  Der  Sänger  hat  im  Feldlager  keine  Stätte,  denn 
vor  Ares  flieht  die  epische  Muse.  Manches  andere  beruht  auf 
einer  Vermischung  der  alten  Odyssee  und  junger  Zusätze,  z.  B. 
bezeichnet  ,, Hellas"  in  der  Presbeia  und  in  einer  Formel  späterer 
Stücke  bereits  Mittelgriechenland;  ebenso  nennt  blos  ein  Inter- 
polator  den  Mythos  vom  Olymp  eine  Sage  (C  42  fF.),  wie  auch 
die  Gnomen  selten  von  dem  alten  Dichter  stammen.  Wort- 
schatz und  Phraseologie  der  Odyssee  weichen  gleichfalls  von  dem 
der  älteren  Ilias  vielfach  ab,  erinnern  aber  nicht  selten  an 
deren  späteste  Gesänge.  ^)  Ich  verzichte  darauf  Proben  zu 
geben ,  da  auch  hier  der  Mangel  an  systematischen  Arbeiten 
sich  fühlbar  macht.  ^  In  Hinsicht  auf  die  Metrik  verliert  muta 
cum  Hquida  immer  mehr  die  längende  Kraft. 

Obgleich  an  sich  ein  Genie  beide  Werke  hätte  vollenden 
können ,  ist  doch  die  ganze  Art  des  Dichtens  zu  verschieden, 
als  dass  wir  dieses  Verhältnis  annehmen  dürften.  Der  Dichter 
der  Odyssee  dichtet  freilich  in  der  Art  des  alten  Epos;  er  be- 
müht  sich    den  ganzen  Reichtum    der  ihn  umgebenden  Natur 


1)  Die  Feige  (Hehn  Knlturpflanzen  '84)  erscheint  blos  in  zwei  späten 
Sceoen,  den  Alkinoosgärten  und  dem  Schlüsse  der  Nekyia. 

2)  »■  40  f.  390  f.  vgl.  a  394. 
8)  Z.  B.  Hes.  E.  88. 

4)  Im  tritt  anch  Hes.  Th.  784  flf.,  Hymn.  1,  102.  5,  314,  in  den  Kyprien 
nnd  anf  der  Fran9oi8va8e  als  Götterbotin  auf,  Hermes  dagegen  in  älterer 
Zeit  Wo«  Hes.  Th.  939.  Wahrscheinlich  waren  die  Ämter  beider  anfangs 
ge«chie<Ien ;  deshalb  kommen  in  ü  und  auf  einer  Vase  (Overbeck  her.  Bildw. 
9,  7)  beide  neben  einander  vor. 

6)  Vgl.  die  Monographien  über  die  Doloneia  und  ii. 

6)  Bergks  Sammlung  (I  731  f.)  bedarf  der  kritischen  Revision. 


Die  homeiischeu  Epen.  103 

ZU  umfassen  und  die  Einzelheiten  getreu  wiederzugeben,  aber 
er  vermag  nicht  mehr  zu  der  Frische  und  AnschauHchkeit, 
Velciie  auch  nur  den  ältesten  Liedern  der  Ilias  in  vollem  Masse 
zukommen,  sich  aufzuschwingen.  Die  Odyssee  entbehrt  daher 
der  Farbenpracht  ihres  Vorbildes,  weshalb  sie  Jean  Paul^)  mit 
Recht  dem  Monde  und  die  Ilias  der  Sonne  vergleicht.  Diesen 
Mangel  sucht  der  Sänger  durch  etwas  raffinierte  Mittel  aufzu- 
wiegen. Variation  geht  ihm  über  alles.  Während  die  Ilias  als 
treibendes  Motiv  der  Groll  des  Achilleus  durchzieht,  fehlt  bei 
der  Odyssee  ein  solches  oder  vielmehr  es  zersplittert  sich.  Für 
den  ersten  Teil  hätte  es  der  Zorn  des  Poseidon  werden  können; 
der  Dichter  ist  aber  damit  nicht  zufrieden,  sondern  fügt  die 
Eröffnung  des  Windschlauches  und  die  Rache  des  Helios  hinzu. 
Im  zweiten  Teile  gibt  sich  Odysseus  seinen  Angehörigen  zu 
erkennen,  und  thut  dies  bei  Telemach,  den  Hirten  und  Penelope 
durch  ein  jedesmal  verschiedenes  Mittel.  Er  erzählt  ferner  seine 
angeblichen  Abenteuer  jedem,  der  ihn  danach  fragt,  und  immer 
mit  neuen  Phantasiesprüngen.  Wie  der  Dichter  hier  die  Wahr- 
scheinlichkeit seiner  Fabulierfreude  zu  Liebe  etwas  in  den  Wind 
schlägt,  so  thut  er  es  im  ersten  Teile  bei  den  Phäaken. 
Odysseus  gibt  sich  bekannthch  —  gegen  die  homerische  Sitte 
—  seinem  Wirte  erst  am  folgenden  Tage  zu  erkennen,  weil  der 
Dichter  die  Erkennungsscene  in  besonders  feierlicher  Situation 
und  vor  möglichst  zahlreichem  Publikum,  also  besonders  effektvoll 
vor  sich  gehen  lassen  wollte ;  darum  beantwortet  sein  Odysseus 
mit  anerkennungswerter  Geschicklichkeit  nur  die  zweite  Frage 
der  Arete,  welche  die  Kleider  betrifft  und  das  daran  sich 
schliessende  Gespräch  führt  von  der  ersten  weit  ab.  Dem 
Dichter  der  Ilias  und  seinen  ersten  Fortsetzern  waren  derartige 
Kunstgriffe  ebenso  fremd,  wenn  auch  nicht  in  dem  Sinne  wie 
den  meisten  gestrengen  Kritikern,  die  darin  nichts  als  Unge- 
schicklichkeit sehen.  In  ähnlicher  Weise  verschiebt  der  Sänger 
das  Zwiegespräch  Penelopes  mit  ihrem  unerkannten  Gatten  auf 
den  Anbruch  der  Nacht ,  damit  sich  eine  malerische  Situation 
ergebe.  Weniger  Gewicht  lege  ich  auf  die  künstlichere  Kom- 
position der  Odyssee;  hätte  denn  die  Ilias  eine  solche  Ver- 
schlingung überhaupt  gestattet?   Ohne  Zweifel  steht  die  Odyssee 

Ij   Vorschule  der  Ästhetik  Progr.  4  §  20. 


104  3.  Kapitel. 

aber  auf  einer  vielfacli  verfeinerten,  ja  überfeinerten  Stufe  und 
ist  durch  mindestens  ein  Jahrhundert  von  der  alten  Ilias 
getrennt. 

Weini  wir  von  einer  wenig  bedeutenden  Schrift  von  Koes  ^) 
absehen,  Wieb  die  Odyssee  lange  vor  dem  Anstürme  der  zer- 
setzenden Kritik  bewahrt,  da  ihr  kunstvoller  Bau  vor  der  be- 
dingungslosen Anwendung  der  Liedertheorie  zurückschreckte,  ^) 
Selbst  Hennings,  der  eine  gehaltreiche  Schrift  über  die  Tele- 
machie  verfasste  ^),  und  Köchly  in  drei  Programmen  de  Odysseae 
carminibus  (Zürich  1862 — 4)*)  wagten  die  Odyssee  nur  in 
Liedergruppen ^)  zu  zerlegen;  doch  wird  niemand  leugnen,  dass 
diese  Versuche  geseheitert  sind.  Der  Hauptangriff  auf  die 
Einheit  ging  von  dem  berühmten  Epigraphiker  A.  Kircbhoff 
aus,  der  1859  ,,Die  homerische  Odyssee  und  ihre  Entstehung" 
(Berlin)  veröffentlichte;  vielfach  erweitert  aber  nicht  besser  be- 
gründet liegen  seine  Untersuchungen  zuletzt  in  der  Schrift  ,,Die 
homerische  Odyssee"  (Berlin  1879)  vor.  Kirchhoff  stellt  folgende 
Ansichten  auf:  Der  früheste  Bestandteil  der  Odyssee  ist  der 
,,alte  Nostos  des  Odysseus",  welcher  die  erste  Götterversammlung, 
des  Odysseus  Erlebnisse  bei  den  Phäaken  (mit  Ausschluss  von  ^), 
ferner  von  seiner  Erzählung  nur  den  neunten  und  elften  Gesang 
und  endlich  einen  kurzen  Bericht  über  die  Kückkehr  nach 
Ithaka  enthielt.  In  späterer  Zeit,  aber  noch  vor  dem  Beginne 
der  Olympiadenrechnung  wurde  dieses  Epos  von  einem  weniger 
bedeutenden  Dichter  so  fortgesetzt,  dass  er  mit  ängstlicher 
Benützung  älterer  Lieder  die  weiteren  Schicksale  des  Odysseus 
bis  zur  Wiedervereinigung  beider  Gatten  erzählte.  Weil  er  die 
wichtigsten  Gesichtspunkte  und  Motive  nicht  festhalten  konnte, 
scheint  er  ein  sehr  beschränkter  Kopf  gewesen  zu  sein.     Noch 


1)  de  discrepantiis  quibusdam  iu  Odyssea  otcurentibus,  Kopenhagen  1806. 

2)  Heer  klotz  Betrachtungen  über  die  Odyssee,  Trier  1854  verstieg  sich 
allerdings  soweit. 

8j  Jahrbb.  Suppl.  3,  133—234  (auch  separat  Lpg.   1858). 

4)  Auch  „üJ>er  den  Zusammenhang  und  die  Bestandteile  der  Odyssee"  in 
den  Verh.  der  21.  Phil.Vers.  zu  Augsburg  S.  34  ff. 

6)  Nach  Köchly  1.  Telemachs  Ausfahrt.  2.  Odysseus  bei  den  Phaiaken, 
denen  er  »einen  NoMtos  erzählte  (Kikhly  scheidet  die  Nekyia  und  die  Helios- 
rinder aus;  auf  den  Kyklopen  folgen  die  Lästrygouen,  dann  kommt  Odysseus 
zu  Aiolo«.  Die  entfe-nselten  Winde  treiben  sein  Schiff  umher  und  Zeus'  Blitz 
zerschmettert  es.  Warum?).     3.  Fortsetzung  nach  älteren  Einzelliedern. 


Die  homeriscliea  Epeu.  105 

schlimmer  stand  es  mit  dem  geistigen  Befinden  des  „Ordners", 
<ler  um  die  dreissigste  Olympiade  die  Telemachie  (a — S)  und 
den  jüngeren  Nostos  (x  und  |x)  einschob ,  sowie  verschiedene 
redaktionelle  Zusätze  u.  dgl.  machte.  Ein  merkwürdiges  Geschick 
des  herrlichen  Epos,  dass  es  in  immer  ungeschicktere  Hände 
fiel!  Merkwürdige  Leute  diese  Griechen,  die  nicht  lauten  Wider- 
spruch gegen  solche  Manipulationen  erhoben!  Es  ist  ein  Glück, 
dass  das  kühne  Gebäude  auf  recht  schwachen  Beweisen  ruht.  ^) 
Die  einschneidendste  Hypothese,  nach  welcher  der  zweite 
Teil  der  Odyssee  vom  ersten  zu  sondern  ist,  stützt  sich  auf 
die  Behauptung  (S.  538  fif.),  bei  den  Phaiaken  erscheine  Odysseus 
noch  in  der  vollen  Blüte  männlicher  Schönheit ,  in  Ithaka 
dagegen  als  hinfälliger  Greis.  ^)  Der  Fortsetzer  habe,  um  diesen 
Widerspruch  zu  vermitteln,  Odysseus  v  430  ff.  durch  Athene 
verwandelt  werden  lassen.  Die  homerischen  Helden  altern  aber 
nicht  weniger  langsam  als  ihre  Frauen.  Wenn  nun  Penelope 
nach  zwanzig  Jahren  voll  Kummer  und  Thränen  noch  immer 
so  viele  Freier  anzieht,  wie  könnten  die  Leiden  ihren  Gatten 
weit  mehr  als  einen  gewöhnlichen  Menschen  entstellt  haben, 
so  dass  er  einem  Greise  vollständig  gleicht?  Wie'  sollen  wir 
von  dem  hinfälligen  Alten  den  Freiermord  erwarten?  Es  ist 
richtig,  dass  die  Erkennungsscene  in  t^  Anstoss  erregt,  aber 
Kirchhoff  erkennt  selbst  an ,  dass  die  Erzählung  dort  gestört 
sei.  Als  nämlich  (o,  das  den  Racheversuch  der  Verwandten 
schildert,  an  das  Epos  trat,  hielt  ein  Rhapsode  es  für  notwendig, 
den  klugen  Laertiaden  schon  vorher  darauf  Rücksicht  nehmen 
zu  lassen  und  schob  in  diesem  Sinne  <}>  117  ff.  ein.  Da  der 
Literpolator  damit  die  Erzählung  störte,  nahm  er  eine  Umstellung 


1)  Vgl.  W.  Hartel  Ztsch.  f.  Ost.  Gymu.  1864  S.  473  ff.  1865  S.  317  ff.; 
Düntzer  Kirchhoff,  Köohly  und  die  Odyssee,  Köln  1872;  Heimreich  die 
Telemachie  und  der  jüngere  Nostos,  Flensburg  1871;  Kammer  die  Einheit 
der  Odyssee,  Lpg.  1874  (ein  namentlich  durch  poetisches  Verständnis  hervor- 
ragendes Buch);  G.  Schmidt  über  Kirchhoffs  Odysseestudien,  Kempten  1879 
und  meine  Schrift  „Die  Wiederholungen  in  der  Odyssee"  München  1882. 
Es  ist  ein  schlimmes  Zeichen  für  Kirchhoffs  Theorie,  dass,  wenn  seine  Schüler 
sie  verteidigen,  sie  dem  Gegner  den  tendenziö.sen  Vorwurf  machen,  er  wende 
sich  speziell  gegen  „Berliner"  Gelehrte.  Aus  dieser  lusinuation  wie  aus 
anderen  Symptomen  erhellt  blos,  dass  die  wissenschaftlichen  „Beweise"  längst 
erschöpft  sind. 

2)  Mit  Zustimmung  von  Niese  S.   152  f. 


lAg  3.  Kapitel. 

vor  und  verband  das  Bad  des  Odysseiis  mit  dem  seiner  Kam})!- 
genossen.  Ursprünglich  folgten  jedoch  auf  V.  87  V.  153 — 6. 
1(;3_4.  >)  88—93.  96 — 112  (mit  IItjvsXoztiV  statt  TTjXeiiaxov), 
hierauf  V.  166  ff.  Der  kluge  Odysseus  leitet  also,  weil  er  Pene- 
lope  von  verborgenen  Zeiclien  reden  h()rt,  absichtlich  die  Rede 
auf  das  kunstreiche  Bett.  So  scheint  mir  die  Schwierigkeit  mit 
den  einfachsten  Mitteln  gehoben.^) 

Wir  kommen  zum  ,, jüngeren  Nostos":  Kirchhoff  (S.  292  ff.) 
fällt  auf,  dass  in  x  und  {i  Odysseus  Dinge,  die  er  nicht  gesehen 
haben  könne,  erzähle.  Namentlich  irritiert  ihn  die  im  Olymp 
spielende  Scene  \l  374  ff.  Der  Leser  erinnert  sich  vielleicht, 
dass  schon  einmal  die  Rede  davon  war,  ein  epischer  Dichter 
erzähle  nicht  mit  der  peinlichen  Genauigkeit  eines  Protokoll- 
führers; wer  möchte  vollends  an  solche  Märchen  den  Massstab 
der  nüchternen  Logik  anlegen?  Zudem  bietet  die  Odyssee  in 
der  Erzählung  des  Eumaios  (o  420  ff.)  eine  Parallele  und  auch 
im  neunten  Gesänge^)  könnte  man  ähnliche  Dinge  entdecken. 
Wenn  ferner  Kirchhoff  auf  mehrere  aus  der  Argonautensage 
entlehnte  Punkte  hinweist,  so  haben  Kirke  und  die  Lästrygonen 
mit  Medea  und  den  Dolionen  fast  nichts  gemein;  die  direkten 
Anspielungen  aber  wären  erst  noch  als  echt  zu  erweisen.  Auch 
gelingt  es  ihm  nur  durch  Athetese  von  X  104 — 13  die  Nekyia 
vonQ  „jüngeren  Nostos"  loszutrennen;  da  verlohnte  es  sich  für 
Odysseus  wahrlich  nicht  der  Mühe,  den  Schrecken  des  Hades 
zu  trocknen ,  wenn  ihm  Teiresias  über  die  Heimkehr  nur  mit- 
teilte, er  komme  erst  spät  nach  Itliaka,  und  ausführlich  blos 
über  Dinge,  nach  denen  er  nicht  gefragt  ist,  spräche,  während 
jetzt  in  seiner  Rede  eine  schöne  Symmetrie  herrscht. 

Nicht  glücklicher  scheint  Kirchhoff  (S.  275  ff.)  vorzugehen, 
wenn  er  wie  Köchly  verlangt,  der  Laertiade  müsse  auf  Aretes 
Frage  (yj  238  f.)  sogleich  sich  vorstellen  und  seine  Erlebnisse 
zum  Besten  geben;  t  16  ff.  sei  also  an  tj  242  zu  schieben. 
Abgesehen  von  sprachlichen  Bedenken,  die  sich  dagegen  erheben, 


1)  Mit  der  besseren  in  w  365  erhaltenen  Lesart  töfppa  8'  '03. 

2)  Bei  Kirohhoff  spräche  Penelope  so  antlällig  von  dem  Geheimnisse, 
dr«s  jeder,  der  nicht  so  geistesschwach  wie  Kirchhofts  Marionetten  ist,  hinter 
der  Häufung  ixtoc,  evS-a  und  exä-eiaat,  zumal  da  sie  kurz  vorher  des  ver 
borgenen  \S'nhrzeichen8  gedacht  hat,  etwas  besonderes  suchen  mü.sste. 

1)  Z.  B.  t  106  ff. 


Die  homerischen  Epen.  107 

wäre  es  auffallend,  wie  ein  Ueberarbeiter  dazu  kam,  die  ein- 
fache Erzählung  so  künstlich  zu  spalten  und  zu  dehnen.  Dann 
übersehen  Köchly  und  Kirchhoff,  dass  nach  ihnen  Odysseus 
ungefragt  in  einem  Atem  seine  ganze  Leidensgeschichte  er- 
zählte und  Aretes  zweite  Frage,  auf  die  sie  das  meiste  Gewicht 
legt,  erst  nach  vielen  hundert  Versen  beantwortete. 

Mit  diesen  Stützen  fallen  natürlich  auch  die  weiteren 
Folgerungen  Kirchhoffs.  Alt  soll  nur  der  Nostos  des  Odysseus  ^) 
sein,  welcher  aus  a  1—87,  s  28  —  tj  242.  i  16—564.  X  25—564 
628—35.  Yj  252 — 297.  v  1 — 184  bestand  und  nach  der  Scene 
in  der  Unterwelt,  wohin  Odysseus  aus  unbekannten  Gründen 
und  ohne  Anleitung  hinabsteigt,  die  Rache  des  Poseidon  scliil- 
derte.  Kirchhoff  operiert  mit  dem  früher  erwähnten  Mittel,  in 
den  Nachdichtern  und -Rhapsoden  blos  Schwachköpfe,  welche 
die  Ideen  der  grossen  Kpen  nicht  festhalten  konnten,  zu  sehen 
und  doch  treffen  wir  bei  den  gleichzeitigen  KykHkern  bedeutende 
poetische  Kraft  und  zugleich  pietätsvolle  Rücksicht  gegen  die 
homerischen  Dichtungen. 

Versuchen  wir  nun  unabhängig  von  Kirchhoff  ein  Bild 
der  alten  Odyssee  zu  entwerfen :  Gleich  am  Anfange  wurde  sie 
durch  die  Telemachie  ^)  erweitert.  Nach  dem  Götterrate  erwartet 
jedermann,  dass  nach  den  bestimmten  Worten  Athenes  ^)  Hermes 
sofort  zu  Kalypso  eilen  werde.  Doch  davon  geschieht  nichts. 
Athene  begibt  sich  vielmehr  nach  Ithaka  und  regt  dort  Tele- 
raachos  zu  einer  zwecklosen  Volksversammlung  und  einer  nicht 
minder  zwecklosen  Reise  an ,  während  Odysseus  noch  länger 
bei  Kalypso  ausharren  muss.  Endlich  treten  am  Anfange  des 
fünften  Gesanges  die  Götter  abermals  zu  einer  Versammlung 
zusammen,  reden  nichts  neues  in  obendrein  meist  erborgten 
Versen  und  jetzt  erst  macht  sich  Hermes  auf  den  Weg.  Auf 
die  chronologische  Verwirrung,    welche   durch   die  Einordnung 


1)  Eine  sonderbare  Odyssee  stellt  Niese  (S.  187  ff.)  zusammen:  Er  streicht 
a — j,  in  ',  das  Kyklopenabenteuer,  in  v.  Kirke,  dann  X;  vom  zweiten  Teile 
sind  ihm  acht  der  Anfang  von  v,  x  und  die  Erkennung  in  '|.  Die  Freier 
sollen  nur  den  dunklen  Reflex  abgeben;  zum  Lohne  kommen  sie  mit  heiler 
Haut  davon.  Den  Nostos  hatte  schon  Adam  die  älteste  Odysse,  Wiesbaden 
1877  ähnlich  zugeschnitten. 

2)  Zuerst  von  W.  Müller  und  B.  Thiersch  ausgeschieden. 

3)  Namentlich  V.  85  otppa  Ta)(^ioTa  v6fi«p-fl  Eo:c>.oxd|Aü)  ti7:-(j  vYifXEpTE« 
ßooX-fjv. 


jQg  3.  Kapitel. 

der  Teleinachie  entsteht^),  lege  ich  weniger  Gewicht,  da  man 
einem  Dichter  in  solchen  Nebensachen  nicht  zu  genau  auf  die 
Finger  sehen  darf.  Der  Dichter  der  Telemachie  kennt  aber 
im  Osten  bereits  die  Erember  (5  84)  und  mit  Ägypten  und 
l^ibyen  ist  er  vertrauter  als  die  anderen  homerischen  Sänger.^) 
Kirchhoff  (S.  315  fif.)  weist  überzeugend  nach,  dass  die  Tele- 
machie älter  als  die  Eöen  oder  der  Katalogos  ist,  während 
andererseits  die  genauere  Kenntnis  Afrikas  auf  die  Zeit  nach 
Psammetichs  Thronbesteigung  deutet.  ^)  Da  s  1 — 27  zu  schlecht 
ist,  um  von  dem  Verfasser  der  Telemachie  herzurühren,  anderer- 
seits aber  diese  unzweifelhaft  an  a  87  anknüpft,  so  ist  sicher, 
dass  die  Eindichtung  nicht  von  Anfang  der  Odyssee  einge- 
gliedert war,  sondern  eine  halb  selbständige  Stellung  —  ich 
mochte  sagen  wie  der  Trabant  eines  Sternes  —  einnahm.  *) 

Der  Rest  von  s  und  der  folgende  Gesang  blieben  von  der 
Kritik  fast  unangetastet ;  denn  vor  der  Feinheit  und  Lieblichkeit 
der  Erzählung  schwindet  jedes  Bedenken  gegen  ihre  Ursprüng- 
lichkeit. Das  Märchenland  der  Fhäaken  ist  der  geeignetste 
Ort,  wo  Odysseus  seine  wunderbaren  Geschicke  erzählen  kann ; 
ebenso  passt  die  Zeit  am  besten.  Es  ist  ja  nach  so  vielen 
Jahren  der  Irrfahrten  und  der  herzquälenden  Sehnsucht  der 
enfte  i'uhige  und  sorgenlose  Tag,  von  der  Hoffnung  auf  end- 
liche Heimkehr  verklärt  und  noch  nicht  getrübt  durch  die 
Kunde  von  den  Freiern.  Die  Kritik  fordert  erst  wieder  der 
siebente  Gesang  heraus,  an  dessen  Anfange  ein  Epigone,  ob- 
gleich C  300  Nausikaa  selbst  dies  für  unnötig  erklärt  und  der 
findige  Odysseus  gewiss  nicht  in  Verlegenheit  wäre,  Athene 
herbemüht,  damit  sie  ihren  Schützhng  zum  Palaste  des 
Alkiuoos  geleite.  Dabei  laufen  andere  Sonderbarkeiten  (z.  ß. 
die  Gynaikokratie)  ^)  mit  unter,  welche  die  Andeutungen  echter 


1)  Hennings  S.  198  ff.,  dagegen  Kammer  S.  233  ff.  und  uochmal  Hen- 
nings Jahrbb.  109,  631  ff.  677  ff.  111,  269  ff 

2)  Z    B.  8  86  mit  Thär  Philol.  29,  602  f. 

8)  Die  Ueberlistuug  des  Proteus  sah  man  am  amykläischen  Throne  (um 
Ol.  26)  dargestellt. 

4)  Kircbhoff  8.  238  ff.  schreibt  dem  Ordnet  das  erste  Buch  zu  und 
•tempelt  so  die  Telemachie  zu  einem  unmöglichen  Torso;  seine  Gründe  über- 
zeugen nicht  (Wiederholungen  S,  74  ff.). 

6)  t)  81  ff.  66  ff. 


Die  homerischen  Epen.  109 

Stellen  übertreiben.  Vermutlich  wollte  der  attische  ^)  Interpolator 
schon  im  ersten  Teile  Athene  thätig  in  die  Geschicke  ihres 
LiebHngs  eingreifen  lassen.  ^^)  Fast  unmittelbar  folgen  zwei 
bedeutende  Einschiebsel,  von  denen  Friedländer ^)  die  Be- 
schreibung der  Alkinoosgärten  (y]  103 — 32)  ohne  Widerspruch 
ausschied.  Der  Verfasser  derselben  griff  C  293  f.  auf,  versetzte 
aber  die  Gärten  willkürlich  an  den  Palast,  weil  er  diesen  schon 
beschrieben  vorfand.  Auch  dieser  Abschnitt  (r^  84 — 102)  verrät 
sich  durch  ungeschickte  Anknüpfung  als  Interpolation.  ^)  Wie 
wir  oben  gesehen  haben ,  verläuft  nun  bis  auf  einige  Inter- 
polationen, unter  denen  namentlich  die  Rede  des  Alkinoos 
Yj  308  ff.  zu  leiden  hatte,  die  Erzählung  ungestört.  Grösseren 
Schaden  hat  0-  erlitten.  Zunächst  ist  V.  7 — 15  wieder  ein  un- 
passendes Eingreifen  Athenes  zu  verzeichnen;  bald  aber  folgt 
eine  grössere  Eindichtung,  die  sich  durch  die  gleichen  Verse 
93 — 7  und  532 — 6  kennzeichnet.^)  Das  Motiv  des  troischen 
Liedes,  das  die  Erkennung  herbeiführt,  wird  in  der  Absicht, 
für  eine  Aristeia  des  Odysseus  Raum  zu  gewinnen  gespalten. 
Jene  erweiterte  ein  zweiter  Sänger  mit  dem  epischen  Gesänge 
von  Ares  und  Aphrodite,  der  sich  natürlich  nicht  zu  einem 
Tanzhede  eignet  und  die  Götter  mit  frivolem  Spotte  behandelt. 
Mit  V.  533  gelangen  wir  wieder  auf  alten  Boden,  nur  dass 
Interpolatoren  die  Rede  des  Königs  kläglich  entstellt  und  mit 
einer  Fülle  von  Sentenzen  einer  Predigt  angenähert  haben. 
Dem  entsprechend  verbrämten  sie  die  Antwort  des  Odysseus 
mit  ähnlichen  Gnomen. 

Von    der    neunten  Rhapsodie    zweifelt   ausser   Adam    und 
Niese  kein  Mensch,   dass   hier    alte  Poesie  vorliegt.     Sie  ist  so 

1)  Y)  80  f. 

2)  Wahrscheinlich  standen  f)  54  f.,  die  jetzt  zur  folgenden  Genealogie 
nicht  mehr  passen  und  vom  Verfasser  der  Eöen  auch  nicht  in  dieser  Ver- 
bindung gelesen  wurden  (anders  Kirchhoff  S.  320  ff.),  in  der  Kede  Nausikaas ; 
Athene  konnte  mit  ihnen  deren  Mitteilungen  nützlich  ergänzen. 

3)  Philol.   6,  669  fl'. 

4)  Literatur  s.  Wiederholungen  in  der  Od.  S.  97  A.  75. 

5)  Wiederholungen  S.  126  f.  Der  Interpolator  entnahm  einige  Verse 
(mindestens  *  389—93.  398—9.  417—9)  aus  v  (Köchly  opusc.  I  187  ff. 
Harte]  Ztsch.  f.  öst.  Gymn.  1865  S.  339  ff.;  Düntzer  Kirchhoft',  Köchly 
und  die  Od.  S.  107  ff'.,  Kammer  S.  121  ff.,  auch  Bergk  I  659.  680).  Einen 
terminus  ante  quem  bietet  wieder  der  amykläische  Thron,  der  den  Tanz  der 
Phäaken  zeigte. 


IIA  3.  Kapitel. 

wunderbar  gut  erhalten,  dass  wir  glauben  möchten,  die 
Riiapsoden  hätten  fast  eine  heilige  Scheu  vor  dem  Werke 
empfunden.  Um  so  schwerere  Probleme  knüpfen  sich  an  die  drei 
Gesänge,  die  den  Rest  des  Nostos  enthalten.  Da  Kirchhofts 
Gründe  nicht  genügen,  müsste  sich  ein  Verteidiger  des  jüngeren 
Nostos  nach  anderen  Beweismitteln  umsehen.  Was  die  un- 
passenden Wiederholungen  von  Versen  anlangt,  so  habe  ich 
einige  Fälle  zusammengestellt^)  und  daraus  geschlossen,  dass 
der  jüngere  Nostos  zwar  etwas  später,  aber  nicht  notwendig 
von  einem  anderen  Dichter  verfasst  sei.  Nach  nochmaliger 
Prüfung  der  Sachlage  kann  ich  mich  nicht  einmal  dazu  ver- 
stehen, sondern  glaube,  dass  kein  einziges  vollwichtiges  Moment 
vorliegt,  um  i  von  x  und  {jl  zu  trennen.  ^)  Im  Gegenteil  scheint 
es  als  ob  der  Dichter  den  Nostos  höchst  symmetrisch  angelegt 
habe.  Nicht  nur  ziehen  Bilder  des  Kampfes  und  des  Friedens 
in  anmutiger  Verschränkung  an  dem  Hörer  vorüber,  sondern 
es  lässt  auch  der  Wechsel  von  kürzeren  und  umfänglicheren 
Scenen^)  eine  gewisse  Absicht  nicht  verkennen. 

Mit  nicht  besserem  Rechte  erklärt  man  die  Nekyia  für 
ein  Produkt  der  jüngeren  Zeit.  ^)  In  ^  müssten  wir  starke  Ueber- 
arbeitungeu  annehmen,  um  die  darauf  bezüglichen  Stellen  zu 
tilgen^);  auch  die  einleitenden  Verse  am  Ende  von  x  erwecken, 
wenn  wir  V.  529 — 30  und  532  streichen,  kein  Bedenken.  Freilich 
ist  jetzt  die  Einfügung  der  Nekyia  schwach  motiviert,  indes 
wohl  aus  dem  Grunde,  weil  die  ursprüngliche  Sage  verblasste, 
oder  kommt  nicht  das  gleiche  auch  in  unseren  Nibelungen 
vor?  Dort  klären  uns  die  Eddaheder  über  dunkle  Punkte  auf, 
hier  aber  fehlt  ein  derartiges  Korrektiv.  Reinigen  wir  also  die 
Nekyia  von  den  zahlreichen  jüngeren  Zusätzen,  so  liegt  kein 
Grund   vor,   warum   sie  dem   alten  Epos  fremd  gewesen  sein 

1)  Wiederholnugen  S.  104  ff. 

2)  lu  dem  formelhaften  Verse  x  543  haben  blos  gedankenlose  Abschreil)er 
von^T,  Htatt  K'f,xY,  gesetzt;  die  Verse  ji  314—5  fügte  man,  wie  so  oft,  ge- 
dankenlos aus  '.  68—9  hinzu,  weil  jjl  313  sich  mit  t  67  deckte,  obgleich  nicht 
Stiimi,  Boudem  ein  lange  anhaltender  Wind  sich  erhebt.  Die  übrigen  Fälle 
batwu  kein  Gewicht. 

8)  Niese  S.  170  ff.  schliesst  daraus  auf  die  Verschiedenheit  des  Ursprungs. 

4)  Literatur    h.  Hentze   S.  115  ff.    und  Wiederholungen  S.  111    (schreibe 

Jackel  statt  Jäck). 

6)  Wiederholungen  S.  Hl  ff. 


Die  homerischen  Epen.  Hl 

•sollte.  ^)  Unzweifelhaft  alt  ist  nur  die  Befragung  des  Teiresias 
V.  90 — 137.  150 — 1  und  das  Wiedersehen  der  ehemaligen 
Gefährten  V.  387 — 564,  wo  die  drei  ausgezeichnetsten  Achäer 
auftreten  und  so  gleichsam  eine  engere  Verbindung  der  Odyssee 
mit  dem  troischen  Sagenkreise  herstellen.  ^)  Letzteres  Stück  ge- 
hört zu  den  vorzüglichsten  Partien  der  Ilias.  Die  Helden  sind 
dieselben  wie  in  der  Ilias  und  doch  auch  wieder  nicht,  weil 
über  allem  der  düstere  Schatten  des  Todes  liegt.  Die  Scenen 
mit  Elpenor^)  und  der  Mutter  des  Odysseus  sind  vielleicht 
ebenfalls  alt.  An  letztere  Episode  schloss  ein  mittelgriechischer 
Sänger  einen  längeren  Heroinenkatalog  (V.  225 — 327),  in  welchem 
Tyro  die  glänzendste  Kolle  spielt.  Die  Zahl  der  Heroen  er- 
weiterte ein  anderer  Spätling  durch  ein  ähnliches  Verzeichnis 
V.  565 — 627  ^),  indem  er  Odysseus  von  der  Schwelle  des  Toden- 
reiches  plötzlich  mitten  in  dieses  hinein  versetzte;  überdies 
weist  diesmal  die  Sprache  unverkennbar  auf  ein  spätes  Jahr- 
hundert. Endlich  bemitleidete  ein  Rhapsode,  der  wohl  an  sich 
selbst  die  Mühsal  eines  langen  Vortrages  verspürte,  den  ge- 
plagten Odysseus,  weil  er  seinen  ganzen  Nostos  in  einem  Athem 
erzählte,  und  schob,  ihm  eine  Ruhepause  gönnend,  V.  328 — 84 
ein  ^),  obgleich  nun  Odysseus  seine  Zuhörer  ohne  weiteres  in 
der  Unterwelt  stehen  lässt.  Erst  eine  Frage  des  Alkinoos  bringt 
die  Erzählung  wieder  in  das  Geleise. 

Der  Anfang  von  v  berichtet,  was  Odysseus  nach  der  Er- 
zählung seiner  Abenteuer  bei  den  Phäaken  erlebte.  Aber  wenn 
auch  Odysseus  ohne  Hindernis  sein  Vaterland  erreicht,  so  ist 
dies  für  den  Kritiker  nicht  der  Fall;  denn  in  V.  125 — 87  drängt 
sich  eine  Episode  ein,  die  an  eine  Lokalität  von  Kerkyra  an- 
knüpfte ^) ;  einen  Stein  von  der  Gestalt  eines  Schiffes  verbanden 
nämlich  die  Kerkvi'äer,  seit  ihre  Insel  als  das  Land  der  Phäaken 


1)  Kein  Widerspruch  liegt  in  v  42  f.  (Niese  S.  168);  die  gegenüber  der 
Ilias  mehr  entwickelten  Ansichten  von  der  Unterwelt  beweisen  auch  nichts 
dagegen. 

2)  Der  Dichter  der  Teleniachie  verfolgt  denselben  Zweck. 

3)  Jünger  nach  Lauer,  Kirchhoff  und  Düntzer  Philol.  18,  716. 

4)  Seit  Nitzsch  fast  allgemein  verworfen. 

5)  Lauer  quaestt.  Hom.  I  p.  9  adn.  15;  H e n n i n g s  Telemachie  S.  145; 
La  Roche  Ztsch.  f.  öst.  Gymn.  1863  S.  193  u.  A.  Kirchhoff  S.  225  f.  ist 
jetzt  eben  so  mitleidig. 

6)  Wiedei holungen  S.  127. 


iio  3.  Kapitel. 

galt,  mit  der  Odysseussage  und  erfanden  dazu  eine  nicht  eben 
plausible  Geschichte.  Jedenfalls  geschah  dies  nicht  früh;  wenn 
im  späten  Anhange  der  hesiodischen  Theogonie  Kirke  den 
J.,atinos  gebiert,  so  ist  dies  die  früheste  Spur  des  Bestrebens, 
homerische  Fabelländer  zu  lokalisieren. 

Wie  Odysseus'  Leiden  mit  seiner  Heimkehr  noch  nicht 
zu  Ende  waren,  häufen  sich  für  den  Forscher  gerade  von 
diesem  Zeitpunkte  an  die  Probleme  in  besonderem  Masse.  Es 
fragt  sich  zunächst,  ob  der  zweite  Teil  zugleich  mit  dem  ersten 
oder  später  gedichtet  wurde  und,  wenn  letzteres  der  Fall  ist, 
ob  von  demselben  Verfasser  oder  von  einem  anderen  Sänger.  ^) 
Manche  Gelehrte  wollten  eine  Verschiedenheit  der  Darstellungs- 
weise entdecken,  indem  sie  im  zweiten  Teile  knapper  und 
flüchtiger  sein  soll,  was  wenigstens  von  den  sicher  alten 
Partien  gewiss  nicht  gilt.  Die  Untersuchungen  über  Sprache 
oder  auch  Widersprüche  können  erst  dann  zu  einem  gedeihlichen 
Resultate  führen,  wenn  der  Untersuchende  altes  und  junges 
sorgfältig  scheidet ;  durchzieht  doch  die  zweite  Hälfte  der  Odyssee 
eine  Menge  von  später  eingelegten  Episoden.  Wir  wollen  zuerst 
den  wahrscheinlichen  Gang  der  ursprünglichen  Handlung 
skizzieren  und  dabei  die  weniger  bedeutenden  Arabesken  sogleich 
wegschneiden. 

Odysseus  erwacht,  erkennt  aber  vom  Nebel  geblendet  sein 
Vaterland  nicht,  bis  Athene,  die  zuerst  seine  Klugheit  auf  die 
Probe  stellt,  ihn  beruhigt  und  den  Nebel  zerstreut.^)  Nachdem 
sie  ihn  über  die  Zustände  Ithakas  aufgeklärt  und  in  einen 
Bettler  verwandelt,  geht  er  in  i  zu  Eumaios.  Der  vierzehnte 
Gesang  exponiert  nun  die  Gefühle  derer,  die  Odysseus  lieben, 
iu  ausgezeichneter  Weise  und  malt,  wie  sie  verzweifelnd  von 
einem  Hoffnungsstrahl  nichts  mehr  wissen  wollen.  Die  V.  459 — 
524''),  welche  ein  Anekdötchen  mitteilen,  können  echt  sein. 
Am  anderen  Morgen  treibt  Athene  Telemachos  an,  den  Schweine- 
hirten wieder  einmal  zu  besuchen  (Infolge  der  Einschiebung 
der  Telemachie  wurde  der  Besuch  anders,  aber  nicht  sehr 
glücklich  motiviert).  Im  folgenden  stört  nur  eine  Anspielung 
auf  die  Telemachie  {z  16  ff.) ;  weiter  bemühte  sich  der  Interpolator  ] 

1)  Wiederholnngen  8.  128  ff. 

2)  V.  311—51  stiecken  blos  die  Reden  (Meister  Philol.  8,  9). 
«)  Wiederholungen  .S.   130  f. 


Die  homerischen  Epen.  1X3 

nicht ,  nur  dass  er  während  der  Erkennungsscene  Eumaios  als 
Boten  nach  der  Stadt  schickte.  Wahrscheinlich  ging  er  im 
alten  Epos  einfach  fort,  um  die  Schweine  zu  hüten  oder  um 
den  Freiern  ein  Tier  zu  bringen.  Die  Erkennung  und  Beratung 
verlaufen  bis  auf  einige  Interpolationen  ungestört.  ^)  Am  nächsten 
Morgen  kehrt  Telemach  in  die  Stadt  zurück ;  etwas  später  macht 
sich  Üdysseus  mit  Eumaios  auf  den  Weg  und  wird  von  Melan- 
thios  beschimpft.  Auch  die  Freier  empfangen  ihn  unfreundlich, 
ja  der  reizbare  Antinoos  misshandelt  ihn  sogar.  Als  Penelope 
den  Bettler  zu  einem  Zwiegespräche  rufen  lässt,  vertröstet  er 
sie  auf  den  Abend.  Nachdem  erst  Eumaios  und  dann  auch 
die  Freier  sich  entfernt  haben,  steigt  Penelope  in  den  Männer- 
saal herab.  Es  folgt  nun  die  herrliche  Unterredung  zwischen 
der  Königin  und  dem  unerkannten  Gatten,  welche  mit  V.  316 
schliesst.  Nicht  blos  die  treuen  Diener,  selbst  die  Gattin,  die 
so  lange  gehofft,  verzweifelt  jetzt  vöüig  an  der  Rückkehr  des 
Odysseus;  dies  bereitet  den  Hörer  schon  auf  den  Preiskampf 
vor.  Wahrscheinlich  begab  sich  nach  V.  316  Penelope  sogleich 
wieder  in  ihre  Gemächer  (V.  594  ff.).  Ein  späterer  schob  die 
Eurykleiascene  ein,  obgleich  diese  treue  Pflegerin  sonst  im 
Hintergrunde  steht,  bewerkstelligte  dies  aber  nur  durch  eine 
Reihe  von  Unwahrscheinlichkeiten,  die  keine  rechte  Freude  an 
der  für  sich  betrachtet  schönen  Erzählung  aufkommen  lassen.  ^) 
In  die  Mitte  dieser  Episode  drängte  sich  vielleicht  eine  Re- 
miniscenz  an  eine  Eberjagd  des  jungen  Odysseus  (t  395 — 466), 
die  seit  B.  Thiersch^)  Allen  für  unecht  gilt.  Nachdem  die 
Eurykleiascene  bereits  eingeschoben  war,  wollte  ein  Anderer  das 
Preisspiel  und  den  Freiermord  eindringlicher  vorbereiten,  indem 
er  sowohl  einen  bedeutungsvollen  Traum  der  Penelope,  welcher 
merkwürdiger  Weise  ihre  Hoffnungen  nicht  belebt,  obgleich 
sich  ihr  Herz  an  jeden  Hoffnungsschimmer  klammern  sollte, 
als  auch  den  Plan  des  Wettkampfes,  welchen  nach  ^  1  ff .  erst 
Athene  der  Fürstin  eingal),  hinzufügte.  Hier  befremdet  schon 
der  anknüpfende  Vers  509 ,  dann  ist  der  Gedankengang  so 
störend,    dass   man   sieht,    der  Nachdichter  habe  jene    beiden 


1)  Namentlich  tc  281—98  (Wiederholungen  S.  138);    nach  V.  321  kamen 
V.  452—9  und  478—81. 

2)  Payne-Knight  und  Kammer  Einheit  der  Odyssee  S.  647  ff. 

3)  Urgestalt  der  Odyssee  S.  19;   nur  Bergk  I  711    sträubt    sich  dagegen. 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  8 


j]^4  3'  Kapitel. 

Motive  um  jeden  Preis  hereinbringen  wollen,  mochte  sich  auch 
ein  ziemlich  ungereimter  Dialog  daraus  ergeben;  besonders 
eigentümlich  bricht  Penelope  das  Gespräch  ab.  ^)  Aus  dem 
zwanzigsten  Gesänge  ist  der  alte  Kern  nur  vermutungsweise 
herauszuschälen.  Die  Katastrophe  soll  durch  möglichst  viele 
V^orbedeutungen  dem  Hörer  nahegerückt  werden  und  die  Freier 
müssen  in  der  Schnelligkeit  noch  einige  Frevel  begeben  oder 
begehen  wollen.  Vielleicht  bilden  nur  die  gewöhnlichen  Berichte 
von  Sonnenaufgang,  dem  Aufstehen,  dem  Herrichten  des  Saales 
und  der  Ankunft  der  Hirten  den  echten  Bestand.  Der  Wett- 
kampf und  der  Freiermord  scheinen  dagegen  fast  ganz  in  der 
ursprünglichen  Weise  erzählt:  In  jenem  ist  vielleicht  der  Ab- 
schnitt, welcher  die  Geschichte  des  Bogens  gibt,  später^),  doch 
urteilt  hier  der  Kunstgeschmack  unserer  Zeit  wahrscheinlich  zu 
strenge.  Bei  der  Kampfschilderung  selbst  aber  kann  ich  wie 
Kammer  (S.  614  ff.)  das  Gefühl  nicht  unterdrücken ,  dass  ein 
anderer  Sänger  Melanthios'  Thätigkeit,  wahrscheinlich  weil  ihm 
das  Hinschlachten  der  wehrlosen  Freier  widerstrebte,  erst  er- 
dichtet habe ,  obgleich  auch  jetzt  die  Wafifenzufuhr  blos  eine 
nominelle  ist.  Ueberdies  leidet  der  ganze  Abschnitt  von  V.  126 
bis  260  an  so  vielen  Unklarheiten  und  Unwahrscheinhchkeiten, 
dass  ich  nicht  umhin  kann ,  ihn  und  damit  auch  V.  272 — 80 
auszuscheiden.  Den  Schluss  entstellt  die  barbarische  Hin- 
schlachtung der  untreuen  Mägde  und  des  Melanthios^),  die 
mit  den  edlen  Worten  des  Odysseus  V.  412  in  grellem  Wider- 
spruch steht,  lieber  die  Störung  in  ^  habe  ich  bereits  oben 
gesprochen.  Schon  Aristophanes  und  Aristarch  schlössen  mit 
V.  296  die  alte  Odyssee.'') 

In  diesen  Rahmen  fügten  die  Epigonen  viele  Episoden  ein, 
welche  zumeist  von  gewissen  allgemeineren  Gesichtspunkten 
abhiugen.  Die  Telemachie  bildete  ursprünglich  eine  Art  von 
Vorspiel  der  Odyssee ;  denn  nur  mit  der  vorhergehenden  Götter- 
versammlung war  sie  untrennbar  verbunden.  Die  übrigen 
verbindenden  Partien^)   sind  blos  Füllstücke  und  vielleicht  das 

1)  Bergk  I  712.  Niese  S.  163. 

2)  KirchhoflS.  528,  vgl.  Jacob  Entatehung  der  Ilias  und  Odyssee  S.  600. 
8)  /  417—32.  467—79  n.  A. 

4)  Mon  kann  darauf  auch  den  Ausdruck  des  Theoguis  (V.  1128)  beziehen: 

6)  t  1  ff.  0  1  ft.  it  342  ff,  p  31  —  166;  vgl.  Wiederholungen  S.  102  ff. 


Die  homerischen  Epen.  115 

Werk  eines  einzigen,  welcher  die  Telemachie  in  die  Odyssee 
eingliederte;  er  benützte  dabei  sehr  viele  ältere  Verse  und 
darunter  auch  manche  der  Telemachie.  Es  ist  nicht  unmöglich, 
dass  schon  dieser  Redaktor,  das  Kind  einer  orakelsüchtigen 
Zeit,  dem  Telemachos  auf  der  Heimreise  den  Propheten  Theo- 
klymenos  mitgab.  In  den  Stücken,  worin  dieser  auftritt,  finden 
wir  ebenfalls  einen  argen  Mangel  an  Routine.  Die  Telemachie 
veranlasste  endlich  die  Einschiebung  von  o  301 — 495.  ^)  Weil 
nämlich  Telemachos  von  Sparta  noch  nicht  zurückgekehrt  war, 
musste  Odysseus  noch  länger  bei  Eumaios  verweilen.  Ein 
Dichter  benützte  dieses,  um  über  die  Eltern  des  Odysseus  und 
Eumaios'  Herkunft  näheres  mitzuteilen. 

Andere  Zusätze  des  zweiten  Teiles  beziehen  sich  auf  das 
Bettlerleben  des  Odysseus.  Wie  Antinoos,  von  seiner  Heftigkeit 
hingerissen  und  Ktesipeos  unmittelbar  vor  der  Katastrophe^) 
den  Fremden  werfen,  thut  es  später  auch  Eurymachos ^) ,  ob- 
^  gleich  dieser  Zug  mit  der  sonstigen  Schilderung  seines  Charakters 
in  Widerspruch  steht.  Mit  der  Bettlerrolle  nimmt  Odysseus 
weiters  sogar  das  Laster  der  Gefrässigkeit  an.  ^)  Der  Ruhm 
der  verwegensten  Phantasie  gebührt  aber  dem,  der  Odysseus 
selbst  um  das  Recht  des  Betteins  in  seinem  eigenen  Palaste 
kämpfen  Hess  (a  1  ff.) ;  die  Auffassung  der  Scene  erinnert  etwas 
an  das  Satyrspiel. 

Ebenso  gern  beschäftigen  sich  die  unermüdlichen  Rhapsoden 
mit  Odysseus'  treuer  Gemahlin.  Im  alten  Epos  stieg  Penelope 
nur  da  zu  den  Freiern  herab,  als  sie  den  Wettkampf  ankündigte. 
Aber  wie  der  Dichter  der  Telemachie  a  328  ff.,  nötigten  sie 
andere  t:  409  ff.  und  a  158  ff.  sich  den  verhassten  Gesellen 
zu  zeigen.^)  Während  sich  erstere  Episode  an  die  Telemachie 
anlehnt  und  man  sagen  könnte,  die  mütterliche  Angst  habe  die 
Königin  hinabgetrieben,  würdigt  sie  sich  a  158  ff.  so  weit 
herunter,  dass  sie  den  Freiern  durch  List  Geschenke  abnimmt. 
Dies  kann  nur  einer  der  mit  Not  ringenden  Bänkelsänger,  wie 
sie  Hesiod  schildert,  gedichtet  haben. 


1)  Wiederhohingen  S.  131  A.  134. 

2)  ü  284  ff.  vgl.  X  285  ff. 

3)  0  346  ff. 

4)  Athen.  10,  412  bc. 

5)  Bergk  I  697.  "Wiederholungen  S.  150. 

8* 


]^j(3  3.  Kapitel, 

Sonst  liebten  es  die  Rhapsoden,  die  Vorbereitungen  zum 
Freiermorde  sowie  seine  Folgen  zu  erweitern.  Wir  haben 
schon  oben  erwähnt,  dass  der  Schluss  von  t  nicht  alt  sei; 
ebenso  besteht  der  zwanzigste  Gesang  fast  ganz  aus  jüngeren 
Stücken.  Ein  wichtiges  und  neues  Moment  fügen  aber  blos 
die  t  einleitenden  Verse  hinzu;  während  nämlich  der  Dichter 
der  alten  Odyssee  offenbar  voraussetzte,  dass  an  den  Wänden 
des  Megaron  keine  Waffen  hingen,  scheint  diese  {Sitte  im  Laufe 
der  Zeit  abgekommen  zu  sein,  da  die  Telemachie  bereits  einen 
Speerbehälter  im  Saale  erwähnt.  Die  in  dieser  Anschauung 
aufgewachsenen  Leute  fragten  sich,  warum  die  Freier  nicht  zu 
diesen  Wafien  griffen ,  und  setzten  als  notwendig  voraus ,  dass 
Odysseus  sie  klug  auf  die  Seite  geschafft  habe.  Der  Verfasser 
dieses  Auskunftsmittels  fällt  in  ein  spätes  Jahrhundert,  weil  er 
bereits  Oellampen  kennt.  Ein  noch  Späterer  wunderte  sich, 
dass  der  kluge  Odysseus  nicht  schon  bei  der  ersten  Beratung 
dieses  wichtige  Moment  ins  Auge  gefasst  habe  und  schob 
TT  286  ff.  ein.  ^)  Die  auf  den  Freiermord  folgenden  Ereignisse 
fanden  ebenfalls  nicht  so  bald  eineii  Bearbeiter.  Da  die  Eltern 
des  Odysseus  im  alten  Epos  nicht  mehr  als  lebend  galten,  die 
Telemachie  aber  Laertes  noch  erwähnte,  erkannte  man  auch 
das  Wiedersehen  zwischen  Odysseus  und  seinem  Vater  als  not- 
wendige Zugabe,  womit  sich  der  Gedanke  verband,  ob  nicht 
die  Verwandten  der  Freier  ihren  Tod  zu  rächen  versucht 
hätten.  Vielleicht  beabsichtigte  der  Verfasser  des  Schlusses 
zugleich,  durch  sein  Werk  eine  Symmetrie  der  beiden  Teile 
herzustellen.  Er  gehört  zu  den  spätesten  Homeriden  ^) ;  die 
epischen  Formeln  sind  längst  abgenützt  und  er  versucht  ver- 
geblich, ihnen  durch  Variation  einen  angenehmeren  Klang  zu 
verleihen.  Die  Erkennungsscene  erfreut  sich  eines  unver- 
dienten Rufes,  der  noch  aus  der  rührseligen  Zeit  des  Ossian- 
kultus  zu  stammen  scheint.  Während  der  Dichter  hier  eher 
Gescliwätzigkeit  zeigt,  ist  ihm  sonst  die  epische  Breite  so  fremd ; 


1)  Wiederholungen  S.  138  ff. 

2)  Dass  nach  (u  80  die  Ringer  sich  noch  gürten,  ist  ein  Indicium  von 
sehr  zweifelhaftem  Werte,  da  wir  blos  wissen,  dass  iu  Olympia  seit  Ol.  16 
die  Lftnfer  keinerlei  Gewand  trugen.  Die  asiatischen  Jonier  blieben  wahr- 
scheinlich im  Gegenteil  der  alten  Sitte,  weil  ihre  barbarischen  Nachbarn  zähe 
daran  festhielten,  treu. 


i 


Die  homerischen  Epen.  117 

■dass   unter  anderem    die  Reden  manchmal  zu   einem    Verse  ^) 
zusammenschrumpfen. 

Durch  diese  Nachdichtungen  erreichte  die  Odj^ssee  zuletzt 
mindestens  den  doppelten  Umfang  ihres  ursprünglichen  Bestandes  ; 
sie  dürfte  nämlich  anfangs  gegen  sechstausend  Verse  enthalten 
haben.  Die  Komposition  erlitt  durch  jene  nur  geringen  Schaden, 
wenn  auch  der  zweite  Teil  infolge  der  zahlreichen  Episoden 
und  Episödchen  den  Eindruck  des  Zerfahrenen  macht.  An 
dem  Breittreten  der  Motive  trägt  der  alte  Dichter  selbst  einige 
Schuld ;  denn  er  liebt  es,  wie  wir  gesehen  haben,  in  verschieden- 
artiger Behandlung  ähnhcher  Dinge  seinen  Witz  glänzen  zu 
lassen.  Ein  solches  Aufgebot  von  Witz  und  Raffinement  reizt 
Epigonen  immer  zur  Nachahmung  oder  besser  gesagt  zur  nach- 
ahmenden Uebertreibung.  Vermutlich  erstieg  die  Telegonie, 
ein  Werk  der  allerspätesten  Zeit,  das  die  Odyssee  fortsetzte, 
den  Gipfelpunkt  in  raffinierter  Phantasie;  wenigstens  deutet 
schon  die  trockene  Inhaltsangabe  Gebilde  einer  abenteuerlichen 
Phantasie  au. 

In  der  homerischen  Frage  wird  es  nie  gelingen,  eine  all- 
gemein oder  auch  nur  die  meisten  befriedigende  Lösung  zu 
finden,  eben  weil  der  Geschmack,  der  qualitativ  und  quanti- 
tativ sehr  verschieden  verteilt  ist,  zu  viel  mitspricht.  Aber  eine 
Wendung  zum  besseren  wird  kommen,  wenn  jeder  den  Gegner 
zu  verstehen  und  zu  schätzen  sich  bemüht  und  richtige  Gesichts- 
punkte, die  ja  bei  keinem  fehlen,  von  ihm  annimmt. 

Die  Umgestaltung  der  homerischen  Epen  beruht  zugleich 
mit  der  Fortpflanzung  auf  den  Sängern  oder  Rhapsoden.^) 
Weil  das  Volk  nicht  müde  wurde,  die  schönsten  Erzeugnisse 
des  Epos  immer  wieder  zu  hören,  trugen  die  Sänger  neben 
ihren  eigenen  Gedichten  auch  Ilias  und  Odyssee  unermüdlich 
vor.  Es  gab  sogar  auf  Chios  ein  durch  gemeinsame  Opfer 
verbundenes  Geschlecht,  das  Homer  als  seinen  Heros   verehrte 


1)  V.  407.  491.  495,  Verspaare  328  f.  373  f.  511  f.  514  f.  531  f. 

2)  Nitzsch  de  hist.  Hom.  melet.  I  139  ff.  IL  fasc.  3;  J.  Kreuser 
hom.  Ehapsoden,  Köln  1833;  Welcker  ep.  Cyklus  1,  338—406  und  kleine 
Schriften  2,  87  ff.;  Hoff  manu  Homer  und  die  Homeridensage  S.  63  ff.; 
H.  Düntzer  hom.  Fragen  S.  157  ff. 


118  3.  Kapitel. 

und  sich  Homeride u  nannte^);  es  betrachtete  gewiss  als 
seine  edelste  Aufgabe,  die  jenem  zugeschriebenen  Gedichte  fort- 
zupflanzen, ohne  dass  ihnen  ein  gleichsam  religiöses  Ansehen, 
welches  ihre  buchstabengetreue  Erhaltung  gefordert  hätte, 
zukam.  Ein  Monopol  besessen  aber  auch  die  Homeriden  niclit; 
denn  die  Sänger  hafteten  von  Nahrungssorgen  bedrängt,  nicht 
an  der  heimischen  Scholle,  sondern  müssten  von  Stadt  zu  Stadt 
umherwandernd  ^)  ihr  Brod  suchen.  So  begreifen  wir  die  rasche 
ungeheuere  Verbreitung  der  homerischen  Gedichte  in  der 
ältesten  Zeit.  ^)  Nach  Mittelgriechenland  kamen  sie  wahr- 
scheinHch  über  Chalkis  oder  durch  Vermittlung  der  im  Asopos- 
thale  angesiedelten  Jonier.  Den  Peloponnes  errang  für  Homer, 
wenn  wir  der  Tradition^)  glauben  dürfen,  das  Sängergeschlecht 
der  Kreophylier,  das  Samos  bewohnte.  Wahrscheinlicher 
ist  jedoch,  dass  Kreta  wie  die  kleinasiatische  Plastik,  so  auch 
das  Epos  dem  Peloponnes  vermittelte.  Kreophylos  dachte  man 
noch  als  selbstthätig,  da  manche  die  „Einnahme  von  Oichalia" 
und  die  kleine  Ilias  ihm  beilegten.^) 

Anders  steht  die  Sache  schon  bei  Kynaithos  von  Chios, 
der  die  homerischen  Gesänge  angeblich  als  der  erste  den  west- 
lichen Kolonien  vorführte  und  in  der  69.  (?)  Olympiade  zu 
Syrakus  rhapsodierte  ^ ;  daher  schreibt  ihm  keiner,  da  der  erste 


1)  Harpokration  '0|XY)pi8ai  ylvoc  ev  Xiu)  OKtp  'AxouotXaoc  ev  y»  'EXXa- 
vtxog  6v  z-fi  'AtXavTtaSi,  ai^b  xoö  tcoiyjtoö  cpvjotv  u)vo|j.äafl'at.  SsXeoxoc  8^  ev  ß' 
Ttepl  ßitov  ÄjjLapxavsiv  (pTjol  KpitYita  vo}j.iCovt«  ev  xatc  leportotiatc  '0}X7]pi5ac 
ijtofovooi;  elvai  toö  noiYjtoö  u.  8.  w.,  vgl.  Strabo  14,  64.5,  Böckh  opusc.  4, 
892  ff.  Nitzsch  bist.  Hom.  11  69—78.  Noch  der  alexaudrinische  Dichter 
Parthenios  scheint  nach  Suidas  dem  Geschlechte  angehört  zn  haben.  Homeriden 
heissen  seit  Find.  Nem.  2,  1  alle  Rhapsoden  (vgl.  Luc.  Dem.  enc.  17),  später 
auch  die  Freunde  Homers  (Julian,  p.  66,  17  H). 

2)  Od.  p  385. 

8)  Auch  zu  den  Barbaren  kamen  sie  früh.  Denn  am  Hofe  des  Gyge& 
lebte  der  smymäische  Khapsode  Magnes  (Nicol.  Dam.  fr.  60  bei  Suid.). 

4)  8.  69. 

6)  Welcker  ep.  Cyklus  1,  219  ff.  Joh.  Schmidt  diss.  philol.  Hai.  H 
188  ff.  Ans  Chios  ist  er  nach  Schol.  in  Plat.  rep.  p.  600  b  und  Suidas 
(Xlo<;  ^  XdjAioc),  aus  los  nach  Proklos,  dem  Certamen  und  Tzetzes  schol.  exeg. 
in  D.  p.  164.  Ein  Lehrer  des  Pythagoras  Hermodamas  war  ein  Kreophylier 
(Diog.  L.  8,  1,  2,  2). 

6)  Hippofltr.  bei  Schol.  Pind.  Nem.  2,  1;  die  Aenderang  Welckers  Ol.  !» 
ist  liistoriach  unmöglich,  Düntzer  (die  hom.  Fragen)  schreibt  Ol.  29. 


Die  homerischen  Epen.  119 

homerische  Hymnus  nicht  in  Anschlag  kommt ,  ein  einziges 
episches  Gedicht  zu.  ^)  Wenn  man  also  jene  frei  schaffenden 
Sänger  am  besten  Aöden  (aotSoi)  nennt,  gebührt  ihm  bereits  der 
Name  eines  Rhapsoden.  ^)  Die  älteste  Umschreibung  dieses  Titels 
gibt  Pindar  in  den  bekannten  Worten  f^aTTTwv  stcscöv  aoiSoi  und 
zwar  ganz  richtig^);  pajiTetv  aoiSifjv  heisst  blos  „Verse  aneinander- 
knüpfen"  und  entspricht  unserem  ,, singen",  das  ja  ebenfalls 
mit  siuwan  (engl,  sew)  „nähen"  zusammenhängt.^)  Der  Rhap- 
sode geniesst  bei  weitem  nicht  die  hohe  Achtung,  deren  sich 
der  Aöde  erfreute;  denn  wenn  er  auch  hie  und  da  eine  Er- 
weiterung älterer  Lieder  wagt,  ist  ihm  doch  die  Gabe  selbständigen 
Dichtens  verschlossen.  Er  betreibt  also  sein  Geschäft  als  eine 
Art  Handwerk,  das  ihn  nährt.  Mochte  sich  der  Rhapsode 
auch  redlich  um  das  Verständnis  der  dunkeln  Wörter  und  des 
Sinnes  bemühen^),  er  verlor  doch  bald  die  Fühlung  mit  den 
so  hoch  gehaltenen  philosophischen  Studien  und  gab  dem 
Philosophen  ein  gewisses  Recht,  auf  ihn  als  einen  Mann,  der 
nicht  verstünde,  was  er  vortrage,  hochmütig  herabzusehen"); 
dennoch  gesteht  auch  Plato  die  grossartige  Wirkung  des  rhap- 
sodischen Vortrages  ein. ')  Wann  ist  nun  dieser  Wandel  vor 
sich  gegangen  ?  Die  erste  Andeutung  finden  wir  in  einem  der 
die  hesiodischeu  Erga  einleitenden  Sprüche,  nach  dem  (V.  26) 
die  Sänger  bereits  zum  Proletariat  gehören  und  in  einem  Atem 
mit  Bettlern,  Töpfern  und  Zimmerleuteu  genannt  werden.  Die 
Produktionskraft  nahm  eben  ab  und  zugleich  vermehrten  sich 
die  Gelegenheiten  zum  Vortrag  sehr  bedeutend.  Hatte  die 
homerische  Zeit  noch  keine  Agone  oder  Wettkämpfe  von 
Sängern  gekannt,  so  kam  wenigstens  einige  Jahrhunderte  später 
die  Sitte   auf,    namentlich   den    Götterfesten   durch   Wettspiele 


1)  Welcker   ep.  Cyklus    1,  242  f.   identificiert  ihn    falschlich    mit   dem 
genealogischen  Dichter  Kinaithou. 

2)  Seit  Pindar  gaben  ihnen  Wohlwollende  den  Ehrentitel  Homeriden. 

3)  Die  Erklärung  „Stabsänger"  spricht  den  Bildungsgesetzen  Hohn. 

4)  Nach  Brugman   Curtius'    Stud.   9,    256    gehört   auch    ujxvoi:    zu    siu ; 
Cnrtius  deutet  es  als  ü'f-|jLvo?  „Gewebe". 

5)  Die  Scholien  führen  zu  $  26  eine  Bemerkung  des  Rhapsoden  Hermo- 
doros  an. 

6)  Ygl.  ausser  Piatons  Jon  Xen.  mem.  4,  2,  10,  Max.  Tyr.  7  p.  79. 

7)  Jon  c.  6  p.  535. 


120  3.  Kapitel. 

von  Sängern  einen  besonderen  Glanz  zu  verleihen  ;  am  frühesten 
dürften  diese  geistigen  Kämpfe  bei  den  Apollofesten  aufge- 
kommen sein,  war  doch  Apollo  der  Gott  der  Kitharaspieler  und 
der  treue  Begleiter  der  Musen.  So  kündet  denn  auch  unsere 
älteste  literarische  Urkunde,  der  Hymnus  an  den  delisehen  Apollo, 
von  einem  Agon,  der  auf  Delos  vor  dem  ganzen  jonischen 
Stamme  stattfand.  Mindestens  ebenso  alt  war  der  Agon  in 
Delphi ,  bei  dem  freilich  die  lyrische  Poesie  überwog.  ^)  Aber 
rasch  folgten  die  anderen  Kulte  nach:  Panathenäen ^),  Diony- 
sien^),  Brauronien  *),  die  Asklepieia  von  Epidauros^),  die  Zeus- 
feste in  Dodona^)  und  viele  Andere')  konnten  diesen  Schmuck 
bald  nicht  mehr  entbehren.  Auch  die  ländlichen  Feste,  die 
heute  noch  durch  Gesangesvorträge  verschönert  werden^),  standen 
nicht  zurück.  Eine  solche  enge  Verbindung  von  Religion  und 
Poesie  führte  dahin,  dass  der  Rhapsode  seinen  Gesang  unter 
den  Schutz  der  Gottheit  stellte,  indem  er  seinen  Vortrag  mit 
dem  Preise  eines  Gottes  begann.  ^)  Denkmäler  dieses  frommen 
Brauches  hegen  in  den  unten  zu  besprechenden  „homerischen" 
Hymnen  vor.  Nach  dem  peloponnesischen  Kriege  scheinen  die 
rhapsodischen  Festvorträge  etwas  in  Verfall  geraten  zu  sein  ^°), 
bis  Alexander  der  Grosse  ^^)  und  Demetrios  von  Phaleron,  der 
ihnen    die  Theater    eröffnete  ^^),    sich   eifrig    um   ihre  Hebung 

1)  Strabo  9,  421. 

2)  Plato  Hipparch.  p.  228b.  Lykurg  in  Leoer.  102.  Isoer.  pan.  159.  Said. 
8,  XotptXo;.  Ael.  v.  h.  8,  2. 

3)  Klearchos  bei  Athen.  7,  275  b. 

4)  Hesych.  s.  Bpaoptuvio-.!;,  vgl.  Areh,  Ztg.  1853  S.  156  f. 
6)  Plato  Jon  p.  630. 

6)  Röhl  Inscr.  Gr.  antiqu.  ^02. 

7)  Herod.  6,  67,  noch  später  in  Chios  und  Teos  (C.  I.  G.  H  2214.  3088)  und 
Orchomenos  (ib.  1683  ff.).  Vieles  stellt  aus  dem  aristotelisehen  Peplos  Schol. 
AriHtid.  III  p.  323  zusammen,  vgl.  Hermann  gottesdienstliche  Alterth.  §  29. 
In  Sikyon  verbot  Kleisthenes  den  Vortrag  der  homerischen  Epen,  weil  sie 
Argofi  zu  sehr  feierten  (Herod.  6,  67). 

8)  Fuuriels  neugrieeh.  Volkslieder  in  W.  Müllers  Bearbeitung  S.  LIII— LVI. 

9)  Vielleicht  schon  «•  499  opfj.Yjd'slc  *soö  angedeutet ;  vgl.  Pind.  Nem.  2,  1  ff. 

10)  Daher  erhielt  ^a^/ip^ecv  die  Bedeutung  „schwätzen"  Et.  M.  p.  703,  35. 

11)  Plut.  Alex.  fort.  p.  666;  vgl.  Athen.  12,  638  e. 

12)  Ath.  14,  020  b  (Eust.  zu  U  480).  Daher  nennen  Et.  M.  703,  33  f.; 
8uid.  v.  pa'}ip?oi,  Plut.  qu.  symp.  9,  1,  2.  Schol.  Plat.  p.  184  B  die  Theater  als 
Stätten  der  Kecitation. 


Die  homerischen  Epen.  121 

annahmen.  Eine  andere  nkht  zu  unterschätzende  Gelegenheit 
boten  die  Leichenspiele,  welche  in  älterer  Zeit  vornehme  Männer 
einem  teueren  Toten  zu  Ehren  veranstalteten.  ^) 

Homer  bildete,  wie  natürlich,  den  Mittelpunkt  aller  dieser 
Vorträge.^)  Manchmal  deklamierten  die  Rhapsoden  vielleicht 
Reihen  von  homerischen  Sentenzen  z.  B.  über  Fürsten,  Ehe 
u.  dgl.  ^) ;  gewöhnlich  wählten  sie  indes,  wenn  ihnen  nicht  viel 
Zeit  zur  Verfügung  stand,  besonders  beliebte  Gesänge  aus  und 
gaben  ihnen,  wie  wir  oben  sahen,  einige  passende  Verse  zum 
Abschluss  bei.  Aber  auch  die  Werke  Hesiods  und  anderer 
Dichter  wurden  rhapsodiert^)  und  vielleicht  trugen  gerade  jene 
mit  ihrem  halb  prosaischen  Charakter  zur  Aenderung  der 
Vortragsart  viel  bei.  Die  Aödeu  bedienten  sich  nämlich  bei 
epischen  Liedern  der  Kithara,  um  den  Gesang  einzuleiten. 
Pausen  auszufüllen  und  schwungvolle  Stellen  in  geeigneter 
Weise  hervorzuheben.^)  Der  ruhige  unepische  Ton  derhesiodischen 
Gedichte  eignete  sicli  offenbar  nicht  dazu ;  deshalb  erzählten 
die  Griechen,  Hesiod  habe  zuerst,  wenn  er  seine  Gedichte 
recitierte,  statt  der  Kithara  einen  Lorbeerstab  in  der  Hand  ge- 
halten.^) Er  begnügte  sich  also  wie  viele  spätere  mit  dem 
blossen  c^Sstv.     Andererseits   wurde  die  musikalische  Begleitung 


1)  Hes.  E.  652  ff.  fr.  45.  Aesch.  Ag.  1548.  Alherti  zu  Hesych.  v.  sk' 
Fibpo-^öfj  ftY*"^-  ^I^ri  vergleiche  die  dramatischen  Aufführungen  hei  den 
römischen  Leichenspielen. 

2)  Rohde  Rhein.  Mus.  3(3,  419  A.  Herodot  5,  67.  Er  ernährte  zu  Hierons 
Zeit    tausende  von  Menschen    (Plut.    reg.   et  imp.  apophth.    p.  175  Hieron  4) 

3)  Schol.  Dien.  Thr.  p.   706,  30  ff. 

4)  Isoer.  panath.  18,  vgl.  Heinrich  app.  ad  lib.  de  Epimenide. 

5)  Daher  heissen  die  Säuger  xiö-aptotai  (Theogonie  95).  Wer  fortlaufende 
Diusikalische  Begleitung  annimmt  (wie  Bergk  I  432  f.)  darf  sich  nicht  auf  die 
unbestimmten  Verbindungen  (xoXtcyj  xotl  cp6pjj.tY4  («p  430),  xi^apic  xal  äoiS-rj 
(N  731.  a  159),  äo'.or^  v.al  x'.^apiaxöc  (B  600)  berufen,  sondern  er  muss  die 
Analogie  verwandter  Völker,  der  Perser  (Grote  hist.  of  Greece  IV  195  A.), 
Armenier  (Peter mann  Dialekt  der  Armenier  in  Tiflis  S.  62),  Slawen  (mit 
der  Gusla),  Kelten  (Amm.  Marc.  15,  9,  8  und  später  in  Irland)  und  Deutschen 
(W.  Grimm  deutsche  Heldensage  S.  373;  Seh  melier  Abh.  der  bayer. 
Akad.  4,  212)  heranziehen. 

H)  (Hes.)  Theog.  30.  Pind.  Isthm.  3,  55.  Schol.  Dion.  Thr.  p.  766.  Paus. 
10,  7,  2.  Homer  wird  so  dargestellt  in  Raoul-Rochettes  mon.  ined.  pl.  70,  1. 
Wenn  Chamaileon  (bei  Ath.  14,  620c,  vgl.  S  use  raihlJahrbb  109,  650  A.  1) 
erzählt,  Hesiod  sei  komponiert  worden ,  so  bezieht  sich  dies  nur  auf  epische 
Abschnitte  desselben. 


122  3.  Kapitel. 

mit  dein  Aufblühen  der  Musik  vervollkommnet :  Terpander  ^) 
setzte  die  ganzen  homerischen  Epen  in  Musik,  womit  der  Vor- 
trag überhaupt  dem  Gesänge  näher  kam.  Stesandros  von  Samos 
soll  der  erste  gewesen  sein,  der  die  llias  und  Odyssee  bei  den 
pythischen  Spiele  zur  Kithara  wirklich  sang.  ^)  Auch  in  späterer 
Zeit  wich  der  Gesang  nicht  ganz  der  Recitation :  Ion  betrieb 
diis  Kitharaspiel  mit  grossem  Eifer  ^)  und  freute  sich,  so  oft  er 
ein  homerisches  Melos  hörte.  *)  Unter  den  Kaisern  kam  das 
Singen  ausgewählter  Abschnitte  nach  längerer  Unterbrechung 
wieder  in  Schwung. '")  Gerade  damals  suchte  man  das  Rhap- 
sodieren besonders  pikant  zu  machen,  indem  teils  die  Wechsel- 
reden von  mehreren  mit  verteilten  Rollen  deklamiert  wurden  ^) 
teils  die  Rhapsoden  der  llias  in  Hoplitenrüstung  die  Bühne 
betraten  ^) ;  schon  längst  hatten  Virtuosen  ^)  das  Publikum  ver- 
wöhnt und  den  reinen  Geschmack  vernichtet. 

Ich  bemerke  zum  Schlüsse  noch,  dass  Ehrenpreise,  in  der 
Regel  Dreifüsse,  den  Ehrgeiz  der  Rhapsoden  anspornten.  *)  Die 
Böoter  zeigten  auf  dem  Hehkon  einen"  uralten  Dreifuss,  den 
Hesiod  angeblich  bei  den  Leichenspielen  des  Amphidamas 
errang.  In  Dodona  grub  jüngst  Karapanos^°)  ein  solches,  vom 
jonischen  Rhapsoden  Terpsikles  geweihtes  Geräte  aus. 

Die  Rhapsoden  sorgten  für  die  Erhaltung  der  homerischen 

1)  Plut.  mus.  3,  vgl.  Chamaileon  1.  c. 

2)  Timomachos  bei  Athen.  14,  638  a  (Ttpwxov  ev  AEX'foi?  n'.d'ap{})87ioai 
xäi  xaä-'  "()|ji7jpov  liä/a?  ap4äiJ.£v&v  aizb  zr^c:  "'OSooaetai;) ;  vgl.  Sext.  Emp.  adv. 
math.  6,  16. 

3)  Plato  p.  540  d. 

4)  Plato  p.  536  b;  in  die  attische  Zeit  gehört  auch  Hymn.  3,  433. 

6)  Porphyr,  vita  Pyth,  26.  Jambl.  vita  Pyth.  14  (tdJv  '0|j.Y]pixdJv  ox^xtuv 
jidXioxa  exstvooc  e4ü|AV2t).  Achilles  Tat.  2,  1. 

6)  Petron.  59  (Homeristae). 

7)  Achilles  Tat.  3,  20.  Eustathios  in  IL  I  p.  5,  10  berichtet,  dass  sie 
die  (Mynsee  in  raeerfarbigen  (iewändern,  die  llias  aber  in  blutroten  vortrugen. 
Auf  diesem  kostümierten  Vortrage  beruhen  die  allegorischen  Bilder  der  llias 
und  Odyssee,  welche  die  Neapler  Apotheose  aufweist.  Auch  die  attischen 
Khapsoden  traten  in  bunten  Gewändern  und  mit  bunten  Kränzen  auf  (Plato 
Jon  686  d). 

8)  Aristoteles  wirft  dem  Rhapsoden  Sosistratos  Uebertreibung  vor  (poet.  26). 

9)  Anf  ländliche  Verhältnisse  bezieht  sich  wohl  der  Name  äpvwSö?  „Der 
um  ein  Lamm  singt"  (Eustath.  in  D.  I  p.  6,  27.  Schol.  Pind.  Nem.  2,  1).  In 
Athen   erhielten   aber  die  trefflichen  Rhapsoden  Geldpreise  (Plato  Jon  586  e). 

10)  Dodone  et  ses  ruines  t.  23,  2,  vgl.  Röhl  iuscr.  Gr.  antiq.  502. 


Die  homerischen  Epen.  123 

Gedichte ,  ohne  das  einzelne  ängstlich  zu  behüten.  Eine 
bessere  Erhaltung  beruht  notwendig  auf  geschriebenen  Exem- 
plaren. Diese  waren  anfangs  Textbücher  der  Rhapsoden;  dann 
fanden  aber  auch  im  Publikum  die  homerischen  Epen  durch 
Handschriften  Verbreitung. 

Der  T  e  X  t  ^)  der  Ilias  und  Odyssee  beruht,  wie  er  uns  heute 
vorliegt,  auf  einem  attischen  Exemplare,  das  wir  mit  dem  Namen 
des  Peisistratos  bezeichnen  mögen.  Alle  stärkeren  Abweichungen, 
welche  gegen  die  Einheit  der  Ueberlieferung  sprechen  könnten  ^), 
beruhen  teils  auf  Irrtum  teils  auf  der  Thätigkeit  der  Gram- 
matiker. In  jene  Klasse  gehören  alle  sogenannten  ,, Fragmente" 
Homers,  an  denen  Willkür,  Gedächtnisschwäche  und  Unge- 
nauigkeit  die  Schuld  tragen  ^),  in  diese  dagegen  die  verschiedeneu 
Proömien  der  IHas  und  die  schwankende  Stelle  der  Glaukos- 
episode,  sowie  das  Fehlen  von  Versen.  Dagegen  weisen  die 
attischen  Sprachformen  "*)  unverkennbar  auf  Athen.  Da  die 
Stadt  des  Perikles  sich  rasch  die  führende  Stelle  im  geistigen 
Leben  Griechenlands  errang  und  zugleich  das  Leipzig  der 
griechischen  Buchhändler  wurde,  gingen  Abschriften  der  attischen 
Recension  nach  allen  Weltgegenden,  wo  sich  Griechen  an  Homers 
Gesängen  begeisterten  und  wo  gab  es  nicht  solche  ?  Das  Original 
aber  verbrannte  wohl  in  den,  Perserkriegen. '")  Die  homerischen 
Gesänge  hatten  etwas  später  einen  sehr  bedenklichen  Prozess 
durchzumachen ;  die  Umsetzung  der  altattischen  Handschriften 


1)  La  Roche  homerische  Textkritik  im  Alterthum,  Leipz.  1866. 

2)  Ungeheuerlich  L.  Adam  die  älteste  Odyssee,  "Wiesbaden,  1877;  beson- 
nen Nitzsch  Sagenpoesie  S.  338  ff. 

3)  Kinkels  epicorum  Graec.  frgra.  p.  70  ff.  (Dazu  Schol.  Theoer.  2,  3 
ä-ÜEoat  IXaaxEaö-at.  107  '(•ri(ir/.of:  bnkp  ohom  äjj.£'.'}ac);  die  38  homerischen  Sen- 
tenzen, die  ein  arabischer  Gelehrter  aufbewahrte,  stammen  aus  anderen  Quel- 
len (Nauck  Bull,  de  l'acad.  de  St.  Petersb.  1860  Nr.  388  und  Köhler 
Rhein.  Mus.  16,  152  f.). 

4)  Z.  B.  TcoXst,  A)(iXXei,  noXewc»  äxpa-fj,  K^uiZQKOL'(tl(;,  x£|j.vaj  u.  dergl., 
so  auch  Sayce  über  den  hom.  Dialekt  (in  Mahaftys  bist,  of  class.  Greek  lite- 
rature,  auch  separat  übersetzt  v.  Imelmann,  Hannover  1881)  und  Ober  dick 
philo].  Rundschau  1881  S.  468.  Hieher  gehört  auch,  dass  keine  Handschrift 
der  Alten  eine  Spur  des  Digammas  bewahrte.  Dagegen  könnte  es  in  älteren 
jonischen  Vorlagen  geschrieben  gewesen  sein,  da  noch  später  ob  iO-sv  und  ey"^ 
stiiüj  im  Texte  stand. 

5)  Nach  Gell.  6,  17  (Isid.  or.  6,  3,  3)  raubte  es  Xerxes  mit  den  übrigen 
Büchern  des  Tyrannen. 


]24  8.  Kapitel. 

in  das  jonische  Alphabet  war  mit  grossen  Schwierigkeiten  ver- 
bunden, (Ignen  die  alten  Grammatiker  sich  nicht  gewachsen 
zeigten.  Als  Grundlage  nahmen  sie  in  zweifelhaften  Fällen 
<^en  attischen  Dialekt^)  und  zogen,  wo  dieser  nicht  ausreichte, 
■die  damals  gebräuchHchen  jonischen  Mundarten  heran.  ^)  Viel- 
leicht regte  dieses  zum  kritischen  Studium  des  Textes  an; 
Antimachos,  der  gelehrte  Epiker  von  Kolophon,  veranstaltete 
eben  damals  eine  oft  citierte  Ausgabe  (Stöp^wat«:),  Ob  es  sich 
bei  dem  Homer  des  Euripides^)  und  Alexanders  berühmten 
,, Kästchenexemplare" ^)  um  wirkliche  Ausgaben  handelte,  möchte 
ich  bezweifeln.  Nacheuklidisch  ^)  sind  auch  die  sogenannten 
Städtehandschriften  {cd  azo  twv  ^röXswv,  ix  ttöXscov)^),  welche  die 
Alexandriner  nach  ihrer  Heimat  bezeichneten,  weil  sie  die  Ur- 
heber der  Recensionen  nicht  kannten ;  es  waren  wahrscheinlich 
wenn  auch  nicht  offizielle,  so  doch  offiziöse  Exemplare'^),  bei 
denen  die  Kritiker  sich  bereits  in  dem  Ausscheiden  von  Versen 
versuchten.  ^)  Wir  finden  jetzt  noch  die  Ausgaben  von  Massilia 
(am  fleissigsten  benützt),  Chios,  Argos,  Sinope,  Kypros")  und 
Kreta ,  ausserdem  eine  ÄoHsche  für  die  Odyssee  angeführt. 
Wenn  alle  Städtehandschriften  übereinstimmen  ^^),  repräsentieren 


1)  Z.  B.  3tp-cas£To,  xpsbocuv,  ouv  und  die  Infinitive  auf  bv.v  statt  esv 
{Renner  Curtius'  Studien  I  2,  32  flf). 

2)  Z.  B.  in  xXsioü?  ('latpoxXeiouc  auf  einer  Münze  von  Erythrä  Mionnet 
«uppl.  VI  p.  216  Nr.  918,  ähnlich  CIG.  3238.  3245). 

3)  Suidas,  veahrscheinlich  eine  Bibliothekenrarität  für  neugierige  Fremde, 
aber   nach    Böckh    tragg.    princ.    p.  226.  23G  von  dem  jüngeren  Euripidcs. 

4)  'H  iv.  toö  vipö-Yixoc,  vgl.  Schol.  Ruhnk.  praef.  in  Hesych.  p.  VIII. 
Alexander  und  seine  Genossen  machten  geographische  Emendationen  aus  bes- 
aerem  Wissen  (Strabo  13,  694,  auch  12,  542.  Plut.  AI.  8.) 

6)  Giese,  dial.  Aeol.  p.  163  fi.;  sie  sind  daher  schwerlich,  wie  Bergk 
meint,  Abschriften  der  peisistrateischen  Ausgabe. 

6)  Im  Gegensatze  zu  den  nicht  anonymen  xax'  avSpa  (Schol.  X  108. 
W  881). 

7)  Wolf  p.  1T7  ff.  war  so  weit  entfernt,  hier  offizielle  Ausgaben  zu  fin- 
den, dass  er  blos  zugeben  wollte,  die  Handschriften  seien  in  der  betreffenden 
Stadt  angekauft  worden. 

8)  In  der  argolischen  Ausgabe  fehlte  nach  Schol.  A  5:  39  das  Nereiden- 
verzeichnis. 

9)  Wahrscheinlich  aus  Paphos,  wie  aus  paphischen  Glossen  des  Hesychios, 
die  Bergk  de  tit.  Arcad.  p,  VIII  scharfsinnig  heranzog,  erhellt  (xax'  ep'  iCeat, 
—  to,  —  tTo  mit  dialektischer  Färbung). 

10)  Z.  B.  *  351. 


Die  homerischeu  Epen.  12& 

sie  die  voralexandrinische  Vulgata.  In  dieselbe  Zeit  dürfte 
auch  die  Einteilung  von  Ilias  und  Odyssee  in  je  vierundzwanzig 
Büciier  fallen,  eine  rein  äusserliche  und  unwissenschaftliche 
Prozedur,  die  man  unbedenklich  den  attischen  Buchhändlern 
beilegen  darf.  ^)  Während  nämlich  ein  Grammatiker  die  Bücher 
nach  dem  Sinne  geschieden  hätte,  bekümmerte  einen  Geschäfts- 
mann blos  der  Umfang  der  Rollen;  daher  wurde  z.  B.  die- 
Diomedeia  zerschnitten.  Aber  erst  etwa  seit  dem  augusteischen 
Zeitalter  gewöhnte  sich  die  gelehrte  Welt  mehr  und  mehr 
daran,  nach  Bücherzahlen  statt  nach  den  Aufschriften  der 
grösseren  Abschnitte  zu  eitleren. 

Die  Buchhändler  hatten ,  wie  immer  im  Altertum,  für  die 
Korrektheit  der  Handschriften  wenig  gesorgt  ^) ;  als  deshalb  das 
Zeitalter  der  Gelehrsamheit  anbrach  und  die  Grammatiker  mit 
wachsender  Gewandtheit  die  Texte  in  ursprünglicher  Reinheit 
herzustellen  versuchten,  beanspruchte  Homer  mit  seinen  ver- 
schollenen Wörtern  und  schwierigen  Formen  ihre  besonderen 
Bemühungen.  Die  Kreise  der  Peripatetiker  hielten  sich,  mit 
den  lockenderen  Problemen  der  Literaturgeschichte  beschäftigt, 
von  der  Kritik  ferne;  darum  ist  es  unwahrscheinlich,  dass  der 
gelehrte  Dikaiarchos  von  Messana  eine  Ausgabe  veranstaltete.^) 
Anders  in  Alexandreia!  Hier  ging  das  Studium  Homers  von 
der  Wiedererweckung  des  Epos  aus.  Aratos  ^)  und  Rhianos^) 
wenigstens  waren  so  gewissenhafte  Arbeiter,  dass  sie  Homer, 
wohl  auch  um  die  sprachhche  Form  ihrer  Gedichte  zu  recht- 
fertigen, förmhch  herausgaben.  Wenn  auch  Apollonios  von 
Rhodos   letzteres    nicht   thatj,    so   hatte  er   sich    doch   eine  be- 


1)  Viele  legen  sie  blos  um  einen  Namen  zu  nennen,  Zenodot  bei ;  Ps.  Plu- 
tarch  spricht  von  Aristarcheern.  Aristarch  scheint  bereits  die  Einteilung  sei- 
nen Vorträgen  zu  Gründe  gelegt  zu  haben.     (Schol.  A  A  423  B  435  F  406). 

2)  Vita  Arati  III  p.  53  Tivec  8e  aüxöv  tlc,  Sop-lav  iXfjXoS-lvat  cpaal  %al 
YSYOVEvat  Ttap'  'Avx'.6~^üj  v.ol\  ij^iM'zd'rxi  otc'  aOToü  cugts  tyjv  ""IXidcSa  o'.opö-waocoö'at. 
o'.a  10  öiTÖ  TcoXXöJv  XsXoiJLav^a:. 

3)  Apollon.  de  pron.  p.  320b  sagt  nur,  dass  Aristarch  gerne  seine  Lesarten 
annahm,  d.  h.  dass  Dikäarch  nach  einer  sehr  guten  Handschrift  citierte;  vgl. 
C.  Müller,  frg.  bist.  Gr.  II  245  f.  Näke  opusc.  I  217.  Nauck  Phil.  5,683. 

4)  Suidas  und  eine  Vita  sprechen  nur  von  der  Odyssee;  jedenfalls  war 
er  zu  der  Arbeit  nicht  befähigt,  vgl.  Lobe  de  elocntione  Arati,    Halle  1864. 

5)  C.  Mayhoff  de  Rhiani  Cretensis  studiis  Homericis,  Lpg.  1870  (Fr. 
des  Vitzthum'schen  Gymnasiums  in  Dresden). 


226  3.  Kapitel. 

stimmte  Ansicht  über  den  homerischen  Text  gebildet^)  Wir 
wollen,  bevor  wir  die  eigentlichen  Alexandriner  besprechen, 
hier  noch  einige  Recensionen,  mit  denen  nichts  rechtes  anzu- 
fangen ist,  vorwegnehmen,  ich  meine  die  kyklische  in  einem 
Corpus  des  ganzen  epischen  Kyklos  stehende 2)  Odyssee,  die 
Museumsausgabe  ^),  die  in  der  Bibliothek  des  alexandrinischen 
Museums  lag,  und  die  grossen  Spott  erregende  'IXtdc  a;:'  'EXt- 
xwvo?  (sie),  die  Osann  im  Anecdotum  Romanum  zu  Tage  för- 
derte. Die  billige  Emendation  'AttsXXixwvo?*)  lässt  sich  mit  der 
Erwähnung  der  Ausgabe  durch  Krates  schwer  vereinigen. 
Warum  sollte  es  nicht  eine  Ilias,  deren  Proömium  die  heli- 
konischen Musen  feierte,  gegeben  haben? 

Obwohl  uns  über  die  älteren  Handschriften  und  Ausgaben 
nur  dürftige  Notizen  zu  Gebote  stehen,  erhellt  immerhin  daraus, 
dass  es  blos  recognitiones  und  noch  nicht  durchgreifende 
recensiones  gab.  Das  Verdienst,  das  Gestrüppe  der  alten 
Varianten  und  Schreibfehler  mit  kühner  Hand  gelichtet  und 
damit  überhaupt  die  ersten  wirklich  kritischen  Ausgaben  her- 
gestellt zu  haben,  gebührt  dem  alexandrinischen  Dreigestirne 
Zenodotos  von  Ephesos,  Aristophanes  von  ßyzanz  und  Ari- 
starchos  von  Samothrake. 

Zenodot^)  steht  an  der  Spitze  der  Homerkritik  und  hat 
die  ganze  Schwere  dieser  Stellung  zu  tragen.  Ueberdies  kennen 
wir  jetzt  eigentlich  nur  die  Schwächen  seiner  Kritik ;  denn 
was  Zenodot  geleistet,  wurde  unter  dem  imponierenden  Ein- 
drucke der  aristarchischen  Recension  vergessen,  was  er  gefehlt, 
lebte  in  den  polemischen  Aeusserungen  des  Meisters  ®)  bei  dessen 

1)  J.  Michaelis  de  A.  Rh.  fragnientis ,  Halle  1875  p.  23—40;  er  ver- 
fasste  eine  Schrift  gegen  Zenodot  (Schol.  AN  657). 

2)  So  Lehr 8  Arist.  stud."  26**). 

8)  "Kx^oot?  ex  Moo3Etou,  vgl.  Lehrs  de  Arist.  stud.  ''26  adn. 

4)  Philol.  6,663,  nach  Jahrbb.  66,4  zur  aristotelischen  Bibliothek  gehörig. 

5)  Alexandrinischer  Bibliothekar  unter  Ptolemaios  Philadelphos ,  starl) 
zwiMchen  266  und  250  nach  Couat  annales  de  la  faculte  des  lettres  de  Bor- 
deaux 1879  Nr.  2,  um  Ol.  133  nach  Ritschi  opusc.  1,73;  Monographieen : 
G.  Pluygers  de  Zenodoti  carminum  Honieri  editione,  Leiden  1842:  H. 
Düntzer  de  Zenodoti  stüdüs  Homericis,  Göttingen  1848;  W.  Ribbeck 
Zenodotearum  quaestt.  spec.  I.  Berlin  1852,  Philol.  8,  662  ff.  9,  43  flf.,  dagegen 
Döntzer  Zeit.sch.  für  Alterthumsw.  1852  Sp.  60  flf.  479  ff.  und  Philol.  9, 
811  ff. 

6)  Auch  Apollonios  von  Rhodos  schrieb  gegen  ihn  (Schol.  N  657). 


Die  homerischen  Epen.  127 

Schülern  fort.  Lag  doch  den  Späteren  die  zenodotische  Aus- 
gabe nicht  mehr  vor.  ^)  Darum  schrieben  sie  dem  Zenodot 
gewiss  manche  Lesart  mit  Um-echt  zu.  ^)  Anderes  drückten 
sie  ungeschickt  aus;  Zenodot  Hess  nämHch  oft  die  Vulgata 
stehen,  bis  sie  Aristarch  auf  Grund  seiner  Studien  oder  besserer 
Handschriften  emendierte,  während  die  SchoHen  von  solchen 
Varianten  wie  von  Konjekturen  des  Zenodot  sprechen.  ^)  Wo 
er  dagegen  wirklich  gegen  die  Ueberlieferung  einschritt,  geschah 
es  nicht  selten  mit  einer  Keckheit,  die  den  Knoten  zerhieb 
statt  ihn  zu  lösen.  Ungewöhnliche  Ausdrücke  entfernte  der 
Kritiker  durch  Umdichtung  eines  Halbverses  ^);  bei  Problemen 
der  höheren  Kritik,  bei  Wiederholungen  oder  ästhetischen  Be- 
denken scheute  er  nicht  davor  zurück,  einige  Verse  auszuwerfen 
und  nötigenfalls  eine  dadurch  entstehende  Lücke  suo  Marte 
auszufüllen.  Denn  der  Richtigkeit  seines  Gefühles  war  Zenodot 
so  sicher,  dass  er  viele  Verse  nicht  blos  mit  dem  übelos  ver- 
sah, sondern  sie  einfach  wegliess  oder  manche  Stellen  geradezu 
umarbeitete.  ^)  Dass  er  jedoch  nicht  ohne  gründliche  Vorstudien 
au  sein  Werk  ging,  beweisen  sein  alphabetisches  Glossar  und 
eine  Tageberechnung  der  Ilias ;  aber  er  handhabte  die  Kritik 
in  zu  subjektiver  Weise  und  fasste  seine  Aufgabe  zu  negativ 
auf,  indem  sein  Hauptbestreben  dahhi  ging,  alles  anstössige  zu 
entfernen.  Noch  das  späte  Altertum  stellte  ihn  achtungsvoll 
und  ohne  an  Rivalität  zu  denken  neben  Aristarch  ^) ;  erst  unser 
Jahrhundert  benützte  ihn  als  Strohmann  zu  Angriffen  gegen 
diesen  ihm  jedenfalls  überlegenen  Grammatiker. 

Von  seinen  Schülern')  ist  der  bedeutendste  Aristophanes 
von  Byzanz,  von  ungefähr  Ol.  144  bis  349  alexandrinischer 
Bibliothekar^),  doch  ist  von  seinen  positiven  Leistungen  wenig 
zu  sagen.     Er  stellte  hinsichtlich   der  Athetesen  hauptsächlich 


1)  Daher  lesen  wir  oft  al  ZyjvoSotoo  oder  ol  uEpl  ZyjvoSoxov. 

2)  Cobet  Mnemos.  nova  II  189  ff. 

3)  Cobet  misc.  crit.  p.  251  f. 

4)  Z.  B.  0  587  S  231. 

5)  Düntzer  p.  106  ff.  151    ff. 

6)  Z.  B.  Auson  profess.   13,3. 

7)  ZYjvoSoxEto'  (Theophilos  Schol.  Nicand.  Ther.  11,  Anaxagoras  Diog.  L. 
2,15,  Agathokles  Suid.  o.  Iko'/.sfj.aloc  'ET^tö-sxYjc). 

8)  Nauck  Aristophanis  Byz.  gramm.  Alex,  fragmenta,  Halle  1848  S.  20 
ff.,  dazu  Braune  Jahrbb.  55,653  ft. 


J28  3-  Kapitel. 

den  frühereu  Bestand  wieder  lier,  wenn  er  auch  oft  die  Kritik 
seines  Vorgängers  als  richtig  anerkannte ;  in  diesem  Falle  aber 
erklärte  er  die  Verse  lieber  durch  den  Obelos  für  höchst  ver- 
dächtig, als  dass  er  sie  auswarf.  ^)  In  der  Revision  des  Textes 
entwickelte  er  eine  grössere  Kühnheit  als  Aristarch.  Auch  von 
seinem  Schüler  Kallistratos  gab  es  eine  Ausgabe.  2) 

Die  kritische  Thätigkeit  der  ersten  Alexandriner  möchte 
ich  mit  der,  welche  in  der  Zeit  der  ersten  Drucke  herrschte, 
vergleichen.  Zenodot  ähnelt  jenen  Herausgebern,  die  mit 
Scharfsinn  aber  wenig  Methode  an  die  Handschriften  heran- 
traten. Es  entgingen  ihnen  einerseits  viele  Fehler,  andererseits 
überstürzten  sie  sich  in  der  Kritik  und  überarbeiteten  die  Vul- 
gata  erheblich.  Durch  den  Schaden,  den  sie  nicht  selten  an- 
richten', werden  die  folgenden  klug;  allraälig  verfeinert  und 
festigt  sich  die  Methode,  je  länger  sie  geübt  wird.  Tritt  dann 
zu  ihr  ungew^öhnliche  Gelehrsamkeit  und  ausgezeichneter  Scharf- 
sinn, so  entsteht  in  der  Renaissance  ein  Scaliger,  in  Alexandreia 
ein  Aristarch. 

Aristarchos  von  Samothrake  (zwischen  Ol.  142  und  160, 
210  und  140  v.  Chr.),  der  Nachfolger  des  Aristophanes ,  galt 
im  Altertum  als  der  vorzüglichste  Kritiker,  so  dass  sein  Name 
zum  Sprichworte  wurde.  Als  Villoison  die  Venediger  Schollen 
aufgefunden  hatte,  ahnte  zwar  Wolf  die  Wichtigkeit  des  Fundes, 
aber  erst  Gottfried  Hermann  ^),  der  sich  einem  verwandten  Geiste 
gegenüber  fühlen  mochte,  sprach  die  Bedeutung  Aristarchs 
deutlicher  aus.  Ein  vorzügHches  Bild  seiner  Thätigkeit  gab 
das  berühmte  Buch  von  Lehrs  ,,de  Aristarchi  studiis  Homericis"  "*), 
durch  das  ArisUirch  der  Heros  der  Homerkritik  wurde.  Dieses 
Ansehen  gründet  sich  zunächst  auf  seine  ausserordentlich  ein- 
gehenden Studien,  bei  denen  ihm  die  bequemen  Not-  und  Hilfs- 


1)  Daher   lesen    wir    oft  ZtjvöSotoi;  ob^k  Ypafet,    'AptoxotpavYjc  8^  äO-exsi. 

2)  Vgl.  die  Abhaudlung  von  R.  Schmidt  hinter  Nauck's  Buch. 
8)  Opu.scula  II  p.  49  (I8I3). 

4)  Königsberg  1833,  Leipzig  »1866.  »JSSS  (von  Ludwich  besorgt),  vgl. 
qnaestioneM  epicae  Königsberg  1837,  M.  Schmidt  Philol.  9,  426  ff.  752  ff. 
Jahrbb.  71,  220  ff.  73,  83  ff.  Lud  wich  Wissensch.  Monatsblätter  6,  58  ff. 
76  ff.  82  ff.  108  ff.  125  ff.  162  fl'.  181  ff.  Seine  Lehren  über  die  grammati- 
Hchen  a/TjjtaTa  nind  bei  Friedländer  Aristonici  Frg.  p.  1—35  zusammen- 
gestellt. 


Die  homerischen  Epen.  129 

büchleiii  der  heutigen  Philologie  fehlten.  Trotzdem  beherrschte 
er  die  Grammatik,  die  Literaturgeschichte  und  selbst  die  Alter- 
tumskunde ^)  mit  Meisterschaft.  Dazu  kam  das  reiche  kritische 
Material,  das  ihm  die  alexandrinische  Bibliothek  bot;  er  nützte 
es  sorgfältig,  wenn  auch  natürlich  nicht  im  Sinne  der  letzten 
fünfzig  Jahre.  Diese  Fülle  von  Stoff  war  aber  in  dem  Kopfe 
eines  Mannes  aufgespeichert,  der  nur  mit  der  grössten  Umsicht 
und  zugleich  mit  erstaunlicher  Sicherheit  sein  Urteil  über  Les- 
arten und  verdächtige  Verse  fällte.  Es  ist  wahr,  dass  er  nach 
den  Grundsätzen  der  Analogie  verfuhr,  aber  im  allgemeinen 
that  er  dies  nur  wie  es  alle  Kritiker  thun  müssen  und  verstieg 
sich  nicht  zur  Gleichmacherei  Naucks  und  der  Holländer;  denn 
davor  bewahrte  ihn  sein  feines  Verständnis  für  die  Mannig- 
faltigkeit der  homerischen  Sprache.  ^)  Welchen  Rang  soll  aber 
Aristarch  in  der  Homerkritik  unserer  Zeit  einnehmen? 

Der  Herausgeber  darf  und  soll  sich  freuen,  so  oft  er  mit 
Aristarch  übereinstimmt,  und  hat  von  seinem  Urteile  als  aus 
der  sorgfältigsten  Beurteilung  eines  unschätzbaren  Materials 
erflossen  nur,  wenn  gewichtige  Gründe  dazu  drängen,  abzuweichen ; 
aber  Aristarch  ist  eben  nichts  als  der  vortrefflichste  der  alten 
Grammatiker  und  über  seine  Zeit  nicht  völhg  erhaben.  ^)  Eine 
wichtige  Frage,  über  die  wir  in  den  Scholien  keinen  Aufschluss 
finden,  wird  überall  sein,  was  Aristarch  aus  Konjektur  in  den 
Text  gesetzt  und  was  er  aus  Handschriften  gezogen  habe. 
Ueberdies  ist  nicht  jedesmal  ausgemacht,  dass  die  überlieferte 
Lesart  wirklich  von  Aristarch  herrühre;  denn  auch  hier  bieten 
die  Scholien  nicht  immer  die  nötige  Garantie.  Doppelte  An- 
gaben über  Textesüberlieferung  finden  jedoch  darin  eine  Ent- 
schuldigung,   dass    zwei  Ausgaben    von  Aristarch    existierten.*) 

1)  Z.  B.  wusste  er,  dass  der  Hahn  erst  spät  nach  Griechenland  kam 
(Ariston.  p.  279.  Friedl.). 

2)  Einen  schönen  Ausspruch  teilt  Porphyrie  in  Hör.  ep.  2,  1 ,  257  mit: 
Et  hoc  vetus  esse  dictum  Aristarchi  ferunt,  qui,  cum  multa  reprehenderet  et 
in  Homero,  aiebat  neqne  se  posse  scribere  quemadmodum  vellet  neque  velle 
quemadmodum  posset. 

3)  Eine  Blütenlese  von  Irrtümern  geben  Lehrs  in  seinem  Buche  (p.  46  ff. 
141  ff.)  und  die  Vorreden  von  Nauck,  einiges  auch  Brugman  ein  Problem 
der  hom.  Texteskritik  und  der  vergl.  Sprachwissenschaft,  Lpg.  1876;  vgl.  ge- 
gen letzteren  A.  Lud  wich  Wissensch.  Monatsblätter  VI  Nr.  4 — 12  und  C. 
Kammer,  Jahrbb.   115,  649  ff. 

4)  Schol.  n  613.  Y  453.  v  66. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  ° 


23Q  3.  Kapitel. 

Da  sie  seine  Schüler  selten  unterscheiden,  scheinen  sie  wenig 
von  einander  abgewichen  zu  sein;  daher  hat  Bernhardys  *)  Ver- 
mutung, die  erste  Ausgabe  sei  nur  eine  Revision  der  ari- 
stophanischen gewesen,  wenig  für  sich. 

Aristarchs  Glanz  verdunkelte,  wenn  er  auch  nicht  den 
allgemeinen  Beifall  errang  ^)  und  dem  Widerspruche  keineswegs 
entgingt),  die  Arbeiten  seiner  Nachfolger;  wir  hören  nur  hier 
und  da  von  Ausgaben  des  Seleukos*)  und  Philemon.  ^)  Dagegen 
ist  eine  Diorthose  des  Milesiers  Herakleides  ^)  und  des  Chamaileon 
zweifelhaft.  Die  feindliche  Schule  von  Pergamon  stellte  den 
zahlreichen  alexandrinischen  Ausgaben  keine  einzige  entgegen; 
denn  Krates  beschränkte  sich,  wie  es  scheint,  auf  einen  kritischen 
Kommentar. 

Da  die  Recensionen  der  Grammatiker  verhältnissmässig 
geringe  Varianten  aufweisen,  kann  ich  nicht  glauben,  dass  sie 
die  Vulgata  vergewaltigten.  Freilich  murrte  Timon'^),  man  finde 
den  echten  Homer  nur  in  den  alten  Exemplaren  und  nicht 
in  den  „emendierten"  und  noch  heute  gibt  es  solche  Timone, 
welche  die  homerischen  Gedichte  lieber  wie  die  Hymnen  von 
den  Schreibern  misshandelt  lesen  möchten.  Die  Vulgata  (al 
xotvat,  Sy][x(ü8£'.c)  wurde  nur  oberflächlich  von  den  kritischen 
Bemühungen  berührt.  Das  meiste,  was  Aristarch  korrigierte, 
lebte  in  der  alten  Gestalt  weiter ;  fast  alle  Verse,  die  sein  Obelos 
verdammte,  kamen  auf  uns,  einige  wenige  ausgenommen,  von 
denen  anzunehmen  ist,  dass  sie  bereits  vor  Aristarch  in  den 
meisten  Handschriften  fehlten.  ^)  Auch  die  Lehren  des  Heriodian 

1)  II  1,  195. 

2)  Die  Epiker  berücksichtigten  ihn  nicht  (Lehrs  1.  c.  68);  im  gewöhn- 
lichen Gebrauche  scheint  also  die  alte  Vulgata  fortgelebt  zn  haben. 

3)  Didymos  entscheidet  sich  öfters  gegen  ihn;  einmal  trifft  sogar  seine 
Lesart  der  Vorwurf  xaxÄc  (Schol.  8  231). 

4)  M.  Schmidt,  Philol.  3,  436  ff.  Identisch  damit  ist  vielleicht  die 
■Krj't.'jouyoq  (nach  Beccard  de  schol.  Ven.  p.  49  A.  14  7:o>>uoTtxto;),  vergl.  O. 
Schneider  Jen.  Lit.  Ztg.  1848,  anders  Ribbeck  Philol.  8,  663. 

6)  Schol.  ü  268.  il  467. 

6)  Fr.  Osann  de  H.  Homeri  carminum  diorthota  in  quaestt.  Hom.  III 
IV.  Gieflsen  1853—4,  verworfen  von  M.  Schmidt  Ztsch.  f.  Altertumsw.  1853 
Sp.  266. 

7)  Diog.  h.  9,  113. 

8)  Entscheidend  ist  dagegen,  dass  N  731,  ein  nach  den  Schollen  von  dem 
jüngeren  Zenodot  eingesetzter,  also  von  Aristarch  nicht  gelesener  Vers,  in 
mehreren  Codice.s  steht. 


Die  homerischen  Epen.  131 

haben  auf  die  Schreiber  vielfach  eingewirkt,  doch  kamen  sie 
ohne  Konsequenz  und  nur  in  sorgfältigen  Manuskripten  zur 
Anwendung.^)  Der  Aristarchisch- Herodianeischen  Recension 
steht  verhältnismässig,  freiHch  oft  blos  in  orthographischen 
Dingen,  der  berühmte  Codex  Venetus  A  der  Ilias  (Nr.  454  aus 
dem  zehnten  oder  elften  Jahrhundert)  am  nächsten,  von  dessen 
SchoHen  und  kritischen  Zeichen  im  nächsten  Abschnitte  die 
Rede  sein  wird.  J.  d'Ansse  de  Villoison  entdeckte  ihn  1788 
und  machte  ihn  durch  seine  Ausgabe  bekannt.^)  Für  die  Ilias 
verdient  dann  auch  eine  von  La  Roche  mit  C  bezeichnete 
Handschrift  der  Laurenziana  (plut.  32,  3)  wegen  zalilreicher 
selbständiger  Lesarten  Berücksichtigung,  während  die  Schwester- 
handschrift D  (plut.  32,  15)  von  jämmerlichen  Fehlern  strotzt. 
Die  zu  genau  kollationierten  Wiener  Codices  gehören,  wiewohl 
sie  manchmal  eine  alte  Lesart  (z.  B.  0  526)  bergen,  im  allge- 
meinen zu  den  schlechtesten.  Ueber  die  anderen  besitzen  wir 
meist  blos  ungenaue  Angaben,  die  einen  Stammbaum  aufzu- 
stellen nicht  gestatten ;  da  hier  und  da  etwas  bemerkenswertes 
steht,  wären  reichere  Mitteilungen  erwünscht.  ^)  Dazu  kommen 
einige  mehr  durch  Alter  als  durch  hohen  Wert  ausgezeichnete 
Fragmente,  zunächst  drei  Papyrusstücke  mit  Aversen  aus  N*), 
S^)  und  ß^),  dann  ein  syrischer  Palimpsest  des  brittischen 
Museums,    der    3873   Verse    aus    M— ß    enthält'),    und    eine 


1)  Ueber  die  Handschriften  handelt  am  ausfiihriichsten  La  Roche  ho- 
merische Textkritik  S.  439—79.  Von  Revisoren  kennen  wir  den  Numen 
des  Kometas  (Anthol,  Pal.  15,  36—38). 

2)  Vier  Seiten  sind  in  Diudorfs  Ausgabe  der  Iliasscholien  I.  und  II. 
facsimiliert. 

3)  J.  Rieckher  die  zweisprachige  Stuttgarter  Homerh.  Heilbronu  1864 
(Pr.)  und  Eos  2  (1866)  S.  182  ff.  339  ff.  475  ff.  O.  Lehmann  über  das 
Alter  der  Iliashandschrift  Burney  ms.  86  des  brit.  Museums,  Hermes  14,  408 
ff.  Facsimilia:  Cod.  Regin.  2683  Silvestre  de  Sacy  paleographie  univer- 
selle II  33;  Cod.  Burney  86  Palaeographical  society  pl.  67. 

4)  Brunet  de  Presle  et  Egg  er  les  papyrus  Grecs  du  musee  du  Louvre 
p.  109  ff.  pl.  12,  einige  Verse  aus  Z  und  I  pl.  49. 

5)  Facsimile  Catal.  of  anc.  manuscr.  in  the  British  mus.  I.  London  1881 
Nr.  1.  2. 

6)  Class.  Museum  Cambr.  1831  I  177  ff". 

7)  G.  Cureton  fragmeuts  of  the  Iliad  of  Homer  from  a  Syriac  pal. 
1851,  vgl.  W.  C.  Kayser  Philol.  10,  145  ff'.  193  ff".  313  ff.  375  ff.  B.  S. 
Rhein.  Mus.  8,  471  ff. 

9* 


J32  3.  Kapitel. 

Miniaturenhandschrift  der  Ambrosiana.  ^)  Schlimmer  steht  os 
um  die  Odyssee,  da  ihr  eine  so  hervorragende  Handschrift  wie 
der  Venetus  A  fehlt;  immerhin  sind  das  älteste  Manuskript, 
ein  Laurentianus  (plut.  32,  24)  aus  dem  zehnten  Jahrhundert  ^), 
der  verwandte  Vindobonensis  56,  zwei  Marciani  (613  und  456), 
der  bekannte  Harleianus  im  brittischen  Museum  und  die  Hand- 
schrift des  Eustathios  beachtenswert.  Manchmal  bieten  auch 
andere  junge  Codices  in  Wien,  Stuttgart,  Breslau  und  München 
brauchbare  Varianten.  Dem  aus  den  Handschriften  gezogenen 
Apparat  liefert  die  grammatische  Literatur  reiche  Supplemente 
und  nicht  selten  übertreffen  ihn  solche  Citate  an  Güte,  wenn- 
gleich an  vielen  Stellen  der  Gedanke  an  Gedächtnisfehler  nicht 
abzuweisen  ist;  namentlich  was  andere  Schriftsteller,  auch 
Aristoteles  citieren,  erinnert  oft  an  die  Verunstaltungen,  die 
heutzutage  im  Volksmunde  den  Dichtercitaten  widerfahren.  Ein 
vollständiger  Apparat  sollte  ferner  die  Varianten  der  parallelen 
Stellen  (Wiederholungen  in  der  Odyssee  S.  180  ff.)  und  die 
Imitationen  späterer  Epiker  bieten. 

Die  Frage,  wie  der  homerische  Text  zu  behandeln  sei,  ist 
heute  noch  nicht  gelöst:  Von  den  älteren  unmethodischen  Aus- 
gaben ist  nur  als  typographische  Merkwürdigkeit  die  editio 
princeps,  welche  Demetrios  Chalkondylas  1488  zu  Florenz  ver- 
anstaltete, zu  nennen.  Die  kritische  editio  princeps  ist  die  Aus- 
gabe von  Wolf^);  er  ging  wie  Spitzner  ^)  und  anfangs  Bekker^) 
von  der  Ansicht  aus,  dass  wir  jetzt  über  den  Text  der 
Alexandriner  nicht  mehr  hinauskommen  könnten.  Je  mehr 
man  in  Aristarch  eindrang,  desto  mehr  richtete  sich  das  Be- 
streben auf  die  Gewinnung  des  aristarchischen  Textes.  Auf 
diesem  Standpunkte  steht  Jakob  La  Roche,  dessen  kritische 
Ausgabe^)  den  handschriftlichen  Apparat  am  vollständigsten 
bietet;     leider    erschweren    die    peniblen    Angaben     über    die 

1)  Nach  der  Ansgabe  von  A.  Mai  (Mailand  1819)  gibt  Buttnianu  hinter 
den  Odysseescholien  S.  579  ff.  eine  Kollation;  Proben  mit  Bildern  Palaeo- 
graphical  society  pl.  39,  40,  61,  52. 

2)  Gotschlich  Jahrbb.  113,  21  ff. 

8)  Halle  1794,  Ausgabe  letzter  Hand  1804—7,  5  Brie.  (1817  wieder  ab- 
geilrackt). 

.  4)  Gotha  1832—6,  4  Tle. 
6)  Berlin  1843,  2  B<le. 
6)  Ody.ssee  I.pg.  1867—8.     Ilias  1878—6. 


Die  homerischen  Epen.  |33 

prosodischen  Varianten,  um  mit  den  Alten  zu  reden,  deren 
Platz  in  einer  praefatio  ist,  den  Ueberblick  in  bedauerlicher 
Weise.  ^)  Sobald  andererseits  E.  Lange  ^)  und  Buttmann  den 
Feldzug  gegen  Aristarch  eröffnet  hatten,  gestaltete  Bekker  in 
seiner  zweiten  Ausgabe^)  den  Text  nach  selbständigen  Grund- 
sätzen und  wagte  sogar  das  Digamma  in  den  Text  einzuführen, 
bot  aber  seinen  Gegnern  viele  Blossen.*)  Er  berücksichtigte 
auch  die  Sprachvergleichung  zu  wenig,  obgleich  die  Homerkritik 
diese  als  notwendige  Grundlage  haben  muss.  Nachdem  Ahrens  ^) 
und  Leo  Meyer  ^)  die  Verwertung  ihrer  Resultate  angebahnt 
hatten,  führte  Nauck  ihre  Gedanken  weiter  aus,  aber  statt  seine 
Untersuchungen  zu  einem  Ganzen  abzurunden  und  dabei  die 
verschiedene  Natur  der  einzelnen  Stücke  zu  beachten,  unter- 
nahm er  es  mit  unzureichenden  Mitteln  einen  vorpeisistrateischen 
Text  zu  schaffen.'')  Die  Perorationen  gegen  Aristarch,  welche 
die  Vorreden  ausfüllen ,  wirken  fast  komisch ,  weil  Naucks 
Konjekturen  jedenfalls,  wie  sie  an  Zahl  die  des  Aristarch  über- 
treffen, an  Güte  hinter  denselben  zurückstehen;  auch  Cobet, 
van  Herwerden  und  Naber  machten  einige  hundert  engherzige 
Konjekturen  in  seinem  Geiste.  Dagegen  Mdll  ich  nicht  leugnen, 
dass  er  besonders  bei  der  Auflösung  kontrahierter  Formen 
vielfach  das  richtige  getroffen  hat;  aber  seine  Forschungen 
sind  nur  Stückwerk  und  so  erweckt  seine  Ausgabe  kein  rechtes 
Vertrauen. 

Neben  der  Kritik  geht  die  Thätigkeit  jener,  welche  Homer 
auf  irgend  eine  Weise  dem  Verständnisse  näher  bringen 
wollen,  einher.  Die  Geschichte  der  Homerexegese  reicht 
ebenso  hoch  wie  die  der  Philologie  überhaupt  hinauf.    Freilich 


1)  La  Koche  hätte  sich  die  klare  Spezialausgabe  des  21.  und  22.  Buches 
der  Ilias  von  Hoflfmaun  (Clausthal  1864)  zum  Muster  nehmen  sollen. 

2)  Philol.  4,  701  ff. 

3)  Bonn  1858,  dazu  homerische  Blätter,  Bonn  1863—72  2  Bde. 

4)  Leskien  ratiouem  quam  J.  Bekker  in  restituendo  digammo  secutus 
est  examinavit,  Lpg.  1866;  W.  Kayser  Philol.  17,  683  ff.  18,  647  ff.  21, 
308  ff.  22,  505  ff.  für  die  Odyssee  vgl.  seineu  Vortrag  auf  der  Philologenver- 
sammlung von  Breslau  1857  S.  43  ff. 

5)  Rhein.  Mus.  2,  161.     Phil.  4,  592  fl'.  6,  1  ff. 

6)  Verhaudl.  der  23.  Phil.-Vers.  in  Hannover  1864  S.  113  ff.  u.  A. 

7)  Odyssee,  Berlin  1874;  Ilias  1877. 


J34  3.  Kapitel. 

sind  die  Anlange  dürftig  genug  ^) :  Die  Philosophen  wollen  nicht 
glauben,  dass  der  berühmte  Dichter  so  alltägliche  und,  was  die 
Götter  anlangt,  auch  so  anstössige  Dinge  gesagt  habe,  sondern 
sie  suchen  in  solchen  Worten  einen  tieferen  Sinn  (uTuövota), 
wobei  Homer  natürlich  ihren  Dogmen  dienen  muss;  da  sie 
zudem  den  Götterglauben  angreifen  und  Homer  als  dessen  Be- 
gründer ansehen,  hoffen  sie  jenen  durch  die  Erschütterung  des 
Ausgangspunktes  aus  den  Angeln  zu  heben.  An  der  Spitze 
solcher  Versuche  stand  Theagenes  von  Rhegion  ^)  und  die 
meisten  Philosophen  folgten  ihm.  ^)  Zugleich  diente  Homer  als 
Versuchsobjekt  für  die  grammatisch  -  logischen  Theorien  der 
Sophisten.  ^)  Eine  ernstere  Seite  eröffnete  sich  durch  den  Schul- 
unterricht, weil  dem  Lehrer  die  dunklen  Wörter  (YXwaaa'.)  zu 
erklären  oblag.  Bald  stellten  Gelehrte  Verzeichnisse  derselben 
mit  Erklärungen,  d.  h.  Glossarien  zusammen.  Erst  Aristoteles 
begann  aber  eingehendere  Studien  durch  seine  homerischen 
Probleme^);  die  lange  Reihe  der  Monographien  eröffnete  gleich- 
zeitig die  Abhandlung  des  Isokrateers  Dioskorides  ;rspi  twv  Tiap' 
'0|XT)pi(p  vö{i(ov.  ^)  Die  Alexandriner  hatten  wahrlich  sehr  düi-f- 
tige  Vorarbeiten ;  somit  ruhte  die  ganze  Last  auf  ihnen  selbst. 
Sie  lernten  und  lehrten  erst,  was  bei  Homer  erklärt  und  be- 
sprochen werden  müsse;  dieses  zeichneten  sie  durch  kritische 
Zeichen  (oYjjisia)  an,  welche  den  Leser  auf  Schwierigkeiten 
aufmerksam    machten    und    ihre   Erläuterung    in    mündlichen 


1)  Ueber  die  voralexandrinischeu  Studien  vergl.  Lehrs  de  Arist.  stnd. 
»36—46. 

2)  Porphyr,  zu  Y  67.     Seugebusch  diss.  Hom.   1,  210  ff. 

8)  Seh  rader  Porphyr,  quaestt.  Hom.  p.  384  ff.  Mullach  fragm.  philos. 
U  272  f.  277  ff.  vgl.  Xeuoph.  conv.  3,  6. 

4)  Grafenhan  Gesch.  der  klass.  Philol.  I  188;  Ferd.  Hoffmauu  de 
philo»,  ac  sophistarum  qui  fuerunt  ante  Aristotelem  studiis  Hom.  Halle  1874 ; 
O.  Friedel  de  philos.  Gr.  «tud.  Hom.  I.  Merseburg  1879  (Pr.). 

6)  Arist.  Daitaleis  l'r.   1  D. 

6)  Wachsmath  de  Aristotelis  studiis  Homericis;  Berlin  1863;  Lehrs 
AriflU  stod.  222  and  Val.  Rose  Arist.  psendepigr.  p.  149  halten  die  Schrift 
för  unecht,  während  sie  Ileitz  die  verlorenen  Schriften  des  Arist.  S.  258  ff". 
verteidigt.  Seh  rader  Porphyr,  quaestt.  Hom.  p.  415  ff.  macht  sehr 
wuhrMcheinlich ,  daw  den  Spät«ren  eine  Sammlung  peripa tetischer  Probleme, 
deren  Kern  aristotelische  Vorträge  aasmachten,  vorlag. 

7)  C.  Müller,  histor.  Graec.  frg.  II  193  ff. 


«Die  honierischeu  Epen.  135 

Vorträgen  fimden.  ^)  Zenodot  erfand  den  Obelos  ( — ),  um  Verse 
für  unecht  zu  erklären  ^);  Aristophanes  fügte  dazu  das /epaüvtov 
(T),  welches  mehrere  Verse  verurteilte,  bei  allen  ungewöhnlichen 
Dingen  die  von  Leogoras  vonSyrakus  erfundene  StTrX'^  (>—  oder  », 
den  aoTsptaxoc  (x),  um  schwierige  Stellen  anzumerken,  und  das 
avTioiY;j-a  (•)),  das  er  gebrauchte,  wo  die  Verse  nicht  in  der 
richtigen  Ordnung  zu  stehen  schienen.  Aristarch  gab  das 
xspaDV'.oy  auf,  erfand  aber  neu  die  SiTcXr^  Trcf^teaT'.YlJ-svirj  (>^  oder  ::>)^ 
womit  er  die  Besprechung  fremder  Lesarten  einleitete.  Den 
Asteriskos  verwendete  er  lieber  für  die  Bezeichnung  wiederholter 
Verse.  Zenodot  verzichtete  auf  einen  Commentar,  obgleich  ein 
solcher  gerade  bei  seinem  Vorgehen  wünschenswert  gewesen 
wäre,  und  begnügte  sich  mit  stillschweigenden  Aenderungen 
und  der  Setzung  des  Obelos.  Dazu  kam  ein  Glossar ;  überdies 
besitzen  wir  eine  Tageseinteilung  der  llias  auf  einem  leider 
fragmentierten  Basrelief.^)  Das  Residuum  von  Aristophanes' 
Exegese'*)  besteht  nur  in  zerstreuten  Notizen,  die  aus  seinen 
Glossen  stammen ,  ungerechnet  die  Angaben  über  seine  An- 
wendung der  kritischen  Zeichen;  in  der  Athetese  ging  er  oft 
seinem  grossen  Nachfolger  voraus.^)  Aristarch  bildet  auch 
hier  den  Mittelpunkt;  zu  seinen  kritischen  Zeichen  gab  später 
Aristonikos  von  Alexandrien,    ein  Zeitgenosse    des  Strabo"), 


1)  Vgl.  besonders  das  von  Osann  (Giesseu  1851.)  herausgegebene  Anec- 
dotum  Komauum;  die  verschiedenen  Anecdota ,  welche  auf  Sueton  zurück- 
gehen, sammelten  Reifterscheid  in  Suetoui  fragmenta  p.  137  ff.  und  Nauck 
hinter  dem  Lexicon  Vindob.  p.  271  ff.;  vgl.  H.  Schrader  de  notis  criticis, 
Bonn   1863. 

2)  'AS-ctjlv.  Alle  athetierten  Verse  verzeichnet  Geppert  Urspr.  der 
hom.  Ges.  1,  10  ff.  War  den  Grammatikern  die  Unechtheit  eines  Verses 
über  allen  Zweifel  erhaben,  so  Hessen  sie  denselben  ganz  weg ;  der  technische 
Ausdruck  dafür  ist  oü5s  Ypä'fsiv. 

3)  CIG.  6129.  Lachmann  Betrachtungen  über  die  llias  S.  ^90  ff".  O. 
Jahn  griech.  Bilderchroniken  S.  62  ft'. 

4)  Nauck  Aristoph.   Byz.  frg.  p.  20 — 59. 

5)  Durch  die  politische  Färbung  ist  die  Athetese  von  Y  307  f,  die  sich 
auf  Äneas  beziehen,  von  Interesse  (v.  Wilamowitz  philol.  Untersuchungen 
4,161.) 

6)  I  p.  38.  Sein  Buch  erschien  vor  dem  des  Didymos  (Lehrs  Arist. 
stud.  ^27).  Die  Schollen  beginnen  mit  *r]  o:KK-q  und  ä.  ozi  oder  jetzt  oft  blos 
mit  oz'..  Die  auf  die  llias  bezüglichen  Fragmente  gab  Friedländer  Göttingen 
1853  heraus  (vgl.  M.  S  en  g  ebu  s  ch  Aristonicea,  Berlin  1855);  für  die  Odys.see 


136  3'  Kapitel. 

in  der  Schrift  Tuspl  ('Aptatap/oo)  orjjxsiwv  '0[XY]pou  einen  Kom- 
mentar. Der  grosse  Gelehrte  handhabte  den  übelos  nicht  mit 
der  subjektiven  Kühnheit  des  Zenodot,  sondern  stützte  ein  ver- 
dammendes Urteil  in  der  Regel  auf  mehrere  Gründe,  wobei  er 
sich  als  der  genaueste  Beobachter  homerischer  Sprache  und 
Sitte  zeigte.  ^)  Selten  rissen  ihn  die  sittlichen  und  ästhetischen 
Ansichten  seines  Zeitalters  dahin  fort,  dass  er  Verse,  die  diesen 
widersprachen,  strich.^)  Bei  dem  grossen  Publikum,  dem  die 
geheimnisvollen  Zeichen  imponierten,  verlieh  ihm  gerade  dieser 
Teil  seiner  Arbeit  einen  besonderen  Nimbus  und  sein  Obelos 
wurde  ein  geflügeltes  Wort.  Aber  die  Gelehrten  ergaben  sich 
nicht  so  leicht :  Schon  Kallistratos,  ein  Schüler  des  Aristophanes 
schrieb  npbc  zäc  cn.d-ezrioziQ ,  später  Demetrios  Ixion  Tipo?  too^ 
rjö-exTjfxsvoof:  (oTt/ou?)  und  der  pergamenische  Gelehrte  Zenodotos 
der  Jüngere  axoXoYtat  Tipö?  ras  a^sTTjostc  'Aptotap/oo.^)  Neben 
den  Zeichen  kannte  das  spätere  Altertum  zahlreiche  aristarchische 
o;ro{ivr^[xaTa  •*),  vermutlich  zum  grossen  Teile  Kollegienhefte,  die 
seine  Schüler  nachschrieben.^)  Eine  Anzahl  derselben  schloss 
sich  an  die  Ausgabe  des  Aristophanes  an^),  weil  Aristarch 
damals  wahrscheinlich  noch  keine  eigene  veröffentlicht  hatte. 
Von  seinen  aoYYpäiAjxaia,  die  Didymos  (zu  B  111)  bestimmt 
davon    scheidet,   richteten    sich   einige   gegen    den   Zenodoteer 

machte  O.  Carnuth  Lpg.  1870  die  Arbeit.  Vgl.  Lehrs  Arist.  *  1  ff.  Bec- 
card  de  scholiis  Venetis  p.  11  ff.  Römer  Jahrbb.  119,  88  ff.  Friedländer, 
(Ind.  1.  Königsberg  1876.  1879)  bewies,  dass  ein  Fragment  im  codex  Venetus, 
welches  Cobet  Mnemos.  n.  s.  1,  28  ff.  und  D  indorf  Schol.  II.  1  p.  1  f. 
der  Vorrede  des  Aristonikos  zuteilen,  nichts  mit  ihm  zu  thun  hat.  Suidas 
erwähnt  noch  eine  Schrift  nep\  xwv  xrji;  'IXtaSoc  aauviaxTcuv  övofxatcov.  — 
Verloren  ist  Philoxenos'  Schrift  Tcepl  ofjixetcuv  tojv  ev  xf/  'IhMi  (Said.). 
Dasselbe  Thema  behandelten  andere  Aristarcheer  gelegentlich  (Ribb eck  Phi- 
lo!. 8,  666). 

1}  L.  Schwidop  de  versibus  quos  A.  in  Homeri  Iliade  obelo  signavit, 
Kegim.   1862. 

2)  Cobet  miscell.  crit.  p.  225  ff.  Ueber  die  alexandrinische  Aesthetik 
Ed.  Müller  Geschichte  der  Theorie  der  Kunst  bei  den  Alten  II  225  ff. 

8)  Hiller  Philol.  28,86  ff. 

4)  Suidas  sagt:  li-^txai  U  Ypi'^ai  onep  to  ü7:ofivT^|xdtü>v  iiöviuv  (d.  h.  aus- 
ser anderen  ü»)cr  800  exegetische  Rollen) ;  diese  hohe  Zahl  erklärt  sich  leicht 
daraus.  da«.s  den  Kommentar  zur  Ilias  und  Odyssee  allein  48  Rollen  bildeten. 

6)  Daher  whieden  die  Alten  zwischen  genauen  und  weniger  sorgfältigen 
(Sohol.  H   III.  II   l.30j  und  schätzten  die  ooYYpa|M'-aTa  höher. 

0)  Schol.  A  B  488,  vgl.  zu  <l>  131.  v  162. 


Die  homerischeu  Epeu.  137 

Philetas  ^)  und  gegen  Komanos.  ^)  Von  seinem  Gegner  Kr at es 
von  Mallos  können  wir  wenig  rühmliches  sagen,  ausser  dass  er 
in  seinen  neun  Rollen  umfassenden  Siop^wtixa  Aristarch  manchmal 
geschickt  bekämpfte  und  in  der  Lästrygonenfabel  mit  Scharf- 
blick eine  Spur  der  langen  nordischen  Wintertage  erkannte; 
aber  er  war  der  erste  Gelehrte,  der  auf  die  unglückliche  Idee 
der  Philosophen  einging,  in  Homer  lägen  die  Keime  aller 
Wissenschaften.  ^) 

Die  spätere  Literatur,  an  der  besonders  die  Aristarcheer 
beteiligt  waren,  ist  bei  der  Fülle  von  wenig  bedeutenden  Schriften 
und  kaum  bekannten  Verfassern  weder  rein  chronologisch  dar- 
zustellen, noch  auch  hier  zu  erschöpfen,^)  Wir  geben  daher 
blos  eine  Uebersicht  der  Kategorien  mit  den  nennenswerten 
Leistungen. 

Unter  den  kritischen  Schriften  nimmt  das  Sammel- 
werk des  Didymos,  ;rspl  ttjC  'Apiiatap/siöD  Stopö-waew?  betitelt, 
den  ersten  Platz  ein  ^) ;  er  vereinigte  hier  die  gesammteu 
Varianten  der  verschiedenen  älteren  Ausgaben,  vor  allem  der 
des  Aristarch*'),  wodurch  er  den  Späteren  das  Studium  der 
Originalausgaben  ersparte,  aber  auch  so  ihren  Untergang  herbei- 
führte.    Indes  schöpfte  Didymos   selbst  vielleicht  teilweise  aus 


1)  Schol.  A  524.  ß  111. 

2)  Schol  A  97.  ]}  798.  ii  110.  Vou  seiner  Schrift  irspl  'Ih.äooz  xal 
'Ooüooetai;  (Schol.  I  349)  wissen  wir  nichts  näheres;  Mure  history  of  the 
language  a.  lit.  of  autient  Greece  II  121  A.  3  bezieht  sie  auf  die  Chorizon- 
tenfrage.  Dann  wäre  sie  wohl  identisch  mit  der  Abhandlung  Tipoc  tö  Sevcu- 
vo?  Tzapäoo^oM  (Schol.  M  435).  lieber  eine  Schrift ,  die  den  Schiffskatalog 
behandelte,  spricht  B.  J.  Gödhart  de  Aristarchi  commentatione  Ttspl  xoö 
vaoota^[xou  iustauranda,  Traiecti  1879  (Diss.). 

3)  C.  Wachs muth  de  Gratete  Maliota,  Lpg.  1860,  Nachtrag  Philol. 
lö,  666.  Repliken  von  Dionysios  Thrax  (Schol.  A  I  464)  und  Parmeniskos 
(Et.  M.  V.  "Apju),  vgl.  Schol.  Eur.  Rhes.  515  [524]. 

4)  Fabricius  bibl  graeca  I'''  502 — 27 ;  Heynes  Ausgabe  der  Ilias  III  p. 
LIII  ff. 

5)  Didymi  frg.  coli,  et  disp.  M.  Schmidt,  Lpg.  1854  p.  112—214,  not- 
wendig zu  ergänzen  durch  J.  La  Roche  Didymus  über  die  arist.  Recension 
der  hom.  Gedichte,  Triest  1859;  A.  Lu  d  wi  ch  Didymi  ti.  zr^  'A.  8.  frg.  ad 
II.  A,  Königsb.   1865,  2  Progr. 

6)  Ueber  seine  Quellen  Lehrs  Arist.  stud.  '''15  ff.;  nach  Sengebusch 
drei  Artikel,  Berlin  1875  benützte  er  die  erste  Ausgabe  des  Aristarch,  dage- 
gen Aristonikos  die  zweite  (diss.  Hom.  1,  27  ff.) 


iQQ  3.  Kapitel. 

abgeleiteten  Quellen.  *)  Er  besprach  die  Lesarten  einsichtig; 
und  wahrte  gegenüber  Aristarch  sein  selbständiges  Urteil.  ''^)  Die 
gleichnamige  Sciu-ift  des  Ptolemaios  von  Askalon  ^)  und  Tryphons 
Buch  itBpl  ap'/aiac  avaYvwasw?^)  verfolgten  wahrscheinlich  ein 
ähnliches  Ziel.  Ammonios,  Aristarchs  Nachfolger,  behandelte 
eine  kritische  Detailfrage,  die  P^xistenz  von  zwei  aristarchischen 
Ausgaben. '")  Von  grösserer  praktischer  Bedeutung  waren  die 
Untersuchungen  über  Prosodie  (d.  h.  Accent  und  Spiritus)  und 
Wort-  oder  Satztrennung,  seitdem  jene  Zeichen  eingeführt  und 
<he  continua  scriptura  aufgegeben  war.  Jene  behandelte  nach 
Heleukos^),  Tyrannion  ^)  und  Famphilos  *)  der  ausgezeichnete 
Grammatiker  Herodianos  in  der  'OfiYjptXTj  zpoat^Bioi,  einem 
Teile  seiner  umfassenden  xaO-oXtx-?j  7:poocj)5ia,  woher  die  homerischen 
e;rt{jispt'5[xo'l,  die  seinen  Namen  tragen,  stammen;  der  byzantinischen 
Zeit  gehören  bereits  die  pseudoherodianischen  T/p[AaTia{j.ol 
'0[i-Tjp'.*/.o'l  und  andere  Epimerismen  zur  Ilias  in  Cramers  Anec- 
dota  Parisina  111  294—370  an.  ^)  Da  die  Zahl  der  ausge- 
storbenen Wörter  gross  war  und  die  Analogie  oft  täuschte,  ging 
es  ohne  Missgriffe  niclit  ab,  die  eben  in  dem  Wesen  der  alten 
Grannnatik  begründet  waren.  Oros  von  Milet  scheint  Nach- 
träge zu  Herodian  gegeben  zu  haben.  ^^)  Ebenso  bescheiden 
und  mühsam,    aber   fast    noch   notwendiger  .war  das  Bemühen 

1)  8o  Beccard  de  scholiis  Veuetis  p.  53  f.  gegen  Lahrs;  Bernhardy  II 
'1,  197  schiebt  das  Schwankeu  der  Angaben  anf  die  Excerptoren. 

2)  Lehr»  24  f.     Beccard  p.  34  adn.  44. 

3)  nach  Lehrs  25  *  mehr  orthographischer  Natur. 

4)  Stichle  Philol.  6,  473. 

6)  K«pl  Toö  |ji7j  YS'fovevat  nksiovoLq  exSooeic  t-rjc  ^ Apioza^y zioo  S'-opö-tuOcCui; 
(Schol.  K  397).  Lehrs  *23  deutet  unwahrscheinlich  ^rXs'lovac  „mehr  als 
zwei";  denn  Schol.  T  365  heisst  die  Schrift  jrepl  tt]?  ETtsxootS-stofjc  Stop- 
bmototr,. 

6)  Nicanor  zu  A  211.     T  57.  I  32. 

7)  H.  Planer  sammelte  die  Fragmente  seiner  '()|jLY]ptx7]  :rpoo(uSia  in  der 
Dw«ertation  de  T.  granunatico,  Berlin  1862. 

8)  Lehrs  Arist.  ^29;  Beccard  schol.  Ven.  p.  77,  früher  bezweifelt. 

9)  Das  ganne  Material  liegt  in  dem  gros.sen  Werke  von  Lentz  „Hero 
diani  technici  fragmenta"  (Lpg.  1867—70  2  Bde.)  gesammelt  Tor;  früher  wa- 
ren die  Gelehrten  anf  Lehrs  Herodiani  scripta  tria,  Regim.  1848  und  Lentz 
l'hilol,  21,  390  ff.  angewiesen;  vgl,  O.  Carnuth  de  Etym.  M.  fontt.  IL  de 
«M  loci«  qni  ex  Herod.     II.   pros.    in  Et.  M.  translati  snnt,  Jever    1876  (Fr.) 

10)  Etym.  Flor.  v.  Kpsiov  p.  195.    Zenobios  oder  Zeuodotos  beutete  Hero- 
dian aus.     (Lentz  Philol.  21,  385  ff.) 


Die  homerischen  Epen.  139 

des  gleichzeitigen  Nikanor^),  eine  riclitige  Wort-  und  Satz- 
trennung herzustellen;  selbst  Grammatiker,  wie  der  Verfasser 
des  von  Hesychios  ausgebeuteten  Glossars  ^) ,  nahmen  an  den 
wunderlichsten  Compositis  keinen  Anstoss.  In  byzantinischer 
Zeit  nahm  Kometas^)  sein  Werk  wieder  auf. 

Nicht  minder  eifrig  betrieben  die  Grammatiker  die  Exegese 
der  homerischen  Gedichte.  Unseren  Kommentaren  entsprachen 
am  ersten  die  DTrojivvj^ata,  von  denen  wir  blos  die  des  Aristo- 
nikos"*)  und  Didymos  nennen;  die  meisten,  Arbeiten  von  weniger 
bedeutenden  Gelehrten ,  fallen  in  die  Kaiserzeit  und  besit/.en 
für  unsere  Scholien  wenig  Bedeutung.  Die  vom  Texte  mehr 
unabhängigen  'j6[X[JLiXTa  (von  Philemon)  und  [AsXsrat  (von  Plutarch 
in  mindestens  zwei  Büchern)  führen  zu  der  sonderbaren  Klasse 
der  a/Toptat,  TtpoßXrjjiaTa  und  C^/Tiijoetc  mit  den  dazu  gehörigen 
Xöosic.  ^)  Bei  den  Gelehrtendiners  vergnügten  sich  nämlich  die 
Gäste  mit  der  Aufwerfung  spitzfindiger  Fragen,  welche  be- 
sonders irgendwie  auffäUige  Stellen  bei  Schriftstellern  betrafen*'); 
die,  welche  ein  förmliches  Geschäft  daraus  machten,  hiessen 
kyni(y.z'.Y.oi  und  XoTtxot.  Den  Reigen  hatten  natürlich  die  Philo- 
sophen ,  Aristoteles  mit  sechs  Büchern  aTropTjjxata '')  und  der 
pontische  Herakleides  mit  Xoasic  eröffnet.  Unter  den  zünftigen 
Gelehrten  war  blos  der  jüngere  Zenodot  hier  literarisch  thätig^); 
erst  die  Kaiserzeit  brachte  die  Strömung  in  regeren  Fluss;  an  der 


1)  Beccard  de  schol.  Veu.  p.  35  ff".  Ueber  seine  Zeit  Wackerna- 
gel Rhein.  Mus.  31,  432  It".  Für  die  Ilias  sammelte  Friedländer  Königsbg. 
1850,  für  die  Odyssee  Carnuth  Königsb.  1875  seine  Fragmeute.  Friedländer 
gab  p.  1 — 137  ein  ausführliches  Bild  seiner  Thätigkeit,  das  Carnuth  p.  15  ft'. 
für  die  Odyssee  ergänzte.  Nikauor  benützte  Aristarch  vielleicht  nicht  mehr 
direct  (Friedläuder  p.   104  f.") 

2)  Z.  B.  «fj-tflpsEÖ-pa,  KOf/i'/^r/.'kv.ov  ;  sehr  ergötzlich  ist  die  Lesart  Siä  zz-i\- 
TYjv  spiaavTo  A  6,  was  heissen  soll:  „Sie  stritten  wegen  eines  Weibes." 

S)  Anthol.  Pal.  16,  38,  2.  Villoison  An.  Gr.  II  138  f,;  wahrschein- 
lich  ist  er  der  seit  856  zu  Konstantinopel  lehrende  Professor  dieses  Namens. 

4)  Beccard  p.  20  f.,  vgl.  Kibbeck  Philol.  8,  656  ff. 

5)  Lehrs  Arist.     H99  ff.     Schrader  Porph.  quaestt.  p.  368-441. 

6)  Porphyr,  zu  I  682. 

7)  s.  S.  134.  Nach  dem  Vorbilde  ihres  grossen  Meisters  beschäftigten  sich 
die  Peripatetiker  gei-ne  mit  spitzfindigen  Problemen. 

8)  XuoEcc  'OfiYipixwv  ZritriiKaTüiv,  vgl.  Schrader  Porphyr,  p.  431  f. 


24Q  3.  Kapitel. 

Spitze  stellen  im  dritten  Jahrhundert  Cassius  Longinus^)  und 
sein  Schüler  Porphyrios,  von  dessen  ^fizii\mzrf.  'OjXYjpixa  unsere 
-Scholien  nur  zu  viel  erhalten  haben.  ^)  Eng  damit  hingen  die 
allegorischen  Erklärungsversuche  zusammen,  weil  die  Philo- 
sophen nicht  blos  auffällige  Mythen  physikalisch  deuteten, 
sondern  auch  Widersprüche  allegorisch  lösten.  Wie  wir  oben 
sahen,  gehen  derartige  Versuche  in  frühe  Zeit  zurück;  in  der 
alexandrinischen  Zeit  verwerteten  besonders  die  Stoiker  die 
Methode.  Wir  kennen  aber  blos  späte  Proben  dieser  Thätigkeit, 
zunächst  die  Allegorien  eines  etwa  unter  Augustus  lebenden^) 
Philosophen,  der  sich  unter  dem  Namen  des  Herakleitos*) 
als  des  Dunkeln  verbarg  und  ein  grösseres  Werk  eines  Stoikers 
benutzte^);  viele  Abschnitte  gingen  hi  die  jüngeren  Ihasscholien 
über.  ®)  Die  Byzantiner  verfertigten  mit  grosser  Vorliebe  Alle- 
gorien^),;  ein  grosser  Teil  davon  ist  ungedruckt  und  mag  es 
bleiben. 

Der    fortlaufenden    Erklärung    dienen    endlich    noch    die  ■ 
Metaphrasen     und    Paraphrasen,     anfangs     rhetorische  J 

1)  Eine  Probe  seiner  TtpoßX-finaxa  findet  man  in  Cramers  Auecd.  Oxon 
I  83. 

2)  Porphyrii  scholia  Homerica  emendatiora  ed.  E.  Kammer,  Königsberg 
1863;  am  vollständigsten  mit  einem  eines  besseren  Gegenstandes  wür- 
digen Fleisse  von  H.  Schrader  Lpg.  1882  herausgegeben  (Vgl.  dazu  A.  Kö- 
rne r  Jahrbb.  123,  1  ff.).  Die  Einzelschrift  „über  die  Nymphengrotte"  .steht 
am  besten  in  Herchers  Ausgabe  des  Äliau  (Paris  1858).  Nach  Suidas  schrieb 
Porphyrios  auch  nepl  rrfi  '0|J.-fipou  tptXooocp'a;  und  uspl  tfj;  et  H)jj.-fjpou 
iu'fE/.sta^  tdiv  ßaoiXeu)V  ßtßXia  L 

3)  Osann  quaest.  Hom.  V  6  f. 

4)  Früher  nannte  man  ihn  fälschlich  Herakleides. 
6)  Schrader  Porphyr,  p.  393  ff.  402  ff.     In    neuerer    Zeit    ungenügend 

herausgegeben  von  Matrauga  Anecd.  Gr.  I  (1850)  296—361  und  Mehler,  Leiden 
1861;  für  eine  neue  Ausgabe  ist  der  Cod.  Oxon.  nov.  coli.  298  (Lud  wich 
Rhein.  Mos.  1882  S  484  ff.)  sehr  wichtig;  zur  Emendation  vgL  H.  J.  Pola  ck 

«d    Odysseam  eiu»(ine  scholiastas  curae  secundae  H.  2. 

6)  Schrader  Porphyr,  p.  362.  407. 

7)  Z.  B.  Michael  Psellos,  Allegorie  auf  die  Nymphengrotte  (L.  AUatius 
<le  Psellis  p.  48) ;  Nikephoros  Gregoras ,  moralische  Odyssee  (Opsopoeus  Ha- 
genau  1681,  Jo.  Columbus  LB.  1745,  Matranga  An.  Gr.  II  525  ff'.,  vgl.  Philol. 
8,  756  ff.);  Jo  Tzetzes  ÖTtoO'eai?  &XXYjY«>p"^9'Eioa  zur  Ilias  uud  Od.  a — v  (Ma- 
tranga Anecd.  Gr.  I.,  zur  Hins  auch  Boissonade,  Paris  1851);  Verschiedenes 
bei  Matranga  II.  zur  Odyssee  Anecd.  Paris  II 208,  8—214,  7  (später  als  Diktys) 
o.  s.  w. 


Die  homerischen  Epen.  141 

UebuDgsstücke ,  bald  aber  ein  Hilfsmittel  der  Exegese.  Von 
jener  Art  gab  Plato  in  seinem  Staat  (3,  393  d  e  und  394  a)' 
meisterhafte  Proben  und  wurde  so  zum  Vorbilde  der  jüngeren 
Sophisten,  unter  denen  sich  Prokop  von  Gaza  (Phot.  cod.  160) 
und  der  jüngere  Philostratos  (c.  10)  hervorthaten.  ^)  Die 
{j-sTa^paatai '^)  verfolgten  dagegen  einen  kommentatorischen 
Zweck  ^);  als  der  erste,  so  viel  wir  wissen,  verfasste  der  Gram- 
n>atiker  Demosthenes  Thrax  jxetaßoXal  'OSooasiac,  die  eine 
wichtige  Quelle  für  Eustathios  wurden.  Je  weniger  die  Byzan- 
tiner Homer  verstanden,  desto  mehr  hielten  sie  sich  an  solche 
Eselsbrücken ;  die  Gebildeteren  unter  ihnen  gebrauchten  noch  alt- 
griechische Paraphrasen,  als  aber  die  Vulgärsprache  auch  eine 
literarische  Bedeutung  gewann,  entstanden  selbst  vulgärgriechische 
Paraphrasen.  ^)  Obwohl  jene  für  die  Kritik  des  Textes  und  der 
Schollen^)  Bedeutung  haben,  sind  sie  noch  fast  gar  nicht 
verwertet. 

Zu  diesen  allgemeineren  Arbeiten  tritt  endlich  eine  Fülle 
von  Monographien  über  sachliche  und  sprachHche  Themata. 
Niemand  behandelte  die  Sprache  Homers  im  Zusammenhang; 
denn  seitdem  Demokrit  (in  XEpl  '0{jL7jpoo  y)  opO-osTceiYjc)  und 
Protagoras  sie  von  logischen  Gesichtspunkten  aus  betrachtet 
hatten,  fand  sie  bei  den  Grammatikern  in  der  Regel  nur  mit 
der  gewöhnlichen  Sprache  verbunden  eine  Bearbeitung,    einzig 

1)  Aristeides  gibt  in  seineu  xr/^vat  pr^Topixa:  (1,14)  eine  Anweisung  dazu; 
der  ältere  Seneca  (suas.  1,12)  nennt  einen  Rhetor  Dorion. 

2)  Schol.  vulg.   A  232  u.  ö. 

3)  Valckenaer  opusc.  2,  116.  Lehrs  Pindarscholien  54  ff.  Suidas 
erwähnt  aueh  eine  Paraphrase  der  Ilias. 

4)  Von  altgriechischen  teilt  Villoison  hinter  seinem  Apollonius  Sophista 
Proben  mit ;  Bekker  gibt  eine  Pariser  Paraphrase  als  Appendix  der  Iliasseho- 
lien;  Monographien:  Wassenbergh  Homeri  II.  1.  I.  et  II.  cum  paraphr. 
Graeca,  Franeckerae  1783  und  E.  Schmidt  dr  Iliadis  paraphr.  Bekkeriana 
et  metaphrasi  Villoisoniana,  Königsberg  1875.  Vulgärgriechisch:  Ilias  in  po- 
litischen Versen  von  Nikolaos  Lukanos,  Venedig  1526.  1640,  neu  von  Legrand 
Paris  1870;  Nie.  Theseus,  Florenz  1811;  Konst.  Hermoniakos  in  2945  Acht- 
silbern (Nicolai,  Gesch.  der  neugriech.  Literatur  S.  04),  ungedruckt  eine  dem 
Michael  Psellos  zugeschriebene  Paraphrase  der  Ilias  (L.  Allatius  de  Psellis  p. 
48  f.  Villoison  proll.  in  II.  p.  16  not.  p.  42)  und  eine  andere  zu  den  ersten 
fünf  Büchern  der  Ilias  in  Venedig  (Mingarelli  catal  Gr.  codd.  msst.  apud 
Nanios  ads.  p.  490  cod.  293). 

5)  Mit  den  Didymosscholien  stehen  sie  in  innigem  Zusammenhang  (Lehrs- 
wissensch.  Monatsblätter  IV  H.  3). 


1^2  3.  Kapitel. 

den  grossen  Dialektologen  Tiyphon  ausgenommen,  der  in  seinem 
siebenbändigen  Werke  Tuspt  twv  Traf/  'ü{jLrjp(j>  xal  XifwöviS-fj  xal 
Il'.vSapy  xal  'AXx[Aävi  xal  toi?  aXXotc  Xopcxoi?  StaXsxxwv  den 
homerischen  Dialekt  wahrscheinlich  gesondert  behandelte.  ^)  Er 
verfiel  gerade  auf  dieses  Thema,  weil  sich  die  Alten  den 
homerischen  Dialekt  mosaikartig  aus  den  Mundarten  zusammen- 
gesetzt dachten.  ^)  Wir  besitzen  ferner  byzantinische  Regeln 
über  die  Konjugation.^)  Hingegen  betrieb  die  alte  Philologie 
mit  rühmlichem  Eifer  die  Sammlung  und  Erklärung  dunkler 
und  seltener  Wörter,  An  die  erwähnten  voralexandrinischen 
Glossen  reihen  sich  die  Glossarien  des  Zenodot  und  Philetas^); 
die  Xs^stc  des  Aristarch  ^)  excerpierten  erst  seine  Nachfolger  aus 
ozo[jLV7j[xaTa.  Während  dieser  Homer  aus  Homer  erklären  wollte, 
zog  Krates  die  Dialekte  und  sogar  asiatische  Sprachen  heran  ^, 
Bestrebungen,  die  sein  Anhänger  Zenodot  von  Mallos  in  den 
sd-vtxal  Xi^eiQ  fortsetzte. '')  Auch  die  Jüngeren  standen  nicht 
zurück:  Seleukos  6  '0[jnrjptxöc ^) ,  der  Antisemit  Apion  unter 
Tiberius  —  eine  in  der  Geschichte  der  Reklame  wichtige  Per- 
sönlichkeit, liess  sich  doch  selbst  Wolf  über  seine  Bedeutungs- 
losigkeit täuschen^)  — ,  Philoxenos  von  Alexandrien^''),  Basi- 
leides*^)  und  andere  verfassten  homerische  Glossare.  Im  Auszuge 
sind  noch  die  ausführlichen  Schriften  des  Zenodoros  xepl  ttj? 
'Oftr^poo  oovrjO-sia«;  (10  Bücher  über  das  Verhältnis  der  homerischen 


1)  A.  V.  Velsen    stellte    Berlin    1863    seine    Fragmente   zusammen,    vgl. 
Stiehle  Philol.  6,  649. 

2)  Auf  die    Spitze   getrieben  ist    diese  Vorstellung  in  den  fKiboQfui  xaxä 
KÖX«t^  (Bekker  an.  Gr.   1096). 

3)  Matranga  anecd.  II.  536—51. 

4)  Dieser  behandelte  in  seinen  '(kiho^rx.:  «Taxioi  die  homerischen   Wörter 
nnr  ueben1>ei. 

5)  Schol.  A  423.     U    125.     435  u.  ö.     Diese  lexikalischen   Excerpte   be- 
nützten wahrscheinlich  Hesychios  und  ApoUonios. 

0)  Wachsmuth  Philol.  16,  666. 

7)  M.  Schmidt  Kuhns  Zeitschrift  9,  296  f. 

8)  M,  Schmidt  Philol.  3,  436  flf. 

9)  Lehr 8  qnaestt.  epicae  p.  1  ff. 

10)  Said.;  Serenoa  verfertigte  einen  Auszug  (Said.  o.    Ssp-rjvoc). 

11)  Ktpl  'OjAYjp'.xf,':   >.g;s<u;  oder  —  d»v  —  eu>v,    von    Kratinos  ausgezogen 
(Et.  M.  p.  142,  28  und  Et.  Paris.  An.  Par.  IV  61,  16). 


Die  homerischen  Epen.  143 

Sprache  zur  helleuistiscben)  ^)  und  des  Loiiginos  Jtspl  twv  rcap' 
''OixT^pc})  TtoXXä  07]|xa'.V0D0ü)v  Xs^swv  S'  erhalten.  ^)  Sonst  müssen 
wii-  uns  mit  den  Excerpten  alter  Glossare ,  die  im  Hesychios  ^) 
und  den  Etymologika  stecken  ^),  einem  Lexikon  des  ApoUonios 
Sophistes^),  des  Lehrers  von  Apion,  und  angeblich  apionischen 
fXwaaai  'OjiYjptxa'l  ^)  begnügen. 

A^on  den  zahlreichen  Einzelschriften,  welche  die  homerischen 
Realien  besprachen,  können  wir  bei  ihrer  ausserordentlichen 
Fülle  nur  einige  Proben  geben.  Ueber  homerische  Rhetorik 
handelten  Telephos  von  Pergamon  (unter  Hadrian)  '^),  ausserdem 
mehrere  erhaltene  Traktate^)  und  der  zweite  Teil  der  früher 
erwähnten  pseudoplutarchischen  Biographie,  über  Philosophie 
Herraogenes  von  Smyrna  und  Porphyrios,  über  Mathematik 
Dionysios  der  Phaselit.  ^)  Die  geographischen  Fragen  der  Ilias, 
speziell  des  Schiffskataloges  besprachen  in  erster  Linie  Deme- 
ti'ios  von  Skepsis  *°)  und  etwas  später  Apollodoros  von  Athen  ^^) ; 
beide  überbot  Menogenes  wenigstens  äusserlich  mit  23  Büchern.  ^^) 
Den  Wunderländern   der  Odyssee  wandten  sich  Aristonikos  ^^), 

1)  Miller  melanges  de  litterature  Grecque  p.  407  fl". ;  Schrader  Por- 
phyr, p.  433  f.  erklärt  diesen  allerdings  sehr  dürftigen  Auszug  für  ein  byzau- 
tini.sches  Excerpt  aus  Homerscholien ,  ohne  mich  wenigstens  zu  überzeugen. 
Snidas  stellt  den  Titel  fälschlich  unter  Zyjvoooto?. 

2)  Entweder  in  den  Porphyriosscholien  oder  im  Fragmentum  glossarii 
Teteris  Graeci  ed.  Fr.  Oehler,  Halle  1849. 

3)  M.  Schmidts  Ausgabe  IV  p.  CV  flf.  V  110—55. 

4)  Das  grosse  Etymologikon  benützte  (p.  553,  7.  744,  39)  ein  nach  Ge- 
säugen geordnetes  Glossar  zur  Ilias,  das  auch  Stephanos  (Anecd.  Paris  I  298, 
11)  citiert. 

5)  Die  Schrift  ist  natürlich  nicht  in  der  ursprünglichen  Gestalt  bewahrt. 
Zuerst  vou  Villoison  Paris  1773  herausgegeben,  zuletzt  von  Bekker  Berlin 
1833;  von  Hesychios  und  Photios  benützt. 

6)  Etym.  Gud.  col.  601 — 610;  Oehler  in  dem  ob.  Progr.  von  Halle 
1849  und  Philol.   15,  328  f. 

7)  T^Jpl  xüjv  T:ap  '^Ofi.Yipü)  ayr^\i.6i.nt>v  ^7]toptxü>v  ß'.ßXta  ß'  :=  n.  tyjc  v-o.d-'' 
"OfAvipov  pYjXCip'.xYjg  Suid. 

8)  Mehrere  Schriften  iztpl  a)(Y]{j.ax<juv  oder  xfiOTituv  bei  Walz  rhet.  Gr.  VIII. 

9)  Vita  Arati  p.  61. 

10)  Fragmentensammlung  bei  Stiehle  Philol.  5,  228  ff.  6,  344  fl. 
llj  N  lese  Rhein.  Mus.  32,  267.  Ueber  das  chronologische  Verhältnis  beider 
Schriften  Unger  Philol.  41,  617. 

12)  Eust.  zu  ß  494. 

13)  TCspl  X7](;  MsvsXctou  uXävYjc  Strabo  1,  38,    nach  Friedländer    Paulys 
Kealeuc.  I  ^612. 


1^  3.  Kapitel. 

Teleplios  von  Pergamon  ')  und  vielleicht  Hypsikrates  von  Amisos  ^) 
zu.  Das  Leben  der  homerischen  Zeit  wurde  bis  in  die  kleinsten 
Kleinigkeiten  erforscht,  so  dass  z.  ß.  Asklepiades  von  Myrlea 
über  Nestors  Becher^)  und  Dorotheos  von  Askalon  über  den 
Stuhl  der  homerischen  Helden^)  schrieb,  Neoteles  ihre  Bogen- 
kunst^)  und  Polles  die  Beobachtung  des  Vogelfluges  ^)  unter- 
suchte. Ptolemaios  Epithetes  soll  sogar  über  die  bei  Homer 
ausgeteilten  Prügel  dissertiert  haben.  ^) 

Trümmer  dieser  reichen  Literatur  liegen  verdünnt  und 
verwässert  in  den  Sc  holiensammlungen  vor,  deren  Hand- 
schriften aus  den  Lexikographen  erhebliche  Bereicherung  er- 
fahren. Die  Scholien  der  IHas  beruhen  ihrem  alten  Bestände 
nach  in  erster  Linie  auf  dem  schon  erwähnten  Codex  Venetus  A, 
der  auch  noch  zahlreiche  Beispiele  der  aristarchischen  Zeichen 
aufweist.  ^)  Diese  Venediger  SchoHen  ^)  bestehen  in  Excerpten 
aus  Aristonikos ,  Didymos ,  Herodianos  und  Nikanor  wie  aus 
dem  Nachworte  der  einzelnen  Bücher  hervorgeht:  IlapaxciTai. 
Toc  'AptoTOVtxoo  OTjjxsia  xal  ta  AiSofioo  Trspl  t'^c  'ApiaTap-/eiot> 
Stopö-woeiöc,  Ttvdc  8s  xal  sx  tr^c  IXtax'^?  7:pocjci)Sta<:  'HpwSiavoö  xal 
ix  Töö  Ntxavopoc  Tcspl  (f^q  'OtxTjpr/.'^c)  ozi'([Lfic,.  ^°)  Dazu  treten 
jüngere  Auszüge  aus  Apollonios,  Herodian  und   Porphyrios^^), 


1)  unter  Hadrian  Kzpl  t-rj?  'Oouaoscoc  7:Xav*r]i;  Suid. 

2)  Sengebusch  diss.  I  12  f. 

3)  Ath.  11,  c.  78—85  u.  ö. 

4)  Snidas.  Porph.  zu  I  90.  Die  Abhandlung  bildete  ein  Buch  des  Sam- 
melwerkes iravSixtai  (Schrader  Porphyr,  p.  382). 

6)  Schol.  A  B  325. 

6)  Vielleicht  gehörte  diese  Schrift  zu  seinen  acht  Büchern  oltovooxoinx'i, 
wie  die  Monographie  über  die  tyrrhenische  Mantik ;  übrigens  ist  der  Name 
Polles  wahrscheinlich  von  dem  Seher  (Suid.  u.  Marinos  vita  Prodi  p.  24) 
entlehnt.  Nach  Porphyr,  zu  B  305  p.  33,  15  Sehr,  schrieben  mehrere  über 
denselben  Gegenstand. 

7)  So  besagt  wenigstens  unser  Text  des  Suidas. 

8)  J.  La  Roche  Text  und  Scholien  des  berühmten  Codex  Venetus  zur 
Ilias,  Wiesbaden  1862;  C.  Wachsmuth  Rhein.  Mns.  18,  178  fl'. 

9)  Beccard  de  schol iis  Venetis,  Berlin  1850. 

10)  Dindorf  Schol.   in   Hom.  II.  I.  p.  VI.     Diese  Excerptensammlnng  ent- 
stand wahrMcheinlioh  bald  nach  Herodian  (Lehrs  Arist.  *30). 

11)  .\US  den  C'')'*^,|i.aTa  und  izepl  täv  -ap'y./,j>.j'.;j.itsv<ov  xu)  Tzoir^zr^  c/vojittTcuv 
(Bchrader  Hermes  14,  231  ff). 


Die  homerischen  Epen.  145 

Glossen  und  Varianterf,  ausserdem  zahlreiche  btoptat.  ^)  San- 
guiniker hofften  für  die  Lücken  des  Codex  in  einer  Hand- 
schrift des  Athosklosters  Vatopedhi  Ersatz  zu  finden,  aber  der 
Fand  rechtfertigte  die  hochgespannten  Erwartungen  nicht.  ^) 
Aeusserlich  zerfallen  die  Venediger  Schollen  in  verschiedene 
Klassen,  die  zugleich  einen  verschiedenen  Charakter  tragen: 
Kritische  Zeichen,  ausführliche  Randscholien ,  kürzere  Text- 
schohen  (unmittelbar  neben  dem  Texte)  ^),  Glossen  und  Inter- 
linearerklärungen, endlich  Nachträge  am  Rande. 

Viel  mehr  späte  Bestandteile,  aber  doch  nicht  wenige  alte 
Gelehrsamkeit  enthält  die  zweite  Scholienklasse ,  die  das  exe- 
getische Element  mit  allegorischphilosophischem  Beigeschmäcke 
in  den  Vordergrund  stellt  und  demgemäss  Porphyrios  reichlich 
ausbeutet.  Sie  zerfällt  in  zwei  grosse  Massen,^)  von  denen  die 
ältere,  durch  Zahlen  auf  einzelne  Worte  bezogen ,  meist  gram- 
matische Bemerkungen  und  kurze  porphyrianische  Excerpte 
enthält ,  während  in  der  anderen  neben  ähnlichen  Excerpten 
ansehnliche  dem  Porphyrios  und  Herakleitos  entlehnte  Ab- 
schnitte erscheinen.  Spätere  fügten  einige  grammatische  Aus- 
züge hinzu.  Als  Repräsentanten  dieser  Klasse  nahm  Dindorf 
den  Codex  Venetus  B  an,  wogegen  Römer ^)  nachwies,  dass  die 
scholia  Victoriana  oder  richtiger  das  von  ihrem  Schreiber  nach- 
lässig kopierte  Original^),  die  scholia  Townleiana  die  Grundlage 
bilden  müssen.  Zu  derselben  Klasse  gehören  die  Leipziger 
Schollen'^)  und  eine  Gruppe,  die  auf  gemeinsamer  porphyriani- 


1)  Schwartz  de  scholiis Homericis  ad  historiam  fabularum  pertinentibus 
Jahrbb.  Suppl.  12,  403  ff.  nimmt  einen  mythologischen  Iliaskommentar  als 
Quelle  an. 

2)  Dindorf  füllt  die  Lücken  damit  aus;  seine  Angaben  berichtigt  Tour- 
nier  revue  crit.  1877  11  nov.;  vgl.  auch  Ludwich  Rhein.  Mus.  32,  184  flf. 
Duchesne  archives  des  missions  scientif.  et  litt.  II  3,365  ff. 

3)  Römer  Sitzungsber.  der  bayer.  Akad.  phil,  Cl.  1875  IT  241  ff.  In  den 
Randscholien  überwiegen  Herodian  und  Nikanor,  in  den  Textscholien  Aristo- 
nikos  und  Didymos. 

4)  Hiller  Jahrbb.  97,  801  ff.     Schrader    philol.    Anz.   1878  S.  607  ff. 
6)  de  scholiis  Victorianis,  München  1874  und  die  exeg.  Scholien  der  Ilias 

im  cod.  Ven.  B,  1879. 

6)  Thiersch  acta  phil.  Mon.  II  561  ff.  Proben  bei  Cramer  An.  Paris. 
III  270  f.  und  Dindorf,  der  eine  vollständige  Collation  besitzt. 

7)  e  codice  Paulinae  ed.  L.  Bachmann,  Lpg.  1835 — 8  H.  1—3  (bis  P). 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  10 


J46  3.  Kapitel. 

scher  Basis  ruht.*)  Die  am  frühesten  bekannten  Scholien ,  die 
jetzt  den  Namen  des  Didymos  führen,  sind  fast  wertlos^). 

Eine  Gesammtansgabe  aller  dieser  Scholien  unternahm 
Bekker  Berlin  1825  in  zwei  Bänden,  eine  zu  ihrer  Zeit  sehr 
verdienstvolle  aber  jetzt  nicht  mehr  genügende  Arbeit^).  W. 
Diudorf  hat  eine  neue  nach  Handschriften  gesonderte  Bearbei- 
tung begonnen,  die,  wenn  sie  auch  nicht  befriedigt,  immerhin 
das  Material  sehr  bereichert.  Die  beiden  ersten  Bände  enthal- 
ten die  Scholien  des  codex  Venetus  A,  der  dritte  und  vierte 
die  des  codex  B*). 

Für  die  Scholien  der  Odyssee  gibt  es  keine  Haupthand- 
schrift^),  doch  sind  die  Marciana  (zu  a — S),  Harleiana^),  Ham- 
burgensia  und  Palatina  (zu  8 — yj)  nennenswert.  Die  Hauptaus- 
gabe nach  Buttmanns  Versuch^)  rührt  ebenfalls  von  W.  Diu- 
dorf her  und  ist  noch  weniger  befriedigend^). 

Eine  kritische  Ausgabe  sämmtlicher  Homerscholien  dürfen 
wir  von  A.  Ludwich  hoffen ;  Proben  liegen  bereits  in  den  Auf- 
sätzen Scholia  ad  Odysseae  1.  XIH.  e  codd.  Veneto  et  Mona- 
censi  (Königsb.  1870)  und  ,,über  den  codex  Hamburgensis  der 
Odysseescholien"  (Rheni.  Mus.  N.  F.  33,  439  ff.)  vor. 

Vor  der  Auffindung  der  Venediger  Scholien  stand  der 
Kommentar  'des  Eustathios^) ,  TuapsxßoXal   elc  tt^v  'Ojivjpoo  'IXtaSa 


1)  Leidensis  Voss.  64  (Schiader  Porphyr.  S.  357  ff.),  Scorialensis  ii  I 
12  (Miller  catul.  462,  Dindorf  IV  409  flf.),  Harleianus  (Dindorf  Philol.  18, 
341  flf.),  Mos<iuensi,s  s.  synodi  75  (Matthäi  Syntip.  fab.  p.  XIII.  81  flf.)  und 
Etonensis  (Nöhden  de  Porph.  schol.  in  Hom.  Göttingen  1797  p.  1.  2.  30  flf.). 

2)  Nachträge  zu  Bekker  Philol.  9,  385  flf.  11,  168  flf.  Ruelle  Archives 
des  miss.  scientif.  III.  2,  572  ff.  Erst  Asulanus  benannte  sie  .so  (Dindorf 
Schol,  in  Od.  I  praef.  p.  XV). 

3)  Pluygers  de  carmm.  Horter.  veterumque  in  ea  schol retrac- 

tauda  editione,  Leiden  1847. 

4)  Die  Recensionen  von  Lud  wich  Rhein.  Mus.  32,  l  ff.  160  ff-  und  Rö- 
mer Jahrbb.   113,433  ff.   117,  533  ff.  sind  dazu  unerlässlich. 

6)  Karajan  über  die  Handschriften  der  Odysseescholien  (Sitznngsber.  der 
Wiener  Akad.  htst.-phil.  Kl.  22,  264—333)  SA.  Wien  1857. 

6)  Facsiinile  in  Hayraan  the  Odyssey  I,  London  1866. 

7)  Schol.  ant.  in  Hom.  Od.  Berlin   1821. 

8)  Oxford  1855  2  Bde.;  Zusätze  von  J.  La  Roche  Philol.  16,699  ff.  20, 
711  ff.;  Max  Iskrzycki  Ztsch.  für  öst.  Gyiun.  1877  S.  83  ff.  gab  Proben 
einer  interessanten  Krakauer  Handschrift.  Kritisches  in  J.  Polack  observa- 
tioues  ad  scholia  in  Honieri  Odysseani,  Leiden   1869. 

9)  Erzbisphof  von  Saloniki,  von  1160  bis  gegen  Ende  des  12.  .lahih. 


Die  homerischen  Epen.  147 

('OSüa^stav)  betitelt,  in  hohem  Ansehen^).  Seine  Hauptquelle  ist 
ein  den  alten  Schollen  entsprechender  Kommentar,  den  er  bald 
mit  oc  izcfXaioi  bald  mit  dem  Namen  des  Apion  und  Herodoros 
bezeichnet;  aus  eigener  Lektüre  verband  er  damit  Notizen  der 
,, Techniker"  Herakleides,  Herodian  und  Choiroboskos,  wie  auch 
von  Lexikographen  und  Antiquaren^).  Seine  Kolle  ist  in  der  Ho- 
merkritik jetzt  ziemlich  ausgespielt,  wenngleich  in  der  Geschichte 
der  Philologie  sein  Name  mit  Achtung  genannt  werden  muss 
und  sein  Kommentar  für  die  Kritik  der  Schollen  erheblichen 
Wert  besitzt.  Des  Tzetzes  s^tjyyjok;  sie;  tyjv  'OjiTjpoo  'IXtäSa^) 
und  das  elende  Machwerk  von  Manuel  Moschopulos*)  ver- 
dienen kaum  Erwähnung. 

Hinter  dieser  ungeheueren  Literatur  bleibt  die  Thätigkßit 
der  neueren  Zeit  nicht  zurück;  leider  stehen  jedoch  die  erzielten 
Resultate  mit  der  unübersehbaren  Menge  von  Ausgaben,  Disser- 
tationen, Programmen  und  ganzen  Büchern  nicht  in  gesundem 
Verhältnisse.  Wir  besitzen  zunächst  noch  keinen  genügenden 
Kommentar,  sondern  nur  Ansätze  und  Vorarbeiten  dazu.  Nä- 
gelsbach lieferte  die  bekannten  schönen  aber  einseitigen  Anmerk- 
ungen zu  den  ersten  drei  Büchern  der  Ilias^).  Nitzsch'  Arbeit^) 
erstreckt  sich  blos  über  die  erste  Hälfte  der  Odyssee  und  ist  jetzt 
veraltet.  Die  kürzeren  Anmerkungen  der  Ausgaben  von  Ameis- 
Hentze'),  Fäsi-Kayser-Franke^),  La  Roche^;,  Düntzer^*'),  Pierron^^) 


1)  Ausgabe  von  Maiorauus,  Rom  1-542 — 50  4  Bde.  mit  Index  des  Deva- 
rius ,  wiederholt  von  Stallbaum,  Lpg.  1825 — 30.  Eine  grössere  Ausgabe  be- 
gann A.  Politus  (vol  I— III.  zu  A-E,  Flor.  1730—5).  Vgl.  Keil  Rheiu.  Mus. 
6,  132  f.  Lehrs  Arist.  stud.  387  ft'.  Schol.  0  324  citiert  ot  Y^">aaoYpa«pot 
ri'iow  'Airttov  xal  'HXtoStopoc  (so  lautet  die  richtige  Form). 

2)  Darunter  Aristophaues  und  Sueton  (L.  Cohu  de  A.  Byz.  et  S.  Tran- 
quillo  Eust.  auctoribus  Jahrbb.  Suppl.  12,  285  tf.) 

3)  nur  zu  A  1 — 102,  mit  Draco  von  G.  Hermann  Lpg.  1812  herausgege- 
ben, auch  hinter  den  Scholia  Lipsiensia  Iliadis  von  Bachmann. 

4)  bei  Bachmann  a.  O.  lieber  die  byzantinischen  Kommentare  C.  Sa- 
thas  Annuaire  de  Tassoc.  pour  l'enc.  des  etudes  gr.9,  187  fi". ' 

5)  Nürnberg  1834.  '^1864. 

6)  Erklärende  Anmerkungen  zur  Odyssee,  Hannover  1826 — 40  3  Bde. 

7)  Lpg.  1856  ff.  u.  ö.  Ilias  1870  ff.,   vorläufig  B.   1—18. 

8)  Berlin  1849  ff.  u.  ö. 

9)  Ilias  Lpg.  (Berlin)  1870  ff.  '-'1877  ff'. 

10)  Ilias  Paderborn  1866  ff.  u.  ö.     Odyssee  1863  ff.  u.  ö. 

11)  Odyssee,  Paris   1875,  2  Bde. 

10* 


l^  8.  Kapitel. 

und  Hayman*)  besitzen  jede  ihre  besonderen  Vorzüge.  Ge- 
lehrten Zwecken  dienen  die  unschätzbaren  Anhänge,  welche 
Hentze  der  Ausgabe  von  Ameis  beigibt;  nur  hat  er  manchmal 
des  Guten  zu  viel  gethan.  Weder  K.  W.  Krügers  poetisch- 
dialektische Sprachlehre  (Lpg.  1844.  ^1879)  noch  Monros  Ho- 
meric  grammar  (Oxford  1882)  vermögen  ferner  den  Mangel 
einer  Spezialgrammatik  zu  ersetzen,  obgleich  es  nicht  an  treff- 
lichen allerdings  zum  Teil  überschätzten  Einzeluntersuchungen 
fehlt^).  Den  bekannten  Index  vocabulorum  in  Homeri  poema- 
tibus  von  W.  Seber  (Heidelberg  1604  u.  ö.)^)  macht  das  von 
Ebeling  herausgegebene  reichhaltige  LexiconHomericum  (I  fasc. 
1 — 12  IL  Lpg.  1871  ff.)  nicht  überflüssig.  Dagegen  ist  die 
Technik  des  homerischen  Verses  durch  Spitzner  (de  versu 
heroico  Lpg.  1816)  und  Hoffmann  (quaestiones  Homericae 
Clausthal  1848)  und  namentlich  hinsichtlich  der  Berührungen 
mit  der  Lautlehre  durch  Harteis  treffliche  ,, homerische  Studien" 
(3  Hefte  Wien  1871—74,  21873  ff.)  zu  einem  Abschlüsse  ge- 
langt. Für  die  homerischen  Realien^)  besitzen  wir  ein  Reservoir 
an  Buchholz  „homerische  Realien"  (I.  H  1.  Lpg.  1871  ff.); 
W.  Heibig,  der  beste  Kenner  der  etruskischen  Antiquitäten, 
die  so  viele  Aehnlichkeiten  mit  den  homerischen  besitzen,  ver- 
spricht eine  Darstellung  der  homerischen  Privataltertümer-'^). 
Das  meiste  Interesse  koncentrierte  sich  infolge  der  Entdeckungen 
Schliemanns  auf  die  Topographie  der  trojanischen  Ebene,  nach- 
dem Hercher^)  Ithakas  Schilderung  als  Phantasiegemälde  er- 
wiesen hatte').     Sonst  könnten  wir  noch  Abhandlungen  genug 

1)  the  Odyssey,  London  1866—82,  3  Bde. 

2)  Z.  B.  C lassen  Beobachtungen  über  den  hom.  Sprachgebrauch,  Frank- 
furt 1867.  Lange  der  hora.  Gebrauch  der  Partikel  EJ,  Abh.  der  sächs. 
Gc«.  der  Wissensch.  16,  307  ff,  487  ff.  La  Roche  homerische  Studien, 
Wien  1861. 

3)  Prendergast  Lushington  concordance  to  the  Iliad,  Oxford  1874; 
H.  Dunbar  a  coniplete  couc.  to  the  Odysseey  and  the  hymns  of  Homer, 
Oxford  1880. 

4)  Reiches  Literaturverzeichnis  in  O.  Retzlaff  Vorschule  zu  Homer  II* 
Berlin  1881. 

6)  Proljen:  Im  neuen  Reich  1874  S.  721  ff.,  Bull.  d.  Inst.  1874  p.  68  ff. 

TL   A. 

6)  Hermes  1,  263  ff.,  jetzt  in  den  hora.  Abhandlungen. 

7)  Die  überströmende  Literatur  findet  man  bei  Schlieniann  Ilios  1881 
fast  vollMtüutlig. 


Die  homerischen  Epen.  149 

aufzählen ,  wenn  sich  nur  die  Mühe  belohnte ,  aber  sorgfältige 
Untersuchungen,  wie  die  von  Rumpf  über  das  homerische  Haus') 
oder  Grashof  über  das  Fuhrwerk^)  sind  dünn  gesäet,  üeber- 
dies  herrscht  der  Unfug,  die  abgedroschensten  Gegenstände 
immer  wieder  zu  behandeln,  so  dass  z.  B.  über  den  homerischen 
Zeus  und  sein  Verhältnis  zum  Schicksal  nicht  weniger  als  drei- 
undzwanzig Programme  und  Dissertationen  existieren  und  wer 
weiss,  ob  nicht  eben  jetzt  irgend  einer  mit  der  vierundzwanzig- 
sten sich  die  Hterarischen  Sporen  erringt? 

Resümieren  wir  kurz  die  Leistungen  der  Homerphilologie, 
so  können  wir  einfach  sagen :  Bei  Homer  steht  es  wie  auf 
den  meisten  Gebieten  der  Philologie;  eine  Fluth  von  grössten- 
teils geringhaltigen  Monographien  gegenüber  dem  Mangel  an 
zusammenfassenden  Werken!  Um  Homer  hat  sich  der  grösste 
Schutthaufen  angesetzt ;  hoffen  wir,  dass  von  hier  aus  die  Bes- 
serung beginne! 

Während  die  gelehrten  Studien  mehr  äusserlich  die  Wert- 
schätzung Homers  erkennen  lassen,  ruht  gleichsam  unter  die- 
ser Oberfläche  schwer  messbar  der  E  i  n  f  1  u  s  s ,  den  er  auf  die 
geistige  Bildung  seiner  Nation  und  aller,  die  ihr  nacheifern, 
ausgeübt  hat.  Der  Geschichtsschreiber  kann  jedoch  nur  die 
konkreten  Symptome  desselben  verzeichnen.  Dass  Homer  jeder- 
zeit den  Griechen  als  der  erste  Dichter  galt,  erhellt  schon  aus 
der  Ehre,  Dichter  v.o.x  lio'/r^v  zu  heissen,  ein  Titel,  den  Justi- 
nians  Institutionen^)  für  die  östliche  Reichshälfte  offiziell  an- 
erkannten. ,, Homer  hat  ganz  Hellas  gebildet",  sagt  Plato  und 
dies  gilt  schon  von  früher  Zeit  an,  da  Xenophanes^)  sich  zu 
der  Aeusserung  genötigt  sieht :  'E^  ^9Xh'^  ^*^'  ''0{XYjp.ov  ijtsl 
jxe[Aa^7]%aat  rdvTsc.  In  Athen  und  später  überall  bildete  der 
Dichter  den  Mittelpunkt  des  Unterrichtes-'^);  wie  wir  aus  Dosi- 
theus    ersehen,    lernten    die  Römer  an  Homer  griechisch  und 


1)  de  aedibus  Homericis,  Giessen  1844—58  3  Tle.,  gegen  Ger  lach 
Philol.  30,  489  ff.  verteidigt  Jahrbb.  109,  601  ff. 

2)  Düsseldorf  1846. 

3)  1,  2,  2. 

4)  Anecd.  Oxon  III  296. 

5)  Xenoph.  conv.  3,  5;  Isoer.  paneg.  159;  Plut.  Alcib.  7.  Alex.  fort.  1,10. 
Luc.  Anach.  21.  Ael.  v.  h.  13,  38.  Die  Alten  bezeichnen  den  Anfang  des  Schul- 
unterrichtes mit  M-rifiv  aetSe  (Hentze  Anhang  zur  Ilias  I  ^28,  dazu  Nilus 
paraen.  9,  1). 


1^50  ^-  Kapitel. 

auch  in  Byzanz  wich  man  von  der  uralten  Sitte  nicht  ab. 
Viele  gingen  in  ihrem  Eifer  soweit,  dass  sie  die  Gedichte  ganz 
oder  zum  Teile  auswendig  lernten^);  jedenfalls  musste  aber,  wer 
die  Schule  besuchte,  wenigstens  ausgewählte  Abschnitte  sich 
einprägen^.  Aber  auch  der  ungebildeten  Menge  wurde  der 
Dichter  durch  Festvorträge  vertraut.  So  begreifen  wir  es,  dass 
Homer  das  ganze  Leben  der  Griechen  erfüllte.  Sokrates  liebte 
seine  Philosophie  in  einen  homerischen  Vers  zu  fassen,  Demos- 
thenes  kurierte  sein  Stottern  mit  einem  solchen,  Diplomaten 
zogen  sich  durch  ein  homerisches  Citat  aus  heiklen  Lagen ; 
überhaupt  spielte  Homer  in  Bonmots  eine  grosse  Rolle^).  So 
begreifen  wir  aber  auch  die  Möglichkeit,  dass  eine  ganze  Reihe 
von  Parodien*)  oder  richtiger  Travestien  und  Centonen 
entstehen  konnten ,  da  ja  nur  bei  populären  Dichtungen  die 
Parodie  wirkte.  Dem  Spotte  boten  die  pomphaften  Formeln 
des  Epos  eine  Handhabe,  schlägt  doch  gerade  das  erhabenste 
mit  geringer  Mühe  in  das  lächerliche  um.  Die  alte  Jamben- 
poesie und  Komödie  ergriff  dieses  Mittel,  weil  es  Lachen  erregte, 
mit  Begierde ;  Hipponax  dichtete  bereits  eine  komische  Epopöe^), 
worin  er  nach  dem  Muster  der  Odyssee  die  Irrfahrten  eines 
Ephesiers  durch  die  Spelunken  seiner  Vaterstadt  schilderte. 
Zu  einer  besonderen  Literaturgattung  bildete  Hegemon  von 
Thasos®),  der  um  die  neunzigste  Olympiade  für  die  Erheiterung 
der  Athener  sorgte,  die  Parodie  aus,  worin  ihm  Hermippos  und 
Euboios  Konkurrenz  machten').   In  der  Diadochenzeit  schmug- 


1)  Z.  B.  Nikeratos  (Xenoph.  conv.  3,  6  f.),  der  König  Kassandros  (Athen. 
14,  620  b)  nnd  der  Bischof  Falgentius  (Vita  c.  4);  Alexander  der  Grosse  hatte 
die  ganze  Ilia«  und  den  grössten  Teil  der  Odyssee  im  Kopfe  (Dio  Chrys.  or. 
4  §  89). 

2)  Nach  Porphyrios  zu  B  494  gehörte  der  Schiffskatalog  dazu;  Kerkidas 
soll  die«  in  MegalopolLs  gesetzlich  verordnet  haben. 

3)  Lauer  sammelt  in  der  Geschichte  der  homerischen  Poesie  allerlei 
Anekdoten. 

4)  A.  Weland  de  praecipuis  parodiarum  scriptoribns  apnd  Graecos, 
Göttingen  1888;  Peltzer  de  parodica  Graecornm  poesi,  Münster  1856; 
Pässen 8  de  nonnullis  parodiarum  scriptoribus  Graecis ,  Kempen  1859; 
Wachsmnth  Rhein.  Mus.  18,  625  ff. 

6)  tt.  86—88. 

6)  H.  Seh  rader  Rhein.  Mus.  20,  186  ff. 

7)  Athen.  16,  699  a  b. 


Die  homerischen  Epen.  151 

gelten  Archestratos  von  Gela^),  Matron^)  und  Straton^)  die 
Gastronomie  unter  dieser  Firma  in  die  Literatur  ein  ,  wogegen 
die  philosophischen  Witzlinge ,  der  Kyniker  Krates  und  der 
berühmte  Sillograph  und  Skeptiker  Timon  von  PhHus  (um  280 
V.  Chr.)^)  die  Parodie  wieder  zu  satirischen  Zwecken  verwand- 
ten. Als  der  Sinn  für  Humor  abnahm,  verfielen  manche  auf  die 
Idee,  die  Heroenkämpfe  in  Tierkämpfe  zu  verwandeln.  So  be- 
handelt die  ßatrachomyomachia^),  ein  saft-  und  witzloses 
Elaborat,  einen  Krieg  der  Frösche  und  Mäuse,  schon  an  sich 
eine  ungeheuerliche  Idee,  deren  die  Einkleidung  völlig  würdig 
ist.  Weiui  sie  Plutarch*^)  und  Suidas^)  dem  Pigres  von  HaH- 
karnass,  dem  Bruder  der  Königin  Artemisia,  zuschreiben ,  ver- 
wechseln sie  jedenfalls  blos  das  Gedicht  mit  dem  Margites^). 
Ein  solches  Machwerk  kann  frühestens  einer  Zeit,  die  Lyko- 
phrons  Alexandra  sehen  musste ,  angehört  haben  ;  das  einzige 
komische  Element  geben  die  Namen  der  auftretenden  Helden 
ab  und  unter  diesen  entlehnte  der  Verfasser  wenigstens  die 
witzigen  von  den  Parasiten  der  jüngeren  Komödie.  Da  ande- 
rerseits Martial  (14,  183  1.)  und  Statins  (Silv.  praef.)  die  Batra- 
chomyomacbie  bereits  homerisch  nennen ,  so  scheint  sie  in 
die  spätere  alexandrinische  Zeit  zu  fallen.  Trotz  der  argen 
Schwächen  erfreute  sie  sich  später  grosser  Beliebtheit.  Neue 
Dichtungen  wie  die  Apa-/voji.a-/ia ,  Fspavoiiaxia^)  und  Wapo- 
{xa)^ia^°)  entstanden    jedenfalls    nach    ihrem   Muster;    nur    die 

1)  Bussemaker  Poetae  buc.  et  did.  p.  77  fif.  und  Ribbeck  Rhein. 
Mus.  11,  200  ff.  Ennius  bearbeitete  seine  r^ouKÜd'Zia  lateinisch. 

2)  Ath,  4,  134  d  ff.  (auch  Matreas). 

3)  Athen.  9,  382  b  ff.;  vgl.  Meineke  quaestt.  scen.  II  60  ff. 

4)  C.  Wachsmuth  de  Timone  Phliasio  ceterisque  sillographis  Graecis 
Lpg.  1859. 

5)  G.  W.  W  altem  ath  de  Batrachomyomachiae  origine  natura  historia 
imitationibus,  Stuttgart   1880.  Suidas  und  Andere  nennen   sie  Müoßatpaxofxi«. 

6)  de  malign.  Herod.  43,  2. 

7)  Demgemäss  auch  in  Handschriften,  s.  Wachsmuth  Rhein.  Mus.  20, 
176  A.  8. 

8)  van  Herwerden  Mnemos.  1882  S.  163  ff.  Er  weist  auf  die  häufige 
correptio  attica  und  die  alexandrinische  Form  Eop^av  V.  179.  181  hin;  an 
dem  übrigen,  das  er  anführt,  kann  der  Verfasser  unschuldig  sein.  Der  Vers- 
bau ist  auffallend  correct  (Her werden  a.  O.  S.  168  ff.). 

9)  Sttidas  legt  beide  dem  Homer  bei. 

10)  Ps,  Herodot.  vita  Hom.  24;  Fab.  Aesop.  143  =  Phaedr.  4,5  wird  ein 
Krieg  der  Mäuse  und  Wiesel  erwähnt. 


152  ^-  Kapitel. 

raX80jioo[i-ax^a  des  Theodoros  Prodromos  ist  noch  erhalten.^) 
In  Byzanz  hatte  man  besondere  Freude  an  der  Batrachomyo 
niüchie,  weil  sie  mit  den  damals  eindringenden  orientaHschen 
Fabeln  und  Erzählungen  manche  Berührungspunkte  besass, 
wenn  sie  auch  nicht  selbst  ein  Tierepos  ist'^) ;  denn  jeder  lehr- 
hafte oder  satirische  Zug  fehlt.  Aber  eben  diese  Behebtheit 
wurde  für  den  Text  verhängnisvoll;  er  liegt  in  zahlreichen 
Handschriften  ungemein  zerlesen  und  von  Byzantinern  inter- 
poliert vor.  Mit  den  flüchtigen  Griechen  wanderte  die  Batra- 
chomyomachie  über  das  Meer  und  wurde  Dank  ihrem  Ansehen 
zuerst  unter  allen  griechischen  Schriftwerken  Venedig  1486  von 
dem  Kreter  Laonikos  im  Drucke  herausgegeben.  Im  neueren 
Griechenland  machten  sie  mehrere  Uebertragungen  in  die  Volks- 
dialekte zum  Volksbuche-^).  Auch  die  neulateinische  Literatur 
konnte  sich  ihrem  Einflüsse  nicht  entziehen^).  In  Deutsch- 
land arbeitete  Gabriel  Rollhagen  seinen  bekannten  Frosch- 
Mcuseler- Ameisen-  und  Mückenkrieg  nach  dem  Muster  des  grie- 
chischen Büchleins.  Während  es  sich  mit  andern  Trebern  der 
griechischen  Literatur  bei  den  Humanisten  der  grössten  Beliebt- 
heit erfreute  —  ein  Reuchlin  übersetzte  es  und  manche  Enthu- 
siasten stellten  es  über  Ilias  und  Odyssee  I  —  verlor  die  Batra- 
chomyomachie ,  als  das  Gefühl  für  echte  Klassicität  sich  ver- 
breitete, ihren  erborgten  Ruhm.  Wenn  gleich  auch  in  neuester 
Zeit  Uebersetzer  nicht  mangelten,  so  fand  sich  doch  nur  in 
Italien  ein  Talent  wie  Leopardi  zu  einer  solchen  Arbeit^).  In 
unserem  Jahrhundert  lastet  vielmehr  auf  der  Batrachomyomachie 

1)  herausgeg.  v.  Hercher,  Lpz.  1873,  nachgebildet  vou  P.  Giac.  Martello, 
a  inalvagio  «-ousiglier  peggiore  in  der  Sainmlimg  seiner  Tragödien,  Bologna 
17V3  S.  161  ff. 

2)  So  meinten  Jak.  Grimm  Reiuhart  Fuchs  S.  XIV.  CG  XXIX,  Welcker 
8.  416  und  Wackeruagel  Poetik  S.  112.  Um  ein  solches  handelt  es  sich 
vielleicht  in  einem  ägyptischen  Papyrus,  der  eine  Bestürmung  der  Katzen- 
bürg  durch  Mäusebogeuschützeu  darstell*  (Z  ü  n  d  e  1  Rhein.  Mus.  6,446). 

8)  Zuerst  von  Deuietrios  Zenos  aus  Zante  um  1510  übertragen  (zuletzt 
hrwg,  von  Mullach,  Berlin  1837);  über  andere  Nicolai  Gesch.  der neugriech. 
Literatur  S.  94  f. 

4)  Z.  B.  Petri  Porcü  pugna  porcorum,  Antwerpen  1630,  Caspari  Dornavi 
aiiiphitheatrum  Bapientiae  Socraticae  iocoseriae  ib.  1619;  maccaronisch : 
Mcrliuo  Coccaio,  Mosi-haea. 

6)  Er  übertrug  den  Mäusekrieg  zweimal  in  flüssige  Ottaven  und  setztv 
ihn  dann  in  einem  längeren  Eiws  fort. 


Die  homerischeu  Epen,  153 

ein  seltsames  Verhängnis.  Erst  1852  erschien  eine  kritische 
Ausgabe^);  aber  der  Verfasser  hatte  das  Missgeschick,  unter  den 
zahlreichen  und  stark  abweichenden^)  Handschriften  gerade  die 
jüngsten  und  schlechtesten  auszuwählen.  Die  Ausgabe  von 
Draheim  (Berlin  1874)  befolgt  dieselben  Grundsätze.  Lud  wich  ^) 
wies  dagegen  nach,  dass  die  ältesten  Handschriften,  voran  der 
Laureutianus  32,  3  (L)  den  besten  Text  darstellen  und  noch 
die  ursprüngliche  symmetrische  Anlage,  wonach  abwechselnd 
bald  ein  Frosch,  bald  eine  Maus  im  Zweikampfe  siegt,  erken- 
nen lassen.  Die  Batrachomyomachie  darf  von  ihm  eine  lesbare 
Ausgabe  erwarten*). 

Schon  bei  Parodien  lohnt  der  Erfolg  dem  Verfasser  die 
Mühe  kaum ;  was  soll  man  aber  erst  von  denen  sagen,  die  eine 
gründliche  Belesenheit  in  den  homerischen  Epen  nicht  besser 
zu  benützen  wussten,  als  dass  sie  aus  homerischen  Versen  und 
Versteilchen  neue  Gedichte  mosaikartig  zusammensetzten.  Eine 
Inschrift^)  liefert  ein  interessantes  Beispiel  solcher  Homercen- 
tonen  ('ü|AY]pdxsvTpa),  dessen  der  Verfasser  Areios  sich  'ü'iTjptxöc 
ÄO'.rjfrj?  £x  MooasioD  nennt. 

Noch  eifriger  betrieben  die  Christen  diesen  sonderbaren 
Sport ,  weil  sie  den  christlichen  Stoffen  genau  dieselbe  Form, 
wie  sie  die  heidnischen  zierte,  geben  wollten;  Tertullian  redet 
davon  bereits  wie  von  einer  Sitte. '^)  Das  bedeutendste  christlich- 
homerische Epos  begann  der  Patricier  Pelagios'^),  dessen  Werk 


1)  von  Baumeister  unter  dem  Titel  Batr.  Homero  vulgo  attributa  (Göt- 
tingeii)  herausgegeben. 

2)  Auch  die  Citate  differieren  erheblich  (z.  B.  Plut.  maligu.  Herod.  34  u. 
Choerob.  Bekker  Anecd.  1185). 

3)  Wissensch.  Monatsblätter  3,  13  ff.  4,  164  ff.  Ztsch.  f.  öst.  Gymu.  1882 
S.  817  ft'.     Varietas  lect.  et  scholia  ad  B.  e  cod.  Veneto,  Königsberg  1871. 

4)  Vgl.  K.  Wachsmuth  Ehein.  Mus.  20,  176  ff.  A.  Alt  haus  de  Ba- 
trachomyomachiae  Homericae  genuina  forma,  Greifswald  1866. 

5)  CIG.  III  4748  auf  der  Memnousstatue. 

6)  de  praescr.  haer.  39.  Hierou.  ep.  53,  7.  Isid.  1,  38,  25  (Fabricius 
bibl.  Gr.  I'*  551—5).  Bekk.  An.  p.  766,  24  ff.  ist  blos  Hirngespinnst  eines 
Grammatikers,  der  OTCOpäSfjv  qtSsaS-a'.  ungeheuerlich  missverstand.  Epiphanios 
(adv.  haer.  31,29)  gibt  eine  Probe;  vgl.  auch  die  freieren  Imitationen  Anthol. 
4,   116.  12,   182  und  bei  Dio  Chrys.  31,   387. 

7)  unter  dem  Kaiser  Zenon  (474—91),  vgl.  Cedren.  I  p.  621  f.  Der  Titel 
war  uepl  x-rjc  äv^pcoutooswc  'coö  Xpiatoö. 


J54  ^-  Kapitel. 

die  geschmacklose  Kaiserin  Eudokia  (Athenais)  überarbeitete.^) 
Aus  den  Oentonen  dieser  beiden,  des  Philosophen  Optimos  und 
des  Kosmas  von  Jerusalem  (im -achten  Jahrhundert)  bietet  ein 
Kodex  von  Modena  eine  Auswahl.  Tatianos  erreichte  den 
Gipfel  der  „Kunst",  indem  er  nie  einen  Vers  zweimal  ver- 
wendete. ^ 

Ueber  diesem  Höhepunkte  der  äusseren  Aneignung  steht 
weit  die  Wirkung,  die  der  homerische  Geist  auf  die  griechische 
Literatur  ausgeübt  hat.  „A  quo  ceu  fönte  perenni  vatum 
Pieriis  ora  rigantur  aquis"  sagt  Ovid  mit  vollem  Rechte.  ^)  Alle 
griechischen  Epen  standen  unter  seinem  mächtigen  Banne  und 
zwar  so  sehr,  dass  die  selbständige  Thätigkeit  allmälig  durch 
die  Imitationssucht,  die  bis  zu  den  unbedeutendsten  Dingen,  ja 
bis  zu  den  Mängeln  herabstiegt),  erstickt  wurde.  Die  Elegie 
entlehnte,  wie  wir  unten  sehen  werden,  den  Dialekt  und  zahl- 
reiche Wendungen  von  Homer.  ^)  Aber  auch  die  übrigen  Arten 
der  Lyrik,  selbst  das  subjektive  lesbische  Lied  ^),  konnten  sich 
nicht  den  Einwirkungen  des  überlegenen  Genius  entziehen. 
Noch  höhere  Triumphe  feierte  Homer  in  der  Tragödie,  weshalb 
ihn  Plato  ^)  den  Meister  und  Führer  aller  Tragiker  nannte  und 
Aristoteles*)  in  seinen  Dichtungen  die  Keime  des  Dramas  fand. 
Äschylus  lehnte  seine  Ausdrucksweise  vielfach  an  Homer  an '), 

1)  Zonaras  Ann.  13,  23;  Tzetz.  chil.  10,  92,  die  kürzlich  aufgefundene 
Vorrede  (Abel  Ztsch.  f.  öst.  (lymn.  1881  S.  161  ff.  und  Lud  wich  Rhein. 
Mus.  37,  212  fiF.)  sichert  ihre  Beteiligung. 

2)  Hardt  catal.  codd.  Gr.  III  21.  Die  Hauptausgabe  der  Homercentonen 
rührt  von  H.  Stephanus  Paris  1678.  1609  her;  später  gab  Teucher  die  Cen- 
tonen  Lpg.  1793  nochmals  heraus.  Vgl.  L.  Borgen  de  centonibus  Homer, 
et  Vergilianis,  Kopenhagen  1828,  abschliessend  Ludwich  Rhein.  Mus.  87,  220  ff. 

8)  am.  3,  9,  25  f.  Ein  griechischer  Naturalist  (um  mit  den  Griechen  zu 
reden,  Schmutzmaler)  verfertigte  folgendes  Gemälde:  raXdtmv  b  Ctu^P"?®^ 
t-fpatj/«  tiv  fiiv  "OfiYjpov  aü-civ  ejj.oüvTa,  xou<;  8'  äXXouc  TroiYjTa?  ta  e|JL7)fJL3opiEva 
äf,otoy.iwoo(;  (Ael.  v.  h.   13,  22). 

4)  V.  Lentsch  Philol.  30,  217;  Zingcrle  zu  den  späten  lat.  Dichtem 
8.  97. 

6)  Aus  den  inschriftlich  erhaltenen  Epigrammen  stellt  Kaibel  epigram- 
mata  p.  694  ff.  die  Reminiscenzen  zusammen. 

6)  G<^^  Ahrens,  der  aus  Sappho  und  Alcäus  alles  epische  verbannen 
will,  Meister  die  griech.  Dialekte  1,  16. 

7)  rep.   10.  596  c. 

8)  poet.  4.  28.  26. 

9)  M.  Lech n er  de  Aeschyli  studio  Homerico,  Paris  und  Berlin  1862. 


Die  homerischen  Epen.  155- 

wenn  wir  auch  seinen  berühmten  Ausspruch,  er  habe  die 
Brosamen  unter  Homers  Tische  aufgelesen  ^) ,  auf  alle  unter 
Homers  Namen  kursierenden  Epen  beziehen  müssen,  da  er  der 
Ilias  nur  eine  Trilogie^)  entlehnte.  Sophokles  zog  weniger  im 
Ausdruck  als  in  Charakteren  und  Gedanken  das  Epos,  das  er 
wie  ein  Künstler  erfasste,  heran;  da  der  Glanz  und  die  Durch- 
sichtigkeit der  homerischen  Epen  sich  in  seiner  verwandten 
Seele  spiegelt ,  nannte  ihn  Ion  den  einzigen  Schüler  Homers.  ^) 
Dem  Euripides  stand  die  Naivität  und  Einfachheit  des  Epos 
zu  ferne,  als  dass  er  Homer  hätte  aufrichtig  hochschätzen 
können;  doch  dem  Geschmacke  der  Zeitgenossen  nicht  zu 
widerstreben  wagend  erhob  er  seine  Sprache  durch  Beimischung 
epischer  Elemente  über  das  Gewöhnliche.  ^)  Gerade  der  fälschlich 
seinen  Namen  tragende  ,,Rhesos"  zeugt  von  den  fleissigsten 
Homerstudien. 

Homers  Einfluss  blieb  nicht  etwa  auf  die  Poesie  beschränkt. 
Die  Mittelgattung  des  Romans  übernahm  die  Hochschätzung 
Homers  vom  Epos^);  die  Nekyien  spielten  deshalb  in  den 
späteren  Romanen  eine  grosse  Rolle  ^),  von  wo  sie  in  die 
byzantinische  Satire  übergingen. '')  Was  die  eigentliche  Prosa 
betrifft,  so  schloss  sich  Herodot  in  Sprachformen  und  auch  in 
manchen  stilistischen  Eigentümlichkeiten  an  seinen  berühmten 
Landsmann  an,  obgleich  die  Ausdehnung  des  epischen  Elementes 
im   einzelnen    sehr    schwierig    zu    begrenzen   ist.  ®)     Selbst  von 


1)  Athen.  8,  347  e. 

2)  Brunn  Ann.  d.  I.   1858  S.  366  ff. 

3)  M.  Lechner  de  Sophocle  poeta  '0[iY)ptxtütaT(}),  Erlangen  1859;  J. 
Hemme  rling  S.  quo  iure  Homeri  Imitator  dicatur,  Cöln  1869  (Pr.);  E. 
Zwirnmann  Mit  welchem  Rechte  wird  S.  als  einer  der  vorzüglichsten 
Schüler  Homers  bezeichnet?  Eilenburg  1874.  An  Stoffen  entlehnte  S.  nur  die 
Phrygier  aus  Homer. 

4)  M.  Lechner  de  Homeri  imitatione  Euripidea,  Erlangen  1864. 

5)  Philetas  arbeitete  in  seinem  'EpjjiYjc  (Meineke  anall.  Alex.  p.  348  ff.) 
die  Odyssee  zu  einem  Roman  um. 

6)  Roh  de  der  griechische  Roman  S.  260  ff. 

7)  Tozer  Journal  of  hellenic  studies  II  234  ff. 

8)  Uvo  Hölscher  die  Entwicklung  und  der  Zusammenhang  der  jon. 
Prosa  mit  den  hom.  Epen,  Aurich  1875  (Dis-s.  v.  Rostock);  P.  A.  Ton  der 
Homer  und  die  älteste  Poesie  der  Griechen,  Böhmisch  -  Leipa  1875  (Pr.);  C. 
Hofer  über  die  "Verwandschaft  des  herodotischen  Stiles  mit  dem  hom., 
Heran  1878  (Pr.). 


156  3-  Kapitel. 

Thukydides  behauptet  sein  Biograph  (c.  37).  er  habe  im  Stile 
dem  Homer  nachgestrebt.  ^)  Im  übrigen  betrachtete  Thukydide- 
wie  die  übrigen  Prosaiker  seine  Gesänge  als  historisch  wichtige^ 
Denkmal,  in  welchem  jener  die  Vorgeschichte  Griechenlands, 
•die  Philosophen  aber  ihre  Lehrsätze  fanden.  ^)  Die  Sophisten 
hielten  in  Lykeion  Vorträge  darüber  ^)  und  die  späteren  Philo- 
sophen und  Khetoren  liebten  es,  in  kleinen  Monographien 
ethische  und  ähnliche  Themata  von  Homer  ausgehend  zu  be 
handeln,  z.  B.  enthält  eine  Papyrusrolle  von  Herculaneum  eine 
Schrift  des  Philodemos  über  das  Fürstenideal  Homers.*)  Der 
ausgezeichnete  Rhetor  Dio  Chrysostomos,  der  auch  vier  Bücher 
„für  Homer  gegen  Plato"  schrieb^),  hielt  die  53.  Rede  auf 
Homer  und  legte  bei  jeder  passenden  Gelegenheit  von  seiner 
Verehrung  Zeugnis  ab.  Der  fast  eben  so  berühmte  Maximos 
von  Tyros  pries  den  grossen  Dichter  gleichfalls  in  einer  eigenen 
Rede,  der  sechzehnten.  ^)  Selbst  die  der  Poesie  nicht  eben  freund- 
lichen Mediciner  liebten  es  doch,  Homer  heranzuziehen.'')  Sah 
man  doch  in  ihm  den  Urquell  aller  hellenischen  Wissenschaften, 
was  ihm  den  Ruhm  eines  Polyhistors^)'  eintrug.  Freilich  ist 
nicht  zu  leugnen,  dass  Homer  für  die  jüngere  Zeit  mehr  ein 
neutraler  Patriarch,  den  man  erhob,  weil  er  über  dem  Getriebe 
der  Parteien  stand,  als  ein  wirklicher  Beherrscher  des  Ge- 
schmackes war.  Da  der  grosse  Dichter  am  Anfange  der 
griechischen  Literatur  steht,  kann  er  sie  ja  nicht  auf  ihrem 
ganzen  Wege  als  Mentor  begleiten.  Eben  diese  künstliche 
Ueberschätzung,    infolge    deren   er    später    in    Smyrna,   Chios, 


1)  Röscher  Leben,    "Werk  und  Zeitalter  des  Thukydides  S.  132  ff.     E. 
T.  Leutsch  Philol.  33,  155.  185. 

2)  Besonders  Antisthenes  legte  Homer  seinen  moralischen  Betrachtungen 
«a  Grunde  (Usener  quaestiones  Anaximeueae  p.  14  ff.). 

8)  iBocr.  12,  18.  33. 

4)  rtepl  xoö  xa*' "O|ji-/]pov  a.'fnd'oö  ßaoiXswi;  Vol.  Hercul.  VIII,  vgl.  Diels 
Hermes  13,  3;    Porphyrios  schrieb  zehn  Bücher  ntpl  tyj;  ii  '0|j.-fipou  itpeXsia? 

XOÖ    ß0(3l).i(uv. 

5)  Suidas. 

6)  Wer  zu   suchen  Lust    hat,    findet  Schulübungen   der   Byzantiner   bei 
Boissonade  Anecd.  Gr.  II  (Allatius  exe.  sophist.  p,  259). 

7)  Z.  B.  Cael.  Aur,  acut.  3  §  121. 

8)  Fabricius  bibl.  Graeca  L  II  c.  6,  Lauer  Gesch.  der  hom.  Dichtung 
S.  1—68,  vgl.  z.  B.  das  erste  Buch  des  Strabo,  Anthol.  7,  159,  3  (TcoXutamp). 


Die  homerischen  Epeu.  15T 

Argos  und  Alexandreia  göttliche  Ehren  empfingt)  und  manchfen 
Enthusiasten  geradezu  Gott  hiess^),  führte  zu  einer  natürlichen 
Reaktion. 

Die  Philosophen  waren  die  ersten,  die  von  ernsten  sitt- 
lichen Erwägungen  geleitet  den  Feldzug  gegen  Homer  eröff 
neten.  Sein  Anthropomorphismus  passte  zu  ihrer  würdigen 
Meinung  von  den  Göttern  nicht ,  da  er,  in  der  Poesie  äusserst 
wirkungsvoll,  die  Religiosität  der  Gebildeten,  sobald  man  die^ 
homerischen  Anschauungen  aus  übermässiger  Schwärmerei  in 
das  wirkliche  Leben  verpflanzte,  mit  ernsten  Gefahren  bedrohte. 
Keine  geringeren  als  Xenophanes,  Heraklit  und  wahrscheinlich 
Pythagoras^)  wiesen  auf  die  sittliche  Bedenklich  keit  der  homerischen 
Göttermythen  hin  und  Plato  schloss  sich  ihnen  bekanntlich 
mit  solchem  Eifer  an,  dass  er  Homer  aus  seinem  Idealstaate 
verbannen  wollte.  ^)  Die  Philosophen  nahmen  überdies  will- 
kürlich an,  Homer  hätte  im  Verein  mit  Hesiod  die  Mythen 
einfach  erfunden.^)  Zu  den  Philosophen  gesellten  sich  bald 
auch  die  Rhetoren,  unter  denen  keiner  solchen  Ruf  wie  Zoll os 
von  Amphipolis  erlangte.  ^)  Während  Dionys  von  Halikarnass^) 
ausdrücklich  bezeugt,  dass  er  nicht,  wie  viele  andere,  wenigstens 
Plato   aus   Bosheit   oder  Neid,    sondern    im    redlichen  Streben 


1)  Cic.  Arch.  8,  19;  Strabo  14,  646;  Cert.  Hom.  p.  253;  Ael.  v.  h.  9,  15; 
ib.  13,  22. 

2)  Sil.  13,  786.  Benseier  gibt  in  seinem  Onomastiken  v.  "Ofxfjpo?  eine 
reiche  Sammlung  von  preisenden  Beiwörtern.  Die  Epigramme  findet  mau  von 
Jacobs  Anthol.  Pal.  V.  indic.  p.  393  aufgezählt.  Stoff  zu  unzähligen  Lob- 
reden ist  von  Jac.  du  Porte  app.  ad  guomologiam  Homer,  u.  app.  ad  clav. 
Homer,  des  G.  Perkins,  Jo.  Scherpezelius  von  seiner  Ausgabe  der  beiden 
ersten  Bücher  der  Ilias,  Fabricius  bibl.  Gr.  I^  527  f.  und  dem  Fortsetzer 
von  Lamiani  le  delizie  dei  dotti  Nr.  2  aufgespeichert. 

3)  Diog.  L.  8,  1,  19.  21. 

4)  3.  Buch  über  den  Staat.  Tb.  Heine  de  ratione  quae  Piatoni  cum  poetis 
Graecorum  intercedit  (xui  ante  eum  floruerunt,  Bonn  1880. 

5)  Kritolaos  (Philo  de  iucorr.  mundi  11  ff.)  äusserte  sich  über  Homer  be- 
sonders hart,  fierodot  selbst  Hess  sich  in  der  berühmten  Stelle  (2,53)  davou 
blenden. 

6)  Lehrs  Arist.  stud.  ^207  f  **  Usenerquaestt.  Anaxim.  p.  16  f.  G.  WuK 
pert  zur  Würdigung  des  Zoilus  mit  dem  Beinamen 'OfiTjpo|i.äax!.4,  Creuznach 
1882.  L\ach  Porphyr,  zu  K  274  war  er  ein  Schüler  des  Isokrates;  aber  nach. 
Suidas  schrieb  er  gegen  diesen. 

7)  ep.  ad  Pomp.   16. 


158  3.  Kapitel. 

nach  der  Wahrheit  angrifft),  wurde  von  den  entrüsteten  En- 
tliusiasten  sein  Name  zum  Schreci^bilde  eines  boshaften  Kritikers 
für  alle  Zeiten  verzerrt.  In  einem  Werke  von  neun  Büchern*) 
«etzte  er  nicht  nur  die  Polemik  der  Philosophen  gegen  die 
Mythen  fort,  sondern  legte  auch  die  ihm  so  scheinenden 
Schwächen  der  homerischen  Poesie  blos;  wobei  er  sich  im  Ver- 
gleiche mit  seinen  Zeitgenossen  weder  als  besseren  noch  als 
schiechteren  Kritiker,  jedenfalls  aber  als  Mann  von  unbefangenem 
Urteil  zeigte.  Die  ganze  Meute  der  Rhetoren  und  Sophisten 
brach  gegen  ihn  los  und  beschimpfte  sein  Andenken  mit  den 
ärgsten  Schmähungen  und  den  albernsten  Fabeln.  Trotzdem 
bekamen  die  Homer  nicht  verehrenden,  weil  einmal  ein  Kühner 
vorangegangen  war,  Mut.^)  Plutarch  bespöttelte dieHomeromanie^) 
und  luvenal  (7,  39)  war  respektlos  genug  zu  behaupten,  die 
Leute  schätzten  Homer  nur  ,,propter  mille  annos",  also  wie 
den  Wein.  Weder  die  Homerverfolgung  des  wahnsinnigen 
Ckligula^)  noch  der  Vorzug,  den  der  geschmacklose  Hadrian 
•dem  Antimachos  gab,  ^)  stehen  indes  mit  dieser  Strömung  im 
Zusammenhang. 

Von  den  Griechen  überkamen  die  Römer  die  Bewunderung 
Homers. ')  Der  griechische  Unterricht  begann  mit  Homer  ^) 
vind  das  älteste  Lesebuch  der  Schule  war  die  Odyssee  in  der 
kläglichen    Uebersetzung    des    Livius    Andronicus.  '•*)     Nachdem 


1)  Für  eine  rhetorische  Schulübung,  als  welche  es  Porphyrios  (zu  K  274) 
ansieht,  ist  das  Werk  viel  zu  gross. 

2)  Fragmente  bei  C.  Müller  frg.  bist.  Gr.  2,  85.  Sauppe  or.  Att.  2, 
249  wies  nach,  dass  es  keine  besondere  Schrift  ^öfoa  'Oii-fjpo'j  gab. 

3)  Schol.  t  60  iroXXol  xaxYjY&poov  xoü  äiri^avou.  Ueber  Parthenios  von 
Phokäa  Anthol.  Pal.  7,  377.  Nach  Dilthey  de  Callim.  Cydippa  p.  8  flf.  und 
Kobde  der  griech.  Roman  S.  23  lobte  Kallimachos  den  Homer  blos  ironisch. 
Po.Heidipi)os  setzt  Homer  arg  zurück  (Anthol.  12,  168,  5.)  Euphorion  wendet 
sich    gegen    solche  Angriffe  in  fr.  70:   ft;:f>ox:[j.a-3TOC  "ÜfJLYjpo<:. 

4)  Consol.  ad  ux.  13. 
6)  Snet.  Cal.  84. 

6)  Die  epit.  69,  4,  6. 

7)  C.  Ph.  Euler  de  autiqjiiorum  Korn,  studiis  Homericis,  Berlin  1854 
(Pr.);  H.  Walter  de  scriptorum  Korn,  usque  ad  Vergilium  stud.  Hom., 
Breslau  1867  (Diss.). 

8)  Petron.  48.  Quintil.  1,  8,  5.  August,  confess.  1,  14. 

9)  Fragmente  »)ei  Pfau  de  numero  Saturnio  1864  p.  74—78,  vgl.  Jahrbb. 
87,  331  ff.  93,  566  ff. 


Die  homerischen  Epen.  159 

On.  Matius  in  der  suUanischen  Zeit  die  Ilias  übertragen  hatte/) 
fand  sich  für  sie  in  der  Kaiserzeit  wieder  ein  Uebersetzer ; 
diesem  wurde  aber  die  Sache  bald  zu  langweilig,  so  dass  die 
Paraphrase  immer  mehr  in  einen  Auszug  übergeht.  In  den 
Handschriften  trägt  dieser  Homerus  Latinus  den  unerklärlichen 
Namen  Pindarus  Thebanus  an  der  Spitze.^)  Cicero  hatte 
sich  gleichfalls  im  Uebersetzen  geübt  und  teilte  gelegentlich 
einige  Proben  dieser  Beschäftigung  mit.  ^)  Die  hexametrischen 
Dichter  der  Lateiner  verehrten  Homer  als  Heros,  bis  die  Römer 
in  Vergil  ihren  Homer  gefunden  zu  haben  glaubten.  Wie 
Ennius^)  von  dem  Mäoniden  im  Traume  zu  seinem  Epos  be- 
geistert worden  sein  wollte,  strebten  die  augusteischen  Dichter 
und  unter  ihnen  besonders  Vergil^)  dem  blinden  Sänger  nach, 
au  dem  selbst  zufällige  Ornamente  der  Rede  nachahmenswert 
erschienen.  ^)  Als  freilich  Vergil  durch  seine  Aneis  dichterisch 
dem  hehren  Vorbilde  mindestens  gleichzukommen,  im  Interesse 
des  Stoffes  aber  es  zu  übertreffen  schien,  da  fingen  die  römischen 
Schöngeister  beider  Geschlechter  an,  ihre  ästhetische  Bildung 
in  dem  kunstreichen  Abwägen  der  beiderseitigen  Vorzüge  dar- 
zuthun  '^) ,  was  die  französischen  Kunstrichter ,  indem  sie  über 
Homers  Mangel  an  Hoffähigkeit  die  Nase  rümpften,  fortsetzten; 
natürlich  entschieden  sie  zu  Gunsten  Vergils. 

Auch  die  übrigen  ,, Barbaren",  denen  die  griec^iische  Sprache 
geläufig  war,  erfreuten  sich  an  den  homerischen  Gedichten; 
deshalb  sagt  Dion  Chrysostomos ^)  schön:  ,,Die  Menschen, 
welche  andere  Sterne  am  Himmel  schauen ,  kennen  doch  das 
Unglück  des  Priamos  und  die  Klagen  der  Hekabe  und  Aii- 
droraache". 


1)  Teuf  fei  Gesch.  der  röm.  Literatur.  §  150,  2. 

2)  Am  besten  iu  Bährens'  poetae  Lat.  min.  Bd.  III  herausgegeben;  ül)er 
den  Namen  Lit.  Ceutralblatt  1882  Sp.  89.  Der  Verfasser  w£>r  vielleicht  Silius 
Italicus  (Teuffei  *698.  Rossbach  Hermes  17,  514  A.  1). 

3)  TeulFel  stellt  §  308,  5  die  unsicheren  Spuren  anderer  Uebersetzungen 
zusammen. 

4)  Ann.  fr.  6-^9;  vgl.  TertuU.  anim.  33.  resurr.   1. 

5)  Teuf  fei  Gesch.  der  röm.  Lit.  §  228,  6. 

6)  Z.  B.  die  Anadiplosis  (Wölfflin  Sitzungsber.  der  bayer.  Akad.  hist.- 
phil.  Cl.  1882  I.  S.  431). 

7)  Juven.  6,  436  f. 

8)  or.  53  §  6;  dagegen  ist  seine  Nachricht  vom  indischen  Homer  wahr- 
scheinlich aus  Verwechslung  mit  dem  Mahabharata  entsprungen. 


IQQ  3.  Kapitel. 

Schon  der  Ruhm,  den  das  Altertum  ihm  zollte,  hätte  Homer  zu 
dem  berühmtesten  aller  Dichter  gemacht;  doch  auch  die  folgenden 
Zeiten  setzten  ihn  nicht  zurück.  Der  syrische  Astronom  Theo- 
philos  übertrug  Homer  um  800  in  seine  Muttersprache.^)  Während 
Plato  und  Aristoteles  den  Orientalen  die  griechische  Wissenschaft 
verkörperten,  galt  ihnen  Homer  als  Repräsentant  der  schönen 
Literatur.  ^  Im  byzantinischen  Mittelalter  dauerte  die  gelehrte 
Beschäftigung  und  die  Imitation  fort.  Recht  interessante  Ver- 
treter sind  die  nur  in  lateinischer  Uebersetzung  erhaltenen 
Trojaromane  des  Kreters  Diktys  und  des  Phrygiers  Dares. 
Ersterer  konterfeit,  vielleicht  nach  Miniaturenhandschriften  ^),  die 
homerischen  Helden  leibhaftig  ab.  Da  selbst  das  Volksepos 
der  mittelgriechischen  Literatur  von  dem  alles  beherrschenden 
Einflüsse  nicht  frei  blieb,  werden  in  der  umfangreichen  Helden- 
geschichte von  Digenis  Akritas  nicht  blos  Scenen  und  Verse 
aus  der  Ilias  benützt,  sondern  sogar  Homer  citiert.  *)  Wenn- 
gleich im  Abendlande  die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache 
nie  völlig  ausstarb,  gab  es  doch  ohne  Zweifel  nicht  einmal  eine 
Horaerhandschrift^),  trotzdem  —  wer  möchte  es  glauben?  — 
war  der  Ruhm  Homers  nicht  geschwächt;  nicht  nur  teilte  Karl 
der  Grosse  einem  Dichter  seiner  Akademie  den  Ehrennamen 
Homerus  zu^),  Dante  stellte  ihn  sogar  über  seinen  geliebten 
Vergil  und  besang  ihn  als  den  ,, Fürsten  der  erhabenen  Sanges- 
weise, der  ob  den  andern  wie  ein  Adler  schwebet."^)  Darum 
begreifen  wir,  das3  Petrarca  von  einer  ihm  geschenkten  Homer- 
handschrift, die  er  nicht  verstand ,  in  die  grösste  Freude  und 
Trauer  zugleich  versetzt  wurde. 

Erst  durch  die  flüchtigen  (xriechen  wurde  Homer  wieder  mehr 
als  ein  leerer  Name,  obgleich  er  vor  Lessing  eigentlich  nie  recht 
populär  war.  Die  Humanisten  bedurften  hier  mehr  als  bei 
einem  anderen  Dichter  lateinischer  Uebersetzungen.   Wenn  wir 


1)  Abulfaradsch  bist,  dynastarura  p.  26.  148. 

2)  Bo  im  Alexnnderbuche  des  Persers  Nisami.  Vgl.  Wahl  von  dem 
Rrbicksul  des  Homer  und  anderer  klassischer  Dichter  bei  den  Arabern  und 
Persern,  Halle  1798. 

8)  Vgl.  aber  den  Heroikos  des  Philostratos. 

4)  Eberhard  Verh.  der  Phil.-Vers.  in  Trier  1879  S.  64. 

6)  E.  V.  Leutsch  Philol.  12,  366  ff. 

6)  Angilbertns  (Dum  ml  er  poetae  Latini  aevi  Carolini  1,  366  ff.). 

7)  Inf.  4,  88  ff.  94  ff. 


Die  homerischen  Epen.  161 

keine  einzige  gelungene  Arbeit,  die  ja  nur  ans  einem  tieferen 
Verständnisse  des  homerischen  Geistes  hätte  entspringen  können, 
anzuführen  haben ,  so  hegen  desto  mehr  ästhetisch  ungeniess- 
bare  vor.  Zuerst  übersetzte  Leontios  Pilatos  die  Ilias  nnd  einen 
Teil  der  Odyssee  für  Boccaccio  in  hartes  Latein.^)  Dann  be- 
mühte sich  Papst  Nikolaus  V.,  ^)  leider  vergeblich,  einen 
Humanisten  für  eine  metrische  Uebertragung  zu  gewinnen.  Viel- 
leicht von  der  Ilias  des  Eobanus  Hessus  (Basel  1540)  abgesehen, 
blieb  es  trotzdem  bei  höchst  unvollkommenen  Versuchen.^)  In 
Deutschland  erschien,  nachdem  Reuchlin  den  Anstoss  gegeben, 
bereits  1537  zu  Augsburg  eine  deutsche  Odyssee  und  Hans 
Sachs  führte  seinen  Mitbürgern  sowohl  den  trojanischen  Krieg 
als  ,,Ulisses  mit  den  Meerwnndern"  auf  der  Bühne  vor.  Homer 
stand  aber  schon  damals  und  noch  mehr  in  den  traurigen 
Zeiten  von  1550 — 1750  gegen  Vergil  zurück,  weil  man  an  ihn 
nach  dem  Vorgange  der  Franzosen  den  Massstab  des  Kunstepos 
anlegte  und  ihn  demgemäss  ganz  falsch  beurteilte ;  als  Pope  Ilias 
und  Odysse  in  Rococoepen  verwandelte,  erntete  er  deshalb  die 
gebührende  allgemeine  Bewunderung.  Erst  Lessing  eröffnete 
das  Verständnis  für  die  homerische  Dichtung;  die  folgende 
Generation  erkannte  an  Ossian  und  den  Volksliedern  Percys 
und  Herders,  wenn  auch  unklar,  den  Unterschied  von  Kunst- 
und  Naturdichtung  und  fand  die  neugewonnene  Erkenntnis  von 
Schiller  in  dem  Aufsatze  ,,über  naive  und  sentimentalische 
Dichtung"  glücklich  zusammengefasst  und  ausgeprägt.  Es  ist 
nicht  meine  Sache,  wie  Homer  der  neueren  Literatur  als  Leiter 
diente ,  darzulegen ,  zumal  da  von  berufenster  Seite  eine  er- 
schöpfende Schrift  vorbereitet  wird.^)  Obgleich  keine  einzige  der 


1)  Das  erste  Buch  bei  De  Hortis  studi  sulle  opere  latine  di  Boccaccio 
S.  562  ff.;  Haase  miscell.  philol.  lib.  VI.  Breslau  1862  S.  5  ff.  Eieckher 
Eos  2,  182  ö.  (Probe  aus  Z) ;  vgl.  Jak.  Bernays  pentas  versionum  Homerl, 
Bonn  1850. 

2)  Giorgi  vita  Nicolai  V  p.  193. 

3)  Der  2. — 5  Gesang  der  Ilias  metrisch  von  Politianus  in  Maios  spicil. 
Vatic.  I,  neun  Bücher  von  Nikolaus  Valla  (Kom  1474),  das  elfte  der  Odyssee 
von  dem  Jenaer  Humanisten  Fincelius  (um  1560);  in  Prosa  gaben  L.  "Valla 
die  Ilias  (Brescia  1474)  und  Philelphus  die  Odyssee  (Venedig  1516)  heraus. 
Im  Cod.  Vatic.  2756  steht  eine  anonyme  Version. 

4)  Vgl.  vorläufig  Cholevius  Geschichte  der  deutschen  Poesie  nach  ihren 
antiken  Elementen  1859. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  H 


IQ2  3.  Kapitel. 

vorhandenen  Uebersetzungen,  in  welchermodemen  Sprachesie  auch 
abgefasst  sein  mag,  hochgespannten  Forderungen  genügt,  erwähne 
ich  doch  die  bedeutendsten  und  beliebtesten.  Der  erste  glückliche 
Wurf  fiel  dern  Engländer  Chapman  zu,  dessen  in  Alexandrinern 
abgefasstes  Werk^)  leider  durch  Pope  ^)  verdrängt  wurde.  Die  ab- 
göttische Verehrung,  die  letzterer  im  vorigen  Jahrhundert  genoss, 
macht  dem  Geschmacke  des  damaligen  England  wenig  Ehre.  ^) 
Die  zweite  Nation,  die  der  Welt  eine  wertvolle  Uebertragung 
schenkte,  war  die  französische;  wenn  Madame  Dacier^)  oft 
nicht  den  richtigen  Ton  traf,  trug  weniger  sie  selbst  als  der 
akademische  Zopf  ihrer  Sprache  daran  Schuld.  Wie  nun 
Chapman  und  Dacier  in  der  Glanzperiode  ihrer  heimatlichen 
Literatur  lebten ,  musste  auch  in  Deutschland  die  Literatur 
wieder  ihres  Lebens  sich  freuen,  bis  eine  würdige  Arbeit  ent- 
stehen konnte.  Nach  schweren  Wehen  und  vielen  verfehlten 
Ansätzen  erschien  177-1  die  keineswegs  ungewandte  Ilias- 
übersetzung  von  Friedrich  Stolberg,  die  teils  wiegen  ihrer 
Flüchtigkeit  teils  auch  aus  persönlichen  Gründen  keinen  Wider- 
hall hervorrief.  Weit  grösseres  Glück  machte  Joh.  H.  Voss, 
der  1781  die  Odyssee  und  1793  den  ganzen  Homer  heraus- 
gab, weil  seine  Uebersetzung  zumal  in  der  ersten  Ausgabe,  die 
durch  Bernays'  schöne  Neubearbeitung^)  hoffentlich  populär 
wird,  viele  Vorzüge  besitzt.  Wiewohl  sie  Homers  Feinheit  und 
Lieblichkeit  und  den  leichten  Fluss  seiner  Hexameter  nicht 
recht  wiedergibt,  Hest  sie  sich  angenehmer  als  die  Ueber- 
setzung des  „Rhapsoden"  W.  Jordan^),  in  der  überall  ein  un- 
angenehmes Haschen  nach  Originalität  sich  kundthut;  das  mit 
Prätention  vorgetragene  „Neue"  ist  nur  zu  oft  längst  abgethan. 
EndUch  geniessen  die  italienische  Ilias  von  Monti  und  die 
russische  Odyssee  von  Schukoffsky  in  ihrem  Vaterlande  grosses 
Ansehen.') 

1)  Dias  1603,  Odyssee  1614,  vgl.  Kegel  in  Kölbiug.s  englischen  Studien  V. 

2)  Seine  Arbeit  erschien  zuerst  London  1715  flf. 

8)  Penon  versiones  Homeri  Anglicae  inter  se  comparatae,  Bonn  1861. 

4)  Paria  1709. 

6)  Mit  interessanter  historischer  Einleitung,  Stuttgart  1881;  über  die 
älteren  Versache  gibt  Schröter  Geschichte  der  deutschen  Hoiuerübersetzungen 
im  18.  Jahrb.  (Jena  1882)  einiges. 

6)  Odyssee,  P^raukfurt  1876.  Ilias  1881. 

7)  Der  Kariosität  halber  erwähne  ich,  dass  der  Erzbischof  Mac  Haie  die 
ersten  sechs  Geeäoge  der  Ilias  in  die  Sprache  des   unruhigen  Erin  übertrug. 


Die  homerischen  Epen.  163 

Die  Kunst  blieb  bei  den  Griechen  in  stetem  Kontakt  mit 
der  Literatm-,  indem  sie  die  poetisch  entwickelten  Ideen  in 
Anschaumig  umsetzte.  Ilias  und  Odysse  besitzen  nun  als 
Fundgrube  für  künstlerisch  abrundbare  Scenen  eine  verhältnis- 
mässig sehr  geringe  Wichtigkeit^)  gegenüber  den  Kyklikern, 
welche  Massen  von  Bildern  hervorgerufen  haben.  Overbeck 
sammelte  in  der  ,,Gallerie  heroischer  Bildwerke  der  alten  Kunst"  I. 
(Braunschweig  1853)  auf  nur  5  Tafeln,  die  wegen  häufig  un- 
richtiger Deutung  nicht  voll  zu  rechnen  sind,  die  Darstellungen 
von  Scenen  der  Ilias,  wozu  Brunn  ^)  in  „troische  Miscellen" 
betitelten  Abhandlungen  kritische  Nachträge  gab.  Ueberdies 
erfährt  die  an  sich  geringe  Zahl  der  Bilder  dadurch  eine  Ein- 
schränkung, dass  bei  weitem  nicht  alle  direkt  aus  Homer 
stammen  und  reine  Schemata,  denen  man  die  Erklärung 
,,Troische  Schlacht"  oder  ,, Kampf  um  eine  Leiche"  beigibt, 
einen  bedeutenden  Raum  einnehmen.  Wirklich  populär  wurde 
blos,  wie  die  Nereiden  dem  Achilleus  die  göttlichen  AVaffen 
überbringen,  weil  diese  Scene  sich  zu  einem  Dekorationsstreifen 
vorzüglich  eignet.^)  Den  zweiten  Platz  nimmt  die  leicht  dem 
Beschauer  klar  zu  machende  und  in  sich  abgeschlossene  Doloneia 
ein.^)  Wir  besitzen  aus  selbstverständlichen  Gründen  keine 
Cyklen  von  Darstellungen,  die  nur  die  Ilias  umfassten;  wir 
müssten  denn  eine  Mailänder  Handschrift  mit  Miniaturen  des 
vierten  oder  fünften  Jahrhunderts  hieher  ziehen^),  in  der,  wie- 
wohl die  Ausführung  wenig  Geschick  zeigt,  doch  verschiedenes, 
zumal  die  Typik,  auf  ältere  Tradition  deutet.  Sobald  sich  ein 
Künstler    über  die  Illustration   erhebt,    gibt  er   lieber  eine  daii 


1)  Inghirami  galleria  Omerica,  Fiesole  1829 — 31  ist  künstlieh  auge- 
schwellt, indem  der  Verfasser  auch  die  Darstellungen  der  von  Homer  l)eiläutig 
erwähnten  Mythen  aufnimmt. 

2)  Sitzuug.sber.  der  bayer.  Akad.  hist.-phil.  Cl.  18ü8  I  45  ff.  II  217  ff. 
1880  I  166  ff.;  vgl.  auch  seine  Rilievi  delle  urne  Etrusehe  I.  Rom  1870  mit 
Schlie  Darstellungen  des  troischen  Sagenkreises  auf  etrusk.  Aschenkisten, 
Stuttgart  1868. 

3)  Heydemann  Festschrift  der  Universität  Halle  zum  Jubiläum  des 
archäologischen  Institutes  1879. 

4)  Schreiber  il  mito  di  Dolone    in    den  Ann.    d.  I.   1875  p.  2^9—325. 

5)  Iliadis  antiquissimae  fragmenta  cum  picturis  ed.  Angelo  Maio,  Mediol. 
1819.  Romae  1835.  Eine  einzelne  prachtvolle  Miniatur  zu  A  steht  in  der 
Stuttgarter  Handschrift  (Rieckher  Eos  2,  182). 

n* 


1(54  8-  Kapitel. 

ganzen  troischen  Krieg  umspannende  Reihe  von  Scenen.  ^) 
Unter  solchen  Cyklen  hatte  der  GemäldecykUis,  den  Theodoros 
im  Porticus  Philippi  zu  Rom  gemalt  hatte  ^),  das  grösste  An- 
sehen ;  er  gab  das  Vorbild  für  die  verschiedenen  tabulae  Iliacae 
ab,  die  wahrscheinlich  wegen  der  Kleinheit  der  Figuren  nicht 
dem  Schulunterrichte,  sondern  zum  Schmücken  der  Bücher- 
schränke dienten.  ^)  Eben  daher  stammt  das  kürzlich  aufge- 
fundene Bild  des  Achilleusschildes ,  welchen  eine  ausserdem 
76  homerische  Verse  enthaltende  Platte^)  darstellt. 

Die  Odyssee  bietet  am  meisten  durch  die  wunderbaren 
Erzählungen  des  Odysseus  Stoff  für  bildliche  Darstellung.^) 
Polygnot  wurde  zu  seiner  Nekyia  gewiss  durch  die  homerische 
begeistert,  wenn  er  auch  im  Einzelnen  davon  abwich.  Bei  der 
Verfeinerung  des  Natursinnes  nahmen  aber  die  Maler  aus  der 
Odyssee  lieber  heroische  Landschaften.  Vor  mehreren  Jahren 
wurden  auf  dem  Esquilin  neun  Landschaftsbilder,  leider  niclit 
alle  vollständig,  entdeckt,  welche  die  Scenerie  der  Gesänge  x. 
und  X  darstellen  ^) ;  der  Maler  mag  am  Ende  der  RepubUk  oder 
am  Anfange  der  Kaiserzeit  gelebt  haben.  Scenen  aus  dem 
zweiten  Teile  der  Odyssee  wurden  seltener  dargestellt,  immerhin 


1)  Das  Prachtschilf  des  Hieron  enthielt  einen  derartigen  Mosaikboden. 
Vergil  scheint  bei  Aen.  1,  456  ff.  einen  Cyklus  vor  Augen  gehabt  zu  haben. 
Die  Casa  Omerica  zu  Pompeji  enthält  drei  Wandgemälde,  deren  Stoff  der 
Ilias  entstammt  (O verbeck  Pompeji  11^  207VNur  Triraalchio  hatte  in  den 
Vorhallen   seines  Hauses  die    ganze  Ilias  und  Odyssee  abgemalt  (Petron.  29). 

2)  Plin.  n.  h.  35,  144. 

^3)  Reifferscheid  Annali  d.  I,  1862  S,  104  ff. 

4)  H.  Dressel  Deutsche  Literaturztg.  1882  Nr.  29  Sp.  1060—2;  Gatti 
Academy  1882  p.  423. 

6)  Nach  Overbeck  vergl.  im  allgemeinen  H.  He  y  dem  an  n  Annali  d.  I. 
1878  S.  222  ff.;  J.  E.  Harrison  myths  ofthe  Odyssey  in  art  and  literature, 
New-York  1881;  B ölten  de  monnmentis  ad  Odysseam  pertinentibus,  Berlin 
1882,  dann  über  Kirke  O.  Jahn  Arch.  Ztg.  23  (1865)  S.  17  ff.,  Skylla  A. 
Klügmnnn  Ann.  d.  I.  1876  p.  290  ff.  und  die  Sirenen  S t ephani  Corapte- 
rendu  de  1'  acad.  de  St.  Pet.  1866  p.  31  ff.  1870  p.  146  ff.  und  H.  Seh  rader 
die  Sirenen  nach  ihrer  Bedeutung  und  künstlerischen  Darstellung,  Berlin  1866. 

6)  Sie  befinden  sich  jetzt  in  der  vatikanisclien  Bibliothek  (K.  AVörmann 
die  antiken  Odysseelundschaften  vom  esciuilinischen  Hügel,  München  1876, 
mit  6  farbigen  Foliotafeln).  Auch  die  Gärten  des  Alkinoos  dürften  im  Altertum 
mehrfach  dargestellt  worden  sein  (Celestino  Cavedoni  osserv.  sul  tipo  rap- 
presentante  gli  orti  di  Alcinoc.  pelle  monete  di  Corcira  e  sue  colonie,  Modena 
1827  ?). 


Die  homerischen  Epen.  X65 

sind  alle  bedeutenden  Ereignisse  vertreten.  ^)  Ein  wichtiges 
aber  mit  Erfolg  gelöstes  Problem  der  Kunst  bestand  darin, 
Odysseus  in  Blick  und  Haltung  zu  charakterisieren,  worin  eine 
solche  Virtuosität  erzielt  wurde,  dass  seine  Gestalt  unter  allen 
die  durchgebildetste  war.^)  Wie  die  Alten  ihn  und  die  übrigen 
achäischen  Helden  nach  ihrem  Charakter  darstellten,  teilt  der 
Kunstkritiker  Philostratos  im  i^pwtxöc  mit. 

Die  Darstellungen  der  lykischen  Keliefs  von  Gjölbaschi'') 
wollen  wir ,  bis  sie  genauer  erforscht  und  erklärt  sind ,  bei 
Seite  lassen. 

Während  wir  die  Zahl  der  Monumente,  deren  Stoff  die 
Künstler  von  Homer  erborgt  haben,  leicht  übersehen  können, 
fällt  es  weit  schwerer,  den  Einfluss,  den  er  auf  die  Blütezeit 
der  Kunst  ausübte,  zu  ermessen.  Ich  will  nur  ein  Moment 
hervorheben :  Zwischen  den  archaischen  Göttertypen  und  den 
klassischen  Götteridealen  klafft  eine  grosse  Kluft,  die  nur  das 
Genie  überschreiten  konnte,  lieber  diese  leitete  nun  die 
homerische  Dichtung  den  Geist  des  Phidias.  Da  die  lebendige 
Schilderung  Homers  die  Charaktere  der  Götter  getreulich  ab- 
spiegelte, wurden  die  Götter  aus  blossen  Kultusbildern  zu 
lebenden  Wesen ,  denen  wie  den  Menschen  eine  individuelle 
Gemüts-  und  Denkungsart  innewohnte.  Phidias  konnte  daher 
sagen,  Homer  habe  ihn  zu  seinem  olympischen  Zeus  begeistert;^) 
wenn  es  auch  nicht  gerade  durch  jene  drei  berühmten  Verse 
A  527  ff.  geschah,  so  hatte  er  doch  gefühlt,  dass  ihm  durch 
das  erste  Buch  der  Ilias  die  rechte  Anschauung  von  dem 
mächtigen  Gotte,  der  selbst  freundlich  gewährend  den  Olymp 
•erschüttert ,  geworden  sei.  ^)  Wir  dürfen  daher  mit  Recht  be- 
haupten,  dass  alle  Götterideale  der  Kunstblüte  auf  homerische 


1)  Conze  Annali  1872  S.  187  ff.,  auch  O.  Jahn  Berichte  der  sächs. 
Oes.  der  Wissensch.  hist.-phil.  Cl.  1854  S.  49  ff. 

2)  H.  Brunn  lehrt  in  dem  bekannten  Aufsatze  „Vulcano  ed  Ulisse"  (Ann. 
d.  I.  1863  S.  421  ft.)  den  Typus  des  Odysseus  von  dem  äusserlich  ähnlichen 
des  Hephaistos  unterscheiden. 

3)  Benndorf  Archäologisch-epigr,  Mitteilungen  aus  Oesterreich  6,  193  ff. 

4)  Von  Euphranor  wird  eine  ähnliche  Geschichte  erzählt  (Eustath.  zu 
A  529). 

5)  Vgl.  die  schöne  zwölfte  Rede  des  Dio  Chrysostomos ;  Strabo  8,  353 ; 
Val.  Max.  3,  7  ext.  4.  Macrob.  sat.  5,  13.  Ein  ähnliches  Gefühl  liess  den 
Zeuxis  unter  seine  Helena  homerische  Verse  setzen. 


IQQ  2.  Kapitel. 

Poesie  zurückgehen.  Wenn  die  wirklichen  Künstler  nicht  viele 
Scenen  der  homerischen  Epen  dargestellt  haben  mögen,  so 
arbeiteten  sie  desto  mehr  in  dem  Geiste  des  Dichters. 

Für  die  Kunst  unserer  Zeit  besitzt  Homer  keine  grosse 
Bedeutung  mehr,  da  sie  ihre  Vorwürfe  Heber  dem  Leben  der 
Gegenwart  entnimmt.  Aber  noch  ein  kunstsinniger  Monarch 
Frankreichs  hatte  den  königlichen  Palast  von  Fontainebleau 
mit  den  Schicksalen  des  Odysseus  ausmalen  lassen^)  und  der 
Graf  Caylus  wollte  durch  sein  Werk  tableaux  tir6s  de  1'  Iliade 
die  Künstler  seiner  Zeit  veranlassen,  ihre  Stoffe  der  IHas  zu 
entnehmen.  Auch  die  Klassicisten  wandten  sich  wieder  Homer 
zu :  so  schmückte  Cornelius  eine  Saaldecke  der  Glyptothek  mit 
ausgewählten  troischen  Scenen;  John  Flaxman  und  B.  Genelli 
entwarfen  Umrisse  zur  Ilias  und  Odyssee,  die  sich  rasch  ver- 
breiteten. *)  In  neuester  Zeit  unternahm  Friedrich  Preller,  durch 
eine  Reihe  von  Gemälden  ^) ,  in  denen  das  landschaftliche 
Element  dominiert,  uns  Nordländern  den  echten  Hintergrund 
der  Odysseemärchen  vor  Augen  zu  führen,  wofür  ihn  der  allge- 
meine Beifall  belohnte. 


1)  Les  travaux  d'  Ulysse  desseignez  par  de  Saiuct-Martin  dans  la  maisoi» 
royale  de  Fontainebleau ,  peint  par  Nicolas  et  gravez  en  cuivre  par  Th. 
V.  Tulden,  Paris  1640,  deutsch  Augsburg  o.  J. 

2)  Flaxmans  Umrisse  erschienen  zuerst  London  1795;  die  beliebtesten 
Stiche  sind  von  Ludwig  und  .Julius  Schnorr,  Lpg.  und  Stuttgart  1804  ff. 
7.  Aufl.  1876.  Genellis  Zeichnungen  erschienen  Stuttgart  1844,  neu  1866. 

3)  Photographisch  München  1864,  in  Aquarellausgabe  München  1875 — 7» 
im  Holzschnitt  bei  Voss'  Uebersetzung  2.  A.  Lpg.  1873. 


4.  Kapitel. 
Das  nachhomerische  Heldenepos. 

Der  epische  Kyklos  —  Verhältnis  zu  den  homerischen  Epen  —  Kyprien  — 
Aithiopis  —  Iliupersis  —  kleine  Ilias  —  Nosten  —  Telegonie  —  Thebais 
und  Oidipodeia,  Epigonen  und  Alkmaionis  —  Heraklesepen  (Oichalias  Ein- 
nahme, Minyas  und  Phokais,  Aigimios,  Ho<'hzeit  des  Keyx,  der  hesiodische 
Schild;  Kinaithon,  Demodokos,  Diotimos,  Phaidimos,  Peisinns  und  Peisandros) 
—  Theseis  —  Argonautika  —  Antimachos  von  Teos  —  Magnes. 


Homer  brach  dem  Epos  die  Bahn.  Nach  der  IHas  und 
Odyssee  erschienen  in  verhältnismässig  kurzen  Zwischenräumen 
zahlreiche  umfängliche  Epen,  deren  Verfasser  die  alten  Einzel- 
lieder mit  Zuhilfenahme  eigener  Phantasie  auszuspinnen  sich 
bemühten.  Den  Literarhistorikern  beliebt  es ,  diese  Dichter 
unter  dem  Namen  der  Kykliker  zusammenzufassen.  Die  Be- 
zeichnung ist  keineswegs  sehr  alt,  da  wenigstens  wir  nur  mehr 
aus  der  Kaiserzeit  Belege  beibringen  können.^)  Trotzdem  nahm 
man  früher  an,  dass  schon  Peisistratos'  ehrenwerte  Kommission 
diese  Epen  zusammengestellt  habe,  während  Welcker  auf  Grund 
des  SchoHon  Romanum  dem  Zenodot  die  Sammlung  eines 
corpus  poetarum  epicorum  beilegte.  Indes  bezieht  sich  jene 
Nachricht  ausschliesslich  auf  das  riesige  Unternehmen ,  die 
Handschriftmassen  von  Alexandria  zu  katalogisieren ,  wobei 
Zenodot  die  Epiker  übernommen  hatte.  Dadurch  war  aller- 
dings den  alexandrinischen  Gelehrten  die  Möglichkeit  geboten, 
einerseits    den    gesammten  Kreis    der   Mythen  in  einem  xöxXoc 

1)  Die  Stelleu  des  Aristoteles  sind  anders  zu  erklären  (Welcker  der 
epische  Cyclus  1,  42  ff.  2,  441  ff.)  Kallimachos  meint  mit  den  bekannten 
Worten  E/O-ctipü)  xö  ^oiYjjxa  xb  XDxXtxov  (epigr.  30)  zeitgenössische  Dichter, 
vornehmlich  seinen  Gegner  Apollonios;  auch  Horaz  (a.  p.  136)  zielt  wohl  auf 
einen  alexandrinischen  scriptor  cyclicus. 


Igg  4.  Kapitel. 

tOToptxdc  ZU  vereinigen/)  andererseits  einen  xoxXoc  Ittixo?  der 
alten  Epen  selbst  zu  sammeln  und  mit  Aenderung  der  An- 
fangs- und  Schlussverse  eine  ziemlich  zusammenhängende  Er- 
zählung zu  gewinnen.  Als  terminus  ante  quem  des  letzteren 
Unternehmens  können  wir  Mos  die  Zeit  des  Didymos,  aus  wel- 
chem die  Angaben  über  die  kyklische  Odyssee  und  den  Schluss 
der  Ilias  stammen ,  angeben.  Den  Anfang  bildete  die  Theo- 
gonie  des  Hesiod,^)  welcher  das  argolische  Epos  „Danaiden" 
folgte;  den  Hauptbestandteil  machten  die  Dichtungen  des 
thebanischen  und  troischen  Sagenkreises  aus.  Die  Herakles- 
mythen waren  ausgeschlossen ;  dagegen  gehörten  auch  die  Ilias 
und  die  Odyssee  zum  Kyklos.  Da  jedoch  der  bedeutende  Um- 
fang dieses  Sammelwerkes  nur  wenigen  die  Benützung  gestattete, 
machten  Grammatiker  im  Interesse  der  Schule  prosaische  xAus- 
züge.  Einen  solchen  besitzen  wir  in  der  xpTjaTOfj.ad-sia  Ypa[i[iaTtx7] 
des  Proklos,  von  der  noch  bedeutende  Fragmente  und  ein  aber- 
maliger Auszug  bei  Photios  (cod.  239)  vorliegen;^)  dieser  Proklos 
ist  schwerlich  mit  dem  berühmten  Neuplatoniker  identisch.*) 
Eben  weil  es  ihm  um  eine  fortlaufende  Geschichte  zu  thun 
war,  erzählte  er  die  Vorgänge,  die  zwei  Gedichte  berichteten, 
nur  einmal.  Eine  in  Bovillae  gefundene  tabula  Ihaca  mit  klei- 
nen Bildern  und  Inschriften,  sowie  zahlreiche  Bruchstücke  ähn- 
lichen Inhalts  ergänzen  und  bestätigen  die  Nachrichten  des 
Proklos.^)  Jene  wurde  wahrscheinlich  bei  der  Restauration  des 
Julierhaines,  also  im  zweiten  Regierungsjahre  des  Tiberius  ver- 
fertigt; alle  dienten,  wüe  gesagt,  wegen  der  Kleinheit  der  Figuren 


1)  Den  bedeutendsten  derartigen  Kyklos  verfasste  Dionysios  Skji»brachion 
(C.  Müller  frg.  histor.  Graec.  II  5—11,  dazu  Philol.  5,  676  f.). 

2)  Die  Titanomachie  (C.  W.  Müller  de  cyclo  Graecorum  epico  p.  53) 
ist  hier  nicht  notwendig. 

3)  Zuerst  uns  den  Papieren  von  Tychseu  und  Siebenkees  bei  Heyne 
Bibliothek  der  alten  Literatur  und  Kunst  I  S.  VII  flf.,  verbessert  von 
Thiersch  acta  philol.  Monac.  I  672  flf.,  zuletzt  in  den  scriptores  raetrici  I. 
von  Westphal  und  vor  Dindorfs  Iliasscholien. 

4)  Phot.  cod.  239,  Suidas  und  3chol.  Greg.  Naz.  bei  Migne  36,  914  c; 
"Wekker  1,  3  ff.  und  andere  ziehen  Eutychios  Proklos  von  Sicca,  den  Lehrer 
des  Mark  Aurel,  vor. 

6)  Am  ))e8ten  von  O.  Ja  h  n  griechische  Bilderchroniken,  hrsg.  v.  Michaelis, 
Berlin  1878  gesammelt;  vgl.  Rei  ff  erscheid  Anuali  d.  L  1862  8.  104  ff., 
1868  8.  412  ff.,  zur  kapitolinischen  Tafel  Robert  Arch.  Ztg.  1874  S.  106. 
172,  zur  albanischen  Klügmaun  Bull.  d.  L  1875  S.  131  f. 


Das  nachhoiuerische  Heldenepos.  1(59 

nicht  für  den  Unterricht,  sondern  zur  Ausschmückung  von 
BibHothekschränken.  Da  die  Kykhker  für  die  Späteren  nur  ein 
stoffliches  Interesse  besassen,^)  gingen  ihre  Werke  unter,  sobald 
diesem  durch  jene  Auszüge  und  Bilderchroniken  Genüge  geleistet 
war;  früher  dagegen  hatten  sie  unter  dem  Deckmantel  des 
homerischen  Namens  ein  bedeutendes  Ansehen  besessen.  Wir 
haben  schon  oben  gesehen,  dass  vor  Plato  nur  Herodot  aus 
sachlichen  Gründen  an  der  Authenticität  der  Epigonen  und 
Kyprien  zweifelte,  weshalb  Äschj^lus,  der  den  Kyklos  am  meisten 
benützte,  den  berühmten  von  jeder  Skepsis  entfernten  Aus- 
spruch that.  Die  Sophisten  fanden  aber  jedenfalls  aus  ästhe- 
tischen Gründen  nur  Ilias  und  Odyssee  Homers  würdig;  auf 
diesem  Staudpunkte  befanden  sich  Plato,  Xenophon^)  und  Ari- 
stoteles. Als  Anhängsel  Homers  erfuhren  die  kyklischen  Ge- 
dichte vielleiclit  durch  Zenodot  eine  Säuberung;^)  aber  das 
grosse  Publikum  kannte  von  ihnen  nur  den  Stoff  und  einige 
geflügelte  Worte.  Welcker*)  hat  das  unsterbliche  Verdienst,  sie 
aus  wesenlosen  Schemen  zu  greifbaren  Gestalten  gemacht  zu 
haben.  Er  war  wie  kein  anderer,  um  von  seinem  feinen  Sinn 
für  Poesie  nicht  zu  reden ,  durch  seine  eindringende  Kenntnis 
der  griechischen  Tragödien  und  der  Kunstwerke  zu  diesem 
Werke  befähigt.  Wenn  auch  die  Tragiker  die  Mytlien  vielfach 
umbildeten,  fussten  sie  doch  in  der  Regel  auf  den  Kyklikern; 
die  unübersehbare  Masse  der  Vasenbilder  und  hier  vor  allem 
der  älteren ,  bezog  ihren  Stoff  hauptsächlich  aus  der  gleichen 
Quelle,  wobei  freilich  entweder  die  geringe  Bildung  der  Maler 
oder  noch  häufiger  die  künstlerische  Noth wendigkeit  eine  Um- 
bildung herbeiführte.^) 

1)  Daher  sagt  Proklos:  airouSaCsiai  xoiz  itoWolq  ouy  o5tü)  8ta  ty]v  apst'fjv 
U)Z  S'.a  T7]v  äxoXouö-iav  xwv  ev  aöxw  TrpaYftattov. 

2)  conv.  3,  5. 

3)  Schol.  Plaut,  p.  124,  15  flf.  Ritsch)  (im  griechischen  Texte  fehlt  die 
Notiz). 

4)  Der  epische  Cyklus  oder  die  homerischen  Dichter,  Bonn  1830—5 
*1865— 81  2  Bde.,  vergl.  noch  J.  Th.  Struve  de  argumentis  carminum  epi- 
corum  posthomericorum,  Petersburg  1846 — 50  2  Tle.,  J.  Overbeck,  de  argu- 
mentis carminum  epici  cycli  ,  Bonn  1848;  veraltet  Fr.  Wüllner  de  cyclo 
epico  poetisque  cyclicis,  Münster  1825  und  C.  W.  Müllerde  cyclo  ep.  et  p. 
c,  Leipzig  1829. 

5)  Luckenbach  Verhältniss  der  griechischen  Vasenbikler  zu  den  Ge- 
dichten des  epischeu  Cyklus  (Jahrbb.  Suppl.  11,  491—638),  dazu  Schlie  in 


jYO  4.  Kapitel. 

Die  dürftigen  Fragmente  wurden  zuerst  von  Düntzer  und 
ein  zweites  Mal,  aber  nicht  viel  besser  von  Gottfried  Kinkel 
(Epicorum  Graecorum    fragmenta  I  Lipsiae  1877)   gesammelt.^) 

Wenn  wir  uns  nach  gemeinsamen  Eigenschaften  des  nach- 
homerischen Epos  umsehen,  so  bemerken  wir  zunächst,  dass 
alle  Kykliker  die  homerischen  Gesänge  ausgiebig  benützen. 
Diejenigen  aber,  welche  troische  Sagen  behandeln,  knüpfen 
enge  an  Homer  an,^)  indem  sie  dort  angedeutete  Motive  w^eiter 
ausführen,  wobei  Missverständnisse  nicht  fehlen.  So  ersann 
<ler  Dichter  der  Kyprien  einen  zweimaligen  Auszug  der  Achäer 
sammt  der  Telephossage  blos  deshalb,  weil  er  A  59  f.  vöv  a.\L\i'. 
TräXtv  zXaY/dsvTa?  o'lco  falsch  übersetzte.  Die  Mutter  des  Me- 
gapenthes  führt  in  der  Telemachie  (5  12)  keinen  Namen;  der 
Verfasser  der  Nosten  weiss  ihn  bereits  zu  nennen.  Endlich 
fangen  die  Äthiopis  und  die  Telegonie  genau  da  an ,  w^o  IHas 
und  Odyssee  aufhören.  Immerhin  dürfen  wir  uns  die  Dichter 
nicht  so  unselbständig,  wie  es  Niese  thut,  vorstellen.  Wenn« 
Homer  kyklische  Mythen  berührt,  dann  ist  die  Annahme  einerf 
gemeinsamen  Quelle  keineswegs  ausgeschlossen.  Die  kykhschen 
Epen  unterschieden  sich  auch  in  poetischer  Hinsicht,  den  un- 
gleichen Grad  des  Talentes  ausser  Acht  gelassen,  wesentHch 
von  ihrem  Vorbilde.  Sie  bheben  schon  darin  entschieden  hinter 
Homer  zurück,  dass  die  Dichtungen  statt  gleich  Ilias  und  Odyssee 
einen  einzigen  Helden  zum  Mittelpunkt  zu  haben,  nichts  ande- 
res als  eine  äusserlich  verbundene  Reihe  Episoden  gaben. 
Diesen  Mangel,  den  Aristoteles  besonders  hervorhebt,^)  suchten 
sie  teils  durch  die  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  der  Scenen,  teils 
durch  das  Einfügen  pragmatischer  Wechselbeziehungen  zu  er- 
setzen. Die  KykUker  mussten,  von  der  Fülle  des  Stoffes,  den 
vi"  zu  iM'willtigen  hatten,  genötigt,  mehr  auf  die  Erzählung 
verwenden    und    konnten   weniger   Personen    redend    auftreten 


»winer  geistreichen    Schrift   „Die  Darstellung   des   troischen  Sagenkreises   auf 
troischen  Aschenkisten",  Stuttgart  1870. 

1)  Die  Nachträge  der  Ausgabe  sind  wohl  zu  beachten,  anderes  geben 
Kibbeck  Rhein.  Mus.  38,  466  ff.  und  E.  Abel  Egyetemes  Philologiai 
Kftrlöny  m. 

2)  Kirchhoff  (juaestt.  Homer  particula,  Berlin  1846;  Niese  Entwick- 
lung der  homerischen  Poesie  S.  26  ff. 

3)  Günstiger  denkt  Welcker  2,  68  ff.  darüber. 


Das  nachhomerische  Heldenepos.  171. 

lasseii,  wodurch  die  Charakteristik  litt.^)  So  sehr  wir  auch  den 
Untergang  aller  nachhonierischen  Epen  bedauern,  besitzen  wir 
•  loch  in  den  jüngeren  und  jüngsten  Partien  der  Jlias  und  Odyssee 
eine  vielleicht  ununterbrochene  Kette  von  Dichtungen;  die  von 
der  alten  Ilias  bis  etwa  zum  siebenten  Jahrhunderte  reicht. 
Sollte  es  nicht  gelingen,  mit  Hilfe  derselben  die  verschiedenen 
Kunstmittel  des  Epos,  z.  B.  Gleichnisse,  Formeln,  /ata  t6 
^tco;rtb;j.Evov  und  ähnliches  von  der  höchsten  Blüte  bis  zum  tief- 
sten Niedergange  zu  verfolgen?  Sehen  wir  nicht  schon,  wenn 
wir  den  ersten  Gesang  der  Ilias  mit  dem  letzten  der  Odyssee 
vergleichen ,  durch  eine  wie  weite  Kluft  nicht  nur  der  Geist, 
sondern  auch  die  Technik  getrennt  ist?  Ueberall  gibt  sich, 
wenn  ich  nicht  irre,  ein  Streben  nach  dem  Ueberraschenden 
und  dem  Pathetischen  kund,  welchem  eine  etwas  unruhige 
sprungweise  Manier  der  Erzählung  zur  Seite  steht.  Grelle  Mo- 
tive, wunderbares  Eingreifen  der  Götter,  übermenschliche  Tha- 
ten  von  Helden ,  rascher  Wechsel  der  Gefühle  von  feigster 
Furcht  bis  zu  unbegründeter  Hoffnung,  ungewohnte  Prahlereien 
treten  uns  nur  zu  häufig  entgegen.  Der  Gaumen  des  Publi- 
kums muss  des  Einfachen  müde  geworden  sein  und  empfind- 
Hcherer  Reizung  bedurft  haben.  Die  alte  Odyssee  ist  davon 
auch  schon  etwas  berührt;  z.  B.  kündigt  sich  in  der  Vorliebe 
für  das  Wunderbare  der  neue  Geschmack  an.  Gilt  nicht  genau 
dasselbe  auch  von  den  kyklischen  Epen  ?  Werden  doch  die 
Schauerscenen  (z.  B.  in  den  Atridensagen)  immer  zahlreicher 
und  die  Einführung  merkwürdiger  Helden,  die  aus  den  fernen 
Ländern  des  Orients  kommen,  belobt  die  Oede  der  Kampfscenen. 
Deutet  endlich  nicht  auch  schon  das  Proömium  der  kleinen 
Ilias  ,,Ich  singe  von  Ilion  und  dem  rossereicheu  Dardanien", 
zu  dem  der  Beginn  der  Epigonen"'*)  einen  gewissen  Uebergang 
bildet,  auf  einen  ganz  unepischen  subjektiven  Geist ?^) 

Da  es  wohl  nie  gelingen  wird,  die  nachhomerischen  Epen 
nach  ihrer  Entstehungszeit  zu  ordnen,  muss  der  Inhalt  den  Ein- 
teilungsgrund bilden.    An  der  Spitze  der  troischen  Epen^)  stan- 


1)  Aristot.  poet.  p.  1460  a  5  flf. 

2)  Nüv  aud-'  oTrXoxIpcüV  äv5pa»v  apy^ä»}JLc9'a  Moöoat. 

3)  Vgl.  den  16.  kritischen  Brief  Lessings. 

4)  Die.se    bildeten    den    Kern  des  Kyklos;    deshalb  definiert  Schol.  Clem. 
protr.  p.  26  die  Kykliker  als  die,  welche  xa  xüxXü>  t-i^c  'IkiäPjo^  dichteten. 


172  ^-  Kapitel. 

■den  nach  der  Zeitfolge  die  Kyprien,  welche  die  vor  der  Ilias 
liegenden  Ereignisse  schilderten.^)  Da  die  kyprische  Göttin  in 
diesem  Gedichte  keine  sehr  hervorragende  Stelle  einnimmt  und 
auch  sprachliche  Bedenken  einer  derartigen  Deutung  im  Wege 
stehen,  bezieht  sich  der  Titel  auf  die  Heunat  des  Dichters.^) 
Es  ist  allerdings  nach  den  metrischen  Inschriften  und  dem 
zehnten  (vielleicht  auch  sechsten)  homerischen  Hynmus  nicht 
zweifelhaft,  dass  die  homerischen  Epen  ziemlich  frühe  nach  der 
Insel  der  Aphrodite  gelangten.  Die  Alten  nahmen  daher  auch 
«inen  Kyprier  (weil  Salamis  die  ansehnlichste  griechische  Stadt 
war,  speziell  einen  Salaminier)  als  Verfasser  an;^)  manche 
nennen  ihn  Stasinos.^)  andere  Hegesias.^)  Beide  waren  jeden- 
falls alte  berühmte  Aöden;  von  jenem  erzählt  schon  Pindar, 
dass  ihm  Homer  die  Kyprien  als  Mitgift  seiner  Tochter  ge- 
schenkt habe.*^)  Der  poetische  Wert  der  elf  Bücher^)  umfassen- 
den Dichtung  scheint  nicht  bedeutend  gewesen  zu  sein;  da- 
gegen bot  der  Sagenreichtum  den  griechischen  und  italischen 
Künstlern,  wie  den  Tragikern  eine  unerschöpfliche  Fundgrube, 
weshalb  Ninnius  Crassus  die  Kyprien  in  die  lateinische  Sprache 
übertrug.^)  Soweit  wir  aus  den  Fragmenten  einen  Schluss  zie 
lien  dürfen,  war  die  Sprache  wortreich  und  die  Sätze  lang- 
atmig.^) Der  Dichter  schloss  sich  so  sorgfältig  an  Homer  an, 
dass  er  alle  Aeusserungen  desselben,  auch  beiläufige  wie  über 
den  Wein  des  Menelaos^")  auffing  und  ausspann;  wie  bereits 
erwähnt,  gelangte  er  irrtümhch  zur  Annahme  einer  zweimaligen 
Landung  der  Griechen.  Er  brach  nicht  einmal  mit  der  Ver- 
teilung der  Ehrengaben  (Briseis  und  Chryseis)  ab,  sondern  wies 
auf  die  folgende  Ilias   noch   deutlich   durch   einen  abermaligen 


1)  Weicker  1,  300  ff.  2,  85  ff.;    Schlie  zu  den  Kyprien,  Berlin  1874. 

2)  Der  Vergleich  mit  den  Naondxx'.a  STz-t]  liegt  nahe. 

8)  Von   einem  Halikarnassier  scheint    Demodamas    (Athen  15,  682  e)  zu 
sprechen. 

4)  Z.  B.  der  Mythograph  in  Schol.  A  zu  A  5  f. 

6)  Ath.  16,  682  e  und  Proklos;  Hegesinos  ist  wahrscheinlich  in  Erinner- 
ung an  Stusiuos  verschrieben. 

6)  Ael.  V.  h.  9,  15  (Fr.  266  Bergk.) 

7)  Proklos  Ijei  Phot.  cod.  289. 

8)  Teuffei  röm.  Literaturgesch.  §  160,6.  * 

9)  Z.  B.  fr.  3. 

10)  fr.  10  nach  ?  219  ff. 


I 


Das  uachhonierische  Heldenepos.  173 

ojanz  unpassenden  Ratschluss  des  Zeus  und  den  Katalog  der 
Troer  hin.  Selbst  nach  der  Ilias  liegende  Ereignisse  bereitet 
der  Kyprier  vor,  indem  er  z.  B.  Polyxena  von  Achilleus  beim 
Ueberfalle  des  Troilos  erblickt  werden  lässt  und  so  schon  auf 
ihre  Verlobung  mit  dem  Helden  hinweist.  Ueberhaupt  betont 
er  überall  die  Ursachen;  Zeus  beschhesst  mit  Themis  den 
troischen  Krieg  im  vornherein  ,  um  der  Uebervölkerung  ein 
Ende  zu  machen.  An  die  Stelle  des  lebensvollen  Eingreifens 
der  Götter  ist  der  dürre  Kausalnexus  getreten;^)  wären  die 
Kyprien  erhalten,  dann  würden  die  Anhänger  der  Liedertheorie 
sie  deshalb  vermutlich  als  ein  Musterepos  der  Ilias  gegenüber-, 
stellen.  Der  Dichter  ist  von  Homer  weit  abgewendet.  Der  alte 
Nestor,  der  bei  jenem  aus  seiner  reichen  Erfahrung  manche 
Züge  mitteilt,  wird  bei  Stasinos  zu  einer  wandelnden  Chronik, 
indem  er  bei  einem  Besuche  des  Menelaos  nicht  weniger  als 
vier  Geschichten  zum  besten  gibt. 

Die  IHas  bricht  mit  der  Leichenfeier  Hektors  ab;  die 
Athiopis  des  Arktinos  ^)  von  Milet^)  setzte  diese  bereits  voraus 
und  erzählte  die  weiteren  Thaten  des  Achilleus,  wie  er  Penthe- 
sileia  und  M'emnon  erlegte,  bis  ihn  endlich  der  Pfeil  des  Paris 
traf.  Die  Verteilung  dieses  Stoffes  auf  fünf  Bücher  erhellt  aus 
der  Pariser  Tafel. '^)  Nach  allem,  was  wir  von  Arktinos  wissen, 
gebührt  ihm  unter  den  Naclifolgern  Homers   der  Ehrenplatz. '") 

1)  Charakteristisch  ist,  dass  sich  der  griechische  Rationalismus  mit 
indischer  Spekulation  berührt  (Köhler  Rhein.  Mus.  13,  316  f.);  weil  Zeus 
fortwährend  seine  Hand  im  Spiele  hat,  zeigen  die  Kunstwerke  häufig  den 
Götterboten  anwesend. 

2)  Fragmente  bei  Kinkel  p.  32  fi.  Artemon  (bei  Suid.)  nennt  seinen 
Vater  Teles  und  den  Ahnherrn  der  Familie  Nantes. 

3)  Nach  Eusebios  dichtete  er  Ol.  1,  1  (Hieron.)  oder  1,  2  (arm.  Hier.  APR> 
und  Ol.  4,  2  (Hieron.)  oder  4,  4  (Synk.  u.  arm.),  nach  Suidas,  der  auch  über 
die  Genealogie  Auskunft  gibt,  Ol.  9;  vgl.  Sengebusch  Jahrbb.  67,  378  f. 
410.  Die  Chronographen  setzen  ihn  mit  Eumelos  gleichzeitig  (Rohde  Rhein. 
Mus.  33,  172  f.). 

4)  Jahn  griech.  Bilderchroniken  T.  HI  D^  (Penthesileia  kommt  an; 
Achilleus  tötet  sie;  Memnon  kommt  und  erschlägt  den  Antilochos;  Achilleus 
rächt  seinen  Tod ;  endlich  fällt  er  selbst) ;  wegen  des  glänzenden  Anfangs 
heisst  das  Gedicht  'A[xaCovia  (Suidas),  womit  die  Amazonis  des  Donlitius 
Marsus  im  Zusammenhang  zu  stehen  scheint. 

5)  Seine  Dichtung  fand  wahrscheinlich  noch  in  Rom  Anerkennung;  denn 
der  Dichter,  den  Horaz  sat.  1,  10,  36  unter  dem  Namen  Alpinus  verhöhnte, 
(?  Purins  Bibaculus)  scheint  sie  bearbeitet  zu  haben. 


2Y4  ^'  Kapitel. 

Er  fand  in  Achilleus  den  Helden  seines  Epos  und  brachte  die 
späteren  Ereignisse,  um  niciit  die  Fersoneneinheit  aufzugeben, 
in  eine  besondere  Dichtung,  statt  dass  er  nach  der  Weise  der 
Kyprien  einfach  die Post-Homerica  zusammenstellte.  ^)  Ergreifende 
Scenen  (der  Tod  Penthesileias ,  des  Antilochos,  Memnon  und 
Achilleus)  wechseln  mit  ruhigeren  Schilderungen  (Sühne  von 
Thersites'  Tod,  Schildbeschreibung  Memnons,  die  Bestattung  des 
Eossohnes  und  Wettspiele  am  Grabhügel  des  Achilleus).  Der 
grösste  Teil  dieser  Erzählungen  dürfte  der  Phantasie  des  Ark- 
tinos  entsprungen  sein^);  anderes  ist  Homer  nachgebildet,  z.B. 
wie  Memnons  Leiche  entführt  wird,  die  Beschreibung  seines 
Schildes  und  der  Kampf  um  den  toten  Achilleus.  Noch  in  den 
Bildern ,  welche  aus  der  Athiopis  abgeleitet  sind ,  spürt  man 
den  belebenden  Hauch  der  wahrhaft  tragischen  Gestaltung  des 
Stoffes. 

Ob  der  Dichter  aber  wirklich  schon  am  Anfang  der 
Olympiadenrechnung  gelebt  hat,  möchte  ich  sehr  bezweifehi. 
Der  harte  Charakter  des  Achilleus  ist  schon  milder  geworden, 
ja  in  sein  Verhältnis  zu  Penthesileia  scheint  sich  bereits  ein 
erotischsentimentaler  Zug  zu  mischen.  ^)  Auch  die  Apotheose 
des  Achilleus  und  seine  Versetzung  nach  Lenke  steht  Homer 
'ferne,  hängt  aber  mit  den  Pontusfahrten  der  Milesier,  der  Mit- 
bürger des  Dichters,  zusammen. 

Manche  vereinigten  die  Athiopis,  das  Proömium  weglassend, 
unmittelbar  mit  dem  Schlüsse  der  Ilias,  so  dass  es  hiess:  ""ßc 
■oTy'  ajx^isTcov  toc^ov  "ExTopo?,  TjX^s  S'  'AfiaCwv  *) ;  ebenso  verband 
ein  Relief  der  Villa  Borghese  die  Trauer  um  Hektor  und 
Penthesileias  Ankunft.^)  Andere  fügten  sie  mit  dem  zweiten 
Epos  des  Arktinos  zu  einem  einzigen  Werke  von  9500  Versen 
in  sieben  Büchern  zusammen.**)  Jenes  war  die  'IXioo  Tcipatc 
in  zwei  Büchern.  Arktinos  scheint  auf  die  Ereignisse  zwischen 
■dem  Selbstmorde    des  Aias    und    der  Erbauung    des   hölzernen 

1)  So   unterscheidet    er    sich    von    den   übrigen  Kyklikern,    weshalb  ihn 
Aristoteles  in  der  Poetik  nicht  nennt. 

2)  Welcker  II  200  tY.  vgl.  Nitzsch  Beiträge  S.  232  ff. 

3)  Von  Höh  de  der  griechische  Komau  S.  103  A.  2  angezweifelt. 

4)  Schol.  Victor,  12  804,  Nitzsch  Sagenpoesie  H.  40  f. 

6)  Ov erbeck  Gall.  her.  Bildw.  T.  21,  1,   vgl.  Nr.  3    und  Gerhard  aus- 
•erleeene  Vaseubilder  T.  199. 

6)  Fr.  8  aud  Marmor  Borgianuiu. 


•Das  nachhoiuerische  Heldenepos.  175 

Pferdes  wenig  Gewicht  gelegt  zu  haben,  weil  Proklos  für  diese 
Partie  lieber  Lesches  auszog;  immerhin  erzählte  er  gleichfalls, 
dass  die  Achäer  Philoktet  und  Neoptolemos  zu  Hilfe  riefen. 
Dagegen  boten  ihm  die  folgenden  Ereignisse  wieder  eine  passende 
Gelegenheit,  um  seiner  Phantasie  freien  Lauf  zu  lassen.  Wir 
dürfen  annehmen,  dass  die  erschütternden  Scenen  des  Unter- 
ganges zum  grossen  Teile  des  Arktinos  Eigentum  sind.^) 

Hingegen  weiss  der  Verfasser  der  kleinen  II ias^)  ebenso 
wenig  wie  der  kyprische  Dichter  den  bunten  Stoff  unter  einen 
Gesichtspunkt  zu  bringen.  ^)  Dies  spricht  sich  wider  Willen 
in  dem  nichtssagenden  Proömium  aus:  ''IXiov  astSo)  xai  AapSavlyjv 
ioTTwXov.  Der  Dichter  erzählte  in  vier  Büchern  alle  der  Ilias 
folgenden  Ereignisse  des  troischen  Krieges,  die  natürlich  eines 
Mittelpunktes  und  gemeinsamen  Gedankens  entbehrten.  Wie 
weit  sein  Anteil  an  dem  Fortwachsen  der  Sage  ging,  können 
wir  weder  mehr  aus  den  Fragmenten  noch  aus  den  Excerpten 
bestimmen.  Jedenfalls  milderte  er  ein  hartes  Motiv  des  Arktinos, 
da  er  Priamos  nicht  am  Altare,  sondern  an  der  Schwelle  des 
Tempels  sterben  liess.  '*)  Er  bildete  ferner  die  Sagen  vom 
Waffenstreite  und  des  Aneas  Fahrten  ^)  weiter  aus.  Nach  den 
Excerpten  des  Proklos  scheint  es,  dass  der  Anonymus  mit 
Arktinos  keinen  Vergleich  aushalten  kann;  weil  sie  aber  den 
gleichen  Stoff  behandelten,  erzählte  Phanias''),  Lesches  habe 
sich  mit  diesem  in  einen  Wettstreit  eingelassen  und  (wie  der 
Landsmann  wohlwollend  hinzufügt)  den  Milesier  besiegt.    Dem 


1)  Durch  eine  Blätterverschiebuug  geriet  der  Schluss  vou  Proklos'  Aus- 
zug im  Venediger  Codex  A  auf  fol.  4r.  WüUner  und  Welcker  erkannten, 
■dass  das  Fragment  zu  Arktinos  gehöre,  während  es  Heyne  und  Thiersch  trotz 
abweichender  Angaben  auf  Lesches  beziehen  wollten.  Michaelis  (in  Jahns 
Bilderchroniken  S.  95  ff.  und  Hermes  14,  481  ff.)  sprach  die  Vermutung  aus, 
dass  es  aus  der  Iliupersis  des  Stesichoros  stamme,  wurde  aber  von  Th.  Schrei- 
ber Hermes  10,  305  ff.  widerlegt. 

2)  Welcker  I  267  ff".  Nitzsch  bist.  Hom.  H  38  ff.  Kinkel  p.  36  ff. 
Der  Znsatz  [xixpä  bezieht  sich  zunächst  auf  den  äusseren  Umfang ;  der  Mangel 
an  ianerer  Einheit  stand  der  Wahl  eines  bezeichnenderen  Titels  entgegen. 

3)  Aristot.  poet.  23. 

4)  Robert  Bild  und  Lied  S.  222  ff. 

5)  Sonst  kommt  die  jüngere  Form  der  Äneassage  zuerst  bei  Stesichoros 
(bestritten  von  Hadsikonstas  Iliupersis  S.  9  ff.  63  ff.)  und  Hellanikos  vor. 

6)  Clem.  AI.  ström.  I  p.   144  S.  398  P. 


JY6  4.  Kapitel.  • 

Lesches  (Aiv/riz  oder  Aeo/sw?)  von  Pyrrha  ^)  schrieben  nämlich 
die  meisten  Späteren  das  Epos  zu;  da  aber  der  Lesbier  Hel- 
lanikos,  der,  soweit  es  nur  irgendwie  angeht,  seinen  Landsleuten 
einen  mögliehst  grossen  Anteil  an  der  alten  Literatur  ver- 
schaffen will,  nicht  ihm,  sondern  dem  Spartaner  Kinaithon  das 
Gedicht  beilegt^),  so  steht  fest,  dass  die  kleine  Ilias  weder  von 
Lesches  noch  überhaupt  von  einem  Äoler  herrührt.  Lesches 
ist  vielmehr  ein  Appellativ  und  bezeichnet  den  Sänger,  der  in 
der  Xeo-/"/]  (Markthalle)  vorträgt.  ^)  Andere  nannten  statt  dessen 
den  halbmythischen  Thestorides  von  Phokäa^)  oder  den  sonst 
völlig  unbekannten  Diodoros  von  Erythrä.  Wir  kommen  über 
das  Nichtwissen  nicht  hinaus,  obgleich  für  Kinaithon,  wie  ich 
nicht  verschweigen  will,  spricht,  dass  ein  Vers  (fr.  11  Kinkel) 
mit  unjonischem  ä  überliefert  ist.  Auch  der  an  sich  plausible 
Ansatz  des  Eusebios,  Ol.  30,  3  ^)  =  658  hat  keinen  Wert«'), 
falls  sich  nicht  der  Synchronismus  mit  Alkman  auf  die  Ge- 
dichte beider  stützt.  Die  kleine  Ilias  diente  Polygnot  für  seine 
Iliupersis  ^),  trat  aber  schon  ziemlich  frühe  in  den  Hintergrund. 
Robert  macht  wenigstens  wahrscheinlich,  dass  alle  unsere  Citate 
aus  Pausanias  und  den  Nosten  des  Lysimachos  stammen.  ®) 

Den  Zusammenhang  zwischen  dem  troischen  Sagenkreise 
und  der  Odyssee  stellen  die  Nöaiot^)  her,  angeblich  von  dem 
Trözenier  Hagias^")  verfasst.  Eustathios^^)  nennt  dagegen  den 
Verfasser  einen  Kolophonier,  was  nicht  unwahrscheinlich  ist, 
wenn  man  die  Betonung  der  kolophonischen  Lokalsagen  erw'ägt. 
Doch  wie  dem  auch  sei,  die  Nosten  umfassten  in  fünf  Bücher 


1)  Nach    Prokloa    aus    Mitylene.     Paus.    10,    25,    5    nennt    seinen    Vater 
Ai8chylino8. 

2)  Schol,  Vat.  Eur.  Troa<l.  821. 

8)  Welcker  I  2«7  und  Robert  a.  O.  S.  227. 

4)  Vgl.  Ps.  Herod.   16. 

6)  So  Arm.  u.  Hier.  APF,  Ol.  30,  4  Hieron.,  Ol.  31,  1  Sj-nk.  n.  Hier.  B. 

6)  Fand  mau  etwa  einen  Znsammenhang  zwischen  der  Dichtung  und  dem 
Kyiweloskasten?     Für  Phanias  (1.  c.)  ist  Lesches  älter  als  Terpander. 

7)  Fr.   12  ff. 

8)  Bild  und  Lied  S.  228  ff. 

Ö)  Nitzsch  hist.  Homeri  II  27  ff.  Beiträge  S.  281  ff.  Welcker  I  278  ff. 
Kinkel  p.  62  ff. 

10)  Pausanias  nennt  ihn  'Hyi«;;  'Afta?  ist  blos  Schreibfehler. 

11)  Od.  p,  1796,  53.     Oder  sind  diese  Nosten  verschieden? 


Das  nachhoiuerische  Heldeuepos.  177 

<lie  Schicksale  der  achäischeii  Helden  nach  Trojas  Falle,  wohei 
nur  Üdysseus  wegen  der  Odyssee  ausser  Betracht  blieh.  Der 
Dichter  zeigt  Vorliebe  für  Genealogien  und  Namen,  die  wieder 
für  die  peloponnesische  Pleimat  sprechen  könnte.  Das  ganze 
scheint  ein  düsterer  Ton  zu  durchziehen,  den  eine  Nekyia^) 
nicht  vermindert.  Leider  gab  es  so  viele  Nostenbücher^),  dass 
bei  vielen  Fragmenten  die  Zugehörigkeit  zweifelhaft  ist;  aber 
Tj  Twv  'ATpsiSwv  xa^oSoc  war  blos  ein  anderer  Titel  des  Epos.^) 

Den  Schluss  dieser  Reihe  bildet  das  jüngste  der  ky kuschen 
liedichte,  die  Telegonia  des  Eugamon  von  K3Tene.  ^)  In 
zwei  Büchern  schilderte  er,  an  den  Schluss  der  Odyssee  an- 
knüpfend^), die  weiteren  Schicksale  des  Odysseus ,  wobei  er 
teils  Andeutungen  der  Odyssee  fortführte,  teils  rein  seine 
Phantasie  schalten  Hess.  Der  bejahrte  Odysseus  abejiteuert  in 
-der  Welt  herum  und  wird,  endlich  nach  Ithaka  zurückgekehrt, 
von  seinem  und  Kirkes  Sohn  Telegonos ,  der  ihn  nicht  kennt, 
getötet.  Eine  Doppelhochzeit  bildet  den  würdigen  Schluss.  ^) 
Wir  begreifen  das  Epos  erst,  wenn  wir  erfahren,  dass  es  in  der 
53.  Olympiade^),  also  schon  im  Zeitalter  des  Peisistratos  entstand. 

Neben  den  troischen  Epen  steht  eine  Gruppe  von  Dichtungen, 
die  den  an  ergreifenden  Momenten  nicht  minder  reichen  Sagen- 
kreis von  Theben^)  behandeln.  Er  stand  den  Joniern  nahe,  weil 


1)  Weuu  diese  nichts  weiter  als  ein  Auszug  der  homerischeu  wäre 
{Kircbhoff  hoiu.  Odyssee  S.  331   f.),  hätte  es  Pausanias  gewiss  angegeheu. 

2)  Stiehle  Philol.  4,  99  ff.  8,  50  ft.  10,  151  ff.,  besonders  von  Anti- 
kleides (Dübner  Anhang  zu  Arrian  S.  148 — 50),  Kleidemos  und  Lysimachos 

3)  Athen.  7,  281b.  9,  .399a  (Er  citiert  die  Nostot  nie).  Schol.  Find.  Ol, 
13,  31  schreibt  dem  Eumelos  einen  vooto?  täv  'EXXyjvujv  zu.  Ist  er  mit  unseren 
vöaxo:  identisch? 

4)  Welcker  I  311  ff.  Kinkel  p.  57 — 9;  die  Form  E'jYa{i.[j,cüv  ist  unwahr- 
scheinlich. 

5)  Den  sklavischen  Nachahmer  verrät  es,  dass  er  mit  dem  Begräbnisse 
■der  Freier  begann. 

6)  Es  ist  zu  beachten,  dass  die  Geschichte  grösstenteils  in  Epirus  spielt. 
Nach  byzantinischer  Art  zurechtgelegt  steht  sie  Auecd.  Par.  2,  214,  8  ff. 

7)  Euseb.  Synk.  u.  Armen.  Ol.  53,  3,  Hieron.  Ol.  53,  2  (53,  1  F).  Er 
steht  chronologisch  dem  Abaris  sehr  nahe  und  mag  also  in  seinen  Gedichten 
auf  ihn  angespielt  haben. 

6)  Ferd.  Hütte  mann  die  Poesie  der  Ödipussage  I.  Strassburg  1880 
(Pr.  des  Lyzeums). 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  12 


lyg  3.  Kapitel. 

sich  unter  den  Gründern  jonischer  Städte  Kadmeer  und  Argiver 
befanden.  ^)  Schon  den  homerischen  Dichtern  dürften  Lieder 
bekannt  gewesen  sein.  '■^  Ein  sehr  altes  Epos,  das  selbst  KalHnos 
für  echthomerisch  hielt,  war  die  Thebais^),  welche  die  Leidens- 
geschichte des  Ödipus  und  seiner  Söhne  in  9100  Versen"*) 
enthielt.  Pausanias^)  stellt  sie  nach  der  llias  und  Odyssee  am 
höchsten;  ebenso  ist  es  ein  rühmliches  Zeugnis  für  den  unbe- 
kannten Verfasser,  dass  in  der  Tradition  mit  Homer  nur  Ark- 
tinos  um  die  Urheberschaft  konkurrierte.  ^)  Wir  erkennen  auch 
darin  den  begabten  Dichter^  dass  er  nicht  mit  der  Geburt 
des  Ödipus  anhebt,  sondern  die  Hörer  sogleich  nach  Argos 
versetzt,  wo  Polydeukes  von  Adrastos  Hilfe  erfleht. 

Einen  ähnlichen  Stoff  behandelte  eine  nur  dem  Titel  nach 
bekannte  Oidipodeia,  welche  den  Namen  des  Spartaner.« 
Kinaithon  trug.  ^) 

Die  Mythen  der  Thebais  wurden  in  den  'Ejcl^ovot^)  fort- 
gesetzt; sie  scheinen  nicht  so  vortrefflich  gewesen  zu  sein,  da 
bereits  Herodot^)  an  ihrer  Echtheit  zweifelte.  Wahrscheiuiicli 
waren  sie  mit  der  'AXxjxatwvt«:  identisch.  ^^)  Während  bei 
den  Epigonen  die  Erwähnung  der  Hyperboreer  eine  jüngere 
Zeit  andeutet,  heisst  es  von  diesem  Epos,  es  sei  jünger  als  die 
Jamben  des  Simonides  von  Amorgos^^),  wozu  es  passt,  dass 
der  orphische  Zagreus  genannt  wird.  Der  Dichter  hat  für 
Blutthaten  grosse  Vorliebe  ^'^) ;  bei  ihm  findet  man  zuerst  den 
unnatürlichen  greuelvollen  Zwist  des  Atreus  ulid  des  Thyestes.^'') 

1)  Herod.  1,  146.  Strabo  14,  633. 

2)  S.  41. 

3)  E.  V.  Leutsc h  Thebaidis  cyclicae  reliquiae,  Gott.  1830.  Welcker 
I  198  ff.  II  320  ff.  655  ff.  Nitzsch  Beiträge  S.  438  ff.  Kinkel  p.  9  ff".  Sie 
hiess  zun»  Unterschiede  von  der  Thebais  des  Antimachos  -/.üxX'.xyi  ;  ein  Neben- 
titel war  'Ajj.'ftaf.oc'io  tizKrx'sifA. 

4)  So  Mann.  Borg.;  ?:ty)  C'  Cert.  Hom.  et  He?. 

5)  9,  9,  5. 

6)  Marmor    Borgianum    Ovjß'/i^a ['Apxxivov]    tiv    (?)    MiXtigiov 

7)  Marmor  Borgianum.  Paus.  9,  5,  6  sagt  über  den  Verfa.sser  nichts. 

8)  Wekker  II  380  ff.  Kinkel  p.  13  f. 

9)  4.  32. 

10)  Wekker  I  209  f.  Kinkel  p.  76  f.  313. 

11)  So  Ist  wohl  Athen.  11,  460  b  zu  deuten. 

12)  Fr.  1,  Mas.senmord  fr.  4. 
18)  Schol.  Enr.  Orest.  997. 


Das  nach  homerische  Heldenepos.  X79 

Dagegen  wandten  sich  die  Dichter  den  d  o  r  i  s ch  e  n  H  e  1  d en- 
sagen  in  älterer  Zeit  noch  nicht  zu,  ohne  Zweifel  aus  keinem 
anderen  Grunde ,  als  weil  das  homerische  Epos  sich  bei  den 
Dorern  noch  nicht  so  eingelebt  hatte,  um  selbständige  und 
doch  gleichartige  Dichtungen  hervorzurufen.  Deshalb  fand  der 
grösste  Held  der  Dorer,  um  den  das  Volk  so  viele  Sagen  wob, 
erst  spät  eine  würdige  Verherrlichung.  Doch  wurden  einzelne 
Thaten  des  Herakles  von  alten  Sängern  ausführlich  erzählt. 

Wie  es  scheint,  machten  die  Jonier  mit  der  Oi/aXiac 
aXwott:^)  den  Anfang;  denn  nach  einem  Grammatiker  soll 
entweder  der  Samier  Kreophylos  oder  Homer  selbst  ^) ,  der  sie 
jenem  dann  schenkte ,  erzählt  haben ,  wie  Herakles  Oichalia 
eroberte  und  die  schöne  Tole  gewann.  ^) 

Die  Mtvodc^)  verherrlichte  den  Sieg  des  Herakles  über 
die  Minyer,  der  zur  Eroberung  von  Orchomenos  führte.  Sie 
entstand  in  Phokäa  und  hatte  Prodikos  oder  Thestorides  zum 
Verfasser.  ^)  Den  Glanzpunkt  bildete  die  Höllenfahrt ,  wobei 
Charon  zum  ersten  Male  auftrat.  Die  Minyas  war  wahr- 
scheinlich dasselbe  Gedicht  wie  die  verschollene  ^coxatc*'),  die 
demnach  gleich  den  Kypria  und  Naupaktia  nach  der  Heimat 
den  Namen  trug.  ^) 

Andere  Gedichte  weisen  dagegen  auf  den  Kreis  der  mittel- 
griechischen Dichtungen  hin.  In  dem  zwei  Bücher  umfassenden 
Atyi^ioc  fand  man  die  Geschichte  des  Krieges,  den  der 
dorische    König    Keyx    mit    den   Lapithen    führte^);    Herakles 


1)  Welcker  I  229  ff.  II  421  ff.  N  i  t  z s  c h Beiträge  S.  434  ff.  Kinkel  p.  60  ff. 

2)  Vgl.  das  hübsche ,  übrigens  irouiscli  gemeinte  Epigramm  des  Kalli- 
machos  Nr.  6. 

Zf  Das  angebliche  Fragment  des  Kreophylos ,  welches  die  Medeasage  be- 
rührt, hat  mit  diesem  Gedichte  nichts  zu  thuu. 

4)  Welcker  I  253  ff,  II  422  ff.  Kinkel  p.  215  ff. 

5)  Paus.  4,  38,  7. 

6)  Welcker  I  253  ff.  423  f.,  bestritten  von  O.  Müller  Ztsch.  f.  Alter-, 
thumsw.  1835  Sp.  1171  und  Orchomenos  S.  18;  Bernhardy  II  ^  1,  253.  Vgl. 
Kinkel  p.  63. 

7)  Wie  sich  aus  dem  folgenden  ergeben  wird,  nehmen  Müller  a.  O. 
Bode  Gesch.  der  griech.  Poesie  I  271  und  Nitzsch  Hallische  Literaturztg, 
1838  Ergänzungsblatt  S.  138  ohne  Wahrscheinlichkeit  an,  dass  die  Phokais 
die  Gründungssagen  von  Phokäa  enthalten  habe. 

8)  Welcker  I  263  ff.  Marckschef fei  Hesiodi  frg.  p.  160  ff.  Kinkel 
p.  82  ff.;  vgl.  ApoUd.  2,  7,  7.  Diod.  4,  37. 

12* 


1^0  4.  Kapitel. 

brachte  ihn  zu  einem  glücklichen  Ende  und  schloss  mit  den 
Dorern  einen  feierlichen  Bund.  Stephanos  von  Byzanz  *)  legt 
den  Aigimios  dem  Hesiod  bei;  Athenäus^),  der  alle  Schriften 
benennen  möchte,  schwankt  zwischen  Hesiod  und  dem  Milesier 
Kerkops,  für  den  Apollodor^)  stimmt. 

Nicht  weit  von  dem  Schauplatze  des  Aigimios  spielte  die 
,,H  och  zeit  des  Keyx"*),  ein  Gedicht,  welches  die  meisten'') 
hesiodisch  nannten ;  Herakles  kam  unvermutet  als  Gast  zu  dem 
Hochzeitsschmause  des  ihm  befreundeten  Königs. 

Eine  andere  mittelgriechische  Heraklessage  gab  zu  der 
pseudohesiodischen  'AottIc  TlpaxXsooc")  Veranlassung.  Ein 
jüngerer  Sänger^)  nämlich,  der  sich  an  den  homerischen  Ge- 
sängen gebildet  hatte  ^),  besang  den  Kampf  des  Helden  mit  dem 
Kyknos,  welcher  die  pythische  Tempelstrasse  sperrte.  Er  ahmte 
die  liias  so  ängstlich  nach,  dass  er  eine  Schildbeschreibung 
nach  dem  Muster  der  homerischen  anbringen  zu  müssen  glaubte, 
obwohl  sie  für  das  kurze  Gedicht  viel  zu  umfangreich  ist;  doch 
beachte  man,  dass  ein  erheblicher  Teil,  nämlich  V.  228 — 313 
durch  einen  noch  späteren  Rhapsoden  hinzukam.^)  Ebenso 
erregt  die  Fülle  der  Gleichnisse  Anstoss.^")  Der  Verfasser  stammt 
unverkennbar  aus  Böotien,   da  er  (V.  24  die  Tapferkeit  seiner 


1)  V.  'Aßavtt-. 

2)  11,  503  d. 

3)  2,  1,  3.  5.  Aristoteles  bei  Diog.  L.  2,  46  spricht  daher  von  eiueiu 
Streite  zwischen  beiden. 

4)  Kinkel  p.   146  ff. 

5)  Manche  Grammatiker  (Ath.  2,  49  b)  z.  B.  Plut.  quaest.  symp.  8,  8, 
4,  4,  widersprachen  ;  den  Ausdruck  des  letzteren  „6  töv  Kyjuxo!;  y^P-ov  eIi;  xä 
MIoioSoo  7taf,£jj.ßa"/.«"ijv  eTp,7jy.£v-*  darf  man  nicht  mit  Marckschef fei  IJesiodi 
frg.  p.  154  ff.  dahin  ausdeuten,  dass  es  eine  Interpolation  der  Eöen  oder  des 
Fraaenkataloges  war,  \g\.  Paus.  2,  26,  6. 

6)  H.  Deiters  de  Hesiodia  Scuti  Herculis  descriptione,  Bonn  1858,  nach 
der  kün.stlerischen  Seite  Brunn  die  Kunst  bei  Homer  S.  17  ff. 

7)  Au  der  Echtheit  zweifelten  Ps.  Long,  t:,  u'^^oof;  9,  4;  Ael.  v.  h.  12,  36; 
Schol.  Dien.  Thr.  p.  672,  8.  1165;  Gramer  anecd.  Oxon.  4,  316.  Philostratos 
heroicus  2,  19  hielt  gar  den  hesiodischen  Schild  für  älter  als  den  homerischen, 
weil  er  in  diesem  eine  iM)Iemi8che  Stelle  zu  finden  glaubte. 

8)  Bänke  in  .seiner  Ausgabe  S.  347   ff.  (hom.  Hymnen  S.  360  ff.) 

9)  Lehrs  quaest.  ep.  p.  249  (439)  ;  Deiters  a.  O.  p.  27.  Es  war,  wenn 
V.  302,  wo  /.aYO?  steht,  echt  ist,  ein  Dorer. 

10)  Flach  streicht  fast  alle. 


Das  nachhomerische  Heldenepos.  181 

Landsleute  rühmt  und)  V.  105  Poseidon  als  Gott  der  Thebaner 
erwähnt.  ^)  Seine  Lebenszeit  ist  über  die  dreissigste  Olympiade 
nicht  herabzurücken :  denn  etwa  drei  Olympiaden  später  führt 
Peisandros  die  uns  geläufige  Ausrüstung  des  Herakles  ein, 
während  er  in  der  Aspis  noch  als  Hoplite  auftritt.  Stesichoros 
citiert  sie  bereits  als  Werk  des  Hesiod.  ^)  Da  wir  aber  unten 
sehen  werden,  dass  die  pseudohesiodischen  Eöen  nicht  vor  Ende 
der  dreissiger  Olympiaden  entstanden,  so  folgt  notwendig,  dass 
der  aus  diesen  entlehnte  Anfang  V.  1-56  nicht  von  jeher  die 
Basis  oder  den  Ausgangspunkt  der  'AaTil«;  'HpaxXsooc  bildete ; 
V.  57  wird  sich  vielmehr  an  einen  einleitenden  Herakleshymiius 
angeschlossen  haben.  Dasselbe  Abenteuer  des  Alkiden  wurde  von 
Bathykles  am  amykläischen  Apollothrorie  und  von  vielen  Vasen- 
malern  dargestellt.  ^)  Das.  bibliogra{»hische  Material  findet  man 
unten,  wo  Hesiod,  der  Dichter  der  Erga,  zu  behandeln  ist. 

Eine  eigentliche  Herakleis,  die  alle  Thaten  des  dorischen 
Heros  in  sich  vereinigt,  kommt  erst  in  verhältnismässig  später 
Zeit  vor.  Zwar  soll  K  i  n  a  i  t  h  o  n  eine  Herakleis  verfasst  haben  ^), 
aber  sein  Name  ist  wahrscheinlich  durch  Konon^)  zu  ersetzen, 
denn  die  Erwähnung  des  Hylas  und  der  Kianer  passt  für  sein 
Jahrhundert  nicht.  Sonst  würde  ich  annehmen,  dass  ein  längerer 
Abschnitt  seines  genealogischen  Gedichtes  von  Herakles  han- 
delte. Die  Herakleen  des  Demodokos^)  und  Diotimos'') 
gehören  dem  Inhalte  der  Fragmente  nach  nicht  in  diese  Periode. 
Warum  sollten  wir  über  die  Werke  des  Phaidimos^)  und  des 
Lindiers  Peisinus^)  anders  urteilen?  Vielleicht  um  die  33. 
Olympiade^")    entstand    eine    wirkliche  'llpaxXs'.a    in  zwei    oder 

1)  Dass  Hesychios  das  V.  224  vorkommende  Wort  xfß-.Gic  kyprisch  nennt, 
beweist  nichts  dagegen. 

2)  Argnm.   3  am  Ende. 

3)  Gerhard  alte  Vasenbilder  T.   121—4. 

4)  Schol.  Ap.  1,  1357. 

5)  ib.   1,   1165. 

6)  Plut.  mor.  p.   1161  ab. 

7)  Ath.   13,  603  d.  Snid.  v.  E'jpüßaxoc.  Nach  Bergk  comm.  de  com.  Att. 
p.  24  war  er  ein  Zeitgenosse  des  Aratos. 

8)  Ath.   11,  498  e.     Elegiker  nach  Steph.  B.  v.  Biomd-q. 

9)  Trotz  Clem.    AI.  ström.  6,  266   S.  628  P;    ist   er  etwa  mit  Peisandros 
identisch  ? 

10)  Diese  Angabe  bei  Suidas  ist  jedenfalls  richtiger  als  die  andere,  die  ihn 
n)it  Eumolpos  verbindet  und  vor  Hesiod  .setzt.  Sie  beruht  auf  der  Annahme, 


132  4.  Kapitel. 

wahrscheinlicher^)  zwölf  Büchern,  das  Werk  des  Peisand  ros 
aus  der  rhodischeh  Stadt  Kanieiros.  ^)  Er  errang  sich  damit 
einen  hervorragenden  Platz  unter  den  späteren  Epikern  und 
wird  mit  Panyasis  und  Autimachos  als  Repräsentant  des  jüngeren 
pragmatischen  Epos  genannt.  ^)  Trotzdem  sind  ausserordentlich 
wenige  Fragmente  erhalten,  so  dass  wir  uns  keine  detaillierte 
^''orstellung  von  seinem  Werke  machen  können.  Peisandros 
führt  Herakles  zuerst  in  der  traditionellen  Jägerausrüstung  ein ; 
da  Kameiros  ein  hervorragender  Sitz  der  orientahsierenden 
Industrie  war,  hatte  er  täglich  die  Bilder  des  Melkart  und 
orientalischer  Kämpfer,  die  mit  reissenden  Tieren  rangen  oder 
sie  mit  Keulen  bedrohten,  vor  Augen.  So  vermischte  Peisandros 
den  griechischen  und  phönikischen  Herakles  zu  einer  Gestalt.  *) 
Wahrscheinlich  geht  auch  die  traditionelle  Zwölfzabl  der  Kämpfe, 
die  sonst  in  den  Metopen  des  olympischen  Zeustempels  zum 
ersten  Male  vorkommt,  auf  ihn  zurück.  '")  Was  aber  den  Geist 
seines  Epos  anlangt,  so  ersehen  wir  aus  jener  Zusammenstellung, 
dass  er  die  Reihe  der  gelehrten  Epiker  eröffnete,  die  dem 
zunftmässigen  Betriebe  des  Heldengesanges  ferne  stehen  und 
sich  Technik  wie  Sagenkunde  durch  mühsames  Studium  erringen. 
So  steht  Peisandros  an  einem  verhängnisvollen  Wendepunkte ; 
das  Epos  verliert  den  Jahrhunderte  lang  festgehaltenen  Zu- 
sammenhang mit  der  Volksdichtung  und  geht  so  der  unver- 
meidlichen Verknocherung  entgegen.  Wie  es  die  erste  Literatur- 
gattung war,  welche  ausgebildet  wurde,  so  erlosch  hier  auch 
zuerst  der  freie  unmittelbare  Schaffenstrieb.  Peisandros  ist 
somit  ein  Vorläufer  der  alexandrinischen  Zeit/) 


er  hal)e  geblüht,  als  Ste.sichoros  geboren  wurde,  und  diese  eutspraiig  wieder 
darau.s,  dass  man  bei  ihnen  zuerst  die  allbekannte  Ausrüstung  des  Herakle.s 
fand.  Nach  Megakleides  (Athen.  12,  512  f)  hat  sie  Stesichoros  aufgebracht; 
Xauthos,   der  "Vorgänger  dieses  Dichters,  kannte  Herakles  noch  als  Hopliten. 

1)  Wie  6.  Hermann  vermutet. 

2)  Fragmente  bei  Kinkel  p.  248  ff.,  vgl.  O.  Müller  Dorier  2,  475  ff.  M58. 
8)  Proklos  bei  Phot.  bibl.  p.  319  a  18,    vgl.  Kyrillos  Anecd.   Par.  4,  196, 

15.  Quintilian  sagt  10,  1,  56:  Quid?  Herculis  facta  non  bene  Pisaudros? 

4)  Herakles  hat  auf  dem  Kyi^eloskasten  ein  ihn  von  anderen  Helden 
unterscheidendes  oxYjjxa,  also  wohl  diese  Tracht;  auch  l  607  führt  er  den 
Bogen. 

6)  Welcker  kleine  Schriften  I  83  ff. 

6)  Die  manus  secunda  der  i)alatiuischen  Authologiehandschrift  legt  ihm 
7,  304  (Bergk   poetae    lyr.  II*  24)  bei.     .Suidas   kannte  unechte  Dichtungen. 


Das  nachhomerische  Heldenepos.  183 

Während  Herakles  also  wiederholt  poetisch  verherrlicht 
wurde,  wiederfuhr  Theseus  diese  Ehre  in  unserer  Periode 
wahrscheinlich  gar  nicht.  Wir  hören  überhaupt  immer  nur  von 
einer  einzigen  Theseis^)  und  diese  schreiben  die Pindarscholien  -) 
dem  Chohambendichter  Diphilos  zu,  der  in  anderen  Gedichten 
bereits  die  Philoso[)hen  verspottete.^)  Welcker  wollte  sie  mit 
der  von  Suidas  erwähnten  'A^aCovia  zusammenstellen;  diesen 
Titel  habe  das  Epos  nach  seinem  Glanzpunkte,  dem  Kriege, 
welchen  Theseus  mit  den  Amazonen  führte,  getragen.  Es  ist 
jedoch  wahrscheinlicher,  dass  diese  Amazonia  nichts  anderes  als 
die  Athiopis  des  Arktinos  war.  Die  angeblich  hesiodische 
,,Hadesfahrt  des  Theseus"^)  dürfte  ein  orphisches  Produkt 
sein;  nur  Pausanias^)  spricht  von  ihr.  Eine  Theseis  nach  Art 
der  Heraklesepen  war  vor  der  höchsten  Steigerung  des  attischen 
Selbstbewusstseins  unmöglich.  Vorher  kursierten  ja  nur  zwei 
Theseussagen,  der  Sieg  über  den  Minotauros^)  und  die  schimpf- 
liclie  Fortführung  der  Aithra^);  daraus  konnte  kein  Epos  ent- 
springen. F>st  mussten  der  Ruhm  Attikas  und  der  Gegensatz 
zwischen  Joniern  und  Dorern  das  ehrgeizige  Bestreben  hervor- 
rufen, dem  dorischen  Stammeshelden  einen  attischjonischen 
gegenüber  zu  stellen  und  ihm  ähnliche  Thaten  zuzuschreiben. 
Erst  musste  aber  vor  allem  Attika  aus  dem  Todesschlummer, 
der  es  in  unserer  Periode  umfangen  hielt,  erwachen;  das  Ver- 
dienst, es  erweckt  zu  haben,  gebührt  nicht  sowohl  Solon  als 
Peisistratos.     Doch  davon  später  mehr! 

Perseus  wurde  von  den  Epikern  vöUig  vernachlässigt. 
Selbst  die  Argonautensagen  hätten  in  alter  Zeit  keinen 
Bearbeiter  gefunden,  wenn  nicht  die  Teilnahme  des  pierischen 
Sängers  die  Orphiker  zu  einem  Epos  angeregt  hätte.     Es  ging 


4)  Welcker  I  313  ff.  459.  II  424  ff.  Kinkel  I  p.  217;  er  übersah  das 
■einzige  und  wörtliche  Fragment  bei  Plut.  Thes.  32. 

5)  Zu  Ol.   10  (11),  83. 

6)  Schol.  Arist.  Nub.  96. 

1)  Marckscheffel  Hesiodi  frg.  p.  158  ff. 

2)  9,  31,  5. 

3)  Die  Siegesfeier  stellten  der  Kypseloskasten  und  die  Fran^oisvase  dar; 
den  Kampf  selbst  sah  man  am  amykläischeu  Throne.  Eine  sehr  alt  scheinende 
Va.se  Mon.  d.  I.  VI  15  ist  nach  Brunn  Probleme  S.  29  imitiert. 

4)  Schon  bei  Homer  T  144  und  den  Kyklikern,  auf  dem  Gebiete  der 
Kunst  am  amykläischeu  Throne. 


2g4  4.  Kapitel. 

unter  dem  Namen  des  Epimenides. ')  Ausserdem  behandelter» 
die  genealogischen  NauTraxtia  stttj  wenn  auch  als  Episode,  doch 
ziemlich  ausführlich  diesen  Sagenkreis. 

Zu  den  homerischen  Epikern  mag  endhch  der  Jonier 
Antimachos  von  Teos  gehören^);  wir  wissen  von  ihm  nichts, 
als  dass  er  vor  dem  Nostendichter  Hagias  lebte  und  ihm  einen 
Hexameter  lieh.  ^)  Ausserdem  erwähnte  er  eine  Sonnenfinsternis, 
welche  -die  alten  Astronomen  Ol.  6,  3  ansetzten.  *) 

Verdient  Nikolaos  von  Damaskos  ^)  Glauben ,  wenn  er 
erzählt,  der  Rhapsode  Magnes  habe  am  Hofe  des  Gyges  einen 
Reiterkampf  der  Lyder  und  Amazonen  besungen,? 


1)  Kinkel  p.  233. 

2)  Plut.  Eomul.  12. 

3)  Clem.  AI.  ström.  VI  622  C.  743  P. 

4)  Flut.  a.  O. 
6)  Fr.  60. 


5.  Kapitel. 
Historisch  -  genealogische  Epen. 

Chersias  —  Fraiieukatalog  —  Eöeu  —  Naupaktische  Gesänge  —  Ennielos 
Phorouis  —  Danais  —  Kinaithon  —  Hegesinus  —  Asios. 


Während  das  eigentliche  Heldenepos  im  Mutterlande  weni- 
ger Anklang  fand  —  es  fehlte  ja  die  reine  Freude  an  phantasie- 
voller Poesie  — ,  entstand  dort,  weil  der  historische  Sinn  kräftig 
war,  eine  bedeutende  Zahl  historisch-genealogischer  Epen.  Wie- 
wohl auch  in  Jonien  die  alten  Adelsgeschlechter  ihre  Ahnen- 
reihe verherrlicht  wissen  wollten ,  genügten  dort  die  Dichter 
diesem  verzeihlichen  Wunsche  in  mehr  poetischer  Weise;  sie 
Hessen  einen  der  Ahnen  selbst  auftreten  und  fügten  bei  passen- 
der Gelegenheit  Nachrichten  über  seine  Abkunft  ein.  So  er- 
fahren wir  durch  Wechselreden  im  sechsten  Gesänge  der  Ilias 
die  Abstammung  des  Glaukos  und  Diomedes;^)  B  100  ff.  zählt 
der  Dichter  bei  Gelegenheit  des  Scepters  die  Vorgänger  Aga- 
memnons  auf.  Die  Nichtjonier  dagegen  verbanden  blos  eine 
Anzahl  von  Stammtafeln  zu  einem  sogenannten  Epos.  Der 
dichterische  Wert  scheint  bei  allen  diesen  Werken  nicht  hoch 
zu  stehen ,  weshalb  sie  Aristoteles  in  der  Theorie  des  Epos 
ignoriert;  legten  doch  die  Hörer  und  Leser  den  Hauptwert  auf 
den  Inhalt  und  nicht  darauf,  in  welcher  Form  sie  die  Sagen 
oder,  wie  sie  meinten,  die  Geschichte  hörten.  Diese  Epen 
möchten  daher  etwa  den  deutschen  Reimchroniken,  welche  die 
Sagenwelt  hereinziehen,^)  zu  vergleichen  sein.  Sie  bilden  die 
unmittelbare  Vorstufe  der  ältesten  Prosageschichten.  ^) 


1)  Schon  etwas  weniger  homerisch  ist  die  Begegnung  von  Achilleus  und 
Äneas  (y  213  ff.) 

2)  Z.  B.  der  Kaiserchronik. 

3)  Herodoros  aus  dem  pontischen  Herakleia,  ein  Zeitgenosse  des  Sokrates, 


186  5.  Kapitel. 

Wenn  wir  sie  nach  der  geographischen  Folge  ihrer  Ent- 
■stehungsorte  einteilen,  so  hahen  wir  mit  den  Nao^axTia  stctj^) 
zu  beginnen.  Ohne  Zweifel  entstanden  sie  in  der  lokrischen 
iStadt  Naupaktos;  Pausanias^)  berichtet  noch  genauer,  dass  der 
idte  Historiker  Charon  von  Larnpsakos  den  Verfasser  Karkinos 
von  Naupaktos^)  nannte.  Die  Meisten  stimmten  freilich  für 
«inen  Milesier,  wahrscheinlich  Kerkops,  den  unaufgeklärte  Fä- 
den mit  Mittelgriechenland  verbinden.^)  Wie  Pausanias  aus 
Autopsie  weiter  erzählt,  behandelte  das  Epos  Heldenfrauen, 
was  bei  einem  Lokrer  sehr  begreiflich  ist;  dieser  Stamm  räumte 
nämlich  den  Frauen  ungewöhnliche  Rechte  ein.^)  Man  glaube 
aber  nicht,  dass  sich  der  Verfasser  engherzig  auf  seine  Heimat 
beschränkt  habe;  der  Argonantenziig  war  nach  den  Fragmen- 
ten ausführlich  behandelt. 

Zwei  dem  Hesiod  zugeschriebene  Dichtungen  KatäXoYo;; 
^uva'.xwv  und  'Ho  tat  mit  dem  Zusätze  {jLSYaXat**)  stammen 
jedenfalls  auch  aus  Mittelgriechenland ,  wenn  gleich  sie  wohl 
nicht  gerade  ebenfalls  nach  Lokris  gehören;  dies  wäre  doch 
ein  embarras  de  richesse  für  das  kleine  Ländchen. ^)  Beide 
gaben  eine  Uebersicht  über  die  sterbUchen  Frauen ,  deren  Liebe 
Götter  oder  Heroen  genossen  hatten,  und  zählten  die  Nach- 
kommen sammt  ihren  Schicksalen  auf.^)  Formell  unterschied 
sich  das  zweite  Gedicht  von  dem  ersten  dadurch ,  dass 
jeder  neue  Abschnitt  mit  t)  oi'y]  begann,  wonach  das  Ganze 
den  Namen  empfing.    Während  man  früher  beide  Gedichte  für 


bearbeitete   die  genealogischen   Epen    prosaisch    (C.   Müller  frg.  bist.  Gr.  11 
127  tr.  O.  Müller  Dorier  II  464  f.  ^^449  f.) 

1)  Gewöhnlich  aber  weniger  gut  blos  Nauitotxi'.xdt  genannt.  Marek- 
«cheffel  Hesiodi  frg.  p.  262—68;  Kinkel  p.   198  ft'. 

2)  10,  38,  11. 

3)  Dieser  ist  ganz  unbekannt. 

4)  Er  »oll  bekanntlich  den  Aigiraio.s  verfasst  haben. 
6)  Bachofen  das  Mutterrecht  S.  309  f.  316. 

6)  Göttling-Flach  p.  294—327  (138  Fragmente),  Kinkel  p.  90—146  (150 
Fragmente). 

7)  Auch  der  in  die  Nekyia  eingeschobene  Heroinenkatalog  dürfte  in  Mit- 
telgriechenland entstanden  sein;  freilich  hatten  die  Adelsgescblechter  selten 
sterbliche  Männer  als  Urahnen.  Das  eigentliche  die  Familien  unterHcheidende 
Moment  lag  also  in  den  gottbegnadeten  Ahnfrauen. 

8)  Daher  heisst  der  Katalog  auch  -^pwoYovia  (Proklos  zu  Hes.  O.  p.  9, 
Tzetzes  p.  17  Gaisf.) 


Historiscli-geuealogiscbeu  Epen.  187 

identisch  hielt,  wies  MarckschefFeP)  nacli,  dass  manche  Mythen 
von  den  Verfassern,  wie  natürhch,  verschieden  erzählt  wurden.^) 
Ferner  umfasste  der  Katalog  drei ,  die  Eöen  aber  nur  zwei 
Bücher;  indes  verbanden  bereits  die  Alten  diese  zwei  Dicht- 
ungen zu  einer  einzigen.^)  Endhch  galt  dem  Pausanias  der 
Katalog  als  ein  echt  hesiodisches  Werk,*)  wogegen  er  die  Eöen 
nicht  anerkannte.^)  Da  die  Eöen  den  Beinamen  ,,die  grossen" 
tragen ,  scheinen  sie  in  ihren  einzelneu  Abschnitten  ausführ- 
Hcher  als  der  die  gesaramten  Genealogien  zusammenfassende 
Katalog  gewesen  zu  sein. 

Nur  von  der  Weise  der  Eöen  liegt  in  <len  56  Viersen,  die 
jetzt  den  ,, Heraklesschild"  eröffnen,  eine  nennenswerte  Probe 
vor;  sie  unterscheiden  sich  darnach  in  nichts  von  den  mittel- 
griechischen Epen:  Die  weibliche  Cäsur  lähmt  zu  oft  ange- 
wandt den  kräftigen  Gang  des  Hexameters  und  im  Ausdrucke 
ist  manches  unklar  und  ungelenk,  woran  namentlich  der  un- 
passende Gebrauch  der  epischen  Formeln  Schuld  trägt;  denn 
diese  wollen  nicht  zu  der  knappen  Erzählungsvveise  der  genea- 
logischen Epen  passen.")  Mögen  wir  auch  die  Fragmente  des 
Katalogos  und  der  Eöen  nicht  mehr  recht  sondern  können, 
so  herrscht  doch  gerade  über  die  für  die  Chronologie  wichtig- 
sten Stellen^)  glücklicherweise  kein  Zweifel.  Da  die  Eöen 
wissen,  dass  die  thessalische  Nymphe  Kyrene  nach  Libyen  ent- 
führt wurde  und  dass  die  Argonauten  den  Rückweg  über  deren 
Wohnsitz  nahmen,  muss  Kyrene  damals  bereits  in  den  Hän- 
den der  Griechen  gewesen  sein ;  nun  bestand  aber  die  Kolonie 
seit  dem  Ende  der  dreissiger  Olympiaden  (Ol.  37  oder  39,  1). 
Mit  geringerer  Sicherheit  folgert  Kirchhoff  aus  der  Erzählung 
des  Kataloges,  dass  lo  nach  Aegypten  geflohen  sei,  der  Dichter 


1)  Hesiodi  Eumeli  etc.  frg.  p.   102  fi". 

2)  Schol.  Ap.  Rh.  2,181.  4,  57. 

3)  In  der  dritten  ÖTzod-sz'.z  der  Aspis  steht ,  der  Anfang  finde  sich  im 
vierten  Buch  des  Katalogos ;  er  gehörte  aber  ofieubar  zu  den  Eöen.  Ferner 
berichtet  Suidas,  der  Frauenkatalog  habe  fünf  Biu^her  umfasst. 

4)  1,  3,  1.     43,   1. 

5)  9,  36,  7.  40,  5.  Es  könnte  aber  auch  sein,  dass  ihn  erst  die  helikoui- 
schen  Böotier  zu  dieser  Skepsis  bewogen  (vgl.  9,  31,  5). 

6)  Z.  B.   (Aspis)  V.  34. 

7)  Vgl.  die  ausgezeichnete  Darlegung  bei  Kirchhoff  die  homerische 
Odyssee  S.  315  ff. 


18g  5.  Kapitel. 

setze  bereits  den  seit  Psammetich  eintretenden  näheren  Verkehr 
zwischen  Aegyptern  und  Griechen  voraus;  demnach  habe  er 
nach  der  dreissigsten  Oh'mpiade  gelebt.  Ich  vermute,  dass  der 
Katalog  jünger  als  die  Eöen  war;  er  scheint  nämlich  die  reich- 
haltigste Fundgrube  aller  Sagen  gewesen  zu  sein,  was  bedeu- 
tende Vorarbeiten  voraussetzt.^)  Beide  Dichtungen  waren  nie 
populär;^)  die  Mythographen  (besonders  Hygin)  beuteten  sie 
freilich  aus  und  alexandrinische  Dichter  ahmten  sie  nach,^)  aber 
das  Publikum  kannte  nur  den  Absatz  über  das  hohe  Alter, 
das  manche  Geschöpfe  erreichen  (fr.  163),  in  der  ursprünglichen 
Forrn.^) 

Sicher  in  Böotien  entstand  die  Chronik  des  Orchorneniers 
Chersias.^)  Der  eifrige  Antiquar  Pausanias®)  stöberte  nur 
noch  in  einer  Stadtchronik  zwei  Verse  auf,  die  von  Asj)ledon, 
einem  Sohne  des  Poseidon,  handeln.  Vielleicht  stellte  Chersias 
die  Sagengeschichte  des  Minyerreiches  von  Orchomenos  zusam- 
men. Bezüglich  seiner  Zeit  hören  wir,  dass  er  ein  Zeitgenosse 
des  Kyi)selos,  Cheilon  und  Periandros  gewesen  sei.')  Worauf 
mag  sich  diese  Angabe  und  die  weitere,  er  sei  bei  Periandros 
in  Ungnade  gefallen,  stützen?  Weil  die  Orchomenier  keinen 
anderen  alten  Dichter  zu  nennen  wussten  ,  schrieben  sie  auch 
die   auf  ihrem  Grabe   des  Hesiod    stehende  Inschrift^)  ihm  zu. 

Die  Korinther  besassen  ebenfalls  ein  historisches  Epos, 
die  Kopivd-iaxi^  das  angeblich  Eumelos,^)  ein  vornehmer  Mann 


1)  Mützell  emend.  theog.  p.  503  ß".  vermatet,  der  spätere  Katalog  habe 
Bich  aus  einem  kürzeren  Gedichte  entwickelt. 

2)  Die  Parodie  bei  Luc.  conv.  41  parodiert  nur  oberHächlich  die  Foriu 
der  Eöen. 

3)  Sosikrates  verfasste  männliche  Eöen  und  Nikainetos  von  Samos  eine» 
Fraaenkatalog  (Rohde  der  griech.  Roman  S.  83). 

4)  Ausoniu»  paraph rasierte  ihn  lateinisch  (Anthol.  Lat.  647), 
6)  Mar<k Scheffel  Hesiodi  frg.  261   f. 

6)  9,  38,  5t. 

7)  P«.  Plut.  .sap.  conv.   13,  21. 

8)  Paa».  9,  88,  9;  der  Sammler  der  Anthologie  (7,  54)  nennt  aber  den 
Verfasser  Mnasalkas,  von  dem  wir  sonst  nichts  wissen. 

9)  Welcker  I  274  ff.;  Kinkel  p.  185  ff.;  Wilisch  über  die  Fragmente 
d«-H  Epikers  Eumelos,  Ljtg.  1875,  dazu  E.  v.  Leutsch  philol.  Anz.  7,  78  ff. 
Man  mnss  es  wohl  Ijei  Maickscheffels  (p.  220)  Resultat  l>ewenden  lassen,  daas 
er  in  der  ersten  Dekade  der  Olympiaden  lebte;  Leutsch  (8.  79)  setzt  ihn 
nach  Terpander. 


Historisch-genealogische  Epen.  189 

aus  dem  Geschlechte  der  Bakchiadeii  bald  nach  Beginn  der 
Olympiadenrechnung  gedichtet  haben  sollte.  Wie  aber  Pausa- 
nias^)  mitteilt,  galt  blos  ein  Prozessionslied  in  dorischen  Hexa- 
metern für  echt;  es  war  für  den  messenischen  König  Phintas 
gedichtet,  als  die  Messenier  die  erste  Theorie  nach  Delos  sand- 
ten und  in  ihrer  Unerfahrenheit  fremder  Hilfe '^)  bedurften. 
Darauf  beruhen  die  Ansätze  der  Chronographen.^)  Da  aber  die 
Korinther  in  iliren  .Jahrbüchern  keinen  anderen  frühen  Dichter- 
namen fanden,  legten  sie  ihre  älteste  Chronik  jenem  Eumelos 
bei.  Die  Alexandriner  kannten  diese  epische  Dichtung  noch*); 
sie  ging  aber  etwa  in  der  augusteischen  Zeit  verloren ,  durch 
eine  prosaische  Geschichte  Korinths^)  verdrängt,  deren  Fälscher 
sich  ebenfalls  Eumelos  nannte  und  sein  Machwerk  aus  dem 
Epos  desselben  und  hesiodischen  Gedichten*')  zusammensetzte. 
Manche  unterschieden  deshalb  zwei  Eumelos. 

Auch  die  B o  o  y o  v  i  a  und  E  o p  w  ti  i  a  haben  Beziehungen 
zu  Korinth  gehabt,  da  sie  manchen  als  Werke  des  Eumelos 
galten^).  Von  ersterem  nahm  man  früher  an,  es  sei  ein  Lehr- 
gedicht   über    die    Kinder-  oder    gar  Bienenzucht,^)    und    doch 

1)  4,  4,  1. 

2)  Wilisch  Jahrbb.  123,  175  f.  will  Korinth  und  Messenien  enger  zu- 
sammenbringen, indem  er  vermutet,  dass  ein  korinthischer  Dichter  den 
Stammbaum  der  messenischen  Könige  verfasst  oder  beeinflusst  habe,  seine 
Gründe  genügen  jedoch  nicht. 

3)  Eusebios  setzt  Eumelos  Ol.  4,  4  (arm.),  4,  2  (Hieron.)  oder  5,  1  (Hier. 
A  P)  und  9,  1  (arm.)  oder  9,  2  (Hieron.);  vgl.  Roh  de  Rhein.  Mus.  33,  172  f. 
:N"ach  C'lem.  AI.  ström.  1,  144  S.  398  P  erlebte  er  die  Gründung  von  Syrakus 
ts-:ßsß"/,Y|y.sva'.  'Ap/ta  xü)  lopav.ou^ac  v.xi-avx'.)  d.  h.  nach  dem  Sprachgebrauclie 
<Ies  Clemens:     Er  hatte  mit  Archias  eine  Begegnung. 

4)  Apollonios  von  Rhodos  entlehnte  nach  den  Scholien  vier  Verse  (3, 
1372—5)  daraus. 

5)  Marckscbeffel  p.  223  ff.;  C.  Müller  frg.  bist.  2;  20;  vgl.  Paus  2,  1,  1  : 
iv  -z-fi  Kop'.vD-'oc  auYTP'^'f^  ^'^  ^"'1  Eojx-f|/.ou  -rj  au-pcp'^'f"'!- 

6)  Für  Klemens  (ström.  6,  267  S.  752  P)  sind  Eumelos  und  Akusilaos 
Historiker,  die  Hesiod  ausplünderten.  Wilisch  Jahrbb.  123,  164  sucht 
willkürlich  den  Verfasser  des  Auszuges  in  dem  Korinther  Dionysios,  weil 
diesem  Suidas  6i^o|j.vYj[xaxa  öIq  'H-lorov  zuschreibe. 

7)  Euseb.  a.  O. ;  die  Europia  nennt  der  von  Schol.  A  Z  131  benützte 
Mythograph,  aber  in  anstössiger  Form  (v.  Leutsch  a.  O.  S.  82).  Paus.  9,  5,  8 
(4)  und  Clem.  AI.  ström.  1  p.  151  S.,  419  P.  erwähnen  von  ihr  keinen  Ver- 
fasser. 

8)  P.ergk  Rhein.  Mus.  1,  365  ff.;  er  leugnet  ohne  Grund,  dass  irgend 
•ein  Euhemeros  über   Viehzucht  schrieb. 


190  5.  Kapitel. 

würde  ein  solches  zweifellos  den  Namen  des  Hesiod  getragen 
haben.  Nach  Wilisch  behandelte  es  die  Abkunft  der  Bakchia- 
den  von  Dionysios  Bugenes;  könnte  es  nicht  das  Geschlecht 
der  lo  verherrlicht  haben?  So  würde  das  Gedicht  eine  Parallele 
zur  Europia,  dem  Epos  von  Europes  Geschlecht  bilden ;  letzte- 
res erwähnt  daneben  z.  B.  den  thrakischen  König  Lykurgos 
(Fr.  10)  und   den   wunderbaren   Spielmann  Amphion  (Fr.   12). 

Eumelos  oder,  wie  wir  lieber  sagen  wollen,  die  korinthische 
Poesie,  steht  getreu  dem  internationalen  Charakter  der  Stadt 
zugleich  mit  dem  kleinasiatischen  Epos  in  Verbindung ;  darum 
heissen  die  Titanomachie^)  und  die  Nosten^)  manchmal  Werke 
des  Eumelos.  In  Kürze  sei  erwähnt,  dass  ihm  Pausanias^)  ver- 
mutungsweise noch  die  metrischen  Inschriften  des  Kypselos- 
kastens  zuteilt.'*)  Sie  verdienen  nur  wegen  des  dorischen  A 
Aufmerksamkeit.  Was  wir  sonst  von  korinthischer  Dichtung 
hören, ^)  findet  besser  bei  der  Lyrik  eine  Stelle. 

Im  eigentlichen  Peloponnes  besitzt  Argolis  Dank  seiner 
grossartigen  Vergangenheit  die  reichste  Sagenwelt.  Die  gene- 
alogischen Dichter  gingen  bis  zu  den  Uranfängen  zurück:  Die 
^opcövic*)  hebt  mit  Phoroneus,  dem  sagenhaften  Gründer  der 
staatlichen  Ordnung  in  Argosan;  dieAavai?  (AavaiSec)^)  nahm 
die  Regierung  des  Pelasgos  zum  Ausgangspunkte ,  umfasste 
aber  volle  6500  Verse.  Erstere  scheint  sich  bereits  auf  die 
Verzeichnisse  der  argivischen  Herapriesterin  gestützt  zu  haben, ^) 
was  ihr  einen  mehr  historischen  Charakter  gibt.  Die  Danais 
stammt  ebenfalls  nicht  aus  sehr  alter  Zeit,  da  sie  die  attische 
Sage  von  Ericlithonios  erwähnte.^)  Ihr  Umfang  spricht  schon 
gegen  Welckers  Annahme,  dass  das  Gedicht  blos  die  Danaiden- 
sage    episch    behandelt  habe.     Dichternamen  fehlen  hier  ganz; 


1)  Schol.  Apoll.  Rh.  1,1166. 

2)  Schol.  Find.  Ol.  13,81. 

3)  6,  19,  10. 

4)  .Sollte  die  Aehulichkeit   der  önovoia  iu  der  gemeinsamen  Vorliebe  für 
glückliche  Paare  liegen? 

5;  Wi lisch  Jahrhb.    123,   161  ff. 

6)  Kinkel  8.  209  ff.  Hellanikoa  bearbeitete  denselben  Stoff  in  Prosa. 

7)  Kinkel  S.  78,  vgl.  Welcker  der  ep.  Cyklns  I  326  f. 

8)  Fr.  4. 
;»)  Kr.  -1. 


Historisch -genealogische  Epen.  191 

doch  werden  wir  im  letzten  Kapitel  bei  Akusilaos  noch  darauf 
zu  sprechen  kommen. 

In  Sparta  treffen  wir  wieder  eine  anscheinend  historische 
Persönlichkeit  in  dem  Lakedämonier  Kinaithon,^)  der  nach 
der  Ueberlieferung  ein  Zeitgenosse  des  Eumelos  war.'"*)  Er  schrieb 
ebenfalls  ein  genealogisches  Gedicht ,  das  sich  nicht  auf  die 
Sagen  seines  Heimatlandes  beschränkte ;  sein  Interesse  war 
auch  auf  kretische  (Fr.  1),  korinthische  (Fr.  2)  und  messenisclie 
(Fr.  5)  Sagen,  also  wohl  überhaupt  die  Sagen  der  Dorer  ge- 
richtet, wenngleich  aus  dem  Namen  Nikostratos ,  den  er  allein 
dem  Sohne  des  Menelaos  und  der  Helena  gibt,  der  patriotische 
Stolz  des  Spartaners  hervorleuchtet.  Mit  dem  berühmten 
chiischen  Rhapsoden  Kynaithos  hat  er  trotz  Welcker^)  nichts 
zu  thun ;  vermutlich  verwechselt  ihn  mit  diesem  der  Euripides- 
scholiast,  nach  welchem  Hellanikos*)  ihm  die  kleine  Ilias  beilegt. 
Auf  einem  Versehen  der  Schreiber  beruht  die  Zuweisung  der 
Telegonie^)  und  einer  Heraklie.'')  Kinaithon  heisst  auch  nach 
der  borgianischen  Tafel  Verfasser  der  Ödipodie. 

Die  'AtO-ic  des  Hegesinus  (H^rjoivooc)  geliort  schwerlich 
vor  die  Zeit  der  Perserkriege,  üebrigens  erwähnt  sie  nur  Pau- 
sanias,'')  der  ausgezeichnete  Kenner  des  alten  Epos,  hat  sie  aber 
nicht  einmal  selbst  gelesen ,  sondern  er  führt  vier  Verse  aus 
einer  Schrift  des  Korinthers  Kalhppos  an;  diese  behandeln  die 
Gründungssage  von  Askra. 

Diesen  zahlreichen  genealogischen  Epen,  die  bereits  die 
Geschichtsschreibung  vorbereiten,  haben  die  asiatischen  Grie- 
chen in  der  älteren  Zeit  nicht  das  mindeste  gleichartige  an 
die  Seite  zu  stellen.  Erst  in  ziemlich  später  Zeit  wirkte 
das  Mutterland  auf  die  asiatischen  Kolonien ,  von  denen 
es  den  Keim  empfangen  hatte,  zurück.  Auf  Samos  dichtete 
Asios^)  ein    genealogisches  Epos,    das    nach    den  Fragmenten 


1)  Marckscheffel  p.  245  ff.;  Kinkel  p.   196  ff.  212. 

2)  Hieronymus   setzt  ihn  Ol.  4,  2  (P  R  4,   1),  die  armenische  Uebersetz- 
uug  des  Eusehios  Ol.  3,  4. 

3)  Ep.  Cyklus  I  242  ff. 

4)  Schol.   Vat.  in  Troad.  821. 

5)  Euseb.  1.  c. 

6)  Schol.  Apoll.  Rh.  1,1357. 

7)  9,  29,   1.  'S 

8)  Sohn  des  Amphipto|Aios  Paus.  2,   6,  4.     7,  4,   1. 


toJ&io.': 


192  5.  Kapitel. 

<len  ganzen  Umkreis  griechischer  Sagen  umspannt  zu  haben 
sclieint.')  Bei  Gelegenheit  der  einheimischen  Vorgeschichte 
beschrieb  er  ausführHch  einen  Festzug  in  das  Heraion  und 
schilderte  dabei  den  Luxus  der  Samier.^)  Da  ihm  auch  Elegien 
zugeteilt  werden,^)  ist  Asios  nicht  früh  anzusetzen.**)  Dagegen 
deutet  das  Imperfekt  in  jener  Schilderung  von  Samos  keines- 
wegs darauf,  dass  er  diesen  Glanz  nicht  mehr  kannte;  davon 
steht  kein  AVort  da. 


1)  Callini  Tyrtaei  Asii  quae  supersunt  disp.  N.  Bach,  Lpg.  1831;  Marck- 
scheffel  S.  259—61.     411—16;  Kinkel  S.  202  If. 

2)  Duris  bei  Athen.  12,525  ef.     Von  Spott  ist  keine  Rede;   vielleicht  ge- 
hört die  dem  Simonides  zugeschriebene  „samische  Archäologie"  hieher. 

3)  Das  Fragment  bei  Ath.  3,  125  b  scheint  apokryph. 

4)  Die  harmonisierende  Darstellung  in  Fr.  1,  das  äusserliche  Motivieren  des 
Freundschaftsbündnisses   von  Orestes  und  Pylades  in  Fr.  5  u.  a.  passen  dazu. 


k 


6.  Kapitel. 
Epische  Hymnen  und  Theogonien. 

Homerische  Hymnen  —  Titanomachie  —  hesiodische   Theogonie  —   Orpheus, 
Mitsaios  und  Epimenides  —  Melampodie  —  Abaris  und  Aristeas. 


Der  alte  Sänger  preist  nicht  blos  die  Tbateri  der  Men- 
schen ;  Phemios  kennt  viehnehr  ,,die  Werke  der  Menschen  und 
Götter".  Für  den  eigenthchen  Hymnus  des  Gottesdienstes  be- 
sass  das  epische  Element  der  griechischen  Mythologie  nur  die 
Bedeutung  des  Hintergrundes ;  der  Priestersänger  oder  der 
Chor  spielte  auf  Ereignisse  in  der  Göttervvelt  gelegentlich  an 
oder  gab  in  lyrischer  Art  seine  Gefühle  kund.  Darüber  beleh- 
ren schon  die  vedischen  Hymnen  am  besten.  Die  eigentliche 
Erzählung  fiel  hingegen  den  epischen  Sängern  zu.  Da  jedoch 
die  Mythen  selbst  keine  Spur  von  Einheit  besassen,  war  hier 
die  Entwicklung  eine  andere  als  beim  profanen  Epos.  Das 
Einzellied  bheb  die  Regel.  Die  Sitte  schloss  nämlich  die  Be- 
singung der  Götterthaten  von  den  epischen  Agonen  selbst  aus ; 
dafür  pflegten  die  Aöden  und  Rhapsoden  ihren  Vortrag,  um 
sich  die  Gunst  des  Gottes  zu  sichern,  mit  einem  Hymnus,  der 
eine  Episode  aus  den  Mythen  der  jeweiligen  Stadtgottheit  be- 
handelte, zu  eröffnen.^)  Sie  benützten  dabei,  wie  natürlich,  die 
Formeln  der  gottesdienstlichen  Hymnen,  z.  B.  am  Anfange  den 
Gruss  -/alfvE,-)  dann  die  BVage:  ,,Wie  soll  ich  dich  besingen, 
entw^eder  als  solchen  oder  wie  du  u.  s.  w."^)  und  zuletzt  das 
Schlussgebet,  worin  sie  Glück  und  Wohlstand  erflehen.^) 

1)  Aristophaues  parodiert  diese  Sitte  in  den  Fröschen  V.  875  S. 

2)  Schneid  ewin  de  hymnis  in  Apoll.  Hom.  p.   11. 

3)  Hymn.  Hom.   1,  19  ff.  2,  29  ff.  Callim.  hymn.   1,  4. 

4)  Nach  Ailios  Dionysios  (Eust.  zu  B  360)  war  die  beliebteste  Formel: 
Nüv  5e  S-sol  fjLGJy.c/.ps';  itöv  egO-Xwv  a'fd-ovoi  Igzz  ,  vgl.  Hesych.  v.  vüv  ok  {)-£oi 
jxaxapsc.     Zenob.  5,99  (uc  xal  oi  xtfl-apajSoi.     AV/v'  Sva^  }>-ä.Ka  lalpt. 

Sitil,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  '" 


194  ö-  Kapitel. 

Wir  l>esitzeii  von  solchen  Proöniien  fast  nichts  anderes  als  eine 
Sainniknig  homerisch  sein  wollender  Hymnen,^)  die  ein  bunt- 
scheckiges Gemisch  von  nach  Zeit,  Geist  und  Manier  weit  aus- 
einanderhegenden  Stücken  darstellen.  Den  Sammler  kennen 
wir  nicht.  Das  älteste  Zeugnis  für  ein  Corpus  steht  bei  Philo- 
deinos,'^)  welcher  ApoUodors  Werk  Trsp'.  i^söiv  benützte.  Diodor^) 
schöpfte  seine  Citate  aus  dem  etwa  hundert  Jahre  vor  Christus 
lebenden  Dionysios  von  Mitylene.*)  Vielleicht  haben  die  Per- 
gamener  das  zweifelhafte  Verdienst,  da  die  älteren  Alexandriner 
diese  Hymnen  konsequent  unbeachtet  Hessen.^)  Die  Sammlung 
niiifasste  sechs  grosse  und  achtundzwanzig  kleine  Hynmen. 
So  vollständig  war  aber  von  unseren  Handschriften  nur  die 
jetzt  in  Leiden  befindliche  Moskauer,  während  alle  übrigen  aus 
einem  Exemplare,  dem  die  beiden  grossen  Hymnen  an  Diony- 
sos und  Demeter  fehlten .  stammen ;  auch  die  Moskauer  ent- 
hält von  ersterem  blos  ein  kleines  Stück,  208  Verse  aber  sind 
verloren.")  Sonst  besitzt  diese  Handschrift  keinerlei  Vorzüge.') 
Die  andere  Klasse,  durch  vier  Laurentiani,  zwei  Riccardiani,  drei 
Ambrosiani  und  drei  Parisini  repräsentiert,  hatte  bisher  an 
einem  Lauren tianus  (L),  der  ein  Paar  Randscholien  enthält, 
ihren  Hauptvertreter;  diese  Stelle  soll  ihm  ein  bisher  unbenutz- 
ter Codex  Estensis  in  Parma  rauben^).  An  Ausgaben  sind  nach 
der  editio  princeps  (1488)  die  Arbeiten  von  Matthiä  (1805  mit 
einem  Band  animadversiones)  und  von  G.  Hermann  (1806)  zu 
nennen;  Baumeisters  Ausgabe  (Leipzig  1860)  bietet  vorläufig 
den  reichsten  Apparat'-')  und  Kommentar.     Köhn^")  und  Eber- 

1)  Gdfr.  Groddeck  de  hyran.  Homer,  rell.,  Gott.  1786. 

2)  K.  ehzt%  p.  40,  5  ff.  Gomperz,  vgl.  p.   19.  42. 
H)  1,  16.  3,  66.  4,  2. 

4)  Benihardy  II  ='  1,  230.  Die  älteste  Anffthruug  eines  Hymnus  überhaupt 
.steht  Thuc.  3,14. 

5)  Die  Aukläuge  bei  Kallimachos,  die  Guttmann  de  hymn.  Hom. 
historia  critit-a,  Greifsvvalde  1869  p.  6  t.  zusammenstellt,  sind  zu  unbedeutend. 

6)  Thiele  Philol.  :U,  203  f. 

7)  Thiele  Philol.  :54,n)3  fl".  Cobet  Mnemos.  10,  309  f.;  zur  Geschichte 
der  Handschrift  Boutkowski  dict.  numism.  col.  287  f. 

8)  Philol.  34,  194  A.  3;  v.  Wilamowitz  Callim,  hymni  et  epigr.  p.  7 
adn.  1. 

9)  Guttmann  a.  O.  p.  10  f.  luid  Eberhard  die  Sprache  der  ersten  hom. 
Hymnen,  Husum  1873—74,  der  eine  Naohkollation  der  Hand.schriften  L  und  D 
gil)t,  wei.Hfu  «eine  Unzuverlftssigkeit  nach. 

10)  qnaeslioues    metricae  et  grammaticae  de  hymnis  Horaeri,  Halis  1865. 


Epische  Hymneu  und  Tlieogouieu,  195 

hard^)  behandelten  die  Sprache.  Mit  der  cln-onologischen  Be- 
stimmung beschäftigten  sich  Windisch^)  und  Fick^)  ohne  Glück. 
Beide  legen  das  längst  erloschene  Digamma  zu  Grunde,  jener 
auch  den  Grad  der  Ilomerimitation*),  so  dass  gar  der  Homer 
am  ärgsten  ausplündernde  Rhapsode  der  älteste  sein  soll. 

Die  Hymnen  zerfallen  in  zwei  Gruppen ,  von  denen  die 
eine  den  Gott  durch  ausführliche  Erzählung  einer  bestimmten 
That  verherrlicht ,  die  andere  dagegen,  obgleich  durch  Dialekt 
und  Stil  jenen  gleichartig,  den  gottesdienstlichen  Hymnen 
näher  steht.  Die  einstigen  sechs  grossen  Hymnen  und  der 
siebente  an  Dionysos  gerichtete  bilden  jene  Gruppe,  während 
2u  dieser  die  übrigen  kleinen  Hymnen  und  die  in  Hesiods  Ge- 
dichten erhaltenen,  nämlich  Erga  V.  1 — 9,  Theogonie  V.  411 
bis  452  und  das  Konglomerat  am  Anfange  der  Theogonie,  ge- 
liören ;  doch  nehmen  das  sechste  homerische  Lied  an  Aphrodite 
und  das  neunzehnte  an  Pan  eine  Art  Mittelstellung  ein.  Von 
allen  sondert  sich  der  achte  Hynmus,  der  den  späteren  orphi- 
schen  in  den  gehäuften  Beiwörtern  völlig  gleichgeartet  ist. 
Bezüglich  der  Form  verdient  noch  beachtet  zu  werden ,  dass 
der  Sänger  nur  im  zweiten,  einundzwanzigsten  und  vierund- 
zwanzigsten homerischen  Hymnus,  dem  verstümmelten  an  Dio- 
nysos, einem  Fragmente  bei  Diodor  (3,  66)  und  am  Anfange 
<ier  Erga  den  Gott  selbst  anredet.  Sonst  spricht  er  immer  in 
der  dritten  Person  von  ihm  ausser  dass  er  am  Schlüsse  das 
übliche  kurze  Gebet  an  ihn  richtet;  der  erste  und  der  neunund- 
zwanzigste Hymnus  sind  gemischt. 

Der  erste  und  altertümlichste  homerische  Hymnus^)  ist  das 
Werk  eines  blinden  Sängers,  der,  wie  er  selbst  angibt,  auf 
Ohios  wohnte  und  offenbar  im  dehschen  Agon  den  Preis  ge- 
wonnen hat;   mit   diesem   Liede  nimmt   er  Abschied  von    dem 


1)  a.  o. 

2)  De  hymuLs  Homericis  luaioribus,  Lpg.   1867, 

3)  Bezzenbergers  Beitr.  2,  1  ff. 

4)  Jetzt  vgl.  Sterret  qua  in  re  hymni  Homerici  qujuque  maiores  iuter 
se  differaut  autiquitate  vel  Homeritate,  Boston  1881  (Diss.  v.  München). 

5)  Jos.  Schürmann  de  genere  dicendi  atque  aetate  hymni  in  Apolliuem 
Homerici,  Arensberg  1859;  Jos.  Priem  de  hymno  in  Ap.  Delium  Homer., 
München  1872  und  der  hom.  H.  auf  den  del.  Ap.,  Posen  1878;  Th.  Burck- 
hardt  der  Homeridenhymuus  auf  den  delLschen  Apollo,  Pr.  von  Basel  1878. 

13* 


J9Ö  6-  Kapitel. 

•  lelischeii  Gotte  und  den  ihm  dienenden  Jungfrauen ,  deren 
Reigen  er  vielleicht  auch  mit  seiner  Kithara  begleitet  hat.  Wie- 
wohl V.  173  sicher  interpoliert  ist,^)  deutet  die  stolze  Sprache 
jedenfalls  auf  einen  angesehenen  Sänger,  in  dem  das  Altertum 
seit  Thukydides^)  Homer  erkennen  zu  dürfen  glaubte.^)  Nur 
Hippostratos*)  wollte  ihn  dem  Rhapsoden  Kynaithos  von  Chios, 
der  ihn  Ol.  69  zu  Syraku§  vorgetragen  habe,  zuschreiben,  was 
wegen  des  Thukydideischen  Zeugnisses  unmöglich  ist.  Der 
Korrektur  Welckers,^)  der  Ol.  6  oder  9  statt  69  setzte,  wider- 
spricht, dass  Syrakus  erst  Ol.  11,  3  (734)  gegründet  wurde. 
Wenngleich  die  Sprache  des  Hymnus  sich  von  der  homerischen 
unterscheidet,  befürworten  andererseits  die  geschilderten  Kultur- 
verhältnisse ein  hohes  Alter ;'^)  freilich  sind  die  geographischen 
Angaben  V.  30  ff.  nur  mit  grösster  Vorsicht  zu  benützen.  Die 
Versuche,  den  Hymnus  in  kleine  Stücke  zu  zersplittern,^)  füh- 
ren nicht  zu  einem  gedeihlichen  Resultate. 

Der  zweite  Hymnus,  der  den  pythischen  Apollo')  feiert, 
ist  in  den  Handschriften  fälschlich  mit  dem  ersten  verbunden.^) 
Ein  böotischer  Dichter  verherrlicht  mit  genauen  Lokalangaben 
die  Gründung  des  delphischen  Heiligtumes ;  er  trug  das  Ge- 
dicht gewiss  in  Delphi  vor  und  zwar,  wie  V.  92  ff.  zeigen, 
bevor  die  hippischen  Agone  eingeführt  wurden;  dies  fand  Ol. 
48,  3  nach  dem  Ende  des  heiligen  Krieges  statt.  Die  Krissäer 
bedrückten  aber  damals  schon  die  Tempelleute  (V.  364  ff.).^*^) 
Dem  Verfasser  lag  bereits    der    erste  Hymnus  vor,    da    er  ihn 


1)  Guttraann  a.  O.  S.  16. 

2)  3,  105. 

3)  Aristophanes  (Av.  .'iT-ö)  scheint  V.  114  als  homerisch  zu  citieren. 

4)  Schol.  Find.  Nem.  2,  1. 

6)  Ep.  Cyklus  I  237. 

ß)  V.  102  ff.,  ans  denen  Flach  Gesch.  der  griech.  Lyrik  1,95  f.  anfeine 
jüngere  Zeit  schlie.s.';en  will,  sind  von  zweifelhafter  Echtheit. 

7)  G roddeck  de  hymn.  Hom.  rell. ,  Göttingen  1780;  Schnei dewin 
Göttinger  Studien  II  (1847)  S.  493  ff.;  Ph.  Wegener  Philol.  36,217  ff.  (drei 
Hymnen);  Christenseu  Schriften  der  Universität  zu  Kiel  VII.  1876  (er 
zerlegt  dleoen  und  den  folgenden  Hymnus  in  acht  .Stücke). 

8)  Th.  Schrei  her  der  deljihische  Lokalmythus  von  Apollon  Pytho- 
ktonos,  .Tahrhb.   121,  085  ff. 

ft)  Erst  Ruhnken  schied  die  beiden. 

10)  Enropa  erscheint  hier  zuerst  in  geographischer  Bedeutung  und  steht 
im  Gegensatze  zu  d^m  Pelop<mnes  und  den  Inseln  (V.  72  f) 


Epische  Hymueu  uuci  Theogouieii.  197 

mehrfach  nachbildete.  Das  älteste  Zeugnis  des  homerisclien 
Ursprungs  steht  in  einem  nach  196  v.  Chr.  verfassten  Ehren- 
dekret von  Knossos ;  Dioskorides  empfängt  nämlich  grosses 
Lob,  weil  er  die  Stadt  auf  Grund  jenes  Hymnus  verherrlichte.^) 
Das  Lied  hat  durch  eine  grosse  Interpolation  eine  Störung  er- 
litten; denn  es  drang  ein  Stück  aus  einem  andern  Hj^mnus 
ein,  der  die  Geburt  des  Typhaon  erzählt. 

Einen  völlig  verschiedenen  rein  humoristischen  Ton  hat 
der  dritte  Hymnus  an  Hermes,^)  der  von  der  Geburt  des 
Gottes,  dem  RinderdiebstahP)  und  der  Versöhnung  mit  Apollo 
handelt.  Ein  merkwürdiges  Produkt,  das  von  allen  anderen 
Hymnen  völlig  abweicht  und  zweifellos  nicht  unserer  Periode 
angehört!^)  Der  Dichter  zieht  geflissentlich  das  Alltagsleben 
mit  seinen  anständigen  und  auch  nicht  anständigen  (V.  294  ff.) 
Seiten  heran.  Alles  ist  von  Humor  umflossen,  selbst  was 
Hermes  V.  57  ff.  singt,  indem  er  in  die  Liebesgeschichte  seiner 
Eltern  die  Dreifüsse  und  Kessel  der  Küche  hineinbringt;  ich 
erinnere  auch  an  das  liebenswürdige  Gespräch  des  Kleinen  mit 
der  Schildkröte  (V.  25  ff.)  und  mit  welchem  Humor  steht  endlich 
dei'  Schelm  vor  dem  feierlich  strengen  Gotte  von  Pytho!  Ich 
glaube  nicht  zu  fehlen,  wenn  ich  auf  Athen  hinweise  ;  am  besten 
vergleicht  sich  die  Dichtung  mit  einer  bekannten  Statue  des 
kleinen  Hermes,  eines  liebenswürdigen  Gamins.  Der  Ton  allein 
würde  genügen ,  um  den  würdevollen  Schluss  (von  V.  507  an) 
als  fremdartigen  Zusatz  zu  erkennen.^) 


1)  Hozolle  Bulletiu  de  corr.  Hell.  4,  352  ff.  e-{v.Mii',ov  xata  xöv  no'.fj-cäv 
üTisp  Toj  afxö)  E^v'.oc  (die  Polemik  von  Cauer  Philol.  42,  173  ff.  ist  ohne 
Belang). 

2i  Tb.  Burckhardt  Jahrbb.  97,  737  ff.;  Greve  de  hymuo  in  Mercur. 
Homerico,  Münster  1867;  O.  Schulze  de  hymni  in  M.  H.  compositione, 
Halle  1868;  E.  Lohsee  de  h.  in  M.  Homerico,  Berlin  1872. 

3)  Diese  indogermanische  Sage  stand  zuerst  in  den  Eöen  (Anton.  Liber. 
23) ;  die  scheinbar  älteste  Darstellung  auf  einer  korinthischen  Vase  (Memoria 
deir  Inst.  II  t.   15)  ist  eine  Cäretauer  Imitation. 

4)  Daraus,  dass  V.  51  die  siebensaitige  von  Terpandros  eingeführte  Lyra 
vorkommt,  gewinnen  wir  nichts.  G.  Hermann  setzte  aus  metrischen  Grün- 
den den  Hymnus  sehr  spät  (Orphica  S.  689),  wozu  die  Sprache  stimmt  (Greve 
a.  O.). 

5)  Matthiä,  Hermann,  Greve,  Welcker  ep.  Cyklus  2,  464;  Hermann 
p.  XXXVIII  wurde  durch  die  Lückenhaftigkeit  und  Verderbtheit  unseres 
Textes  bewogen,  zwei  Recensionen  anzunehmen. 


198  6.  Kapitel. 

Wie  hätte  dieser  Dichter  das  Thema  des  vierten  HyimmSr 
die  Liebe  von  Aphrodite  zu  Anchises  behandelt  und  wie  frei 
von  Frivolität,  aber  auch  wie  farblos  stellt  sie  dieser  Gesang 
dar.^)  Er  gehört  entschieden  zu  den  schlechtesten  in  seiner 
Art  und  der  Verfasser  bedeckt  seine  Blosse  nur  mit  zahlreichen 
homerischen  Phrasen.  Aphrodite  entwickelt  eine  ausserordent- 
liche Zangenfertigkeit,  zuerst  in  V.  108 — 42^  und  dann  gar  in 
dem  langen  Vortrage  V.  192 — 290,  wogegen  Anchises  sich  nur 
zu  einigen  matten  Bemerkungen,  unter  denen  V.  145  ff.  pedan- 
tisch stilisiert  sind,  aufrafft.  Anspielungen  auf  Lokales  finden 
sich  nicht,  so  dass  kein  Grund  vorliegt,  warum  der  Sänger  am 
Hofe  der  Aneaden  geweilt  haben  sollte.^)  Die  Zeit  auch  nur 
annähernd  zu  bestimmen  ist  unmöglich.^) 

Von  diesem  saftlosen  Hymnus  sticht  wieder  der  fünfte 
an  Demeter  vorteilhaft  ab. ^)  Der  unverkennbar  attische") 
Dichter  besingt,  von  der  Weihe  der  eleusinischen  Mysterien 
begeistert,  den  Raub  der  Persephone,  Demeters  Gram  und  die 
Gründung  der  Eleusinien;  aber,  wie  ich  noch  einmal  erinnere, 
sein  Hymnus  ist  weder  für  die  Mysterien  noch  überhaupt  für 
den  Gottesdienst  bestimmt.  Er  schreibt  mit  Würde  und  Frömmig- 
keit, wenn  auch  der  etwas  schleppende  Ton  namentlich  in  den 
Reden   die  volle  Wirkung  beeinträchtigt.     Ueber  die  Zeit  lässt 

1)  R.  Wir. sei  quaestt.  de  hymno  in  Venerem  Homericnm,  Münster  1869 
(Diss.);  Rieh.  Thiele  proU.  ad  hymunm  in  Venerem  Homeri  quartuni, 
Halle  1872  (Diss.);  Berth.  Sa  hie  de  hynino  Homeri  quarto  tlz  'A-fpootTfjv 
Stolp  1878  (Pr.). 

2)  Hier  steht  eine  überflüssige  linguistische  Notiz  V.  113  ff. 

3)  So  Matthiä,  K.  O.  Müller  griech.  Lit.-Gesch.  1  '127  nud  Wirspl 
p.  41  f.;  die  Prophezeiung  über  die  Äneaden  V.  196  ff.  stammt  ans  der  Ilias. 

4)  Voss  mythol.  Briete  II  176  denkt  an  die  Zeit  des  Anakreon,  Matthiä 
auiniadv.  in  hymn.  p.  75  an  die  des  Mimnermos,  beide  wegen  der  angeblichen 
Aehnlichkeit  des  Tones;  nach  Thiele  wurde  der  Hymnus  zu  Ehren  der  troi- 
scheu  Göttermutter  in  Gergittion  bei  Kyme  gleichzeitig  mit  den  Kyprien  ge- 
dichtet; Suhle  setzt  ihn  hinter  den  fünften  Hymnus,  weil  daraus  allerlei  ent- 
lehnt sei  u.  8.  w. 

ö)  Separatausgabe  von  Bächeier,  Lpg.  1869  (mit  Facsimile);  Jos.  Schür- 
mann  de  hymno  in  Cererem  aetate  at<iue  scriptore,  Münster  1850  (Pr.);  L. 
Prelle r  Demeter  und  Persephone  S.  65  ff.;  Gust.  Gemss  de  h.  in  Cer. 
Homerico  I.  Berlin  1872;  W.  O.  Gutsche  Diss.  philol.  Halens.  I  45— 87  v 
Phil.  Wegener  Philol.  36,  227  ff;  Francke  de  hymni  in  Cererem  Homerici 
compositione  dictione  aetate,  Kiel  1881   (Pr.). 

6)  Schürmann  p.  47  ff.  und  Francke  1,  c. 


Epische  Hyniueu  und  Tlieogouien.  199 

sich  wieder  keine  bestimmte  Angabe  machen;  Schürraann  nimmt 
willkürHch  als  Grenzpunkte  die  dreissigste  und  vierzigste  Olym- 
piade an.  Jedenfalls  liegt  der  Hymnus  vor  dem  Auftauchen 
des  orphischen  Unfuges,  aber  nicht  lange  zuvor,  weil  Attika  erst 
mit  Solon  in  der  Literatur  eintritt.  Die  Einlagen  und  Doppel- 
recensionen  ^)  sind  wahrscheinlich  aus  einem  oder  mehrei'en 
anderen  Demeterhymnen  entlehnt. 

Der  siebente  Hymnus  an  Dionysos  trägt  das  deuthche 
Gepräge  einer  jüngeren  Zeit.  Der  Gott,  den  er  feiert,  ist  nicht 
der  weinfrohe,  aber  würdige  und  gesetzte  Herrscher  der  alten 
Zeit,  er  ist  vielmehr  ein  weichlicher  Jüngling,  wie  ihn  die 
jüngere  attische  Kunst  auffasste.  So  mag  die  Entstehungszeit 
des  Hymnus  und  des  Lysikratesdenkmals,  das,  im  Jahre  335/4 
errichtet,  ebenfalls  den  jugendlich  schönen  Dionysos  als  ßestrafer 
der  Seeräuber  darstellt,  nicht  weit  auseinander  liegen. 

Bei  den  kleinen  Hymnen  lassen  sich  manche  Anhaltspunkte, 
um  die  Lokalität  und  die  Zeit  zu  bestinnnen,  auftreiben:  Der 
neunte  stammt  aus  Jonien^),  der  zehnte,  vielleicht  auch  der 
sechste,  aus  dem  kyprischen  Salamis  und  der  vierundzwanzigste 
w'ohl  aus  Delphi.  Die  nnt  den  Nummern  15.  20.  29.  und  32 
bezeichneten  Hymnen  dürften  attisches  Fabrikat  sein.^)  Der 
hübsche  Hymnus  an  Pan  (Nr.  9)  gehört,  nach  seinen  eigen- 
tümlichen Kompositis  zu  urteilen,  in  die  alexandrinische  Zeit.  ^) 
Nr.  13,  18  und  25  sind  blosse  Centonen.  Von  den  übrigen 
lässt  sich  nichts  bestimmtes  sagen.  Es  ist  also  eine  wunder- 
liche Gesellschaft,  die  sich  hier  zusammengefunden  hat. 

Was  die  Clausula  dieser  kleinen  Hymnen  anlangt,  so  er- 
flehen die  Schlussverse  des  6.  und  24.  Hymnus  den  Sieg  im 
Wettkampfe;    die    anderen    weisen    fast  alle  auf  den  folgenden 


1)  F.  Flander  de  iuterpolatioiiibus  hymui  Cereris  qui  fertur  Homeri, 
Parchiin  1879  (Pr.). 

2)  Nach  Flach  Gesch.  der  griech.  Lyrik  1,  42  fällt  er  vor  die  Ein- 
nahme von  Smyrna  durch  die  Kolophonier ,  also  vor  700;  Diincker  Gesch. 
des  Altertums  V  ^199  setzt  ihn  aber  mit  Recht  hinter  dieses  Ereignis. 

3)  Ueber  den  32.  Hymnus  K.  O.  Müller  griech.  Lit.-G.  I^  123,  der 
Pandia  hervorhebt;  Gerhard  Trinkschalen  S.  15  nennt  ihn  orphisch,  -weil 
Selene  geflügelt  sei.  Hymn,  33,  13  ist  die  einzige  Stelle,  wo  die  Dioskuren 
geflügelt  erscheinen. 

4)  Baumeister  und  Köhn  observatt.  de  Homeri  in  Pana  hymno,  Guben 
1876  halten  ihn  für  jonlsch. 


2()(j  6.  Kapitel. 

Vortrag  hin,  wofür  die  ständige  Formel   lautet:    aotap    k^iü  xat 

Zu  den  äusserlicli  epischen  Hymnen  gehört  der  Hekate- 
hymnus,  der  in  die  hesiodische  Theogonie  eingelegt  ist 
(V.  414 — 52).  Nach  dem  ursprünglichen  Plane  der  Theogonie 
konnte  der  Verfasser  jener  Göttin  nur  V.  411 — 3  widmen.  In 
jenem  Zusätze  aber  empfängt  die  Göttin  das  Lob  aller  mög- 
lichen Vorzüge,  von  denen  sonst  kein  Mensch  etwas  w^eiss.  Er 
bildet  daher  ein  ungelöstes  Problem^);  der  Wahrheit  dürfte  die 
Annahme  am  nächsten  kommen,  dass  er  mit  irgend  einem 
Lokalkulte,  von  dem  wir  jetzt  nichts  mehr  hören,  zusammen- 
hängt. Hekate  stand  auf  Ägina  im  höchsten  Ansehen  ^) ;  aber 
welches  Band  verknüpft  einen  äginetischen  Gesang  mit  der 
Theogonie?  Seit  Heyne  schieben  die  meisten,  um  das  unbe- 
queme Problem  mögUchst  billig  loszubekommen,  das  Elaborat 
den  Orphikern  zu.  ^)  Die  einzige  Stütze  dieser  Hypothese  ist 
das  Beiwort  [xoovoysvt^c  (V-  426,  448),  das  nichts  beweist.^)  Haben 
die  alten  ürphiker  Hekate  wirklich  so  hoch  gestellt?^)  Zudem 
weichen  die  sicher  orphischen  Nachrichten  von  Angaben  des 
Hymnus  ab.  ^)  Wir  können  nur  so  viel  sagen,  dass  der  Hymnus 
spät  entstand^)  und  wahrscheinlich  bei  einem*  Agon  vorgetragen 
wurde. 

Unter  allen  Ereignissen  der  griechischen  Mythologie  lud 
der  Kampf  mit  den  Titanen  und  Giganten  am  meisten  zu 
epischer  Behandkuig  ein;  bot  sich  doch  hier  eine  Fülle  von 
Gestalten  und  zugleich  die  Möglichkeit,  die  Handlung  durch 
Episoden  in  die  Länge  zu  ziehen.   Nachdem  wahrscheinlich  in 


1)  Schömauu  opusc.  II  215  ff.  Lehrs  Aiist.  *44l  ueuut  den  Hyinuus 
einen  „Jargon";  was  sollen  wir  dabei  denken? 

2)  Paus.  2,  30,  2. 

3)  Man  nennt  im  besonderen  Ouomakritos  oder  Kerkops  (O.  Müller 
Prolegomena  S.  299). 

4)  Schömauu  a.  O.  220. 

6)  Die  Ägiueten  leiteten  allerdings  zu  Pausanias'  Zeit  die  Weihen  der 
Hekate  von  Orpheus  ab. 

6)  Frg.  bei  Schol.  Ap.  Rh.  3,  467  u.  Orph.  Arg.  980. 

7)  Vgl.  z.  B.  xati  vö|xov  417,  rtapaY'lY^^JlJ-«'-  „stehe  bei"  429.  432.  436 
(sonst  erst  bei  Plato);  s.  auch  Petersen  Ursprung  der  hesiodischeu  Theo- 
gonie S.  41  und  Lehn*  a.  O.  Auch  Merkel  Philol.  17,  146  hält  den  Hymnus 
für  den  Festgesang  eines  Rhajwoden. 


Ex)i.s(rhe  Hymnen  und  Theogouien.  201 

Eiuzelliedern  der  Anteil  der  verschiedenen  Götter,  voran  der 
des  höchsten  Königs,  besungen  war,  entstand  in  unbekannter 
Zeit  die  Titavofia^^oa,  die  mindestens  zwei  Bücher  umfasste.  ^) 
Die  Art  der  Behandlung  muss  bald  an  das  jonische  Epos  bald 
an  das  europäische  erinnert  haben,  da  sie  manche  bald  dem 
Arktinos  bald  dem  Eumelos  zuschrieben.  ^)  Sie  scheint  nach 
der  tabula  Borgiana  in  den  epischen  Kyklos  aufgenommen 
worden  zu  sein.  ^)  Auf  eine  ziemlich  späte  Zeit  weist  die  Ge- 
stalt des  Chiron,  der  als  Reformator  des  Menschengeschlechtes 
(fr.  6)  erscheint.  Welcker  erkannte  höchst  scharfsinnig,  dass 
das  Epos  auch  eine  Schildbeschreibung  (fr.  4)  und  eine  Schil- 
derung des  Siegesfestes  gab,  bei  dem  selbst  Zeus  vor  Freude 
tanzte  (fr.  5).  Er  vermutete  ferner,  dass  Aschylus  im  Pro- 
metheus V.  199 — 230  daraus  geschöpft  habe.  "*) 

Spätere  dichteten  Thamyris^)  und  Musaios^')  Titano 
machien  an.  Die  Sage  vom  Gigantenkampfe  scheint  im  allge- 
meinen jüngeren  Ursprungs  und  nach  dem  Titanenkampfe  ge- 
bildet;   Xenophanes^)  erwähnt  sie  zuerst. 

Durch  zahlreiche  gottesdienstliche  und  profane  Hymnen 
kam  ein  hinlängliches  Material  zusammen,  das  von  lokaler  Ein- 
seitigkeit befreit  einen  Ueberblick  über  die  Göttermythen  des 
gesammten  Griechenlands  bieten  konnte.  Die  Jonier  wären 
schwerlich  je  auf  den  Gedanken  gekommen ,  einen  Abriss  der- 
selben in  Versen  zu  geben  ^) ;  ein  Böoter  war  nicht  so  ekel. 
Wir  besitzen  bekanntlich  als  Werk  desHesiodos  eine"  The o- 
gonie  in  1022  Versen;  sie  steht  weder  mit  dem  Kultus  noch 


1)  Welcker  I  218  f.  409  ff.  Kinkel  p.  5  ff. 

2)  Athen.  1,  22  c.  7,  277  d,  nur  dem  Eumelos  Schol.  Apoll.  Rh.   1,   1165. 

3)  Dieses  Denkmal  sagt  ausdrücklich,  es  sei  nicht  die  des  Methymnäers 
Telesis.     Es  ist  übrigens  blos  |j.ayiav  erhalten. 

4)  Ueber  den  Inhalt  des  Epos  Nitz seh  Sagenpoesie  28  fl'.  W^elcker  II  409. 

5)  Heracl.  Pont,  bei  Plut.  mus.  3 ;  vielleicht  existierte  sie  nur  in  der 
Phantasie  des  Herakleides. 

6)  Von  mindestens  drei  Büchern,  Schol.  Ap.  Rh.  3,  1178.  Schömann 
opusc.  2,  8. 

7)  Fr.  1,  21  ß;  eine  scheinbar  sehr  alte  Vase  von  Cäre  mit  einer  Giganto- 
machie  (Mou.  d.  I.  VI.  VII  78)  ist  jung,  s.  Brunn  Probleme  der  Vasen- 
malerei S.  29. 

8)  Wenn  Homer  häufig  auf  Göttergeschichten  anspielt ,  braucht  er  noch 
keine  theogonische  Dichtung  ^Schömann  hesiodisehe  Theogonie  S.  2)  vor 
sich  gehabt  zu  haben. 


»)()«)  6.  Kapitel. 

mit  dein  delphischen  Orakel  in  Verbindung  0,  denn  hieratie^chp 
Lehrdichtung  war  bei  den  Griechen  höchstens  im  Zusammenhange 
mit  orphischen  und  ähnlichen  Mysterien  denkbar,  üeberdies 
referiert  der  Dichter  ganz  objektiv,  ohne  in  den  tieferen  Sinn 
der  Sagen  einzudringen  oder  ihnen  eine  allegorische  Deutung 
aufzunötigen.^)  Trotzdem  nähert  er  sich  den  ersten  Natur- 
philosophen, wenn  er  die  Anfänge  der  Welt  zu  enthüllen  strebt; 
zu  der  philosophischen  Spekulation  passt  auch  die  Vorhebe  für 
die  etymologische  Erkenntnis  der  Götternamen.  ^)  Es  muss  ein 
eigenartiger  Kopf  gewesen  sein,  der  ohne  priesterliches  Amt  auf 
die  Abfassung  einer  Theogonie  verfiel  und  dabei  so  viel  allge- 
meines Wissen  besass,  dass  ihm  die  kosmogonischen  Ideen  der 
Orientalen  nicht  fremd  waren.*)  Die  gewöhnliche  Tradition 
nennt  ihn  Hesiod,  obgleich  es  unglaubhch  ist,  dass  der  Bauern- 
sänger eine  solche  Vielseitigkeit  der  Interessen  und  eine  so  be- 
deutende Weite  des  Blickes  besessen  habe.  Die  helikonischen 
Böoter  selbst  sprachen  ihm  die  Theogonie  ab^)  und  mit  ihnen 
scheinen  zahlreiche  Graunnatiker  der  Kaiserzeit,  die  der  höheren 
Kritik  freundlich  gestimmt  war,  eines  Sinnes  gewesen  zu  sein.^) 
Ueber  die  Zeit  der  Theogonie  ist  nichts  anderes  zu  sagen,  als 
dass  sie  nach  Homer  —  wir  dürfen  wohl  auch  sagen  —  lange 
nach  ihm  entstand;  dies  beweist  der  Dialekt,  zahlreiche  ent- 
lehnte Verse')  und  nicht  am  wenigsten,  dass  die  von  Homer 
M  340  ff.   aufgezählten    troischen   Flüsse  als   fabelhafte   grosse 


1)  Schömann  opnscula  II  464  flf. 

2)  Er  geht  sogar  auf  den  Wirkungskreis  der  Götter  sehr  selten  (Schö- 
mann opusc.  2,  471  A.  9)  ein. 

3j  Z.  B.  V.  195  ff.  199  f.  271.  282  f. 

4)  Wenn  der  Verfasser  anf  die  Welten tstehung  das  Prinzip  der  Liebe 
anwendet,  bewegt  er  sich  in  den  Anschauungen  der  Semiten  und  Ägypten; 
genule  bei  letzteren  ist  Hathor  zugleich  Göttin  der  Liebe  und  der  Natur. 
Manche  Vorstellungen,  wie  von  der  Beflügelung  stammen  aus  Kleinasien 
(Langbehn  Flügelgestillten  in  der  ältesten  griechischen  Kunst  S.  51). 

6)  Paus.  9,  31,  5. 

6)  Paus.  9,  27,  2  'Hoiooov  •?)  xov  'HoiöSij)  BsoYoviav  eiirtOffisavta;  8,  18, 
1  «agt  er  sogar,  einige  hielten  die  Theogonie  für  hesiodisch;  vgl.  auch  9, 
36,  1  :tp.«>3'.t3fl-«o  ?Ttp  'f'./.ov  r»]v  Heo^oviav.  Dem  wider.sprechen  allerdings  diu 
zahlreichen  te«timonia  bei  Mütze  11  de  emend.  theog.  p.  303 — 35  (dazu 
liankefl  .\uogabe  des  Scntum  p.  81).  Vgl.  Welcker  Theogonie  R.  14  ff. 

7)  E<1,  Kau  seh  quatenus  Hesiodi  in  theogonia  elocutio  ab  exemplo 
Homeri  pendeat,  Königsberg  1876  (Diss.  v.  Leipzig);  Elbing  1878. 


Epische  Hymnen  nnd  Theogonien.  203' 

Ströme  gelten.  ^)  Der  Erörterung  der  Heimat  muss  die  Son- 
derung der  alten  und  jungen  Partien  vorausgehen,  weil  ßöotismen 
und  Dorismen  scheinbar  durcheinanderlaufen;  es  wird  sich 
daher  fragen,  ob  hier  nicht  die  zeitlich  gesonderten  Schichten 
auch  örtlich  sich  unterscheiden. 

So  viel  ist  objektiver  Thatbestand;  aber  die  homerische 
Frage  hat  eine  hesiodische  nach  sich  gezogen,  von  der  ich 
bezweifle ,  dass  sich  der  Lösung  geringere  Schwierigkeiten  als 
dort  entgegenstellen.  Im  Gegenteil  liegen  dort  zwei  umfang- 
reiche Epen  vor,  während  wir  bei  der  Theogonie  höchstens  die 
Erga  heranzuziehen  haben.  Dagegen  sind  die  Werke  so  vieler 
Epiker  und  Lyriker,  aus  denen  allein  die  Fortbildung  der  Mythen 
richtig  erkaimt  und  in  ein  chronologisches  System  gebracht 
werden  könnte,  bis  auf  wenige  Fragmente  verloren.  Somit 
liegen  zu  wenig  feste  Punkte  vor.  Der  Liedertheorie  entspricht 
bei  Hesiod  die  Ansicht  Schömanns'^);  er  sieht  in  der  Theo- 
gonie ein  Aggregat  verschiedener  kleiner  Stücke,  die  erst  die 
Kommission  des  Peisistratos  zusammengesetzt  habe.  Trotzdem 
fehlen  unzweifelhaft  orphische  Elemente  in  der  Theogonie 
gänzlich ;  dann  kannten  schon  Xenophanes  und  Heraklit  eine 
berühmte  hesiodische  Theogonie,  oder  soll  man  ohne  irgend 
einen  Grund  die  erhaltene  von  jener  unterscheiden '?  üebrigens 
fehlt  es  mir  schwer  zu  glauben,  dass  Onomakritos,  der  unter 
Peisistratos  die  Mythen  seiner  Sekte  zusammenstellte,  denselben 
Liebesdienst  Dokumenten  der  von  ihm,  wenn  nicht  bekämpften, 
doch  wenigstens  bei  Seite  gesetzten  alten  Religion  erwiesen 
habe.  Während  Schümann  jene  selbständigen  Stücke  von  dem 
Kompilator  durch  einen  dürren  Götterkatalog  verbunden  werden 
liess,  betrachtete  Gerhard^)  diesen  als  das  ursprünglichste 
Element,  an  das  sich  teils  selbständige  Stücke  teils  Interpolationen 
ansetzten. 

Einen  höchst  bedenklichen  Vermittlungsversuch  zwischen 
radikaler  und  konservativer  Tendenz  machte  Petersen.^)  Nach 


J)  V.  342  ff. 

2)  Opuscula  II,  besonders  p.  47-5  ff. 

3)  Ueber  die  hesiodische  Theogonie,  Abhaudlnngen  der  Berliner  Akademie 
1856  mit  Textausgabe. 

4)  Ursprung    und    Alter    der    hesiodischen    Theogonie,    Verzeichnis    der 
Vorles.  des  Hamburger  akad.   Gymn.  Winter  1862/3. 


■5>()4  6-  Kapitel. 

ihm  sind  Hymnen,  epische  und  theogonische  Bestandteile  zu 
sondern ;  diese  vorhesiodischen  Stücke  habe  der  Dichter  zu 
«ineni  Ganzen  vereinigt.  Aehnliches  hatten  schon  Brucker^) 
und  Heyne '^)  angenommen. 

Mehr  Stimmen  fielen  mit  Recht  zu  Gunsten  eines  ursprüng- 
lichen Kerns,  über  dessen  Umfang  freilich  auch  hier  jeder 
anders  denkt.  Thiersch^)  sprach  für  ein  einfaches  Verzeichnis 
der  Götter  und  ihrer  Thaten ,  mit  der  man  eine  Anthologie 
von  Stellen  älterer  Dichter  verbunden  habe.  ^)  Fruchtbarer  war 
•die  für  eine  aufzählende  Dichtung  ausgezeichnet  passende 
Strophentheorie.  Auf  Grund  dieser  von  Gruppe  gefundenen 
Idee  schnitt  A.  Sötbeer^)  zweiundsiebzig  Strophen  von  je  fünf 
Versen  zurecht.  Gruppe*')  verbesserte  seinen  eigenen  Ge- 
danken dahin ,  dass  er  richtig  dreizeihge  Strophen  annahm, 
wenn  er  sie  auch  irrtümlich  im  ganzen  Gedichte  durchführen 
wollte;  er  fand  ein  Gedicht  von  blos  siebenunddreissig  Strophen; 
•einiges  ursprüngliche  soll  verloren  gegangen  sein.  G.  Her- 
mann^) bildete  Sötbeers  Versuch  weiter;  indem  er  äusserst 
kühn  nach  seinem  Belieben  Verse  strich  und  umstellte,  kon- 
«tj-uierte  der  berühmte  Kritiker  eine  recht  hübsche  Theogonie 
von  hunderteinundfünfzig  fünfzeiligen  Strophen ,  von  welcher 
Schümann  sagte,  der  alte  Dichter  dürfte  froh  sein,  wenn  er  ein 
solches  Werk  zu  Stande  gebracht  hätte.  Köchly  verband  beide 
Systeme  so,  dass  er  als  älteste  Schicht  Strophen  von  je  drei 
Versen ,  dann  eine  jüngere  Schicht  fünfzeihger  Strophen  und 
■endlich  Füllstücke  annahm.  **)  Die  letzte  Redaktion  übertrug  er 
wieder  den  Leuten  des  Peisistratos. 

Die  Schwierigkeit   der  Untersuchung    Hess   in  den   letzten 


1)  Hist.  crit.  phil.  I  2  p.  407. 

2)  De  Theog.  ab  Hes.  condita,    iu  Comm.    soc.  Gotting.  II.    uud    im  Au- 
bange  der  Ausgabe  Wolfs,  Halle  1783. 

8)  Ueber  die  Gedichte  des  He-siod,  Denkschrifteu  der  bayer.  Akad.    1813 
Bti.  IV.  S.  1  ff. 

4)  MerkelPhilol.  17, 132  nimmt  als  Kern  V.  116—8.  120—38.  154— 616  an. 

6)  Versuch,  die  Urform  der  hesiodischen  Theogonie  nachzuweisen,  Berlin 
1837;  er  bereute  es  später  (Gott.  gel.  Anz.  1848  Nr.  137  S.  1370j. 

ö)  UeJier  die  Theogonie  des  Heaiod,  Berlin  1841. 

7)  De  Hesiodi  Theogoniae  forma  autiquis-sima  1844   (Opuscula    «,  47  fi.j. 

8)  Akademische  Vorträge  I  387  ff.  und  de  diversis  Hesiodeae  Theogoniae 
partibas,  Zürich   1860. 


Epische  Hymnen  und  Theogonien.  205- 

Decennien  das  Interesse  erkalten  oder  sie  führte  zu  quietistischen 
Tendenzen.  So  streicht  der  neueste  Bearbeiter,  H.  Flach  *), 
nur  die  offenbarsten  Zusätze  (das  Proömium  ausser  V.  1 — 4. 
;')6 — 42.  104 — 6,  den  Hymnus  an  Hekate  und  den  Schluss  von 
V.  965  an),  dazu  noch  die  Schilderung  der  Unterwelt,  die  nach 
ihm  in  zwei  Recensiowen  (V.  746 — 806,  807 — 19)  zerfällt. 

Wir  versuchen  im  folgenden  einen  selbständigen  üeberblick 
über  die  Schichten  der  hesiodischen  Theogonie  zu  geben.  An 
erster  Stelle  muss  der  ganze  Anfang  bis  V.  115  fallen.^)  Er 
besteht  aus  den  Hymnen  von  Rhapsoden,  welche  die  Theogonie 
vortrugen;  die  Inhaltsangaben  bildeten  wohl  auch  beim  Vor- 
trage den  Uebergang  von  den  Hymnen  zu  der  Dichtung  selbst. 
Diese  Erkenntnis  bringt  aber  nicht  viel  Licht  in  das  Chaos, 
weshalb  die  Ansichten  ausserordentlich  aV)weichen.  Gerhard 
und  Merkel^)  sehen  hier  einen  einzigen  stark  interpolierten 
Hymnus,  während  ihn  Deiters  *)  in  drei  und  Lehrs  ^)  in  nicht 
weniger  als  fünf  Fragmente  spaltet.  V.  1 — 34  ist  offenbar  ein 
Hymnus  an  die  helikonischen  Musen ,  dessen  Verfasser  die 
Theogonie  bereits  für  hesiodisch  hielt  und  ihren  Ursprung  aus 
Eingebung  der  Musen  erklären  wollte;  es  war  ein  Rhapsode, 
der  die  Theogonie  vortrug.  Später  legte  man  das  Stück  imit 
leichten  Aenderungen  Hesiod  in  den  Mund,  obgleich  V.  22 
stehen  blieb.  Der  zweite  Hymnus  V.  36 — 52  richtet  sich 
dagegen  an  die  olympischen  Musen ;  der  Dorier  *')  gibt  zum 
Schlüsse  einen  UeberbHck  über  die  Theogonie.  Daran  traten 
zwei  Fragmente  von  Musenhymnen,  eines  dorischen  ^)  V.  53 — 80 
und  eines  jonischen  V.  81 — 103^),  wodurch  jene  geschickt  ge- 


1)  Sy.stem  der  hesiodischen  Kosmogonie,  Lpg.   1874. 

2)  Die  Literatur  steht  bei  Göttling-Flaeh  Hesiodi  carmina  S.  XLV 
A.  24;  speziell  vgl.  Herrn.  Deiters  de  Hesiodi  Theogoniae  prooemio,  Bonn 
1863;  Gust.  Ellger  de  prooemio  Theogoniae,  Berlin  1871;  Fritz  Ehling 
Composition  der  Theogonie,  1.  Teil  Proömium,  Clausthal  1875  (Hier  werden, 
die  älteren  Ansichten  zusammengestellt);  G.  Ellger  die  Zusätze  zu  dem 
Proömium  der  Hesiodischen  Theogonie,  Berlin   1883. 

3)  Philol.   17,  124. 

4)  A.  O. 

5)  Populäre  Aufsätze  S.  235  f. 

G)  Vgl.  ö-sGtv  V.  41 ;  V.  44 — 52  scheinen  drei  Strophen  zu  bilden. 

7)  V.  60  xoüpa;;. 

8)  Von  diesem  verwertete  ein  Rhapsode  V.  94 — 7  als  eigenes  Proömium. 
(Hyran.  Hom.  25). 


206  ^-  Kapitel. 

gebene  Inhaltsangabe  zuweit  von  dem  Gedichte  abrückte;  so 
■wurde  eine  neue  üebersicht  (V.  105 — 13),  wiederum  in  drei 
Strophen  mit  zwei  abschhessenden  Versen  zerfallend,  notwendig. 
Innerhalb  der  Dichtung  selbst  stossen  unverkennbar  störende 
Abschnitte  auf:  V.  207—10  stehen  abgerissen  da;  V.  217—22 
sind  bei  V.  211  und  904  ff.  unnötig.  V.  i?65— 9  und  270—330 
(Geschlecht  des  Phorkys  und  der  Keto)  trennen  V.  263  un- 
gehörig von  V.  337 ;  auch  hat  dieser  Abschnitt  vieles  auf- 
fallende und  passt  nicht  recht  in  die  Theogonie.  Er  entspricht 
-der  Vorliebe,  welche  die  letzten  Jahrhunderte  unserer  Periode 
für  Sagen  von  Ungeheuern  hegten.  In  vollster  Blüte  steht 
dieses  Interesse  in  den  Bildern  des  amykläischen  Thrones.  Auch 
sonst  lieben  die  ältesten  Künstler,  Perseus  und  Medea,  Bel- 
lerophon und  die  Chimaira,  die  kalydonische  Jagd,  Herakles 
mit  der  Hydra  und  dem  Löwen  und  ähnliche  Kämpfe  darzu- 
stellen ;  wahrscheinlich  wirkten  dabei  die  orientalischen  Dar- 
stellungen phantastischer  Wesen  auf  den  Geschmack.  An 
V.  380  reiht  sich  wieder  V.  404,  durch  einen  Abschnitt  (V. 
383 — 403),  der  von  der  Styx  handelt,  getrennt;  auch  dieser 
überschreitet  das  gewöhnliche  knappe  Mass  der  Dichtung.  Von 
dem  Hymnus  an  Hekate  (V.  411 — 52)  war  bereits  die  Rede.  ^) 
Zwischen  der  Schilderhebung  des  Zeus  V.  501  ff.  und  dem 
daraus  entspringenden  Titaneukriege  (V.  617 — 745)  liegt  wieder 
ein  unzeitiger  Absatz  über  Prometheusmythen,  der,  wie  das 
ähnliche  Stück  am  Anfange  der  Erga,  eine  polemische  Tendenz 
gegen  das  weibliche  Geschlecht  enthält.  Von  V.  745  sollten 
wir  dann  unmittelbar  zu  V.  881 — 5,  die  den  Kampf  schliessen, 
gelangen;  dazwisciißn  schieben  sich  V.  746 — 819,  eine  Liste 
der  Unterweltsbewohner,  aus  meist  jungen  und  lose  mit  ivd-ct 
-angereihten  Stückchen  bestehend,  ausserdem  V.820 — 80  (Typhoeus 
und  sein  (^esclilecht.)  Jener  Abschnitt  widerspricht  der  Theo- 
gonie in  mehreren  Punkten,  letzterer  korrespondiert  mit  dem 
oben  verworfenen  Ungeheuerkatalog.  Von  V.  885  schreitet  die 
Erzählung  ohne  Anstoss  bis  929  weiter,  die  Zeusgeburten,  bei 
denen  die  Namen  der  Musen  aus  dem  Proömium  V.  77 — 79 
einzusetzen  sind,  und  im  Anschlüsse  daran  Hephaistos'  wunder- 
bare Entstehung  behandelnd.  V.  930  bis  962  bilden  einen  bunt 
gemischten  Anhang;  als  endlich  die  Theogonie  mit  dem  xatä- 

1)  8.  200. 


Ei>ische  Hymueu  uud  Theogonieu.  207 

>.0Y0C  YDvar/.wv  verbunden  wurde,  fügte  der  sehr  späte  Sammler 
zum  Uebergange  ein  Verzeichnis  der  Kinder,  welche  Göttin en 
sterblichen  Männern  gebaren,  hinzu.  ^) 

Ehminieren  wir  diese  Bestandteile,  so  erhalten  wir  zwar 
kein  vortreffhehes  Gedicht,  aber  doch  eine  ganz  passende  Dar- 
stellung der  Götterwelt.  Da  dem  Dichter  Gewandtheit  im  Aus- 
druck und  im  Versbau  mangelt,  dürfen  ungelenke  Uebergange 
kein  Bedenken  erregen.  Bedeutende  Lücken  sind  nicht  nach- 
zuweisen^), weil  es  dem  Dichter  freisteht,  nicht  von  jeder  er- 
wähnten Gottheit  wieder  Kinder  zu  nennen.  Die  Theogonie 
teilt  sich  nun  in  zwei  grundverschiedene,  aber  nicht  ungeschickt 
verknüpfte  Massen,  epische  Erzählungen  und  knappe  Genea- 
logien; letztere  und  nur  diese  sind,  wie  überhaupt  die  Strophe 
regelrecht  blos  bei  Katalogen  steht,  an  die  Strophenform  ge- 
bunden und  wir  können  in  allen  alten  Partien  mit  Ausscheidung 
weniger  überflüssiger  Verse  ^)  dreizeilige  Strophen  herstellen. 
Die  beiden  epischen  Partien  haben  nur  am  Anfang  und  Ende 
des  Ueberganges  wegen  die!  Strophenform  (V.  154  ff.  201  ff. 
453  ff.  894  ff.).  Vielleicht  sind  auch  sie  symmetrisch  in  Ab- 
sätze von  je  neun  oder  achtzehn  Versen  gegHedert,  doch  ist  es 
rätlich,  sich  hier  zurückhaltend  auszusprechen.  Jedenfalls 
herrscht  in  der  ganzen  alten  Theogonie  eine  grosse  Synnnetrie, 
die  freilich  zu  nicht  wenigen  sonst  überflüssigen  Versen  führte^); 
die  Herausgeber  haben  nichts  eiligeres  zu  thun  als  sie  alle  zu 
streichen.  Wenngleich  in  der  That  ungewöhnlich  viele  Doppel- 
recensionen  vorkommen^),  ist  eüi  gewisser  Gliederparallelismus 
nicht    zu  leugnen^    aber  er    erhöht    unstreitig  die  Feierlichkeit 


1)  Weyeu  Atrios  (So  ist  für  "Ayp'.oc  zu  schieibeu)  und  Latiuos  geschah 
dies  wahrscheinlich  vor  dem  Auftauchen  der  latiuischen  Äneassage,  aber  auch 
nicht  sehr  hinge  vorher,  da  der  Verfasser  die  Völker  Ober-  und  Mittelitaliens 
mit  Odysseus  verbindet,  also  einen  anderen  Weg  der  Hellenisieruug  ein- 
schlägt; andererseits  muss  Hatria  bereits  bekannt  gewesen  sein. 

2)  Schömann  opusc.  II  393 — 424  gegen  Mützell. 

3)  V.  119.  138.  144—5.  153  (vgl.  146).  158.  230.  234.  264.  364—70  (oder 
blos  365—70?).  373.  381—2  (wahrscheinlich  im  Interesse  der  östlichen  Lokrer, 
die  den  Morgenstern  im  Wappen  führten,  interpoliert).  408.  910—11  (wofür 
908  beizubehalten  ist);  V.  144—5,  408  und  910—11  sind  schon  von  anderen 
gestrichen. 

4)  Z.  B.  V.  224.  271.  (639  ff... 

5)  Z.  B.  V.   144  f.  195  ff.  367  ff.  407  f. 


208  •■'•   ''Kapitel. 

«les  Tones.  ^)  Der  Dichter  steht  aber  unter  dem  Banne  der 
Strophe,  da  er  nicht  das  Gesclück,  die  Fessel  in  eine  heilsame 
»Schränke  zu  verwandeln,  besitzt.  Seine  Schwäche  zeigt  er  auch 
darin,  dass  er  bei  dem  lebhafter  bewegten  Titanenkampfe  fort- 
während von  dem  Dichter  der  Ilias  Verse  und  Wendungen 
borgt;  trotzdem  bleibt  der  Kampf  ein  Aufeinanderschlagen  ohne 
[)lastische  Episoden.  Bei  der  beliebten  Erfinduiig  von  Namen 
zeigt  sich  selten  poetisches  Gefühl ;  nur  im  Nereiden  katalog  hat 
der  Zauber  des  Meeres  das  nüchterne  Gemüt  erregt.  Jenes 
Stück  beweist ,  dass  man  das  ewig  wechselnde  Naturschauspiel 
fortwährend  beobachtete  und  jeder  Seite  des  Meerlebens  durcli 
einen  eigenen  Namen  gleichsam  Dauer  zu  geben  versuchte. 

Wir  haben  zum  Schlüsse  nachzuholen,  was  der  Dialekt  des 
Gedichtes  über  seine  Heimat  verrät.  Die  alten  Partien  scheinen 
nach  izeplayB  (678 ,  eigentlich  Trspoia/e)  und  Tispov/^Bzai  (733) 
büotisch  oder  norddorisch.  ^)  Dagegen  erweiterten  dorische 
Sänger  dieses  böotische  Gedicht  bedeutend;  sie  dürften  im  be- 
sonderen Lokrer  oder  auch  Phoker  gewesen  sein.  Ihnen  ge- 
hören V.  383—403  (von  Styx),  die  Prometheusmythen  V.  507 
— 616  und  vielleicht  die  Nekyia  V.  767 — 819,  an  kleineren  Inter- 
polationen V,  265 — 9  und  653  an.^)  Aber  die  Böoter  selbst 
standen  keineswegs  zurück ;  wenigstens  deuten  bei  V.  270 — 336 
<Pi7.-x  =  X'f'lYva  (326),  vielleicht  auch  rjv  (321)  und  der  teilweise 
Gebraufh  der  Strophenform  den  böotischen  Ursprung  an. 

Es  scheint  nicht,  dass  die  hesiodische  Theogonie  grosse 
Verbreitung  erlangte.  Von  kanonischem  Ansehen  als  „hellenische 
Bibel"  ist  natürhch  von  vornherein  keine  Rede.  Ihre  meisten 
Leser  fand  sie  in  den  Kreisen  der  Philosophen  und  der  halb- 
philosopliischen  Gottesgelehrten;  jene  bekämpften  sie  teils,  wie 
Xenophanes,  als  Lügenbuch  auf  das  heftigste,  teils  schätzten 
sie  es,   wie  Plato-*),    als   ältestes  Dokument   einer   spekulativen 

1)  i:)('.Hhjill»  wurde  er  auch  ausserhalb  des  Orientes  in  feierlichen  Sprüchen 
verwindet,  .so  in  griechischen  Orakeln,  eiiiigemale  in  der  Edda  [z.  B.  Rigsmal 
83),  vgl.  auch  K.  Blind  in  der  „Gegenwart"   1878  S.  309. 

2;  UwKÜi;  mit  kurzem  '/  nach  dorischer  Weise  steht  in  dem  unechten 
Verse  063.  Obgleich  v.  in  Böotien  erst  spät  für  tj  eintrat,  hören  viele  nicht 
auf,  die  schlechte  Etymologie  V.  200  eines  Interpolators  zu  einem  Böotismus 
zn  stempeln. 

3)  Vgl.  die  dorischen  Akknsative  auf  kurzes  ac  V.  401.  534.  ?  804.  2ß7.  653. 

4)  Synipos.  p.   178b.   Cratyl.  p.  396  c.  400c.  Theaet.  p.  155  d. 


Epische  Hymnen  und  Theogonien.  209 

Weltanschauung  hoch.  Die  Stoiker  fanden  hier  ein  bequemes 
Material,  an  dem  sie  ihre  Neigung  zum  Allegorisieren  hin- 
länglich befriedigen  konnten.  ^)  Epikur  soll  sogar  durch  die 
Theogonie  auf  das  philosophische  Denken  geführt  worden  sein. 
Die  Orphiker  nutzten  sie  für  ihre  theogonischen  Gedichte ;  noch 
in  der  Kaiserzeit  war  sie  ihnen,  wie  die  orphischen  Hymnen 
beweisen  ^) ,  geläufig.  Auch  Pindar  scheint  als  eifriger  Mythen- 
forscher  die  Theogonie  sorgfältig  studiert  zu  haben.  Dagegen 
wurde  sie  schwerlich  so  populär,  dass  sie  auf  Vasen bilder  wirkte.  ^) 
Die  Römer  hielten  sich  von  iin-  so  gut  wie  ganz  ferne;  daher 
benützten  sie  die  lateinischen  Kirchenväter  trotz  ihres  Stoff- 
reichtums beinahe  gar  nicht  zur  Polemik. 

Die  Idee  des  Werkes  selbst  fand  mehr  Anklang.  Während 
die  Kosmogonien  des  Linos  und  Thamyras^),  wie  die  des 
Atheners  Palaiphatos  ^)  und  des  Propheten  Epimenides^) 
Werke  später  Philosophen  sind,  dürfen  die  Theogonien  des 
Musaios  und  sicher  die  orphische  ein  höheres  Alter  bean- 
spruchen. Freilich  gehen  beide  nicht  über  die  Zeit  des  Peisi- 
stratos  zurück.  ^)  Jene  erwähnt  den  attischen  Heros  Tripto- 
lemos,  noch  dazu  als  Sohn  der  Uranos  und  der  Ge.  ^)  Diese  ist 
ein  Werk  des  Onomakritos,  nach  dessen  Vorgange  später  zwei 
andere  Theogonien  auftraten.^)  Die  Athener  betrachteten  sie, 
wenigstens   was   die  Philosophen^")  betrifft,    mit  höchster  Ehr- 

1)  Mützell  de  em.  Theog.  p.  280. 

2)  Büchsenschütz  de  hymnis  Orphicis,  Berlin  1851. 

3)  Luckenbach  Jahrbb.  Suppl.  11,  636  A.  Ein  theogonisches  Bild, 
nämlich  die  Geburt  der  Athene",  schmückt  zuerst  ein  mit  der  Franjoisvase 
verwandtes  Gefäss  (Mon.  d.  I.  III  44.  45) ;  also  lenkten  die  Künstler  vielleicht 
erst  in  den  sechziger  Olympiaden  ihre  Augen  auf  dieses  Mythengebiet. 

4)  Schömann  opusc.  2,  4  f. 

5)  ib.  opusc.  2,  6. 

6)  ib.  p.  21  f.  Die  prosaischen  Theogonien  des  Abaris  und  Aristeas  sind 
eiue  Erfindung  des  Lobon  (Hiller  Ehein.  Mus.  33,  522). 

7)  Anders  P.  Schuster  de  veteris  Orph.  theog.  indole  atque  origine 
p.  74—79. 

8)  ib.  p.  6  ff.  Kinkel  frg.  epic.  Gr.  p.  225  fi". 

9j  ib.  p.  9  ff.  Lobeck  Aglaophamus  S.  347  ff.,  dazu  Giese  Rhein.  Mus. 
8,  70—121;  AUg.  Encykl.  f.  Alterth.  5,  999  ff.;  P.  Schuster  de  veteris 
Orphicae  theogoniae  indole  atque  origine,  Lpg.  1869;  Susemihl  Jahrbb. 
109,  666  ff. 

10)  Hippias  bei  Clem.  AI.  ström.  6,  265  S.  745  P.  Plato  Ion  536  b.  apol. 
41a,  vgl.  Arist.  Ran.   1024  ff. 

Situ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  14 


210  ^-  Kapitel. 

furcht  und  nocli  später  nahm  die  orphische  Theogonie  in  den 
Bücherschränken  einen  ehrenvollen  Platz  ^)  ein.  Dagegen 
nannte  sie  schon  Herodot  (2,  53),  sonst  nicht  eben  ein  scharfer 
Kritiker,  unecht.  Diese  ältere  Theogonie  allein  lasen  Plato, 
Aristoteles  und  Eudeinos  ^) ;  die  übrige  orphische  Literatur  liegt, 
die  TsXetat  ausgenommen,  ausserhalb  des  Bereiches  dieser 
Periode.  Auf  viel  ältere  Orphikerschriften  soll  Heraklit^)  hin- 
weisen, wenn  er  sagt,  Pythagoras  habe  in  dem  Dionysosheiligtum 
des  Balkan  uralte  Aufzeichnungen  des  Orpheus  eingesehen  und 
benützt;  aber  die  Handschriften  nennen  als  Gewährsmann  statt 
des  berühmten  Philosophen  den  verrufenen  Herakleides. 

Von  diesen  theogonischen  und  kosmogonischen  Dichtern 
werden  Musaios,  Orpheus  und  Linos  unter  dem  Namen  ,, Theo- 
logen'' zusammengefasst.*) 

Hier  ist  wohl  der  geeignetste  Platz,  um  die  prophetisch- 
mystischen Epen,  die  aus  der  Peisistratidenzeit  und  den 
nächsten  Jahrzehnten  stammen,  ein  für  allemal  abzumachen. 
In  jener  Zeit  ergab  sich  aus  einem  Kompromiss  zwischen  der 
ReHgion  und  der  Naturphilosophie,  wobei  mystisches  Dunkel 
die  unversöhnlichen  Differenzen  verhüllte,  ein  wunderliches 
Treiben,  in  das  viele  gebildete  Männer  hineingezogen  wurden. 
Athen  war  zugleich  die  Heimstätte  der  rationaüstischen  Auf- 
klärung und  des  Mysticismus.  Ein  mystischer  Zustand  des 
Geistes  ruft  immer  eine  merkwürdige  Schreibseligkeit  hervor, 
von  der  wir,  was  die  Griechen  anlangt,  wenig  bemerken,  da 
von  der  umfangreichen  mystischen  Literatur  nur  dürftige 
Fragmente  das  Altertum  überdauert  haben.  Athens  Stadt- 
prophet war  Musaios^);  seinen  Namen  tragen  die  bereits 
erwähnte  Theogonie^),  die  Eumolpia  (ein  an  seinen  angeblichen 


1)  Alexis  bei  Athen.  4,   164c. 

2)  P.  Sehnst  er  de  veteris  Orphicae  theogouiae  indole  atque  origiiie, 
Lpg.  1869  p.  4— 23;  Susemihl  Jahrbb.  109,  666  flf.;  Zeller  Philosophie 
der  Griechen  I '  S.  68—73.  B,  Giseke  philol.  Anz.  1873  S.  21  ff.  nahm  an, 
das«  es  vor  Aristoteles  nur  XE/.etat,  die  auch  theogouisches  enthielten,  gab. 

3)  Schol.  Eurip.  Ale.  983. 

4)  Anglist,  civ.  d.  18,  14.  37,  vgl.  18,  24,  auch  Schol.  Dion.  Thr.  p.  785, 
18;  Clem.  ström.  6,  238  S  (659  P).  Orpheus  heisst  auch  xax'  e^o^'^iv  ö  ö-eo- 
XoY»?  (CleBi.  AI.  Strom.  6,  244  8.  676  P). 

6)  Passow  Musäos,  Lpg.  1810;  Kinkel  p.  218  flf. 
6)  Pan».  10,  6,  6  (3). 


Epische  Hymnen  und  Theogonieu.  211 

Sohn  Eumolpos  gerichtetes  Lehrgedicht)  ^),  dann  ein  Epos  ;:spl 
^sajrpcDTwv  (ein  freches  Plagiat  an  der  Telegonie)  ^) ,  ferner  ein 
vermuthch  ebenfalls  episches  Gedicht  xparYjp^)  und  die  zwischen 
ihm  und  Orpheus  streitige  ayaipa,  eine*  Beschreibung  des 
Zodiacus.  ^)  Ilspi  'Ia^[iiwv  ist  spurlos  verschwunden ;  die  mu- 
säische  Titanomachie  ist  sicherlich  von  der  gewöhnlich  ge- 
nannten nicht  verschieden  oder  ein  Teil  der  Theogonie.  'Axsastc 
vdawv  gehörte  als  Lehrbuch  der  sympathetischen  Medicin  in 
denselben  Kreis  ^),  während  für  das  Heil  der  Seelen  die  „Weihen", 
„Reinigungen"  oder  „Lösungen"^)  sorgten.  Dazu  kamen  end- 
lich Orakel,  die  Onomakritos  mit  grosser  Willkür  zusammen- 
stellte,^) und  je  ein  Hymnus  auf  Dionysos  und  Demeter.  Pau- 
saunias  erklärt  den  letzteren  unter  allen  Werken  für  allein 
echt^);  denn  die  Lykomiden  hatten  ihn  bei  ihren  Familien- 
opfern bewahrt.^) 

Eine  umfangreichere  Thätigkeit  entwickelte  sich  unter  dem 
nominellen  Schutze  des  Epimenides  von  Kreta^^),  der  auf 
Solons  Autrieb  Athen  von  Blutschuld  reinigte.  Es  existierte 
zunächst  eine  genealogische  Dichtung,  die  Demetrios  von 
Magnesia  einem  homonymen  Dichter  beilegte.  Es  versteht  sich 
weiters  von    selbst,  dass  man   auch  xaO-ap;xot  ^^)    und  vielleicht 


1)  Suid.   67ro9'Y|Xac  Eö}j.6X7ru)  xü)  ulü). 

2)  Umgekehrt  Clem.  AI.  ström.  6,  266  S.  751  P  (ebenso  Lob  eck  Aglaoph. 
p.  370);  ohne  Verfassernamen  citiert  es  Pausauias  8,  12,  5  (3).  Wahrschein- 
lich veranlasste  den  Fälscher  das  thesprotische  Kessel-  und  Totenorakel  und 
die  dodonäische  Stätte  zu  seiner  Bemühung. 

3)  Serv.  Verg.  A.  6,  667. 

4)  Diog.  L.  I  prooem.  3;  Schol.  Vict.  S  570  vj  Se  xaXou|j.£VY)  wcpaipa 
KOtYjjAa  ioTCV  sie  xöv  Alvov   ävatpspEtat  8s  et;;  Aivov. 

5)  Arist.  Ran.  1033. 

6)  TsXsxai,  xaS-apfiot  und  Tiapaluaen;  (Schol.  Arist.  Kan.  1033)  scheinen 
identisch. 

7)  Herod.  7,  6 ;  Lasos  verriet  seine  Fälschungen,  was  ihn  zur  Flucht  aus 
Athen  nötigte,  vgl.  Gerhard  gesammelte  Abh.  2,  210. 

8)  Paus.  1,  22,  7. 

9)  Von  Schriften  des  Eumolpos  fabelt  Lobon  bei  Suid.  s.  v.  (Hill er 
Rhein.  Mus.  33,  522  f.). 

10)  Hock  Kreta  2,  246  flf.;  Kinkel  p.  230  flf. 

11)  In  Veisen  (Strabo  10,  479),  nicht  in  Prosa  (Suidas) ;  vgl.  Daub  Jahrbb. 
123,  242. 

14* 


222  6-  Kapit«!. 

Orakel  ^)  las.  Um  die  TeX/tviax-rj  lazopia^)  stritt  mit  Epimenidesr 
der  dunkle  Ehrenmann  Telekleides.  Andere  fälschten  Briefe 
in  dorischer  Mundart  oder,  wenn  sie  sich  die  Mühe  sparen 
wollten,  in  der  gemSinen  Sprache.  ^)  Daran  erkannte  Demetrios 
eofort,  dass  der  an  Solon  gerichtete  Brief  über  die  Verfassung 
des  Minos  unecht  sei. 

Die  mystische  Richtung  blieb  nicht  auf  Attika  beschränkt, 
sondern  verbreitete  sich  über  Mittelgriechenland,  weshalb  wir 
hier  eine  Gruppe  von  angeblich  hesiodischen  Schriften  ähnlicher 
Art  treffen.^)  Die  bekannteste  war  die  Melampodia^)  in 
mehreren  Büchern,  die  wir  das  griechische  Prophetenbuch 
nennen  dürfen.  Es  umfasste  wahrscheinlich  die  Schicksale  der 
berühmten  Seher  Melampus,  Amphilochos,  Kalchas  und  Tei- 
resias.  In  diesen  abergläubischen  Stoff  mischt  sich  aber  die 
frivole  Geschichte  von  einem  Problem,  das  nur  Teiresias  als 
doppelgeschlechtig  lösen  konnte.  ^)  Ein  Gedicht  Jt  s  p  l  '1  §  a  t  w  v 
AaxToXwv')  erwähnt  blos  Suidas.  ^)  Ueber  die  von  Pausanias ^) 
erwähnten  szy]  {xavtad  (speziell  über  den  Vogelflug)  ^°)  und  die 
kiri'criOBic:  sttI  tspaatv  wissen  wir  so  viel,  dass  man  Hesiod  auf 
Grund  derselben  mit  akarnanischen  Sehern  in  Verbindung 
brachte.") 

Bei  den  Apolloverehrern  lag   ein  mystischer  Keim  in  den 
Hyperboreersagen   und   er   entging   den  Mystikern  nicht.     Der 


1)  Hiller  Rhein.  Mus.  33,  627. 

2)  Ath.  7,  282  6 ;  damit  scheinen  identisch  die  dorische  Schrift  über 
Rhodos  (Demetr.Ss  bei  Diog.  L.  1,  115)  und  vielleicht  die  Kp-/)Ttxd  (Robert 
Eratosth.  frg.  p.  241  ff.  261). 

8)  Diog.  L.  1,  112.  Rohde  der  griechische  Roman  S.  261  A.  erschliesst 
aus  Paus.  8,  18,  2  und  Suidas  s.  v.  eine  „Hadesfahrt  des  Epimenides."  Ueber 
die  Lügen  des  Lobon  Hiller  Rhein.  Mus.  33,  528  f. 
,  4)  Marckscheffel  Hes.  frg.  p.  169  ff. 
6)  Göttling-Flach  p.  328  ff.  Kinkel  p.  161  ff. 

6)  Fr.  179  K. 

7)  Lobeck  Aglaopharaus  p.  1156  ff.;  ööttling  -  Flach  p.  291;  Kinkel 
p.  160  f. 

8)  Suidas  v.  'H^ioSoc- 

9)  9,  31,  5. 

10)  'Opv'.frojjLavTEia  Proklos  zu  Hes.  E.  824.  Nach  diesem  schlössen  manche 
dieses  Gedicht  au  die  Erga  an,  aber  Apollonias  von  Rhodos  verwarf  es. 

11)  Marckscheffel  8.  172  ff. 


Epische  Hymnen  uud  Theogouien.  213 

hyperboreische  Prophet  Abaris^)  hinterliess  angeblich  Orakel 
und  „Sühnuugen",  ausserdem  'ATröXXwyo?  oLtpi^a;  sie  Tjispßopsooc 
und  Ya^JLOc  ^'Eßpoo.  Ein  Brief  des  Abaris  steht  unter  denen  des 
Phalaris  (Nr.  57).  Wenn  wir  die  bestimmten  Zeitangaben  über 
sein  Erscheinen  in  Griechenland  lesen  ^)  und  doch  sehen ,  wie 
weit  sie  auseinanderliegen,  werden  wir  unwillkürHch  an  den 
ewigen  Juden  gemahnt,  von  dem  ja  auch  in  deutschen  Chroniken 
bemerkt  Mdrd,  er  sei  in  dem  oder  dem  Jahre  in  einer  Stadt 
gesehen  worden. 

Aristeas  ^)  scheint  nach  der  l^radition  eher  eine  historische 
Persönlichheit  zu  sein.  Man  behauptete,  er  sei  aus  Prokonnes, 
nannte  den  Namen  des  Vaters  und  setzte  ihn  in  die  Zeit  des 
Krösus  und  Kyros;  dabei  sind  aber  trotz  dieses  hellen  Jahr- 
hunderts^) die  wunderbarsten  obendrein  schon  Herodot  bekannten 
<jeschichten  im  Umlauf.  Es  ist  indes  wahrscheinlich,  dass  er 
mit  dem  freundlichen  Schutzgeiste  Aristaios^),  der  nach  dem 
Mythos  einst  ein  frommer  Mensch  gewesen ,  enge  verwandt, 
wenn  nicht  dieselbe  Person  ist.  Genug,  unter  seinem  Namen 
lag  den  Alten  neben  einer  bereits  genannten  Theogonie  ein 
dreiteiliges  Epos  'Apt{jidaxeta  vor;  sein  Alter  wird  durch 
Herodots  Zeugnis^)  verbürgt.  Es  schilderte  in  der  Form,  dass 
Aristeas  seine  Wanderungen  erzählte,  die  jenseits  der  thrakischeu 
Berge  gelegenen  Wunderländer  des  Apollo.  Mit  den  Hyper- 
boreern verbinden  sich  hier  die  ebenfalls  als  fromm  gepriesenen 
Arimaspen  in  Hochasien;  die  dort  wohnenden  goldsuchenden 
Ameisen'')  sind  die  erste  Spur  einer  Nachricht  von  Indien.  Es 


1)  Kinkel  p.  242  f. 

2)  Ol.  3  nach  Nikostratos  (Harpokr.),  Ol.  21  nach  anderen  (Harpokr.); 
Findar  (bei  Harpokration)  machte  ihn  zu  einem  Zeitgenossen  des  Krösus, 
weshalb  Suidas  Ol.  53  angibt. 

3)  Kinkel  p.  243  ff. 

4)  A.  V.  Gutschmid  bei  Niese  der  hom.  Schiffskatalog  S.  49  A.  befür- 
wortet die  Angabe  des  Herodot  (4,  15),  Aristeas  habe  240  Jahre  vor  ihm,  also 
wahrscheinlich  um  690  gelebt.  Bei  Suidas  ist  Ol.  58  zu  lesen  (Rohde  Rhein. 
Mus.  33,  181  A.  2).  Sollte  bei  den  verschiedenen  Ansätzen  die  Erwähnung 
eines  Falles  von  Sardes  im  Spiele  sein? 

5)  O.  Müller  Dorier  1,  281  ff.  Orchomenos  348;  Bröndsted  Reisen 
und  Forschungen  in  Griechenland  1,  42  ff. 

6)  4,  14,  vgl.  Find.  fr.  194  Böckh,  271  Bergk;  Dionys  von  Halikarnass 
(lud.  de  Thuc.  23)  zweifelte  nichtsdestoweniger  daran. 

7)  Fr.  Schiern  über  den  Ursprung  der  Sage  von  den  goldgrabendea 
Ameisen,  Kopenh.  1873. 


214  ö-  Kapitel. 

scheint,  dass  mannigfaltige  Schiffer-  und  Karawanenerzählungen 
in  diesem  ersten  geographischen  Buche  zusammenflössen.  ^)  Des 
Inhalts  wegen  lag  es  der  Zeit  des  Hekataios  und  Herodot 
natürlich  sehr  nahe^);  der  Verfasser  war  jedenfalls  ein  Jonier, 
da  sein  Heimatland  in  unserer  Periode  der  Centralpunkt  für 
die  wichtigsten  Handelsunternehmungen  war.  Hier  ist  bereits 
der  geographische  Roman  der  nachklassischen  Zeit,  zu  welchem 
die  Odyssee  den  ersten  Keim  gelegt  hatte ,  vorgebildet.  ^)  Die 
Arimaspeia  ist  deshalb  das  einzige  Gedicht  dieser  mystischen 
Literatur,  das  über  die  frommen  Kreise  hinaus  Beachtung  ver- 
diente und  wirklich  fand.  Aschylus  benützte  es  in  der  Pro- 
metheustrilogie^)  und  noch  nach  Alexander  verwertete  der 
attische  Vasenmaler  Xenophantos  seine  Fabeln  zu  einem  präch- 
tigen Bilde.  ^)  Aber  Gellius  zog  die  Dichtung  bereits  mit 
anderen  Wundergeschichten  aus  dem  Staube  eines  Antiquariates 
hervor.  **) 


1)  Fr.  1  hören  wir  zuerst  von  Pfahlbauern. 

2)  Niebuhr  kleine  Schriften  1,  361.  Prokonnes  entstand  unter  Gyge» 
(Strabo  13,  587)  und  das  Gedicht  setzte  den  Einfall  der  Kimmerier  voraus 
(Herod.  4,  13). 

8)  Diese  ganze  Gattung  schildert  Roh  de  der  griechische  Roman  und 
seine  Vorläufer  S.  167  flf.  in  ausgezeichneter  "Weise. 

4)  Rohde  a.  O.  S.  176  A.  2. 

6)  Es  wurde  in  Pantikapaion  gefunden,  vgl.  Jahn  Katalog  der  Münchner 
Vasensamralung  S.  XXVni.  CCIX  A.  1364. 

6)  9,  4,  3. 


7.  Kapitel. 

Didaktische  Poesie  und  kleinere 
hexametrische  Gedichte. 

Spruchdichtung  —  H  e  s  i  o  d  (Erga)  —  Erga  megala  —  Cheiron  —  Pittheus  — 

Periandros  —  philosophische  Gedichte  des  Xenophanes  —  Orakel  —  Kerkopen 

—  Margites  —  homerische  Epigramme  —  metrische  Grabschriften. 


Der  Hexameter  war  vor  der  Ausbildung  der  Lyrik,  soweit 
es  sich  Dicht  um  Tanz  und  wirkHchen  Gesang  handelte,  das 
Universalinetrum ;  darum  hiess  er  einfach  säoc  ,,Rede".  Ob- 
wohl er  ursprünglich  für  das  erzählende  Epos  geschaffen  war, 
verwandte  man  ihn  zunächst  auch  für  die  didaktische 
Poesie,  gerade  wie  Franzosen  und  Deutsche  im  Mittelalter  ihren 
epischen  Vers  auf  diese  übertrugen.  Es  fehlte  nicht  an  allerlei 
Fäden ,  welche  jenen  Uebergang  vermittelten.  Vor  allem  ver- 
schmähte auch  das  Epos  die  Gnomen  nicht,  wenn  es  gleich 
dieselben  einer  Person  in  den  Mund  legte  und  für  einen  be- 
stimmten Fall  verwendete.  Nestor  war  im  troischen  Sagen- 
kreise, Amphiaraos  im  thebanischen  der  Ratgeber  der  jünge- 
ren Gefährten  ,  der  nicht  blos  ältere  Erlebnisse  mitteilte ,  son- 
dern auch  seine  Erfahrungen  in  nützliche  Regeln  zusammen- 
fasste.  Während  in  der  alten  Ilias  sich  keine  besondere 
Vorliebe  für  Gnomen  zeigt,  treffen  wir  dagegen  in  einem 
später  angefügten  Gesänge  eine  lange  an  seinen  Sohn  Anti- 
lochos  gerichtete  Mahnrede  Nestors,  die  schon  ein  Lehrgedicht 
en  miniature  über  die  Kunst  des  Wagenlenkens  (¥  306 — 48) 
vorstellt.  Die  Vorhebe  für  Gnomen  nahm  aber,  wie  wir  an 
der  Odyssee  und  besonders  ihren  Nachdichtungen  fühlen,  immer 
mehr  zu,  weshalb  ihnen    die  Epiker  einen  grösseren  Platz  ein- 


216  7.  Kapitel. 

räumten.^)  In  der  berühmten  Thebais  war  ein  längerer  Ab- 
schnitt, welcher  die  von  Amphiaraos  seinem  Sohne  Amphi- 
loclios  erteilten  Ratschläge  enthielt,  der  Glanzpunkt;  Pindar 
und  die  Tragiker  erwähnten  ihn,  Theognis  benützte  die  dort 
ausgesprochenen  Gnomen  und  Künstler  stellten  die  Scene  dar.^) 
Die  Theseis  scheint  Pittheus,  dem  Grossvater  des  Theseus,  eine 
ähnliche  Rolle  zugeteilt  zu  haben ^);  ebenso  rühmt  man  andere 
Könige  der  Heroen  zeit  wegen  ihrer  Weisheit.*)  In  dieser 
hübschen  Form,  die  das  allgemein  menschliche  mit  dem  per- 
sönlichen und  augenblicklichen  mischte,  suchten  die  jonischen 
Dichter  ihren  Zuhörern  weise  Lehren  mundgerecht  zu  machen.^) 
Im  Mutterlande  brauchten  die  goldenen  Aepfel  nicht  in 
silberner  Schale  dargeboten  zu  werden.  Wie  man  gerne  die 
Fabeln  zu  kurzen  Sprichwörtern  zusammenzog,  entlehnten  die 
Dorier  ursprünglich  wohl  aus  Epen  einzelne  Hexameter,  bis  sie 
selbständig  gewisse  Kernsprüche  in  einen  Vers  zusammen- 
drängten. Von  den  Lebensgrundsätzen,  welche  die  sogenannte 
delphische  Säule^)  im  Heiligtum  des  Pythiers  lehrte,  erhi- 
nert  zwar  nur  der  Spruch  kf-fba,  Ttdpa  §'aTr]  an  einen  Hexame- 
ter; dagegen  waren  viele  Verse  als  Aussprüche  der  sieben 
Weisen^)  im  Umlauf,  ohne  dass  wir  wüssten,  wie  viel  davon 
altes  Gut  und  wie  viel  auch  in  alter  Form  überliefert  ist.  Was 
jene  willkürliche  Vereinigung  von  berühmten  Gesetzgebern  und 
Weisen  der  älteren  Zeit  anlangt ,  so  hat  eine  Erörterung  der 
verschiedenen  Listen    für  die  Literaturgeschichte  keinen  Wert; 


1)  Das  11.  und  13.  homerische  Epigramm  sind  wahrscheinlich  aus  Epen 
excerpiert. 

2)  Bergk  de  com.  Att.  p.  220  und  zu  Theognis  S.  215  f. 

8)  Sehne  idewin  de  Pittheo  Troezenio ,  Gott.  1842;  nach  Schol.  Her- 
mog.  IV  p.  43  (vgl.  Spengel  auvaYWY*»]  p.  6  sq.)  verfasste  Pittheus  ein  Lehr- 
buch der  Khetorik! 

4)  U.  A.  Roh  de  de  vett.  poetarum  sapieutia  gnomica,  Kopenh.'1880; 
Suidas  führt  v.  Eiri^oy.rj  einen  Spruch  des  Hyllos  oder  Echemos  an. 

5)  An  modernen  Parallelen  erwähne  ich  blos  die  Scenen  zwischen  Polo- 
uius  und  Laertes  und  zwischen  Don  Quijote  und  seinem  Knappen. 

6)  Göttling  gesamm.  Abhandlungen  1,  221  ff'.  (Berichte  der  sächs.  Ge- 
sellschaft l,  298  flf.);  Ferd.  Schnitze  die  Sprüche  der  delphischen  Säule,  im 
Philol.  24,  193  ff. 

7)  Orelli  opusc.  sent.  I  138—206.  626  ff.;  Mullach  frg.  philos.  Graec. 
1,  121  ff".;  V.  Leutsch  Philol.  30,  129  ff.;  anders  Hill  er  die  literarische 
Thätigkeit  der  sieben  Weisen,  Rhein.  Mus.  33,  618  ff. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  217 

die  angebliche  literarische  Thätigkeit  der  einzelnen  wird  an 
den  passenden  Stellen  zur  Sprache  kommen.  In  Athen  führten 
die  Peisistratiden  die  Spruchpoesie  offiziell  ein,  indem  Hip- 
parchos'die  Meilensteine  und  Hermen  mit  je  einem  Verse  be- 
schreiben Hess.^)  Die  Inschriften  begannen  mit  den  Worten 
|xvf^[Aa  TöS'  'iTTTrap'/ou  und  gaben  dann  eine  moralische  oder 
pohtische  Sentenz,  z.  B.  ,, Betrüge  einen  Freund  nicht."  Ein 
solcher  poetischer  Stein  ist  bis  auf  unsere  Tage  erhalten.^) 

Aus  einer  reichen  Fülle  solcher  Spruchverse  ergab  sich  dann 
die  Möglichkeit  grösserer  Spruchgedichte,  in  denen  jene 
Lehren  in  einen  gewissen  Zusammenhang  gebracht  waren. 
Sie  werden  alle  dem  Hesiod  beigelegt,  weil  er  der  Verfasser 
des  ältesten  und  berühmtesten,  der  spya  xai  i^iispai,  war. 
Denn  an  dieser  Thatsache  ist  nicht  zu  zweifeln,  da  die  heliko- 
nischen Böoter  diese  Schrift  allein  als  hesiodisch  anerkannten 
und  eine  uralte  Bleihandschrift  derselben  vorzuweisen  hatten.^) 
An  dieser  Stelle  ergibt  sich  also  die  Notweniiigkeit,  was  die 
Alten  von  Hesiod  wussten  oder  zu  wissen  vorgaben,  darzulegen. 
Welcker'^)  würde  freilich,  wenn  er  Recht  hätte,  eine  solche  Ar- 
beit ziemlich  überflüssig  machen ;  er  betrachtet  nämHch  Hesiod 
als  eine  blosse  Personifikation,  weil  sein  Name  nur  einen  Sänger 
im  Allgemeinen  bezeichnet.  Aber  seine  von  Clemm^)  nach  den 
Gesetzen  der  Sprachvergleichung  modificierte  Etymologie  ist 
höchst  unwahrscheinlich.  Da  wir  über  das  Leben  des  Hesiod 
sehr  verschiedenartige  Nachrichten  haben,^)  so  wollen  wir  zu- 
nächst betrachten,  ob  die  Griechen  andere  Quellen  als  die  uns 
ja  auch  vorliegenden  Dichtungen  benützten.  Die  alten  Nach- 
richten sind  hauptsächlich  in  dem  y^^oc  'HawSou,  das  nicht  von 
Proklos,  sondern  von  Tzetzes  herrührt,'')  und  dem  früher  be- 
sprochenen   Certamen    Homeri    et    Hesiodi    zusammengestellt; 


1)  Ps.  Plato  Hipparch   p.  228  c  ff.  Aesch.  in  Ctes.  183  ff.    vgl.  Harpoer. 
Epfj.al. 

2)  C.  Inscr.  Att.  I  522  (CIG.  I  12). 

3)  Paus.  9,  31,  4. 

4)  Theogonie  S.  5. 

5)  De  compositis  Graecis  quae  a  verbis  incipiunt  p.  28. 

6)  Vgl.  die  Ausgabe  von  Göttling-Flach  p.  IX— XXXIII;  Flach  Hermes 
457  ff. 

7)  Kose  Aristot.  pseudepigr.  508  fl". 


218  7.  Kapitel. 

beide  stammen  aus  einer  geraeinsamen  Quelle.*)  Schon  früher 
hatten  der  erste  „Grammatiker"  Autodoros  von  Kyme,^)  Her«- 
kleides  von  Heraklea,^)  der  Kyniker  Kleomenes'')  und  Plutarch^) 
über  Hesiod  geschrieben ;  weniger  wissenschaftliche  2?Wecke  ver- 
folgte der  Rhetor  Alkidamas  in  seinem  Museion, ")  sowie  die 
Gedichte  des  Eratosthenes  und  Euphorion.^)  Die  Knäuel  der 
alten  Genealogien  entwirrte  auch  hier  Rohde^)  endgiltig.  Nicht 
alte  Tradition  ist  es  jedenfalls,  wenn  Hesiods  Vater  Dies  heisst, 
da  diese  Angabe  aus  einem  Missverständnisse  von  Siov  ysvoc 
(V.  299)  entsprang.^)  Die  Sage,  dass  Hesiod  zweimal  gelebt 
habe,  verherrlichte  zwar  schon  Pindar*")  in  einem  Epigramm; 
aber  sie  ging  nur  aus  der  Existenz  von  verschiedenen  Gräbern, 
da  eines  zu  Askra  und  ein  anderes  in  Orchomenos  sich  befand, 
bervor.  Die  Orchomenier ,  in  deren  Bürgerschaft  die  Askräer, 
Hesiods  Mitbürger,  eintraten,  wollten  nämlich  Hesiods  Gebeine 
aus  Naupaktos  geholt  haben.  Jedenfalls  war  es  allgemeine 
Tradition,  die  immerhin  Beachtung  findet,  dass  Hesiod  nicht 
zu  Askra  starb,  sondern  in  Oinoe  bei  Naupaktos  ein  gewaltsames 
Ende  fand.**)  Der  falsche  Verdacht,  ein  Mädchen  verführt  zu 
haben,  brachte  ihm  den  Tod.  Die  Erga  selbst  stellen  nun 
Hesiod  als  einen  Landmann  dar,  der,  von  einem  aus  Kyme 
eingewanderten  Vater  geboren ,  in  dem  böotischen  Orte  Askra 
am  P'usse  des  HeHkon  seinen  Acker  bebaute,  aber  auch  etwa 
wie  die  Meistersinger  zu  Zeiten  seine  Geschäfte  bei  Seite  stellte 
und  im  Dienste  der  helikonischen  Musen  als  Sänger  zu  den 
Agonen  zog;  wurden  doch   auf  dem  Helikon  selbst  Wettspiele 


1)  O.   Friedel  Jahrbb.  Sappl.  10,  271  flf. 

2)  Cramer  Anecd.  Ox.  4,  310. 
8)  Diog.  L.  6,  92. 

4)  Clem.  AI.  ström.  1,   129  S.  861  P. 
6)  Katalog  des  Lamprokles  Nr.  35. 

6)  Nietzsche  Rhein.  Mus.  25,  536  flF. 

7)  Said,  8.  V. 

8)  Rhein.  Mus.  86,  380  ff. 

9)  Aehnlich  machte  Polyzelos  nach  den  Schollen  aus  tovyi  (E.  10)  einen 
chalkidischen  Herrscher  Tynes. 

10)  Bergk  Pindari  Carmina  *479. 

11)  O.  Friedel  die   Sage   vom  Tode  Hesiods    nach  ihren  Quellen    unter- 
ancht,  Jahrbb.  Suppl.  10,  233  ff. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  219 

abgehalten.  ^)  Und  das  Glück  war  ihm  auf  semen  Fahrten^ 
hold;  so  errang  er  bei  den  Leichenspielen  des  chalkidischen 
Königs  Amphidamas  den  Ehrenpreis.  Dennoch  war  Hesiod  mit 
dem  Leben  nicht  zufrieden.  Die  Frauen  müssen  ihm  bös  mit- 
gespielt haben,  wofür  er  sich  mit  satirischen  Versen  rächte,  und 
sein  Bruder  Perses  hatte,  wie  er  behauptete,  durch  die  Bestech- 
lichkeit der  Richter  einen  Erbschaftsprozess  gegen  ihn  gewon- 
nen. Da  nun  dieser  heruntergekommen  ,  benützte  er  dessen 
drückende  Lage,  um  ihm  eine  Strafpredigt  zu  halten  und  g\it& 
Lehren  zu  erteilen.  So  viel  meldet  das  Gedicht  selbst,  wenn, 
anders  alle  darauf  bezüglichen  Verse  von  Hesiod  herrühren. 
Auch  bei  der  Bestimmung  seiner  Lebenszeit  waren  die- 
Alten  nicht  besser  als  wir  gestellt ;  sie  bestimmten  seine  Zeit 
nur  vermutungsweise  im  Verhältnis  zu  der  des  Homer. ^)  Die 
landläufige  Meinung,  welche  beide  Dichter  gleichzeitig  leben. 
Hess,  empfahl  sich  sowohl  durch  die  BequemHchkeit  als  durch 
die  Sage,  Hesiod  habe  in  jenem  chalkidischen  Wettstreite  Homer 
zum  Gegner  gehabt,^)  und  fand  unter  den  Gelehrten  ihre  an- 
sehnlichsten Vertreter  an  Herodot^)  und  Cornelius  Nepos.^) 
Dagegen  setzten  die  Alexandriner,  weil  sie  die  mythologischen 
und  etymologischen  Anschauungen  bei  Hesiod  fortgeschritten 
fanden,  letzteren  später  an;  Eratosthenes  hatte  diese  Unter- 
suchung begonnen  und  Aristarch  sie  weiter  geführt.*)  Woraus- 
sich  Xenophanes  seine  identische  Ansicht  gebildet  hatte,  wenn 
er  wirklich  Hesiod   für  später  hielt, ^)  weiss  ich  nicht.     Anders 


1)  Vgl.  Nikokrates  :t£pl  toü  iv  ''EX'.xüJvt  ä'nb^joq  und  Amphion  nepi  xoö 
ev  'EXtxcüvi  fjLooosiou  (Bergk  anall.  Alex.  I  21,  .Jahn  Rhein.  Mus.  6,  636). 
Auf  dem  Helikon  befand  sich  später  mindestens  ein  uralter  Dreifu.S8  als 
Weihgeschenk  eines  Sängers. 

2)  E.  Roh  de  Rhein.  Mu.s.  36,  416  ff.  Welcker  Theogonie  S.  19  L 
.stellt  die  Ansichten  einiger  neueren  zusammen. 

3)  Certamen  Hom.  et  He.siodi;  Philostr.  her.  p.  727;  Dio  Chrys.  or.  23  I 
p.  76.  In  Versen,  die  Philochoros  bei  Schol.  Pind.  Nem.  2,  1  aufbewahrte, 
soll  Hesiod  einen  anderen  Wettstreit,  den  er  mit  Homer  auf  Delos  bestand, 
erwähnt  haben;  vermutlich  erschloss  man  diesen,  wie  es  Bergk  that,  aus  den 
beiden  Aiwllohymnen.  Nach  Welcker  Theogonie  S.  12  standen  die  Verse 
in  einem  Epigramme. 

4)  In  der  berühmten  Stelle  2,  53. 

5)  Gell.   17,  21. 

6)  Roh  de  Rhein.  Mus.  36,  416  f.  A.  1. 

7)  Tzetz.  exeg.    in   II.   p.  19,  2-  Vgl.  noch  Cic.  Cato  15.    Porphyrios  bei 


220  7-  Kapitel. 

Ephoros,  der  aus  lächerlichem  Lokalpatriotismus  seinen  Lands- 
mann Hesiod  als  den  ältesten  Epiker  hinstellen  wollte;  wirk- 
lich folgten  ihm  manclie,  auf  völlig  nichtige  Gründe  gestützt.^) 
Obgleich  die  Beweisführung  der  Alexandriner  für  den,  der  blos 
die  Erga  als  echthesiodisches  Werk  betrachtet,  keine  Kraft 
besitzt,^)  führen  doch  andere  Erwägungen  zu  demselben  Resul- 
tat. Es  ist  nämlich  unzweifelhaft,  dass  der  böotische  Dichter 
den  Dialekt  des  Epos  aus  Homer  selbst  und  nicht  aus  gemein- 
samer Quelle  entlehnte;  denn  verschiedene  Halbverse  und  auch 
ganze  Verse  stammen  aus  Homer,  wenn  auch  die  Erga  davon 
weniger  Beispiele  als  die  Theogonie  bieten.^)  Was  den  falschen 
Anschein  der  Altertümüchkeit  erweckt ,  ist  nur  das  bäuerische 
Wesen,  die  rusticitas,  wenn  man  mit  ihr  die  Glätte  der  homeri- 
schen Gedichte  vergleicht.  Dagegen  führen  die  politischen  Zu- 
stände auf  die  richtige  Betrachtungsweise,  llias  und  Odyssee 
stehen  noch  in  der  Königszeit ,  wenn  schon  in  letzterer  die 
Adelsgeschlechter  das  absolute  Königtum  geschwächt  haben; 
Hesiod  lebt  dagegen  bereits  unter  dem  widerwiUig  ertrageneu 
Kegime  der  Aristokraten  und  hat  die  Zeit  der  achäischen  Kö- 
nige weit  hinter  sicli.^)  Ein  demokratischer  Zug,  der  zuerst  in 
Jonien  sich  zum  Schaden  der  Aristokratie  geltend  machte,  geht 
bereits  durch  die  ganze  hellenische  Welt.  Die  Gesangeskunst 
dient  nicht  mehr  blos  den  Edlen  zur  Ergötzung,  auch  das  ge- 
meine Volk  kann  bei  Festspielen  den  Sänger  hören,  ja  aus 
seiner  eigenen  Mitte  treten  Dichter  auf.  Diese  wenden  sich 
nicht  mehr  an  die  Vornehmen  ausser  mit  Ausbrüchen  der 
Unzufriedenheit,  sondern  zu  ihren  Mitbürgern  und  machen  ihr 
hartes   Loos   mit   aller   seiner  Trübsal   und  Einförmigkeit  zum 


Suidas  V.  'üaiohoz  bestimmt  die  Dififerenz  vermutungsweise  auf  eiu  Jabihua- 
■dert,  worin  ihm  sehr  viele  beitraten. 

1)  Motiviert  ist  die  Ansicht  bei  Accius  (Gell.  3,  11)  und  Philostr.  her. 
2,  19. 

2)  Auch  Thiersch  über  die  Gedichte  des  Hesiod  S.  15  ff.  scheidet  noch 
nicht,  ebenso  wenig  Isler  quaestiones  Homericae  p.  75  ff.  in  seineu  sprach- 
lichen Bemerkungen. 

3)  Poseidonios  bei  Tzetz.  exeg.  in  II.  p.  19  sagt  richtig :  Hesiod  verdarb 
viele  homerische  Verse. 

4)  E.  164  f.  Nicht  einmal  das  Jahrhundert  steht  fest;  Newtons  Versuch, 
AUS  der  astronomischen  Angabe  £.  564  ff.  die  Zeit  zu  berechnen,  ist  verfehlt, 
weil  jene  za  unbestimmt  lautet  (Ideler  Handbuch  der  Chronologie  1,  246  f.). 


Didaktische  Poesie  iind  kleinere  hexametrische  Gedichte.  221 

Gegenstände  ihres  Gesanges.  So  wird  die  Dichtung,  die  stets 
einen  gewissen  aristokratischen  Anstrich  behalten  sollte,  in  den 
Streit  und  Kampf  des  gewöhnlichen  Lebens  herabgezogen  und 
streift  hier  ihren  Blütenduft  ab.  Hart  und  scharf  sind  die 
Gedanken,  schwerfällig  folgen  sich  die  Sätze,  in  der  Regel  ohne 
Verbindung  oder  mit  der  nichtssagenden  Partikel  §£  eingeleitet 
die  Verse  schreiten  ebenfalls  meist  mit  schwerer  spondeischer 
Basis  dahin.  Hesiods  Manier  ist  eine  wenig  erquickliche  Dich- 
tungsart, an  welcher ,  wer  eben  von  der  Horaerlectüre  kommt, 
keinen  Geschmack  finden  wird;  dabei  ist  der  ethische  Gehalt 
zu  gering  als  dass  er  für  den  Mangel  des  poetischen  entschä- 
digen könnte. 

Wie  der  Kulturgeschichte ,  so  geben  die  Erga  auch  in 
ihren  828  Versen  der  höheren  Kritik  eine  Fülle  der  interessan- 
testen Probleme  auf  Twesten  (commentatio  critica  de  He- 
siodi  carmine  quod  inscribitur  Opera  et  Dies ,  Kiel  1815)  und 
Fr.  Thiersch  (de  gnomicis  carminibus  Graecorum,  Acta  philoL 
Monac.  III  402  ff.)  eröffneten  die  kritische  Zersetzung  des  Ge- 
dichtes, welcher  die  Schutzschriften  von  F.  Ranke  (de  Hesiodi 
Opp.  et  D.,  Göttingen  1838  und  hesiodische  Studien  1840)  nicht 
Einhalt  zu  thun  vermochten;  für  jene  waren  die  Erga  nichts 
weiter  als  ein  Conglomerat  aus  Trümmern  grösserer  Gedichte 
und  vollständigen  kleinen  Stücken,  aber  besonders  Twesten 
sonderte  in  fruchtbringender  Weise  die  verschiedenartigen  Teile. 
Seitdem  brachte  nur  Lehrs  in  den  quaestiones  epicae^)  eineiv 
neuen  Gesichtspunkt  bei,  indem  er  die  Gnomen  nach  Stich- 
wörtern geordnet  sein  liess.  Mehr  als  sonst  irgendwo  hängt 
hier  die  Forschung  von  subjektiven  Gefühlen  ab.^) 

Den  Hymnus  an  Zeus  V.  1 — 10  erklärten  schon  Aristarch 
und  die  helikonischen  Böotier,  auf  deren  altertümHcher  Blei- 
tafel  er  nicht  stand, ^)  für  unecht;  auch  wir  haben  keinen  Grund, 


1)  Königsberg  1837  p.  177  ff. 

2)  Nützlich  C.  Hey  er  de  Hesiodi  carmine  quod  Opera  et  Dies  inscribitur, 
Schwerin  1848;  Aug.  Steitz  de  Op.  et  D.  Hesiodi  compositione ,  forma 
pristina  et  interpolationibus,  Gott.  1866  und  die  Werke  und  Tage  des  Hesiod, 
Lpg.  1869;  Hetzel  de  carminis  Hesiodei  quod  O.  et  D.  inscribitur  composi- 
tione et  interpolationibus,  Weilburg  1860. 

3)  Paus.  9,  31,  4,  vgl.  Herodian.  Rhet.  Gr.  8,  586;  Aratos  glaubte  aber 
Hesiod  nachzubilden,    wenn    er    seiner  Dichtung  einen  Hymnus  au  Zeus  vor- 


•«OO  7.  Kapitel. 

uns  dafür  zu  erwärmen.  Die  Erga  selbst  zerfallen  in  mehrere 
grössere  Abschnitte:  den  Pandoramythus  V.  42 — 104/)  den 
Mythus  von  den  vier  Weltaltern  V.  109—201,2)  ^.^^^^  ^[q 
eigentlichen  sp^a,  eine  Anweisung  zur  Landwirtschaft  V.  383 
bis  499.  536—617,  ein  Stück  über  die  Schiffahrt  mit  jenen 
biographischen  Notizen  V.  618—94  und  endHch  die  r^'j-spai  (ein 
Bauernkalender)  V.  765— 828;  dazu  traten  die  eigentlichen  Sit- 
tenlehren V.  11 — 41.  202— 382^)  und  die  praktischen  Ratschläge 
über  Verheiratung,  Freundschaft  u.  dgl.  V.  695—764,  alles  von 
wenig  Zusammenhang ,  mehr  eine  Anthologie  von  kurzen 
Sprüchen,  die  zum  Teil,  wie  Lehrs  erkannte,  nach  Stichwörtern 
geordnet  sind.'')  Der  grösste  Teil  von  V.  383 — 828  scheint 
wenn  auch  nicht  von  Anfang,  so  doch  frühzeitig  ein  zusam- 
menhängendes Gedicht  gebildet  zu  haben,  da  Heraklit  den 
Kalender  bereits  als  hesiodisch  kennt ;^)  doch  stimmen  dessen 
Angaben  nicht  recht  mit  der  böotischen  Chronologie.*')  Am 
schwierigsten  ist  das  Urteil  über  das  autobiographische  Stück 
y.  618  ff.;  V.  663—94  bilden  ein  abgesondertes  kleines  Ge- 
dicht, das  Vorschriften  über  die  rechte  Zeit  der  Schiffahrt  gibt 
und  ganz  in  dem  Geiste  eines  Bauern,  der  sich  auf  dem  Schiffe 
nicht  wohl  fühlt, ^)  gehalten  ist.  Wir  dürfen  es  schwerhch  dem 
Hesiod  absprechen ,  wenn  es  auch  nicht  in  den  Rahmen  der 
Erga  passt;  es  existierte  vielmehr  für  sich  und  hat  jetzt  irn 
Umfang  verloren.  Dieses  Stück  wurde  mit  der  Erga  durch 
"die   Verse   641 — 662   verbunden;   aber   die   Einleitung,    welche 

aasschickte.  Nach  Hermesianax  V.  26  scheinen  mehrere  hesiodische  Gedichte 
einen  solchen  zum  Proömium  gehabt  zu  haben.  Vgl.  H.  Ritter  de  Hesiodi 
operum  prooeraio,  Gott.  1856. 

1)  V.  106 — 8  sind  schlechte  und  entlehnte  Kittverse. 

2)  Orig.  contra  Geis.  4  p.  216  Spencer  und  Schol.  Arat.  97  (Göttling  zu 
Hes.  E.  120)  teilen  zwei  Hexameter  über  die  goldene  Zeit  aus  einer  unbekann- 
ten Dichtung  mit. 

8)  V.  202  ist  wahrscheinlich  ebenfalls  ein  schlechter  Kittvers. 

4)  Köchly  Hektors  Lösung  S.  10  meint,  hier  manche  vorhomerische 
Verse  zu  flndeu;  die  Alten  glauV)ten  es  wenigstens,  denn  V.  368  wurde  auch 
4em  weisen  Pittheus  in  den  Mund  gelegt. 

6)  Flut.  Camill.  19. 
6j  Böckh  GIG,  I  p.  734.     Man  bemerke  auch,  dass  Hesiod  seineu  Bru- 

<ler  V.  397  und  611,  also  am  Anfang  und  am  Ende  der  eigentlichen  Erga 
anredet. 

7)  Vgl.  V.  236  f. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Dichtungen.  223 

den  Seehandel  am  höchsten  stellt,  entspricht  weder  der  Denk- 
ungsart  des  Hesiod  noch  motiviert  sie  die  Episode  genügend  ; 
der  Interpolator  ist  möglicherweise  mit  dem  Verfasser  der 
Dichterweihe  Hesiods  (Theog.  1  ff.),  auf  die  er  V.  659  anspielt, 
identisch.  Die  Sage  verband  also  schon  damals  den  uralten 
Dreifuss  mit  dem  helikonischen  Dichter  und  den  berühmten 
Leichenspielen ;  über  die  Zeit  des  Amphidamas  steht  leider  nur 
fest,  dass  die  alten  Chronographen  seinen  Tod  zwanzig  Jahre 
nach  der  jonischen  Wanderung  (vielleicht  eben  wegen  der  Stelle 
in  den  Erga)  setzten.^) 

Im  Uebrigen  liegt  der  einzige  sichere  Punkt  in  der  Er- 
wähnung des  jonischen  Monates  Lenaion,  der  über  die  Natio- 
nalität des  Verfassers  von  V.  504 — 35  aufklärt.^)  Die  gnomi- 
schen Verse  sind  wahrscheinlich  Bruchstücke  von  hexametri- 
schen Elegien  oder  Jamben,  wenn  ich  so  sagen  darf,  die  Hesiod 
in  der  Regel  an  seinen  Bruder,  einmal  auch  an  die  Patrizier 
von  Askra  richtete ;  das  gleiche  gilt  von  den  einleitenden  mytho- 
logischen Stücken.  Diese  Gedichte  hatten,  gerade  wie  die  des 
Theognis,  teils  eine  polemische,  teils  eine  ethische  Tendenz  und 
wurden,  wiederum  wie  jene,  zertrümmert,  damit  die  Splitter  ein 
Handbuch  bildeten.  Die  Quasielegien  des  Hesiod  sind  noch  in 
Hexametern  abgefasst,  weil  er  offenbar  vor  Kallinos  und  Archilo- 
•chos  lebte;  dadurch  ergibt  sich  ein  ziemlich  sicherer  terminus  ante 
quem.  LTnzweifelhafte  Böotismen  fehlen  vollständig,  obgleich  man 
sie  bei  einem  Bauerndichter,  der  einen  weniger  hohen  Aufschwung 
nimmt,  erwarten  sollte.  Wir  müssen  daher  annehmen,  dass 
man  in  Askra,  weil  die  Grenze  von  Lokris  nahe  war,  schon 
halb  dorisch  sprach  oder  dass  sich  Hesiod  wirklich,  wie  die 
Tradition  will ,  in  Lokris  aufhielt.  ^)  Von  asianischäohschen 
Bestandteilen,  die  nach  Ahrens^)  die  asiatische  Herkunft  des 
Dichters  verbürgen  sollen,  bemerken  wir  aber  ebenfalls  nicht. 
In  den  eigentlichen  Erga  weicht  nur  ein  dorischer  Akkusativ 
(V.  564)  von  dem  epischen  Dialekte  ab^);   fast  das  gleiche  ist 


1)  Roh  de  lihein.  Mus.  36,241  tf. 

2)  Merkel  Philol.  17,  130  weist  passend  auf  Euböa  hin,  dessen  Bewoh- 
ner den  thrakischen  Nordwind  empfindlich  fühlten. 

3)  Rergk  I  921. 

4)  Verhandl.  der  Gott.  Phil.- Vers.  1852  S.  73  ff.,  ebenso  Göttling  S.  XXX  f. 

5)  Vielleicht  ist  a(|(iv  V.  426  beizufügen. 


224  ''•  Kapitel. 

in  dem  über  die  Schiffahrt  handelnden  Abschnitte^)  und  den 
folgenden  Vorschriften  ^)  der  Fall  und  nicht  anders  steht  es  mit 
der  ganzen  Einleitung.  ^)  Die  Tradition,  die  Hesit)d  nach  Lokris 
führt"*),  verdient  dabei  besondere  Beachtung,  während  es  ver- 
fehlt ist,  wenn  Ahrens  Spuren  des  delphischen  Dialektes  finden 
wollte.  Der  Stil  ist  innerhalb  der  lehrhaften  Partien  im  allge- 
meinen kurz  und  gedrungen;  der  Dichter  spielt  gerne  auf 
Rätsel  an^),  z.  B.  nennt  er  den  Polypen  den  ,, Beinlosen",  die 
Schnecke ,, Häuserträgerin",  den  Greis  „einen  dreifüssigen  Mann" ; 
wir  befinden  uns  eben  in  dem  Gebiete  der  Sphinx.  In  den 
epischen  Stücken,  welche  dem  Anfange  nahe  stehen,  erinnert 
ein  gewisser  Gliederparallelismus  an  die  Theogonie,  z,  ß,  drückt 
der  Dichter  V.  152  ff.  dreimal  den  Untergang  des  ehernen  Ge- 
schlechtes aus. 

Hesiod  errang  sich  trotz  dieser  Schwerfälligkeit^)  bei  den 
Mittelgriechen  einen  solchen  Ruhm,  dass  er,  da  jene  sonst 
keinen  einheimischen  alten  Dichter  kannten,  als  Verfasser 
sämmtlicher  in  Mittelgriechenland  entstandener  Gedichte,  welches 
Inhaltes  sie  auch  sein  mochten,  galt.  In  Thespiä  bestand  ein 
eigener  Kult  zwar  nicht  des  Hesiodos  selbst,  aber  der  hesiodischen 
Musen. '')  Die  Griechen  erfreuten  sich  in  ihrer  Gesammtheit 
an  seinen  Lehren  und  führten  sie  teilweise  so  oft  im  Munde, 
dass  der  Name  des  Autors  in  Vergessenheit  geriet.  Es  gibt 
wenige  Verse,  die  uns  nicht  wenigstens  einmal  als  Citat  erhalten 


1)  V.  663.  675.  V.  683  mit  atvrjfjit  gehört  nach  G.  Hermann  zu  einer 
anderen  Recension;  ztiot  V.  635  ist  höchst  unsicher. 

2)  V.  698  TETopa ;  V.  696  Tptfjx&vTujv  erweckt  kein  Vertrauen. 

3)  V.  22  ftptufxsvat.  146  fxeXiäv. 

4)  Auch  der  aus  einer  lokrischen  Familie  stammende  Stesichoros  hiess 
Ankömmling  dos  Hesiod. 

6)  (Jreg.  Cor.  repl  Tprktov  c.  23;  Bergk  I  1020  A.  126.  So  ergab  sich 
ein  Anlass  zu  den  Kätselspielen  des  Certamen. 

6)  Die  Rhetoren  rühmen  an  ihm  die  XstoT-rjc  ovofiäxtuv  xal  cüvO-soic 
ifijie/.-fic  co}i(j.eTpia  twv  Tcspttppäactuv  (Menander  k.  eictSetxT.  7)  und  seine 
ä^iltta  und  y^uxuxtic  (Mützell  de  emend.  theog.  p.  361  ff.  und  Welcker 
Theogonie  S.  22). 

7)  Mdtsat  VAoiö^tioi,  wie  die  späteren  Böotier  sagten  (Keil  sjiloge  inscr. 
Boeot.  93  f.)  Auf  dem  Marktplatze  von  Thespiä  sah  man  ein  Denkmal  mit 
Statue  (Paus.  9,  27,  5).  Andere  Statuen  waren  auf  dem  Helikon  (Paus.  9, 
80,  8),  in  Olympia  (Paus.  5,  26,  2  von  dem  Rheginer  Mikythos  Ol.  76—8 
errichtet)  und  in  Byzanz  (Christod!  38  ff.). 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  225 

sind.  ^)  Die  Lyriker  und  nnter  ihnen  Theognis  variierten  gerne 
hesiodische  Gnomen.  ^)  In  Athen  und  später  in  anderen  Städten 
lernte  sie  der  Knabe  auswendig^);  dort  hielten  Sophisten  im 
Lykeion  über  die  Erga  Vorträge  ^)  und  Isokrates  erklärte  Hesiod 
für  den  besten  Lehrer  der  menschhchen  Weisheit.^)  Auch 
später  galt  er  als  der  Meister  der  Lehrdichtung,  weshalb  Aratos 
sein  höchstes  Lob  darin  suchte,  mit  Hesiod  verghchen  zu 
werden.  *')  Was  das  republikanische  Rom  anlangt ,  so  scheint 
Hesiod  selbst  hier  einige  Popularität  genossen  zu  haben  '^),  doch 
machten  Vergils  Georgica  sein  Gedicht  ziemlich  überflüssig; 
aber  dieser  selbst  benützte  Hesiod  sehr  fleissig  in  allen  seinen 
Gedichten,  ja  er  übersetzte  ihn  teilweise  fast  wörtlich.  ^) 

Die  Geschichte  der  gelehrten  Studien  muss  die  Erga  mit 
der  Theogonie  und  Aspis  verbinden,  weil  weder  die  Alten  noch 
die  Neueren  einen  genügenden  Unterschied  zwischen  diesen 
Gedichten  machten.  Peisistratos  soll,  wie  die  homerischen 
Gedichte,  auch  die  Werke  des  Hesiod  haben  sammeln  lassen, 
eine  Ansicht,  die  sich  blos  auf  die  tendenziöse  Behauptung  des 
Megarers  Hereas  ^)  stützt,  ein  Vers  der  Eöen  oder  des  Kataloges 
sei  von  Peisistratos  unterschlagen  worden.  Da,  wie  wir  sahen, 
in  der  Theogonie  sicher  orphische  Elemente  fehlen,  ist  die 
ganze  Ansicht  unwahrscheinlich.  Nur  soviel  lässt  sich  behaupten, 
dass  die  Vulgata  auch  hier  auf  attische  Exemplare  zurückgeht.  ^^) 
Erst  Zenodot  und  Aristophanes  veranstalteten  eine  kritische 
Recension   derselben,    jedoch    ohne    einen    Kommentar    beizu- 


1)  Vgl.  besonders  Van  Lenueps  Kommentar. 

2)  Kenner  das  Formelwesen  im  griechischen  Epos  S.  16  u.  ö. ;  Hetzel 
de  carminis  Hesiodei  .  .  .  comp,  et  interpol.,  Weilburg  1860  p.  4.;  v.  Leutsch 
Philol.  29,  514  f. 

3)  Aesch,  in  Ctesiph.  135;  Colum.  1,  3,  5;  vgl.  Arist.  Ran.  1044.  Alexis 
bei  Ath.  4,  164  c.  Luc.  Anach.  21. 

4)  Isoer.   12,  18.  33. 

5)  2,  43. 

6)  Callim.  epigr.  27. 

7)  Dafür  spricht  die  Anekdote  Gell.  4,  5,  7. 

8)  Ausgabe  Vergils  von  Ribbeck  und  Flach  Hermes  9,  114  ff.  Aus 
V.  289 — 92  wurde  später  ein  lateinisches  Epigramm  (Riese  Anthol.  Lat.  11 
p.  LIII).  Gellius  (1,  15,  14)  nannte  Hesiod  den  klügsten  Dichter. 

9)  Flut.  Thes.  32. 

10)  Vgl.  -rijiLsXXov  Th.  478.  888.  898  und  eto'c-fjxsiv  A.  269. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  -^^ 


226  "^^  Kapitel. 

fügen.  0  Aristarchos  gab  dann  bereits  eine  kommentierte  Aus- 
gabe heraus.  ^)  Da  wir  nur  je  ein  Fragment  seiner  D7ro[ivy]|xaTa 
zu  den  Erga  und  der  Theogonie  besitzen,  beruht  das  Fehleu 
einer  Note  in  den  Aspisscholien  blos  auf  Zufall.  Auch  bei 
Hesiod  ging  Aristonikos  den  Zeichen  des  grossen  Kritikers  nach 
und  widmete  ihnen  die  Schrift  'zb^i  twv  airjjJLSLWv  twv  sv  z^i 
OcOYovta  'HaiöSoo.  ^)  Krates  von  Mallos  beschenkte  ebenfalls 
den  askräischen  Dichter  mit  einer  revidierten  Ausgabe  und 
einem  Kommentar.  Seleukos'  Ausgabe  kennen  wir  aus  einigen 
Notizen ,  die  einen  verwegenen  aber  scharfsinnigen  Geist  ver- 
raten.^) Aus  späterer  Zeit  sind  nur  mehr  exegetische  Arbeiten 
zu  verzeichnen.  Die  Kommentare  des  Demetrios  Ixion  und 
Dionysios  von  Korinth,  die  nur  Suidas  nennt,  umfassten  wahr- 
scheinlicli  sämmtliche  drei  Gedichte.  Im  einzelnen  erfuhren 
die  p]rga  als  das  populärste  Gedicht  die  fleissigste  Förderung. 
Das  Hauptwerk  war  der  vierbändige  Kommentar  des  Plutarch^), 
welchen  der  bekannte  Neuplatoniker  Proklos  (f  485)  benützte. 
Dessen  Werk  besitzen  wir  nicht  mehr  in  der  ursprünglichen 
Gestalt,  sondern  unsere  Schollen  bestehen  aus  Excerpten  jener 
Schrift*^)  und  einem  alten  auf  die  alexandrinischen  Studien 
zurückgehenden  Kommentare,  so  dass  sie  mit  den  exegetischen 
SchoHen  der  llias  grosse  Aehnlichkeit  haben  und  vermutlich 
auch  in  derselben  Zeit  entstanden  sind. ')  Diesen  plünderte 
und  verwässerte  der  berüchtigte  Johannes  Tzetzes,  der  seinen 
Schollen  die  erwähnte  Biographie  vorausschickte.  Noch  geringerer 


1)  Das  Citat  aus  Apollonios  von  Rhodos  stand  nicht  in  einem  dreibändigen 
Kommentare  zur  Aspis  (Flach  Bnr.sians  Jahresber.  1876  S.  16),  sondern  iu 
einer  grös.seren  Geschichte  der  griechischen  Poesie  (Mützell  p.  287). 

2)  H.  Wasch ke  Commentatt.  philol.  Lpg.  1874  S.  151  ff.  Flach  Jahrbb. 
1877  8.  433  f. 

3)  Seh  Oman  n  opuscula  2,  47  ff.,  Flach  Glossen  und  Scholieu  zur 
Theogonie  S.  100  ff.  und  Jahrbb.  1877  S.  433  ff. 

4)  Moritz  Schmidt  Philol.  3,  456  f. 

6)  Plut.  ed.  Hütten  XV  p.  292,  vgl.  Gell.  2,  8.  4,  11.  20,8.  H.  Patzig 
iinaestt.  Plutarch.  p.  21—28. 

6)  Daher  lautet  der  Titel  gy.  tJjv  lIpöxXou  8;a5c.you. 

7)  Usener  Rhein.  Mus.  22,  587  ff.,  der  die  Sammlung  dem  sechsten 
.lalirhundert  zuteilt;  er  gibt  zu  den  bekannten  Scholien  (zuerst  Basel  1642, 
nach  Gai.*jford  in  der  Ausgabe  der  Erga  von  VoUbehr,  Kiel  1844  herausjie- 
geljeu)  Nachträge  aus  einer  Münchener  Handschrift. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  227 

Wert  kommt  den  Schollen  des  Manuel  Moschopulos  ^)  zu.  Die 
Schollen  des  Proklos  und  Tzetzes  verdünnte  Demetrios  Tri- 
klinios  ^)  noch  mehr.  Sj)eziell  den  Pandoramythus  besprach  der 
s^-rische  Philosoph  Prokuleios  ^) ,  während  Joannes  Protospa- 
tharios  den  Kalender  am  Schlüsse  der  Erga  in  einer  htq^ri^n 
(poatxTJ  erklärte.^) 

Die  Theogonie  fand  viel  weniger  Beachtung.  Nach  jenen 
umfassenden  Kommentaren  dürfte  blos  der  ungedruckte  des 
Kornutos,  welcher  Theogonie  und  Schild  umfasst,  dem  Altertum 
angehören^);  doch  reichen  die  Quellen  des  Stammes  unserer 
Schollen  weit  hinauf.  ^)  Was  aber  jetzt  vorliegt,  rührt  von  einem 
anonymen  Grammatiker  des  zwölften  oder  dreizehnten  Jahr- 
hunderts und  Demetrios  Triklinios  her;  letzterer  benützte  die 
Allegorien  des  Johannes  Diakonos  Galenos.  Daneben  sind  eine 
Menge  Glossen  nicht  zu  übergehen.  Die  Hauptmasse  der 
Schollen  beschäftigt  sich  mit  der  allegorischen^  Deutung  der 
Mythen,  wofür,  wie  bei  Homer,  die  Stuiker  und  Neuplatoniker 
das  meiste  thaten.  Eine  Sammelausgabe  besitzen  wir  an  Flachs 
,, Glossen  und  Schollen  zur  hesiodischen  Theogonie"  (Lpg.  1876). 

Ueber  die  Aspis  hatten  schon  Hieronymos  und  Epaphro- 
ditos  unter  Nero  geschrieben. '')  Wir  aber  besitzen  nur  Schollen, 
an  denen  ausser  einer  Hypothesis  und  einigen  Notizen  nichts 
alt  ist*),  und  einen  Kommentar  des  bulgarischen  Staatssekretärs 


1)  Mit  Proklos  und  Tzetzes  zuerst  in  Trincavellis  Ausgabe,  Venedig  1537, 
zuletzt  bei  Gaisford,  poetae  min.  Graeci  III  (im  Leipziger  Abdiuck  Bd.  II) 
herausgegeben.  Flach  behauptet  wohl  irrtümlich,  dass  ungedruckte  Scholien 
des  Maximos  Planudes  im  cod.  Neapol.  165  seien;  vgl.  Fabricius - Harles  V 
p.  778  zu  cod.  55. 

2)  Hardt  catal.  codd.  Graec.  2,  223. 

3)  Said.;  vgl.  das  in  Flachs  Scholien  S.  417  if   verööentlichte  Stück. 

4)  Gaisford  p.  448  fl'.  vgl.  J.  "Wrobel  zu  den  Scholien  der  hesiodischen 
Mouatstage,  Wiener  Studien  II  H.   1. 

5)  in  der  Laurentiana  nach  Montfaucon  bibl.  ms.  I  338. 

5)  Abgesehen  von  den  Noten  des  Triklinios  gehen  die  Citate  ü'uer  die 
Zeit  des  Augustus  nicht  herunter  (Schömann  opusc.  II  539);  also  mag 
Flach  Jahrbb.  109,  815  tf.  ßecht  haben,  wenn  er  Didymos  und  Aristonikos 
als  Quellen  der  gelehrten  Noten  ansieht. 

7)  Etym.  Gud.  u.  Angelic.  v.  äXv.ala,  Etym.  Angel,  v.  ä-öxporco^,  Schol. 
zu  V.  301. 

.     8)  Rankes  Ausgabe   des  Scutum    p.  23  ff.;   der  Verfasser  ist    ein  Schüler 
des  Porphyrios  (zu  V.  327  Jjc  r.apö.  zib  11.  |xsiJ.'/.O^Y,-/.a|j,Ev). 

15* 


228  7.  Kapitel. 

Joannes  Diakonos  Pediasimos  ^) ;  letzterer  fügte  eine  z£-/yoXo'(ici. 
bei,  die  in  Handschriften  abgesondert  vorkommt.  ^) 

An  Paraphrasen  exi.stiert  eine  einzige  kritisch  bemerkens- 
werte zum  Schilde  ^) ;  nach  Suidas  hatte  der  Khetor  Demosthenes 
Thrax  die  Theogonie  paraphrasiert. 

Die  hesiodischen  Gedichte  pflanzten  sich  auf  den  heutigen 
Tag  in  einer  Menge  von  Handschriften  fort,  die  über  das 
elfte  Jahrhundert  nicht  hinaufgehen"*);  sie  repräsentieren  eine 
einzige  Klasse,  von  deren  Text  ältere  Citate,  besonders  die  des 
Chrysippos  beträchtlich  abweichen.  Die  verhältnismässig  beste 
Handschrift,  ein  Mediceus  ^)  aus  dem  elften  oder  zwölften  Jahr- 
hundert, enthält  leider  blos  die  Erga,  wofür  ein  anderer  Medi- 
ceus^) einigen  Ersatz  bietet.  Für  die  Erga  sind  ausserdem 
noch  eine  Pariser  Handschrift  aus  dem  elften  Jahrhundert  und 
ein  etwa  hundert  Jahre  jüngerer  Codex  von  Messina'')  zu  er- 
wähnen. 

Im  Druck  erschienen  durch  die  Bemühung  des  Demetrius 
Chalkondylas  zuerst  die  Erga  zu  Mailand,  wahrscheinlich  1493, 
zugleich  mit  Theokrit;  Aldus  druckte  1495  die  erste  vollständige 
Ausgabe,  Die  Arbeiten  der  folgenden  drei  Jahrhunderte^)  sind 
ohne  Bedeutung.  Erst  Gaisford  gab  durch  seine  Ausgabe  der 
poetae  Graeci  minores  (I.  11.  1814 — 20)  dem  Texte  und  den 
Schollen  eine  gesicherte  Grundlage.  Seitdem  wurden  viele 
Handschriften  verglichen  und  ihre  Lesarten  in  der  kritischen 
Ausgabe  Köchly's  (Lpg.  1870),  sowie  in  Flachs  Neubearbeitung 
der  alten  Göttling'schen  Ausgabe  (Gotha  1831,  3.  Aufl.  Lpg. 
1878)  registriert.     Doch  ist  keine  von  beiden  abschliessend;   in 

1)  bei  Gaisford,  vgl.  Mutz  eil  emend.  Theog.  p.  295  ff. 

2)  Hardt  catal.  codd.  Graec.  2,  224.  3,  191. 

3)  Kanke  S.  41  ff.,  vgl.  S.  303  f. 

4)  Vgl.  die  Ausgabe  von  Köchly  und  Kinkel,  dazu  Flach  S.  LXIX;  ders. 
die  beiden  ältesten  Hesiodbandschrilten,  Lpg.  1877;  Wrobel  über  eine  neue 
He»iodhand8chrift,  Sitzungsber.  der  Wiener  Ak.  1880;  die  viktorianische 
Kollation  einer  interessanten  Handschrift  Acta  phil.  Monac.   1,  309  f. 

6)  plut.  31,  39,  M  bei  Köchly,  M5  (sie)  bei  Flach. 

6)  plut.  32,  10  (MB  bei  Köchly,  M3  bei  Flach).  Die  Ansätze  schwanken 
zwischen  dem  zwölften  und  vierzehnten  Jahrhunderte.  Diese  Handschrift  ist 
die  einzige  vor  dem  vierzehnten  .Jahrhundert  geschriebene,  welche  alle  drei 
Werke  enthält. 

7)  H.  Flach  der  rescribierte  codex  Me.ssanius,  aus  Jahrbb.  121  Lpg.  1880 

8)  Göttling- Flach  8.  LXX  ff. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  229 

ihrer  Art  verdient  die  Recension  der  Theogonie,  die  Schömanii 
Berlin  1869  erscheinen  Hess,  alle  Anerkennung.  Paley^)  und 
Flach  (wenn  auch  nur  in  „die  hesiodischen  Gedichte",  Berlin 
1874)^)  wollen  den  Text  durch  Einführung  des  Digammas  ver- 
zieren, obgleich  schon  in  den  homerischen  Gedichten  das 
Digamma  augenscheinlich  im  Niedergange  begriffen  ist  und 
seine  Hauptstütze  an  formelhaften  Wendungen  hat.  ^)  Wegen 
des  gelehrten  Kommentars  sind  die  Einzelausgaben  der  drei 
Gedichte  von  David  van  Lennep^)  und  die  Spezialbearbeituug 
des  Schildes  in  Hesiodi  quod  fertur  Scutum  Herculis  ed.  F. 
Ranke  (QuedHnburg  und  Lpg.  1840)  von  Wichtigkeit. 

Die  Uebersetz  ungen  haben  kein  besonderes  Interesse; 
ich  erwähne  nur,  daes  zuerst  eine  lateinische  Uebersetzung  des 
Nicolaus  Valla  ^)  erschien ,  der  bei-eits  1474  eine  besondere 
Version  der  Theogonie,  ein  Werk  des  Bonino  Mombrizio,  folgte. 

Unter  den  kritischen  Beiträgen  verdient  einzig  Mützells 
Buch  de  emendatione  Theogoniae  Hesiodeae  (Leipzig  1833)  be- 
sondere Erwähnung.  Bezüglich  der  sachlichen  Exegese  ruht 
der  Schwerpunkt  auf  den  mythologischen  Fragen  der  Theogonie, 
über  welche  Schömann  eine  Reihe  von  vortrefflichen  Aufsätzen 
lieferte.  ^)  Den  Dialekt  behandelten  Förstemann  (de  dialecto 
Hesiodea,  Halle  1863)  und  Rzach  (Jahrbb.  Suppl.  8  (1876), 
355  ff.)  im  Zusammenhange'^);  auch  der  Stil  wurde  kürzlich 
(jegenstand  eines  Programmes.  ^)  Endlich  dürfte  es  wenig 
bekannt  sein,  dass  Flaxman  zu  Hesiods  Werken  Zeichnungen 
entwarf.^) 


1)  The  epics  of  Hesiod,  London  1861. 

2)  Vgl.  Flach  das  dialektische  Digamma  bei  Hesiodos,  Jahrbb.  113,  369  ff. 

3)  Gegen  Flachs  unermüdliche  Wiederholung  seiner  Theorie  vgl.  Clemm 
in  Curtius'  Studien  9,  409  ff. ;  über  diese  und  ähnliche  Fragen  s.  auch  AI. 
Ezach  hesiodische  Untersuchungen,  Prag  1875  (Programm). 

4)  Theogonie,  Amsterdam  1843,  Opera  1847,  Scutum  (herausgegeben  von 
HuUemaun)  1855. 

5)  Zuerst  s.  1.  et  a.,  dann  Rom  1471  u.  ö. 

6)  Im  zweiten  Bande  seiner  Opuscula  gesammelt. 

7)  M.  Isler  quaestt.  Hesiodiarum  spec.  I.  de  dialecto  librorum  Hes., 
Berlin  1830. 

8)  J.  Pochop  über  die  poetische  Diktion  des  Hesiod,  Weisskircheu  in 
Mähren  1881;  P.  Schneider  de  elocutione  Hesiodea,  Berlin  1871, 

9)  Compositions  from  the  works  and  days  and  theogony  of  Hesiod, 
London  1879. 


230  '^-  Kapitel. 

Neben  den  sp^a  xal  T^[i^pat  gab  es  ein  Gedicht,  das  deii 
Landbau  abgesondert  und  zwar  eingehender  als  Hesiod  be. 
handelte  (Fr.  16—26  Göttling,  p.  157  ff.  Kinkel),  weshalb  es 
"EpYa  [xsyaXa  hiess^);  der  Verfasser,  in  dem  man  Hesiod 
vermutete,  schenkte  den  Pflanzen  besondere  Aufmerksamkeit; 
unter  diesen  kennt  er  bereits  den  Oelbaum,  hält  ihn  aber  für 
unproduktiv  (Fr.  17  G.).  Auch  der  zweite  astronomische  Teil 
des  Gedichtes  fand  in  der  'Aatpovofxta^)  eine  eingehendere 
Bearbeitung;  hier  war  aber  der  angebliche  Hesiod  ein  sach- 
kundiger Mann  der  attischen  oder  alexandrinischen  Zeit,  da 
Phnius^)  wegen  dieses  Gedichtes  Hesiod  mit  Thaies,  Anaxi- 
mandros  und  Eudoxos  zusammenstellt.  Dem  Thaies  dichteten 
ebenfalls  die  Späteren  ein  astronomisches  Lehrgedicht  an."^) 

Auf  die  Ethik  bezogen  sich  die  pseudohesiodischen  Xipwvoc 
6;roö"»5xat°),  gute  Ratschläge,  welche  der  weise  Kentaur  seinem 
Zöglinge  Achilleus  ^)  erteilte.  Den  Anlass  zu  diesem  Gedichte, 
auf  das  bereits  Kratinos  anspielte^),  gab  vielleicht  eine  Erzählung 
der  Kyprien.  Aristophanes  von  Byzanz  .sprach  es  dem  Hesiod 
ab  ^) ;  doch  hätte  dieser  Umstand  seinen  Untergang  nicht  herbei- 
geführt, wenn  nicht  das  un verhüllte  Heidentum,  vor  allem  die 
dringenden  Ermahnungen  zum  Opfern  bei  den  Christen  Anstoss 
erregt  hätten.^)     Dass   die  Sprüche   dem  Chiron   selbst  in  den 


1)  Cäsar  Ztsch.  f.  Alterturasw.  1838  Nr.  65—67  will  diese  Annahme 
widerlegen;  die  Sprüche  des  Chiron  sollen  einen  Teil  der  Dichtung  gebildet 
haben. 

2)  Marckscheflfel  Hes.  frg.  p.  194  ff.;  Robert  Eratosth.  frg.  p.  237  ir. ; 
Göttling -Räch  Fr.  10—13;  Kinkel  p.  86  ff. 

3)  bist.  nat.  18,  25. 

4)  Plut.  Pyth.  orac.  18  (Zeller  Philos.  der  Griechen  I^  174),  dagegen  er- 
innert Themistios  (or.  26  p.  383  D),  dass  Thaies  nichts  geschrieben  habe. 

6)  Marckscheffel  p.  175  ff.  Schultz  über  die  Sprüche  des  Chiron, 
Welckers  Rhein.  Mus.  5,  599  ff.  Vgl.  Cäsar  a.  O.  Sp.  542  ff.  Schnei  de  wia 
prooeni.  aest.  von  Gott.  1842;  Fragmente  bei  Göttling -Flach  Nr.  178— ]  86 
und  Kinkel  p,  148  ff. 

6)  Paus.  9,  31,  4. 

7)  Hephaestio  c.  1  p.  8W;  Find.  Pyth.  6,  19  ff.,  vgl.  fr.  60  und  68 
Böckh  kennt  Chiron  gleichfalls  als  Lehrer  der  Weisheit.  Was  Schultz  über 
die  Zeit  annimmt,  ist  alles  unsicher. 

8)  Qaintil.  1,  1,  15. 

9)  Eine  Komödie  „Chiron"  parodierte  dieses  Gedicht  und  überhaupt  die 
hesiodische  Spruchweisheit  (Ath.  8,  364  ab). 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  231 

Mund  gelegt  waren,  veranlasste  einen  heiteren  Irrtum;    Suidas 
hielt  nämlich  den  Kentauren  selbst  für  den   V^erfasser. 

Während  hier  von  einer  Fälschung  nicht  die  Rede  sein 
kann,  griff  sie  gerade  in  der  didaktischen  Dichtung  sonst  stark 
um  sich.  Der  Lügner  Lobon  von  Argos  erfand  zweitausend 
Verse  des  Periandros  und  ebenso  viele  des  Blas,  worin  dieser 
das  wichtige  Thema  behandelte,  wie  Jonien  glückhch  werden 
könne.  ^)  Hier  bheb  es  bei  dem  Titel;  in  das  Werk  gesetzt 
wurde  aber  die  Erfindung  bei  den  einundsiebzig  goldenen  Versen" 
des  Pythagoras;  von  späteren  Pythagoreern  herrührend,  bil- 
deten sie  den  Sittenkodex  der  hellenisierenden  Renaissance.  ^) 
Ebensoviel  las  man  in  derselben  Zeit,  wie  in  Byzanz  das  dem 
Phokylides  untergeschobene  Sittengedicht  ^),  über  dessen  Titel 
die  Handschriften  erheblich  schwanken.  Wie  Jakob  Bernays 
in  glänzender  Beweisführung  darthat*),  ist  der  Verfasser  einer 
jener  alexandrinischen  Reformjuden,  welche  die  Lehren  des 
Judentums  mit  der  griechischen  Philosophie  gefällig  verbanden, 
indem  sie  von  jenen  höchstens  den  Monotheismus  etwas  be- 
tonten. Diese  zu  einer  jüdischgriechischen  Literatur  führende 
Bewegung  begann  etwa  um  150  vor  Christus  und  behielt  bis 
zur  Zerstörung  Jerusalems  ihren  ursprünglichen  Charakter; 
seitdem  verband  sie  sich  aber  mit  der  Polemik  gegen  die 
Christen.  Da  diese  in  den  Phokylidea  noch  fehlt,  sind  die 
zeitlichen  Grenzen  des  Werkes  bestimmt^);  Goram  versucht 
mnsonst   die  Zeit    auf    das    Jahr   loO   v.  Chr.    präcisieren    und 


1)  Ueher  diese  xiud  andere  angebliche  Schriften  der  sieben  Weisen 
Hill  er  Rhein.  Mus.  33,  518  ff. 

2)  Chrysippos  bei  Gell.  7,  2,  12  citiert  sie  als  Werk  der  Pythagoreer, 
ebenso  Plnt.  cons.  ad  Apoll,  j).  116  c;  Hierokles  prooem.;  David  Schol.  Arist. 
p.  13.  17;  mit  dem  Kommentar  des  Hierokles  j;i>letzt  bei  Mnllach  fragm. 
philos.  Gr.  I  193  ff.  gedruckt,  vgl.  Nauck  mel.  Greco-Rom.  3,  546  ff.  = 
Bull,  de  r  ac.  de  St.  Pet.  18,  472  ff.  Gilde  meist  er  Pythagoras -Sprüche  in 
syrischer  Ueberlieferung,  Hermes  4,  81   fi'. 

3)  Am  besten  ist  es  bei   Bergk  poetae  lyr.  Graeci  H*  p.  74  ff.  gedruckt. 

4)  lieber  das  phokylideische  Gedicht,  Berlin  1856,  dazu  O.  Goram 
Philol.  14,  91  ff".  Schon  Scaliger  hatte  seinen  Verdacht  ausgesprochen.  Ein 
Fälscher  sibylliuischer  Orakel  benützte  diese  Phokylidea  im  zweiten  Buche 
(V.  45  ff".  56 — 148,  bei  Opsopoeus  am  Ende  des  achten);  vgl.  Suid.  v.  $cuxu- 
XioYj?  mit  Bernhardys  Note. 

5)  lieber  unklassische  Ausdrücke  E.  v.  Leutsch  Philol.  22,  23  und 
Bernhardy  UM,  522. 


232  7.  Kapitel. 

dem  Verfasser  zu  einem  Schüler  des  Aristobulos  zu  machen. 
Wer  war  aber  nun  jener  Weise,  dessen  Namen  der  Fälscher 
zum  Deckmantel  nahm?  Phokylides  von  Milet^)  dichtete  nicht 
etwa  ein  zusammenhängendes  Gedicht,  sondern  kurze  Sprüche 
von  gewöhnlich  zwei  bis  drei  Hexametern  ^),  denen  er  meistens 
seinen  Namen  in  der  Form  ,,Aucli  dies  ist  von  Phokylides" 
vorausschickte^);  zu  einem  zusammenhängenden  Spruchgedichte 
koimten  sich  also  damals  die  Jonier  noch  nicht  verstehen. 
Die  Sprüche  waren  sehr  beliebt  *),  erfuhren  aber  gerade  deshalb 
ohne  Zweifel  Interpolationen,  wozu  ich  besonders  die  elegischen 
Fragmente  rechne;  doch  davon  mehr  bei  der  Elegie! 

Die  hohe  Blüte  der  didaktischen  Poesie  —  man  denke  nur 
auch  an  die  gnomischen  Elegien  —  verfehlte  auf  die  Philo- 
sophie ihre  Wirkung  nicht;  ausserdem  ermangelte  die  Prosa 
lange  Zeit  einer  so  ausgebildeten  Form,  dass  nicht  ein  poetisch 
angelegter  Mann  lieber  zum  Verse  gegriffen  hätte.  Ein  solcher 
war  Xenophanes  von  Kolophon^),  der  als  Denker  wie  als 
Dichter  Achtung  beanspruchen  darf.  Sein  Leben  erstreckte  sich 
über  eine  lange  Folge  von  Jahren ;  dichtete  er  doch  fr.  7  nach 
seiner  eigenen  Angabe  als  zweiundneunzigjähriger  Greis  in 
voller  Geistesfrische.  Daher  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass 
er  über  hundert  Jahre  alt  starb.  ^)     So  verstehen   wir   die  An- 


1)  Die  Chronographen  betrachteten  ihn  der  Bequemlichkeit  halber  als 
Zeitgenossen  des  Theognis  (Rohde  Rhein.  Mns.  33,  169  A.  6)  oder  des 
Xenophanes ;  nach  Suidas  lebte  er  also  Ol.  50  oder  60,  4  (=  527  Jahre  nach 
dem  troischen  Kriege),  nach  Kyrillos  (c.  Julian.  7,  225)  Ol.  58,  nach  Eusebios 
Ol.  59,  4  (Hier.  P),  60,  1  (Hier.  A  F),  60,  4  (armenisch),  61,  3  (Hieron.)  oder 
Ol.  62,  3  (Syukellos).  Phrynicbos  ecl.  358  sagt  allgemein  av5pa  zaXoiiöv 
0(pö5pa.  In  fr.  5  nennt  Phokylides   bereits  Babylon  als  Hauptsitz  des  Luxus. 

2)  Fr.  1  best«ht  aus  acht  Versen. 

3)  Dio  Chrys.  or.  36  T.  II  p.  505,  vgl.  or.  32  II  p.  457.    Cic.  ad  Att.  4,  9,  1. 

4)  Wie  Chamaileon  bei  Athen.  14,  620c  meldet,  wurden  sie  wie  Lieder 
gesungen;  nach  v.  Leutsch  Philol.  10,  133  spielt  Lys.  de  caed.  Erat.  7  auf 
einen  Vers  an,  Dion  nennt  Phokylides  neben  Hesiod  und  Theognis  (or.  2, 
§  5,  vgl.  8). 

6)  Cousin  nouveaux  fragraent«  philosophiques ,  Paris  1828  p.  9  ff. ;  F, 
Kern  zur  Darstellung  der  Philosophie  des  Xenophanes,  Danzig  1871  (Pr.); 
üImt  Xenophanes  von  Kolophon,  Stettin  1874  (Pr.).  Die  Fragmente  sind  ge- 
sammelt Ytei  Karsten  Xenophauis  Colophonü  reliquiae,  Amsterdam  und 
Hnag  1830  und  Mull  ach  frg.  philo».  Gr.  I  101  ff. 

6)  Censor.   16,  3,'  falsch  Ps.  Luc.  jiaxpißio:  20  mit  91  Jahren. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  233 

gäbe  des  Apollodor  ^),  er  sei  Ol.  50  (579 — 76)  geboren  und 
habe  bis  unter  Darius  gelebt^);  er  hat  insofern  Recht,  als 
Xenophanes  an  der  Gründung  Eläas  (um  Ol.  60)  teilnahm  und 
gegen  die  Lehre  des  Pythagoras,  der  erst  am  Anfange  der 
sechziger  Olympiaden  nach  Italien  kam,  polemisierte.^)  Xenophanes 
teilt  selbst  mit,  dass  er  fünfundzwanzig  Jahre  alt  (spätestens 
zwischen  554  und  551)^)  aus  seiner  Vaterstadt  Kolophon  fliehen 
musste;  jedenfalls  hing  diese  Verbannung  mit  politischen  Wirren 
zusammen.  Er  schleppte  dann  viele  Jahre,  wie  er  sagt,  seine 
Sorge  in  Hellas  herum  ^)  und  erwarb  sich  namentlich  in  Sicilien^) 
als  Rhapsode  seinen  Lebensunterhalt.  Als  Eläa  gegründet  wurde, 
gewährte  ihm  diese  Kolonie  eine  Ruhestätte,  wo  er  sein  be- 
wegtes Leben  endigte.  '^) 

Der  Gründer  der  eleatischen  Philosophenschule  gehört  zu 
den  merkwürdigsten  Menschen  des  Altertums.  In  der  Philo- 
sophie führte  er  zuerst  die  blosse  Abstraktion  ein  und  setzte 
an  die  Stelle  der  materiellen  Anschauungen  seiner  Vorgänger 
den  Begriff  des  reinen  Seins  mit  Negation  des  Werdens,  worin 
er  den  ruhenden  Pol  der  buntbewegten  Aussenwelt  und  zugleich 
den  Ruhepunkt  der  eigenen-  Scliicksale  fand.  Mit  gleicher 
Schärfe  erkannte  Xenophanes  die  wunden  Stellen  des  helleni- 
schen Lebens,  die  zum  Theil  dessen  Untergang  verschuldeten: 
das  Verschwimmen  der  Religion  in  einen  poetischen  Anthro- 
pomorphismus,  der  vor  jeder  Kritik  zerstäuben  musste,  und  den 


1)  Clem.  AI.  Strom.  1,  353  P  (in  den  Handschriften  Ol.  40,  ebenso  Sext. 
Emp.  adv.  gramm.  p.  657,  11  B). 

2)  Damit  stimmen  die  Ansätze  des  Eusebios  (Synk.  Ol.  57,  3,  und  62,  2; 
armenisch  Ol.  56,  2  oder  3  und  60,  4,  lateinisch  Ol.  57,  1  [56,  1  F,  56,  2  Ä, 
56,  3  PS,  57,  2  BJ  und  60,  1  [AF]  oder  61,  3) ;  doch  nannteer  irrtümlich  jenes 
die  Blütezeit.  Nach  Sotion  (Diog.  9,  18)  war  er  ein  Zeitgenosse  des  Anaxi- 
mander.  Nach  Diogenes  (9,  20)  blühte  er  Ol.  60.  Timaios  Hess  ihn  die  Zeit 
des  Hierou  und  Epicharm  (Ol.  75,  3)  erleben;  vgl.  über  diese  Fragen  Diels 
Rhein.  Mus.  31,  21  ff. 

3)  Fr.  6  Bergk;  Ol.  62  Aristoxenos  bei  Jambl.  vita  Pyth.  35,  Ol.  62,  4 
Cicero  rep.  2,   15  (?  nach  Atticus  Cobet  coli.  crit.  320). 

4)  Fr.  7;  Duncker  Geschichte  des  Altertums  VI*  676  denkt  daher 
wahrscheinlich  mit  Unrecht  an  die  Eroberung  der  Stadt  durch  Harpagos  547. 

5)  Fr.  7  EViauTol  ß)vY]OTptCovTsc  i\)-\^  cppovtiS'  &v'  'EXXäSa  y'^j'A  was  Bergk 
sonderbar  deutet. 

6)  In  Zankle  und  Katana  nach  Diog.  L.  9,  18. 

7)  Diog.  L.  9,  18. 


234  '7-  Kapitel. 

übermässigen  Kult  der  gymnastischen  Spiele  und  ähnlicher 
Schaustellungen ,  welcher  die  Masse  des  Volkes  wichtigeren 
Interessen  entzog.  Ersteres  führte  ihn  zur  Polemik  gegen 
Homer  und  Hesiod ,  deren  literarisches  Ansehen ,  wie  er  an- 
nahm ,  den  alten  schlichten  Götterglauben  allmälig  zu  unter- 
graben drohte.  Nicht  minder  gewandt  bekämpfte  der  scharfe 
Denker  die  menschliche  Gestaltung  der  Götter  in  geistvollen 
Versen.')  Das  zweite  sprach  er  in  einer  originellen  Elegie  aus,^) 
ohne  damit  bei  den  denkenden  Männern  Griechenlands  den 
gleichen  Anklang  wie  bei  jener  Polemik  zu  finden.^)  Obschon 
Xenophanes  seine  witzigen  und  scharfen  Angriffe  gegen  alles, 
was  er  für  thöricht  hielt,  richtete,  zog  doch  Niemand  seine  red- 
liche Absicht  in  Zweifel;  selbst  der  Sillograph  Timon,  der 
sonst  niemand  schonte,  sprach  von  ihm  mit  der  höchsten 
Achtung  und  machte  ihn  zum  Sprecher  des  zweiten  und  drit- 
ten Buches  seiner  Sillen^)  Kurz  Xenophanes  stand  hoch  über 
seiner  Zeit.  Diese  lohnte  es  ihm  damit,  dass  sie  ihn  zu  einem 
dem  Griechen  kaum  erträglichen  Wanderleben  verurteilte. 

Xenophanes  legte  seine  philosophischen  Ansichten  in  einem 
umfangreichen  Gedichte,  das  die  Späteren  z=[A  'foocojc  betitel- 
ten.^) nieder.  Bei  den  abstrakten  übersinnlichen  Lehren  gelang 
es  dem  Verfasser  nicht  immer,  zwischen  Stoff  und  Form  die 
richtige  Harmonie  herzustellen.  Daraus  erklärt  sich  das  etwas 
geringschätzige  Urteil  Ciceros''),  der  nicht  bedenkt,  dass  Xeno- 
phanes' Werk  das  erste  philosophische  Gedicht  war  und  er  sich 
erst  die  Sprache  bilden  musste,  um  mit  ihr  dem  Gedanken- 
fiuge  folgen  zu  können.  Wir  werden  ihn  darin  am  besten  mit 
Lucrez  vergleichen.  In  diesem  Lehrgedichte  standen  die  gegen 
Homer  und  andere  gerichteten  Ausfälle.  Daher  beruht  es  auf 
einem  Missverständnisse,  wenn  manche  sagen,  Xenophanes  habe 
Sillen'')    oder    Parodien*^)    oder   Jamben^)  verfasst.     Wo  er  .sich 

1)  F.  6—7  MiiUach. 

2)  F.  2  Bergk. 

8)  Nur  Euripidcs  folgte  ihm  in  Autolykos  fr,  284. 
4)  F.  Kern  Philol.  35,  373  ff. 
6)  PoUnx  6,  46. 

6)  Acad.  priora  2,  23,  74. 

7)  Strabo  14,  643.  Schol.  Arist.  Equ.  400.  Eustath.  in  II.  p.  204,  21. 

8)  Athen.  2,  64  e  iv  rcapcuSiatc. 

9)  Diog.  L.  ?>,  18;    da.s    angebliche  Fragment  bei    Bergk    II  *116  i.st  aus 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  235^ 

einer  bereits  ausgebildeten  Sprache  bedienen  konnte,  treten  jene 
Härten  nicht  hervor;  seine  Elegien  sind  sehr  gewandt  geschrie- 
ben und  haben  alle  einen  ethischen  Gedanken  zur  Grundlage.^) 
Eine  von  Athenäus  vollständig  überlieferte  schildert  ein  froh- 
Hches  Symposion,  erinnert  aber  dabei,  der  Götter  und  der  bra- 
ven Männer  zu  gedenken  und  nicht  die  Fabeln  der  Vorzeit  zu 
singen.  In  einer  andern  Elegie  stand  der  witzige  Spott  über 
die  Seelenwanderung  (fr.  7). 

Anderen  Wissenschaften  diente  das  Lehrgedicht  in  unserer 
Periode  noch  nicht;  während  die  geographischen  Märchen  bei 
den  Joniern  durch  die  Odyssee  und  die  Arimaspeia  vertreten, 
sind,  fehlt  vorläufig  das  geographische  Epos,  da  das  posi- 
tive von  Mythen  losgelöste  Wissen  noch  keinen  erheblichen 
Umfang  erreicht  hatte.  Was  den  hesiodischen  yt^c  7rEf>io5o?  an- 
langt, so  ist  längst  erkannt,  dass  eine  alexandrinische  Samm- 
lung der  geographischen  Stellen  Hesiods  diesen  Namen  trug.^) 
Man  ermesse  darnach,  wie  viel  Wahrscheinlichkeit  Niese  für 
sich  hatte,  als  er  vermutete,  der  homerische  Schiffskatalog  ginge 
auf  einen  etwa  im  Jahr  700  entstandenen  böotischen  y*^?  Trspio- 
Soc  zurück.^)  Ein  französischer  Gelehrter  überbot  ihn  durch 
eine  phantastische  Hypothese."*) 

Neben  dem  Ernste  des  Lebens  mangelte  es  in  Griechen- 
land nie  an  Scherz  und  Witz ,  vor  allem  gilt  dieser  Satz  wieder 
von  dem  jonischen  Volksstamme.  Die  homerischen  Dichtei* 
verschmähten  daher  weder  die  Thersitesscene  noch  die  Götter- 
komödie oder  den  Faustkampf  des  Odysseus  und  L'os ;  im 
Olymp  bot  ihnen  und  den  folgenden  Sängern  Hephaistos  einen, 
unerschöpflichen  Lachstoff.  In  den  Lleroensagen  reizte  einen 
Sänger    die    Kerkopensage    zu    abgesonderter  Behandlung;    die 


einem  unechten    Briefe    künstlich    konstruiert.     Gedichte    auf   die   Gründung, 
Kolophons  und  Eleas  sind  von  Lohon  erlogen  (Hill er  Rhein.   Mus.  33,  529). 

1)  Fragmente  bei  Bergk  poetae  lyr.  Graeci  II  *110  fl". 

2)  Göttling-Flach  S.  LI. 

3)  Der  homerische  Schiflfskatalog ,  Kiel  1873;  er  wurde  jetzt  selbst  an 
sich  etwas  irre  (Entwicklung  der  hom.  Poesie  S.  228  A.   1.). 

4)  So  schliesse  ich  aus  dem  Titel  von  Tauxier  hypothese  sur  l'exi- 
stence  d'un  poeme  geographique  dorien  anterieur  de  300  ans  a  Homere  in. 
den  Notices,  mem.  et  docum.  de  la  societe  ...  du  dep.  de  la  Manche  V. 


236  '^-  Kapitel. 

pseudohomerischen  „Kerkopen"^)  erzählten,  wie  Herakles  mit 
jenem  diebischen  Brüderpaare  zusammentraf,  sie  wegen  ihrer 
Eaublust  gefangen  nahm,  aber  endlich,  weil  sie  ihn  zum  Lachen 
brachten,  laufen  hess.^)  Diese  Sage,  gleichsam  das  irdische 
Gegenstück  zum  Hermesmythus,  war  so  volkstümhch,  dass  sie 
bereits  in  einer  der  ältesten  Metopen  von  Selinunt  abgebildet 
wurde. 

Während  hier  der  Humor  und  —  fast  möchte  ich'  sagen 
—  die  Poesie  des  Diebeslebens  ihren  Ausdruck  fand,  zeichnete 
der  noch  berühmtere  Margites^)  das  Ideal  der  Tölpelhaftig- 
Jkeit.  Margites  (Tölpel)  hiess  der  Held  des  Stückes,  ein  dummer 
täppischer  Mensch ,  der  alles  verkehrt  anfasste  und  nicht  ein- 
mal im  Alter  klug  wurde  ;  ,, vieles  verstand  er,  aber  alles  schlecht" 
(fr.  3).  Es  war  die  reine  Posse  ohne  satirischen  Beigeschmack, 
welche  die  UngeschickUchkeit  auf  das  ärgste  karikierte  und 
nach  Art  der  Komödie  mit  Obscönitäten^)  gewürzt  war;  stören- 
des Mitleid  hielt  der  Verfasser  geschickt  durch  den  Umstand 
ferne,  dass  Margites  als  Sohn  sehr  reicher  Eltern  auftrat.  Die- 
ser Schwank  rauss  dabei  höchst  genial  durchgeführt  gewesen 
sein,  weil  keiner  der  älteren  Gelehrten  an  der  Verfasserschaft 
Homers  zweifelte ,  Aristoteles  sprach  deshalb  Homer  den  Ruhm 
zu,  mit  der  Tragödie  auch  die  Komödie  begründet  zu  haben. ^) 
Der  Stoiker  Zenon  schrieb  sogar  ein  besonderes  Buch  über  den 
Margites.^)  Später  stellten  sich  aber  Zweifel  an  der  Echtheit  ein;^) 
vermutlich   verwarf  ihn  Aristarch ,    da    die  Homerscholien  ihn 


1)  Kinkel  frg.  epic.  Gr.  p.  69  f. 

2)  Lob  eck  Aglaoph.  p.  1296  ff.  Preller  griech.  Mythol.  I  ='230  f. 
Ei  gl  er  de  Hercule  et  Cercopibus,  Cöln  1826. 

8)  Kinkel  frg.  epic.  p.  64  ff.  Welcker  ep.  Cyklus  1,  184  ff.  uud 
Rhein.  Mus.  11,  498  ff.  =  kleine  Schriften  4,  27  ff'.  Göttling  de  Margita 
Hom.,  Jena  1863  =  opascula  acad.  p.  167  ff. 

4)  Fr.  4.  6. 

6)  Poet.  4,  vgl.  eth.  Nicom.  6,  7.  Darum  huldigen  auf  der  Homer- 
apotheose des  Archelaos  Tragödie  und  Komödie  dem  blinden  Dichter. 

6)  Dio  Chrys.  or.  63,  4. 

7)  Harpocr.  s.  v.  Eust.  Od.  p.  1669,  48.  Hephaest.  c.  17.  Gramer  Anecd. 
Oxon.  IV  316.  Dagegen  hielt  Dion  (or.  53  p.  275  R)  den  Margites  für  ein 
Jugendwerk  Homers.  Kallimachos  scheint  ihn  ironisch  gepriesen  zu  haben. 
(Harpocr.  a.  O.) 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  237 

nie  citiereu.  Nur  Suidas^)  und  Proklos  erzählen ,  dass  nach 
manchen  Pigres ,  em  Bruder  der  bekannten  Königin  Arte- 
misia,  den  Margites  verfasst  habe,  wohl  aus  keinem  anderen 
Grunde ,  als  weil  man  wusste ,  dass  er  die  Ihas  durch  Penta- 
meter interpoliert  habe.  Im  Margites  treten  nämlich  unter  die 
Hexameter  gemischt  mehrere  jambische  Senare  auf.^)  Da  an- 
dererseits schon  Archilochos  das  Gedicht  anführte,^)  so  er- 
hellt, dass  die  Jamben  interpoliert  und  zwar  möglicher  Weise- 
von  Pigres  eingesetzt  waren.  Als  Ort  der  Entstehung  nennen 
alle  Kolophon,  das  auch  imProömium  erscheint.^)  Dieses  verdient 
schon  deshalb  Aufmerksamkeit,  weil  hier  zuerst  Apollon  als- 
Gott  der  Sänger  auftritt.  In  der  Kaiserzeit  war  das  Gedicht 
noch  bekannt,  aber  Tzetzes  fand  es  nicht  mehr  vor.^) 

Andere  heitere  Erzeugnisse  der  homerischen  Schule  sind 
Umbildungen  der  volkstümlichen  Bettellieder,  die  nur  in  den 
epischen  Vers  und  Dialekt  und  wahrscheinlich  zum  Teil  in 
eine  gewähltere  Form  übertraten.  Ich  rechne  hieher  die  schon 
besprochene  Eir es ione,^)  dann  Ka jx i v o c  oder  KspajjLsl?^)  in  drei- 
undzwanzig Hexametern ;  beide  stehen  in  der  sonderbaren 
Sammlung  der  homerischen  Epigramme.  Letzteres  enthält  eine- 
komisch gehaltene  Anrede  an  die  Töpfer :  Der  Dichter  verspricht 
ihnen  pathetisch,  für  ein  Geschenk  von  Athene  Förderung  ihres- 
Werkes  zu  erbitten;  wenn  sie  darauf  nicht  eingehen,  will  er 
eine  Schaar  von  Dämonen  und  Zauberern  über  sie  herein- 
brechen lassen,  damit  diese  ihre  Arbeit  zerstören.  Von  dersel- 
ben Art  war  das  Kram  mets  voge  Uied;^)  das  jambische  Z  le- 
ge nlied^)  dagegen,  welches  mannigfaltige  Titel  führte,  bezog, 
sich  vermutlich  auf  das  Spiel  all  -/aX/-^. 

1)  V.  EiYp^i?. 

2)  Fr.  1  Tind  Arist.  poet.  1.  4. 

3)  Enstratios  zu  Aristot.  eth.  Nie.  6,  7;  nach  Bergk  zu  Archil.  fr.  116^ 
entlehnte  er  auch  einen  Vers  daraus. 

4)  „Nach  Kolophon  kam  ein  greiser  göttlicher  Sänger,  der  Musen  und 
des  ferntrefi'enden  Apollo  Diener." 

5)  Exeg.  in  Hom.  II.  p.  37. 

6)  S.   10. 

7)  G  öttling  opusc.  acad.  p.  182  ff.  Proklos  scheint  es  Kä[j.tv&i  zu  nen- 
nen (Hermes  14,  162).  Nach  Poil.  10,  85  legten  einige  das  Gedichtchen- 
dem  Hesiod  bei. 

8)  S.   10. 

9)  Wahrscheinlich    'Er.'zi-zv.xoz    al|,  verderbt  Tjö-tETrax-co?    tjto:    Ia|xßoL 


238  '^-  Kapitel. 

Solche  Fest-  und  Spielgesänge  führen  uns  zu  den  Gelegen- 
heitsgedichten im  allgemeinen.  Diese  Periode  kennt  von  sol- 
chen nur  Orakel-  und  Grab-  oder  Weihinschriften.  Wir  haben 
uns  hier  weder  mit  Orakelstätten  noch  mit  der  Persönlichkeit 
der  Seher  und  Sibyllen  zu  beschäftigen,  sondern  ausschliesslich 
die  literarische  Stellung  der  Orakelsprüche^)  zu  beurteilen. 
An  älteren  Denkmälern  sind  nun  ausserhalb  der  oben  bespro- 
■chenen  frommen  Literatur  blos  delphische  Sprüche  zu  nennen. 
Die  Priester  des  pythischen  Orakels  suchten ,  mit  scharfem 
Blicke  die  Macht  der  epischen  Dichtung  erkennend,  ihre  Orakel 
nach  Dialekt  und  Metrum  jener  ähnlich  zu  gestalten.  Die  uns 
bekannten  alten  Orakel  sind  sämmtlich  in  Hexametern  ab- 
gefasst;-)  ebenso  gebrauchte  die  Pythia  immer  die  epische 
Mundart,  so  oft  sie  nicht  zu  Doriern  sprach.  In  letzterem  Falle 
kam  mindestens  das  dorische  A  zur  Anwendung. 3)  Ueberall 
finden  wir  homerische  Reminiscenzen,  doch  auch  Hesiods  Erga 
steuerten  manche  Formeln  bei.^)  Nicht  zu  leugnen  ist  ferner 
die  geschickte  Anwendung  der  poetischen  Bilder  z.  B.  Fels, 
Adler  und  Löwe  bei  Herod.  5,  92,  2,  und  kleiner  Kunstmittel, 
wie  gleichkhngender  Wörter.^)  Das  Orakel  bei  Herodot  7,  140 
erinnert  in  der  Kühnheit  der  Sprache  an  die  Vision  des  Theo- 
klymenos  o  351  ff.  Die  Sprüche  des  Bakis,  in  denen  poetische 
Personifikationen  vorkommen,*')  sind  schwerlich  älter  als  die 
Perserkriege,  in  denen  sie  zuerst  auftauchten.  Die  Orakel  der 
kumäischen   und   einer  kleinasiatischen  Sibylle  reichen  an  sich 


(Suid.)  'EictajtäxT'.ov  (Suid),  'PjVT3;:äxT'.oy  (Proklos)  oder  'EztajraxTix-i]  (Ps. 
Herod.  §  24);  Tzetzes  machte  daraus  zwei  Gedichte  A'4  und  -fj  eirtasTtaxtioc 
(V.  1.  xohi  tK-zä  e^ixTüJv).     Vgl.  Flach  Hesych.  Mil.  p.    164. 

1)  Ge.sammelt  von  HendesB  Diss.  philol.  Halenses  IV  1  ff.,  vgl.  Joh. 
R.  Ponitow  quuestt.  de  oraculis  caput  sei.     Berlin  1881. 

2)  Hendess  a..  O.  p.  10—16.  Das  jambische  bei  Herodot  1,  174  ist 
gcfiilscht. 

3)  Hendess  a.  O.  p.  16  ff.  schlicsst  den  dorischen  Dialekt  mit  Unrecht 
aus.     EuHt.  II.  p.  1,   13  Yj   ll'jfl-'lot  -fjü.oh',  tü>v  ypTjSjioiv  -po?  '()|i.Y|p:xT,v  ^ksO-o- 

4)  He».  E.  284  1".  erscheinen  wenig  verändert  im  Glaukosorakel  (Herod. 
6,  86) ;  jt<Ya  VYjKte  Kpoia«  (Herod.  1 ,  85)  hat  an  der  Anrede  au  Perses  ein 
■Seitenstfick. 

6)  Z.  B.  Herod.  6,  92,  2  a  V.  1. 

6)  Herod.  8,  77  Aixtj,  Kopo:  und  Tßjiii;. 


Didaktische  Poesie  und  kleinere  hexametrische  Gedichte.  239 

gewiss  weiter  hinauf,  aber  schwerlich  hatten  sie  von  Anfang 
an  metrische  Form.  Wenigstens  nennt  Herakleitos^)  die  Sprüche 
der  Sibylle  „unwitzig,  ungeschminkt  und  ungesalzen." 

Die  Grabschriften  fallen  in  eine  Zeit,  wo  man  bereits 
das  Distichon  kannte;  weil  den  Klagegedichten  ebenfalls  das 
elegische  Mass  eignete,  zogen  die  Griechen  mit  richtigem  Ge- 
fühle dieses  Versmass  dem  blossen  Hexameter  vor.  Dennoch 
mangelt  es  nicht  ganz  an  hexametrischen  Inschriften:  Auf 
♦Steinen  finden  wir  sowohl  einzelne  Hexameter  als  auch  je  zwei ^) 
oder  drei^),  ja  zweimal  sechs  Verse."*)  Sechs  Hexameter  zählt 
auch  das  homerische  Epigramm  Nr.  3,  angeblich  die  Inschrift 
der  ehernen  Jungfrau,  welche  auf  dem  Grab  des  Midas  stand  ;^) 
es  ermangelt  indes  so  sehr  aller  persönlichen  Beziehungen,  dass 
man  billig  daran  zweifeln  darf,  ob  es  wirklich  lange  vor  der 
attischen  Periode,  in  welcher  das  Epigramm  seinen  epideikti- 
schen  Charakter  gewann,  gedichtet  sei.  Simonides  betrachtete 
Kloobulos,  den  Verfasser  von  Rätseln,  als  den  Verfasser;^)  der 
Grund  bestand  vermutlich  in  der  kunstreichen  Spielerei,  dass 
die  Verse  auch  in  umgekehrter  Ordnung  gelesen  werden  konn- 
ten.'') Daher  war  das  Epigramm  hochberühmt  und  wurde  oft 
xm geführt.^)  Endlich  war  der  Kypseloskasten  mit  Hexametern 
beschrieben. 

Das  elfte  und  dreizehnte  ,, homerische  Epigramm"  fanden 
bei  der  Spruchdichtung  eine  passende  Stelle.^)  Bezüglich  der 
anderen^")  habe  ich  oben^^)  die  A^ermutung  ausgesprochen,  dass 
«ie  Exeerpte  der  Horaerbiographie  eines  alexandrinischen  Dich- 


1)  Bei  Plut.  Pyth.  or.  6  (Fr.  39  Schuster),  vgl.  darüber  Schuster  Acta 
?oc.  phil.     Lips.  3,  373  ft". 

2)  Kohl  in.scr.  autiquissimae  78.  340.  531. 

3)  Röhl  37.  343.  407. 

4)  Kohl  62  (Sparta).     342  (Kerkyra). 

5)  Bergk  I  S.  779,  in  vollstäudigem  Gegensatze  dazu  Job.  Schmidt  de 
vita  Herodotea  p.  167  ff. 

6)  Diog.  L.   1,  90. 

7)  Deshalb  hiess  es  v.üv.Xoc  (Job.  Pbilop.  in  Arist.  anal.  post.  p.  34  b). 

8)  Zuerst  Plat.  Phaedr.  p.  264  d. 

9)  S.  274. 

10)  Die  ganze  Sammlung  ist  mit  den  Hymnen  von  Ilgen,  G.  Hermann, 
Franke  und  Baumeister  (blos  in  der  kleinereu  Ausgabe)  herausgegeben ;  das 
«rste  Epigramm  steht  schon  in  der  editio  prineeps  des  Homer. 

11)  S.  55. 


240  7.  Kapitel, 

ters  vorstellen.  Von  Altertümlichkeit  findet  sich  nirgends  eine 
Spur;  namentlich  ist  der  Scherz  Nr.  12  gewiss  nicht  alt;  in 
Nr.  8  fällt  die  unjonische  Verachtung  der  Seefahrt  auf.  In 
dem  ijrixT^Seiov  sie  Bdipa/öv  ttva  spwfjisvov  aotoö,  das  Suidas 
Hesiod  beilegt,  sehe  ich  ebenfalls  nur  ein  Epigramm;^)  war  es 
etwa  gar  in  Distichen  abgefasst? 


1)  Ueber  den  Gebrauch  von  £TCtxY|8eiov  Plnt.  de  anim.  proer.  33. 


8.  Kapitel. 
Die  homerische  und  hesiodische  Schule. 

Im  bisherigen  ist  durch  die  Ordnung  des  Stoffes  eine  7ai- 
gleich  lokale  und  geistige  Zweiteilung  der  hellenischen  Welt 
hoffentlich  klar  geworden.  Nun  haben  G.  Hermann^)  und 
Näke^)  eine  homerische  und  eine  hesiodische  Schule,^)  von  wel- 
chen jene  das  heroische  Epos ,  diese  die  didaktische  und  theo- 
gonische  Dichtung  vertreten  habe,  zu  sondern  begonnen.  Die- 
ser Unterschied  gründet  sich  zum  Teil  auf  Noten  der  Gram- 
matiker, die  an  manchen  Stellen  der  Ilias  und  Odyssee  hesiod- 
ische Manier  ('HatöSöcoc  /apaxtT^p)  entdeckten."*)  Sie  schrieben 
demnach  dem  Hesiod  die  katalogische  Manier  und  die  Vorliebe 
für  Gnomen  zu^.)  Sehen  wir  selbst  näher  zu ,  so  erkennen  wir 
bald,  dass  von  einer  scharfen  Scheidung  oder  einer  ausgepräg- 
ten Rivalität  der  homerischen  und  hesiodischen  Dichter  nicht 
die  Rede  sein  kann;  denn  die  Alten  schwanken  bei  mehreren 
Gedichten,  welchem  Kreise  sie  dieselben  zuweisen  sollen.^)  Die 
Sache  stellt  sich  vielmehr  so:  Jonien  sah  Dank  den  homer- 
ischen Epen  die  Ausbildung  des  Heldenepos.  Ihr  ungewöhn- 
licher Aufschwung,  während  die  Poesie  sonst  überall  auf  nie- 
derer Stufe  stand,  verschaffte  dem  Epos  auch  bei  anderen 
Stämmen  Eingang.  In  das  Mutterland  gelangte  es  über  jonische 


1)  de  dialecto  Pindari,  opusc.  1,  246. 

2)  Choerilus  p.  64. 

3)  Widerlegt  von   Marckscheffel   im  ersten  Teile  seines   Buches  Hesiodi, 
Eumeli  etc.  fragmenta,  Lpg.  1840. 

4)  Lehrs  de  Arist.  stud.  ■'343. 

5)  'HctooE'.öc  0  xat'  ovofj.«  yapa-Äf«]p  Eust.  in  S  39 ,    vgl.    Schol.     S    39. 
iä  614.  0  74. 

6)  Der  Hymnus    an    den    pythischen    Apollo    steht    sogar    unter   den  ho- 
merischen. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  16 


.  242  ^-  Kapitel. 

Städte:  Im  Norden  scheint  Chalkis  der  üebergangspimkt  gewe- 
sen zu  Pein ;  dann  wohnten  im  ganzen  Asoposthale  Jonier  und 
die  Anwohner  des  Hehkon  mögen  dem  gleichen  Stamme  an- 
gehört haben. ^)  So  wurden  ßöotien,  Lokris  und  Delphi  für 
Homer  gewonnen.^)  Was  den  Peloponnes  betrifft,  so  möchten 
wir  auf  die  argolischen  Jonierstädte  hinweisen ;  ihnen  entstammte 
angebhch  der  Dichter  der  Nosten.  Wenn  nun  auch  im  eigent- 
lichen Griechenland  das  homerische  Epos  die  höchste  Be- 
wunderung erregte,  rief  es  doch  nicht  gleichgeartete  Werke  her- 
vor; denn  Athen,  das  zunächst  von  den  stammverwandten  Jo- 
niern  eine  Anregung  hätte  empfangen  sollen,  war  noch  in  jeder 
Hinsicht  unbedeutend.  Die  Dorier  aber  waren  dem  blossen 
Fabulieren  abgeneigt  —  den  Spartanern  galt  '0[iT|[>i§5£'.v  so  viel 
als  lügen^)  —  und  zogen  die  Geschichte  ihres  Stammes  und 
ihrer  vornehmen  Geschlechter  vor.  Nur  der  Heraklesmythus, 
der  mit  diesen  Interessen  enge  zusammenhing,  gab  den  nörd- 
lichen Doriern  zu  kleineren  epischen  Gedichten  Anlass.  Dafür 
verwenden  die  Dorier,  an  welche  sich  auch  die  Böotier  und 
Lokrer  anschliessen,  die  epischen  Formen  für  ihre  Stammsage ; 
auf  diese  Weise  entstand  das  genealogische  Epos,  das  die  Grie- 
chen selbst  historisch  nannten,  waren  doch  diese  Gedichte 
nichts  anderes  als  versificierte  Chroniken,*)  was  nicht  aus- 
schliesst,  dass  sich  der  Dichter  hin  und  wieder  etwas  höher 
aufschwang.  Mittelgriecbenland  blieb  von  direkter  Imitation 
Homers,  jene  Heraklesgedichte  abgerechnet,  ganz  frei ;  da  nun 
aber  Hesiods  Name  in  der  Tradition  alle  mittelgriechischen 
Dichtungen  umspannte,  erschien  er  dadurch  als  Vertreter  der 
unjonischen  Dichtung.  Im  Peloponnes  mögen  sich  beide  Strö- 
mungen gekreuzt  haben,  sonst  hätten  die  Alten  schwerlich  bei 
mehreren  Epen  geschwankt,  ob  sie  dieselben  jonischen  Epikern 
oder  dem  Eumelos  und  Kinaithon  zuweisen  sollten,  und  die 
Nosten  nicht  dem  Hagias  von  Trözen  zugeschrieben. 


1)  K.  O.  Müller  Orchonieuos  "282. 

2)  Eineu  terraiuus  ante  quem  für  die  Zeit  gibt  der  Schiftskatalog  ab, 
welcher  in  Böotien  vor  der  Abfassung  der  Kyprien  entstand. 

3)  Hesych.  s.  v. 

4)  Diomedes  III  p.  482  Historice  est  qua  narrationes  et  genealogiae  cou- 
ponuntur  ut  est  'Jia'.ö5o'j  '(iy>rx:y.ü)v  v.rxzä.).o-^oz  et  similia,  vgl.  Hermesiauax 
V.  22;  Eumelos  heisst  i:oiY,f>);  btoptxö;  Schol.  Pind.  Ol.  13,  74  (Hieron.  ad 
Ol.  '.K  2  j).  83  Heb.  E.  Corinthius  ver  sificat  o  r  agnoscitur). 


Die  homerische  uud  hesiodische  Schule.  243 

Wenn  wir  von  den  Thateu  der  Menschen  zu  denen  der 
Götter  übergehen,  tritt  uns  dasselbe  Prinzip  entgegen.  Die 
Jonier  betrachten  sie  vom  epischen  Gesichtspunkte,  die  Mittel- 
grieclien  vom  genealogischen  ;  der  Peloponnes  steht  wahrschein- 
Hch  wieder  in  der  Mitte. 

Was  endlich  die  Lehrdichtung  anbelangt,  so  gelangen  nur 
die  Böoter  zu  eigentlichen  didaktischen  Gedichten,  während  die 
Jonier  sich  mit  kurzen  Sprüchen  begnügten. 

Die  Alten  liebten  es,  Extreme  einander  gegenüberzustellen  ; 
llias  und  Erga  wurden  auf  diesem  Wege  zu  Repräsentanten 
der  verschiedenen  Richtungen.  Darum  sagte  Alexander  der 
Grosse,  Homer  habe  für  Könige,  Hesiod  für  Bauern  gedichtet^) 
und  Kleomenes  von  Sparta  that  einen  ähnlichen  Ausspruch  mit 
Bezug  auf  Spartaner  und  Heloten.^)  Um  diese  prinzipielle  Ver- 
schiedenheit von  Idealem  und  Realem  drehte  sich  der  mythische 
Wettkampf  beider  Dichter,  wie  ihn  die  Rhetoreu  seit  Alkida- 
mas  darstellten.  In  Wirklichkeit  standen  sich  die  Gegensätze 
nicht  so  schroff  gegenüber.  Darum  stritten  die  Grammatiker 
häufig  über  die  Heimat  der  Epen,  darum  fanden  sie  bei  Homer 
Stellen,  die  sie  an  Hesiod  erinnerten  und  in  der  That  eine 
Mitarbeit  anderer  hellenischer  Stämme  an  der  Ausbildung  des 
jonischen  Epos  beweisen;  daraus  erklärt  sich  endlicb  die  Rück- 
strömung, welcher  das  genealogische  Gedicht  des  Samiers  Asios 
entsprang. 


1)  Dio  or.  2  §  8. 

2)  Plut.  apophth.  Lac.  p.  223  a.     Ael.  v.  h.  13,  19. 


16* 


9.  Kapitel 

Die  alte  Elegie  und  die  jambisch- 
trochäische  Dichtung. 

Ursprung  der  Elegie  —  Dialekt,  Metrum,  Strophenbau  —  Einführung  in  die 
Literatur  —  Kallinos  —  Tyrtaios  —  Mimnermos  —  Solon  —  Andere  der 
sieben  Weisen  —  Demodokos  —  Theognis  —  Ursprung  des  Jambos  —  Archi- 
lochos  —  Simonides  von  Amorgos  —  Hipponax  —  Ananios,  Diphilos  uud 
Herodas  —  Aristoxenos. 


Wie  wir  sahen,  musste  der  Hexameter  wider  seine  Natur 
auch  nicht  epischeu  Dichtungen,  wenigstens  soweit  sie  der 
Kunstliteratur  angehörten,  als  Versmass  dienen.  Doch  dieses 
unnatürliche  Verhältnis  änderte  sich  bald.  Dem  ruhigen  Klange 
der  die  Hexameter  begleitenden  Fhorminx  trat  zuerst  in  Jonien 
die  bis  zur  Aufregung  lebhafte  Flötenmusik  gegenüber,  nicht 
von  den  Griechen,  sondern  von  den  Phrygiern,  die  es  hierin 
bis  zur  Meisterschaft  gebracht  hatten,  erfunden.  Die  alten 
homerischen  Gesänge  kennen  sie  noch  nicht  und, auch  in  einer 
Interpolation  der  Doloneia  (K  13)  wird  die  Plöte  nur  als  In- 
strument der  Barbaren  erwähnt;  erst  in  der  Schildbeschreibung 
(S  495)  begleitet  sie  bereits  den  Reigen  griechischer  Tänzer, 
Sobald  einmal  die  Flötenmusik  einen  wichtigen  Platz  im  jonischen 
Leben,  dann  aber  rasch  im  griechischen  überhaupt  gewonnen 
und  die  Kithara  etwas  zurückgedrängt  hatte,  konnte  auch  die 
Alleinherrschaft  des  Hexameters  in  der  Kunsthteratur  nicht 
weiter  dauern.  Da  ihn  jedoch  die  lange  Gewohnheit  lieb  und 
wert  gemacht  hatte,  verstand  man  sich  nicht  sogleich  dazu,  ihn 
völlig  aufzugeben,  sondern  passte  ihn  vorläufig  dem  Flöten- 
rhythmus durch  Hinzufügung  des  leicht  beweglichen  Pentameters 
an.  Dass  das  Distichon  wirklich  in  Verbindung  mit  der  Flöten- 
rausik  entstand,    beweist   der  Name   IXs^eiov    ,,das   zum  eXeYOC 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  245 

gehörende";  sXsyoc  ist  aber  nichts  anderes  als  das  zur  Flöte 
gesungene  Lied  ^)  oder  genauer  die  Flötenmelodie  ^) ,  da  im 
Armenischen,  das  bekanntlich  dem  Phrygischen  enge  verwandt 
ist,  elegn  „Rohr"  (aoXöc)  heisst.  3)  Die  IXsYsia*)  werden  daher 
wenigstens  Anfangs  immer  zur  Flöte  gesungen;  Mimnermos 
war  als  Flötenspieler  berühmt*)  und  trug,  wie  wir  ausdrücklich 
hören ,  die  Kradiesweise  vor.  *')  Vielleicht  begleitete  die  von 
ihm  geliebte  Flötenspielerin  Nanno  den  Vortrag  seiner  Elegien.  '^) 
Dieselbe  Vortragsweise  gilt  für  die  Elegien  des  Archilochos.  ^) 
Ueberdies  stimmen  die  Zeugnisse  darin  überein,  dass  die  alten 
Aulöden  Dichtungen  im  elegischen  Versmasse  vortrugen.  ^) 
Pagegen  riefen  die  ethischdidaktischen  Gedichte  hier  eine  ähn- 
liche Umwälzung  wie  auf  dem  Gebiete  des  Hexameters  hervor. 
Wie  dort  der  Sänger  der  Erga  die  Kithara  aufgab  und  seine 
Verse  einfach  recitierte,  so  verzichteten  Xenophanes,  Phoky- 
lides  ^°),  Solon  und  Periandros  auf  Gesang  und  musikalische 
Begleitung.  ^^)  Auch  von  Theognis  wird  dasselbe  berichtet ;  doch 

1)  Didymos  bei  Schol.  Arist.  Av.  217  eXeYO-  o-  'tp^?  at)Xöv  ä^öfisvot 
•O-pvivo'.,  verkürzt  in  Orion  p.   58. 

2)  "E)>£-p?  (codd.  tks'(o:)  wird  von  Plutarch  mus.  4  ein  aulödischer  Nomos 
■des  Klonas  und  Polymnastos  genannt. 

3)  Bötticher  Arica  S.  34;  vgl.  die  armenischen  Ortsnamen  'EXey^'* 
iund  'EXsYOGuvY). 

4)  Selten  heissen  die  Distichen  hXz-fslai  (Nietzsche  Rhein.  Mus.  22,  182). 

5)  Hermesianax  V.  37. 

6)  Hipponax  bei  Plut.  mus.  8  (Hesych.  v.  KpaSifj!;  vojaoc).  Strabo  13,  442. 

7)  Suidas  nennt  auch  den  Tyrtaios  iKz'ft'.oKfj'.b'i  xal  aöXfjxrj;,  vgl.  Plnt. 
inst.  Laced.  16. 

8)  Chamaileon  bei  Athen.  14,  620  c  (|j.£>.u)0-rjO"riva:  heisst  nicht  „sie  wurden 
Jiomponiert",  sondern  sie  wurden  melisch  gesungen). 

9)  Plut.  mus.  8,  der  sich  auf  die  nava^Yjvaitov  YP^'fh  *h  '^'P'  '^°"  fJ.ooa'.v.o'j 
ä-^öiwz  beruft;  den  Sakadas  nennt  er  TCOiYjx-rj-;  eXsY^^'wv  }iEta7ts7co:T||j.£vu»v. 
Paus.   10,  7,  3  IXs'^sZr/.  irpoaaoojJLcva  xolc  rxb\olz. 

10)  Chamaileon  a.  O.  berichtet  von  ihm  das  Gegenteil;  aber  woher  konnte 
•es  der  gelehrte  Philosoph  besser  wissen.     Doch  nur  durch  Kombination? 

11)  Athen.  14,  632  d,  nach  Rohde  de  Jul.  PoU.  in  app.  scaen.  enarr. 
fontt.  p.  46  adn.  aus  einem  Metriker,  der  schwerlich  vor  dem  ersten  christ- 
lichen Jahrhundert  lebte,  geschöpft.  Rohde  der  griech.  Roman  S.  139,  1 
schenkt  der  Ueberlieferung  keinen  Glauben;  Susemihl  Jahrbb.  109,  651  ff. 
und  Hiller  Bursians  Jahresber.  1879  III  154  verteidigen  sie  dagegen  und 
Flach  I  159  flf.  schlägt  einen  Mittelweg  ein.  Plutarch  Sol.  8  behauptet,  dass 
Solon  die  Elegie  Salamis  gesungen  habe,  was  wohl  möglich  ist.  Vgl.  Aristid. 
or.  46  p.  641  und  Luc.  Timon  c.  46. 


246  9-  Kapitel. 

widersprechen  dem  anscheinend  Verse  des  Theognis  (241  f.  5o3.. 
825.  945).  Der  Widerspruch  lässt  sich  aber  leicht  durch  die 
Erklärung  heben,  dass  die  erotischsympotischen  Elegien  Flöten- 
begleitung hatten,  während  die  hauptsächlich  paränetischen 
recitiert  wurden.  Zweideutig  ist  ein  rotfiguriges  Vasenbild  von 
Vulci^):  Ein  bärtiger  Mann  mit  Stab  steht  auf  einer  Tribüne 
und  spricht:  '^ßSs  ttot'  sv  Ttpov^t;  seinen  Vortrag  begleitet  ein 
Jüngling  auf  der  Flöte. 

Die  Elegie  ist  also  jedes  zur  Flöte  gesungene  Lied  und 
umfasst  demgemäss  das  ganze  Gebiet  dieser  Musikgattung,  also 
alle  lebhaften  Gefühle^):  ausgelassene  Freude  (z.  B.  beim  Gast- 
mahl) °) ,  tiefen  Schmerz ,  Liebeslust .  Kampfesmut  —  denn  die 
Spartaner  und  Arkader  ^)  zogen  unter  Flötenschall  in  die  Schlacht 
—  und  Trauer  um  die  Toten.  Der  klagende  Ton  wurde  erst 
in  der  alexandrinischen  Zeit  herrschend  und  verdrängte  die 
übrigen  so,  dass  er  auch  die  Definitionen  aller  Grammatiker 
beeinflusste,  wozu  die  seltsame  Eltymologie  i  s  Xs^etv  nicht  wenig 
beitrug. 

Die  Elegie^)  ist  demnach  keine  bestimmt  begrenzte  Gattung 
der  Poesie,  sondern  eine  Zwitterart,  die  zwischen  Epos  und 
Lyrik  steht  ^) ;  denn  sie  umfasst  das  ganze  unbestimmte  Gebiet, 
das  nicht  dem  Epos  und  andererseits  weder  der  chorischeii 
noch  der  subjektiven  Lyrik  angehört.  Die  ausgebildete  Kunst 
des  Epos  übt  daher  von  vornherein  einen  starken  Druck  auf 
die    Elegie    aus    und    lässt    sie    nicht    recht    aufblühen.     Die 


1)  Mon,  d.  Inst.  5,  6  (cfr.  CIG.  7980). 

2)  Die  Flötenmusik    ist    nach   Arist.    polit.  8,  6    nicht  -rjt^txöv,    sondern 

3)  Beim  Komos  ist  die  Flöte  stehend. 

4)  Polyb.  4,  20,  12. 

6}  W.  E.  Weber  die  elegischen  Dichter  der  Hellenen  nach  ihren  Ueber- 
resten  übersetzt  und  erläutert,  Frankfurt  1826;  Härtung  die  griechischen 
Elegiker,  griechisch  mit  metrischer  Uebersetzung,  Lpz.  1858—9,  2  Bde.; 
Hertzberg  der  Begriff  der  antiken  Elegie  in  bist.  Entwickluug,  Prutz' 
literarisch-historisches  Taschenbuch  HI  (1845)  S.  204  ff.  IV  (1846)  S.  125  ff.; 
Bach  de  lugubri  Graecorum  elegia  I,  II.  Breslau  1835-36,  de  symposiaca 
Graecorum  elegia,  Fulda  1837,  quaestionum  elegiac.  spec.  I.  Fulda  1839,  bist. 
crit.  poesis  Graecorum  elegiacae,  Fulda  1840;  Fragmente  nach  Schneid ewin 
delectus  poesis  Graecorum  elegiacae  iambicae  melicae  I.  Göttingen  1838^ 
Bergk  poetae  lyrici  Graeci  II*  Lpg.  1882. 

6)  Hanpt  opnscula  HI  205. 


Die  alte  Elegie  wucl  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  247 

Elegiker  nahmen  von  jenem  die  ganze  Sprache,  in  die  sich  nur 
schüchtern  Spuren  der  einheimischen  Mundart  mischen.^)  Bei 
KalHnos  und  Mimnermos  sind  es  die  Formen  xors  und  xok,  bei  den 
Attilvern^)  und  jedenfalls  auch  bei  allen  Doriern  (Tyrtaios  natürlich 
nicht  ausgenommen) '')  A  in  den  Wörtern,  wo  H  den  asiatischen 
Joniern  eigen  ist.  Ferner  machten  sich  die  elegischen  Dichter 
auch  den  Reichtum  der  epischen  Formeln  wohl  zu  nutze. '^j 
Wenn  ich  recht  empfinde,  gereichte  dies,  weil  die  epischen 
Formeln  für  das  raschere  Versmass  zu  schwer  waren,  der  Elegie 
nicht  zum  Vorteil.  Ueberdies  liebten  es  die  griechischen  Elegiker, 
Gedanken  in  Rede  und  Gegenrede  zu  erörtern.  "Wenngleich 
sich  die  Antithese  hie  und  da  angewendet  hübsch  macht,  wäre 
bei  häufigerem  Gebrauche  die  Knappheit  des  orientahschen 
GliederparalleHsmus  notwendig;  aber  das  Distichon  hat  keinen 
Abschluss. 

Die  älteren  Elegiker  betrachteten  nämlich  Hexameter  und 
Pentameter  nicht  als  eine  Strophe,  da  ja  der  zweite  Vers  die 
Hexameter  nicht  scheidet,  sondern  sie  vielmehr  in  anmutiger 
Weise  verknüpft,  wie  bei  Schmuckketten  kleinere  Glieder  die 
Einförmigkeit  der  grossen  zierlich  unterbrechen.  ^)  Der  breite 
Satzbau  ruft  sehr  oft  Konflikte  zwischen  Vers-  und  Satzabsclmitt 
],iervor;  die  Dichter  bemühen  sich  sogar  anscheinend  manchmal, 
den  Schluss  des  Satzes  in  den  folgenden  Vers  hinüberzuziehen. 
Im    völligen  Gegensatz    hiezu    isolierten   die  Alexandriner   und 


1)  Vgl.  die  sorgfältigen  Zusamraenstellungen  von  Joh.  Kenner  quaestiones 
de  ilialecto  anticxuioris  Graecorum  poesis  elegiacae  et  iambicae,  Curtius 
Studien  I  1,  134  ff.  2,  1  fi.,  dazu  Sitzler  Jahrbb.  125,  504  ff.  Die  Resultate 
sind  freilich  nicht  immer  zu  billigen. 

2)  Kirchhoff  Hermes  5,  48  ff.  und  Cauer  Curtius'  Studien  8,  244  ff. 

3)  Dies  beweisen  die  Inschriften.  Gerade  die  Dorier  wenden  auf  Steinen 
häufig  lokale  Formen  an,    z.  B.  Eöhl  37   3-d5'.ov,  vwtj  ,  329  ßapväjiEvoc ,  340 

TÜjJ.([i)cU    U.     S.    W. 

4)  Eenner  über  das  Formelwesen  im  griechischeu  Epos  und  epische 
Kemiuiscenzen  in  der  älteren  griechischen  Elegie,  Ljig.   1872. 

5)  Der  Pentameter  ist,  auch  wo  er  vom  Hexameter  getrennt  ist  (Christ 
Metrik  ''211),  immer  nur  Bindeglied;  Ausnahmen  machen  blos  ausser  Aesch. 
Choeph.  380  und  Künsteleien  der  Kaiserzeit  zwei  alte  Inschriften  bei  Riihl 
inscr.  Gr.  antiquissimae  542  (Poseidouia)  und  588  (auf  einer  Lampe).  In 
einer  abderitischeu  Weihinschrift  (Röhl  349j  fügte  der  Künstler  seinen  Namen 
in  einem  Pentameter  zu  dem  Widmungsepigramm. 


248  9-  Kapitel. 

ihre  Nachahmer  das  Distichon  mit  Vorliebe;  besonders  Ovid 
betrachtete  es  als  abgegrenzte  Strophe.^)  Dafür  nehmen  manche 
Gelehrte  eine  symmetrische  Gliederung  der  älteren  Elegie  mit 
grossen  Sinnstrophen  an.  In  solche  versuchte  H.  Weil^)  eine 
Elegie  des  Solon  (fr.  13)  zu  zerlegen,  was  O.  Hense  in  ver- 
besserter Form  wieder  aufgriff.  ^)  Er  nahm  zunächst  zwei  Teile 
von  je  yiermal  acht  Versen  und  zwölf  Verse  als  Schluss  an. 
Noch  bedenklicher  erscheint  der  Versuch ,  dasselbe  Gedicht 
nach  Art  des  terpandrischen  Nomos  zu  gliedern.  *)  Bergk 
verhielt  sich  mit  Recht  gegen  alle  diese  modischen  Liebhabereien 
ablehnend. 

Der  Ursprung  der  Elegie  ist  im  Volke  zu  finden,  während 
die  Alten  nach  dem  bekannten  Spruche  des  Horaz  (a.  p.  77) 
darüber  stritten,  welcher  Dichter  sie  erfunden  habe.  Wir 
müssen  vielmehr  die  Frage  stellen  :  Wer  hat  die  Elegie  zuerst 
in  die  Literatur  eingeführt  und  sie  künstlerisch  verwertet?^) 
Die  Alten  waren  bei  der  Beantwortung  der  Frage  nicht  besser 
als  wir  gestellt,  weil  sie  sich  blos  auf  historische  Anspielungen, 
die  wir  ebenso  gut  kennen,  stützten.  Kallinos  erwähnte  einen 
Einfall  der  Sardes  zerstörenden  Kimmerier  (Fr.  3.  5)  und  Trerer 
(Fr.  4);  ausserdem  sprach  er  von  den  Kriegen  zwischen  Mag- 
nesia  und  Ephesos,    worin    erst  jenes  glücklich   war  ^),    bis  es 


1)  Wei  se  quaestiones  Tibulliauae,  Bonn  1864 ;  nur  auf  ein  solches  Distichon 
bezieht  .sich  natürlich  das  bekannte  Epigramm  Schillers,  üeber  das  Distichon 
vgl.  Arn.  Langen  de  disticho  Graecorum  elegiaco  I.  Breslau  1868;  F.  C. 
Hultgren  observationes  metricae  in  poetas  elegiacos  Graecos  et  Latinos, 
Lpg.  1871—72  (Pr.);  Drobisch  über  die  Klassifikation  der  Formen  des 
Distichons,  Berichte  der  sächs.  Ges.  23  (1871)  S.  1  ff. 

2)  Ueber  Spuren  strophischer  Composition  bei  den  griechischen  Elegikern, 
Rhein.  Mus.  17,  1  ff. 

3)  Rivista  di  filologia  1874  S.  305  ff.  Analoges  versuchte  G.  H.  Bu- 
bendey  die  Symmetrie  ^er  römischen  Elegie,  Hamburg  1876;  vgl.  Mülleu- 
hoff  allg.  Monatsschrift  für  Wissensch.  u.  Literatur  1864  März  und  Hermes 
13,  423  f. 

4)  E.  V.  Leutsch  Philol.  31,  150  ff.,  vgl.  32,  17  ff. 

6)  J.  Val.  Francke  Callinus  sive  quaestt.  de  origiue  carminis  elegiaci, 
Altena  1816;  Fr.  Thiersch  Acta  philol.  Monac.  III  669  ff.;  Cäsar  de 
carminis  Graecorum  elegiaci  origine  et  notione,  Marburg  1837,  Nachtrag  1841, 
quaestiones  de  Callini  poetae  elegiaci  aetate  supplementum,  Marburg  1876; 
Geiger  Acta  sem.  Erlangen.si.s  1,  72  ff.  472;  E.  Robde  Rhein.  Mu.s.  33, 
194  f.;  Geizer  Rhein.  Mus.  30,  249  ff.  259;  Clemm  Jahrbb.  127,  3. 

6)  Strabo  14,  647,  vgl!  Fr.  2. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  249 

wegen  der  Weichlichkeit  seiner  Bürger  den  Ephesiern  erlag.  ^) 
Von  Archilochos  enthalten  dagegen  blos  zwei  Yei'se  historische 
Anspielungen.  Fr.  20  xXaiw  xa  Öaaowv,  oo  ta  MaYVYjtwv  xaxa 
und  Fr.  25,  1  od  [loi  ta  Foysco  toö  TcoXayjiooou  {liXsi;  aus  letz- 
terem erhellt  blos,  dass  Archilochos  vor  Krösus  lebte,  sonst 
hätte  er  diesen  als  den  reichsten  Fürsten  genannt.  Trotzdem 
richteten  sich  im  Altertum  fast  alle  chronographischen  Ansätze 
des  Dichters  nach  der  Regierung  des  Gyges.  ^)  Wichtiger  ist 
die  andere  Aeusserung ;  denn  dass  Magnesias  Unglück  bei  den 
Joniern  sprichwörtlich  war,  veranlasste  gewiss  die  zweimalige 
Eroberung  der  Stadt,  nicht  blos  die  Erstürmung  durch  die 
Ephesier,  welche  ohne  Zweifel  nicht  so  fürchterlich  wie  die 
barbarischen  Kimmerier  hausten.  Während  aber  Kallinos  die 
Ereignisse,  die  er  schilderte,  sicherlich  erlebte,  liegt  für 
Archilochos  in  dem  zweiten  Falle  von  Magnesia  blos  ein  ter- 
minus  post  quem.  Kallinos  scheint  also  vor  Archilochos  gelebt 
und  gedichtet  zu  haben.  Bei  Archilochos  ruht  ja  auch  der 
Schwerpunkt  seiner  poetischen  Wirksamkeit  im  Jambos  ,  wes- 
halb er  als  Jambendichter  besprochen  werden  wird ;  daher  hat 
ev  schwerlich  die  Elegie,  die  bei  ihm  nur  nebensächlich  ist, 
«ingeführt. 

Den  Kallinos^)  von  Ephesos  führte  zur  elegischen  Dichtung 
die  kriegerische  Zeit.  Rings  um  Ephesos  wüteten  Kämpfe,  in 
die  auch  seine  Heimatstadt  jeden  Augenblick  hineingezogen 
werden  konnte,  und  doch  lebten  Kallinos'  Mitbürger  so  sorglos 
weiter ,  wie  wenn  überall  der  tiefste  Friede  wäre ;  seinen  Un- 
willen hierüber  drückte  er  in  der  ersten  Elegie  aus.  Weil  nach 
V.  4  bei  Stobaios,  der  das  Fragment  mitteilt,  etwas  ausgefallen 
ist,  sprach  Thiersch'^),  von  der  inneren  Verwandtschaft  ver- 
leitet, die  Vermutung  aus,  V.  5 — 21  gehörten  dem  Tyrtaios; 
die  Aehnlichkeit  der  Gedanken  entspringt  jedoch  mit  Not- 
wendigkeit aus  der  Gleichheit  des  Stojffes.  Uebrigens  steht  V.  12 
in   allen  Handschriften   (ausser  A)   die  jonische  Form  xwc,  die 


1)  Athen.  12,  525c;  Härtung  I  32  f.  legt  Theogn.  603  f.  dem  Kallinos  bei. 

2)  Rohde  Rhein.  Mus.  33,  194  flf.,  bei  Eusebios  Ol.  29,  3  (Synk.),  28,4 
(armenisch  und  Hieron.),  28,  3  (Hier.  AF)  oder  29,   1   (Hier.  PR}. 

3)  Callinous    Ter.    Maur.    1722.    Welckers    Deutung   KaXXiXivoi;     ist    un- 
wahrscheinlich.  ' 

4)  Acta  philol.  Monac,  3,  576  fi. 


250  9-  Kapitel. 

keinen  Zweifel  an  der  Autorschaft  des  KalUnos  übrig  lässt.  Nichts 
desto  weniger  stammen  jene  Verse  schwerlich  aus  dem  gleichen 
Gedichte;  oder  droht  nicht  im  ersten  Teile  der  Krieg  blos  aus 
der  Ferne,  wogegen  wir  mit  dem  zweiten  Teile  mitten  im 
Kampfe  stehen?  Erfüllte  sich  doch  die  Ahnung  des  Kallinos 
nur  zu  rasch !  Zunächst  von  Magnesia  angegriffen,  kamen  die 
Ephesier  in  eine  so  schHmme  Lage,  dass  der  Dichter  Zeus 
durch  eine  besondere  Elegie  um  Erbarmen  anflehte  (Fr.  2).  ^) 
Wandte  sich  hier  bald  der  Kampf  zum  Guten,  so  Hessen  die 
verheerenden  Einfälle  der  Kimmerier  Epbesos  nicht  zu  Ruhe 
kommen.  Kallinos  ermunterte  seine  Mitbürger  in  einfacher 
aber  kräftiger  Sprache  und  ging  nach  fr.  6 — 8  in  die  Vorzeit 
zurück,  um  ihren  Mut  durch  die  Thaten  der  Vorfahren  wieder 
aufzurichten. 

In  späterer  Zeit  waren  die  Gedichte  des  Kallinos  fast  ganz 
vergessen ;  von  acht  Fragmenten  ,  unter  denen  nur  das  erste 
von  Stobaios  erhaltene  nennenswert  ist,  stehen  fünf  bei  Strabo, 
der  sie  wahrscheinlich  aus  dem  Antiquar  Demetrios  von  Skepsis 
schöpfte.  Härtung  fühlte  sich  bemüssigt,  dem  Kallinos  Kriegs- 
lieder überhaupt  abzusprechen ,  wofür  er  ihn  mit  Theognidea 
V.  235  f.  und  603  f.  entschädigen  wollte.  Gegen  die  Angriffe 
Bernhardys^)  nimmt  ßergk  das  erste  Fragment  geschickt  in 
Schutz. 

Ausser  dessen  Fragmentensammlung  in  den  Poetae  lyrici 
Graeci  II  ^  3 — 7  ist  von  älteren  Leistungen  zu  erwähnen,  dass 
Bach   die  Bruchstücke   des  Dichters  Leipzig  1831    herausgab."^) 

Reichere  Proben  der  hellenischen  Kriegspoesie  besitzen  wir 
aus  der  Zeit  des  zweiten  messenischen  Krieges.  Ueber  Tyrtaios*) 
erzählte  die  fable  convenue^),  das  delphische  Orakel  habe  den 
verzweifelnden  Spartanern  aufgetragen,  von  den  Athenern  einen 


1)  Strabo  14,  633  ö  TTpö-;  Aia  \r)-(0(;. 

2)  Griechische  Literaturgeschichte  11^  1,  418. 

8)  Callini  ICphesii  Tyrtaei  Aphidnaei  Asii  Samii  carniiuum  quae  supersnut, 
Lpg.  1881,  Nachtrag  1832. 

4)  Die  Handschriften  schwanken  zwischen  Topxato?  und  Tuptato^;  Pott 
Knhns  Zeitschrift  6,  141  erklärt  den  Namen  als  •reTaptatoc.  Vgl.  Aug.  Mat- 
thiä  diss.  de  Tyrtaei  caruiinibus,  Altenburg  1820;  Nie.  Bach  über  Tyrtäos 
nnd  seine  Gedichte,  Breslau  1830. 

6)  Schon  Plato  leg.  1,  629  a  (mit  Scbol.),  Lycurg  in  Leoer.  28,  ebenso 
Philocboros  und  viele  andere,  besonders  Paus.  4,  15,  6. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  251 

Katgeber  zu  erbitten.  Diese  hätten  ihnen  aber  zum  Spotte 
Tyrtaios,  einen  lahmen  Schulmeister^)  mitgegeben;  in  die 
Bürgerschaft  eingetreten  hob  dieser  wider  Erwarten  ihren  Mut 
durch  Elegien  und  anapästische  Embaterien  so  sehr,  dass  die 
Spartaner  ihm  den  Sieg  über  die  Messenier  verdankten.  Thiersch 
unterzog  diese  üeberlieferung  einer  einschneidenden  Kritik, 
indem  er  auf  eine  Stelle  des  Herodot  (9,  35)  hinwies.  ^)  Dieser 
erklärt  ausdrücklich,  den  Seher  Tisamenos  und  seinen  Bruder 
Hegias  hätten  die  Spartaner  allein  von  allen  Menschen  mit 
ihrem  ängstlich  gehüteten  Bürgerrechte  geehrt;  er  weiss  also 
von  einer  Aufnahme  des  so  berühmten  Tyrtaios  nichts.  Schon 
Strabo  (8,  362)  entging  es  andererseits  nicht,  dass  sich  dieser 
in  seinen  Gedichten  (z.  B^.  fr.  2)  als  Spartaner  gerierte;  ein 
Fremder  hätte  gewiss  nicht  mit  so  echt  spartanischem  Stolze, 
wie  es  Tyrtaios  that,  geredet.  Was  er  sagt,  sind  die  Worte 
eines  Feldherrn ^)  und  leitenden  Staatsmannes,  der  mit  dem 
Bewusstsein  seiner  AVürde  zum  Volke  spricht.  Da  die  ürsprungs- 
zeit  der  Legende"*)  durch  Herodot  deutlich  begrenzt  ist,  müssen 
wir  uns  an  die  kläglich  endende  Hilfeleistung  der  Athener 
vniter  Kimon  erinnern  ;  der  übertriebene  Stolz  der  Bürgerschaft 
wollte  die  erlittene  Schlappe,  da  es  in  der  Gegenwart  nicht 
möglich  war,  durch  ein  Ereignis  der  halbmythischen  Zeit  wett- 
machen. Es  ist  nicht  die  einzige  patriotische  Lüge,  die  im 
perikleischen  Zeitalter  den  Beifall  der  Athener  fand.  Wahr- 
scheinlich benutzte  man  die  doppeldeutige  Angabe,  dass  Tyr- 
taios aus  Aphidna  (in  Wirklichkeit  aus  dem  lakonischen  Orte) '"} 
stammte ,  zu  einem  notdürftigen  Beweise.  Wenn  einer  der 
beiden  Staaten  von  dem  andern  einen  Elegiendichter  erborgen 
musste,  war  es  ohne  Zweifel  Athen,  in  dem  das  Flötenspiel  nie 
recht  aufblühte ;    dagegen    übten   es   die  Spartaner    sehr  fleissig 


1)  Dies  beruht  auf  der  Zweideutigkeit  von  o:oä-v.aXo?,  die  Lahmheit 
dagegen  hat  gewiss  ein  Komiker  aufgebracht. 

2)  Acta  philol.   Mouac.  3,  587  fl". 

3)  Fr.  8.  Lycurg  1.  c.  Philoch.  bei  Athen.  14,  630  f.  Strabo  1.  c.  Diod. 
15,  67.  Tzetzes  Chil.   1,  692;  vgl.  Polyaen.  1,   17. 

4)  Ueber  die  Heimat  des  Dichters  Schwepfinger  de  patria  Tyrtaei, 
Isenb.  1842;  A.  Hölbe  de  Tyrtaei  patria,  Dresden  1864;  Kohlmann  quae- 
stioues  Messeniacae  p.  31  K 

5)  Nur  von  Steph.  Byz.  genannt;  wahrscheinlich  feierte  es  Tyrtaios  irt 
einem  seiner  Gedichte. 


252  9-  Kapitel. 

und  Ijatten  schon  vor  Tyrtaios  durch  den  Kolophonier  Poly- 
mnastos  die  aulödischen  Nomen  kennen  gelernt.^)  Es  wäre  also 
viel  auffallender,  wenn  Tyrtaios  in  dem  damals  noch  in  festem 
Geistesschlafe  ruhenden  Attika  gedichtet  hätte.  Suidas  sagt 
aber  von  ihm  Aaxwv  ri  M  i  X  tj  o  t  o  ?  !  Nach  dem  bisher  gesagten 
ist  Welckers  Behauptung  ^),  Tyrtaios  sei  von  Milet  als  homerischer 
Rhapsode  nach  Athen  gekommen,  unwahrscheinlich.  Wir 
können  nur  irgend  einen  ungeheueren  Missgriff  des  Suidas 
^hnen.  ^) 

So  viel  steht  fest,  dass  Tyrtaios  im  zweiten  messenischen 
Kriege  eine  hervorragende  Thätigkeit  entwickelte;  die  Chrono- 
graphen bestimmen  daher  nach  dem  Anfange  des  Krieges  seine 
Blütezeit.^)  Er  verband  das  Amt  des  Feldherrn  mit  der  Poesie; 
durch  kurze  anapästische  ^)  Marschlieder  (i[xßaT7Jpta)  in  dorischem 
Dialekte,  die  das  ganze  Heer  unter  Flötenbegleitung  sang,  be- 
geisterte er  es  unmittelbar  vor  dem  Kampfe.  Sicher  von  Tyr- 
taios ist  jedoch  nur  fr.  15,  das  in  einfachen  Worten  zum 
tapferen  Kampfe  auffordert  und  die  Handgriffe  einschärft.^) 
Durch  Elegien  aber,  die  er  beim  fröhlichen  Mahle  abends  vor- 
trug, —  während  des  Gelages  erfreuten  sich  ja  die  Griechen 
am  Flötenspiele  —  wirkte  Tyrtaios  auf  die  moraHschen  Grund- 
lagen der  Tapferkeit,  auf  das  Ehr-  und  Pflichtgefühl  und  die 
innere  Zuversicht.  Von  diesen  Gedichten,  die  man  später 
«TToO'f^xat  nannte,  besitzen  wir  ausser  zwei  kleineren  Fragmenten 
drei  wahrscheinlich  vollständige  Elegien,  Sie  verherrlichen  alle 
die  Tapferkeit,  indem  sie  den  E-uhm  des  Mutigen  ausmalen 
und  ein  abschreckendes  Bild  von  der  Schande  der  Feigheit 
entwerfen.  Die  Gesinnung  ist  edel  und  echt  spartanisch,  was 
für  die  nicht  zu  leugnenden  poetischen  Mängel  entschädigt.  Den 


1)  Zur  Zeit  des  Alkman  (fr.  112)  hielten  sich  mehrere  phrygische  Flöten- 
bläser in  Sparta  auf. 

2)  Der  epische  Cyclus  1,  317  f. 

3)  Graue rt  in  Aristidis  declam.  Leptiu.  p.  124  denkt  an  den  attischen 
Gan  Miletos. 

4)  Suidas  Ol.  35,  Eusebios  lateinisch  Ol.  36,  4  (Myrt«us,  Ol.  36,  3  A), 
armenisch  (Timaeus)  und  Hier.  F  Ol.  37,  1  und  bei  Synkello.s  (Muptaloc) 
Ol.  87,  4.     Vgl.  Schwepfinger  de  aetate  Tyrtaei,  Isenb.  1835. 

6)  Die  katalektischen  anapästischen  Tetrameter  hiessen  metruni  Laconicum. 
6)  Die  Worte   des  Suidas   ß-.ßXia  i    beziehen    sich  natürlich  auf  alle  Ge- 
dichte de«  Tyrtaios;  Fr.  16  schreibt  Bergk  willkürlich  Alkman  zu. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  253^ 

Spartanern  drohten  damals  ausser  den  Einfällen  der  Messenier 
ernste  Gefahren  im  Inneren.  Weil  die  Bürgerschaft  den  be- 
denklichen Beschluss  gefasst  hatte,  die  an  Messenien  grenzenden 
Ländereien  sollten  vorläufig  nicht  mehr  bebaut  werden,  entstand 
Getreidemangel  und  zugleich  ein  Aufruhr  der  von  jener  Mass- 
regel betroffenen  Bürger;  sie  verlangten  sogar  eine  neue  Ver- 
teilung der  Aecker,  was  bei  der  eigentümlichen  Verfassung  der 
Spartaner  den  Staat  in  seinen  Grundfesten  erschüttert  hätte. 
Da  trat  Tyrtaios  mit  einer  grossen  Elegie  (Fr.  1 — 9),  welche 
die  Späteren  cDVO[Aia  oder  nokixtla  betitelten,  auf  und  erzielte 
den  grossartigen  Erfolg,  dass  auf  sein  Zureden  die  xAufregung: 
sich  legte.  ^)  Nicht  umsonst  appellierte  er  an  den  frommen 
Glauben,  dass  Zeus  selbst  seinen  Enkeln  Sparta  verliehen  und 
Apollo  die  Existenz  des  Staates  gewährleistet  habe;  aber  er- 
mahnte auch  von  dem  törichten  Beschlüsse  ab  und  forderte 
an  die  glückliche  Eroberung  Messeniens  erinnernd  zum  Aus- 
harren auf. 

Tyrtaios'  Gedichte  ^)  sind  nicht  eigentlich  Poesie ;  denn  es- 
gibt  ja  in  Wirklichkeit  überhaupt  weder  eine  politische  noch 
eine  rein  didaktische  Poesie.  Trotzdem  genossen  sie  wegen 
ihrer  Gesinnungstüchtigkeit  hohes  Ansehen,  zuvörderst  natürlich 
bei  dem  Volke,  dessen  Geist  sie  getreu  abspiegelten.  Die 
Lakedämonier  hatten  die  Gewohnheit,  die  Embaterien  fort  und 
fort  in  der  Schlacht  zu  singen  ^) ;  die  Elegien  aber  trugen  ein- 
zelne im  Bivouac  vor  und,  wer  es  am  besten  verstand,  empfing 
vom  Polemarchen  ein  besonderes  Stück  Fleisch  als  Belohnung. '')• 
Von  Lakedämon  kamen  die  Gedichte  nach  Kreta  ^)  und  Athen ;, 
sie  wurden  aber  wenig  gelesen  und  gingen  wahrscheinlich  früh 
unter.  Ausser  den  Sentenzensammlern  berücksichtigten  sie  fast 
nur  Philosophen  ^)  und  Historiker.  Die  Fragmente  stehen  ausser- 


1)  Arist.  pol.  5,  6,  2;  Paus.   4,  18,  1. 

2)  Thiersch  Acta  philol.  Monac.  3,  640  ff.  stellt  die  eigentümliche 
Ansicht  auf,  das  überlieferte  rühre  nicht  von  Tyrtaios,  sondern  von  später 
lebenden  Spartanern  her;  er  vermag  jedoch  diese  Hypothese  nicht  einmaL 
wahrscheinlich  zu  machen. 

3i  Aristox.  bei  Ath.   14,  630  f. 

4)  Philoch.  bei  Ath.  a.  O. 

5)  Plato  leg.   1,  629  b. 

6)  Plato  (Bergk  Rhein.  Mus.  3,  213  f.),  Aristoteles  und  Chrysippos- 
(Bergk  zu  Fr.   14). 


^54  ^-  K^apitel. 

bei  Bach^)  am  besten  bei  Bergk  IP  p.  8—22;  zu  dem  langen 
fr.  10  ist  eine  neue  Kollation  des  Oxoniensis  heranzuziehen.  ^) 
Unter  den  Uebersetzern  geniesst  Barodet^)  den  besten  Ruf; 
enge  an  Tyrtaios  lehnt  sich  Zinkgref  in  ,, Vermahnung  zur 
Dappferkeit  nach  Form  und  Art  der  Elegien  des  Grichischen 
Poeten  Tyrtäi"  an. '') 

In  völlig  andere  Bahnen  lenkt  die  Elegie  mit  M  i  m  n  e  r  m  o  s.  ^) 
Mögen  die  Jonier  auch  immer  lebenslustiger  als  die  Dorier 
gewesen  sein,  so  haben  sie  doch  auch  in  Asien  lange  den 
männlichen  Sinn  ,  der  ihren  attischen  Brüdern  bis  nach  den 
Perserkriegen  blieb,  bewahrt.  Erst  das  Zusammenströmen  an- 
sehnlicher durch  den  Handel  erworbener  Reichtümer  und  die 
aus  wiederholten  unglückHchen  Kriegen  entspringende  moralische 
Entkräftung  machten  sie  für  die  Genüsse  Asiens  empfänglicher. 
Die  Scheidewand  zwischen  Joniern  und  Kleinasiaten  fiel  und 
■die  Weichheit  ihres  Sinnes  wurde  gleichzeitig  zur  Weichlichkeit. 
Am  schlimmsten  stand  es  in  Kolophon  ^) ;  hier  trat  als  der  erste 
öjffentliche  Vertreter  der  lydischen  Denkungsart  Mimnermos  auf 
Archilochos  hatte  seine  Liebe  noch  in  starken  Tönen  ausgesprochen 
und  den  Liebeszorn  vorwiegen  lassen.  Jetzt  treten  dagegen 
zärtliche  und  klagende  Liebeslieder  an  die  Stelle. 

Mimnermos  entstammte  einem  Geschlechte  Kolophons,  wie 
er  selbst  mitteilt  (Fr.  9):  , .Nachdem  wir  das  ragende  neleische 
Pylos  verlassen,  kamen  wir  hochgemut  in  das  hebhche  Kolophon 
und  von  dort  ausziehend  nahmen  wir  nach  der  Götter  Rat- 
schlüsse das  äolische  Smyrna."  Bei  dem  bekanntlich  sehr 
innigen  Verhältnisse  der  griechischen  Mutter-  und  Tochterstädte 
lässt  sich  nicht  ermitteln,  ob  Mimnermos  in  Kolophon  oder 
Smyrna  lebte;  er  erwähnt  beide  Städte.^)  Sein  Zeitalter  bestimmte 
man  nach  einem  Verse  des  Solon  ^) ;  denn  nachdem  Mimnermos 

1)  S.  260. 

2;  Blass  Jahrbb.  111,  597  ff. 

3)  Poi'sies  militaires  de  l'antiqnite,  Brux.  1835. 

4j  Von  W.  Braune  in  den  Neudruckeu  deutscher  Literatlirwerke  de.s  16. 
und  17.  Jahrhunderts  (Nr.  18  Halle  1879)  herausgegeben. 

6)  P.  Schöne  mann  de  vita  et  carminibus  Mimnermi  speo.  I.  Göttingen 
1823;  Chr.  Marx  de  Älimnermo  poeta  elegiaco,  Cösfeld  1831. 

6)  Xenophanes  Fr.  3;  Phylarchos  bei  Athen.  12,  526a. 

7)  Suidas  nennt  au.s.serdem  A.stypalaia  als  Heimat. 

8)  Roh  de  Khein.  Mus.  33,  201. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambiscli-troehäisclie  Diclituag.  255 

gesungen  hatte  ,, Sechzigjährig  möge  mich  das  Todesloos  ereilen", 
erwiderte  Solon,  er  hätte  sagen  sollen  „Achtzigjährig  möge  mich 
das  Todesloos  ereilen".  ^)  Wer  Solons  Blütezeit  auf  Ol.  47  ver- 
legte -),  konnte  annehmen,  dass  er  geboren  wurde,  als  Mimnermos 
in  seiner  axjxr]  stand;  so  erklärt  sich  die  Nennung  von  Ol.  37. 
Dann  wäre  jedoch  Mimnermos  schon  mindestens  sechzig  Jahre 
alt  gewesen,  als  Solon  ihn  ansang.  Die  Synchronisten  machten 
Mimnermos  zum  Zeitgenossen  des  Solon.  Die  eigene  Angabe 
des  Dichters  (Fr.  14,  2),  dass  er  den  Krieg  der  Smyrnäer  mit 
Gyges  nach  den  Berichten  der  Aelteren,  d.  h.  wahrscheinlich 
der  vorhergehenden  Generation  erzähle,  fördert  etwas  mehr. 
Er  ist  also  frühestens  unter  der  Herrschaft  des  Gyges  geboren. 
Jenes  Fragment  des  Solon  klärt  zugleich  über  den  Namen  des 
Vaters  auf,  weil  jener  ihn  AiYoaaräoY]  anredet.  Aeltere  und 
neuere  Gelehrte  wollten  allerdings  einen  symbolischen  Namen 
darin  erblicken,  weil  sie  die  patronymische  Form  unberück- 
sichtigt Hessen  und  in  dem  Worte  gar  Xqbc,  und  o^dziv  wieder- 
zufinden glaubten.  Von  den  Lebensumständen  des  Mimnermos 
wissen  Avir  nichts  w^eiter,  als  dass  er  die  Flötenspielerin  Nanno 
liebte^);  die  meisten  seiner  Elegien  sind  dieser  Liebe  und  dem 
Kummer,  den  ihm  teils  seine  ergrauenden  Haare  teils  zwei 
Nebenbuhler  (Hermobios  und  Pharokles)  dabei  verursachten, 
gewidmet,  weshalb  die  Grammatiker  die  ganze  Sammlung 
Navvw  nannten.*)  Einen  peinlichen  Eindruck  machen  die  fort- 
währenden Klagen  über  das  Alter,  dessen  Schrecken  der  Elegiker 
in  den  düstersten  Farben  und  mit  unerschöpflicher  Phantasie 
ausmalt  (V.  1,  5  ff.  2,  5  ff.  3.  4.  5,  5  ff.  Theognidea  1131  f.); 
es  stellt  ihm  nichts  anderes  als  Krankheit  und  hoffnungslose 
Liebesschmerzen  in  Aussicht.  Darum  möchte  er  mit  sechzig 
Jahren  schon  sterben  ;  übrigens  scheinen  die  Jonier  überhaupt 
so  gedacht  zu  haben,  .wenn  anders  wir  der  Nachricht  glauben 
dürfen,    dass    sich    auf  Keos   die  Greise    durch   Gift  zu  töten 


1)  Diog.  L.  1,  60. 

2)  So  lautet  die  erste  Angabe  des  Suidas. 

3)  Hennesianax  V.  35  flf.  Poseidippos  Anthol.  Pal.   12,  168. 

4)  Rtob.  ilor.  11,  1.  102,  3.  116,  33.  34.  Strabo  14,  G34.  Ath.  11,  470a. 
Sie  bestand  nach  Porphyrio  in  Hör.  ep.  2,  2,  101  aus  zwei  Büchern,  lieber 
die  Worte  des  Suidas  £'(^a'\is  ßtßXia  xaüxa  TzokKÖ.  Volkniaun  Symb.  philol. 
Bonn.  2,  727  ft; 


i 


25ß  9.  Kapitel. 

pflegteil.  ^)  Es  wäre  jedoch  ungerecht,  wenn  wir  Mimnerinos 
nur  nach  diesen  Aeusserungen  beurteilen  wollten.  Selbst  in 
seinen  erotischen  Elegien  liebte  er  es,  die  mythische  Ver- 
gangenheit der  Gegenwart  gegenüberzustellen.  ^)  Aphrodites 
Macht  zu  verherrlichen,  erzählt  der  Dichter  von  Diomedes  und 
Ismene  (Fr.  21.  22);  aber  auch  der  Argonautenzug  (Fr.  11), 
der  Becher  des  Helios  (Fr.  12),  troische  Sagen  (Fr.  18)  und 
sogar  Niobes  Gram  (Fr.  19)  dienen  seinen  Gedichten  zum 
Schmucke.  Der  Dichter  der  zarten  Liebesklagen  reiht  sich  in- 
des an  Kallinos  durch  eine  grosse  Elegie  an,  in  welcher  er  den 
Kampf  zwischen  den  Smyrnäern  und  Gyges  schilderte;  sie  war 
so  umfangreich,  dass  Pausanias^)  einige  Verse  ausdrücklich  aus 
dem  Proömium  citierte.  Wahrscheinlich  gehören  auch  Fr.  14 
und  die  Gründungsgeschichten  Fr.  9  und  10  dazu.  Es  scheint, 
dass  Mimnermos  seine  Mitbürger,  als  sie  wieder  einmal  von 
ernsten  Gefahren  bedroht  waren,  an  jenen  glücklichen  Krieg 
erinnerte  und  so  ihre  Zuversicht  zu  heben  suchte.  ^)  Die  Späteren 
beachteten  aber  nur  seine  Liebeselegien,  welche  die  erotische 
Elegie  der  Alexandriner  bereits  vorbildeten^);  in  diesem  Sinne 
heisst  er  sogar  Erfinder  der  Elegie.  ^)  Mimnermos  war  daher 
der  Liebling  der  alexandrinischen  Elegiker,  welche  seine  schmach- 
tenden zärtlichen  Liebesklagen  für  den  edelsten  Gegenstand 
dieser  Dichtgattung  hielten'')  und  im  Enthusiasmus  hie  und  da 
so  weit  gingen ,  dass  sie  seine  Elegien  über  Homer  stellten.  ^) 
In  jener  Zeit  fanden  viele  seiner  Verse  in  die  Sammlung  der 
Theognidea  Aufnahme.  Schon  bei  Lebzeiten  des  Dichters  waren 
seine  Elegien  in  das  stammverwandte  Athen,  wo  sie  den  jungen 
Solon  zur  Nachahmung  anregten,  gekommen;    Mimnermos  hat 

,      1)  Ael.  V.  h.  3,  37. 

2)  Schneidewin  Philol.  1-,  151  f. 

3)  9,  29.  4. 

4)  Flach  I  173  denkt  an  den  glücklichen  Angriff,  den  Alyattes  (612—663 
nach  Duncker,  609 — 661  nach  v.  Gutschmid)  auf  Kolophon  machte. 

6)  liohde  der  griechische  Koman  S.  72. 

6)  Marias  Plotins  are  gramm.  III  p.  610,  6  K  u.  Orion  p.  58  (Et.  Gud. 
p.  180)  aus  Didynjos.  Kyrillos  Anecd.  Par.  IV  196,  27  nennt  als  alte  Elegiker 
blos  KallinoH  und  Mimnermos.  * 

7)  Hermesianax  a.  O.  Alex.  Aet.  bei  Athen.  16,  699  c.  Hör.  ep.  2,  2,  101. 

8)  Poseidippos  Anthol.  12,  168;  Prep.  1,  9,  11. 


Die  alte  Elegie  vmd  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  257 

auch  den  Ruhm,  die  poetische  Kraft  der  Sohne  Attikas  zuerst 
geweckt  zu  haben.  ^) 

S  olon^)  ist  ja  der  älteste  attische  Dichter  und  somit  in  jeder 
Beziehung  für  Athen  epochemachend.  Er  gehört  als  Sohn  des 
Exekestides  der  uralten  Familie  der  Kodriden  an.  Seine  jün- 
geren Jahre  verlebte  er  auf  Reisen,  bei  denen  nicht  Bilduiigs- 
eifer,  wie  die  Späteren  sagten ,  sondern  der  Wunsch ,  das  zu- 
sammengeschmolzene Familiengut  wieder  zu  vermehren ,  die 
Triebfeder  war.  Dann  griff  er  aber  mit  Kraft  und  Talent  in 
das  politische  Leben  ein.  Die  erste  Probe  seiner  Herrschaft 
über  das  Volk  legte  er  ab,  als  die  Athener  nahe  daran  waren, 
den  Megarern  Salamis  dauernd  zu  überlassen,  indem  er  sie 
durch  eine  begeisterte  Elegie  von  hundert  Versen  zu  einer  letz- 
ten Kraftanstrengung  aufrief.^)  Dass  sich  Solon  dabei  wahn- 
sinnig gestellt  habe,  ist  gleich  der  rationalistischen  Erklärung, 
die  Athener  hätten  die  Todesstrafe  auf  einen  solchen  Rat  ge- 
setzt, eine  schlechte  Erfindung  Späterer,  die  nicht  begreifen 
konnten,  wie  ein  Staatsmann  in  der  Volksversammlung  die 
elegische  Form  wählte.  Die  Redekunst  war  eben  noch  gar 
nicht  entwickelt,  während  die  Poesie  allgemein  verstanden  und 
geliebt  wurde.  So  erliessen  auch  die  arabischen  Minister,  als 
die  arabische  Dichtung  auf  ihrem  Höhepunkte  stand,  Staats- 
schriften in  Kassidenform.  Als  Archon  (Ol.  46,  3,  594/8)*) 
reformierte  Solon  den  ganzen  Staat,  nachdem  er  durch  Epime- 
nides  den  erforderlichen  Gemütszustand  hatte  herstellen  lassen. 
Sein  Werk  dauerte  aber  nicht  lange,  denn  seine  Warnungen 
vor  dem  herrschsüchtigen  Peisistratos  glitten  an  der  Vertrauens- 
seligkeit des  V^olkes  ab.  Trotz  des  freundlichen  Entgegenkom- 
mens des  Tyrannen  verliess  er  schwergetroffen  Athen  und  ging 


1)  Die  Fragmente  findet  mau  in  Mimnermi  qua«  supersunt  emend.  Nie. 
Bach,  Lpg.  1826  und  bei  Bergk  II*  25—33. 

2)  Die  Hauptquelle  für  seine  Lebensgeschichte  ist  ausser  Diogenes  von 
Laerte  die  von  Plutarch  verfasste  Biographie;  sie  geht  wahrscheinlich  auf 
Hermippos  und  Didymos  zurück  (Prinz  de  Solonis  Plutarchei  fontibus,  Bonn 
1867;  H.  Begemann  quaestt.  Soloneae  spec.  I.  Göttingen  1875;  Vol- 
quardseu  Bursians  Jahresber.  7,  389  ff.)-  Aus  unserem  Jahrhundert  sind 
zu  nennen  E.  Bohren  Beiträge  zu  dem  Leben  Solons,  Philol.  30,  177  ff.  und 
Cerrato  Riv.  di  filol.   VI.  nov.  dec.  VII.  geun.  febr. 

3)  Paus.   1,  40,  5.     Dies  geschah  Ol.  44,  1  =  604. 

4)  Andere  (bei  Suid.)  nannten  Ol.  47. 


Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur. 


17 


258  ^-  Kapitel. 

noch  als  Greis  in  das  Exil  nach  Kypern.  Soloii  überlebte, 
w«nn  Phanias  Recht  hat,  den  Beginn  der  Tyrannis  nicht  ein- 
mal um  zwei  Jahre ;^)  er  starb  also  Ol.  54,  3  (561  v.  Chr.),  an- 
gebhch  achtzig^)  oder  hundert  Jahre  alt.  Mit  Krösus  konnte 
er  das  berühmte  Gespräch  auf  keinen  Fall  halten,  weil  dieser 
erst  Ol.  55,  1  den  Thron  bestieg.^)  Die  Sagen  von  seinen  liei- 
sen  lassen  wir  dahingestellt.^) 

Den  Hauptkern  von  Solons  Dichtungen  bilden  Elegien.  In 
seinen  jüngeren  Jahren  schloss  er  sich  wahrscheinlich  an  Mim- 
nermos  an,  wie  das  an  ihn  gerichtete  Gedicht  beweist ;  aus  die- 
ser Zeit  stammen  die  erotischen  Fragmente  (fr.  25  und  26). 
Später  gab  er  aber,  den  ernsten  Staatsgeschäften  sich  widmend, 
diese  Tändeleien  auf.  Sein  patriotischer  Zorn  riss  ihn  zuvörderst 
zu  der  berühmten  Elegie  ,, Salamis"  hin,  von  der  wir  leider 
nur  drei  kurze  Fragmente  besitzen ;  sie  lassen  noch  den  stür- 
mischen begeisternden  Ton  der  Dichtung,  die-  wahrscheinlich 
den  Höhepunkt  seines  poetischen  Schaffens  bezeichnet,  ahnen. 
Schon  die  Idee,  dass  er  sich  als  Boten,  der  von  Salamis  kommt, 
darstellt,  verrät  einen  dichterischen  Sinn,  welcher  den  übrigen 
Elegien  mangelt.^)  Sie  behandeln  unpoetische  Gegenstände  in 
der  breiten  Art  des  Tyrtaios  und  athmen  den  gleichen  edlen 
Sinn;  der  grosse  Staatsmann  legt  in  ihnen  sowohl  seine  rühren- 
den Sorgen  um  das  geliebte  Vaterland  als  auch  die  freudigen 
Gefühle  über  das  aufgerichtete  Werk  nieder.  Zugleich  liefert 
er  zu  seiner  Gesetzgebung  gewissermassen  einen  Commentar, 
indem  er  seine  Absichten,  das  Volk  zu  schützen  und  den  Vor- 
nehmen einen  Zügel  anzulegen.  Allen  enthüllt.  In  Elegien, 
die  an  den  Dichter  selbst  oder  an  Freunde,  wie  Kritias  (fr.  22) 
und  Philokypros  (fr.  19)  gerichtet  sind,  gibt  Solon  Ratschläge 
allgemeiner  Art  und  stellt  Betrachtungen  über  das  menschhche 
Leben  an.    Eine  Elegie  (Fr.  27)  ist  nichts  weiter  als  eine  höchst 


1)  Büdinger  Sitzungsber.  der  Wiener  Akademie  92,  197  ff.  weist  als 
Anfang8jahr  der  Tyrannis  Ol.  64,  1  uach. 

2)  Schol.  Plat.  p.  360  B  aus  Hes.  Mil.  (Roh de  Rhein.  Mus.  33,  205  A.). 

3)  Philippi  Rhein.  Mus.  36,  472  f. 

4)  Bii.ste  bei  Visconti  iconogr.  gr.  pl.  9.  Die  Florentiner  Herme  mit 
der  modernen  Aufschrift  Xö/.tuv  ö  vojjLod-Etrjr  stellt  in  Wirklichkeit  Sophokles 
dar. 

6)  Auch   der  wohlwollende   Plato  (Tim.  p.  21  c)  verklausuliert  .sein  Lob. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-tiochäisi-he  Dichtung.  259 

nüchterne  Liste  der  zehn  Lebensabschnitte.  Aus  dem  Gedichte 
an  Philokypros  erfahren  wir ,  dass  Solon  auf  Kypern  war  und 
jenen,  den  Fürsten  von  Soloi,  besuchte;  der  Dichter  nimmt  von 
ihm  Abschied,  wobei  er  seinem  Geschlechte  und  Fürstentume 
den  Segen  der  Götter,  sich  selbst  aber  glückliche  Heimkehr 
wünscht. 

Daneben  dichtete  Solon  nach  Art  des  Archilochos  auch 
Jamben,  Epoden  und  trochäische  Tetrameter. ^)  Während  von 
den  Epoden  keine  Reste  vorliegen ,  verdeutlichen  Fr.  32 — 35 
seine  trochäischen,  Fr.  36—40  seine  jambischen  Gedichte.  Er 
stellte  hier  nicht  wie  in  den  politischen  Elegien  seine  Anschau- 
ungen objectiv  dar,  sondern  bekämpfte  lebhaft  seine  zahlreichen 
Gegner  und  angebliehen  Freunde,  welche  ihn  höhnten,  dass  er 
seine  Gewalt  nicht  zur  Erreichung  der  Tyrannis  benützt  habe. 
Solon  tritt  ihnen  mit  volkstümlicher  Sprechweise  gegenüber  und 
gibt  ihre  eigenen  Spottreden  (Fr.  33)  wieder.  Von  den  Tetra- 
metern war  mindestens  ein  Teil  an  seinen  Freund  Phokos  ge- 
richtet. Auf  Irrtum  beruht  die  Angabe,  dass  Solon  seine  Ge- 
setze in  Hexametern  abgefasst  habe;^)  denn  die  späteren  Gram- 
matiker nahmen  bekanntlich  wegen  der  Zweideutigkeit  des 
Wortes  vöjAo?  für  alle  alten  Gesetze  metrische  Form  an.  Dabei 
ging  man  so  weit,  zwei  augeblich  einleitende  Hexameter  (Fr.  31) 
zu  erfinden.  Dass  Solon  ein  Epos  ,, Atlantis"  begonnen  habe,^) 
ist  blos  aus  den  bekannten  Erzählungen  des  Flato  (Tim.  p.  24  ff. 
Grit.  p.  108  ff.)  erdichtet.  Das  einzige  lyrisclie  Fragment  (Fr.  42), 
das  scheinbar  einem  Skolion  angehört,  rührt  von  dem  berühm- 
ten Fälscher  Lobon  her. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  Solons  Gedichte  in  Athen 
ebenso  populär  waren  als  die  des  Tyrtaios  in  Sparta,  weshalb 
es  an  Anspielungen'^)  und  Parodien  nicht  fehlte.^)  Die  Späte- 
ren beschränkten    sich    aber    bald   darauf,    sentenziöse    Stücke 


1)  Eine  blosse  Anekdote  ist  die  Erzählung  bei  Sehol.  A  II.  P  265,  Solon 
habe,  weil  er  daran  verzweifelte,  Homer  nachahmen  zu  können,  seine  eigenen 
Schriften  verbrannt. 

2)  Plut.  Sol.  c.  3. 

3)  Plut.  c.  31. 

3)  Z.  B.  Eurip.  Erechtheus  V.   11  ff.   vgl.  Fr.   13. 

4)  Der  Kyniker  Krates  parodierte  den  Anfang  von  Fr.  13  (Julian,  or.  6 
p.  258,   15  ff.) 

17* 


260  9-  Krpitel. 

auszuwählen ;  davon  kam  manches  in  die  Theognidea.  Die 
Gedichte  selbst  gingen  bis  auf  Nr.  4,  13  und  27  und  eine  An- 
zahl Fragmente  verloren.  Von  diesen  üeberresten  veranstaltete 
Nie.  Bach  Bonn  1825  eine  Separatausgabe  ;^)  allein  brauchbar 
ist  die  Fragmentensammlung  bei  Bergk  II*  34 — 61  mit  Nach- 
trag p.  520  f. 

Der  Fälscher  Lobon  machte  auch  andere  der  ,, sieben  Wei- 
sen""^) zu  Dichtern  von  Elegien,  so  Pittakos  mit  sechshun- 
dert Versen,  Chilon  mit  hundert  Distichen  und  Periandros 
mit  oTTOö-r^xai  von  zweitausend  Versen.  Letzteren  nennt  auch 
Athenaios  einen  elegischen  Dichter.^)  Dem  weisen  Kleobulos 
von  Lindos  und  seiner  ihrem  Vater  nicht  nachstehenden  Toch- 
ter Kleobulina  kommen  nur  Pätsel  in  elegischem  Versmaasse 
zu,  die  Bergk  IP  62  f.  und  IIP  201  f.  zusammenstellt. 

An  die  sieben  Weisen  reiht  sich  der  Zeit  nach  D  e  m  o  d  o- 
kos  von  der  kleinen  Sporadeninsel  Leros  an,  der  nicht  vor 
Blas  lebte ,  weil  er  dessen  Gerechtigkeit  rühmte  (Fr.  6)  und 
wahrscheinlich  nicht  jünger  als  Hipponax  war.*)  Er  hinterliess 
uns  nur  wenige  Spuren  seiner  Thätigkeit.  Von  seinen  Epigram- 
men besitzen  wir  blos  zwei  Distichen,  welche  beide  polemische 
Tendenz  gegen  Nachbarstädte  zeigen ;  er  erscheint  somit  als 
der  früheste  Epigrammatiker.  Der  gute  Einfall  (Fr.  2),  der 
nach  Art  des  Phokylides  mit  den  Worten  Kai  töSe  ATfj(io6öxot> 
beginnt:  ,,Die  Chier  sind  alle  schlecht,  nicht  blos  ein  Teil  von 
ihnen,  den  einzigen  Prokies  ausgenommen;  aber  auch  Prokies 
ist  ein  Chier"  wurde  von  den  Epigrammendichtern  wahrhaft  zu 
Tode  gehetzt ;  Bergk  teilt  drei  Imitationen  mit  (Fr.  3 — 5),  aber 
auch  dem  Phokylides,  der  sonst  blos  Hexameter  dichtete,  wurde, 
weil  er  seine  angegriffenen  Mitbürger  verteidigen  sollte,  eine  ge- 
schmacklose RepUk  (Fr.  1)  in  den  Mund  gelegt;  Bergk  hatte 
Recht,  als  er  seine  Bedenken  dagegen  aussprach.  Von  den 
Jamben  ist  ein  einziger  für  Blas  schmeichelhafter  Vers  erhalten. 
Die  dürftigen  Fragmente  stehen  bei  Bergk  IP  65  ff. 

Die  Elegien  des  Xenophanes  haben  wir  bereits  oben  im 


1)  ßolonifl  carminnm  qnae  siipersnnt. 

2)  Hiller  Rhein.  Mus.  33,  618  ff. 

3)  H,  «32  d  aus  der  S.  246  A.  11  erwähnten  Quelle;  Hill  er  Rhein.  Mus. 
33,  624  zweifelt  nichtsdestoweniger  daran  und  dies  wahrscheinlich  mit  Recht, 

i)  Bergk  tu  Fr.  6. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  261 

Zusammenhange  mit  seinen  philosophischen  Dichtungen  be- 
sprochen. Von  dem  Epiker  Asios^)  hegt  blos  ein  Fragment^) 
vor,  das  einen  Schmarotzer  in  einer  teils  an  die  Thersitesscene 
teils  an  Hipponax  erinnernden  Weise  schildert;  es  gehörte, 
wenn  es  ■wirklich  echt  ist,  wahrscheinlich  zu  einer  sympotischen 
Elegie. 

Als  der  letzte  Elegiker  dieses  Zeitraums  bleibt  somit 
Theognis^),  ein  Bürger  des  nisäischen  Megara;^)  nur  Plato,^) 
Suidas  und  der  Schreiber  der  Handschrift  c  weisen  ihn  irrtüm- 
lich dem  hybläischen  Megara  zu.  Er  kam  allerdings,  wie  er 
selbst  angibt  (V.  783) ,  auch  nach  Sicilien  und  mag  sich  dort 
längere  Zeit  aufgehalten  haben.  Plato  schwebte  bei  seiner 
Aeusserung  wahrscheinlich  eine  bestimmte  Elegie  vor,  vielleicht 
die  von  Suidas  erwähnte  iXs-^elci.  sie,  tooc  awO-evrac  twv  XopaxoDOtwv 
sx  f^?  TToX'.opx'lac.  Jedenfalls  ist  Xopaxooatwv  entweder  missver- 
ständlich oder  hinter  TuoXtopxtac  zu  stellen.  0.  Müller,^)  Bern- 
hardy^)  und  Hecker'*)  denken  an  die  Eroberung  des  sikelischen 
Megara,  welche  Gelon  Ol.  74,  2  oder  3  (484  oder  483)  gelang; 
Rintelen'')  an  die  Belagerung  von  Syrakus  durch  Hippokrates, 
€s  ist  jedoch  zweifelhaft,  ob  Theognis  damals  noch  lebte. 
Wenn  ihn  Suidas  und  Eusebios^")  (jedenfalls  nach  Apollodor) 
in  die  59.  Ol3'mpiade  setzen,  so  beziehen  sie,  wie  es  auch  Bergk 
thut,  die  Andeutungen,   dass   ein   persisches  Heer   heranrücke, 

1)  Vgl.  s.  192. 

2)  Athen.  3,  125  b;  Bergk  II  *23. 

3)  Beüyviooc;  im  Geuitiv  V.  22. 

4)  Feiice  Ramorino  Riv.  di  filol.  4,  1  flf.  238  fi".  gibt  einen  Ueberblick 
über  den  Stand  der  Forschung. 

5)  leg.  1,  C30  a,  schon  von  Harpokration  s.  v.,  dem  zufolge  viele  Plato 
beistimmten,  widerlegt.  Nach  Schol.  Plat.  jj.  231  B  teilten  einige  diese  An- 
sicht. 

6)  Dorier  II  509.     *488. 

7)  Suidas  I  jj.  1127. 

8)  Phil>)l.  5,  47. 

9)  De  Theognide  p.   13. 

10)  Synkellos  Ol.  60,  1,  lateinisch  Ol.  59,  4  (540),  armenisch  58,  4  (536); 
Hiller  vermutet  Jahrbb.  123,  459  f.,  Theognis  sei  als  Zeitgenosse  des  Phoky- 
lides  betrachtet  worden  und  bei  diesem  habe  man  eine  Anspielung  auf  den 
Einfall  des  Harpagos  gefunden;  dass  das  umgekehrte  richtig  sei,  erhellt  dar- 
aus, dass  nur  Suidas  und  die  Handschriften  M  P  des  Hieronymus  beide  als 
Zeitgenossen  betrachten;  sonst  gilt  er  als  Zeitgenosse  des  Xenophaues  (Di eis 
Rhein.  Mus.  31,  22). 


262  ^-  Kapitel. 

(V.  764  und  773 — 82),  auf  den  Angriff,  welcher  den  jonischen 
Städten  von  Harpagos  drohte.  In  der  That  geht  aus  den  Ver- 
sen des  Theognis  hervor,  dass  nur  vorsichtige  Leute  das  sicher 
in  weiter  Ferne  befindUche  Heer  fürchteten;  allerdings  könnte 
man  auch  an  den  ersten  Versuch  der  Perser  unter  Mardonios 
denken ,  aber  die  Alten  wurden  wahrscheinlich  durch  weitere 
uns  unbekannte  Aeusserungen  davon  abgehalten.  In  V.  671  f. 
kann  nur  ein  Mann  von  zu  lebhafter  Phantasie  sich  an  den  Kampf 
bei  den  Thermopylen  erinnern.  Bergk  bezieht  V.  503  ff.  ohne 
Grund  auf  den  Gesetzgeber  ünomakritos  von  Lokroi.  Nur  in 
V.  891  ff.  ist  unverkennbar  der  lelantische  Krieg  gemeint ;  aber 
sind  die  Verse  wirkhch  von  Theognis?  Es  wird  nichts  übrig 
bleiben,  als  jenen  Alten  zuzustimmen,  da  wir  auch  die  Geschichte 
der  megarischen  Unruhen^)  hauptsächlich  aus  Theognis  selbst 
kennen.  Er  war  ein  megarischer  Edelmann,  der  in  den  Partei- 
kämpfen seiner  Vaterstadt  als  literarischer  Vorkämpfer  der 
Aristokraten  eine  sicher  bedeutende  Rolle  spielte,  obgleich  er 
eine  Zeit  lang  versöhnlich  gestimmt  war  (V.  220.  331.  544, 
945  f.)^).  Die  Demokraten  verstärkten  sich  durch  die  Bauern 
(V.  53  ff.)  und  vertrieben  gewaltsam  die  Adeligen  ,  welche  zu- 
gleich ihre  Güter  verloren  (V.  1197  ff.  vgl.  345  ff.).  In  der 
Verbannung  zog  er,  wahrscheinlich  um  Hilfe  zur  Rückkehr  zu 
erlangen,  weit  umher.  Sicihen,  Euböa  und  Sparta  waren  seine 
Zufluchtsorte;  an  letzterem  Orte  versöhnten  den  Dichter  der 
vortreffliche  Wein  von  den  Geländen  des  Taygetos  (V.  879  ff.) 
und  die  Schönheit  der  Lakonierinen  (V.  1001  f.)  etwas  mit 
seinem  harten  Schicksale.  Später  eroberten  die  Aristokraten 
Megara  wieder  und  nahmen  an  der  Volkspartei  schwere  Rache. ^) 
Alle  diese  Ereignisse  begleitet  Theognis  mit  Elegien ,  welche 
meistens  an  seinen  lpa)(j,svoc  Kyrnos ,  den  jungen  Sohn  des  || 
Polypais,  gerichtet  sind.     Die    Gedichte  beziehen    sich    in    der 


1)  Arist.  jwlit.  6,  3.  6;  Plut.  qu.  Gr.  18.  Die  Unruhen  begannen  um 
612  (Ol.  42,  1)  und  dauerten  mit  geringen  Unterbrechungeu,  so  lange  Megara 
unabhängig  war. 

2)  Carl  Müller  de  scriptis  Theognideis,  Jena  1877  p.  49  ff.  vermutet, 
er  sei  eine  Zeit  lang  das  Haupt  der  Mittelpartei  gewesen. 

3)  V.  847  ff.;  V.  949  ff.  dagegen  beziehen  sich  nicht  auf  „die  Mässig- 
ung,  als  die  Oligarchep  ihre  Kückkehr  erzwangen",  sie  haben  mit  Politik 
nicht  djLs  niinde.stc  zu  thun. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  263 

Regel  auf  politische  Zustände,  was  die  Späteren  verkannten; 
Theognis  nennt  nämiich  sdjse  Pai'tei  die  ,, Guten",  seine  Geg- 
ner aber  die  ,, Schlechten".^)  Die  meisten  dichtete  er  för  gesel- 
lige Zasammenkünfte  seines  Freundeskreises ,  weshalb  häufig 
Anspielungen  auf  das  Trinken  und  Schmausen  vorkommen; 
daher  ist,  obgleich  vieles  der  Art  Mimnermos  angehört,  das 
erotische  Element  nicht  ausgeschlossen.  Kam  doch  zu  den 
Standesvorurteilen  des  Theognis  der  persönliche  Hass  gegen 
einen  Bürger,  der  das  von  ihm  geliebte  adelige  Mädchen ,  weil 
die  Eltern  dem  reichen  Plebejer  den  Vorzug  gaben ,  heiratete 
(V.  261  ff.)  Sie  blieben  aber  trotzdem,  wie  aus  V.  257  ff.  und 
1097  f.  erhellt,  mit  einander  in  Verbindung.  Die  Alten  kann- 
ten ausserdem  zahlreiche  erotische  Elegien,  die  an  schöne  Kna- 
ben gerichtet  waren ,  und  es  liegt  kein  Grund  vor ,  sie  dem 
Theognis  abzusprechen.^)  In  der  Kaiserzeit  hatte  man  für  der- 
artige Gedichte  eine  bedenkliche  Vorliebe,  der  wir  auch  das 
zwölfte  Buch  der  palatinischen  Anthologie  (Moö^a  TratStxyj)  ver- 
danken; daher  bewahrt  der  codex  Mutinensis  als  IXsvs'-föv  W 
eine  160  Verse  umfassende  Anthologie  jener  päderotischen 
IClegien.  Es  ist  höchst  merkwürdig,  dass  niemand  ausser  Saidas 
diese  erwähnt  oder  citiert. 

Die  übrigen  Handschriften  bieten  1230  elegische  Verse; 
wie  längst  erkannt  ist,  liegt  hier  mir  eine  Sammlung  von  Ex- 
cerpten  vor.^)  urkundlich  erhellt  dies  schon  aus  den  Citaten ; 
denn  Plato^)  las  bald  (oXtYov  iisraßdc)  nach  V.  33  schon  945 
und  Xenophon^)  oder  ein  anderer  Sokratiker  fand  V,  183  ff. 
unmittelbar  hinter  dem  Proömium.  Wann  die  Gedichte  selbst 
verloren  gingen  und  an  ihre  Stelle  Sentenzensammlungen 
traten,  lässt  sich  nicht  bestimmen ;    jedenfalls    geschah   es  sehr 


1)  Welcker  S.  XX  ff.  Die  Sokratiker  führten  anscheinend  zuerst  die 
Gedichte  des  Theognis  auf  die  Ethik  zurück. 

2)  Nietzsche  Rhein.  Mus.  22,  185  schreibt  sie  dem  Mimnermos  zu, 
Hiller  Jahrbb.  123,  470  f.  dem  voralexandrinischen  Veranstalter  unserer 
Sammlung. 

3)  Fr.  Nietzsche  zur  Geschichte  der  theognideischen  Spruchsammlung, 
Rhein.  Mus.  22,  161  ff.;  v.  Leutsch  Philol.  29,  526  ff.  V.  Leutsch  Philol. 
29,  683  f.  30,  206  f..  Sitzler  in  seiner  Ausgabe  S.  12.  38.  39  und  Hiller 
Jahrbb.   123,   478  meinen,  dass  nur  weniges  fragmentiert  sei. 

4)  Men.  p.  95  e. 

6)  Stob.  flor.  88,  14. 


264  ^-  Kapitel. 

frühe,  weil  gelegentliche  Citate  nur  sehr  wenige  neue  Verse 
bringen,  aber  Isokrates^)  kannte  noch  keine  solche  Genealogie. 
Von  unserer  Sammlung  wollte  Nietzsche  nachweisen,'^)  dass 
sie  erst  Stobaios  gekannt  habe;  aber  für  Athenaios  haben  wir 
keinen  genügenden  Beweis  des  Gegenteils.  Sicher  existierten 
im  Altertum  mehrere  Sammlungen.  Interessant  ist  hiefür,  was 
Suidas  aus  Hesychios  von  Milet  mitteilt:  "EYpacj^sv  sXsysiav  elr 
xobc,  ocöO-^vta?  twv  Sopaxooaicov  Iv  r^  zoX'.opxioi:  <y-oCO>  YV(«)[jLac  8i 
iXsYstwv  (i)C  ^JtTT]  ß(o',  xal  7rp6?  Kupvov  töv  eaoToö  £ptb|A£Vov  Yvtojio- 
XoYiav  dta  rjpwsXeYstwv  xat  Itspa?  uxo^Tjxac  rcapatvsTtxac  ^)  ta 
Travia  -(-  ^^'->twc:  (Dilthey  yj^ixwc,  vielleicht  stttj  ßw').  Suidas  fügt 
dann  selbst  hinzu:  ''Ott  \xhv  ^tapaiveaetc  s'^pa^s.  OsoYvtc,  aXX'  Iv 
[jLS^o)  TOUTCöv  SisoTrapjjiva  sopTjvTat  {xtapd  T^va  xal  iratScxo'.  spwts? 
xal  aXXa  oaa  6  Svapexoc  ßwc  ocTroaTps'feTaL^)  Dem  Autor  des 
Hesychios  lag  also  eine  wahrscheinlich  blos  moralische  Antho- 
logie von  zweitausend  achthundert  Versen  vor.  Auch  Suidas 
selbst  bezieht  sich  wahrscheinlich  auf  eine  andere  Sammlung 
als  die  erhaltene,  da,  wenn  anders  wir  die  Worte  des  Suidas  so 
urgieren  dürfen,  in  diesem  Exemplare  die  Moüaa  xatScxi^  unter 
die  übrigen  Gedichte  gemischt  war.  Weil  in  der  erhaltenen 
Antiiologie  selbst  zahlreiche  Verse  an  zwei  Stellen  vorkommen, 
darf  man  annehmen ,  dass  der  Verfasser  zwei  vorhandene  zu 
einer  vereinigte.^)  Er  ordnete  die  ausgewählten  Stücke  teils 
nach  Stichwörtern,*')  teils  nach  dem  Inhalte.  Die  Excerpte  sind 
höchst  oberflächlich  gemacht,  so  dass  oft  recht  wenig  Ethik  in 
den  V^ersen  steckt,  was  Nietzsche  zu  dem  sonderbaren  Einfall 
veranlasste,  der  Sammler  habe  eine  Theognis  feindhche  paro- 
dische  Tendenz  gehabt.  Zu  den  Fragmenten  des  Theognis 
traten  überdies  Abschnitte   aus   anderen  Elegikern,  namentlich 


1)  Ad  Nicoclem  §  43. 

2)  tt.  O.  8.  181  ff.  dagegen  C.  Müller  de  syllogis  Theognideis  p.  33  flf. 

3)  V,  Leutsch  Philol,  29,  522.  30,  520  unterscheidet  ohne  Grund 
onoiHjxat  und  i'KVftirt.. 

4)  Ich  habe  einige  Lesarten  der  Turiner  Handschrift,  welche  Ramorino 
(a.  O.)  mitteilt,  aufgenonnuen. 

6)  H.    8chneidewiu    de    syllogis    Theognideis,    Strassburg    1878. 

6)  Fr.  Nietzsche  a.  ().;  Th.  Fritzsche  das  Stichwort  als  Ordnungs- 
prinzip der  theognideischen  Fragmente,  Philol.  29,  646  ff.;  C.  Müller  de 
scriptis  Theognidei.s  p.  13  ff.,  eingeschränkt  von  U.  iSchneidewin  de  syllo- 
gis Theognideis  8.  36  ff.  und  Hiller  Jahrbb.  123,  472. 


Die  alte  Elegie  uud  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  265 

Soloii  (z.  E.  V.  227  fF.)  und  Mimiiermos  (z.  B.  V.  795  f.  1017 
— 22).  Wie  wir  aus  den  noch  kontrolierbaren  Stücken  er- 
sehen,, wurden  die  oft  aus  dem  Zusammenhange  gerissenen  Verse 
namentUch  am  Anfang  geändert,  um  den  Schein  der  Selbstän- 
digkeit zu  gewinnen.^)  Es  handelt  sich  für  die  höhere  Kritik 
zunächst  darum,  alle  fremden  Bestandteile  auszuscheiden;  ist 
schon  diese  Aufgabe  sehr  schwierig,  so  scheint  es  mir  wenig- 
stens unmöglich,  den  einen  und  den  andern  Fall  ausgenom- 
men, das  als  nicht  Theognideisch  erkannte  (z.  B.  V.  1209 — 16) 
einem  bestimmten  Dichter  zuzuweisen.  Härtung  und  Bergk 
sind  auf  diesem  Gebiete  am  weitesten  gegangen.  Ferner  müs- 
sen die  echten  Bestandteile,  welche  oft  nur  ein,  zwei  oder  drei 
Distichen  umfassen ,  abgegrenzt  werden  und  hier  dürften,  ob- 
gleich die  besten  Handschriften  durch  den  Mangel  an  Ab- 
sätzen uns  im  Stiche  lassen,  die  meisten  und  reellsten  Erfolge 
zu  erzielen  sein.^)  Darüber  hinaus  gelangen  wir  in  das  Gebiet 
der  reinen  Hypothese,  wo  den  Philologen  die  ars  nesciendi  am 
besten  kleidet;  demioch  haben-  viele  ihren  Scharfsinn  in  der 
versuchsweisen  Herstellung  der  ursprünglichen  Elegien  geübt. 
Welcker^),  der  das  grosse  Verdienst  hat,  die  politische  Tendenz 
des  Theognis  klar  erkannt  za  haben  ,  verwarf  zunächst  jenen 
zweiten  erotischen  Teil ,  indem  er  auf  Xenophons  (?)  Worte/) 
Theognis  habe  blos  von  Tugend  und  Laster  gesprochen,  zu 
viel  Gewicht  legte;  überdies  redet  dort  Theognis  V.  1354  Kyr- 
nos  und  V.  1349  Simonides  an,  wie  dies  in  den  sogenannten 
paränetischen  Elegien  geschieht.  Dann  sonderte  er  die  .parodi- 
schen,  epigrammatischeti  und  sympotischen  Stücke  aus.  Aber 
bei  aller  Anerkennung  seines  Scharfsinnes  kann  man  ihm  nicht 
zugestehen,  dass  er  seinem  Ziele  auch  nur  nahe  gekommen  sei. 

einige  Anhaltspunkte  bieten  blos  die  Anreden  an  bestimmte 
[Personen  ,  unter  denen  der  junge  Kyrnos,  der  Sohn  des  Poly- 

)ais,  hervorragt;^)  an  ihn  richtet  Theognis  die  meisten  lehr- 
[haften  Elegien.    Unter  den  übrigen  Adressaten,  Simonides,  Ono- 


1)  Vgl.  z.  B.  V.  1003  flf.  mit  Tyrt.  12,  13  flf.,  auch  933  ff.  mit  12,  35  flf. 

2)  Bergk  Rhein.  Mus.  3,  224  ff,;  v.  Lcutsch  Philol.  29,  663  ff. 

3)  Theognidis  reliquiae  S.  XX  ff. 

4)  Stob.  flor.  88,   14. 

5)  lIoXo-atoTic;     so    urteilte    schon    der    Schreiber    der    Handschrift    b. 
Welcker  S.  CI  unterscheidet  aber  beide  trotz  V.   19—26.  53—60.   183—92. 


266  9.  Xapitel. 

makritos,  Klearistos,  Damokles,  Damonax  und  Timagoras  wird 
der  erste  nach  Kj^rnos  am  häufigsten  genannt. 

Poetische  Bedeutung  besitzt  Theognis^)  nicht  besonders. 
Der  Ausdruck  ist  jedoch  lebhaft  und  gewandt;  zudem  steht  er 
am  Ende  der  eigen tUchen  Elegie  und  gebietet  somit  über  eine 
ausgebildete  Sprache  und  einen  reichen  Schatz  von  Formeln.^) 
Die  Gedanken  bezieht  Theognis  nicht  selten  von  älteren  Dich- 
tern.^) Sein  Dialekt  ist  der  epische,  sollte  aber  jedenfalls  das 
dorische  A  haben;  sonst  finden  sich  nicht  viele  Dorismen,'*) 
woraus  erhellen  dürfte,  dass  die  Elegie  in  Megara  nicht  ein- 
heimisch, sondern  sozusagen  inokuliert  war.  Merkwürdigerweise 
scheinen  die  Handschriften  manchmal  geschriebenes  Digamma 
(z.  B.  xtSiov  =  FiS'.ov     V.  440)  vorauszusetzen.^) 

Schon  bei  Lebzeiten  hatte  sich  Theognis ,  wie  er  selbst 
mit  stolzem  Munde  verkündete,  in  den  Kreisen  seiner  Gesin- 
nungsgenossen hohen  Ruhm  errungen :  ,,Bei  allen  Menschen 
genannt  kann  ich  doch  nicht  allen  Bürgern  hier  gefallen; 
kein  Wunder,  Sohn  des  Polypais!  Auch  Zeus  gefällt  nicht  allen 
Leuten ,  mag  er  Regen  oder  Sonnenschein  senden"  (V,  23  ff.),, 
und  zu  Kyrnos  spricht  er  nicht  minder  selbstbewusst  (V.  237  ff.) : 
,,Dir  gab  ich  Flügel,  mit  welchen  du  dich  leicht  erhebend  über 
das  weite  Meer  und  die  ganze  Erde  hinfliegen  wirst;  in  vieler 
Munde  wirst  du  sein  und  bei  allen  Gastmählern  und  Gelagen 
weilen  und  mit  hellen  Flöten  werden  dich  Jünglinge  schön  und 
hell  besingen  und  selbst  im  Tode,  wenn  du  in  das  thränenreiche 
Haus  des  Hades  hinabsteigst,  wirst  du  deinen  Ruhm  nicht  ver- 
lieren, sondern  immer  den  Menschen  am  Herzen  liegen".^)  We- 
nig spätere  Dichter  und  Historiker')  berücksiclitigten  Theognis 


1)  lieber  seine  Lebensanschauung  H.  Beruliardt  Theognis  quid  de  rebu» 
divinis  et  ethicis  senserit,  Breslau  1875. 

2)  Rieh.  Küllenberg  de  imitatione  Theognidea,  Strassburg  1874. 

3)  V.  Leatsch  an  verschiedenen  Stellen  des  Philologus  und  Bergk  im 
Kommentar. 

4)  Engelbert  Schneider  de  dialecto  Megariea,  Giessen  1882  S.  13  ff. 
(z.  B.  vtv  V.  364.  h{j  299.  vaöv  680.  ii.M-9-a:  771). 

6)  Anders  Flach  Bezzenb.  Beitr.  2,  64  f. 

6)  Bernhardy  II»  1,  632  zweifelt  die  Echtheit  der  Verse  an. 

7)  Pindar  v.  Lentsch  Philol.  29,  616,  Sophokles  Schneidewin  zu 
Antig.  707,  Euripides  v.  Lentsch  a.  O.,  Herodot  v.  Leutsch  Philol.  21, 
143  nnd  Thnkydides  nach  den  Schollen  zu  2,  43,  5. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  267 

schon;  am  meisten  Eingang  fand  er  aber  in  den  Kreisen  Athens^ 
welche  durch  die  Ausschreitungen  der  Ochlokratie  geschreckt, 
sich  aristokratischen  Tendenzen  zuneigten.  Für  den  Unterricht 
der  Kinder  war  ihnen  ein  Buch,  das  zugleich  als  moralischer 
und  pohtischer  Wegweiser  dienen  konnte,  hoch  willkommen. 
Ich  brauche  nur  die  Namen  des  Plato,^)  Xenophon^)  und  Iso- 
krates^)  zu  nennen,  um  die  Freunde  des  Theognis  genau  zu 
charakterisieren.  Noch  später  als  man  das  politische  nicht 
mehr  verstand,  gehörte  Theognis  zu  den  Hausbüchern,  welche 
der  Konversation  die  Scheidemünze  der  Trivialitäten  lieferten  ;*) 
daher  sagte  das  Sprichwort:  ,,Das  wusste  man  schon  ,  bevor 
Theognis  lebte. "^)  Auch  bei  den  Römern  war  der  Elegiker 
ziemlich  angesehen. *") 

Aus  byzantinischer  Zeit  stammen  zahlreiche  Handschrif- 
ten^), unter  denen  sowohl  wegen  seiner  Güte  als,  weil  er  allein 
das  zweite  Buch  enthält,  der  codex  Mutinensis  (A),  der  sieb 
jetzt  in  Paris  befindet,  den  ersten  Platz  einnimmt.^)  Ein  jünge- 
rer und  schlechterer,  aber  unabhängiger  Vaticanus  915  (0)  ver- 
dient nach  jenem  die  meiste  Berücksichtigung;^)  doch  wäre  es 
unrecht,  wenn  ein  Herausgeber  die  übrigen  Handschriften  ganz 
bei  Seite  setzen  würde.  Die  Citate  des  Theognis,^")  besonders 
was  Stobaios  mitteilt, ^^)  weichen  von  unseren  Handschriften  oft 


1)  leg.  630  a. 

2)  Coüviv.  2,  4  citiert  er  ihn  einfach  als  ÖECiyvi^,  vgl.  Cyrop.  1,  6,  44  flf.; 
V.  Leu  t seh  Philol.  29,  517.  Nach  Stobaios  flor.  88,  14  verfasste  er  eine 
besondere  Schrift  über  den  Dichter ,  woran  Bergk  p.  136  mit  Kecht  zweifelt. 
Antisthenes  behandelter  ihn  im  vierten  und  fünften  Buche  seines  npozptKXiv.ö<i 
(Diog.  L.  6,  16). 

3)  Ad  Nicocl.   12  api^Tog  cüfjLßouX&c. 

4)  Julianos  Apostata  misop.  p.  451,  4  H  betrachtet  ihn  als  Lehrbuch  des 
Schicklichen. 

5)  Douza  zu  Lucil.  fr.  ine.   102. 

6)  Lucil.  1.  c.  Varro  sat.  Men.  fr.  236  aus  Theogn.  183;  Amm.  29,  1,  21 
Theognis  poeta  vetus  et  prudeus. 

7)  Bergk  Rhein.  Mus.  3,206  ff.  396  ff.  Sehne  idewin  Gott.  Nach- 
richten  1852  Stück  5. 

8)  Die  Kollation  Bergks  ist  aus  vau  der  Mey  Mnemos.  8,  307  ff.  zu  er- 
gänzen; vgl.  Jordan  Hermes  15,  623  ff.  Hill  er  Jahrbb.   123,  452  ff. 

9)  Jordan  Hermes  16,506  ff.;  Ziegler  Jahrbb.   125,  446  ff. 

10)  O.  Crüger  de  locorum   Theoguideorum   ap.  veteres  scriptores  exstan- 
tium  ad  textum  poetae  emendandum  pretio,  Königsberg  1882  (Diss.). 

11)  H.  Schneide  win  de  Theognide  eiusque  versibus  in  Stobaei  florilegio. 
servatis,  Stettin  1882. 


268  ^-  Kapitel. 

sehr  bedeutend  ab  und  manche  sind  geneigt,  sie  diesen  vor- 
zuziehen. Aber  Bergk*)  und  Jordan^)  ziehen,  wenn  ich  nicht  irre, 
mit  gutem  Grunde  die  Handschriften,  bei  denen  Gedächtnis- 
fehler ausgeschlossen  sind,  jenen  vor;  ist  ja  doch  gerade  der 
gnomiselie  Charakter,  wie  bei  allen  geflügelten  Worten  für  die 
wörtHche  Fassung  verhängnisvoll. 

Als  die  griechischen  Studien  in  der  Renaissanceperiode 
wieder  auflebten,  gehörten  die  Theognidea  zu  den  beliebtesten 
Büchern  und  wurden  mit  ähnlichen  sentenziösen  Schulbüchern 
sehr  oft  gelesen  und  gedruckt.^)  Nachdem  1.  Bekker^)  dem 
Texte  eine  kritische  Grundlage  gegeben  hatte,  brach  Welcker 
mit  seiner  Ausgabe  (Theognidis  reliquiae,  Frankfurt  1826)  der 
richtigen  Erklärung  und  Beurteilung  des  Dichters  die  Bahn  ; 
von  den  kritischen  Ausgaben  ist  die  Bearbeitung  Bergks  in  den 
poetae  lyrici  Graeci  II*  117  ff.  und  die  Separatausgabe  von 
Chr.  Ziegler  (Tübingen  1868.  ^1880)  zu  nennen.  Die  neueste 
Ausgabe  von  Sitzler  (Heidelberg  1880)  verdient  wegen  eines 
Wortregisters  Beachtung. 

Auch  für  ganz  kurze  Gedichte  wurde  das  Distichon  ver-' 
wendet  und  zwar,  weil  die  Flöten  bei  den  Leichenfeierlichkeiten 
unumgänghch  notwendig  waren,  zunächst  für  Grabschriften. 
Doch  finden  wir  innerhalb  dieser  Periode,  wenn  nicht  künftige 
Funde,  das  Material  vermehren,  sehr  wenige  Grabepigraninie, 
z.  B.  in  Attika  nur  drei  (Cauer  delectus  inscr.  propter  dial- 
memor.  140.  141.  143).  Der  jonisch-attische  Stannii  kann  unter 
den  erlialtenen  sechsundzwanzig  Epigrammen  nicht  weniger  als 
vierzehn  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Zu  bemerken  ist  dabei, 
da.ss  die  nicht  jonischen  Inschriften  das  spezifisch  jonische  H 
nicht  annehmen ;  bei  den  Doriern  dringen  auch  andere  Spuren 
der  Landesmundart  ein.  Das  einzige  uns  bekannte  Epigramm 
Thessaliens  (Röhl  325)  ist  sogar  im  epichorischen  Dialekte  ab- 
gefasst.  Durch  die  häufige  Anwendung  auf  Grabsteinen  wird 
das  Distichon  die  gewöhnliche  Form   für  metrische  Inschriften 


4)  Rhein.  Mus.  3,  896. 
6)  Hermes  16,  628  f. 

6)  Zuerst  mit  Theokrit  und  Gnomikern  Venedig  1495  fol.  In  Deutscli- 
land  veröftentlichte  zuerst  J.  Camerarius  (Basel  1651)  Theoguis  mit  Pytha- 
goras,  Phokylides  und  anderen. 

7)  Lpg.   1815,  2.  A.  Berlin  1827. 


Die  alte  Elegie  nnd  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  269 

überhaupt;  das  älteste  inschriftlich  erhaltene  und  genau  bestimm- 
bare Epigramm,  das  ein  Weihgeschenk  begleitet,  ist  für  den 
jüngeren  Peisistratos  eingegraben.  ^)  Waren  doch  auch  die  Sen- 
tenzen des  Hipparchos  ^)  oft  in  Distichen. 

Wie  sehr  diejam  bische  und  trochäischeDichtung^) 
mit  der  Elegie  zusammenhängt,  erhellt  schon  daraus,  dass  ver- 
schiedene Dichter  beide  Arten  zugleich  pflegten;  denn  die  echten 
Griechen  kannten ,  wie  wir  in  der  Einleitung  dargelegt  haben, 
auch  in  der  Poesie  nur  Spezialisten.  Wenn  aber  die  Elegie 
sich  mehr  an  das  homerische  Epos  anschliesst,  entspricht  der 
Jambos  eher  den  hesiodischen  Erga.  Während  jedoch  der 
dichtende  Böoter  seinen  Groll  in  ziemlich  ruhigen  Hexametern 
ausströmte,  wählte  der  Jonier  zum  Angriffe  den  scharf  zuge- 
spitzten Jambos.  Die  Griechen  liebten  es,  bei  den  ländlichen 
Festen,  wenn  die  Ausgelassenheit  zu  ihrem  Höhepunkte  gelangte, 
sich  kleine  Schwächen  halb  im  Ernste  halb  im  Scherze  vorzu- 
werfen; ganz  besonders  war  aber  der  Demeterkult  eine  wahre 
Pflanzschule  der  Spottverse.  Bei  den  Festen  dieser  Göttin 
flogen  höhnende  Wechselreden  hin  und  her,  ohne  dass  sich 
die  Getroffenen  beleidigt  fühlen  durften.  ^)  Die  Athener  leiteten, 
das  bei  ihnen  übliche  iajxßtCsw,  dessen  Stammwort  in  Wirklich- 
keit mit  idTCTc'.v  zusammenhängt,  auf  die  heitere  Magd  Jambe 
zurück,  welche  die  in  dumpfen  Gram  versunkene  Demeter 
durch  ihre  nicht  gerade  feinen  Spässe  zum  Lachen  brachte.  ^) 
Unter  den  jonischen  Kolonisten  war  der  Demeterkult  seit  sehr 
alter  Zeit  auf  der  Insel  Paros  heimisch  ^)    und    der  lambe  ent- 


1)  Thuc.  6,  54.  CIA.  4,  373  e.  Nach  Bergk  ist  auch  das  attische  Epi- 
gramm bei  Eust.  U.  p.  1353,  8  aus  der  Zeit  der  Peisistratiden.  lieber  alte 
korinthische  Epigramme  Will  seh  Jahrbb.  123,  172  ff.  Das  älteste  Weih- 
epigramm dürfte  das  des  Echembrotos  (Paus.   10,  7,  6)  sein. 

2)  Plato  Hipp.  p.  229  a. 

3)  Lysanias  von  Kyrene  schrieb  -sp\  lafißoKoiwv  (Athen.  7,  304  b.  14,  620c). 

4)  Schol.  Arist.  Ran.  400.  Plato  verbot  es  in  seinem  Staate  (leg.  11,  935  e) ; 
aber  Aristeides  (or.  46  p.  298  Jebb)  irrt  sicher,  wenn  er  dieselbe  Massregel 
Solon  beilegt.  Solche  beissende  Wechselworte  liebten  auch  die  alten  Ger- 
manen; die  Edda  nnd  das  Walthariuslied  liefern  dafür  Beispiele. 

5)  Küster  zu  Suid.  s.  v. ;  Gaisford  Hephaest.  p.  423  f.;  Santen  zu  Ter. 
Maur.  p.  65  f. 

6)  Hymn.  in  Cer.  491;  Kikanor  bei  Steph.  Byz.  v.  Iläpo?;  vgl.  Archil. 
Fr.  82;  Welcker  kleine  Schriften  1,  77  ff.  Von  der  parischen  Kolonie  Thasos- 
redet  Paus.  10,  28,  3,  vgl.  Herod.  6,  134,  Dion.  Per.  523;  Her  m  ann  gottes- 
dienstl.  Altertümer  §  65,  26. 


270  9.  Kiipitel. 

sprach  hier  die  Magd  Enipo,  in  deren  Namen  die  SymboHk 
ebenso  deutlich  hervortritt.^)  Mit  Recht  nannte  sie  Archilochos 
seine  Mutter;  denn  er  bildete  in  der  That  nur  die  Spottverse 
seiner  Heimat  künstlerisch  aus.  Aber  die  Grammatiker  ver- 
standen den  Spass  schlecht  und  warfen  ihm  sogar  vor,  dass  er 
die  Abkunft  von  einer  Sklavin  nicht  verschwiegen  habe.  ^)  Das 
satirische  und  polemische  Element  konnte  im  Epos,  weil  dieses 
zu  sehr  der  Gegenwart  abgewendet  war,  nicht  aufkommen;  die 
Satire  richtet  sich  aber  immer  gegen  das  gegenwärtige.  Immerhin 
deuten  die  Gestalten  des  Thersites  und  Margites  schon  eine 
gewisse  Neigung  hiefür  an.  Auch  das  didaktische  Epos  und 
die  Elegie  konnten,  wie  wohl  sie  sich  den  Tendenzen  der 
iambischen  Dichtung  mehr  zuneigten,  der  Aufregung  eines 
leidenschaftlichen  Geistes  nicht  genügen.  Facit  iracundia  versum ! 

Die  Leidenschaft  brachte  Archilochos  von  Paros^) 
dazu,  die  Jamben  in  die  Literatur  einzuführen.  Was  seine  Zeit 
betrifft,  so  haben  wir  am  Anfange  dieses  Kapitels  dargelegt, 
dass  die  Alten  die  Zeit  des  Archilochos  nur  aus  den  oben  er- 
wähnten zwei  Versen  kombiniert  haben.  *)  Wir  kamen  dort  zu 
dem  negativen  Resultate,  dass  Archilochos  wahrscheinlich  nach 
dem  zweiten  Falle  von  Magnesia  dichtete.  Oppolzer^)  möchte 
ein  positives  Resultat  aus  einer  von  Archilochos  erwähnten 
Sonnenfinsternis  gewinnen;  er  berechnet  als  Datum  derselben 
den  6.  April  648.  Damit  stimmt  überein,  dass  Archilochos  nach 
den  besten  Zeugnissen")  jünger  als  Terpander  war. 

Was  die  Lebensumstände  des  Archilochos  anlangt,  so  sind  wir 

•dafür  hauptsächlich  auf  seine  eigenen  Nachrichten  angewiesen. 

Der  Dichter  entstanmite  einer  angesehenen  Familie  von  Faros ; 

seinen   Grossvater  Tellis    sah    Pausanias^)   in    der    delphischen 


1)  Welcker  kleine  Schriften  1,  6  f.  Der  Name  kommt  in  Wirklichkeit 
nie  vor;  ebenso  allegorisch  ist  Enipe  bei  Mythogr.  Vat.  1,  86. 

2)  Kritias  bei  Ael,  v.  h.  10,  13. 

3)  Welcker  kleine  Schriften  1,  72  ff.  Paul  Den  ticke  Archilocho  Pario 
quid  in  Gniecis  litteri.s  sit  tribuendum,  Halle  und  Berlin  1877. 

4)  Cicero    (Tnsc.  1  in.)  verdient,    wenn  er    sagt,    dass  Archilochos  unter 
Romulus  gelebt  habe,  keinen  Glauben. 

6)  Nach  dem  Referat  in  der  Philol.  Wochenschrift  1882  Sp.  1619. 

6)  Glaukos  bei  Plut.  mns.  4,  vgl.  6  (aus  Alexandros),  anders  Phanias  bei 
-Clem.  AI.  Strom.  1,  833. 

7)  10,  28,  3, 


I 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäisclie  Dichtung.  271 

Lesche  mit  der  Priesterin  Kleoboia,  welche  die  Orgien  in  Faros 
•eingeführt  hatte,  gemalt.  Sein  Vater  Telesikles  ^)  führte  auf  Befehl 
des  delphischen  Orakels  eine  Kolonie  von  Faros  nach  Thasos^) ;  die 
Alten  nahmen  als  Gründungszeit  die  fünfzehnte  oder  achtzehnte 
•Olympiade  an^);  doch  ist  zu  fürchten,  dass  sie  auch  hier  den 
Eegierungsantritt  des  Gyges  zu  Grunde  legten.  ^)  Telesikles 
muss  aber  wieder  nach  Faros  zurückgekehrt  sein,  weil  Archi- 
lochos,  obgleich  ihn  Oinomaos^)  sogleich  mit  nach  Thasos 
ziehen  Hess,  lange  Zeit  auf  Faros  sich  aufhielt.  Erst  als  er  in 
pohtischen  Wirren  sein  Vermögen  verloren  hatte,  siedelte  er  auf 
■den  Rat  des  Apollo  nach  Thasos  über.  ^)  Doch  auch  hier  glückte 
es  ihm  nicht  besser;  Archilochos'  scharfe  niemand  schonende 
Zunge'')  verscheuchte  seine  Freunde  und  machte  ihm  viele 
Feinde.  ^)  Welche  Ausdrücke  er  im  Zorne  gebrauchte,  mögen 
uns  die  Frohen  loiTJvSs  S'  w  tti^y^xs  xtjv  ttoy'^v  I/cov  (Fr.  91)  und 
1^  Ss  Ol  aa^T]  wast  t'  6wv>  IIptYjvsog  xyjXwvo?  s7rX7]|X{A0p£V  oipüYYj'^aYoo 
(Fr.  97)  lehren.  Unter  solchen  persönlichen  Verhältnissen  ge- 
langte Archilochos  zu  dem  Resultate,  in  Thasos  sei  der  Jammer 
von  ganz  Griechenland  zusammengeflossen  (Fr.  52,  vgl.  Fr.  20); 
er  tröstete  sich  darüber  durch  das  ausschweifendste  Leben,  das 
er  mit  cynischer  Offenheit  beschrieb.  •')  Doch  auch  anderes 
Missgeschick  traf  den  Dichter.  Der  Mann  seiner  Schwester 
ging  auf  dem  Meere  zu  Grunde,  was  den  Dichter  tief  berührt 
haben  nmss,  weil  er  eine  ungewöhnlich  ernste  Elegie  (Fr.  9 — 13) 
•seinem  Andenken  widmete.  Als  Archilochos  dagegen  in  den 
Kämpfen  zwischen  den  thrakischen  Saiern  und  den  Thasiern 
seinen  Schild  zurückliess,  tröstete  er  sich  damit,  dass  er  das 
kostbarste,  sein  Leben  gerettet  habe  und  einen  ebenso  guten 
Schild  wieder  bekommen  könne  (Fr.  6) ;  die  Griechen  verargten 
ihm  aber  auch  hier  seine  offene  Sprache  sehr.^")  Durch  sein  viel- 

1)  Anthol.  Pal.  14,  113. 

2)  Euseb.  praep.  ev.  5,  33;  Steph.  Byz.  v.  ©äaoc. 

3)  Clem.  AI.  ström.   1,   144  S.  398  P  (Dionysios  Ol.  15,  Xanthos  Ol.  18). 

4)  Roh  de  Rhein.  Mus.  33,  194  f. 

5)  Fr.  14  Müller  (Euseb.  praep.  ev.  6,  7). 

6)  Euseb.  praep.  ev.  5,  31 ;  vgl.  Fr.  51. 

7)  Luc.  pseudol.   1   äyZpa  no|xtS^   slsöö-spov  v.a.\  Tzuopr^izicf,  auvovta. 

8)  Aristeides  II  p.  380,  vgl.  Meineke  com.  Gr.  fr.  II  485. 

9)  Nach  Kritias  a.  O.  nannte  er  sich  selbst  p.oly^o':,  Ka-^voz  xal  oßp'.axYjc. 
10)  Bergk  zu  Fr.  6. 


272  ^'  Kapitel. 

faches  Missgeschick  entmutigt  kehrte  Archilochos  nach  Faros  zu- 
rück, wo  er  den  härtesten  Schlag  seines  Lebens  erleiden  sollte.  Der 
parische  Bürger  Lykambes  hatte  seine  Tochter  Neobule  mit 
Archilochos  zuerst  verlobt,  dann  aber  aus  uns  unbekannten 
Gründen  das  Verlöbnis  aufgehoben  und  die  Tochter  wahr- 
scheinlich an  einen  Anderen  verheiratet.  Der  getäuschte  und 
beleidigte  Archilochos  verfolgte  nun  beide  mit  dem  fürchter- 
Hchsten  Hasse  und  schleuderte  so  giftige  Gedichte  gegen  sie, 
dass  die  Alten ^)  erzählten,  sie  hätten  sich  vor  Verzweiflung 
und  Scham  erhängt;  doch  lasen  sie  dies  nur  aus  dem  Aus- 
drucke des  Archilochos  (Fr.  35) :  Ko^fjavtec:  ußptv  a^pÖTjv  ajis^Xooav 
heraus.^)  Er  meint  damit  nur:  ,,Sie  haben  .sich  geduckt  und 
ihren  Uebermut  gebüsst."  Als  er  die  Familie  moralisch  ver- 
nichtet hatte,  war  ihm  auch  der  Aufenthalt  auf  Faros  verleidet. 
Jetzt  wahrscheinlich  trat  unser  Dichter  in  fremde  Kriegsdienste 
(Fr.  14.  24)  und  rühmte  mit  Stolz  von  sich  (Fr.  2):  „Ich  bin 
zugleich  ein  Diener  des  enyalischen  Königs  und  der  lieblichen 
Gabe  der  Musen  kundig."  Zuletzt  scheint  er  sich  wieder  auf 
Faros  aufgehalten  zu  haben,  weil  er  in  einem  Kampfe  der 
Farier  und  Naxier  fiel.  Den  Kalondas,  der  ihn  getötet  hatte, 
wies  angeblich  die  Fythia  aus  dem  delphischen  Tempel,  indem 
sie  ihn  schalt,  dass  er  den  Diener  des  Apollo  nicht  geschont.^) 
Das  Glück  hat  Archilochos,  freilich  meist  durch  seine 
eigene  Schuld,  nirgends  weich  gebettet;  überall  fand  sein  über- 
spruclelnder  Geist,  der  sich  keine  Beschränkung  auferlegen 
wollte,  hemmende  Schranken.  Wie  aber  Leopardi  ohne  seine 
körperlichen  und  seelischen  Leiden  die  pessimistischen  Gedichte 
nie  geschrieben  hätte,  in  gleicher  Weise  würde  ein  freund- 
licheres Geschick  die  Schärfe  des  parischen  Dichters  abgestumpft 
haben.  So  aber  Hess  er,  durch  seine  Schicksale  verbittert,  der 
Zunge  freien  Lauf  und  zog  sich  dadurch  überall  Hass  und 
Feindschaft  zu.*)  Die  Rache  der  Beleidigten  steigerte  natürlich 

1)  Hör.  ep.  1,  19,  26.  Ovid.  Ibis  63. 

2)  Photios  193,  22  (vgl.  Hesych.  s.  v.)  hat  wegen  dieses  Verses  die  Glosse 
xi'it^fxt  ävTt  Toü  fimäY^ao*'/'.;  vgl.  Piccolomini  Hermes   18,  264  ff. 

3)  Stellen  bei  Hendess  oracula  Graeoa  S.  54  zu  77  b  und  Piccolomini 
HermcA  18,  267  ff,  Ael.  v.  h.  3,  43  berichtet  dasselbe  bezüglich  eines  Kitha- 
riiden  von  Sybaris. 

4)  Piudar  Pyth.  2,  99  (66)  sagt  deshalb:  KtSov  Y«p  e"'-«?  iwy  za  kök'k'  ev 
ä}Layavt«  <^trftft6v  'Ap/cXo/ov  ßapoXö^otc  sy'ß'sai  «latvofisvov. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  273 

den  Groll  des  Archilochos  und  führte  ihn  dazu,  seine  zu  den 
grössten  Werken  hinreichende  poetische  Begabung  auf  den 
Jambos,  der  zu  seiner  bitteren  und  menschenfeindlichen  Stimmung 
passte,  so  gut  wie  ganz  zu  beschränken;  neben  den  jambischen 
Trimetern  (Fr.  20 — 49)  benützte  er  die  von  diesen  fast  unzer- 
trennlichen trochäischen  Tetrameter  ^)  (Fr.  50 — 83).  Am  liebsten 
aber  vereinigte  er  längere  und  kürzere  Verse,  in  denen  der 
Jambos  vorherrscht,  zu  den  sogenannten  Epoden  (Fr.  84 — 118); 
sie  klingen  mit  ihren  kurzen  Absätzen  noch  viel  schneidiger  als 
die  einfachen  Trimeter.  Der  Grundzug  der  archilochischen  Poesie 
ist  Schmähung  ^) ;  daher  bezeichnete  sein  Name  einen  schmäh- 
süchtigen Menschen.  Für  jeden  Eindruck  ist  er  auf  das  höchste 
empfänglich  und  spricht  ihn  in  voller  Frische  und  durch  Re- 
flexion ungetrübt  aus;,  ein  Blatt  nimmt  er  nie  vor  den  Mund, 
sondern  äussert  seine  Gesinnung  in  den  kraftvollsten  Wörtern, 
ohne  darüber  zu  grübeln,  ob  jemand  daran  Anstoss  nehmen 
könnte.  ^)  Aber  Archilochos  muss  mehr  als  ein  streitsüchtiger 
vorlauter  Mensch  gewesen  sein;  sonst  wäre  die  Begeisterung 
des  gesammten  Altertums,  die  edelsten  Männer  mit  einge- 
schlossen, nicht  zu  erklären.  Die  Lieblichkeit  seiner  Sprache 
erlaubte,  ihn  neben  Homer,  an  dem  er  sich  gebildet  hatte*),  , 
als  beinahe  ebenbürtigen  Dichter  zu  stellen^);  selbst  Künstler 
verbanden,  wie  eine  Doppelherme  im  Vatikan'')  zeigt,  beider 
Bilder.  Trotzdem  ist  er  der  erste  Kunstdichter,  der  sich  von 
dem  Banne  des  Epos  befreite  und  neue  Wege  eröffnete ;  daher 
gebraucht  er  die  jonische  Mundart  seiner  Zeitgenossen^),  nicht 

1)  Dionys.  comp.  verb.  17  pu8-[j.6c  p.aXaxtötspo';  xool  ä'^sveQXBpor,  nach 
Pliit.  mus.  29  von  Olympos  erfunden.  Fragm.  Ambros.  p.  254  N  ö  'Apj^-lXo^^o? 
Iitl  ■9'£p[id>v  uiioö-EGEcuv  Tpo}(aix(I)  x£Tpa[j.2xp(i)  nsj^pfjtat.  Mar.  Victorinus  p.  84, 
2*1  tetrameter  Archilochius  ajjtus  festivis  narrationibus.  Vgl.  über  das  Metrum 
Kumpel  Philol.  28,  425  ff. 

2)  Dion  Chrys.  or.  2  §  4. 

3)  Z.  B.  Fr.  72.  136.  Porphyrie  in  Hör.  ep.  1,  19,  34  multa  obsceua 
dicentem. 

4)  Dio  Chrys.  or.  55  §  6;  Deuticke  p.  5  f.   16  f.  19. 

5)  Heraklit  fr.  134.  Hippodromos  bei  Philostr.  vit.  soph.  p.  620.  Vol. 
Hercul.  coli.  alt.  4,  116.  117.  11.  u>\iouz  13,  7.  Cicero  orator  1,  4  nennt  ihn 
mit  Homer,  Sophokles  und  Pindar. 

6)  Visconti  Museo  PioClemeut.  VI  t.  20,  vgl.  Welcker  kleine  Schriften 
I  73  f. 

7)  Ahrens  Mischung  der  griech.  Dialekte  S.  60  ff.  Kazd-ayoüG:  und 
llpi-r]vfj'.  sind  nicht  blos  episch.     Atüjvöoo'.'  Fr.  77,  1  ist  jedenfalls  zu  ändern. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  18 


274  Ö-  Kapitel. 

die  des  Epos,  wenn  er  auch  jene  verfeinert  und  die  Worte  des 
Marktes  in  der  Regel  verschmäht.  Trotzdem  verhert  der  Aus- 
druck nicht  den  Reiz  der  Volkstümhchkeit.  Das  Volk  lieh  ihm 
auch  die  FabeP),  die  in  seiner  Hand  zur  furchtbaren  Waffe 
wurde;  z.  ß.  wandte  Archilochos  gegen  Lykarabes  die  Fabel 
vom  Adler,  der  dem  Fuchs  die  Treue  brach,  aber  schwer  büssen 
musste  (Fr.  86 — 88),  an.  Auch  der  Mythus  musste  seinen 
Zwecken  dienstbar  sein ;  so  erzählte  er  in  einein  jambischen 
Gedichte  ausführlich  die  Nessosmythe.  ^)  Deianeira  hielt  eine 
langathmige  Rede,  worin  sie  Herakles  um  Hilfe  bat;  manche 
fanden  darin  einen  Verstoss  gegen  die  Wahrscheinlichkeit.  •^) 
Wir  beschliessen  die  Charakteristik  am  besten  mit  den  schönen 
Worten  Quintihans  (10,  1,  59  f.):  Ex  tribus.  receptis  Aristarchi 
iudicio  scriptoribus  iamborum  ad  s^tv  maxime  pertinebit  unus 
Archilochus.  Summa  in  hoc  vis  elocutionis,  cum  validae  tum 
breves  vibrantesque  sententiae,  plurimum  sanguinis  atque  uer- 
vorum.  adeo  ut  videatur  quibusdam,  quod  quoquam  minor  est, 
materiae  esse  non  ingenii  vitium,  womit  man  den  hübschen 
Ausspruch  des  AHan  (Fr.  80)  verbinde:  irotTjdjv  ^swalov  taXXa 
61  Tt?  aoToö  TÖ  aiT/pocTreq  xai  tö  xaxöpp7][iov  a'^sXo'.  xai  oiovsl 
XT|Xl5a  aTroppitj^sieV^) ;  was  aber  deu  Verlust  dieser  Gedichte  uns 
besonders  schmerzlich  macht,  ist  die  ungewöhnlich  individuelle 
Persönlichkeit  des  Dichters,  dessen  Gedichte  ihn  selbst  am  ge- 
treuesten  darstellten. 

Es  wird  nicht  überflüssig  sein,  auch  über  die  metrische 
Forin  der  archilochischen  Gedichte  einiges  beizubringen.  Die 
jambischen  Trimeter  und  die  trochäischen  Tetrameter  genügten 
dem  Sänger  nicht  allein,  obgleich  er  auf  dieselben  so  viel 
Sorgfalt   verwandte,    dass  die  Jamben  nach  einem  Ausspruche 


1)  Julian,  or.  7  p.  268  II  noXuc  5'  sv  toötoi;  (sc.  nu9-ot(;)  ö  Ildcptoi;  eatt 
ÄOiYjTY,':,  vgl.  p.  294;  Philostr.  iun.  1,  3 ;  H  u.schke  de  fabulis  Aesopi  in 
Matthias  miscell.  philol.  I  1  und  in  der  grösseren  Äsopausgabe  von  Furia; 
Schncidewin  coniectanea  crilica  p.  130  flf . ;  Buchholtz  Rhein.  Mus. 
28,  176  flf. 

2)  Schneide win  Philol.  1,  148  flf. 
8)  Dion  Chrj's.  or.  60,  1. 

4)  Archilochos  hiess  sprichwörtlich  jeder  arge  Spötter  (Aristid.  II  p.  307. 
Said.  8.  V.  East  in  Od.  p.  1684.  Diogenian.  3,  96.  Arsen,  p.  79.  Cic.  ad  Att. 
2,  20.  21). 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  275 

des  tiermogenes  ^)  xai  YopYÖTspot  xai  XoYos'.&sarspoi -)  twv  aXXwv 
waren.  Er  eröffnete  das  weite  Gebiet  der  Epoden,  bei  denen 
wie  beim  Distichon  auf  einen  langen  V^ers  ein  kürzerer  folgte;^) 
hier  Hess  er  die  mannigfaltigsten  Masse  wechseln:  jambische 
Trimeter  und  Dimeter,  jambische  Trimeter  und  katalektische 
Tripodien  von  Daktylen,  den  von  ihm  erfundenen  versus  Archi- 
lochius  und  katalektische  Trimeter.  Im  übrigen  müssen  wir 
auf  Plutarch  vertrauen ,  der  in  der  Schrift  über  die  Musik  ^) 
die  Thätigkeit  des  Archilochos  folgendermassen  charakterisiert: 
'AXXa  [xy]v  xal  ^ApylXoyo<;  tyjv  twv  Tpijxstfxöv  po^iioTioitav  Tipoos^söps 
xa'.  TTjV  sie,  Too?  00/  6[A0Y£ve:c  po^[iÖD?  I'vraatv  xat  T7]y  Trapaxata- 
XoYYjv  xai  TYjV  ;rep'.  Taöra  xpoöaiv  •  TrpwTtj)  os  aoui)  td  t'  s~tpSd  xal 
ta  T£Tpd{ieTpa  xal  t6  xpYjT'.xöv  xal  tö  :rpoao5iaxöv  azoSsSotat  xal 
ij  toö  7ip(})0D  aolTjatc,  t>jr'  Iviwv  Ss  xal  t6  IXsysIov,  izpbc,  Ss  toötoic 
r;    TS   TOÖ    lajJLßeloD    Trpöc:    töv  STrißaTÖv    zatwva    l'vTaaic    xal   i^  toö 

YjO^YjJlSVOO    rjp{i)0D    SIC    T£    TO    TipOaoS'.aXOV    xal    tö    XpTjTtXdv.     £Tt    Ss    TWV 

lajj-ßsloiv  TO  Td  [JLsv  XsYsa^ai  ;capd  ttjv  xpoöoiv,  Td  S'  ^SsoO'at  'Ap)^l- 
Xo'/öv  (paat  xaTaSsi^at,  sl^'  odtco  )(prjaa':59-at  too?  TpaYtxooc  7roiY]Tdc, 
Kps^ov  Ss  XaßövTa    sie   St^üpd[i,ß(üv  XP'^'^^^  aYaY&lv.    öiovTai   8k  xal 

r^V    XpOÖOtV    TYjV    OTTO    TY]V    Cj)§7jV  TOÖTOV  TTpWTOV    SOpslV,    TO'JC  6'  dp/aloOC 

irdvTac  Trpöa/opSa  xpoöetv.  Wenn  sich  auch  nicht  alle  diese 
Angaben  sicher  erklären  lassen,  so  geht  doch  soviel  zur  Genüge 
hervor,  dass  Archilochos  auch  auf  dem  Gebiete  der  Metrik  und 
Rhythmik  eine  hervorragende  Bedeutung  besass.  Der  berühmte 
Musiker  Thaletas  soll  ihm  deshalb  nachgeeifert  haben.  Die 
Parakataloge ,  ein  Mittelding  zwischen  Gesang  und  einfacher 
Rede,  wurde  später  für  das  Drama  sehr  wichtig.^)  Manche 
schrieben  ihm  auch  die  Einführung  polyphoner  Instrumentation 
zu,  ein  Verdienst,  das  andere  mit  wahrscheinlich  besserem 
Rechte  Terpander  beilegten.  '^) 


1)  id.  II  1   p.   302. 

2)  Wahrscheinlich  fielen  Vers-  und  Wortaccent  hei  ihm  häufiger  als  sonst 
zusammen. 

3)  Ueber  den  Namen  vgl.  Teuffei  Gesch.  der  röm.  Literatur  §  237,  1, 
dazu  Hephaest.  c.  7. 

4)  c.  28  p.  1140  f.  1141  ab;  zur  Erklärung  vgl.  Bergkmelett.  lyr.  spec 
II.  ind.  schol.  iiib.  Halle  1859/60;  Ritschi  opusc.  1,  278  ff.;  Deuticke 
p.  23  fi". ;  Flach  Geschichte  der  griech.  Lyrik  1,  219—34. 

5)  Christ  die  Parakataloge  im  griechischen  und  römischen  Drama,  Abh. 
der  bayer.  Akademie  hist.-phil.  Cl.  1875  Bd.   13  S.  153  ff. 

6)  Westphal  Melopöie  der  Griechen  S.  112  ff. 

18* 


276  9.  Kapitel. 

Archilochos  verfasste  ausserdem  einige  Elegien,  wäre  aber 
durch  diese  schwerlich  so  berühmt  geworden.  Es  ist  jedoch 
bemerkenswert,  dass  er  bereits  in  so  früher  Zeit  die  mehr 
objektive  Elegie  zum  Ausdruck  seiner  Subjektivität  verwendete. 
In  Fr.  1,  2  und  dem  berühmten  Nr.  6,  worin  er  den  Verlust 
seines  Schildes  erzählte,  spricht  der  Dichter  von  sich  selbst  und 
auch  Fr.  3  bezieht  sich  wohl  auf  sein  Geschick.  Sein  spöttischer 
reizbarer  Charakter  ist  höchstens  in  Fr.  8  und  14  zu  spüren; 
im  übrigen  liegt  ein  gewisser  Hauch  von  Ruhe  über  den  Ele- 
gien: Fr.  4  und  5  athmen  frohe  Heiterkeit;  eine  besondere 
Elegie,  aus  der  Fr.  9 — 13  stammen,  betrauerte  den  Tod  seines 
Schwagers,  der  durch  Schiffbruch  unterging.  Aber  während 
sich  Archilochos  in  den  Epoden  und  Jamben  gegen  alles  wild 
aufbäumt,  zeigt  der  Dichter  diesesmal  stoisches  Ertragen :  ,,Das 
Leid  wird  nicht  besser  durch  Klagen.  Jetzt  hat  uns  Unglück 
getroffen,  doch  nur  Geduld!  Bald  lächelt  uns  wieder  das 
Glück."  Ebenso  ungewohnt  sind  in  seinem  Munde  die  Sentenzen 
Fr.  15  und  16;  doch  durchzieht  auch  einen  Teil  der  Tetraraeter 
ein  ernster  fast  melancholischer  Ton,  wofür  ich  blos  die  resig- 
nierten Verse  Fr.  66  oder  die  Mahnung  (Fr.  64),  tote  Männer 
nicht  zu  schmähen,  als  Beispiele  anführe.  Vielleicht  sind  beide 
Gruppen  von  dem  gealterten  Manne,  der  in  den  Kämpfen  des 
Lebens  müde  geworden  ist ,  gedichtet ;  er  hat  erfahren ,  dass 
alle  wilden  Ausbrüche  des  Schmerzes  die  Sache  nicht  besser 
machen.  Deshalb  hat  er  sie  aufgegeben  und  nimmt  wenigstens 
den  Schein  der  Resignation  an.  Die  beiden  Epigramme  Nr.  17 
und  18  sind  sehr  zweifelhaft.  Das  witzige  auf  eine  Hetäre  be- 
zügliche Distichon  (Fr.  19),  das  wohl  einem  längeren  Gedichte 
entstammt,  ist  gleichfalls  bedenklich. 

Auf  jen%  Dichtungsarten  beschränkte  sich  der  ausserordent- 
liche Geist  des  Archilochos  nicht;  denn  selbst  das  Melos  bheb 
ihm  nicht  völlig  fremd.  Zweifelten  auch  die  Alten  selbst,  ob 
er  wirklich  die  ihm  zugeschriebenen  lobakchen  (Fr.  120.  121) 
verfasst  habe  ^),  so  war  doch  von  ihm  ein  Hymnus  an  Herakles 
allbekannt  und  der  Refrain  desselben  TvjvsXXa  xaXXtvtxs  so 
populär,  dass  den  Siegern  in  Olympia  ihre  Freunde  diese  Worte 
zujubelten.     Archilochos   dichtete   ihn  für  den  thasischen  Kult 


1)  Hepbui.stiuii  [».  Ö6,  22  W. 


Die  alte  Elegie  und  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  277 

des  Herakles  Kallinikos  *) ,  indem  er  den  Helden  als  ßesieger 
des  Augias  feierte.  Das  Gedicht  war  höchst  einfach:  Es  zerfiel 
in  drei  Strophen,  die  abgesehen  von  dem  Hefrain,  in  welchem 
Tenella  den  Klang  der  Kithara  nachbilden  sollte,  aus  je  einem 
katalektischen  trochäischen  Dimeter  und  einem  jambischen 
Trimeter  bestanden.^) 

Auf  das  hohe  Ansehen,  das  Archilochos  genoss^),  haben 
wir  bereits  oben  hingewiesen.  Die  Parier,  die  ihn  bei  seinen 
Lebzeiten  verfolgt  hatten ,  ehrten  ihn  nach  seinem  Tode  ^)  als 
Heros.  Er  war  gewissermassen  auch  ein  Heros  der  altattischen 
Komödie,  die  von  ihm  den  persönlichen  Angriff  lernen  konnte; 
Kratinos  ^)  verfasste  daher  ein  Stück,  das  'Ap-/tXo'/oi  hiess,  und 
Aristophanes  '^)  las  die  Epoden  am  liebsten.  Den  wohlgezogenen 
Alexandrinern '')  und  ihren  römischen  Nachfolgern  stand  er 
natürlich  ebenso  wie  die  alten  Komiker  etwas  fremdartig  gegen- 
über; er  übte  auf  ihre  Dichtung  einen  höchst  geringen  Ein- 
tiuss  aus.  Dasselbe  gilt  von  den  Dichtern  der  augusteischen  Zeit, 
wiewohl  Horaz'  Epoden  zahme  Nachahmungen  der  archilochischen 
sein  wollen.  ^)  Was  die  Gelehrten  betrifft,  so  schrieb  bereits 
der  pontische  Herakleides  7:s[A  'Ap-/iX6'/oü  xai  '0[j-r]poD.^)  Den  Ari- 
starch  führte  Klemens  von  Alexandria^")  sv  'Ap-/tXo)(£W'.c  oTroprj- 
[laat  an,  aber  der  Inhalt  der  Notiz  bezieht  sich  auf  das  Zeit- 
alter Homers ;  wahrscheinlich  waren  in  der  ilmi  vorliegenden 
Quelle  die  'Aptatap^^sia  viZO[Lvri\LCLxa  angeführt,  was  mit  ander- 
weitig bekannter  Korruptel  ^^)  voji  Abschreibern  oder  Lesern  zu 
dem  bei  Klemens  stehenden  Titel  umgestaltet  wurde.  ApoUonios 


1)  CIG.  II  2358. 

2)  Bergk  II  *418  ff.,  der  den  Hymnus  zu  rekonstruieren  sucht;  L. 
V.  Sybel  Hermes  5,  192  ff.  will  Tenella  nicht  als  alt  anerkennen,  ebenso 
Deuticke  p.  34  ö'. 

3)  Deuticke  p.  56  ff. 

4)  Alkidamas  bei  Arist.  rhet.  2,  23.   11,  vgl.  Aristid.  I  p.   142. 

5)  Bergk  comm.  de  com.  ant.   1,   1. 

6)  Cic.  ad  Att.   16,  11,  2. 

7)  Diese  erfanden  die  Fabel,  dass  die  Lakedämonier  Archilochos  ausge- 
wiesen hätten  (Plut.  inst.  Lac.  34.  Val.  Max.  6,  3,  12,  vgl.  Piccolomini 
Hermes  18,  266  f.) 

8)  Hör.  ep.   1,   19,  23  ff. 

9)  Diog.  L.  5,  87. 

10)  Strom.  1,  141  S.  388  P. 

11)  Bergk  II*  439. 


278  9-  Kapitel. 

vou  Rhodos  *)  sprach  über  Archilochos  nur  in  seinem  grossen 
literarhistorischen  Werke.  Von  dem  Byzantier  Aristophanes 
wird  ein  abyipoL^^a  itspi  r^<;  axvofisvTQC  av.oz(xkri<z  angeführt  ^) ;  die 
Etymologica  erwähnen  anonyme  Schohen.  ^) 

A'^or  der  Fragmentensammlung  ßergks  II  ^  382 — 440  war 
die  Separatausgabe  von  Ign.  Liebel  (Leipzig  1812.  2.  A.  Wien 
1819)  zu  nennen. 

Simonides  von  Amorgos*)  ist  der  zweite  aber  weit 
weniger  bedeutende  Vertreter  des  lambos.  Er  war  als  Sohn 
des  Krines  auf  Saraos  geboren  und  führte  von  hier  nach  der 
kleinen  Insel  Amorgos  Kolonisten,  die  sich  in  den  drei  Städten 
Minoa  (wo  er  selbst  seinen  Wohnsitz  nahm)^),  Aigialos  und 
Arkesine  ansiedelten.^)  Die  Alten  schwankten  daher,  ob  sie 
Amorgos  ^)  oder  Samos  ^)  seine  Heimat  nennen  sollten.  Ueber 
seiae  Zeit  wussten  sie  gar  nichts,  weshalb  sie  ihn  nach  be- 
liebter Manier  zum  Zeitgenossen  des  Archilochos  machten.  **) 
Manche  hielten  ihn,  vielleicht  weil  ihn  dieser  weit  übertraf,  für 
älter  ^"),  indem  sie  den  Unterschied  der  Talente  mit  dem  der 
Zeiten  verwechselten. 

Simonides  verfasste  blos  zwei  Bücher  Jamben  ;^^)  Suidas 
teilt  ihm  nach  seiner  schhmmen  Gewohnheit,  Homonyme  zu 
vertauschen ,  zwei  Bücher  Elegien  und  dafür  seinem  keischen 
Namensvetter  Jamben  in  zwei  Büchern  zu.  Die  ap-/atoXoYta 
SajAicDv  ist  entweder  identisch  mit  dem  Abschnitte  des  von  dem 
Samier  Asios  verfassten  genealogischen  Gedichtes,  aus  dem  wir 
einige  Verse  besitzen ,    oder  wahrscheinhcher  ein  längeres  jam- 


1)  Athen.  10,  451  d. 

2)  Athen.  3,  85  e. 

3)  Etym.   Gud.   p.    305,   8,    Etym.   Flor.    p.    179    v.   y.ataTCpot^aodat  und 
Etym.  Paris,  in  Anecd.  Paris.  4,  55,   16. 

4)  Richtiger   lY)|xtuvLoY); ,    vgl.    Choerob.  im    Et.  M.  713,  18;    Vol.   Herc. 
coli.  alt.  4,  201;  Röhl  iuscr.  Gr.  ant.  1. 

5)  Steph.  Byz.  v.  'AjAOfiYoc. 

6)  Suidas. 

7)  Strabo  10,  487;  Steph.  Byz.  1.  c. 

8)  Einige  nach  Proklos  (bei  Phot.  cod.  239)  p.  243  W. 

9)  Roh  de  Rhein.  Mus.  33,  193. 

10)  Suida«;    deshalb    weist    ihm    Kyrillos    Anecd.    Par.    4,  196,  16    wahr- 
scheinlich die  erste  Stelle  an. 

11)  Ein  11.  Buch  (Euseb.  praep.    ev.    10,  2)   geht  auf  einen  Schreibfehler 
zurück,  s.  Bergk  zu  Fr.  6. 


Die  alte  Elegie  und  die  jainbisch-trochäische  Dichluug.  279 

iDisches  Gedicht,   das  die  Sitten  der  Samier  schilderte;  ich  be- 
ziehe   hieher    einen    anonymen   Vers,    der    auf  Sanios    sprich 
wörtlich  war:     ßaStats'  de,  'Hpaiov  s[j.7C£7cXeY{XEVov.^)    Die  Spuren 
Fr.  8  und  18  sind  zu  zweifelhaft  als  dass  sie  berechtigten,  dem 
Simonides  ohne  äusseres  Zeugnis  auch  Choliamben  beizulegen. 

Simonides  steht  ohne  Zweifel,  schon  wenn  wir  auf  die 
griechische  Volksstimrae  hören,  weit  hinter  Archilochos  zurück. 
Die  Dürftigkeit  seiner  Fragmente  gestattet  nicht  mehr,  ihn  mit 
diesem  zu  vergleichen,  da  die  polemischen  Gedichte  bis  auf 
unverständliche  Stäubchen  verloren  gegangen  sind,  und  doch 
vereint  Lucian^)  mit  dem  Hasse  des  Archilochos  gegen  Ly- 
kambes  die  Verfolgung,  welche  Orodoikides  (Orodikides)  durch 
Simonides  erfuhr.  Gerade  die  längeren  und  verständhcheren 
Stücke  verdanken  wir  nämlich  Stobaios,  der  natürlich  blos 
ethische  Sentenzen  auszog.  Hieraus, erhellt  nun  allerdings,  dass 
Simonides  den  Jambos  nicht  gleich  Archilochos  ausschliesslich 
zu.  persönlichen  Angriffen  verwendete ,  sondern  sich  ausserdem 
besonders  an  die  hesiodische  Spruchdichtung  anschloss.  Von 
den  beiden  längsten  Fragmenten  handelt  das  erste  über  die 
VergänglicJ^keit  und  Machtlosigkeit  des  Menschen.  Das  118 
Verse  umfassende  siebente  ist  ein  Frauenspiegel  von  wenig 
Schwung  und  Frische;  der  Dichter  teilt  in  spiessbürgerlichem 
Tone  die  Frauen  in  Klassen  ein,  für  welche  Schweine,  Füchse, 
Hunde,  die  Erde,  das  Meer,  Esel,  Wiesel,  Pferde,  Affen  und 
Bienen  als  Vergleichungsobjekt  dienen  müssen ;  nur  den  fleissi- 
gen  gerechten  Frauen,  die  den  Bienen  gleichen  —  Periandros 
nahmt  deshalb  seine  Gattin  Lyside  liebkosend  Melissa^)  —  lässt 
ev  Gerechtigkeit  widerfahren.  Die  Aufzählung  und  Schilder- 
ung der  Arten  ist  ebenso  nüchtern,  trocken  und  unpoetisch 
wie  die  hesiodischen  Verse;  wir  wollen  lieber  gar  nicht  daran 
denken,  mit  welcher  Frische  Archilochos  den  gleichen  Gegen- 
stand behandelt  hätte.  Phokylides  führte  in  Fr.  3  jenen  Ge- 
danken in  wenigen  Versen  aus;  wer  war  der  frühere?  V.  96 
bis  118,  welche  kurzweg  alle  Frauen  ohne  Ausnahme  verdam- 


1)  Duris  bei  Athen.  12,  525  e.  W^elcker  und  andere  hielten  diese  Archäo- 
logie für  eine  Elegie  (Literatur  in  C.  Müllers  fragm.  bist.  Gr.  II  16). 

2)  Pseudol.  2. 

3)  Diog.  L.   1,  7,  1. 


280  9.  Kapitel. 

men,  gehören  zu  einem  anderen  Gedichte^);  warum  aber  der 
Verfasser  verschieden  sein  soll,  sehe  ich  nicht  ein,  da  die 
Ansichten  auf  diesem  Gebiete  je  nach  den  Umständen  sehr  zu 
schwanken  pflegen.  Das  echte  Stück  wurde  nach  der  neuen 
Mode  auf  die  Folterbank  der  Zahlensymmetrie  gelegt;  während 
Kiessling^  dabei  noch  massig  vorging,  behandelte  Ribbek^)  das 
Gedicht  mit  grosser  Willkür.  Gegen  diese  ganze  Manier  genügen 
die  feinen  ironischen  Bemerkungen  Bergks.  Besser  wäre  es^ 
statt  symmetrische  Verhältnisse  auszuklügeln ,  lieber  den  Zu- 
sammenhang des  Stückes  mit  der  Tierfabel  genauer  nachzu- 
weisen; wie  Archilochos  verwendete  sie  Simonides  auch  sonst, 
z.  B.  in  Fr.  9,  das  den  Anfang  einer  Fabel  vom  Reiher  und 
Aal  bildet. 

Die  Fragmente  des  Jambendichters  waren  lange  Zeit  unter 
die  des  Elegikers  gemischt,  bis  sie  Welcker  in  der  Schrift 
„Simonidis  Amorgini  iambi  qui  supersunt  (zuerst  im  Rheüü- 
schen  Museum  3,  353 — 438 ,  dann  separat  Bonn  1835)  scharf- 
sinnig schied.  Die  dürftigen  Reste  stehen  jetzt  bei  Bergk  11* 
441—59. 

Eine  Erzählung  in  jonischer  Mundart,  welche  Stobaios 
flor.  28,  18  mitteilt,  ist  wahrscheinlich  nichts  weite?  als  ein  in 
Prosa  aufgelöstes  jambisches  Gedicht;*)  es  richtet  sich  gegen 
die  Goldgierigen:  Ein  habsüchtiger  Mensch,  dereinen  Meineid 
vermeiden  will,  schwört  eine  Geldsumme  ab,  indem  er  während 
des  Eides  seinem  Gegner  einen  hohlen  Stock  mit  dem  Gelde 
in  die  Hand  gibt,  wird  aber  entlarvt.  Wegen  dieser  moralischen 
Pointe  könnte  unser  Simonides  das  Gedicht  verfasst  haben. 

Der  rastlose  Geist  der  Griechen  erfand  auch  bei  dem  Jam- 
bos  eine  neue  Variation,  die  mit  einer  Wendung  desselben  zum 
Burlesken  zusammenhing.  Den  Griechen  galt ,  wie  wir  bei 
Hephaistos  sehen  können,  das  Hinken  als  ein  komisches  Ge- 
brechen; Verse,  welche   zu  hinken  schienen,   waren  daher  von 


1)  Bernhardy  Griech.  Litt.  IP  1,  493  und  Härtung  fassen  V.  94—11» 
zusammen;  Jordan  Hermes  14,  287  betrachtet  V.  94—5  als  Uebergangs- 
verse.  V.  Sybel  Hermes  7,  327  ff.  will  überhaupt  keine  Trennung  zugeben, 

2)  Rhein.  Mus.  19,  136  ff. 

3)  ßhein.  Mus.  20,  74  ff.,  mit  Antwort  gegen  v.  Sybel  29,  248  ff. 

4)  Haupt  bei  Stob.  ed.  Meineke  IV  p.  LXI,  vgl.  Ten  Brink  Philol, 
22,  888  ff. 


Die  alte  Elegie  uud  die  jambisch-trochäische  Dichtung.  281 

vornherein  des  Lacherfolges  sicher.  Beim  Jambos  konnte  man 
diesen  Eindruck  leicht  erreichen ,  wenn  der  rasche  Schritt  des 
Trimeters  durch  einen  Spondeus  im  sechsten  Fusse  eine  plötz- 
liche Störung  erlitt. 

Von  den  Fragmenten  der  Choliambendichter  gibt  es  zwei 
besondere  Ausgaben :  Auctorum  qui  choliambis  usi  sunt  Grae- 
corum  reliquias  coli,  et  ill.  Joach.  H.  Knoche,  I.  II  1.  Herford 
1842 — 5  und  Rossignol,  fragments  des  chohambographes  grec& 
et  latins,  Paris  1849. 

Der  erste  und  bedeutendste  Choliambendichter  Hipponax 
von  Ephesos,^)  Sohn  des  Pythes  und  der  Protis ,  lebte  nach 
der  einen  Angabe  Ol.  59^)  oder  60,^)  nach  der  anderen  unter 
der  Regierung  des  Dareios.*)  Es  handelt  sich  offenbar,  wie  bei 
Theognis,  um  die  Erwähnung  eines  Perserzuges,  welchen  die  einea 
als  den  des  Harpagos,  die  anderen  als  den  unter  Dareios  fal- 
lenden betrachteten.  Von  den  Tyrannen ,  welche  die  Perser 
überall  einsetzten  —  in  Ephesos  waren  es  Athenagoras  und 
Komas  —  wurde  Hipponax  vertrieben  und  wanderte  nach 
Klazomenä  aus.  Hier  ging  es  ihm  nach  Fr.  16  — 19  sO' 
schlecht,  dass  er  selbst  an  warmen  Kleidern  Mangel  litt.  Zu- 
dem kam  er  mit  den  bekannten  Bildhauern  Athenis  und  Bupa- 
los  in  Streit^)  und  wurde,  ein  hässlicher  magerer  Knirps*'),  von 
ihnen  mit  Karrikaturen  verfolgt;  bezüglich  der  Gründe  dieser 
P'eindschaft  möchte  ich,  weil  Fr.  39  neben  Bupalos  eine  Arete 
vorkommt,  sagen:  Cherchez  la  Femme.  Was  jedoch  die  Horazscho- 
lien  zu  epod.  6,  14  als  unglaubwürdig  mitteilen,  Hipponax  habe 
um  die  Tochter  des  Bupalos  gefreit,  aber  wegen  seiner  Häss- 
lichkeit  einen  Korb  erhalten,  ist  nach  der  Geschichte  des  Ar- 
chilochos  erdichtet.     Mit  den  Künstlern  konnte  Hipponax  sich 


1)  Hipponactis  et  Ananii  iambographorum  fragm.  coli.  Welcker,  Gott. 
1817. 

2)  Parische  Marmorchronik  Z.  57  f.  Ol.  59,  3  (542).  Hieronymus  setzt 
ihn  gar  zu  Ol.  23,  1 ,  weil  ihn  ein  Chronograph  mit  Archilochos  (vgl.  Hieron., 
ad  a.  914)  verband,  denn  nachlä.ssige  Literarhistoriker  .setzten  Hipponax  nebea 
Archilochos  (vgl.  Plut.  raus.  1133  d). 

3)  Plin.  n.  h.   36,  11. 

4)  Proklos  ehrest,  p.   243  W. 

5)  Ael.  v.  h.  10,  6.  Manche  schrieben  ihm  den  Erfolg  des  Archilochos 
zu  (Acro  zu  Hör.  epod.  6,  14). 

6)  Melrodoros  bei  Athen.  12,  552  cd. 


282  9-  Kapitel. 

überhaupt  nicht  vertragen,  weil  sie  ihm  vermutlich,  schönes  zu 
sehen  gewohnt,  seine  körperlichen  Gebrechen  in  besonders  be- 
leidigender Weise  vorhielten;^)  Fr.  49  ist  gegen  den  Schiffsmaler 
Mimnes  gerichtet.  Seine  Leibesgestalt  wie  sein  Missgeschick 
trieben  ihn  jedenfalls  zum  Schmähvers.  Denn  solche  Leute 
werden  schon,  wenn  sie  den  Spott  argwöhnen,  verbittert,  wie 
A'iel  mehr  ein  Grieche ,  in  dessen  Vaterland  die  körperlichen 
Fehler  als  schlimme  Mängel  betrachtet  und  ungeniert  vorge- 
halten wurden. 

Theokrit  (epigr.  21)  welcher  meint,  er  habe  blos  die 
-Schlechten  verfolgt,  fasst  Hipponax  zu  günstig  auf.  Wenn 
Archilochos  auch  in  dem  heftigsten  Ausbruche  seiner  Lei- 
■denschaft  nie  den  Aristokraten  verleugnet,  nie  seine  An- 
mut verhert,  wird,  was  bei  ihm  geniale  Freiheit  ist,  bei 
Hipponax  zur  unverhüllten  Gemeinheit.  Die  Ausdrucksweise 
ist  dieselbe  pöbelhafte,^)  die  wir  an  den  Sklaven  der  Komödie 
gewohnt  sind,  und  dazu  passt  es,  dass  er  den  Jargon  der 
niedersten  Bevölkerungsschichteu  sich  angeeignet  hat.  Weil 
ihm  das  Epos  nicht  das,  was  Archilochos  daraus  lernte,  zu 
bieten  hatte ,  verhöhnte  es  Hipponax  in  hexametrischen  Paro- 
-dien;  er  ist  somit  auch  der  Erfinder  der  Parodie.^)  Auch  an  den 
trochäischen  Tetrametern  nahm  er  dieselbe  Veränderung  wie  am 
lambos  vor  (Fr.  78 — 84).  Ausserdem  dichtete  er  einiges  in  reinen 
Trimetern,  doch  verbürgen  dies  blos  Fr.  73,  74  und  76  zuverläs- 
sig. Seine  Gedichte  füllten  zwei  Bücher  (la[ißoc  von  den  Gram- 
matikern betitelt)  von  denen  das  erste  die  Bupalos  bekärapfen- 
■den  Gedichte  enthielt;*)  das  zweite,  aus  dem  blos  zwei  un- 
bedeutende chohambische  Fragmente  (26  und  27)  citiert  werden, 
enthielt  wahrscheinlich  alles  übrige. 

Hipponax  konnte  seiner  ganzen  Natur  nach  kein  Klassiker 
«einer  Nation  werden.  Es  mag  freiHch  manche  amateurs  ge- 
geben haben,  ,,denn  es  gibt  nichts  gemeines,  was  fratzenhaft 
ausgedrückt  nicht  humoristisch  aussähe."  Abgesehen  von 
einigen  unbedeutenden  Sentenzen  kennen  wir  Fragmente  blos 


1)  Plin.  nat.  bist.  36,  12.     Nach    Diog.    L.    4,    58    erwähnte    Hipponax 
aach  den  Bildhauer  Biou. 

2)  Demetrios   de   eloc.    132  t«  y"P  TO'.aöxa  xäv  öko  'iTCJvwvaxtof:  Kift^xa.:, 

3)  Athen.   16,  698  b. 

4)  Tzetz,  Lycophr.  219. 


Die  alte  Elegie  und  die  jarabisch-trochäische  Dichtung.  283 

aus  den  nicht  wählerischen  Grammatikern,  zamal  den  Lexiko- 
graphen, denen  Hipponax  durch  seine  zahlreichen  der  jonischen 
Volkssprache  entlehnten  „Glossen"  ein  leckeres  Mahl  bereitete. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  schrieb  der  Smyrnäer  Hermip- 
pos  über  Hipponax  •/)  vielleicht  stammen  die  von  Tzetzes  er- 
haltenen Fragmente,  welche  den  Kern  des  heutigen  Bestandes 
bilden,  indirekt  aus  dieser  Quelle. 

Die  literarhistorisch  wenig  bietenden  Ueberreste  teilt  Bergk 
114  460—500  mit. 

V^on  anderen  Choliambendichtern  lebte  in  früher  Zeit 
Ananios,^)  über  den  wir  nur  wissen,  dass  ihn  schon  Epichar- 
mos  erwähnte  und  sogar  citierte  ;^)  er  überbot  seinen  Vorgänger, 
mdem  er  den  Jambos  mit  zwei  Spondeen  schloss.  Die  Alten 
lasen  Choliamben,  Trimeter  und  hinkende  Tetrameter ;  weil  sie 
oft  schwankten,  ob  ein  Vers  von  Hipponax  oder  Ananios 
herrühre,*)  scheinen  die  Gedichte  beider  im  Buchhandel  verei- 
nigt gewesen  zu  sein.  Die  erhaltenen  fünf  Ueberbleibsel  findet 
man  bei  Bergk  H^  501 — 3. 

Wir  wollen  hier  sogleich  die  übrigen  Choliambendichter 
anreihen.  In  der  attischen  Periode  verfasste  Diphilos,^)  der 
vor  Eupolis  lebte,  ausser  einer  Theseis  choliambische  Gedichte, 
unter  anderem  gegen  den  Philosophen  Boidas.*')  Dagegen  gibt 
die  alexandrinische  Zeit  die  Polemik  ganz  auf  und  benutzt  die 
Choliamben  zu  der  Didaktik  und  lehrhaften  Erzählung.  Hie- 
her gehören  die  Choliamben  des  Kallimachos,  Aischrion,  Apol- 
lonios  und  Herodas  (Herondas)J)  die  mit  Hipponax  und  Ana- 
nios nichts  als  den  jonischen  Dialekt  und  das  Versmass  gemein- 
sam haben.  An  die  Alexandriner  lehnte  sich  Babrios  an,  als 
er  Fabeln  in  diesem  Versmasse  dichtete.  Allerlei  choliambische 
Spielereien  zählt  Bernhardy  IP  1,  340  f.  auf. 


1)  Athen.  7,  327  bc;  ders.  7,  324  a  erwähnt  ol  £4"'lY*^^°'H--v°'" 

2)  'Avaviac  Schol.  Arist.  Ean.  674.     Tzetz.  prol.  in  Lycophr. 

3)  Athen  7,  282  b.  Hephaistion  c.  5  nimmt  die  Möglichkeit  an,  dass  er 
älter  als  Hipponax  war. 

4)  Bergk  zu  Fr.  1—3. 

5)  Schol.  Arist.  Nub.  96;  vgl.  Meineke  com.  Graec.  I  448  f. 

6)  Bergk  II*  504. 

7)  So  Meineke  anall.  AI.  399,  noch  jünger  nach  Bernhardy  11^  1,  477 
lind  Schneidewin  Ehein.  Mus.  6,  292;  Bergk  II*  505  identificiert  ihn  will- 
kürlich mit  dem  von  Xenophon  Hell.  3,  4,  1  erwähnten  Syrakusaner. 


284  9-  Kapitel. 

Wie  in  Jonien  die  Jarabendichtuiig  aus  dem  Demeter- 
dienste entsprungen  war,  so  geschah  es  auch  auf  Sicilien,  der 
geliebten  Insel  der  Göttin;  in  Syrakus  „jambten"  daher  die 
lafjß'.atai  ebenso  gut  ihre  Gegner,  wie  auf  den  jonischen  Inseln. 

Leider  kennen  wir  von  dem  Selinuntier  Aristoxenos 
nichts  weiter  als  den  Namen.  Die  Chronographen  machten  ihn 
willkürlich  zum  Zeitgenossen  der  beiden  Jamben  dichter,  obgleich 
seine  Vaterstadt  erst  Ol.  38,  1  (628)  gegründet  war.  Den  ter- 
minus  ante  quem  bestimmt  eine  Erwähnung  bei  Epicharmos^). 
Er  verwendete  nach  dorischer  Sitte  auch  die  Anapäste  zu  Sa- 
tiren^) und  gebrauchte  die  dorische  Mundart  seiner  Heimat. 
Diese  Notizen  bietet  sammt  einem  Verse  der  Metriker  Hephai- 
stion  (c.  8  p.  26  ff.),  ohne  den  wir  von  diesem  Dichter  nur  den 
Namen  wüssten. 


1)  Vgl.  auch  Schol.  Arist.  Plut.  487. 

2)  Rossbach-Westphal  griech.   Metrik  3,88. 


10.  Kapitel. 
Die  eigentliche  Lyrik  (Melik). 

ISfomendichtung :    Terpandros,    Klonas,   Ardalos,  Sakadas,   Echembrotos   und 

Polymnestos  —  Chorische  Poesie :  Thaletas,  Xenodamos,  Xenokritos,  Alkman, 

Stesichoros,  Xanthos,  Ibykos  und  Tynnichos  —  Dithyrambos :  Arion  —  Melik : 

-Alkaios,  Sappho,  Erinna  und  Anakreon. 


Fast  ganz  vom  Epos  emancipiert  zeigt  sich  das  griechische 
Lied,  das  jisXoc,  wie  die  Griechen  die  lyrischen  Gedichte  im 
engeren  Sinne  nannten  ^),  weil  sie  mit  Musikbegleitung  wirklich 
gesungen  wurden.  Dadurch  sowie  durch  die  damit  zusammen- 
hängende strophische  Gliederung  unterscheidet  sich  das  Melos 
von  der  Elegie  und  dem  Jambos  schon  äusserlich.  Wenn  also 
eine  der  Haupteigentümlichkeiten  in  der  engen  Verbindung  mit 
der  Musik  liegt,  könnte  es  sich  fragen,  ob  nicht  eine  Darstellung 
der  griechischen  Musik  der  der  Lyrik  vorausgehen  muss.  Dieser 
Frage  gegenüber  dürfte  mir  die  persönliche  Entschuldigung 
^Ovoq  zpoQ  Xopav  nicht  viel  helfen,  wenn  mir  nicht  auch  objek- 
tive Gründe  zu  Gebote  ständen.  Zunächst  ist  in  der  Blütezeit 
Griechenlands  davon,  dass  die  Musik  den  Text  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  hätte,  keine  Rede,  vielmehr  ist  sie  nichts  weiter 
als  eine  Dienerin  der  Poesie.^)  Nur  so  konnte  es  geschehen, 
dass  sich  die  Griechen  mit  wenig  künstlichen  Instrumenten  be- 
gnügten und  ziemlich  geringe  Sorgfalt  auf  ihre  Vervollkommnung 
verwandten.^)     Dann  aber  erhebt  sich  die  Frage,  was  es  denn 


1)  Didymos  behandelte  in  seinem  Werke  Trspl  XupixÄv  tcoitjtwv,    das  die 
Späteren  stark  benützten,  nur  diese  Dichter. 

2)  Erst  Ol.  55,  3    Hessen   die  Leiter  der  Pythien   das  blosse  Kitharaspiel 
(<]>'."a7]  x'.{)-äp'.aic)  zu. 

3)  K.    V.   Jan    die  griechischen  Saiteninstrumente,   Lpg.   1882   (Pr.   von 
Saargemünd). 


286  10.  Kapitel. 

hülfe,  wenn  ich  seitenlang  die  Terminologie  der  antiken  Musik 
bespräche;  es  wäre  bei  den  vorhandenen  trefflichen  Werken^) 
freilich  nicht  schwer,  aber  niemand  würde  daraus  ein  tönendes 
Bild  der  griechischen  Musik  gewinnen,  denn  die  vorhandenen 
Reste  von  Melodien  sind  zu  dürftig.  Alles  Aufgebot  von 
Worten  würde  also  blos  tote  Gelehrsamkeit  sein.  Ich  ziehe  es 
daher  trotz  Flach  ^),  der  es  für  einen  grossen  Mangel  der  bis- 
herigen Literaturgeschichten  hält,  dass  sie  auf  die  Geschichte 
der  Musik  gar  nicht  oder  nur  wenig  eingehen,  vor,  den  wiss- 
begierigen Leser  auf  die  Spezialwerke  zu  verweisen,  wie  ich 
auch  der  griechischen  Tanzkunst,  die  ja  für  die  Chorlieder 
ebenso  wichtig  ist,  kein  besonderes  Kapitel  widme.  Es  genüge 
die  Erinnerung ,  dass  wir  leider  nur  den  Text  der  Lyriker 
kennen  und  die  Verbindung  von  Poesie,  Musik  und  teilweise 
Orchestik  nicht  mehr  empfinden  können ,  was  der  richtigen 
Würdigung  der  Dichter  erheblichen  Eintrag  thut. 

Die  Lyrik  zerfällt  ihrem  Gegenstande  und  zugleich  ihrer 
Form  nach  in  zwei  grosse  Massen,  die  religiösen  Gesänge« 
und  die  profanen  Lieder.  Jene  können  wir  nach  ihrem  1 
Verhältnisse  zur  Orchestik  wieder  in  monodische  und  chorische, 
Gesänge,  die  natürlich  auch  in  der  Komposition  abweichen/ 
zerlegen.  Hinsichtlich  der  monodischen  Art  des  Vortrages  be- 
rühren sich  der  Nomos  und  das  Lied,  w^ährend  durch  die 
Gleichmässigkeit  der  Strophen  letzteres  und  die  Chorpoesie  zu- 
sammengehören. 


1)  Fr.  Gevaert  histoire  et  theorie  de  l;i  musique  fle  Tantiquite,  Gent 
1875;  Westphal  Geschichte  der  alten  und  mittelalterlichen  Musiki.  Breslau 
1864;  ders.  die  Musik  des  griechischen  Altertumes,  Lpg.  1883;  über  den  Zu- 
sammenhang der  alten  Musik  mit  dem  griechischen  Kirchengesang,  durch 
dessen  Vergleichung  wir  am  besten  einen  anschaulichen  Eindruck  von  jener 
erhalten  können:  W.  Christ  in  der  Einleitung  zur  Anthol.  Graeca  carmm. 
Christ.;  Tzetzes  über  die  altgriechische  Musik  in  der  griechischen  Kirche, 
München  1874;  Papastamatopulos  Studien  zur  altgriechischen  Musik, 
Bonn  1878;  über  die  griechischen  "Werke  von  Eust.  Therianos  und  D.  Bcrnar- 
dakis  Kuelle  revue  et  gjiz.  nuisicale  de  Paris  1877  26  mars,  2  et  23  avril, 
20  aoüt,  auch  NsoXo-fOC    li^TT    Nr.  2094. 

2)  Geschichte  der  gricciiisciien  Lyrik  I.  Tübingen  1883.  Da  unsere  An- 
sichten ül>er  literarhistorische  Forschung  und  Kritik  zu  weit  auseinander  zu 
gehen  scheinen,  enthalte  ich  mich  jeder  Polemik  gegen  das  Buch,  um  so 
mehr  als  bei  der  prinzipiellen  Meinungsverschiedenheit  eine  Vereinigung  leider 
nicht  zu  hoffen  ist. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  287 

Die  religiöse  Monodie,  in  welcher  der  Keim  der  gesamraten 
Melik  lag,  heisstNomos,  der,  weil  er  sich  bei  den  pythischen 
Spielen  entwickelt  hat,  fast  ausschliesslich  im  Dienste  des  Apollo 
steht.  *)  Nach  dem  begleitenden  Instrumente  heisst  er  entweder 
kitharödisch  oder  aulödisch.  Von  der  Vorgeschichte  war  im 
ersten  Kapitel  die  Rede,  die  kunstgerechte  Ausbildung  erfuhr 
aber  der  Nomos  durch  den  Lesbier  Terpandros^)  aus  Antissa.^) 
üeber  seine  Zeit'*)  weichen  die  Angaben  ausserordentlich  ab: 
Die  meisten  Chronographen  nahmen  an,  dass  er  gleich  Tyrtaios 
in  der  schweren  Bedrängnis  des  zweiten  messenischen  Krieges 
nach  Sparta  gerufen  worden  sei,  um  den  finsteren  Geist  des 
Unfriedens  und  der  Verzagtheit  durch  die  Musik  zu  bannen. 
Deshalb  setzten  ihn  Eusebios  Ol.  36,  3  ^)  und  die  Quelle  des 
Marmor  Parium  (Z.  49)  Ol.  33,  4  oder  34,  1.  Hieronymos^) 
kombinierte  seine  Thätigkeit  mit  der  Gesetzgebung  des  Lykurg; 
nicht  minder  beruht  die  Angabe  des  Glaukos '') ,  er  sei  sofort 
auf  die  Begründer  des  auletischen  Nomos  gefolgt,  auf  reiner 
Kombination.  Glauben  verdient  allein  Hellanikos  ^),  der  angab, 
dass  Terpandros  in  der  Liste  der  Sieger  in  den  Karneen  den 
ersten  Platz  einnahm ;  nach  Sosibios  begannen  aber  die  musi- 
kahschen  Wettkämpfe  in  Sparta  Ol.  26  (675—2).^)  Diese  An- 
gabe, welche  nicht  künstlich  erschlossen  scheint,  ist  die  glaub- 


1)  PoUux  4,  66  bezieht  ihn  auf  Zeus,  Athene  und  Apollo;  Bergk  za 
Lamprokles  fr.  1  III  ^555  nimmt  einen  Athenenomos  an.  Plutarch  mus.  29 
teilt  Olyrapos  einen  Nomos  an  Ares  zu. 

2)  C.  Walther  de  Graecae  poesis  melicae  generibus,  Halle  1866  S.  34  flf.- 

3)  Steph.  Byz.  s.  v.  und  Suid.  aus  Philon;  Suid  v.  (xsxa  Aeaßiov  ü)o6> 
mit  den  Parömiographen ;  Plut.  mus.  30.  Methymna  nennt  Diod.  fr.  11  p.  639 
Wess.  'Apvaloc  oder  Ku[j,aio^  heisst  er  bei  Suidas  wegen  der  genealogischen 
Verbindung  mit  Hesiod  oder  Homer.  Sein  Name  entspricht  dem  Kitharöden- 
namen  Terpes  (so  nennt  ihn  Tryphon  Authol.  9,  488),   Terpios   und  Terpnos. 

4)  Otto  Löwe  de  Terpandri  Le.sbii  aetate,  Halle  1869. 

5)  So  Synk.  (im  Arm.  nur  Abfall  Messenieus);  Hieronymos  setzt  ihn. 
schon  Ol.  34,  4  (34,  1  F,  34,  3  AP). 

6)  ajpl  v.iö'apwoojv  bei  Athen.   14,  635  f. 

7)  Plut.  mus.  4.  Als  erster  Lyriker  wird  er  bei  Proklos  mit  den  ältesten 
Epikern  in  genealogischen  Zusammenhang  gebracht. 

8)  Fr.  122  bei  Ath.  14,  635e;  ebenso  v.  Leutsch  Verh.  der  17.  Philo- 
logenversammlung in  Breslau  S.  66    und  E.  Curtius  griech.  Gesch.  I  *196. 

9)  Bald  nachher  Hessen  die  Spartaner  dafür  durch  Theodoros  A'on  Samos- 
die  Skias  erbauen  (Urlichs  Rhein.  Mus.   10,   19). 


288  10.  Kapitel, 

würdigste ;  jedenfalls  lebte  Terpandros   vor  Alkman,  weil  dieser 
bereits  Polymnastos,  einen  seiner  Nachfolger  erwähnte.^) 

Die  Spartaner  beriefen  den  lesbischen  Sänger,  der  angeblich 
wegen  Blutschuld  aus  seiner  Heimat  fliehen  mussle  ^),  auf  Ge- 
heiss  der  Pythia  in  ihre  Stadt  ^),  um  die  heimische  Musik  zu 
reformieren^)  und  durch  seine  Weisen  die  Gemüter  zu  be- 
ruhigen. ^)  Er  vertrat  also  die  apollinische  Musik ;  fiel  ihm 
"doch  viermal  der  Sieg  in  den  Pythien  zu.  ^)  Sein  Ruhm  ist, 
die  musikalische  Komposition  des  kitharödischeu  Nomos  be- 
gründet zu  haben.  Dieser  zerfiel  seitdem  in  sieben  Abschnitte ') : 
ap'/a^),  [JLSTap/d,  xataTpoTiä,  {isTaxaTaxpoTra,  ofJi'faXöc:  (ein  Name, 
<ier  mit  dem  Apollokulte  zusammenhängt),  o'^paYt?  und  £7:1X070«:. 
Aus  der  Stellung  des  6[j.(paXö<;  ergibt  sich,  dass  die  ersten  vier 
Abschnitte  nur  den  Wert  von  zwei  Kola  haben  und  Westphal  ^) 
also  den  o^^paXoQ  mit  dem  vorhergehenden  Gliede  willkürlich 
vertauschte.  Die  Tonart  war  die  seiner  Heimat,  die  äolische. 
Als  Titel  von  Nomen  werden  genannt:  "OpO-io?  (der  berühmteste, 
nach  dem  aufsteigenden  jambischen  Versmasse  benannt) ,  Tpo- 
ya.io(Z,  AtÖAtoc, " Botcbtio? ,  o^öc,  TsrpaoiSwc,  KirjTtitüv  (Kauicov)  und 
TspTrdvSpEoo«:  (?).  Die  Versmasse  waren  entweder  Hexameter 
(Fr.  5.  6)  oder  langgezogene  fermatenartige  Spondeeu  (Fr.  1. 
3.  4),  entweder  ia[x[ioi  opd-ioi,  tpo'/aioc  ayjtxavtot  oder  o;rovS£to'. 
jAsiCovs?  ^")  mit  nicht  sicher  zu  bestimmenden  Versabschnitten. 
Auch  das  ohne  Zweifel  daktylische  Fragment  Nr.  2  bildete 
wahrscheinlich    einen  Hexameter.     Der    erste   Nomos    war    ein 


1)  Was  Suidas  v.  '(Kov.b  [xih.  v.a\  Trv.^dxtu  über  seineu  Tod  erzählt,  bezieht 
sich  wahrscheinlich  auf  den  Kitharödeu  Terpes  (s.  Bernhardy  im  Kommentar). 

2)  Suidas  v.  [AEtä  xöv  Ai-jfy.ov  wSov. 

3)  Schneidewin  zu  Heracl.  pol.  p.  51. 

4)  Suid.  a.  O. ;  Chri.stod.  114  ff. 

5)  Letzteres  bezweifelt  Philodem,  de  mus.  col.  20,  indem  er  geltend 
macht,  das  Zeugnis  des  Stesichoros  sei  nicht  vollkommen  deutlich. 

6)  Glaukos  bei  Plut.  mus.   4. 

7)  Pollax  4,  66. 

8)  Im  Texte  des  Pollux  steht  £;:ap/«,  was  Bergk  glücklich  in  kr.xä.  ap/a 
verbesserte.  Dagegen  E.  v.  Leutsch  Philol.  29,  318.  Nach  letzterem  zerfiel 
der  Nomos  in  vier  Hauptteile. 

9)  Geschichte  der  alten  und  mittelalterlichen  Musik  I  77. 

10)  Ritschi  opusc.  1,  291  flf.  Christ  Metrik  "83.  93  u.  A.  (vgl.  Bergks 
Kommentar). 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  289 

apollinischer  Hymnus  (Fr.  2)*),  wozu  ein  sicheres  Fragment 
eines  Hymnus  an  Zeus  (Fr.  1)  kommt.  Ausserdem  sind  von 
Bergk  Nomen  auf  Apollo  und  die  Musen  (Fr.  3)  und  die  Dios- 
kuren  (Fr.  4)  vermutungsweise  angenommen.  Manche  be- 
zeichnen diese  Hymnen  auch  mit  7rpooi[A'.a  Xoptxa,  Im  späteren 
Altertum  zweifelte  man  (und  dies  wohl  mit  Recht)  an  der 
Echtheit  der  überlieferten  Gedichte.  ^)  Die  Sprache  war  die 
epische  Mundart  mit  dorischem  A. 

Für  diese  Nomen  machte  Terpandros  die  siebensaitige  Lyra, 
welche  die  Kleinasiaten  und  unter  ihnen  besonders  die  Lydier 
verwendeten,  den  Griechen  geläufig  •^)  und  fügte  ihr  noch  die 
Flöte  zur  Begleitung  bei.  *)  Was  den  Inhalt  betrifft,  so  scheint 
er,  da  ihn  Plutarch^)  ,, Lober  der  Heroenthaten"  nennt,  neben 
den  Göttermythen  oft  die  Ereignisse  der  LIeldenzeit  hereinge- 
zogen zu  haben.  Er  beschäftigte  sich  ja  auch  mit  den  homerischen 
Epen;  wenigstens  heisst  es,  er  habe  sie  komponiert.  Wahr- 
scheinlich stellte  Terpander  noch  die  Melodie  der  Skolien,  deren 
Erfindung  ihm  manche  zusprachen,  fest. 

Der  kitharödische  Nomos  dauerte  in  der  Art ,  wie  ihn 
Terpander  behandelt  hatte,  nicht  lange,  es  müssten  ihn  denn 
seine  Nachkommen*')  pietätsvoll  gepflegt  haben.  Aber  die  Keime, 
die  jener  Meister  hervorgebracht,  gelangten  im  Dithyrambos 
und  in  der  alten  Tragödie  zur  Entwicklung.  Seine  Nomen 
gaben  die  technische  Grundlage  für  die  späteren  Dithyramben- 
dichter ab,  was  Aristophanes  veranlasste,  den  Nomos  hin- 
sichtHch  der  Sprache  und  der  Rythmen  in  den  Wolken  (V. 
275  ff.)  zu   parodieren.'')     Äschylus    übernahm  von   Terpander 

1)  Suidas  V.  «[xtptavaxtiCsiv. 

2)  Strabo  13,  618  (Bergk  zu  Fr.  3). 

3)  Strabo  13,  618,  Eaclid.  iutrod.  härm.  p.  19,  Said.  s.  v.  u.  v.  v6jj,oc 
und  Plin.  7,  204  schreiben  ihm  auf  Grund  des  angeblich  terpandrischen 
Verses  k.-xazö'^iü  cp6p[j.'.YY-  '^'^ooc  xsXaoYj-ofjLsv  aixvouc  die  Erfindung  der  sieben- 
saitigen  Lyra  zu,  vgl.  C.  Fr.  Hermann  antiquitates  Laoon.  p.  72  flf.,  zuerst  auf 
einem  melischen  Gefässe  abgebildet  (Conze  melische  Thongefässe  T.  4  und 
Textvignette  =  Arch.  Ztg.  1854  T.  64,  vgl.  Brunn  Bull.  d.  I.  1861  p.  9). 
Nach  Poseidontos  (Atlien.  14,  635  d)  führte  er  auch  das  Barbiton  ein. 

4)  Marm.  Par.  Z.  49.  Pollux  4,  83. 

5)  Inst.  Laced.   17. 

6)  Suid.  v.  ^povtr. 

7)  Schol.  Arist.  Nub.  595  (Fr.  2  Bergk),  vgl.  Rossbach  und  Westphal  3, 
64.     Sie  behielten  den  Hexameter  noch  häufig  bei. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  1^ 


290  1^-  K^pit^^' 

die  Weise  des  vö-aoc  op^to?  und  die  langgezogenen  Fermaten ;  *) 
mit  seiner  Vorliebe  für  den  terpandrischeu  Nonios  hängt  es 
auch  zusammen,  dass  seine  Chorgesänge  nicht  selten  in  sieben 
Glieder  zerfallen.^)  Leider  ist  es  aber  in  letzterer  Zeit  Mode 
geworden  —  möchte  ich  doch  sagen  können,  gewesen  —  die 
Nomeneinteilung  dahin  zu  übertragen,  wohin  sie  nicht  gehört, 
z.  B.  auf  die  Siegeslieder  Pindars^)  und  selbst  auf  Catull;^) 
auch  Kallimachos  soll  nach  dem  Nomenschema  gedichtet 
haben.  ^)  Damals  war  Terpander  nur  mehr  ein  uralter  Sänger, 
den  man  nach  dem  Sprichworte  [astoc  töv  Asaßiov  <5)§öv  einfach 
den  ,, lesbischen  Sänger"  zu  nennen  pflegte^);  in  der  Kaiserzeit 
bezeichnete  sein  verschollener  Name  jeden  geschickten  Kitha- 
roden. ') 

Durch  Terpanders  Unternehmen  wurde  ein  anderer  Mann 
angeregt,  für  den  Flötennomos^)  dasselbe  zu  leisten.  Der 
auletische  Nomos  war  bisher  in  Phrygien  und  Lydien  von  der 
eingeborenen  Bevölkerung,  die  sich  auf  diese  Kunst  vorzüglich 
verstand,  sorgfältig  ausgebildet  worden.  Von  dem  mythischen 
Marsyas  dürfen  wir  billig  absehen;  Olympos^)  aber  steht  in  || 
der  Tradition  schon  der  historischen  Zeit  sehr  nahe,  wiewohl 
er  noch  älter  als  Terpandros  heisst.  Er  soll  bereits  die  Weisen 
des  IloX.ox£'f aXoc  (an  Apollo  gerichtet)  ^")  und  des  Athene  gel- 
tenden kriegerischen  apjjLdtetoc  ^^) ,  der  wahrscheinlich  mit  dem 
öpd-coc  vö|i,oc:  identisch  war  ^^),  erfunden  haben. 


1)  Arist.  Ran.  1264  fif.  Timachidas  bei  Schol.  Arist.  Ran.  1285. 

2)  In  den  Persern  V.  65  ff.  633  flf.  852  ff.,  mitupowSoc  und  £t:u>86<;  922  ff. 
8)  Mezger  Pindars  Siegeslieder  erklärt,  Lpg.  1880. 

4)  Westphal  Catulls  Gedichte  S.  78  ff.,  dagegen  H.  Schmidt  griech. 
Metrik  1872  S.  636  tt. 

6)  Käsebier  de  Callimacho  vojicov  poeta,  Brandenburg  1873. 

6)  So  schon  Sappho  Fr.  92;  vgl.  Plut.  ser.  num.  vind.  13.  Eustath.  in  II. 
zu  A  129  und  p.  741,  16. 

7)  lulian.  or.  3  p.  142,  11.  Anecd.  Par.  3,  63,  23.  Christodoros  will  eine 
Statue  des  Terpandros  gesehen  haben.  (V.  111  ff.). 

8)  Walt  her  S.  69  ff.;  H.  Guhrauer  zur  Gesch.  der  Aulodik  bei  den 
Griechen,  Pr.  v,  W^aldeuburg  (Schlesien)  1879;  dazu  K.  v.  Jan  Jahrbb.  119, 
577  ff.  Antwort  Guhrauers  121,  689  ff.;  v,  Jan  Jahrbb.  123,  643  ff. 

9)  Kitschi  Opusc.  1,  268  ff. 

10)  Find.  Pyth.  12,  19  mit  Schol.  Plut.  mus.  7.  Hesych.  8.  v. 

11)  Plut.  mus.  7.  33. 

12)  Bergk  poetae  lyr.  Gr.  III*  5;  vgl.  Dion  Chrys.  or.  1,  1. 


Die  eigentliche  I.yrik  (Melik).  291 

Aus  dem  auletischen  Nomos  des  Olympos  entwickelte  sich, 
als  man  dem  Flöteiispiele  einen  Text  unterlegte,  der  aulödische 
Nomos.  Der  Begründer  des  letzteren  war  wahrscheinlich  Klon  as^^i 
von  Tegea^),  der  nach  Terpandros  lebte  und  von  ihm  die  An- 
regung empfing;  diese  Auffassung  der  Alten  ist  sehr  ansprechend, 
weil  die  Flötenmusik  überhaupt  ein  weit  jüngeres  Alter  als  das 
Kitharaspiel  hat.  Von  den  Nomen  kommen  ihm  nach  der 
Tradition  der  a;cö^£TO<;  und  der  a-/ocvtwv  zu.  ^) 

Nach  anderen  gebührte  das  Verdienst  der  Begründung 
vielmehr  dem  Trözenier  Ardalos*),  über  den  sonst  keine 
einzige  beglaubigte  Nachricht  vorliegt;  er  gehört  vielmehr  der 
•Sagengeschichte  an.  ^) 

In  dem  religiösen  Nomos  errang  Sakadas  von  Argos '') 
den  höchsten  Preis.  Er  erfand  den  vö^j-oc  TpijispTjc  und  siegte 
Ol.  48,  3  (632),  sowie  noch  zweimal  später  bei  den  Spielen  von 
Delphi  ^)  im  pythischen  Nomos.  In  Delphi  *)  bestand  nämlich 
die  festgeregelte  Weise  des  pythischen  Nomos ,  in  welcher  der 
Drachenkampf  des  Apollo  musikalisch  wiederzugeben  war.  ^) 
Von  einem  Texte  ist  dabei  nie  die  Rede.  ^^)  Wenn  es  jedoch 
heisst,  Sakadas  habe  sXsvoi  und  IXs^sia  {i,£[j.sXo7rotrj{jL2va  gedichtet, 
so  bedeutet  dies,  wenn  anders  die  Nachricht  Glauben  verdient, 
jedenfalls,  dass  er  nicht  blos  Aulet,  sondern  Aulöde  war.  Ein 
Fragment  seiner  Dichtungen  besitzen  wir  aber  nicht  mehr; 
denn  ihm  mit  den  Handschriften  des  Athenaios  ^^)  eine  Iliu- 
persis  zuzuschreiben,  ist  höchst  bedenklich. 


1)  KXcuvä«:  Plut.  mus.  3.  5.  vgl.  4,  s.  Bergk  III  *3. 

2)  Andere   nennen  Theben,    wo   ebenfalls    das  Flötenspiel  blühte,    seine 
Heimat;  doch  kommen  in  Mittelgriechenland  sonst  keine  Aulöden  vor. 

3)  Plut.  mus.  5.    Pollux    4,  65.  79.     Die    sikyoaische  Terapelliste    nennt 
auch  den  tp'.|j.e).Yj;  (Plut.  mus.  8). 

4)  Plut.  mus.  5. 

5)  Paus.  2,  31,  3;    Plut.   sept.  sap.  p.  150a   unterscheidet    einen   älteren 
und  einen  jüngeren  Ardalos. 

6)  Hier  war  sein  Grab  (Paus.  2,  22,  8). 

7)  Paus.  10,  7,  3.   Deshalb  stand  seine  Bildsäule  auf  dem  Helikon  (Paus, 
i),  30,  2). 

8)  Ueber  den  Schauplatz  Bursi an  Geographie  von  Griechenland  1,  178. 

9)  Guhrauer  Jahrbb.  Suppl.  8,  309  ft.:    K.  v.  Jan   Philol.    38,  378  ft'. 

10)  Strabo  9,  421.  Poll.  4,  84.  Böckh  de  metris  Pindari  p.   182  f. 

11)  Athen.  13,  610c.  C.  Fr.  Hermann  las  'Ayta  toö 'Apy»'-^'^»  was  Hiller 
Rhein.  Mus.  31,  88  billigt. 

19« 


292  10.  Kapitel. 

Im  pythiscben  Wettkami)f  siegte  gleichzeitig  mit  Sakadas^ 
als  Aulöde  der  Arkadier  Echembrotos,  von  dessen  Weihge- 
sehenk  Tansanias  ^)  die  Inschrift  mitteilt. 

Wir  sehen  also  den  religiösen  Nomos  ausschliesslich  in 
Argolis  und  den  anstossenden  Gebieten  von  Arkadien  ent- 
wickelt. Wie  der  Flötennomos  aus  Asien  dorthin  gelangte,  ist 
nicht  klar;  ohne  Zweifel  führte  aber  sein  Weg  über  Delphi. 
Es  kann  sein,  dass  der  Nomos  zunächst  aus  den  äolischen 
Kolonien  nach  Böotien  kam ;  indes  vermag  man  im  griechischen 
Kleinasien  blos  bei  den  Joniern  die  Aulödik  nachzuweisen. 
Wenn  es  auch  hier,  wie  ich  nicht  zweifle,  einen  ernsten  religiösen 
Nomos  parallel  mit  der  ernsten  Elegie  des  Kallinos  und  Archi- 
lochos  gab,  kennen  wir  doch  nur  mehr  den  profanen  aulödisclien 
Nomos,  welcher  der  Elegie  des  Mimnermos  entspricht. 

Dieser  Wandel  ging  gleichfalls  von  einem  Kolophonier, 
Polymnestos^)  oder,  da  er  sich  in  Sparta  aufliielt,  Polymnastos 
genannt,  aus,  indem  er  die  Nomenform  auf  Liebes-  und  Klage- 
lieder anwandte.  Erstere  wurden  von  den  Athenern  noch 
lange  gesungen  ^),  weil  seine  Musik  bereits  reich  an  Melodien  ^) 
und  vielleicht  sogar  aus  verschiedenen  Klanggeschlechtern  ge- 
mischt war.^)  Wenn  er  den  Lakedämoniern  ein  Gedicht  auf 
den  Gortynier  Thaletas  verfasste^),  so  beklagte  er  darin  wohl 
seinen  Tod.  Durch  diese  Nachricht  und  ein  Fragment  des^ 
Alkman  (Fr.  114),  worin  ihn  dieser  erwähnte,  wird  seine  Zeit 
ziemlich  genau  bestimmt.  Auch  Pindar  gedachte  des  Poly- 
mnastos mit  ehrenden  Worten. '') 

Von  seinem  Landsraanne,  dem  Elegiker  Mimnermos,  wissen 
wir  blos,  dass  er  den  KpaSirjC  vöfioc:  vortrug;  ob  mit  dieser 
Melodie  ein  Text  verbunden  gewesen  sei,  ist  leider  nicht  über- 
liefert. War  aber  letzteres  der  Fall,  dann  wird  sich  der  Inhalt 
desselben  von  dem  seiner  Elegien  nicht  viel  unterschieden 
haben. 


1)  10,  7,  6. 

2)  Bergk  III  M3. 

3)  Kratinos  bei  Schol.  Arist.  Equ.  1284.  Arist.  Equ.  1292  (1284). 

4)  Hesych.  s'j|ie).t,';  nävo. 
6)  Plnt.  mtis.  6. 

6)  Paas.  1,  14,  4. 

7)  Fr.  190  Böckh,  188  Bergk  'fO-eYn-a  ^züf-Kov^ov. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  293 

Wie  der  Nomos  die  sorgfältigste  Pflege  in  dorischen 
Ländern  fand  und  seine  festen  Wurzeln  im  Apollokult  hatte, 
so  gelangte  bei  dem  nämlichen  Stamme  und  zwar  vor  allem 
in  dem  tanzliebenden  Sparta,  dessen  Reigen  Pindar  rühmt,  die 
chorische  Dichtung  (x^ptxrj  izoiriaic)  zur  höchsten  Blüte. 
Bei  den  Doriern  war  es  ja  hergebracht,  dass  an  Festtagen  Chöre 
von  Jungfrauen  oder  Jünghngen  sich  zusammenthaten,  um  den 
Gott,  welchem  der  Tag  heilig  war,  in  würdiger  Weise  zu  feiern. 
Musik,  Gesang  und  Orchestik  wirkten  hier  einträchtig  zu  seiner 
Verherrlichung  zusammen.  Die  Hauptarten  dieser  religiösen 
Chorgesänge  waren  die  nach  dem  Refrain  benannten  Paiane^), 
die  Processionslieder  (TifvoadSta)  mit  vielen  Unterabteilungen, 
unter  denen  die  Jungfrauen  lieder  (^apO-svia)  für  die  Literatur 
die  grösste  Bedeutung  gewannen,  und  die  Tanzlieder  (o;rop/7]- 
jiata)^),  die  aus  Kreta  nach  dem  Festlande  gekommen  waren. 
Bei  den  Dionysosverehrern  trat  ausserdem  der  Dithyrambos 
hinzu.  Diese  Arten  knüpften  sich  an  ständige  Götterfeste. 
Gelegenheitsgedichte  dagegen,  welche  die  Heimkehr  eines  Mannes, 
•der  bei  einem  der  Nationalfeste  den  Preis  errungen  hatte, 
feierten  oder  ein  Siegesfest  verherrlichten,  waren  die  sztvtx'.a 
und  l7Xü){j.ta.  Während  auch  diese  mit  dem  Gottesdienste 
stets  enge  zusammenhingen,  waren  die  Hochzeitslieder  frei 
von  diesen  Rücksichten,  fanden  aber  auch  gerade  deswegen 
«rst,  als  jene  Arten  vervollkommnet  waren,  die  Berücksichtig- 
ung eines  Kunstdichters. 

Eben  deswegen,  weil  so  viele  Künste  zusammenwirkten, 
war  es  äusserst  schwer,  einen  vollkommen  fähigen  Dichter,  der, 
was  schwer  in  die  Wagschale  fiel,  zugleich  ein  geübter  Dirigent 
lind  Arrangeur  sein  musste,  zu  finden.  Darum  Hessen  Staaten 
-im  besonders  geschickte  Männer,  die  in  anderen  Städten  lebten, 
einen  ehrenvollen  Ruf  ergehen  und  räumten  ihnen  eine  bevor- 
zugte Stellung  ein.  Republiken  und  Tyrannen  stritten  sich  in 
edlem  W^etteifer  um  so  vielseitige  Talente.  Auch  an  Geld- 
belohnungen fehlte  es  nicht ,  weshalb  Arion ,  Simonides  und 
Pindar  sich  grosse  Reichtümer  erwarben;  aus  diesem  Grunde 
zogen  wenigstens  in  der  späteren  Zeit  solche  chorische  Sänger 

1)  Vgl.  S.  16;  Schwalbe  über  die  Bedeutung  des  Päan  als  Gesang  des 
apollinischen  Cultus,  Magdeburg  1847  (Pr.). 

2)  C.  H.  Walt  her  de  Graecorum  hyporchematis  I.  Bochum  1874. 


294  10*  Kapitel. 

in  ganz  Griechenland,  überall  freudig  aufgenommen  und  reich- 
lieh  für  ihre  Mühe  belohnt,  umher. 

Schon  der  erste  in  Sparta  auftretende  chorische  Dichter 
Thaletas^)  oder  Thaies^  ist  nicht  in  Sparta  selbst,  sondern 
in  der  kretischen  Stadt  Gortys^)  geboren.  Auf  Kreta  hatte  die 
Musik,  welche  wie  überall  bei  den  Doriern  mit  dem  Dienste 
des  Musengottes  innig  verbunden  war,  bereits  eine  hohe  Stufe 
erreicht;  es  blühten  dort  somit  die  Form  des  Paian,  daneben, 
aber  auch  besonders  das  Tanzlied,  da  der  kretische  Tanz  ini 
Zeuskult  bis  zu  den  ältesten  Zeiten  zurückgingt)  und  vielleicht 
eine  Spur  des  alten  Zusammenhanges  von  Kreta  und  Klein- 
asien*)  war.  Daher  trug  das  Hyporchem  noch  lange  den  Bei- 
namen ,, kretisch".^)  Weil  Kreta  ausserdem  in  seiner  Verfas- 
sung und  seinen  Sitten  dem  spartanischen  Staate  am  nächsten 
stand,  kann  es  nicht  auffallen ,  dass  gerade  ein  Kreter,  zumal 
da  er  in  seiner  Heimat  ein  angesehener  Mann  war  und  sich 
um  ihre  Gesetzgebung  verdient  gemacht  hatte,')  zur  Reform 
der  Kirchenmusik  nach  Sparta  berufen  wurde.  Bezüglich  der 
Zeit  seines  Wirkens  setzt  ihn  der  alte  Literarhistoriker  Glaukos 
nach  Archilochos,  weil  er  diesen  in  den  Rhythmen  nachbildete ; 
wenn  dies  richtig  ist,  lebte  er  nicht  lange  Zeit  nach  ihm.") 
Da  nämlich  wie  Pratinas^)  erzählte,  die  Spartaner  ihn  auf  den 
Rat  des  delphischen  Orakels  in  ihrer  Not  kommen  Hessen,  ha- 
ben wir  an  den  zweiten  messenischen  Krieg  zu  denken.*®)     Die 


1)  Herrn.  Litzinger  de  Thaleta  poeta,  Pr.  v,  Essen  1851. 

2)  Hock  Kreta  3,  339. 

3)  Plut.  muB.  9.  Polymnestos  bei  Paus.  1,  14,  3;  aus  Elyros  oder  Knosso» 
nach  Suid.  s.  v.  (in  zwei  schlechten  Artikeln). 

4)  Hock  a,  O.  3,  345  ff. 

6)  Milchhöfer  die  Anfänge  der  Kunst  in  Griechenland,  Lpg.  1883. 

6)  Simon  v.  Keos  fr.  31,  3  Kpf^td  jitv  xaXEoiot  tpÖTiov,  tö  o'  rj^^a'^ov 
MoXooaov. 

7)  Strabo  10,  733. 

8)  Easebios  betrachtete  beide  wahrscheinlich  als  gleichzeitig;  daher  setzte 
er  den  Beginn  der  Gymnopädien  Ol.  28,  4  (Synk.  armen.),  27,  4  (Hieron.)» 
28,  1  (Hier.  P)  oder  27,  2  (Hier.  F)  an.     Vgl.  Unger  Philo!.  23,  40  ff. 

9)  Plut.  raus.  42. 

10)  Von  Beruhigung  der  Gemüter  sprechen  Stesichoros  und  Pindar  (Phi- 
lodem.  de  mus.  col.  20);  Mart.  Cap.  9,  926  verwech.selt  ihn  offenbar  mit 
Epimenides. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  295 

Nachrichten,  die  ihn  als  Gesetzgeber  mit  Lykurg  verbinden^) 
oder  gar  in  die  homerische  oder  hesiodische  Zeit  hinaufrücken^^), 
besitzen  selbstverständlich  keinen  Wert. 

Thaletas  brachte  also  von  Kreta  die  kunstmässigen  Päane 
und  Tanzlieder  nach  dem  Festlande;  mit  jenen  führte  er  zum 
ersten  Male  den  päonischen  Rhythmus,  mit  diesen  den  kreti- 
schen Vers  in  die  dorische  Kunstlyrik  ein.  ^)  Seine  Dicht- 
ungen Hess  Thaletas  an  dem  Feste  der  Gymnopädien,  das 
er  in  Sparta  zur  Versöhnung  der  Arterais  einsetzte,  durch 
Chöre  der  Epheben  vortragen.  Von  seinen  Dichtungen  wussten 
die  Alten  nichts  bestimmtes  mehr;  nach  Ephoros'  Angabe'*) 
legten  ihm  manche  fast  alle  auf  Kreta  entstandenen  Gedichte 
bei.  Die  meisten  sprechen  nur  von  Paianen,  ohne  irgend  ein 
noch  so  kleines  Fragment  mitzuteilen.  Wenn  wir  Suidas  Glau- 
ben schenken,  beschäftigte  er  sich  gleich  Terpander  auch  mit 
dem  Vortrage  epischer  Gedichte. 

In  derselben  Zeit  sollen  Xenodamos  von  Kythera  und 
der  itahsche  Lokrer  Xenokritos  in  Sparta  thätig  gewesen 
sein ;  etwas  anderes  wissen  wir  nicht  von  ihnen  ,  als  dass  die 
Alten  das  Auftreten  dieser  drei  Männer ,  mit  denen  sie  die 
Aulöden  Polyranestos  und  Sakadas  verbanden,^)  als  die  zweite 
Katastasis  der  spartanischen  Musik  bezeichneten.  Die  erste 
aber  hatte  allein  auf  Terpander  beruht.  Die  Alten  nannten 
Xenodamos  und  Xenokritos  Paianendichter,  obgleich  sie  selbst 
vvolil  nichts  als  ein  dem  ersteren  zugeschriebenes  Hyporchema*^) 


1)  Ephoros  bei  Strubo  10,  738.  Flut.  Lyc.  4,  älter  als  Lykurg  nach  Arist. 
pol.  2,  12.  Sext.  Emp.  p.  679,   1   B. 

2)  Diog.  L.   1,  38  (xatä  'Hg'ooov  xal  "Ofi-ripov  xal  AuxoüpYOv).  Suid. 

3)  So  sind  die  Aeusserungen  von  Crlaukos  bei  Flut.  mus.  14  und  Strabo 
10,  480  zu  deuten;  diese  Vei-se  waren  natürlich  längst  auf  Kreta  in  Gebrauch 
und  man  sieht  nicht,  warum  sie  Thaletas  von  Olympos  hätte  entlehnen  sollen. 
Die  Hyporchemata  galten  als  Erfindung  der  Kreter  (Athen.  5,  181  b).  Vgl. 
Sauten  in  Terent.  Maur.  p.  97  ff.;  Hock  Kreta  3,  346  f.  Auch  im 
Kitharaspiele  waren  sie  ausserordentlich  geübt;  dieses  Instrument  begleitete 
sie  sogar  in  den  Krieg  (Ath.  12,  517  a.  14,  627  d.  Mart.  Cap.  9,  925). 

4)  Strabo  10,  736. 

5)  Diese  Fünfzahl  ist  nicht  chronologisch  geordnet,  sondern  die  beiden 
Aulöden  stehen  abgesondert  von  den  Kitharöden. 

6)  Flut.  mus.  9,  vgl.  Athen.  1,  15d. 


296  10.  Kapitel 

kannten;  doch  rühmte  Kalliraachos  die  italische  Harmonie  des 
anderen^). 

Etwas  jünger  ist,  weil  er  nicht  mehr  zur  zweiten  Katasta- 
sis  gehört,  der  gleichfalls  in  Sparta  dichtende  Alkman.'^)  Be- 
züglich seiner  Heimat  lautete  die  vulgäre  Erzählung,  er  stamme 
aus  Sardes^)  und  sei  nur  ein  freigelassener  Sklave.*)  Da  aber 
Dionys  von  Halikarnassos ,  die  Quelle  des  Suidas,  sagt,  Krates 
stelle  irrtümlich  diese  Ansicht  auf,  Alkman  sei  thatsächlich  in 
dem  spartanischen  Dorfe  Messoa^)  als  Sohn  des  Damas  oder 
Titaros  geboren ,  muss  jene  Behauptung  nur  aus  der  Interpre- 
tation einer  doppeldeutigen  Stelle  entsprungen  sein.  Diese  liegt 
ohne  Zweifel  in  Fr.  25  vor:  ,,Du  bist  nicht  ein  ungebildeter 
ungeschickter  Mann  noch  von  Geschlecht  ein  Thessaler,  ein 
Erysichäer  oder  ein  Hirt,  sondern  aus  dem  hohen  Sardes."  So 
viel  wir  jetzt  beurteilen  können ,  sang  mit  diesen  Worten  ein 
Mädchenchor  unseren  Dichter  an.  Wenn  er  also  wirklich  von 
Sardes  war,  so  geht  andererseits  aus  dem  stolzen  Ton  der 
Fragmente  hervor,  dass  der  Dichter  ein  freier  Mann  gewesen 
sein  muss;  in  der  That  hätte  ein  Freigelassener  in  Sparta  da- 
mals kein  solches  Ansehen  erringen  können.  Ausserdem  ist 
sein  Name  wie  d^r  des  Vaters  echt  griechisch®)  und  er  zeigt 
nirgends  eine  ungewöhnüche  Kenntnis  Kleinasiens. ^)  Wenn 
Alkman  aus  der  Fremde  kam,  hatte  er  gleich  Terpander  und 
anderen  einen  offiziellen  Ruf  erhalten.^) 


1)  Schol.  Pind.  Ol.  11,  17.  Nach  Herakleides  pol.  fr.  29  war  er  von 
Greburt  bliud. 

2)  Tb.  Niggeiuey  er  de  Alcniane  poeta  Laconico,  Diss.  von  Münster  1869. 

3)  Alex.  Aetol.  Anthol.  7,  709;  Anth.  Pal.  7,  18,  19.  Vell.  1,  18  Alcmaiiu 
Lacones  falso  sibi  vindicaut. 

4)  Said,  (aus  Hermippos?     Daiib  Jahrbb.  123,  246  flF.). 

6)  Dieser  Name  scheint  von  Späteren  in  Mss^YjVY)  verdorben  worden  zu 
Bein,  weil  Suidas  einen  messenischen  Lyriker  Alkman  von  dem  berühmten 
unt-erscheidet.  Dionysios  nennt  Messoa,  da  Alkmans  Denkmal  sich  dort  be- 
fand (Paus.  3,  15,  2). 

6)  'A>.x|iav  ist  nach  dorischer  Art  aus  'A>.x|j.äu>v  =  'AXx(j.ai(ov  (so  nennen 
ihn  Ensebios  und  Himer.  or.  6,  3)  zusammengezogen.  Alkman  selbst  hat 
beide  Formen  ('AXxjjiav  26,  1.  33,  4  und  'AAx|xätuv  71). 

7)  Fr.  82  und  91  hängen  mit  dem  Ursprünge  der  griechischen  Musik 
überhaupt  zusammen;  Fr.  129  (?)  und  131  kamen  bei  Erwähnung  des  troischeu 
Krieges  vor;  die  lydische  Mitra  ^Fr.  IG)  zählt  er  mit  anderen  Luxusgegeii- 
stäuden  auf. 

8)  Ae],  v.  h.   12,  60. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  297 

Auch  die  Zeit  des  Alkman  unterliegt  grossen  Bedenken. 
Niicii  Suidas  lebte  er  unter  König  Ardys  um  Ol.  27;^)  aber 
dann  wäre  der  Dichter  ein  Zeitgenosse  des  Terpander,  während 
er  doch  schon  den  zur  zweiten  Katastasis  gehörenden  Poly- 
mnastos  nennt.  Wahrscheinlich  fand  man  einmal  bei  ihm 
den  Einfall  der  Kimmerier  erwähnt.  Aus  einer  ähnlichen 
Kombination  ging  die  erste  Angabe  des  Eusebios,  er  habe 
Ol.  30,  4'^)  oder  31,  1-^)  gedichtet,  hervor.  Mehr  Glauben  ver- 
dienen ,, einige",  die  nach  seiner  Angabe  Alkman  Ol.  42,  2*) 
oder  43,  3^)  ansetzten,^)  wenn  dies  nur  nicht  so  viel  bedeutet 
wie  dass  sie  ihn  für  einen  Zeitgenossen  des  Stesichoros  hielten. 
Alkman  erreichte  ein  hohes  Alter,  denn  Fr.  26  klagt  er  den 
Mädchen  des  Chors,  die  Kniee  vermöchten  ihn  nicht  mehr  zu 
tragen.  Dass  er  an  der  Wassersucht  starb,  ist  eine  Erfindung 
der  Komiker  oder  ironischer  Literarhistoriker,  welche  annah- 
men, dass  seine  aufrichtig  eingestandene  Esslust  nicht  ohne 
schlinnne  Folgen  geblieben  sei.') 

Alkmans  Dichtungen ,  welche  die  Grammatiker  in  sechs 
Bücher  teilten,  standen  alle  mit  den  Götterfesten  in  Zusammen- 
hang, wenn  sie  auch  hinsichtlich  ihres  Inhaltes  oft  sehr  welt- 
licher Natur  waren. 

Die  eigentlichen  Götterhymnen  (Fr.  1 — 21)  erfreuten  sich 
geringer  Beachtung,  so  dass  über  sie  wenige  Nachrichten  vor- 
liegen. Alkman  besang  in  ihnen  den  Zeus  Lykaios,  die  Dios- 
kuren  nnd  jedenfalls  noch  viele  andere  Gottheiten.     Eine  dich- 


1)  Im  siebenten  Regierungsjahre  des  Ardys  nach  Roh  de  Rhein.  Mus. 
33,   199  f. 

2)  Hier.  (30,  3  APF). 

3)  Synk.  u.  Hier.   ß. 

4)  Hier.  (Ol.  42,  3  F,  42,  4  AP). 
51  Synk.  403,   14. 

6)  Hock  Kreta  3,  379  f.;  Susemihl  Jahrbb.  109,  661  flf.,  vgl.  Ritschi 
opusc.  1,  279;  anders  Hiller  Rhein.  Mus.  31,  77  ff.  Letzterer  weist  in  Bur- 
sians  Jahresberichten  H  2,  202  f.  mit  Recht  Susemihls  Versuch  ab,  aus  der 
Erwähnuuji  von  Rennpferden  einen  bestimmten  Terminus  post  quem  zu  er- 
schliessen ;  denn  Alkman  spricht  nicht  von  lakonischen  Rennpferden.  Eine 
bessere  Zeitbestimmung  dürfte  die  Nennung  der  Pityusen  'Fr.  147  b)  abgeben, 
weil  sie  zumal  im  eigentlichen  Griechenland  erst  nach  der  Mitte  der  dreissiger 
Olympiaden  möglich  war. 

7)  Ael.  bist.  au.  5,  25,  1   u.  ö. 


298  10.  Kapitel. 

terische  Individualität  tritt  in  ihnen  nicht  hervor;  die  Hymnen 
scheinen  aber  in  patriotischem  Gefühle  gedichtet  gewesen  zu 
sein.  Wenigstens  verband  er  mit  dem  Hymnus  an  Zeus  das 
Lob  der  Dioskuren  und  seiner  Stadt. ^)  Beachtung  verdient  zu- 
gleich, dass  sich  Alkman  von  Terpauder  bereits  völlig  emauci- 
pierte  und  den  Hexameter  nirgends,  ja  selbst  die  daktylischen 
Masse  überhaupt  in  ziemlich  beschränktem  Umfange  anwendete. 

Von  seinen  Päanen  kennen  wir  nur  ein  einziges  dürftiges 
Fragment  (Nr.  22):  „'Bei  den  Schmausereien  und  Gelagen 
wackerer  Männer  ziemt  es  sich  unter  den  Gästen  den  Päan  an- 
zustimmen."    Ist  es  jedoch  wirklich  aus  einem  Päan? 

Alkmans  Hauptstärke  ruht  aber  in  den  von  Jungfrauen 
vorgetragenen  Gesängen,  den  Parthenien.^)  Auch  hier  fehlten 
natürlich  religiöse  Lieder  nicht.  Gerade  das  umfangreichste 
Stück  des  Alkman  (Fr.  23)  spricht  den  Gedanken  aus ,  die 
Götter  rächten  früher  oder  später  eine  Frevelthat,  und  führt 
ihn  an  dem  Schicksale  des  Hippokoon  und  seiner  Söhne  durch ; 
aber  V.  39  wendet  sich  der  Dichter  plötzlich ,  den  Uebergang 
blos  durch  die  Worte  „Ich  aber  singe  Agidos  Glanz"  andeutend, 
zum  welthchen  Teile  des  Hymnus,  indem  er  den  Chor  zunächst 
die  Schönheit  der  Chorführerin  Agido  und  mit  ihr  die  Reize 
Agesichoras  rühmen  lässt.  Er  vergleicht  sie  mit  edlen  Rossen 
oder  Tauben  und  scheut  sich  nicht,  nach  echt  spartanischer 
Sitte  durch  den  Vergleich  nnt  zahlreichen  anderen  Mädchen 
Agido  auf  Kosten  derselben  besonders  hervorzuheben.  Alkman 
schont  dabei  deren  P^mpfindlichkeit  so  wenig,  dass  er  die  zu- 
rückgesetzten mit  Namen  nennt  (V.  70  ff.).  Dieses  ungefähr 
hundert  Verse  enthaltende  Partheneion,  ein  unschätzbares,  aber 
leider  sehr  lückenhaftes  und  ruiniertes  Denkmal  der  lakonischen 
Poesie,  steht  auf  drei  Papyrusseiten,  welche  der  bekannte  Ägyp- 
tologe  Mariette-Pascha  1855  in  einem  Grabe  nicht  weit  von  der 
zweiten  Pyramide  entdeckte.  Nachdem  es  Egger  1863  zum 
ersten  Mal  herausgegeben, 3)  wurde  es  seitdem   oft  bearbeitet.*) 


1)  Himer.  or.  6,  3. 

2)  fiteph.  Byz.  v,  'Epooix"^  citiert  das  dritte  Buch. 

8)  memoires  d'hiat.  anc.  et  de  philol.,  Paris  1863  p.  159  ff. 

4)  Ten  Brink  Philol.  22,  1  ff.;  Ahrens  Philol.  27,  241  ff.  577  ff.; 
Christ  Philol.  29,  211  ff.;  Blass  Rhein.  Mns.  23,  646  ff.  25,  177.  Hermes 
13,  16  ff.  14,  466  ff.;  Canini  fragment  da  parth^mie  d'Alcman,  Paris  1870, 


Die  eigeutliche  Lyrik  (Melik).  29^ 

Es  eröffnet  niis  das  Verständnis  für  die  Reste  der  übrigen  Par- 
thenien;  denn  diese  begannen  obne  Zweifel  ebenfalls  mit  dem, 
Preise  einer  Gottheit  und  gingen  dann  ,  vielleicht  durch  Ver- 
mittlung einer  Sentenz,  wie  es  später  Pindar  that,  zu  persön- 
lichen Dingen  über.  Auf  letztere  beziehen  sich  die  meisten 
der  erhaltenen  Fragmente,  die  uns  in  das  heitere  Leben  der 
alten  Spartaner  einführen.  Bei  ihren  festlichen  Reigentänzen 
war  es  Sitte,  bestimmte  mit  ihrem  Namen  bezeichnete  Perso- 
nen teils  lobend ,  teils  tadelnd  mit  gleicher  Unverfrorenheit  zu 
erwähnen,  z.  B.  singen  fr.  29  die  Mädchen  von  einem  Jüng- 
linge ,,0  Vater  Zeus,  möchte  er  doch  mein  Gemahl  sein  ;"  aber 
ein  anderes  Mal  sparen  sie  auch  den  Spott  nicht.  Um  diesem 
jedoch  die  Spitze  abzubrechen  und  niemand  persönlich  zu  ver- 
letzen, lässt  der  Dichter  auch  auf  sich  selbst  Spottverse  singen, 
z.  ß.  wenn  er  in  fr.  25  seineu  Gesang  mit  dem  der  Rebhühner 
vergleicht  oder  fr.  33  sagt:  ,,Bald  wird  der  Kessel  voll  von  Brei 
sein ,  wie  ihn  der  nicht  wählerische  Alkman  gerne  warm  isst ; 
denn  er  ist  kein  Gourmand,  sondern  verlangt  nur  Hausmanns- 
kost."^) Auch  an  anderen  Stellen  redet  er  mit  sichtlichem  Be- 
hagen von  Käse  und  anderen  Esswaaren.  Wie  wir  schon  ge- 
sehen haben,  sangen  manchmal  die  tanzenden  Mädchen  ihre 
Führerin  an;^)  hie  und  da  sprach  der  Dichter  selbst,  der  den 
Reigen  leitete,  zu  ihnen,  wie  im  26.  Fragmente.  Seine  Worte 
sind  ,  wie  ich  denke,  auch  (Fr.  36) :  „Wiederum  erweckt  mir 
Eros  nach  Kypris'  Gebote  ein  süsses  Beben  im  Herzen."'^) 
Freilich  genossen  die  Lakonierinen  eine  zu  freie  Erziehung,  als 
dass  sie  nicht  auch  von  Aphrodite  und  Eros  singen  durften, 
z.  B.  Fr.  38.  Endhch  scheinen  sich  einige  Parthenien,  weit 
ein  Epigrammatiker  die  Epithalamieu  Alkmans*)  rühmt,  auf 
Hochzeiten  bezogen  zu  haben. 

Alkman  steht,  wenn  man  auf  Reichtum  an  poetischen  Ge- 
danken und  auf  edle  Sprache  sieht,  nicht  sonderlich  hoch;  da- 


ain  besten   bei  Bergk    III*  23  ff.     Ein  Facsimile   steht  Notices  et  extraits  de 
man.  XVII  2  pl.  2,  genauer  Bergk  III  *  30—34. 

1)  Vgl.  Ael.  V.  h.  1,  27. 

2)  Ath.  14,  646  a. 

3)  Archytas    bei  Athen.  13,    600  f  nennt    ihn    unpassend    xwv    Epwf.xöiv 
}jie"/,(öv  YjYSfiHuv ;  vgl.  fr.   1 25. 

4)  Anthol.  Pal.  7,  19. 


300  ^ö-  Kapitel, 

gegen  erfüllt  seine  Dichtung  der  anspruchslose  und  etwas  pro- 
saische, aher  doch  zugleich  frohe  und  heitere  Geist  der  Spar- 
tjiner.  Die  Menschen  betrachtet  er  alle,  wenn  sie  sich  nicht 
wie  etwa  Hippokoon  durch  Frevel  den  Göttern  verhasst  ge- 
macht haben,  als  seine  Freunde,  denen  gegenüber  ein  passen- 
<ler  Scherz  und  zuweilen  eine  wohlgemeinte  mit  lächelndem 
JMunde  gesprochene  Rüge  erlaubt  ist.  Auch  an  dem  Leben 
•der  Natur  ging  der  Dichter  nicht  kalt  vorüber,  wie  das  schöne 
Fragment  60  darthut:  „Es  schlafen  der  Berge  Häupter  und 
■Schluchten,  Gipfel  und  Thäler,  die  Pflanzen  und  alles  lebende, 
was  die  dunkle  Erde  nährt,  die  Tiere  in  den  Bergen,  der 
Bienen  Schwärme,  die  Ungeheuer  in  den  Tiefen  des  purpurnen 
Meeres,  es  schlafen  auch  die  Schaaren  der  fiügelregenden  Vö- 
gel; in  fr.  67  rühmte  er  sich  sogar,  die  Weisen  aller  Vögel  zu 
kenneu  und  gerade  den  gefiederten  Bewohnern  der  Luft  wandte 
«r  eine  besondere  Vorliebe  zu.^) 

Die  Sprache  Alkman's^)  baut  sich  auf  dem  altlakonischen^) 
Dialekte,  in  den  er  hie  und  da  epische  und  äolische  Formen 
mischt,  auf.  Für  jene  kann  er  aber  ob  der  argen  Verderbnis 
des  Textes  nur  eine  trübe  mit  Vorsicht  zu  benützende  Quelle  ab- 
geben; ist  doch  das  Digamma  vöUig  geschwunden.'')  Während  die 
«pischen  Formen  bei  dem  allbekannten  Einflüsse  Homers  keiner 
besonderen  Erklärung  bedürfen,  sind  die  Aolismen  nicht  so 
selbstverständlich.  0.  Müller  und  Ahrens^)  führen  sie  auf 
Terpander  und  seine  Nachfolger,  die  bei  den  Kameen  als 
Kitharöden  auftraten ,  zurück ,  obgleich  jener  den  dorisch  ge- 
färbten Dialekt  des  Epos  gebrauchte;  doch  selbst  wenn  dies 
nicht  der  Fall  wäre,  untei-läge  jene  Annahme  grossen  Bedenken, 
weil  Alkman  mit  Terpander,  wie  es  scheint,  weder  poetisch 
noch  musikalisch  viel  zu  thun  hat.  In  letzterer  Hinsicht 
könnten  wir  eher  an  Sappho  und  Alkaios  denken,  doch  scheint 


i 


1)  Fr.  25.  26.  28. 

2)  G.  Ingraham  de  Alcmani.s  dialecto,  Novi  Eboraci  1877  (Di.ss.  v. 
Wiirzburg);  H.  Spiess  de  Alcmanis  poetae  dialecto  (1877)  in  Curtius'  Studien 
10,  329  ft". ;  Fr.  Schubert  Miscellen  zum  Dialekte  Alkmans  in  den  Sitzungs- 
tyer.  der  Wiener  Akad.  92,  617  ff. 

3)  Ich  sage  „altlakonisch",  weil  Alkinau  weder  den  Khotacismus  kennt 
noch  inlautendes  o  in  die  Aspiration  verwandelt. 

4)  Clemm  Curtius'  Stud.  9,  444  ff. 

6)  Ueber  die  Mischung  der  Dialekte  S.  69. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  30  L 

mir,  wenn  ich  mich  erinnere,  dass  sogar  in  dem  bekannten. 
VolksUede  der  Spartaner  (C.  pop.  18)  ^)  Aolismen,  die  hier  niclit 
im  geringsten  am  Platze  sind,  die  Vulgata  entstellen,  und  dass 
bei  Alkman  vielleicht  nur  in  den  Participien  auf  oioa  und  der 
Vertretung  von  C  durch  ad  sichere  Belege  vorliegen,  eine 
andere  Auskunft  wahrscheinlich.  Apollonios  Dyskolos  ^) ,  an 
den  sich  Priscian  ^)  anschliesst,  las  offenbar  Handschriften,  die 
von  Äolismen  wimmelten;  denn  er  nennt  Alkman  ,, beständig, 
äolisierend" ,  was  von  unserem  Texte  nicht  so  sehr  gilt.  Ich 
vermute  daher,  dass  die  Alexandriner  ihre  verderbten  Hand- 
schriften mit  ungenügender  Kenntnis  des  lakonischen  Dialektes- 
recensierten  und  einer  Theorie  oder  auch  einigen  Korrupteleu 
zu  Liebe  ÄoHsmen  in  den  Text  hineintrugen.  Der  ganzen 
literarhistorischen  Stellung  Alkmans  nach  scheint  es  mir  wahr- 
scheinlich, dass  er  selbst  keine  anderen  Aolismen  als  die- 
epischen  anwendete.  Das  bekannte  Schema  Alcmanicum,  wo- 
nach ein  zu  mehreren  Subjekten  gehöriges  Verbum  im  Plural 
hinter  das  erste  derselben  tritt  (z.  B.  12),  war  wahrscheinlich 
in  dieser  Häufigkeit  ein  lakonischer  Idiotismus. 

Bei  den  Versmassen  des  Alkman  tritt  uns  eine  für  so  früh& 
Zeit  auffällige  Fülle,  doch  zugleich  auch  archaische  Beschränkung 
entgegen.  Den  lyrischen  Hexameter  des  Terpander  gebrauchte 
er  nicht  selten  (z.  B.  fr.  26.  27.  39  u.  ö.),  er  bildete  aber  auch 
die  übrigen  daktyhschen  Masse  bedeutend  aus,  indem  er  sich 
besonders  daktylischer  Tetrapodien'*)  (zumal  katalektischer, 
welche  daher  den  Namen  metrum  Alcmanicum  trugen)^)  und 
Tripodien")   bediente.     Damit  hängt   wohl   der   Ausdruck   xaTO. 


1)  "Aixjxö?,  wofür  Bergk  mit  Kecht  «|j.£C  herstellt,  und  aü-cäaoso.  Selbst 
in  dem  hochaltertümlichen  Prozessiousliede  des  Eumelos  ist  Molaa  überliefert. 

2)  De  pron.   136  c. 

3)  1,  21.  22. 

4)  Hephaistion  c.  7,  catalectica  in  duas  syllabus  z.  B.  fr.   1,   1. 

5)  Christ  Metrik  *154;  Diomedes  p.  516  (aus  Varro)  behauptet  irrtüm- 
lich, Archilochos  habe  das  Metrum  erfunden.  Dieser  setzte  vielmehr  in  fr.  9& 
die  tetrapodia  catalectica  in  duas  syllabus. 

6)  Katalektisch  fr.  1,  2.  2,  2,  3,  1  u.  ö.  (wie  Archilochos),  akatalektisch 
blos  fr.  43,  2.  60,  6. 


302  10.  Kapitel. 

SaxToXov  s.l8o<z  zusammen.^)  Daneben  waren  trochäische ^)  und 
jambische^;  Diineter,  sowie  katalektische  Senare  ^)  behebt.  Die 
vöUig  einheithch  gebauten  Verse  überwogen  die  gemischten  bei 
weitem;  der  Dichter  verband  überdies  blos  Daktylen  und 
Trochäen  oder  Anapästen  und  Jamben.  Jonische  Verse  finden 
«ich  blos  in  Fr.  83 — 85.  Von  höchstem  Interesse,  weil  das 
Verhältnis  des  Alkman  zu  Thaletas  dadurch  in  ein  helles 
Licht  tritt,  ist  der  Umstand,  dass  unser  Dichter  den  kretischen 
Rhythmus  blos  in  einem  einzigen  Gedichte  (fr.  38)  anwandte, 
während  die  eigentlichen  Päone  und  die  Choriamben  ganz 
fehlen.^)  Die  Strophen  waren  von  altertümHcher  Einfachheit: 
In  dem  erhaltenen  Partheneion  enthält  jede  Strophe  vierzehn 
grösstenteils  kurze  Verse;  die  ersten  acht  entstehen  durch  den 
viermaligen  Wechsel  von  je  zwei  Versmassen,  V.  9 — 12  haben 
-das  erstere  gleichsam  als  Thema,  worauf  zwei  daktylische  Verse 
das  ganze  abschliessen.  Mit  den  Strophen  eines  Stesichoros 
oder  Pindar  halten  die  alkmanischen  weder  an  feierlicher  Länge 
-der  Verse  noch  an  Künstlichkeit  des  Baues  einen  Vergleich 
aus.  Doch  ging  der  Dichter  schon  so  weit,  dass  er  bei  einer 
grösseren  Zahl  von  Strophen  eine  gewisse  (isTaßoXi]  anbrachte.  ^) 
Den  Wechsel  von  Strophe,  Antistrophe  und  Epodos  gab  es 
aber  noch  nicht.  Einige  Lieder  sollen  parakatalogisch  vorge- 
tragen worden  sein  '),  was  zu  dem  nicht  selten  etwas  prosaischen 
Tone  stimmen  würde.  In  der  Regel  sangen  jedoch  die  Mädchen 
-des  Chors  unter  Begleitung  der  Flöte  (fr.  78,  vgl.  82)  oder 
Kithara  (fr.  66). 

Die  Spartaner   weihten  Alkman   die   Verehrung,    die   ihm 
-schon  als  dem  einzigen  literarischen  Vertreter  ihrer  heimischen 

1)  Schol.  Arist.  Nub.  651.  Suse  mihi  Jahrbb.  109,  664  ff.  weist  diese 
Ansicht  Westphals  zurück,  weil  sich  der  Ausdruck  blos  auf  die  Melodisierung 
beziehe. 

2)  Versus  Alcmauius  Servins  c.  2,  z.  B.  fr.  16,  1.  2.  23,  11.  12  u.  ö., 
katalektisch  fr.  23,  1.  3.  6.  7.  25,  2  und  67,   1. 

3)  fr.  37,  2.  76,  1—6.  78—80.  86,  2  (archilochisch),  akatalektisch  fr.  9,  2. 
74  b  4.  86,  1?.  87,  1. 

4)  Fr.   ],  3.  fr.  4.  6  u.  ö.  (archilochisch),  akatalektisch  fr.  74  A. 

6)  Dreizeitige  Längen  oder  Pausen  bei  Alkiuan  anzunehmen,  ist  nicht 
-einmal  in  Fr.  60  notwendig:  vgl.  Bergksadn.  crit. 

6)  Nach  Hephaistion  p.  76,  20  ff.  W  unterschied  er  in  einem  Gedichte 
Aon  vierzehn  Strophen  die  beiden  Hälften  durch  das  Metrum. 

7)  Hesych.  v.  x>.e'j.':a|xßot  mit  Athen.  14,  636  b. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  303 

Mundart  gebührte^);  er  selbst  schilderte  einmal  mit  komischem 
Pathos  seine  Berühmtheit  und  zählte  die  fabelhaften  Völker 
iuif ,  zu  denen  sein  Name  schon  gedrungen  sei.  ^)  Ausserhalb 
seiner  engeren  Heimat  stand  aber  sein  lokaler  Dialekt  der 
wirklichen  Popularität^)  entgegen;  dennoch  waren  die  Athener 
•der  perikleischen  Zeit  mit  ihm  fast  wie  mit  Stesichoros  und 
Simonides  vertraut.^)  In  der  alexandrinischen  Periode  lenkte 
hingegen  gerade  seine  Mundart  die  Aufmerksamkeit  der  Ge- 
lehrten auf  ihn.  Aristarch  recensierte  seine  Gedichte.  ^)  Der 
Lakonier  Sosibios,  der  unter  Ptolemaios  Philadelphos  lebte, 
schrieb  wenigsten^  drei  Bücher  über  Alkman^),  wie  auch  Philo- 
choros ')  und  wahrscheinlich  Chamaileon  ^)  Monographien  ver- 
fassten.  Seine  sprachlichen  Eigentümlichkeiten  boten  Stoff  für 
die  YXwaaai  Aaxwvtxaf  und  Alexandros  Polyhistor  gab  eine 
Schrift  über  seine  l^okalsagen,  7r=pl  twv  Tiap'  'AXxjxävt  xozixöic, 
IiTOpYjixsviov ")  heraus.  Infolge  dieser  Studien  schenkten  ihm 
auch  die  Dichter  wieder  einige  Beachtung;  die  Bukoliker  be- 
trachteten ihn  als  ihren  Vorläufer.  ^^)  Christodoros  ^^)  will  im 
Zeuxippos  Alkmans  Bild  gesehen  haben. 

Die  Fragmente  stehen  bei  Bergk  III ^  14 — 78;  früher 
(Giessen  1817)  hatte  sie  Welcker  bearbeitet. 

In  eine  neue  Phase  tritt  die  chorische  Lyrik  mit  dem 
Sicilier  Stesichoros.^^)  Er  hiess  eigentlich  Teisias^^);  erhielt 
aber  von  seinen  Verehrern  jenen  Ehrennamen.  ^*)    Die  Namen 

1)  Er  heisst  daher   oft  kurzweg   ö  AaxäSa'.jj.oviuiv  iro'.Yjx-r]?,    z.  B.  Aristid. 
or.  2,  40. 

2)  Fr.  118. 

3)  Pausauias   sagt  3,  15,  2    &  TCOiYjoavxi   qfa|xaTa    ohohv    sq    -f^Soviiv    aOxuiv 
iXo[j.'f|vaxo  xojv  Aaxcuvcuv  7j  •^Xiüaaa.  r^v.iO'za  irapE^^ojxevfj  xö  £U5pti>vov. 

4)  Anonymer  Komiker  bei  Athen.  14,  638  e. 

5)  Schol.  zum  Papyrusfragment  II  3 ;  dieselben  führen  zu  III 11  Stasikies  an. 

6)  Atheuaios  führt  sie  mehrmals  an. 

7)  Suid.  V.  <I>'.X6-/opo;. 

8)  Ath.   13,  600  f. 

9)  Steph.  Byz.    v.  'Apä^Yj,   'Aoaö?;   slp"fj|j.evu>v ,    das  an  der  ersten  Stelle 
steht,  ist  nach  den  Fragmenten  unrichtig. 

10)  Valkenaer  ad  Theoer.  1,  65. 

11)  "Ex-fp.   393  ff. 

12)  Welcker  kleine  Schriften  1,  148  ff. 

13)  Suid. 

14)  Auf  der  Frauyoisvase  heisst  eine  Muse  SxYjaiyopvj;    vgl.  XopovixY)  auf 
«iner  Vase  von  Vulci  Mon.  d.  I.  2,  24. 


304  ^^-  Kapitel. 

seines  Vaters,  Eupliemos  ^)  oder  Eukleides  ^)  scheinen  gleichfalls 
blos  symbolisch  zu  sein.  Sein  Geschlecht  stammte  aus  Ma- 
tauros^),  einem  Städtchen  der  epizephyrischen  Lokrer.  und 
leitete  sich  von  Hesiod  ab.  *)  Er  selbst  erblickte  an  der  Nord- 
küste  Siciliens  in  Himera,  an  dessen  Gründung^) 'sein  Vater 
mit  anderen  Lokrern  Teil  genommen  hatte,  das  Licht  der  Welt. 
Nach  Dionysios  von  Halikarnass  blute  er  Ol.  37  und  starb  Ol. 
56^);  ersteres  ist  aber  wohl  aus  der  Bestimmung  des  Alkman, 
als  dessen  Nachfolger  er  galf),  auf  Ol.  27  berechnet.  Sein 
Todesjahr  wurde  andererseits  wahrscheinlich  nach  der  Geburt 
des  Simonides  bestimmt,  weil  dieser  sich  als  jünger  bezeichnet 
(Fr.  53)^).  Bezüglich  seiner  Blütezeit  ist  die  Angabe  des  Euse- 
bios  (Ol.  42,  1^)  oder  43,  2)'")  aus  dem  Gründungsjahre  von 
Himera,  das  jener  mit  dem  Geburtsjahre  des  Dichters  zusam- 
menfallen lässt,  abstrahiert.  Noch  mehr  Verwirrung  richten  die 
Angaben  der  parischen  Chronik  an;  sie  sagt  ^.  65  zu  Ol.  73,  3 
StTjor/opo?  TrotYjTYjc  El?  'EXXaSa  a<pixsto  und  Z.  85  zu  Ol.  102,  3 
XT7joi)(opoc  ö  'I[jL£paioc  6  SeÖTspoc.  ^^)  Erstere  Angabe  ist  un- 
möglich richtig  und  sicher  aus  der  Deutung  der  unten  zu  er- 
wähnenden Fabel  auf  Gelon  oder  wahrscheinlicher  Terillos  von 
Himera  entsprungen.  Der  Verfasser  der  ,, Langlebigen"  endlich 
hat  die  85  Lebensjahre   des  Stesichoros   nach   einer  Quelle  be- 


1)  Plato  Phaedr.  244  a;  Stcph.  B.  v.  Maxaopoc. 

2)  Suid.  und  auf  einer  verscholleneu  Herme  von  zweifelhafter  Echtheit 
(Welcker  a.  O.  S.  151).  Suidas  nennt  ausserdem  Euphorbos  (an  erster  Stelle) 
und  Hyetes. 

3)  Steph.  Byz.  a.  O. 

4)  Welcker  a.  O.  S.  150  ff.  Nietzsche  Rhein.  Mus.  28,  223  ff.  Suse- 
niihl  Jahrbb.  109,  658  ff.  Robert  Bild  und  Lied  S.  189. 

5)  Ol.  33,  1  (648) ;  Thuc.  6,  5.  Die  Himeräer  behaupteten,  Stesichoros  sei 
aus  dem  arkadischen  Pallaution  zu  ihnen  eingewandert  (Suid.). 

6)  Euseb.  Ol.  60,  2  Synk.  u.  Hieron.,  55,  3  armen,  und  Hier.  A,  65,  2 
Hier.  P. 

7)  Said.  Manche  machten  beide  ungefähr  zu  Zeitgenossen,  s.  S.  297. 

8)  Roh  de  Rhein.  Mus.  33,  198  f.  Nach  Ensebios  armeni.sch  Ol.  55,  3, 
bei  Hieronymas  Ol.  66,  2. 

9)  Hieron.  (42,  2  AP).  Auf  das  gleiche  läuft  der  Synchronismus  von 
Alkaios,  Sappho  und  Stesichoros  hinaus  (Suid.  v.  -r/Tf-pü'»). 

10)  Armenisch. 

11)  Snidas    v.    Eitirrj?£0|ia    nennt    einen    Kitbaröden  Stesichoros,    den    ein 
Räuber  erschlug. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  305 

rechnet,  welche  seine  Blütezeit  wahrscheinlich  Ol.  34,  2  oder 
35,  1  ansetzte.  Somit  bleibt  nur  die  Thatsache  übrig,  dass 
Stesichoros  in  einem  Gedichte  die  Fabel  vom  Pferde  und  dem 
Menschen  erzählte,  um  seine  Mitbürger  vor  einem  Tyrannen 
zu  warnen;  dies  war  höchst  nach  alter  Tradition  Phalaris  von 
Akragas.  ^)  In  den  unechten  Briefen  dieses  Tyrannen  ist  diese 
Geschichte  sogar  zu  einem  ganzen  Roman  ausgesponnen.  ^)  Konon 
(42)  nennt  dagegen  Gelon,  was  zur  Zeitbestimmung  im  Marmor 
Parium  passen  würde ;  doch  verbietet  die  Autorität  des  Ari- 
stoteles und  wahrscheinlich  auch  des  Philistos,  an  jener  gewöhn- 
lichen Annahme  zu  rütteln.  Ueberdies  citiert  Simonides  (Fr.  53) 
Stesichoros  wie  einen  alten  Autor.  Da  aber  die  Himeräer  auf 
seine  Warnungen  nicht  hörten  und  Phalaris  aufnahmen,  musste 
der  Dichter  nach  Katana  fliehen.  Hier  lag  vor  dem  stesichorischen 
Thore  sein  eigentümlich  gebautes  GrabmaP),  auf  welches  die 
Alten  das  Sprichwort  xavta  oxto)  bezogen,  weil  es  acht  Ecken 
und  acht  Säulen  hatte.  ^)  Seine  Vaterstadt  Himera  bewahrte 
das  Andenken  an  seine  Person  durch  eine  Statue,  die  Cicero 
noch  sah  und  beschrieb^);  eine  Münze ^)  gibt  einen  Begriff  von 
ihr;  man  sieht  einen  bärtigen  Mann  in  gebückter  Haltung,  der 
als  Chorodidaskalos  einen  Stock  in  der  Hand  trägt  und  schreibt. 
XJeber  die  Lebensverhältnisse  des  Stesichoros  teilten  die  Alten 
nichts  genaueres  mit;  nur  entstand  noch  dadurch  eine  Sage, 
dass  er  in  zwei  Gedichten  über  Helena  völlig  verschieden 
urteilte.  Das  eine  Mal  nämlich,  vielleicht  in  der  'IXioo  Trspoit;, 
bürdete  er  ihr  die  volle  Schuld  des  troischen  Krieges  auf, 
während  er  in  einem  späteren  Gedichte  der  Sage  die  eigen- 
tümliche von  Euripides  angenommene  Gestalt  gab,  dass  Helena 
in  Ägypten  blieb  und  an  ihrer  Stelle  ein  Phantom  Paris  nach 
Troja  geleitete.  Diesen  unerwarteten  Wechsel  der  Auffassung 
glaubten   sich    die  Alten   nicht  anders  als  durch  die  Annahme 


1)  Aristot.  rhet.  2,  20. 

2)  Ein|guter  Kern  (Holm  Geschichte  Siciliens  1, 155)  findet  sich  darin  nicht. 

3)  Kleine  p.  26  ff.  PoUux  9,   100    und  Eust.  p.   1289,  59.    1397,  38    ver- 
ßetzen  das  Grab  falschlich  nach  Himera. 

4)  rxYjot)(opo(:  bedeutet  daher  im  Würfelspiel  acht. 

5)  In  Verr.  2,  35,  87. 

6)  Visconti   icon.    gr.  3,  7;    Ztsch.   f.  Numism.   IX.    T.  4,  10.  Christodor 
V.  125  ff.  beschreibt  eine  andere  Statue. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  20 


306  lö-  Kapitel, 

erklären  zu  können,  die  beleidigte  Helena  habe  ihn  mit  Blind- 
heit gestraft  und  ihm  erst  nach  jener  berühmten  „Palinodie" 
die  Sehkraft  wieder  zurückgegeben.  ^) 

Die  Gedichte  bildeten  nach  Suidas  sechsundzwanzig  Bücher; 
denn  jede  Dichtung  —  wir  kennen  deren  vierzehn  mit  Namen 
—  füllte  mindestens  ein  Buch.  Ich  sage  mindestens,  weil  von 
der  Oresteia  ein  zweites  Buch  citiert  wird.  '^)  Schon  aus  dieser 
Länge  der  Gedichte  ersieht  man,  dass  Stesichoros  eine  indivi- 
duelle Dichtungsart  pflegte^);  es  war  die  epische  Lyrik, 
also  gleichsam  das  griechische  Surrogat  der  germanischen 
Ballade.  ^)  Stesichoros  bemühte  sich ,  Homer  möglichst  getreu 
nachzuahmen^),  wodurch  er  den  Namen  '0[xyjpixcÖTaToc ®)  ver- 
diente. Aber  die  Objektivität  des  Epos  war  dem  Lyriker,  wie 
billig,  fremd ;  an  ihre  Stelle  trat  das  subjektive  Mitempfinden, 
an  Stelle  der  einfachen  Erzählung  die  Betonung  der  psycho- 
logischen Grundlagen.  Die  Leidenschaften,  für  welche  das  Epos 
keinen  Raum  hat,  erfahren  bei  Stesichoros  die  sorgfältigste 
Beachtung;  ich  denke  vor  allem  an  die  Liebesleidenschaft. ') 
Tritt  schon  in  den  Titeln  der  Gedichte  überhaupt  das  weib- 
liche Geschlecht  bedeutend  hervor,  da  unter  zwölf  vier  Frauen- 
namen (Europeia,  Eriphyla,  Helena  und  Skylla)  sind,  so  finden 
wir  bereits  zwei  von  den  grossen  Sagenkreisen  unabhängige 
Liebesgeschichten,  Kalyka  und  Rhadina  benannt.  Der  Dichter 
schöpfte  sie  aus  den  Erzählungen  des  Volkes,  wie  er  die  Ge- 
schichte des  schönen  Daphnis^)  in  seiner  Heimatstadt  kennen 
gelernt  hatte.     Mit  der  epischen  Objektivität   hat  er  aber  auch 


1)  J.  Geel  Rheiu.  Mus.  6,  1  flf.  Bergk  III*  214  f. 

2)  Bekker  Anecd.  II  783,  14. 

3)  Ein  Paiau  bei  Athen.  6,  250  b  beruht  auf  schlechter  Lesart  (statt  xöv 
4>poviyou  xal  i^T7)3i)(^öpou  ist  tt  xcüv  <l>p.  xal  Xx.  zu  schreiben).  Ueber  einen 
Hymnus  an  Athene  s.  Bergk  zu  Lamprokles  fr.  1.  Elegien  sind  blos  in  den 
Briefen  (19  ff.)  erdichtet.  Von  Hymnen  spricht  auch  Clem.  ström.  1,  133  S. 
366  P.  Anletische  Nonicu  erwähnt  Plutarch  mus.  7. 

4)  Welcker  Nachtrag  zur  Trilogie  S.  245  und  kleine  Schriften  1,  176 
drückte  sich  nicht  glücklich  aus,  wenn  er  von  lyrischen  Tragödien  sprach; 
vgl.  G.  Hermann  opusc.  7,  211  ff. 

6)  Dion  Chrys.  or.  2  §  33.  65  §  7. 

6)  l'H.  Longin.  13,  3.  Antipatros  von  Sidon  dichtete,  Homers  Seele  habe 
in  seinem  Körper  gewohnt  (Anthol.  Pal.  7,  75). 

7)  Rohde  der  griech.  Roman  S.  27. 

8)  Ael.  V.  h.  10,  18,  s.  Welcker  a.  O.  S.  188  ff. 


I 


Die  eigentliche  Lyrik  (Meiik).  307 

•die  Unbefangenheit,  mit  welcher  die  alten  Epiker  an  die  Sagen 
herangetreten  waren,  verloren.  Diese  bildeten  die  Ueberlieferung 
von    poetischen  Gesichtspunkten  um,    unser  Sänger   aber   ver- 
ändert  sie   nach   seinem   persönlichen   Gefühle,    indem   er   mit 
falscher  Reflexion   die  Rauheit  der    älteren   Sage   nach   seinen 
Begriffen  von  Konvenienz  tilgt.    Darum  stirbt  Astyanax  natür- 
lichen   Todes    und   darum    besteht  Helenas   Vergehen    nur   in 
ihrer  Flucht  nach  Ägypten.  ^)  Man  kann  nicht  behaupten,  dass 
die  Sagen    unter  seiner  Hand  gewonnen    haben.     Die  Absicht- 
lichkeit   tritt    zu    sehr  hervor    und   schwächt    die    dichterische 
Wirkung,  zumal  da  Stesichoros  zuweilen  in  einen  unpoetischen 
kahlen  Rationalismus    verfällt;    z.  B.    erzählt  er    (Fr.  68),    die 
Hunde  des  Aktaion  hätten  ihren  Herrn,  weil  er  ein  Hirschfell 
um   die   Schultern    trug ,    angegriffen.  ^)     Infolge    dieses  Ratio- 
nalismus   fehlt    das    warme    religiöse    Gefühl^),    ohne    das    die 
Mythen  nur  bunte  Schaustücke  bleiben.  Stesichoros  ist  in  seiner 
Zeit  ein  Rätsel;    in  der  Vorliebe  für  das  Liebesleid   steht  ihm 
Mimnermos  zur  Seite,  aber  jene  innere  Nüchternheit  bei  prunk- 
voller   Oberfläche   kommt   vor  Alexander   sonst   noch  nirgends 
vor.    Stesichoros  ist  ein  vollständiger  Alexandriner.    Nicht  klarer 
ist  der  Zusammenhang  seiner  Poesien  mit  dem  äusseren  Leben 
seiner  Zeitgenossen.     Bei    welcher  Gelegenheit   sie   vorgetragen 
wurden,  lässt  sich  nicht  sagen.  Ich  glaube,  dass  sich  Stesichoros 
um  die  äusseren  Bedingungen  nicht  kümmerte;  die  Fragmente 
enthalten  nichts  individuelles  noch  auch  eine  Spur  moralisierende 
Exemplifikation,  wie  sie  Pindar  übt. 

Stesichoros  eröffnete  die  Reihe  der  lyrischen  Virtuosen. 
Leider  können  wir  seine  Dichtungsart  nicht  mehr  analysieren, 
sondern  es  müssen  uns  die  Urteile  der  Alten  genügen.  Diony- 
sios*)  sagt:  Xs'yw  Ss  tf^c  jjLSYaXoTrpsTretaf:  xwv  xard  rac,  fiTroO-sasi? 
jcpaYjiaTWV,  £V  oIq  tä  tj^t]  xal  ta  a^iwjiata  twv  zpoawjrwv  T£T7jprjxsv. 
Genauer  drückt  sich  Quintilian^)  aus:     Stesichorum   quam   sit 


1)  Welcker  S.  164  f.;  Robert  Bild  und  Lied  S.  23  ff. 

2)  Der  Künstler,  welcher  in  einer  Metope  des  jüngsten  Tempels  von 
Selinnnt  (Beundorf  T.  9)  den  Vorgang  in  ähnlicher  Weise  darstellt,  braucht 
nicht  Stesichoros  zu  folgen;  die  Verwandlung  war  künstlerisch  nur  anzudeuten. 

3)  Welcker  griech.  Götterlehre  2,  85. 

4)  Script,  vet.  cens.  2,  7. 

5)  10,   1,   62. 

20* 


308  10-  Kapitel. 

iugenio  validus,  materiae  quoque  ostendunt,  maxima  bella  et 
clarissiraos  canentem  duces  et  epici  carminis  onera  lyra  susti- 
nentem.  Reddit  enim  personis  in  agendo  simul  loquendoque 
debitani  dignitatem  ac,  si  tenuisset  modum,  videtur  aemulari 
proximus  Homerum  potuisse,  sed  redundat  atque  effunditur, 
quod,  ut  est  reprehendendum,  ita  copiae  vitium  est;  zugleich 
nennt  er  aber  Pindar  „novem  lyricorum  longe  princeps".  *)  Da 
wenige  wörtliche  Fragmente  vorliegen,  können  wir  diesen  Vor- 
wurf nicht  mehr  im  einzelnen  begründen ;  es  scheint  aber,  dass 
Stesichoros  aus  übertriebenem  Nachahmungseifer  die  epischen 
Beiwörter  und  Pleonasmen,  obgleich  der  Lyrik  eine  knappere 
Form  zukommt,  im  Ueberflusse  anwendete.  ^)  Fragment  Nr.  8 
liefert  davon  ein  sprechendes  Beispiel:  'AsXioc  S'  TTrepioviSaq 
Se;ra?  laxatsßatvev  )(p6aeov ,  ötppa  St'  'Qxeavoio  Trepdoa?  atpixot^ 
Upä?  7C0U  ßsv^ea  voxtö?  Ipe^iväc  jtotI  [xatspa  xoDptSiav  z  ä'koyQV 
;ratSdc:  ts  ^iXoo?  •  6  S'  ic  aXooc  sßa  Sd'^vaiai  xataoxtov  Tzooal  t:6ü<z  Atöc. 
Etwas  deutlicher  erkennt  man,  wie  bahnbrechend  Stesichoros 
auf  dem  Gebiete  der  Lyrik  gewirkt  hat.  Er  erfand  das  Prinzip 
der  dreifachen  Strophengliederung  (Strophe,  Antistrophe  und 
Epodos)  oder  führte  es  wenigstens,  vielleicht  aus  dem  sike- 
liotischen  Volksgesange ,  in  die  Kunstlyrik  ein,  ^)  Ferner  ver- 
wertete er  den  vorhandenen  Reichtum  von  verschiedenen  Vers- 
massen, den  er  seinerseits  vermehrte,  insofern  ausgiebiger  als 
er  lange  Strophen  aus  mannigfaltigen  Versen  mit  kunstreichem 
Wechsel  bildete  und  so  Pindar  deu'Weg  ebnete.*)  Die  Sieges- 
gesänge dieses  Dichters  dürften  das  deutlichste  Bild  von  dem 
metrischrhythmischen  Baue  der  stesichorischen  Gedichte  abgeben. 
Nur  verschmäht  Pindar  in  der  musikalischen  Komposition  die 
Weisen  der  äolischen  Lyrik  nicht,  weshalb  seine  Sprache  zumal 
in  einigen  Dichtungen  von  Äolismen  durchzogen  ist.  Stesichoros 
steht   dagegen    der    lesbischen    Schule    fremd    gegenüber    und 

1)  Beide  verbindet  Dion  or.  II  §  28.  33  als  Repräsentanten  der  ernsten 
Cbordichtnng.  Auf  die  Lieblichkeit  der  stesichorischen  Dichtung  deutet  blos 
die  Sage ,  eine  Nachtigall  habe  sich  auf  die  Lippen  des  Knaben  gesetzt  und 
«in  Lied  angestimmt  (Christod.   128  f.). 

2)  Vgl.  Hemiog.  id.  2,  4  11  p.  364,  14  Sp. 

3)  Daher  sagte  das  Sprichwort:  ObU  xa  xpia  StTjotxöpou  '(<.-cA»ov.e'.<:. 

4)  Dion.  Hai.  comp.  verb.  19  p.  262  Seh. :  ot  U  :tepl  StYjoi/opov  xal 
llivoapov  {iJtCoo;  £pY*''«'F^«voi  Ta;  :ispt65ou?  dq  izoKKu  fiEtpa  xal  xw>.a 
oi£V£i}iav  «üTÖc;  oox  äX/.oo  tivöc  ^  tyjc  jxsxaßo/v-rjc  eptuTi, 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  309 

sendet  daher  seiner  Kunstrichtung  gemäss  den  Dialekt  des 
Epos,  jedoch  mit  Dorismen  versetzt,  an.  Ausser  dem  langen 
A  findet  man  jedoch  einige  Idiotismen,  wie  YjTrioSwpco  Fr.  26,  2 
oder  xoraoÖTf]  Fr.  92  oder  gar  die  siciüsche  Form  zizo'^ycit.  Fr.  89. 
Der  himeräische  Sänger  unterscheidet  sich  ferner  von  Pindar 
durch  diegrössere  Leichtigkeit  und  Einheitlichkeit  seinerRhythmen, 
in  denen  die  daktylischen  und  anapästischen  Systeme  die  erste 
Rolle  spielten^)  und  auch  der  Stil  ist  nicht  so  hoch  geschraubt, 
sondern  gehört  nach  dem  Urteile  der  Alten  zur  Mittelgattung.  ^) 
Dank  diesen  Eigenschaften  genoss  er  in  Athen  eine  grössere 
Popularität  als  sein  schwer  verständlicher  Nachfolger ;  man  sang 
deshalb  Stücke  seiner  Gedichte  beim  Mahle  ^)  und  erfasste 
etwaige  Parodien  sofort.  ■*)  Auch  auf  die  Kunst  mag  Stesichoros 
gewirkt  haben  ^),  obgleich  sich  die  Frage  erhebt,  ob  der  Einfluss 
wirklich  direkt  gewesen  sei.  ^)  Nach  dem  oben  Gesagten  können 
wir  uns  nicht  verwundern,  wenn  die  alexandrinischen  Dichter, 
deren  Vorläufer  Stesichoros  recht  eigentlich  war,  sich  enge  an 
ihn  anschlössen,  und  vor  allem  seine  erotischen  Erzählungen 
benützten.'')  Sonst  beachteten  die  Mythographen  seine  Ge- 
■dichte,  in  denen  sie  viele  eigentümliche  Varianten  fanden; 
daher  war  auf  der  Tabula  Iliaca  die  Zerstörung  Trojas  nach 
«einen  Angaben  dargestellt.  Ihre  Popularität  hatten  aber  damals 
die  stesichorischen  Chorgesänge  schon  längst  verloren^);   sonst 


1)  Nicht  selten  sind  die  Daktylen  mit  Trochäen  (fr,  29,  1.  42,  1.  50,  1.  2), 
^ie  Anapäste  mit  Jamben  (17?.  26,  4.  35,  2.  37,  2.  44,  1.  49.  51)  gemischt. 
Blosse  Trochäen  (26,  3,  vielleicht  auch  14,  1.  32,  2)  und  Jamben  (52)  kommen 
blos  vereinzelt  vor.  Für  Choriamben  und  Kretiker  gibt  es  kein  sicheres 
Beispiel  (unsicher  fr.  8,  6.  36.  42).  „Rhadina"  ist  wahrscheinlich  in  Jonici 
a  maiore  gedichtet,  deren  weicher  Rhythmus  mit  dem  erotischen  Stoffe  ausge- 
zeichnet harmonieren  würde. 

2)  Dion.  Hai.  comp.  verb.  24  p.  372  Seh. 

3)  Eupolis  fr.  ine.  9.  Schol.  Arist.  Nub.  97.  180.  1358.  Vesp.  1217- 
Hesych.  v.  xptä?  STY]0'.)^6pot);  vgl.  auch  Amm.  28,  4,  15. 

4)  Aristoph.  Pax  775. 

5)  Robert  Bild  und  Lied  S.  170. 

6)  Ueber  seinen  Einfluss  auf  die  Tragiker  Welcker  griech.  Tragödien 
S.  528  f.  1015. 

7)  Rohde  der  griechische  Roman  S.  98  A.  2. 

8)  Lys.  Hadsikonstas  Iliupersis  nach  Stesichoros,  Lpg.   1876. 

9)  Ael.  hist.  au.  17,  37  ex.  gibt  ihm  das  kühle  Prädikat  „ehrenwert" 
(o£(xv6<;). 


310  10.  Kapitel. 

hätten  wir  an  wörtlichen  Citaten  mehr  als  blos  fünfundzwanzig.. 
Die  Gelehrten  beachteten  Stesichoros  so  gut  wie  gar  nicht; 
nur  Chamaileon  *)  schrieb  über  ihn  und  Tryphon  berücksichtigte 
ihn  in  seinem  Werke  über  die  Mischung  der  Dialekte. 

Die  Fragmente  sind  abgesondert  von  O.  Fr.  Kleine  (Stesi- 
chori  Himeraei  fragmenta,  Berlin  1828)  herausgegeben  und 
stehen  bei  Bergk  IIP  205—34. 

In  musikalischer  und  metrischer  Hinsicht  war  der  Dichter 
für  die  Folgezeit  sehr  bedeutend,  aber  auch  seine  allgemeine 
Anschauung  über  die  Lyrik  wirkte  nach ;  denn  er  bewog  aucli 
die  folgenden  chorischen  Dichter,  der  mythischen  Erzählung  einen 
bedeutenden  Raum,  wenn  auch  vielleicht  nicht  einen  eben  so 
grossen,  als  er  ihr  zuteilte,  zuzugestehen.  Doch  schlössen  sich 
in  diesem  Umfange  nur  wenige  an  ihn  an.  Megakleides  '■^)  be- 
richtete von  einem  älteren  Lyriker  Xanthos,  dessen  Gedichte- 
Stesichoros  angeblich  stark  benützte;  so  soll  er  einen  grossen 
Teil  der  Orestie  aus  ihm  herübergenommen  haben.  Wahr- 
scheinlich hängt  diese  Angabe  mit  der  leichtfertigen  Fälschung 
einer  lyrischen  Inkunabel  zusammen,  aber  Xanthos  lebte  jeden- 
falls vor  Stesichoros,  der  ihn  erwähnte. 

Bei  anderen  Andeutungen  wissen  wir  nicht,  ob  sie  sich  direkt 
auf  Stesichoros  beziehen,  z.  B.  wenn  Xenophanes^)  dagegen 
polemisiert,  dass  man  bei  den  Gastmählern  von  Titanen, 
Giganten  und  Kentauren  singe.  Auf  einer  attischen  Vase  *} 
sehen  wir  dem  Lehrer  in  das  Buch  geschrieben :  Mwad  |xot  a^t'^l 
Sxa[i,av5pov  loppwv  apxo{xat  aeiSstv,  was  nach  Stoff,  Versmass  und 
Dialekt  für  Stesichoros  passen  würde.  Eine  schwarztigurige 
Vase  bietet  den  Titel  IlaTpdxXta  ^),  womit  wohl  ein  lyrisches 
Gedicht  in  der  Art  des  Stesichoros,  welches  der  Maler  benutzte^ 
gemeint  ist.  Am  nächsten  steht  ihm  unter  den  bekarmteren 
Dichtern  Ibykos,  weshalb  diesem  manche  die  ,, Leichenspiele 
des  Pelias"^)  zuschrieben;  indes  führte  bereits  Simonides  da» 
Gedicht  unter  dem  Namen  des  Stesichoros  an. 


1)  Athen.  14,  620  c. 

2)  Athen.   12,  613  a;  vgl.  Ael.  v.  h.  4,  26. 
.3)  Fr.  1,  21  ff.   B. 

4)  Archäologische  Zeitung  1873  T.  1. 

5)  Bergk  Ztach.  f.  Alterthumswiss.  1860  S.  407  f.,  abgebildet  Gerhard 
auserlesene  Vasenbilder  227,  vgl.  Jahn  Katalog  der  Münchner  Vasen- 
sammlung 380. 

6)  Athen.  4,  172d. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  311 

Ibykos  von  Rhegion^),  ein  Sohn  des  Phytios ^),  verliess 
seine  Vaterstadt,  obgleich  er  dort  sehr  angesehen  war^),  und 
führte  ein  unstetes  Wanderleben.  Eine  Zeit  lang  zog  er  in 
Sicilien  umher,  wobei  er  auf  einer  Fahrt  von  Katana  nach 
Himera  vorn  Wagen  herabstürzte  und  eine  Hand  brach;  zum 
Andenken  weihte  er  seine  Lyra  dem  Apollo.  Am  längsten 
hielt  sich  jedoch  Ibykos  an  dem  Hofe  von  Samos  auf,  wo  ihm 
Aiakes  und  dessen  Sohn  Polykrates  ein  ehrenvolles  Asyl  ge- 
währten. Dies  ist  der  einzige  feste  Punkt  seines  Lebens,  nach 
dem  die  Chronographen  sein  Zeitalter  bestimmten.^)  Aiakes 
bestieg  angeblich  mit  Kroisos  gleichzeitig  den  Thron,  also  Ol. 
55,  1  (560)  ^),  Polykrates  aber  herrschte  von  ungefähr  Ol.  62, 1  ^) 
—64,  3  (532—522).  Die  Mitte  dieser  Zeit  nimmt  Kyrillos, 
wenn  er  die  Blüte  des  Ibykos  in  Ol.  59  setzt.  Der  Dichter 
verliess  wahrscheinlich  erst  nach  Polykrates'  Tode  Ibj^kos  und 
zog  wieder  bis  zu  seinem  Tode  umher.  Die  Grieclien  erzählten 
über  diesen  die  bekannte  Geschichte  von  den  Kranichen  des 
Ibykos^),  welche  ihnen  als  sprichwörtliche  Redensart  dienten, 
so  oft  eine  geheime  That  durch  einen  unerwarteten  Zufall  an 
das  Tageshcht  kam.  ^)  Diese  Geschichte  erwähnte  zuerst  etwa 
hundert  Jahre  vor  Christus  der  Epigrammatiker  Antipatros  von 
Sidon.^)  Welcker  erkannte  richtig,  dass  die  Sage  zu  den  zahl- 
reichen lehrhaften  Anekdoten,  welche  die  sichere  Strafe  des 
Frevels  vor  Augen  führen  sollten,  gehört.^")  Ibykos  steht  als 
fahrender  Sänger  wie  Arion  noch  halb  im  Dämmerlichte  der 
Sage.  Beiden  rauben  neidische  Menschen  ihre  Schätze,  aber 
sie  gereichen  ihnen  zum  Fluche.     Was  die  näheren  Umstände 


1)  Welcker  kleine  Schriften  1,  220  fif. 

2)  Suidas  nennt  ausserdem  die  von  den  Komikern  erfundenen  Namen 
Polyzelos  und  Kerdas. 

3)  Diogenian  erklärt  das  Sprichwort  ävoTjtöxEpo':  'Ißüxoo  durch  die  Er- 
zählung, dass  Ibykos  in  seiner  Heimat  Tyrann  hätte  werden  können  und  sie 
trotzdem  verliess. 

4)  Da  üb  Jahrbb.  121,  247  ff. 

5)  Suidas  sagt  nach  abweichender  Angabe  Ol.   54. 

6)  Hieronymus  gibt  bei  Ibykos  Ol.  61,  2  (60,  3  A)  an. 

7)  Welcker  kleine  Schriften   1,  100  ff. 

8)  Diogenian   1,  35.  Zenob.  1,  37. 

9)  Anthol.  Pal.  7,  745. 

10)  Vgl.  Grimm  Märchen,  2,  29;  P,oners  Edelstein  Fabel  61  u.  a. 


312  ^^*  Kapitel. 

anlangt,  so  greift  hier  die  etymologische  Mythenbilduug  ehi; 
die  l'ßoxsq  übernehmen  die  Rache  an  den  Mördern  ihres  Namens- 
vetters. ^) . 

Da  die  Dichtungen  des  Ibykos  blos  sieben  Bücher  füllten, 
köimen  sie  im  einzelnen  nicht  so  umfangreich  wie  die  des 
Stesichoros  gewesen  sein,  sondern  mögen  eher  den  pindarischen 
Gesängen  geglichen  haben.  Aber  er  stand  Stesichoros  in  der 
VorHebe  für  Mythen,  in  dem  grossartigen  Strophenbau  und  der 
Auswahl  der  Metren  nahe.  Andererseits  entfernte  er  sich  von 
dem  himeräischen  Dichter  durch  den  lebhaften  ja  glühenden 
Ausdruck  seiner  subjektiven  Gefühle,  der  ihn  dem  Alkman, 
noch  mehr  aber  den  lesbischen  Sängern  näher  brachte,  während 
Stesichoros  das  erotische  Element  in  die  Vergangenheit  ver- 
wiesen hatte.  Ibykos  galt  als  der  erste  und  leidenschaftlichste 
Sänger  der  Knabenliebe  ^) ;  durch  solche  erregte  er  zumal  in 
seiner  Vaterstadt  nicht  den  mindesten  Anstoss ,  da  die  Chal- 
kidier  wie  die  Kreter  diese  Sitte  anerkannten.  ^)  Weil  nun  aber 
aus  der  strophischen  Gliederung  unabweislich  erhellt,  dass  die 
Gedichte  des  Ibykos  von  Chöi'en  vorgetragen  wurden,  so  fragt 
man  bilUg,  wie  dies  mit  jenem  zu  vereinigen  sei  und  welche 
Absicht  den  Dichter  bei  der  Abfassung  geleitet  habe.  Nach 
Welckers  geistreicher  Hypothese  bezogen  sich  seine  Chorgesänge 
auf  Jünglinge  oder  Knaben,  welche  in  den  Schönheitswett- 
kämpfen der  Aolier  gesiegt  hätten.  Doch  ist  dagegen  einzu- 
wenden, dass  solche  nur  au  sehr  wenigen  Orten  und  gerade 
nicht  in  Samos  stattfanden,  während  ja  Ibykos  weit  in  der 
Welt  umlierkam.  Wie  es  scheint,  erwählte  er  sich  vielmehr 
als  SpeziaHtät  Knaben  und  Jünglinge,  welche  in  irgend  welchen 
Spielen  den  Preis  davon  getragen  hatten,  zu  besingen,  wie  es 
auch  Pindar  nicht  selten  that.  Ibykos  pries  dabei  offenbar 
ihre  Schönheit  und  Liebenswürdigkeit  in  einer  Weise,  welche 
die  Späteren  zum  schlimmen  deuteten;  und  doch  entsprangen 
diese  leidenschaftlichen  Ergüsse  wie  bei  Sappho  seinem  leb- 
haften leicht  entzündlichem  Naturell.  Von  Eros  zu  reden,  war 
Ibykos  in  gleicher  Weise  wie  dem  Alkman  verstattet.  Daneben 


1)  Das  Epigramm    auf  da.«*  Grab  zu  Khegion   braucht,    da   häufig  Keno- 
taphien  vorkommen,  der  Sage  nicht  zu  widersprechen. 

2)  Aristoph,  The.sm.   IUI.  Epigr.  iuc.  519.  Cic.  Tuso.  4,  33.  Said. 

3)  Carm.  i)op.  44. 


Die  eigeutliche  Lyrik  (Melikj.  313 

vernachlässigte  er  auch  das,  was  sonst  an  jenen  zu  preisen 
war,  keineswegs;  hieher  beziehen  wir  die  Angabe^),  er  habe 
gleich  Simonides  und  Stesichoros  die  edle  Abstammung  über 
iiUes  gepriesen.  Ibykos  verherrlichte  also  zugleich  die  Abkunft 
und  die  Schönheit  der  jugendlichen  Sieger^),  wobei  er  nach 
<iem  Vorgange  des  Stesichoros,  jedoch  mehr  in  der  massvollen 
Art  Pindars  mythologische  Parallelen  hereinzog.  Er  sprach 
daher  z.  B.  gerne  von  Ganyraedes  und  Tithonos.  ^)  Der  Stil  des 
-ersten  Fragmentes,  das  ein  Frühhngslied  vorstellen  könnte, 
■erinnert  an  die  wortreiche  Art  des  Stesichoros. 

Die  literarische  Doppelstellung  des  Ibykos  gibt  sich  auch 
in  seinem  Dialekte*)  kund;  dem  Kerne  nach  gleicht  dieser 
allerdings  der  Sprache  des  Stesichoros,  von  welcher  die  epische 
Grundlage  samrat  dem  dorischen  A^)  herrührte.  Dazu  kommen 
aber  infolge  der  Berührung  mit  der  lesbischen  Poesie  mehrere 
Äolismen,  z.  B.  daXsxJ-otaiv  Fr.  1,  6  und  ^soi?  Fr.  24.  Ausser- 
dem tritt  das  Italiotische  bei  Ibykos  sehr  stark  hervor.  Er 
teilt  nicht  blos  mit  Stesichoros  einige  Idiotismen^),  sondern  er 
bietet  ausser  eigentümlichen  Bildungen  wie  Atßoa'f  tY*v>]C  Fr.  57 
das  bekannte  Schema  Ibyceum^);  Ibykos  gibt  nämlich  —  ich 
denke,  nach  rheginischer  Sitte  —  der  dritten  Person  des  Sin- 
gulars der  Verba  auf  sw  im  Präsens  die  Endung  rpi  statt  st. 

Man  kann  nicht  gerade  sagen,  dass  Ibykos'  Gedichte  von 
den  Späteren  wenig  gelesen  wurden,  aber  sie  gehörten  stets  zu 
den  Werken  zweiten  oder  dritten  Ranges;  denn  die  Alten  sind 
bei  ihm  mit  dem  Lobe  ungewöhnlich  zurückhaltend.  Die 
fieissigsten  Leser  fanden  sich  natürlich  unter  den  Lexikographen 
und  Grammatikern :  infolge  dessen  sind  aber  die  meisten  Frag- 
mente so  wenig  umfangreich,  dass  die  kärglichen  Splitter  kein 


1)  Ps.  Plut.  de  nobil.  2. 

2)  Darauf  zielt  Pindar  im  Eingange    der  zweiten   isthraischen  Ode :    Ot 

UEV  näXa:    cpcüTS? (ti\i'fa.    TCa'.osiou?    eto^euov    lAsXiyäpoac    oiavou-;,   ooxci; 

scuv  xaXöc  eI/^ev  'AcppoiSita^  EüO-povou  (jLvaaxsipav  dSiatav  oizötpav. 

3)  Schol.  Apoll.  Rhod.  3,  158. 

4)  W.   Schaumberg  quaestt.    de    dialecto    Simonidis    Cei    Bacchylidia 
Ibyci,  Celle  1878. 

5)  Ausserdem  v.v  2,  3. 

6)  "AtEpTcvo«;  Fr.  52,  ßpuaXixxa'.  Fr.  53  und  X'ip[J.T|  Fr.  63. 

7)  Die  Grammatikerzeugnisse   stehen  in  Schueidewins  Ausgabe  p.  66  fl". 
mit  gesunder  Kritik  beurteilt  von  Bergk  III  *  240. 


314  10-  Kapitel. 

Bild  der  dichterischen  Individualität  zu  entwerfen  gestatten. 
Vielleicht  verdankte  schon  im  Altertum  Ibykos  den  grössten 
Teil  der  ihm  geschenkten  Aufmerksamkeit  jener  Fabel  von  den. 
Kranichen;  ohne  Zweifel  ist  jetzt  sein  Name  durch  sie  un- 
sterblich geworden. 

Es  ist  bekannt,  dass  Schneidewins  Erstlingsschrift  em& 
Ausgabe  der  Fragmente  des  Ibykos  war^),  die  ihm  von  Seiten 
G.  Hermanns  scharfen  Tadel  zuzog.  ^)  Im  Hinbhck  auf  den, 
Text  ist  sie  längst  antiquiert  und  durch  Bergks  Sammlung 
(IIP  235—52)  ersetzt. 

Aus  dem  chalkidischen  Rhegion  gelangte  der  Chorgesang 
wahrscheinlich  wieder  nach  dem  euböi.schen  Chalkis  zurück. 
Hier  verfasste  nämlich  Tynnichos  einen  in  Athen  ausser- 
ordentlich populären  Päan,  den  Äschylus  mit  einem  Ehrfurcht 
einflössenden  Schnitzbilde  verglich.  ^) 

Die  bisher  besprochene  chorische  Lyrik  wurzelte  in  dem 
rehgiösen  Leben  des  griechischen  Volkes  und  war  auf  nationalem 
Boden  entsprungen.  Lesbos  und  Kreta  waren  die  Ausgangs- 
punkte des  künstlerischen  Chorgesanges,  der  sich  zunächst  nach 
Sparta  verbreitete,  um  dann  mit  den  Kolonistenschaaren  über 
das  jonische  Meer  nach  Italien  und  Sicilien  zu  wandern.  Hier 
schwang  sich  die  Lyrik  rasch  zu  solcher  Höhe  auf,  dass  die 
Schüler  die  Meister  überflügelten  und  in  das  Mutterland  gerufen 
wurden. 

Im  Osten  war  aber  während  dessen  schon  wieder  eine  neue 
Dichtungsart  aufgetreten .  Es  war  der  phrygische  Dithyrambos.*) 
Der  Gottesdienst  der  phrygisch-thrakischen  Stämme  liebte  die 
stürmische  V^erehrung  der  (Tottheit,  wobei  die  Andacht  nach 
Art  der  heutigen  Heilsarmee  durch  möglichst  grossen  Lärm 
sich  kund  that;  die  musikalische  Begleitung  stand  nicht  zurück 
und  auch  der  Hymnus  hatte  einen  ungewöhnlich  erregten 
Klang.     Diese    Liedweise    begleitete    den    Dionysoskult    nach 


1)  Ibyci  carminum  reliqniae,  Göttingen   1833. 

2)  Jahns  .Tahrbb.  1833  II  S.  371  ff. 

8)  Porph.  abstin.  2,  18.  Plat.  Ion  p.  684. 

4)  G.  M.  Schmidt  diatribe  in  dithyrambum  poetarumqne  dithyrambi- 
conim  reliqaias,  Berlin  1846;  Härtung  Philol.  1,  397  ff.  und  Lyriker  4,  196  ff. 
6,  251  ff.  Demosthenes  Thrax  schrieb  nach  Suidas  ntp\  StO-uprxfi.ßo7rouüv.  Die 
Etymologie  des  Wortes  ist  im  Eranischen,   nicht  im  Griechischen  zn  suchen. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  315- 

Griechenland ;  sie  kam,  wie  die  phrygische  oder  hypoplirygische 
Tonart  der  Musik  ^)  und  der  Name  des  Tanzes  ^)  verrieten,  aus 
Phrygien  und  fand  in  den  Dionysosstädten  Naxos  und  Theben  ^) 
auf  dem  Uebergange  wichtige  Stationen. 

Der  DithjTambos,  dessen  Archilochos  (Fr.  36)  zuerst  Er- 
wähnung that,  gehörte  solange  zum  Volksgesange ,  bis  Arion 
von  Methymna,  also  wiederum  ein  asiatischer  Grieche  auf- 
trat, um  ihm  seinen  Platz  in  der  Literatur  anzuweisen.  Er 
lebte  längere  Zeit  am  Hofe  des  korinthischen  Tyrannen  Peri- 
andros  (629 — 585)*),  weshalb  Pindar^)  von  Korinth  rühmt, 
dass  dort  der  Dithyrambos  erfunden  worden  sei.  An  diese 
sichere  historische  Thatsache  knüpft  die  Angabe  des  Suidas 
an.  ^)  Wenn  nach  Eusebios  dagegen  Arion  um  Ol.  40,  4 
(lateinisch)''),  41,  4  (Synkellos)  oder  42,  3  (armenisch)  lebte,  so 
ging  seine  Quelle  von  der  durch  Suidas  bekannten  Annahme 
aus,  Arion  sei  ein  Schüler  des  Alkman  gewesen;  Arion  wurde 
nämlich  nach  beliebter  Manier  geboren  gedacht,  als  der  letz- 
tere in  seiner  Blütezeit  stand.  (Jeher  sein  Leben  kennen  wir 
keine  Nachricht  als  die  berühmte  Erzählung^):  Dass  Arion  auf 
seinen  Fahrten  von  Schiffern,  die  nach  seinen  erworbenen 
Schätzen  begehrten ,  in  das  Meer  geworfen ,  aber  durch  einen 
Delphin  gerettet  worden  sei,  versichert  bereits  Herodot'')  und 
unzählige  sagten  es  ihm  nach,  ja  einer  erdichtete  selbst  einen 
Dankhymnus  an  Poseidon,  den  er  trotz  des  attischen  Dialektes 
Arion  in  den  Mund  legte.  ^®)  Welcker  will  diesen  nicht  wörtlich  ver- 


1)  Aristot.  pol.  8,  7,  9.  Proklos  p.  245,  22  f.;  Simonides  spricht  Fr.  72,  7 
von  dorischer  Tonart. 

2)  Topßaaia  Pollux  4,   104. 

3)  Find,  bei  Schol.  Find.  Ol.   13,  25. 

4)  Herod.  1,  23. 

5)  Ol.   13,  25. 

6)  Ol.  38  (so  lesen  die  meisten  Handschriften)  ist  die  äx|JL-r]  des  Periandros 
nach  ApoUodor  (Di  eis  Rhein.  Mus.  31,  19,  vgl.  Roh  de  Rhein.  Mus.  33^ 
201  A.). 

.      7)  40,  3  AF,  41,   1   P. 

8)  Lehr  8  populäre  Aufsätze  S.  202  fi' ;  Welcker  kleine  Schriften 
1,  89  ff.  Klemens  von  Alexandrien  fcoh.  ad  gentes  1)  hielt  wegen  dieser  Sage 
Arion  selbst  für  eine  mythische  Person.  Den  Vorgang  stellen  Münzen  von 
Methymna  dar  (Bürchner  Ztsch.  f.  Numism.  9,  6). 

9)  1,  23. 

10)  Bergk  III*  79—81   aus  Ael.  bist.  an.   12,  45. 


^16  10.  Kapitel. 

stehen,  was  der  Schluss  auf  keine  Weise  erlaubt:  ,,Als  mich 
listige  Männer  von  dem  meerbefahrenden  bauchigen  Schiffe  in 
den  Schwall  der  Purpurflut  schleuderten."  Böckh  ^)  schrieb 
das  Gedichtchen  einem  Nomendichter  zu,  der  es  in  grösserem 
Zusammenhange  Arion  habe  sprechen  lassen.  Auch  Bergk  ver- 
mutet, dass  der  Hymnus  in  einem  Nomos  oder  Dithyrambus 
gestanden  sei,  denkt  aber  an  die  jüngere  attische  Zeit.  Lehrs  ^) 
hat  gewiss  recht,  wenn  er  Allan  selbst  von  dem  Verdachte 
der  Fälschung  freispricht.  Es  liegt  hier  wie  bei  Ibykos 
nichts  weiter  als  eine  moralische  Erzählung  vor  und  das  an- 
gebliche Weihgeschenk  auf  dem  Kap  Tainaron  stellte,  wenn 
anders  es  alt  war,  den  Gott  Taras  dar;^)  es  wäre  höchstens 
möglich,  dass  es  ein  tarentinischer  Seefahrer  Arion^)  aufstellte. 
Oder  sollen  wir  lieber  die  Sage  von  Palaimon,  der  auf  dem 
Kücken  eines  Delphins  schlafend  nach  Korinth  gelangte,  her- 
beiziehen? 

Von  der  dichterischen  Thätigkeit  des  Arion  gibt  kein  ein- 
ziges Fragment  Kunde.  Wir  wissen  nur,  dass  er  dem  Dithy- 
rambos  äusserlich  und  innerlich  eine  bestimmte  Form  verlieh. 
Arion  setzte  vor  allem  den  ■/.(ivXioc.  X°P^^'')  von  fünfzig  mit 
Bocksfellen  bekleideten  Männern  ein  ,^)  der  seinen  Namen 
wahrscheinlich  von  der  kreisrunden  Aufstellung  trug.  Der  Ge- 
sang bezog  sich  natürlich  anfangs  immer  auf  die  Schicksale 
des  Dionysos.  Die  musikalische  Komposition  regelte  Arion 
ohne  Zweifel  gleichfalls ,  wiewohl  nur  soviel  mitgeteilt  wird, 
dass  die  älteren  Dithyramben  in  Strophen  zerfielen.'')  Es  gab 
eine  Strophe  und  Antistrophe,  bevor  Melanippides  diesen  Wechsel 
aufhob.^)  Arion  selbst  war,  wie  Herodot  berichtet,  ein  vorzüg- 
licher Kitharöde,   aber  er  Hess   diese  Kunst  dem  Dithyrambus 


1)  Abb.  der  Berliner  Akademie  1836  S.  74. 

2)  a.  O.  8.  204. 

3)  O.  Müller   Gesch.   der   gr.   L.    I»  343  A.  74.)     Dieser  hält  auf  Män- 
zen  von  Brundisium  (Mionnet  descr.  des  med.  I  37)  in  der  Linken  eine  Lyra. 

4)  Der  Name  war  nicht  selten. 

6)  Schol.  Find.  Ol.  13,  25,   vgl.  Schol.  Arist.  Av.  1403.     Deshalb  nannte 
man  seinen  Vater  Kykleus  (Epigramm   bei  Ael.  bist.  an.  12,  46  und  Suidas). 

6)  Daher  entstand  der  Name  der  Tragödie.     Die  Mitglieder  hie.ssen  nach 
Suidiis  Satyrn. 

7)  Ph.  Arist.  probl.   19,  16,  vgL  Dion.  Hai.  comp.  verb.  19. 

8)  Arist.  rhet.  3,  9. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  317 

ZU  Gute   kommen.     Proklos    schöpft    aus  schlechten  Quellen,^)' 
wenn  er  angibt,  Arion   scheine  den  Nomos  nicht  wenig  geför- 
dert   zu    haben ,    wie  auch  nur  der  Lügner  Lobon^)  angibt,  er 
kenne  von  ihm   gegen   zweitausend    Hexameter  7rpooi{jLta,  d.  h. 
kitharödische  Vorspiele. 

Mit  dem  nächsten  Dithyrambiker  Lasos  beginnt  bereits 
der  attische  Dithyrambus  von  anderem  Charakter,  den  wir  dem- 
gemäss  der  nächsten  Periode  zuweisen. 

Wenn  auch  die  chorischen  Dichter  in  einem  uns  auffallen- 
den Masse  dem  ganzen  Chore,  der  doch  gleichsam  die  Bürger- 
schaft vertrat,  ihre  subjektiven  Gefühle  in  den  Mund  zu  legen 
sich  erlaubten,  so  versteht  es  sich  dabei  doch  von  selbst,  dass 
diese  Subjektivität  von  dem,  was  die  neuere  Zeit  mit  diesem 
Begriffe  verbindet,  weit  entfernt  ist.  Was  für  diese  im  eigent- 
lichen Sinne  Lyrik  ist,  hiess  bei  den  Griechen  Melos.  Sie  ver- 
standen darunter  zunächst  kleine  Lieder,  welche  ein  einzeln er^^)> 
zum  Klange  eines  Saiteninstrumentes  vortrug.  Nicht  mehr  als 
vier  Verse,  die  obendrein  im  Vergleiche  mit  denen  der  Chor- 
lieder gewöhnlich  kurz  waren ,  durften  eine  Strophe  bilden*) 
und  die  Strophen  (oft  auch  die  Verse  xata  qx'v/ov)  kehrten  ohne 
Abwechslung  regelmässig  wieder.  Die  Verse  selbst  waren  we- 
niger künstlich  und  gravitätisch  gebaut;  während  vierzeitige 
Längen  so  gut  wie  ganz  fehlten,  war  der  Grundcharakter  der 
Metren  logaödisch.  Der  Inhalt  ist  der  ewig  gleich  bleibende: 
Liebe,  Freundschaft,  Hass  und  Wein.  Deshalb  mögen  die 
modernen  Lyriker  sich  glücklich  schätzen,  dass  die  Leistungen 
der  Griechen  das  Altertum  nicht  überdauert  haben.  Sonst  träte 
das  unaufhörliche  Wiederkehren  del-  nämlichen  Gedanken  weit 
deutlicher  hervor;  die  Griechen  haben  ihnen  zuerst  und  wahr- 
scheinhch  nicht  am  schlechtesten  Ausdruck  verliehen.  Einen, 
bedeutenden  Teil  ihres  Reizes  gewannen  die  alten  Meliker,  wie 
Göthe  durch  den  Anschluss  an  die  Volkspoesie  ;^)  der  gesunde- 

1)  Walther  de  poesis  melicae  gen.  p.  46  ff. 

2)  Bei  Suidas  vgl.  Hill  er  Rhein.  Mus.  33,  522. 

3)  Ich  will  damit  natürlich  nicht  sagen,  dass  den  nielischen  Dichtern 
Chorgesänge  gänzlich  fremd  gewesen  seien;  so  verfasste  Sappho  Epithalamien 
für  "Wechselchöre. 

4)  Alkaios  und  Sappho  lassen  wie  Pindar  nicht  immer  einen  Satzabschnitt 
mit  dem  Ende  der  Strophe  zusammenfallen.  Nach  Hephaistion  p.  60  verband 
Sappho  nur  immer  zwei  Veise  zu  einer  Strophe. 

5)  Welcker  kleine  Schriften   1,   118  ff. 


318  10.  Kapitel. 

■Sinn  der  Griechen  bewahrte  sie  vor  der  akademischen  Spitz- 
findigkeit, welche  der  Lyrik  des  Mittelalters  eigen  war. 

Die  Sage  erzählte,  des  Orpheus  Leier^)  sei  über  das  Meer 
nach  Lesbos  geschwommen;  darum  ströme  auf  dieser  Insel  der 
-Quell  der  Lieder  in  ungewöhnlicher  Fülle.  In  der  That  brachte 
dieses  gottbegnadete  Eiland  nicht  nur  den  Terpander  hervor, 
es  zeugte  auch  das  herrliche  Sängerpaar  Alkaios   und  Sappho. 

Alkaios^)  griff  im  Verein  mit  seinen  Brüdern  energisch 
in  die  politischen  Verhältnisse  ein,  was  die  Bestimmung  seiner 
Lebenszeit^)  wesentlich  erleichtert.  Ol.  42  kämpfte  er  mit  den 
Mitylenäern  gegen  die  Athener  um  Sigeion  und  verlor  hier 
seinen  Schild ,  welchen  die  Athener  wegen  seiner  hohen  socia- 
len Stellung  —  als  Dichter  war  er  schwerlich  damals  schon 
berühmt  —  zu  Hause  abgesondert  aufstellten.^)  Seine  beiden 
Brüder  Kikis  und  Antimanidas  erschlugen  ungefähr  damals 
den  Tj^annen  Melanchros  und  er  stimmte  über  den  Tod  des 
Myrsilos  ein  Jubellied  (Fr.  20)  an;  aber  seine  Freude  war  ver- 
früht, da  das  Volk  den  weisen  Pittakos  zum  Aisymneten  erhob 
und  die  Aristokraten  in  die  Verbannung  trieb.  Hier  knüpfen 
die  meisten  chronologischen  Angaben  an ,  aber  sie  differieren 
zwischen  Ol.  45,  1  (600)  und  47,  1  (592).^)  Alkaios  zog  nun 
mit  seinen  Genossen  weit  umher,  indem  sie  im  Solddienste 
fremder  Herrscher  sich  Freunde  und  Geldmittel  zur  Rückkehr 
zu  verschaffen  suchten;  der  Dichter  kam  auf  diesen  Fahrten 
selbst  nach  Ägypten,  wo  Psammetich  hellenische  Miettruppen 
um  sich  sammelte.^)  Als  aber  die  Aristokraten  nach  einigen 
Jahren  unter  der  Führung  unseres  Alkaios  und  seines  Bruders 
Antimenidas  ihre  Pläne  ins*Werk  setzten,'')  unterlagen  sie  und 

1)  Phanokles  bei  Stob.  flor.  64,  14  V.  19  ff.  Hygin  erzählt  dagegen  (p. 
a.  2,  7),  die  Lesbier  besässen  das  Grab  des  Orpheus. 

2)  Plehn  Lesbiaca  p.  169  ff.;  Welcker  kleine  Schriften  1,  126  ff.; 
Th.  Kock  Alkäus  und  Sappho,  Berlin  1862  S.  8  ff 

3)  Rohde  Rhein.  Mus.  33,  215  ff. 

4)  Fr.  32.  Herod.  6,  95.  Strabo  13,  600.  Suidas  v.  ilaitcpu)  setzt  hier 
seine  «5tx|rf,  an.  Schöne  symb.  phil.  Bonn.  2,  746  ff.  denkt,  weil  er  fi-fove 
falsch  übersetzt,  an  einen  zweiten  viel  weniger  bekannten  Krieg  zwischen 
Ol.  66  und  67  (560  und  550). 

6)  Ol.  45,  2  Hieron.  Ol.,  45,  1  P  F,  Ol.  46,  2  Euseb.  armenisch,  Ol.  47,  l 
Marmor  Par. 

6)  Strabo  1,  37. 

7)  Arist.  pol.  8,  9,  6.     Theophr.  bei  Dion.  Hai.  aut.  Rom.  5,  73. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  319 

Hessen  Alkaios  verwundet  in  der  Gewalt  des  Pittakos ;  dieser 
aber  schonte ,  obgleich  vom  Dichter  früher  auf  die  heftigste 
Weise  angegriffen.^)  edelmütig  sein  Leben,  indem  er  den  schö- 
nen Ausspruch  that:  „Verzeihung  ist  besser  als  Rache ;"^) 
Alkaios  scheint  fernerhin  mit  Pittakos  versöhnt,  auf  Lesbos  ge- 
wohnt und  dort  sein  Leben  in  Frieden  beschlossen  zu  haben. 
Ueber  sein  Privatleben  liegt  nur  eine  wenig  verbürgte  Nach- 
richt vor,  dass  er  nämhch  Sappho  geliebt  habe.  Sie  stützt  sich 
darauf,  dass  Alkaios  an  Sappho  ein  Gedicht  (Fr.  55)  in  sapphi- 
fichem  Versmasse  richtete :  ,, Veilchenlockige  ,  züchtige,  hold- 
lächelnde Sappho ,  ich  möchte  etwas  sagen ,  aber  die  Scham 
hindert  mich,^)  worauf  Sappho  in  der  nach  ihm  benannten 
Strophe  erwiderte  (Fr.  28) :  ,,Wenn  du  nach  edlem  oder  schö- 
nem begehrtest  und  deine  Zunge  nicht  etwas  schlechtes  sagen 
möchte  (ixDxa),  würde  auch  nicht  Scham  deine  Augen  treffen, 
sondern  du  sprächest  gerecht  darüber."  Welcker'^)  betrachtete 
beide  Gedichte  als  eine  Fälschung;  aber  das  Zeugnis  des  Aristo- 
teles^) macht  sowohl  diese  Annahme  als  auch  die  Ausflucht, 
es  habe  sich  nicht  um  die  beiden  gehandelt,  ganz  unmöglich. 
Es  ist  daher  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  Alkaios  in  der 
That  irgendeinmal  für  Sappho  Liebe  empfand,  ohne  dass  sie 
■diese  Gefühle  erwiderte.  Mehrere  Kunstwerke ,  besonders  Va- 
senbilder, stellen  beide  einander  gegenüberstehend  dar.^) 

Die  Gedichte  des  Alkaios  bildeten  später  mindestens  zehn 
Bücher.  Die  Ueberreste  der  Hymnen  (Fr.  1 — 14,  an  Apollo, 
Hermes,  Athene,  Hephaistos  und  wohl  noch  andere  Gottheiten 
gerichtet)  zeigen  keine  poetische  Individualität ;  aber  gerade  von 
ihnen  kennen  wir  zwei  vollständige  Stücke ,  wenn  auch  nur 
gleichsam  in  Silhouetten.  Den  Hermeshymnus  (Fr.  5 — 8)  bil- 
dete bekanntlich  Horaz   in   der   zehnten  Ode    nach    und  einen 


1)  Fr.  37  flf.  vgl.  Val.  Max.  4,   1,  6. 

2)  Diod.  fr.  Vatic.  7,  22  Diog.  L.  1,  76. 

3)  Bergk    verband    mit    Zustimmung    Welckers   (kleine  Schriften  1,  111 
diese  zwei  getrennt  überlieferten  Verse. 

4)  Kleine  Schriften  1,110  ff. 

5)  rhet.  1,  9. 

6)  Jahn  Abh.  der  sächs.  Ges.  der  Wiss.  1861  S.  766  ff.;  Welckeralte 
Denkmäler  2,  225  f.;  A.  Michaelis  Thamyris  und  Sappho,  Lpg.  1865  S. 
11   ff. 


320  1^-  Kapitel. 

Paiaii  an  Apollo  \jste  der  Sophist  Himerios^)  in  seine  blühende 
Prosa  auf.  In  diesem  ist  die  farbenreiche  Schilderung  der 
Freude,  welche  bei  der  Rückkehr  des  Apollo  unter  den  Vögeln 
und  Gewässern  entsteht ,  höchst  anziehend  ;  doch  bewegt  sich 
der  Dichter  hier  nicht  in  seinem  eigentlichen  Elemente.  Die 
übrigen  Gedichte ,  in  welchen  sich  das  eigentliche  Talent  des 
Poeten  kund  gab,  können  wir  im  Allgemeinen  nach  der  Gele- 
genheit, bei  welcher  sie  vorgetragen  wurden  ,  sympotisch  nen- 
nen. Die  Alten  scheiden  zwar  politische,  eigentlich  sympotische 
und  erotische  Lieder,  aber  scharfe  Grenzen  kann  hier  niemand 
ziehen.  Denn  gerade  die  schärfsten  Ausfälle  gegen  die  poHti- 
sohen  Gegner  stehen  unzweifelhaft  in  sympotischen  Gedichten; 
ich  erinnere  an  das  leidenschaftliche  Trinklied ,  das  den  Tod 
des  Myrsilos  feiert  (Fr.  20)  und  in  der  berühmten  Kleopatraode 
des  Horaz  (carm.  .1,  34)  nachhallt.  Die  Angriffe  auf  Pittakos, 
dem  die  Aristokraten  keinen  anderen  Fehler  vorzuwerfen  hatten 
als  dass  er  ein  Plebejer  {xaxoTzazpiQ  fr.  37a)  war,  citiert  Athe- 
naios  gleichfalls  ausdrücklich  aus  den  Skolien.^)  Der  Unter 
schied  besteht  also  nur  in  der  vorwiegenden  Gedankenrichtung, 
Die  berühmtesten  waren  die  politischen  Lieder  (aiaa'.wTaa),  mi 
den  sirventes  der  Provenzalen  nach  Inhalt  und  Leidenschaft'! 
vergleichbar  (Fr.  15 — 31).  Leider  sind  die  Fragmente  zu  dürf- 
tig, um  ein  genügendes  Bild  der  Gattung  zu  geben.  Nur  Fr. 
15 — 19  stehen  in  innerem  Zusammenhange ,  indem  sie  den 
Staat  mit  einem  Schiffe,  das  in  den  Wogen  der  Revolution 
schwankt,  vergleichen.  Andere  richten  sich  gegen  die  Führer 
der  Volkspartei,  Melanchros  (Fr.  21),  Myrsilos  (Fr.  22)  und 
Pittakos  (Fr.  37  ab,  vgl.  25).  Das  lange  Fragment  Nr.  15, 
welches  die  Waffen kammer  im  Hause  des  Alkaios  schildert, 
deutet  am  Ende  an,  dass  die  Aristokraten  bald  entschlossen 
waren,  die  Richtigkeit  ihrer  Ansichten  durch  das  Schwert  dar- 
zuthun.  Einige  (Fr.  22—24,  27—31)  spielen  auf  kriegerische 
Ereignisse,  die  wir  nicht  näher  kennen,  an;  in  einer  Ode  an 
Melanippides  (Fr.  32)  beklagt  Alkaios  sein  bekanntes  Miss- 
geschick, das  ihn,  als  man  um  das  Strandschloss  Sigeion 
käm})fte,  betraf.     Ein  Gedicht  endlich  (Fr.  33)  bewillkommnete 

1)  Or.  14,  10. 

2)  Wie  Julian  (Antioch.  in.)  andeutet,    dichtete  er  diese  in  der  Verb:»n- 

DDDg. 


i 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  321 

seinen  Bruder  Antimenidas,  der  im  Dienste  der  Babylonier 
einen  feindlichen  Riesen  erschlagen  und  dafür  reiche  Geschenke 
empfangen  hatte.  ^)  Die  eigentlichen  Skolien  (Fr.  34 — 54)  pre- 
digten den  heiteren  Lebensgenuss  in  Verbindung  mit  sentenziö- 
ser  Weisheit,  die  man  aus  Horaz  zur  Genüge  kennt;  nur  Fr. 
48  a.  b,  in  denen  Aias  erwähnt  und  Achilleus  angeredet  wird, 
stehen  etwas  davon  ab.  Die  Freunde,  an  die  Alkaios  seine 
Gedichte  richtet,  heissen  Bykchis  (Fr.  35)  und  Oikis  (Fr.  41).^) 
Den  Schluss  mag  die  widrigste  Seite  der  alkäischen  Dichtung, 
die  Liebespoesie,  machen;  denn  sie  wendet  sich  in  sinnlicher 
Art  fast  blos  an  Knaben,^)  von  denen  wir  den  Menon  aus  Fr. 
46  und  Lykos  aus  Fr.  58  und  Hör.  c.  1,  32,  11  kennen.  Be- 
rühmt ist,  was  Cicero"*)  erzählt :  Naevus  in  articulo  pueri  delectat 
Alcaeum.  Doch  richtet  sich  wie  gesagt  BV.  55  an  Sappho  und 
im  Fr.  62  stellt  Bergk  vermutungsweise  den  weiblichen  Namen 
Krino  her.     Auch  in  Fr.  59  u.  63  ist  von  Mädchen  die  Rede. 

Es  bleibt  uns  wiederum  nichts  übrig,  als  aus  den  Berich- 
ten derer,  die  noch  so  glücklich  waren  ,  Alkaios  zu  lesen,  ein 
ungefähres  Bild  des  Dichters  zusammenzustellen.  Dionys  von 
Halikarnas^)  sagt  von  ihm  kurz:  'AXxatoD  Ss  axÖTtsi  tö  [isYaXo- 
(posc  xal  ^poLyb  xai  rjSu  {leta  SetvötTjxoc  ext  Ss  zobc,  a/'^^aTta[X0D? 
jtsxa  aa(p-/]vstac,  oaov  aoTfjS  [X'/j  z-^  SiaAsxrci)*')  zi  XExäxwxat  xai.  it^jb 
dcTrävTCrtv  tö  twv  vroXtTixwv  Vj^oc,  und  Quintilian^)  sagt  ähnlich: 
Alcaeus  in  parte  operis  aureo  plectro  merito  donatur,  qua  tyran- 
nos  insectatus  multum  etiam  moribus  confert;  in  eloquendo 
quoque   brevis   et  magnilicus  et  dicendi   vi   plerumque  oratori 


1)  K.  O,  Müller  Rhein.  Mus.  1827  S.  287  if. 

2)  Bergk  zu  Fr.  41  vermutet  nicht  unwahrscheinlich,  dass  auch  Hippis 
dazu  gehörte.  , 

3)  Cic.  Tusc.  4  §  71.  nat.  d.  1  §  79,  Hör.  c.  I,  32,  11.  Quintil.  10, 
1,  63. 

4)  Nat.  deor.  1,  28,  79. 

5)  Vet.  Script,  cens.  2,  8. 

6)  Ahrens  üher  die  Mischung  der  Dialekte  S.  63  ff.  leugnet  die  Bei- 
mischung epischer  Formen;  aber  Alkaios  und  Sappho  lassen  das  Augment 
manchmal  weg  und  verschmähen  den  Genitiv  auf  o:o  nicht.  Bei  Alk.  48 
steht  ausserdem  das  unäolische  ^Ajlkkta  (Meister  die  griechischen  Dialekte 
1,  16).  Allerdings  bieten  die  Handschriften  zu  viele  epische  Formen,  z.  B. 
asipe  Alk.  41  statt  aepps,  oopeot  Sappho  94  statt  oppsai. 

7)  10,   1,  6'3. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  21 


ä2ä  iO-  Kapitel. 

similis;  sed  et  lusit  et  in  amores  descendit,  maioribus  taineii 
aptior.  Auf  seinen  icraftvollen  Geist  geht  das  horazische  Wort 
'sonantera  plenius  aureo  plectro'.^)  Die  syinpotischen  Lieder 
waren  wie  in  der  Trunkenheit  geschrieben;^)  aber  wiewolil 
Alkaios  über  die  Massen  streitbar  war,^)  blieb  der  Spott  immer 
in  den  Grenzen  des  Erlaubten*)  und  an  Ungebundenheit  Arohi- 
lochos  gleichzukommen  hinderte  ihn  schon  sein  holier  gesell- 
schafthcher  Kang.  Die  .Leidenschaft  und  der  Trotz  prägten 
sich  in  seinem  Porträt  auf  einer  Münze  von  Mitylene  aus.^) 

Als  sein  Hebstes  Versraass  wandte  der  lesbische  Sänger 
die  nach  ihm  benannte  Strophe  an,  welche  zugleich  männ- 
liche Kraft,  lyrischen  Wechsel  der  Stimmung  und  kühnes 
Vorwärtsstreben  glücklich  darstellt  und  vereinigt.*')  Er  bildete 
sich  ausserdem  noch  grössere  Strophen. '')  Der  äolische  Hexa- 
meter mit  schwacher  Basis  (fr.  45)  passte  zu  seinem  unruhigen 
Wesen  und  die  Vorhebe  für  die  Jamben  ^)  erinnert  an  die 
Jambenpoesie  der  jonischen  Nachbarn.  Allen  melischeu  Dich- 
tem ist  die  Mischung  von  Trochäen  und  Daktylen  oder  Jamben 
und  Anapästen  gemein.  Das  eigenthch  charakteristische  beruht^ 
auf  den  mannigfaltigen  zum  Teil  aus  Choriamben  bestehenden 
Systemen  (40 — 44.  48 — 52.  81 — 86  u.  ö.),  deren  stürmische 
rauschende  Bewegung  die  aufgeregten  Streit-  und  Trinklieder 
am  passendsten  kleidet. 

Alkaios  war  zu  Athen,  namentlich  während  der  perikleischen 
Zeit    sehr    beliebt'-*),    obgleich    der    äolische  Dialekt   dem  allge- 


1)  Vgl.  Ps.  Ov.  her.  15,  30. 

2)  Athen.   14,  429  a.     430  a. 

3)  Athen  14,  627  a.     Cic.  Tusc.  4,  33.     Hör.  c.  1,  32,  6. 

4)  Üebertrieben  Porphyrie  in  Hör.  c.  4,  9,  7. 

6}  Jahn  T.  8,  ö  S.  724;  über  eine  Statue  vom  Monte  Calvo  Bull.  d. 
Inst.  1836  p.  9  flf.  Jahn  S.  731  A.  86*.  Braun  Ruinen  und  Museen  Koni.s 
S.  548  bezieht  auch  eine  Statue  der  Villa  Borghese  auf  unseren  Dichter. 

6)  Christ  Metrik  §  635. 

7)  Christ  a.  O,  §  638  S.  "550, 

8)  Tetrameter  66,  katalektische  Pentapodie  9,  3.  13b  2?  18,  3.  7.  19,  3. 
An  einfachen  Versen  haben  wir  sonst  blos  hexametrische  Tetrapodien  (47) 
und  Peutapodien  (25),  katalektische  Tripodien  von  Anapästen  (43,  1)  und 
jonische  Verse  (59 — 61). 

9)  Aristoph.  Satt,  bei  Athen.  16,  694  a. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  323 

meinen  Verständnisse  im  Wege  stand.  ^)  Später  widmeten  ihm 
die  Gelehrten,  schon  durch  die  eigentümliche  Sprache  angeregt, 
ein  eifriges  Stadium.  Der  Peripatetiker  Dikaiarchos  schrieb 
über  Alkaios.  ^)  Aristophanes  und  Aristarch  reinigten  seinen 
Text.  ^)  Der  Lesbier  Kallias  kommentierte  Alkaios  so  gründlich, 
dass  er  eine  Monographie  xepi  zf^c,  sv  'AXxaiti)  XsTiäSoc'^)  schrieb. 
In  seinem  Vaterlande  genoss  der  Dichter  überhaupt  hohe 
Ehren;  viele  Münzen  von  Mitylene  schmückte  sein  Kopf.  ^) 
Ausserdem  bewirkte  aber  er  mit  Sappho  die  lange  schriftliche 
Anwendung  des  lesbischen  Dialektes,  weshalb  dieser  noch  in 
der  Zeit  des  Augustus  aus  dem  offiziellen  Gebrauche  nicht 
ganz  geschwunden  war.  ^)  Später  schrieb  Drakon  ;tepl  twv 
'AXxaioü  [xsXwv.'^)  Unter  Theodosius  waren  die  Gedichte  noch 
erhalten ,  weil  damals  Horapollon  ^)  einen  Kommentar  ver- 
fasste.  Auch  Gregor  von  Korinth,  der  im  zwölften  oder  drei- 
zehnten Jahrhundert  schrieb ,  will  sie  noch  gelesen  haben  ^), 
aber  man  verspürt  nichts  davon.  Der  vielbelesene  Eustathios 
kennt  sie  nicht  mehr. 

Nach  der  Spezialausgabe  von  Aug.  Matthiä  (Leipzig  1827) 
sind  nur  Ahrens'  (im  Anhang  seines  Buches  de  dialecto  AeoHca) 
und  Bergks  Bearbeitungen  (III '^  147 — 97)  zu  nennen. 

Dem  Alkaios  ungefähr  gleichzeitig  und  vollkommen  eben- 
bürtig   war   Sappho^*')    oder  —  wie  sie  sich  selbst  nannte  — 


1)  Did.   bei  Schol.  Arist.  The.sm.  169    oh   Y"p    sirsicoXaCe  xa  'AXxaiou  8iä 

TTjV    OtCtXsV.TOV. 

2)  Müller  frg.  bist.  II  246  f. 

3)  Tt^pl  TCOivjjx.  10. 

4)  Athen.  3,  85  f. 

5)  Z.  B.  Mionnet  descr.  des  med.  III  46,  107.  suppl.  VI  64,  82  u.  ö. ; 
Ztsch.  f.  Numism.  IX,  T.  4,  2.  3. 

6)  Meister  griech.  Dialekte  I  S.  9  ff. 

7)  Suid.  V.  Apäxcuv. 

8)  Suid  s.  V. 

9)  Meister  a.  O.  I  S.  5  f. 

10)  Welcker  kleine  Schriften  1,  101  if.  (Sappho).  2,  80  ff.  (Sappho  von 
einem  herrschenden  Vorurteile  befreit).  4,  68  ff.  (über  die  beiden  Oden  der 
Sappho).  5,  229  ff.  (Sappho  und  Phaon);  Mure  Rhein.  Mus.  12,  564  ff.; 
Plehn  Lesbiaca  p.  176  ff. ;  A.  Schöne  Untersuchungen  über  das  Leben  der 
Sappho  in  den  Symb.  philol.  Bonn.  2,  731  ff.;  K.  Riedel  der  gegenwärtige 
Stand  der  Sapphofrage,  Programm  von  Waidhofen  an  der  Thaya  1881;  Po- 
st ioii  griechische  Dichterinen,  Wien  1882  (2.  uuveränd.  Aufl.);  am  radikalsten 

21* 


^24  iö-  Kapitel. 

Psappha.^)  Sie  war  in  Eresos^)  geboren,  hatte  aber  später  ihren 
Wohnsitz  zu  Mitylene,-'')  wo  ihre  FamiHe  eine  angesehene  Stellung 
einnahm.'*)  Die  Eltern  hiessen  Skamandron ymos ^)  und  Kleis. 
Ihre  Lebenszeit  wird  immer  mit  der  des  Alkaios  gleich  gesetzt, 
denn  sie  hatte  unter  dem  lesbischen  Bürgerkriege  gleichfalls  zu 
leiden.  Als  die  Adelsfamihen  fliehen  mussteu,  begab  sie  sich 
nach  Sicilien.  *')  Es  ist  nicht  unmögüch,  dass  Sappho  im  Exil 
starb;  dann  gehört,  was  wir  sonst  über  ihre  Lebensumstände 
hören,  vor  jene  Flucht.  Die  Dichterin  versammelte  nämlich  in 
ihrem  Hause,  das  sie  deshalb  Musenstätte  ^)  nannte,  einen  Kreis 
lernbegieriger  schöner  Mädchen,  um  sie  in  den  musischen 
Künsten  zu  unterrichten.  Es  war  ein  ähnhches  Verhältnis  wie 
zwischen  Sokrates  und  seinen  Schülern^),  nur  gesteigert  durch 
die  Leidenschaftlichkeit  der  Frau  und  das  Temperament  des 
Inselvöikchens ,  welches  der  weiblichen  Schönheit  eigene  Wett- 
kärapfe,  xaXXtatsia  genannt,  bereitete.  Sie  drückte  daher  die 
Liebe  zu  den  Schülerinen  und  die  Bewunderung  ihrer  Schönheit 
so  überschwänglich  aus,  dass  manche  der  Alten  später  meinten, 
sie  sei  in  das  unnatürliche  Laster  einiger  Lesbierinen  verfallen. 
Gerade  die  Ode ,  in  der  sie  ihre  Gefühle  am  heissesten  aus- 
spricht, scheint  Sappho  am  Hochzeitstage  einer  Schülerin  vor- 
getragen zu  haben.  ^)     Bei   den  Alten   beruhte   eben  der  edlere 

Dom.  Coinparetti  Saifo  e  Faone  diuauzi  alla  critica  stör,  in  der  Nuova 
antologia  1876  Febbrajo. 

1)  Fr.  1,  20.  59;  ^l'aTtfpa»  auf  einer  Münze  von  Mitylene  (Jahn  Ber.  der 
Sachs.  Ges.  der  Wiss.  III  T.  8,  1) ;  Xaiztpu)  sagen  aber  auch  Alkaios  (Fr.  56) 
und  ein  anonymer  Lyriker  (Fr.  adesp.  62). 

2)  Suid.  Dioskorides  Anthol.  7,  407,  4.  Darum  bilden  sie  unter  Commodus 
geprägte  Münzen  von  Eresos  ab  (Allier  de  Hauteroche  note  sur  ]a  courti- 
sane  Sappho  1822;  Damersau  descr.  pl.  14,  2;  O.  Jahn  Abh.  der  sächs. 
ües.  der  Wiss.  1861  T.  8,  5;  Ztsch.  f.  Num.  IX  T.  4,  7.  9). 

3)  M.  Par.  Z.  51,   vgl.  Herod.  2,  135  u.  a. 

4)  Sapphos  Bruder  Larichos  bekleidete  das  Ehrenamt  eines  Mundschenken 
im  Prytaneion,  was  sie  mit  Adelsstolz  oft  hervorhob  (Athen.  14,  424  f.  vgl. 
Schol.  II.  Y  234.  öchöne  p.  742  bezieht  Fr.  16.  20.  21.  50.  62.  89.  101  hieher). 

6)  Herod.  2,  136.  Ael.  v.  h.  12,  19.  Schol.  Plat.  Phaedr.  p.  312.  Ueber 
die  anderen  Namen,  welche  Suidas  angibt,  Schöne  S,  733  ß".  Woher  weiss 
Pseudoovid,  daus  Sappho  6  Jahre  alt  ihre  Eltern  verlor?  (V.  61  f.). 

ö)  M.  Par.  a.  O. 

7)  MouaonoXo«;  Fr.  136. 

8)  Max.  Tyr.  24,  8. 

9)  Welcker  Khein  Mus.  11,  248. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  325 

rnterricht  nicht  auf  staatlichem  Zwang  oder  persönlichen  In- 
teressen (sei  es  der  Sorge  um  den  Lebensunterhalt  oder  dem 
l>lossen  Streben  nach  Wissen),  sondern  Lehrer  und  Schüler 
führte  gegenseitige  herzliche  Zuneigung  zusammen ;  die  wie 
immer  beschaffene  Liebe  wurzelte  aber  nur  dann  wahrhaft  fest, 
wenn  das  sinnliche  Wohlgefallen  an  der  äusseren  Schönheit 
hinzutrat.  Auch  von  Frauenemanzipation  kann  bei  Sappho 
keine  Rede  sein,  wenn  sich  auch  von  selbst  versteht,  dass  die 
Frauen  von  Lesbos  viel  freier  als  die  Athenerinen  lebten.  Da 
also  die  Attiker  Sapphos  Lebensverhältnisse  nicht  kannten, 
erschien  sie  ihnen  in  falschem  Lichte  und  die  Medisance  der 
Komiker  that  das  ihrige,  um  das  Andenken  der  Dichterin  dem 
Pöbel  zu  Liebe  schmählich  zu  brandmarken.  Dieses  Gewebe 
von  Fabeln  entfernte  erst  Welckors  Scharfbhck,  doch  könnte 
er  in  der  Negation  zu  weit  gegangen  sein.  Auf  Lesbos  scheint 
es  eine  Fabel  von  der  hoffnungslosen  Liebe  der  Philomela  (?) 
zu  dem  schönen  Phaon  gegeben  zu  haben,  wie  sie  mit  ver- 
änderten Namen  in  verschiedenen  Gegenden  Griechenlands  vor- 
kam,^) oder  Phaon  war  blos  ein  Doppelgänger  des  Adonis. '"*) 
Vielleicht  wegen  des  Namens  jener  Jungfrau  übertrug  man 
diese  Sage  auf  die  lesbische  Nachtigall,  auf  Sappho,  deren  Ge- 
dichte zum  Theil  Liebesklagen,  die  sich  jedoch  auf  Mädchen 
bezogen,  aussprachen.  Wie  doppelsinnig  jene  waren,  beweist 
am  deutlichsten  die  erste  vollständig  erhaltene  Ode,  die  Aphro- 
dites  freundliches  Hilfeversprechen  schildert.  Der  Wortlaut 
lässt  hier  den  Leser  vöUig  darüber  im  unklaren ,  ob  Sappho 
einen  Jünghng  oder  ein  Mädchen  im  Sinne  habe.  ^)  Den  Ent- 
scheid gibt  eine  Stelle  des  Horaz^):  Aeoliis  fidibus  queren tem 
Sappho  puellis  de  popularibus ;  aber  gerade  solche  doppeldeutige 
Gedichte,  wie  jenes,  gaben  dem  Gerüchte,  das  Sappho  Liebe 
zu  einem  Manne  zuschrieb,  Nahrung.  Weil  Sappho  in  einer 
ähnlichen  Ode  den  Wunsch,  sie  möchte  durch  einen  Sprung 
von  dem  berühmten  leukadischen  Felsen  herab  ^)  ihr  Liebesleid 


1)  Schöue  a.  O.  S.  671. 

2)  O.  Müller  LG.  I  ''293. 

3)  In  allen  Handschriften  lautet  der  letzte  Vers  xüjovc  eO'eXotoav ;    Bergk 
vermutet  freilich  e^eXo'.aa. 

4)  Carm.  2,   13,  24. 

5)  Oberhummer  die  Phönizier  in  Akarnauien  S.  49  ff. 


326  10.  Ksrpitel. 

enden  können,  ausgesprochen  zu  haben  scheint,  dichtete  man 
hinzu,  Sappho  sei  von  Phaon  verschmäht  oder  verlassen  worden 
und  aus  Verzweiflung  darüber  von  dem  leukadischen  Felsen  in 
das  Meer  gesprungen.  ^)  Dieser  Klatsch  beherrschte  die  öffent- 
Uche  Meinung  von  Athen  bereits  zur  Zeit  des  Aristophanes 
und  kam  schon  damals  durch  Ameipsias,  der  nach  der  Be- 
hauptung jenes  Dichters  die  grobe  Komik  liebte,  auf  die  Bühne. 
Sein  Stück  ,, Sappho"  ist  der  Vorläufer  einer  ganzen  Reihe  von 
Stücken,  welche  der  mittleren  und  neueren  Komödie  ange- 
hören; Amphis,  Antiphanes,  Timokles,  Diphilos,  Epikrates  und 
Ephippos  verfassten  eine  ,, Sappho",  Piaton  und  Antiphanes 
einen  ,, Phaon"  und  Menander  die  ,,Leukadia'.  Diphilos  gab 
ihr  sogar  wider  alle  Chronologie  Hipponax  und  Archilochos  zu 
Liebhabern'-^),  andere  fügten  Anakreon  hinzu,  obgleich  dieser 
ebenfalls  weit  später  lebte,  und  suchten  dieser  Behauptung 
durch  ein  gefälschtes  poetisches  Zwiegespräch  den  Schein  der 
Thatsächlichkeit  zu  verleihen.  3)  So  sank  Sappho,  während 
anfangs  die  Liebe  zu  dem  einzigen  Phaon  durch  eine  Zauber- 
wurzel erklärt  worden  war^),  allmälig  zu  einer  Courtisane  herab; 
ein  Komiker  nachte  den  unübersetzbaren  pöbelhaften  Witz 
dazu,  Sappho  habe  den  sehr  reichen  Kerkylas  (von  xepxo?)  aus 
Andros  (Mannheim)  geheiratet.  ^)  Aber  Sappho  hatte  ja  nach 
Suidas  eine  Tochter  Kleis  I  Dies  erschlossen  die  Alten  aus 
Fr.  85  (vgl.  Fr.  136):  ,,Es  ist  mir  ein  schönes  Kind,  dessen 
Gestalt  goldenen  Blüten  gleicht,  die  geliebte  Kleis,  die  ich  nicht 
um  ganz  Lydien  hergäbe."  Wer  mit  Sapphos  Überschwang- 
hcher  Ausdrucks  weise  vertraut  ist^),  wird  nicht  anstehen,  auch 
Kleis  zu  ihren  jugendHchen  Schülerinen  zu  rechnen.  Dass 
Sapphos  Mutter  ebenfalls  den  Namen  Kleis  trug,  spricht  nicht 
dagegen;    kann  dies  übrigens  nicht  erst  aus  dem  Namen  jener 


1)  Sapphos  Fluclit  wurde  im  Zu.samiueiihaiig  damit  umgeändert ;  sie  ver- 
folgte nun  den  treulosen  Phaon  nach  Sicilien  (l'a.  Ov.  her.  15,  51  ff.). 

2)  Athen.  13,  699  d. 

8)  Chamaileon  und  Hermesianax  bei  Athen.  13,  599  c,  vgl.  598  c.  14,  635 e. 

4)  Plin.  nat,  hist.  22,  20. 

5)  Suid. 

6)  Vgl.  Fr.  69.  Deiuetrios  de  eloc.  1 02  lührt  gerade  aus  Sappho  Beispiele 
der  Hyperbel  an:  IloXö  itdixTtSoc  &ho^t\eaxipa  und  /poocu  ^^poootepa  (s.  anderes 
bei  Bergk  III  ^  129). 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  327 

Tochter  gefolgert  sein?^)  Ein  Verhältnis  7ai  einem  Manne 
kommt  nur  einmal  (Fr.  75)  vor  und  hier  —  weist  Sappho  den 
jüngeren  Bewerber  ab!  Mit  einem  Worte,  es  fehlt  jeder  stich- 
haltige Beweis,  um  ihre  Moral  irgendwie  in  Zweifel  zu  ziehen.''^) 

Die  Geschichte  dieser  Sappholegenden  wirft  ein  schlimmes 
Licht  auf  die  alten  Ijiterarhistoriker,  unter  denen  Chamaileon  ^), 
weil  er  alle  Komödienwitze  ohne  Kritik  als  wirkliche  Geschichte 
in  seine  Biographie  der  Dichterin  aufnahm,  die  Hauptschuld 
trug.  Denoch  können  wir  den  Komikern  nicht  zürnen,  weil 
sie  uns  Grillparzers  Tragödie  und  Leopardis  ultimo  canto  di 
Saffo  geschenkt  haben ;  ich  bemerke  bei  dieser  Gelegenheit  über 
die  Gestalt  Sapphos,  welche  die  Neueren  zum  Unglücke  ihres 
Lebens  machen,  dass  sie  klein  und  brünett,  also  nach  griechi- 
schen Begriffen  durchaus  nicht  schön  war.  "*)  Zur  Ehre  der 
alten  Gelehrten  sei  jedoch  gesagt,  dass  nicht  alle  an  jene  Fabeln 
glaubten.  Der  pedantische  Didymos  stellte  im  vollen  Ernste 
eine  Untersuchung  über  die  Frage  an  ,,an  Sappho  publica 
fuerit".^)  Mehrere  andere  ^),  denen  der  grosse  Abstand  zwischen 
der  Dichterin  Sappho  und  der  Komödienheldin  nicht  entging, 
unterschieden  von  jener  eine  Hetäre  gleichen  Namens  und 
bürdeten  dieser  alles  nachteilige  auf. 

Da  die  Alten  Dichter  und  Dichtung,  soweit  es  möglich  war, 
trennten,  thaten  jene  bösartigen  Verleumdungen  dem  Ruhme 
Sapphos  keinen  Eintrag.  Epigrammatiker  nannten  sie  die  zehnte 
Muse^),    den    weibhchen  Homer  ^)    oder  die    pierische   Biene.  ^) 


1)  Schöne  a.  O.  p.  740. 

2)  Als  Gegenbeweis  lässt  sich  über  das  bekannte  Gedicht,  in  welchem 
Sappho  ihren  Bruder  Charaxos,  weil  er  die  Hetäre  Rhodopis  losgekauft  hatte, 
verhöhnte,  schwerlich  verwenden ;  auch  hinsichtlich  der  Chronologie  beweist 
es  nicht  zwingend ,  dass  Sappho  noch  mehrere  Jahre  nach  der  offiziellen  Er- 
öffnung Ägyptens  (Ol.  52,  4)  gedichtet  habe. 

3)  Athen.  13,  599  c. 

4)  Diese  Angabe  des  Maximos  von  Tyros  (or.  24,  7,  vgl.  Ps.  Ovid.  her. 
15,  33  If.)  stammt  ohne  Zweifel  von  Sappho  selbst. 

5)  Seneca  ep.  88,  37.  Weniger  Bedeutung  verdient,  dass  der  Epigrammatiker 
Anthol.   7,   14  Sappho  auf  Lesbos  begraben  sein  Hess. 

6)  Nymphis'bei  Athen.  13,  596e.  Ael.  v.  h.  12,  19.  Suid.  s.  v.  und 
^äcov;  vgl,  Phot.  v.  AeoxäxY]?  Apost.  17,  80. 

7)  Ps.  Plato  epigr.  20,  Anthol.  9,  66;  571.  Auson.  epigr.  32. 

8)  Autip.  Sid.  Anthol.  9,  26,  3. 

9)  Christod.  69. 


328  10.  Kapitel. 

Diese  Lobsprüche  verdiente  sie  dadurch ,  weil  sie  mit  dem 
begeisterten  Ausdruck  ihrer  Gefühle  die  glücklichste  Wahl  der 
Worte  zu  verbinden  wusste.  Ihre  Sprache  war  glatt  und 
blumig^),  dabei  aber  von  männlicher  Kraft,  weshalb  sie  Horaz 
„mascula  Sappho"  ^)  nannte.  Doch  stand  Sappho  nach  dieser 
Seite  hinter  Alkaios  zurück,  den  sie  andererseits  durch  süsse 
Anmut  übertraf.^)  Philoxenos^)  gesteht  ihr  auch  zu,  dass  ihre 
Rede  in  Wahrheit  mit  Feuer  gemischt  sei.  Diese  Doppel- 
seitigkeit drückte  sich  in  der  Wahl  der  Tonarten  aus ;  sie  kom- 
ponierte nämhch  teils  in  der  leidenschaftlichen  Art  der  Äoler 
teils  wandte  sie  zum  ersten  Male  unter  den  Griechen  die  weiche 
mixolydische  Tonart  an.  ^)  Auch  ihre  Versmasse  zeigen  die 
Mannigfaltigkeit  ihres  Dichtens.  Vielleicht  kein  anderer  der 
älteren  Lyriker  hat  so  viele  Metra  wie  sie  —  ich  zähle  deren 
etwa  fünfzig  —  zur  Anwendung  gebracht.  Diese  sind  nicht 
blos  nach  der  gewöhnlichen  Weise  der  Melik  aus  den  gebräuch- 
lichsten Massen  oder  auch  Choriamben  gemischt ,  sondern  da- 
neben treten  die  rein  daktyhschen*'),  trochäischen^),  jambischen^) 
und  anapästischen^)  Metra  weit  häufiger  als  bei  Alkaios  und 
Anakreon  auf,  was  Sapphos  Gedichten  den  Schein  einer  ge- 
wissen Schlichtheit  verleiht.  Mit  der  Einführung  der  mixo- 
lydischen  Tonart  harmoniert  die  Erfindung  der  weichlichen 
Iwvixol  avaxXw[Jisvot.  ^") 

Sai)phos  Dichtungen  zerfielen  in  neun  Bücher  und  waren 
nach  dem  Metrum  geordnet,  doch  so  dass  die  Epithalamien 
(Fr.  91 — 117)    ein    eigenes  Buch    bildeten  ^^);    denn    in    dieser 

1)  Dionys  rechnet  ihre  Gedichte  zur  ■^Xa.tfopa.  xal  ävö-Yjpä  oüv^eotc  (comp, 
verb.  23). 

2)  ep.   1,  19,  28. 

3)  Fr.  adesp.  lyr.  62   ex  SotTctpui?  x68'  dp.eXY6|xevo(;   {leXt    tot  (pepcu,    vgl. 
Anthol.  9,  66.  Luc.  amor.  30. 

4)  Plut.  amatorius  18. 

5)  Aristox.  bei  Plut.  mus.  16. 

6)  Zwei  bis  sechs  Füsse,  teils  katalektisch  teils  vollständig  und  manchmal 
mit  trochäischer  Basis  .(30— 39.  41.  46—47.  49.  92—97.  104.  107.  108). 

7)  Sechs  (84)  oder  sieben  (86)  Füsse. 

8)  Vier  (81),  fünf  (70)  oder  sechs  (103)  Füsse. 

9)  Drei  (46,  1.  48,  1.  75,  2.  4.  82.  83,  1.  2),  vier  (40,  2.  42,  2.  43.  98,  2) 
oder  fünf  (101,  2)  Füsse. 

10)  Fr.  87;  eine  gewöhnliche  jonische  Tripodie  steht  in  Fr.  88. 

11)  Serv.    in  Verg.  G.   1,  81.     Bergk   meinte   deshalb,   Aristophanes   habe 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  329 

Gattung  zeichnete  sich  die  Dichterin  besonders  aus  und  wir 
sind  so  glückhch,  eines  derselben  durch  Fragmente  (Fr.  93 — 
97),  die  Paraphrase  des  Sophisten  Himerios^)  und  die  Nach- 
bildung des  Katull  (Nr.  62)  rekonstruieren  zu  können.  Sappho 
redet  bald  die  Braut  bald  den  Bräutigam  an ;  manchmal  kommt 
jene  selbst  zu  Worte  wie  Fr.  109.  Den  schönsten  Schmuck  dieser 
Dichtungen  machten  Vergleiche  mit  dem  Naturleben  aus  ,  wie 
wenn  sie  von  einer  Braut  sagt  (fr.  93):  „Wie  ein  süsser  Apfel 
auf  dem  höchsten  Zweige  am  Wipfel  sich  rötet,  von  den 
Pflückern  vergessen,  doch  nein  —  vergessen  haben  sie  ihn 
nicht,  sie  konnten  ihn  nur  nicht  erreichen."  Das  erste  Buch 
(Fr.  1 — 26)  enthielt  Gedichte  verschiedenen  Inhalts,  denen  die 
sapphische  Strophe  gemeinsam  war;  einen  Hymnus  (Fr.  6) 
finden  wir  bei  Horaz  c.  1,  30  nachgebildet.  Die  anderen  Bücher 
füllten  Oden  in  äolischen  Pentametern ,  choriambischen  Tetra- 
metern und  anderen  Versmassen.  ^)  Epigramme,  Elegien,  Mono- 
dien und  Jamben ,  die  Suidas  anführt,  hat  Sappho  nie  ge- 
schrieben ;  doch  stehen  in  der  Anthologie  noch  drei  Epigramme, 
die  aber  schon  durch  den  dorischen  Dialekt  ihre  Ünechtheit 
erweisen.  Die  Gedichte  sind  zum  grössten  Teile  an  ihre 
Schülerinen  gerichtet,  die  sie  teils  in  ihrer  Gesammtheit  (Fr.  11. 
14.  24.  25.  vgl.  129)  teils  einzeln  anredet  (Fr.  21.  22.  34).  ^'j 
Sappho  beklagt  sich  gewöhnlich  über  ihre  geringe  Anhänglich- 
keit (Fr.  21.  22);  die  Dichterin  wetteiferte  nämhch  mit  Andro- 
meda,  welche  Atthis  an  sich  zog  (Fr.  41)  und  dafür  von  Sappho 
angegriffen  wurde  (Fr.  41.  58).  Letztere  scheute  sich  nicht 
einmal,  den  Namen  der  Gegnerin  zu  einem  Witze  zu  miss- 
brauchen   (Fr.  70).  ^)     Sapphos   Selbstbewusstsein    spricht    sich 


seine  Ausgabe  nach  dem  Inhalte,  Aristarch  nach  dem  Versmasse  geordnet, 
obgleich  es  höchst  unwahrscheinlich  ist,  dass  Servius  jene  alte  Ausgabe  be- 
nützt haben  sollte. 

1)  1,  4.  16.  19  (Bergk  III  M21). 

2)  Bergk  III  ^  82  f. 

3)  Sie  nennt  Atthis  Fr.  33.  41,  Eranna  Fr.  77?,  Gyrinno  Fr.  76,  Hero 
aus  Gyaros  Fr.  71,  Kleis  Fr.  85  und  Mnasidika  Fr.  76.  Suidas  erwähnt 
ausserdem ,  indem  er  lächerlicher  Weise  exalpa'.  (piAai  und  [j.a9"f]tpic/.'.  unter- 
scheidet, Telesippa,  Megara,  Anagora  von  Milet,  Gongyla  von  Kolophon  und 
Euneika  von  Salamis.  Ihre  Schülerinen  kamen  also  von  weither.  Durch  Ps. 
Ovid.  her.   15,  17  hören  wir  noch  von  Anaktorie  und  Kydno. 

4)  Auch    gegen   ihren  Bruder  Charaxos  trat  Sappho ,   weil  er  die  Hetäre 


330  l<^    Kapitel. 

besonders  gegenüber  weniger  gebildeten  Frauen  aus:  „Nach 
dem  Tode  wirst  du  einst  im  Grabe  liegen  und  niemand  wird 
weder  dann  noch  später  deiner  gedenken,  denn  du  hast  keinen 
Anteil  an  den  Rosen  Pieriens,  —  sondern  unansehnüch  wirst 
du  im  Hades  unter  den  kraftlosen  Toten  schweben"  (fr,  68, 
vgl.  P^r.  10).  Von  sich  selbst  rühmt  sie  dagegen:  ,,Auch 
später  wird  mancher,  denke  ich,  unser  sich  erinnern"  (fr.  32). 

Mit  Recht  durfte  Sappho  so  sprechen ,  sie ,  die  allein  von 
den  Frauen  aller  Zeiten  wirklich  genial,  nicht  blos  talentvoll 
war.  Schon  bei  ihren  Mitbürgern  genoss  ^ie,  obgleich  ein 
Weib,  hohe  Ehren.  ^)  Da  ihr  Bild  sehr  oft  den  Revers  mity- 
lenäischer  Münzen^)  zierte,  verbreitete  es  sich  auch  im  übrigen 
Griechenland.  Ihre  Gestalt  erscheint  auf  mehreren  Vasen- 
bildern •^) ;  ein  Relief^)  stellt  Sappho  von  Liebesleidenschaft  auf- 
geregt und  gequält  in  vortrefflicher  Weise  dar.  Silanion  ver- 
fertigte eine  Statue  der  Dichterin  ^)  und  eine  andere  stand  im 
Zeuxippos  von  Konstantinopel  ^) ;  Leon  malte  sogar  ein  Porträt.^) 

Doch  auch  ausserhalb  ihrer  Heimat  fanden  trotz  des  Dia- 
lektes Sapphos  Lieder  die  grösste  Verbreitung,  so  dass  sie  noch 
im  zweiten  Jahrhundert  gerne  gesungen  wurden.  ^)  Den 
römischen  Dichtern  gab  die  Lesbierin  ein  unerreichbares  Vor- 
bild ab,  dem  besonders  KatulP)  und  Horaz  nachzustreben 
sich  bemühten.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  griechisch 


Rhoclopis  loskaufte,  mit  eiuem  herben  Gediciite  iuif  (Herod.  2,  135.  Ath.  13, 
596  b  u.  ö.  vgl.  Schöne  p.  743). 

1)  Alkid.  bei  Aristot.  rhet.  2,  23,  11, 

2)  Pollnx  9,  84;  Miounet  VI  46,  103.  Suppl.  VI  60,  52  fl".  72,  125.  O.  Jahn 
a.  O.  S.  720  ir.  T.  8,  1— r,;  Bär  ebner  Zeitschrift  f.  Nuraism.  9,  8  fl'. 

3)  Jahn  u.  O.  S.  712  ff. 

4)  Jahn  S.  715. 

5)  Cic.  Verr.  4  §  126.  Athenaji.  p.  168  ed.  Pur. 

6)  Chri.slodoro8  V.  69  ff". 

7)  Plin.  n.  h.  35,  141.  Anfein  Porträt  gebt  da.s  Epigrauini  de.s  Daniorharis 
Anthol.  Pal.  2,  310.  Eine  Doppelbüste  iu  Madrid  (Hübner  antike  Bild- 
werke in  Madrid  S.  100)  soll  Sappho  und  Korinna  darstellen;  aber  die  soge- 
nannte Korinna  ist  nach  der  Haartracht  ein  Mann.  Es  könnten  also  höchstens 
Sappho  und  Alkaios  sein.  Vgl.  Bötticher  und  Hübner  Archäol.  Zeitung 
29  (1872),  83—7. 

8)  Gell.  19,  9,  4.  Dion  Chrys.  or.  2  §  28.  Solon  will  ein  sapphisches 
Lied  lernen  'Iva  jiaO-iv  iicoddvu)'  (Stob.  29,  58). 

9)  Süss  Acta  sem.  Erlang.   1,  40  f. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  331 

sprechenden  Frauen,  die  einen  Drang  zum  Dichten  in  sich 
fühlten,  Sappho  zu  ihrem  Vorbilde  nahmen  und,  wenn  sie  auch 
ihren  Geist  nicht  in  sich  aufnahmen,  doch  die  Aeusserhchkeiten 
getreuhch  naciiahmten.  In  unbestimmter  Zeit  kopierte  sie  die 
Pamphyherin  Damophile  ^),  indem  sie  sich  mit  einer  Schaar 
von  Mädchen  umgab  und  Liebesgedichte  und  Hymnen  (z.  ß. 
auf  die  pergäische  Artemis)  verfasste.  Etwas  später  fühlte 
ßalbilla,  eine  Hofdame  der  Kaiserin  Sabina,  sich  bemüssigt,  ihre 
Sapphostudien  an  der  Memnonssäule  durch  äohsche  Gedichte  ^) 
zu  verewigen. 

Die  alexandrinischen  Gelehrten  wandten  Sappho  geringere 
Sorgfalt  als  Alkaios  zu,  was  vielleicht  zur  Folge  hatte,  dass  die 
Fragmente  des  letzteren  in  manchem  besser  erhalten  sind.  ^) 
Ausserhalb  Alexandria  entstanden  mehrere  Schriften :  Das  Lü- 
genbuch Chamaileons ,  wie  die  merkwürdige  Monographie  des 
Didymos  wurden  bereits  erwähnt.  Kallias  von  Mitylene  kom- 
mentierte Sappho  mit  Alkaios^)  und  Drakon  ^)  schrieb  auch 
Tier/t  Töiv  SaTTtpoö?  [isXwv,  Gegen  Ende  des  vierten  Jahrhunderts 
beschäftigte  sich  der  Rhetor  Themistios  mit  der  Dichterin;  ein 
Jahrhundert  später  gab  Sopatros^)  in  der  sxXoyyj  twv  toTop'.wv 
eine  Blütenlese  sapphischer  Sprüche.  Da  Eustathios  und 
Tzetzes^)  nichts  mehr  gelesen  haben,  fällt  der  Untergang  ohne 
Zweifel  in  die  Zeit  der  bilderstürmenden  Kaiser.  **) 

Fragmente  besitzen  wir  etwa  eben  so  viel  wie  von  Alkaios. 
Früher  waren  die  Bearbeitungen  von  Neue^)  und  Ahi-ens^*^)  zu 


1)  Philostr.  vita  Apoll.  1,  30;  in  den  Hiindschriften  steht  fälschlich 
Damophyle.  Ich  glaube,  dass  Philostratos  irrtümlich  als  Gerücht  mitteilte, 
sie  habe  mit  Sappho  gelebt. 

2)  Am  besten  bei  Puchstein  epigrammata  Graeca  in  Aegypto  reperta 
1880  (Diss.  phil.  Argent.  4,   1   flf.). 

3)  Meister  die  griechischen  Dialekte  1,  108. 

4)  Strabo  13,  618. 

5)  Suidas  s.  v. 

6)  Phot.  bibl.  cod.   161  p.   103  a  40. 

7)  Anecd.  Paris.   1,  63,  21.  266,  25. 

8)  Schubart  sagt  hübsch:  „Sappho,  welche  Blut  weinte  in  ihren  Liebes- 
klageu,  lässt  uns  Blut  weinen,  dass  die  grösste  Zahl  dieser  unschätzbaren 
Perlen  verloren  gingen." 

9)  Berlin   1827. 

10)  Im  Anhange  zu  seinem  Buche  de  dialecto  Aeolica. 


332  10.  Kapitel. 

gebrauchen;  jetzt  muss  man  Bergk  IIP  p.  82 — 140  zu  Grunde 
legen. 

Sappho  hat  allerdings  Freundhien  und  Schülerinen  gehabt, 
aber  auf  keine  übertrug  sie  ihr  poetisches  Vermächtnis. 
Erinna^)  soll  zwar  ihre  Schülerin  gewesen  sein,  indes  beruht 
dies  nur  auf  der  Kombiniersucht  der  Grammatiker;  nicht  mehr 
Glauben  verdient,  dass  sie  aus  Lesbos  ^)  stammte.  Bessere 
Gewährsmänner  nennen  Tenos^),  das  Inselchen  Telos  oder 
Rhodos  als  Heimat.  Die  jonische  Insel  Tenos  fallt  jedenfalls 
weg,  weil  Erinna  nach  dem  Dialekte  eine  Dorierin  war;  Rhodos 
ist  nur  eine  ungenaue  Bezeichnung  für  das  zeitweilig  dazu  ge- 
hörende Eiland  Telos.  Auf  Letzterem,  dessen  Name  sich  ohnehin 
durch  die  Seltenheit  empfiehlt,  war  also  Erinna  sicherlich  ge- 
boren. Ueber  die  Zeit  liegt  nur  eine  Angabe  des  Eusebios  vor, 
sie  habe  Ol.  107,  1*)  (352/1)  oder  108,  l^)  gelebt.  Obgleich 
dies  Benndorf^)  nicht  durch  den  Charakter  der  höchst  ver- 
dächtigen Epigramme,  welche  als  Dichtungen  Erinnas  im  Um- 
laufe waren,  nicht  verteidigen  durfte,  widerspricht  ihr  nur  eine 
Behauptung  Tatians  ^),  derzufolge  Naukydes  von  Argos,  welcher 
um  die  95.  Olympiade  arbeitete,  eine  Statue  der  Dichterin  ver- 
fertigte. Ich  glaube,  dass  diese  Statue  gleich  einer  von  Christo- 
doros  beschriebenen  ^)  nur  ein  Lyra  spielendes  Mädchen  darstellte 
und  erst  durch  die  Periegeten  zu  einem  Bilde  der  Dichterin 
gemacht  wurde.  Zu  jener  so  späten  Zeit  würde  wohl  auch 
passen,  dass  ihr  Hauptwerk  ein  Gedicht  von  dreihundert  Hexa- 
metern, „der  Spinnrocken"  betitelt,  war.  Ich  kann  mir  nichts 
anderes  dabei  vorstellen,  als  dass  es  wie  das  gleichnamige  Idyll 
des  Theokrit  (Nr.  28)  ein  poetisches  Genrebild  war.    O.  Müller 


1)  "Hptvva,  vgl.  Malzow  de  Erinna,  Petersburg  1836;  Welcker  kleine 
Schriften,  2,  145  ff. 

2)  Tatianos    Suid.,   Authol.  7,  710    und    712  lemma.    Stob.   Flor.   7,  13 
lemma  v.  1. 

3)  Steph.    Byz.    und    Suidas  (TYjVia,    nicht   Teta)    aus    derselben    Quelle 
(Rohde  Bhein.  Mus.  34,  5(59);  Anthol.  Pal.  7,  710,  7. 

4)  Armen,   (z    106,  3)  u.  Hier.  (106,  4  F,  107,  3  P).     In  dieselbe  Olym- 
piade setzt  er  das  Auftreten  des  Deiuostlumes. 

6)  Synk.  494,  16. 

6)  De  Anthol.  Gr.  epigr.  quae  ad  artes  spectant,  Bonn  1862  p.  5  ff. 

7)  Or,  ad  Graecos  61. 

8)  V.  108  ff. 


Die  eigentliche  T.yrik  (Melik).  333 

vermutet,  sie  habe  darin  „die  rastlos  aufsteigenden  Gedanken 
der  jugendlichen  Seele  bei  der  einförmigen  Arbeit  ausgedrückt." 
Ausserdem  nahm  Meleagros  drei  Epigramme  Erinnas  in  seine 
Anthologie  auf  ^);  ein  viertes  (Anthol.  7,  190)  galt  dem  Plinius^ 
oder  vielmehr  seiner  Quelle  als  Werk  der  Erinna.  Wenn  Erinna 
wirklich  so  spät  lebte,  so  verdient  die  Nachricht,  dass  sie  im 
neunzehnten  Jahre  starb  ^),  dass  sie  ,,der  Hades  zum  Hyme- 
näus  raubte'"^),  wohl  Glauben;  sonst  wäre  die  Frage  angezeigt, 
ob  dieses  traurige  Schicksal  nicht  aus  ihren  Epigrammen  auf 
sie  übertragen  worden  sei.  Genug,  der  frühe  Tod  des  früh- 
reifen Talentes  machte  der  Nachwelt  das  Andenken  Erinnas 
heilig  und  Enthusiasten  achteten  sie  selbst  Homer  gleich.-'^) 
Der  skeptische  Athenaios  ^)  aber  zweifelte ,  ob  das  überlieferte 
Gedicht  wirklich  von  ihr  herrühre.  Andere  teilten  das  Poem 
der  Lesbierin  Melinno  ,,an  Rom"  ebenfalls  ihr  zu.  ^) 

Das  Lied  der  Lesbier  eignete  sich  seinem  ganzen  Charakter 
nach  am  besten  für  die  asiatischen  Jonier  und ,  als  Sappho 
und  Alkaiüs  es  ausgebildet  und  seinen  Ruhm  weithin  verbreitet 
hatten,  fand  es  bei  den  Joniern  eine  neue  Heimstätte,  freilich 
nicht  ohne  sich  den  Eigentümlichkeiten  dieses  Stammes  anzu- 
passen. ^) 

Der  Vertreter  des  jonischen  Melos  ist  Anakreon  von 
Teos^),  ein  Sohn  des  Skythinos.  ^^)  Seine  Zeit  bestimmt  sich 
dadurch,    dass   er  am    Hofe    des  Polykrates  (um  532   bis   522) 


1)  Bergk  III*  143  ff. 

2)  Nat.  bist.  34,  57. 

3)  Suidas. 

4)  Anthol.  Pal.  7,  13,  3. 
6)  Suidas. 

6)  7,  283  d. 

7)  Thiersch   acta  philol.  Monac.   2,  591  ff.    Welcker  kleine  Schriften 
2,  160  ff. 

8)  Ein  Paar  Äolismen  bei  Anakreon  (/puaocpdcövvo?  Fr.  25  und  a'.vondfl-Tjv 
Fr.  36)  erinnern  noch  an  die  Heimat  des  Melos. 

9)  Mit    übel    angebrachter  Gelehrsamkeit    nennt  Porphyrio    in  Hör.  c.   1, 
17,  18  die  paphlagonische  Stadt  Teion. 

10)  Diesen  Namen  nennen  Suidas  (an  erster  Stelle) ,  Schol.  Plat.  p.  122 
B.  und  eine  Herme  in  Tivoli  (Visconti  icon.  Gr.  I  p.  74);  später  hiess 
ein  teischer  Jambendichter  ebenso.  Ueber  die  übrigen  Namen  bei  Suidas  s. 
Welcker  kleine  Schriften  1,  3. 


534  10.  Kapitel. 

von  Samos  lebte  ^) ;  er  war  schon  von  dessen  Vater  Aiakos, 
angeblich  als  Lehrer  seines  Sohnes,  dorthin  gerufen  worden.^) 
Als  aber  Polykrates  durch  seine  eigene  Thorheit  Ol.  64,  3  =  522 
stürzte,  sandte  Hipparchos  einen  Fünfzigruderer  ab,  um  den 
weitberühmten  Dichter  feierlich  nach  Athen  einzuholen.  ^) 
Nachdem  aber  jener  durch  Mörderhand  den  Tod  gefunden,  litt 
es  den  Dichter ,  obgleich  er  sich  auch  die  vornehme  Familie 
des  jungen  Kritias  durch  seine  Lobeserhebungen  ^)  geneigt  ge- 
macht hatte,  wahrscheinlich  nicht  länger  in  Athen,  sondern  er 
begab  sich  wieder  nach  Teos.  Aber  von  hier  verscheuchte  ihn, 
den  Freund  der  persisch  gesinnten  Peisistratiden,  der  Aufstand 
des  Histiaios  (Ol.  71,  2  =  495)  in  die  teische  Kolonie  Abdera, 
wo  er  sein  Leben  beschloss.  ^) 

Anakreon  verfasste  einige  Hymnen  in  kurzen  raschen 
Versen,  für  welche  der  vollständig  erhaltene  Hymnos  an  Dio- 
nysos (Fr.  2)  als  Probe  dienen  mag;  es  waren  nur  anmutige 
Spielereien  ohne  tieferen  Gehalt.  Nicht  mehr  bemerkenswertes 
enthalten  die  Fragmente  der  Elegien ,  von  denen  blos  JPr.  94 
und  95  sicher  sind.  Die  siebzehn  Epigramme  (100 — 116)*') 
verdienen  keinen  Glauben.  Fr.  3 — 93  entstammen  aber  den 
fünf   Büchern')   Ttapoivta,   jenen    von    Liebe    und    Wein    über- 


1)  Herod.  3,  121.  Strabo  14,  638.  Ael.  v.  h.  9,  4.  12,  25.  Suidas  sollte 
Ol.  62  sagen,  setzt  aber  d.ifür  die  daraus  ge/ogeue  Geburtszeit  Ol.  52  (Roh de 
Rhein.  Mus.  33,  190,  vgl.  Daub  Jahrbb.  121,  25  f.).  Das  richtige  hat  Eu- 
sebios  (liier.  Ol.  62,  2,  A  60,  4,  F  und  arm.  61,  3). 

2)  Himerios  or.  30,  3.  Seine  Dichtungen  sind  daher  von  dem  Lobe  des 
Polykrates  erfüllt  (Strabo   14,  638). 

3)  Ps.  Plato  llipparch.  228  d.  Ael.  v.  h.  8,  2. 

4)  Plato  Charni.   1 57  e.  Schol.  Aesch.  Prom.  128. 

6)  Suid.,  vgl.  Fr.  100.  ?  130.  Nach  Ps.  Luc.  iJ.ot-/.poß.  26  war  er  85  Jahre 
alt,  vergl.  Val.  Max.  9,  12,  8.  Wenn  das  Epigranini  (Authol.  Pal.  7,  25,  2), 
welches  sein  Grab  nach  Teos  versetzt,  wirklich  von  Simonides  wäre,  müssten 
wir  diese  Darstellung  ändern ,  aber  Bergk  teilt  es  mit  Recht  den  unechten 
Stücken  zu.  Nicht  mehr  Glaubwürdigkeit  haben  die  angeblich  anakreontischen 
Epigramme  Nr.  103  und  109,  die  auf  thessalische  Verbindungen  hinweisen. 
Aus  einem  solchen  Epigramme  rührt,  wie  ich  glaube,  auch  die  Ge.schichte 
von  Anakreons  treuem  Hunde  her  (Tzetz.  chil.  4,  235);  Älian  bist.  an.  7,  29 
erzählt  sie  von  einsm  kolophonischen  Kaufmanne. 

6)  Said.  Meleager  l,  35. 

7)  Krinagorsis  Anthol.  Pal.  11,  239.  Nach  E.  Geist  Krinagoras  S.  27  f. 
war  es  eine  Sammlung  von  Anakreonteen.  Die  .\lteu  «stierten  nämlich  immer 
blos  drei  Bücher. 


t>ie  eigentliche  Lyrik  (Melik).  335 

strömenden  Gedichten,  die  Anakreon  berühmt  gemacht  haben. 
Er  ist  der  klassische  Sänger  der  Liebe  und  des  Weins;  diese 
beiden  erfüllten  sein  ganzes  Leben  ^),  obgleich  spätere  nicht 
glauben  wollten,  dass  ein  so  begabter  Mann  nichts  höheres  als 
die  Flasche  und  sinnliche  Lust  gekannt  habe.  ^)  Sie  irrten  sich 
aber.  Es  war  kein  harmloses  Treiben,  wie  es  sich  im  vorigen 
Jahrhundert  bei  den  deutschen  Anakreontikern  in  seinei'  ganzen 
Lächerlichkeit  sich  zeigte.  Anakreon  kann  nicht  sagen  :  Distant 
mores  a  carmine  nostro;  vita  verecunda  est,  sondern  er  ist  eine 
durchaus  sinnliche  Natur  ^),  die  nicht  wie  jene  ehrbaren  Fami- 
lienväter etwas  anempfunden  hat;  seine  Gedichte  spiegeln  viel- 
mehr ganz  das  Leben  der  späteren  Jonier  ab,  die  unter  der 
persischen  Herrschaft  verweichlicht  waren  und  in  ihrem  Wesen 
einen  kosmopolitischen  Anstrich  erhalten  hatten,  weshalb  ihn 
ein  geistreicher  Sophist^)  mit  leichter  Ironie  aber  treffend  den 
Dichter  der  Jonier  nannte.  ■'')  Trinklieder  wechseln  mit  Ge- 
dichtchen, die  an  schöne  Knaben")  und  Mädchen^)  gerichtet 
sind.  Wenn  auch  die  Grazie  keinem  mangelt,  tritt  doch 
nirgends  ein  tieferes  oder  kräftigeres  «Gefühl  hervor.  Anakreon 
ist  auch  als  Dichter  der  elegante,  aber  blasierte  Ijcbemann,  der 
alles  geniesst,  al^er  durch  nichts  aus  seinem  egoistischen  Gleich- 
mute gebracht  wird  und  der  sich  nirgends  zu  kräftiger  Männ- 
lichkeit erhebt.  ^)  Nie  beherrscht  ihn  eine  Leidenschaft,  sondern 
immer  nur  eine  augenbUckliche  Regung.  Wünscht  er  in  einem 


1)  Suiilas :  fj'.oc.  31:  -^v  a'jxü)  Tz^bq  ipmiOLr  ita'.oojv  v.al  -pvaiv.crjv  xal  ihoäc, ; 
vgl.  Autip.  Sid.  Anthol.  7,  23,  7  f.  Cic.  Tn.sc.  4  §  71.  Ov.  tr.  2,  363.  Paus. 
1,  25,  1.  Athen.  13,  600d.  Julian  sagt  hübsch  (Antioch.  in.):  Tputpäv  y«P 
r^a-y(^sv  £x  |xoipJJv. 

2)  Athen.  10,  429  h,  Ael.  v.  h.  4,4;  vielleicht  warf  Didyraos  diese  Frage 
auf,  wofür  ihm  «eueca  ironisch  das  Problem  imputiert  (ep.  88,  37):  libidi- 
nosior  Anacreon  au  ebriosior  vixerit.  Man  dichtete,  dass  er  an  einer  Wein- 
beere erstickt  sei  (Plin.  nat;  h.  7,  5.  Val.  Max.  9,   12,  8). 

3)  Vgl.  Fr.  66. 

4)  Dio  Chrys.  or.  II  §  62. 

5)  Als  solcher  gebraucht  er  den  jouischen  Dialekt  mit  wenigen  Epicismen, 
vgl.  B.  Stark  quaestt.  Anacreont.  p.   1.5  ff. 

6)  Besonders  Bathyllos  (Hör.  epod.  14,  9.  Max.  Tyr.  37,  5),  Smerdies 
(Fr.  8.  48—50)  und  Kleobulos  (Fr.  2  b).  V^ir  sind  durch  nichts  berechtigt, 
in  ihnen  allen  Epo'jfxsvoi  des  Polykrates  zu  sehen. 

7)  Fr.   14.  17.  52.  75.  76,  Eurypyle  Fr.  21,  1. 

8)  Kritias  bei  Ath.   13,  000 d    töv   'itr/a'.%s'.oi'^    [j.E>v£OiV  -Xs^wvt«  tcot'  wod?. 


336  10.  Kapitel. 

Augenblick  des  Missmutes  den  Tod  herbei  (Fr,  51),  so  denkt 
er  doch  nie  im  Ernste  daran,  üeberhaupt  steht  alles,  was 
ausserhalb  seiner  gewöhnlichen  Sphäre  liegt,  dem  Dichter  nicht 
wohl  an;  selbst  sein  Spott  hat  keinen  Stachel,  sondern  erregt 
nur  eine  unangenehme  Empfindung  (Fr.  21).^) 

Diesen  grossen  Mangel,  der  einem  minder  begabten  Dichter 
nicht  zu  verzeihen  wäre,  wiegt  bei  Anakreon  die  unübertreff- 
liche Liebhchkeit  und  Anmut  des  Stiles  auf,  in  dem  die  durch- 
sichtige Einfachheit  (a^^Xsia)  ^)  vorherrscht ;  deshalb  verbindet 
ihn  Dionysios  -^j  vom  rhetorischen  Standpunkte  mit  Sappho. 
Nur  das  Metrum  scheidet  seine  Gedichte  von  schöner  Prosa. 
Die  Persönlichkeit  des  Anakreon  stellte  eine  Statue,  die  auf  der 
athenischen  Burg  stand,  unübertrefflich  vor  Augen.  ^)  Der  greise 
Dichter  hatte  in  der  Weinseligkeit  sogar  eine  Sandale  verloren. 
Eine  Nachbildung  dieser  realistischen  Porträtstatue  liegt  wahr- 
scheinHch  in  einem  marmornen  Bildwerke  der  Villa  Borghese^) 
vor :  Der  korpulente  Sänger  sitzt  mit  bequem  übergeschlagenem 
Fusse  und  leidenschaftlich  erregtem  Oberkörper  im  Lehnstuhle. 
Dieselbe  Idee  drücken  einige  Vasenmaler  aus. ")  Dagegen  haben 
die  Münzbilder  von  Teos^)  keine  psychologische  Bedeutung. 

So  einförmig  im  gewissen  Sinne  der  Inhalt  der  ana- 
kreontischen  Gedichte  ist,  so  mannigfaltig  erscheint  ihre  äussere 
Form.'')  Die  meisten  Strophen  sind  monostichisch ,  abgesehen 
davon,  dass  Anakreon  dem  letzten  Verse  manchmal  die  End- 
silbe nimmt  (z.  B.  in  Fr.  1 — 4).  Während  er  hierin  den 
äolischen  Dichtern  folgt,    gibt    er  auch    die  Art  seines  Lands- 


1)  Wie  die  Alten  Anakreon  beurteilten,  lehrt  besonder.s  Bernli.  Stark 
quaestt.  Anacreont.  p.  10  H". 

2)  Herniog.  18.  2,  3  p.  351  Sp. 

3)  Comp.  verb.  23. 

4)  Paus.  1,  26,  1,  vgl.  Anthol.  Planud.  4,  306—8,  O.  Jahn  Abh.  der 
Sachs.  Ges.  der  Wiss.  8,  726  if. 

6)  Braun  Ruinen  und  Museen  Roms  S.  543  und  Bull.  d.  I.  1853  p.  19; 
Brunn  Ann.  d.  I.  1859  p.  156  ff.,  abgebildet  Mon.  d.  I.  VI  25.  Bernoulli 
die  crhalteuen  Bildnisse  berühmter  Griechen  S.  7  zweifelt  die  Benennung 
ohne  Grund  an. 

6)  Jahn  Darst.  griech.  Dichter  auf  Vasenbildern  S.  724  ff. 

7)  Jahn  a.  O.  S.  726  T.  8,  7.  8;  Bür ebner  Ztsch.  f.  Numism.  9,  11  f. 
T.  4,  11. 

8)  Vgl.  Bergks  Spezialausgabe  p,  29  ff.  und  Stark  a.  O.  p.  23  ff.;  Ross- 
bach und  Westpbal  griechische  Metrik  3,  301   ff.  491  ff. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  337 

raannes  Archilochos  nicht  völlig  auf,  sondern  baut  ebenfalls 
mehrere  Gedichte  epodisch,  so  Fr.  87  und  88,  vor  allem  aber 
das  oben  berührte  Spottgedicht  auf  Artemon  (Fr.  21).  Gerade 
in  diesem  zeigt  sich  jedoch  die  Doppelstellung  des  Anakreon 
recht  deutlich,  denn  die  Langzeile  stammt  aus  Alkaios  (Fr.  11 
mit  Ahrens'  Emendation),  die  Epode  dagegen  von  Archilochos. 
Seine  metrische  Bildung  verdankt  der  teische  Dichter  in  der 
Hauptsache  unstreitig  den  Aolern,  obgleich  er  die  überkom- 
menen Elemente  mit  grosser  Virtuosität  selbständig  variierte ; 
den  Grundstock  und  das  individuelle  Moment  seiner  Rhythmen 
bilden  die  Glykoneen  und  Pherekrateen ,  welche  bei  Sappho 
und  Alkaios  fast  blos  im  Keime  vorliegen.  Das  gleiche  ist 
von  den  weichUchen  'Icovaol  avaxXwfievot,  die  für  den  Charakter 
der  anakreontischen  Lieder  (fr.  43 — 45.  61 — 66)  ausgezeichnet 
passen,  zu  sagen,  weil  sie  Sappho  blos  in  Fr.  87  und  88  ge- 
braucht hat.  Gerade  die  aus  den  Anakreon teen  bekannten 
Masse  kommen  selten  oder  gar  nicht  vor,  z.  B.  sind  die  He- 
miamben  (---^-.---)  blos  aus  dem  zweifelhaften  Fragmente 
Nr.  92  zu  belegen.  Ebenso  mannigfaltig  waren  die  Tonarten 
des  Anakreon ;  er  gebrauchte  die  dorische ,  lydische  und 
phrygische  Tonart  ^)  und  seine  Instrumente  waren  hauptsächUch 
das  lesbische  Barbiton,  die  zwanzigsaitige  Magade  (Fr.  18)  und 
wegen  des  sympotischen  Charakters  die  Flöte.  '^) 

Die  Athener  sangen  gerne  anakreontische  Gedichte  bei 
Tische^)  und  bildeten  die  Liedformen  nach.*)  Die  jüngeren 
Lyriker  Griechenlands  und  Roms  (darunter  Horaz)  ^)  studierten 
bei  Anakreon  den  Ausdruck  der  Liebe  und  Weinseligkeit,  da 
sie  selbst   wenig  davon  empfanden.     Chamaileon   schrieb    Trspl 


1)  Athen.  14,  635  c. 

2)  Kritias  bei  Athen.  13,  600  d.  Aus  demselben  Fragmente  durfte  O. 
Müller  P  279  A.  1  nicht  schliessen,  dass  nächtliche  Mädchenchöre  Ana- 
kreous  Gedichte  vorgetragen  hätten.  Der  Dichter  will  blos  sagen,  dass,  so 
lange  die  Menschen  sich  am  Weine  erfreuen  und  Dionysos  verehren,  sie  auch 
den  Anakreon  lieben  werden. 

3)  Aristoph.  SaixaX.  bei  Ath.  15,  694  a.  Seine  Lieder  sind  jedenfalls  die 
„jouischen"  bei  Arist.  Eccl.  882  flf.  918. 

4)  Christ  Metrik  der  Griechen  und  Römer  §  338. 

5)  C.  Campe  Phüol.  31,  670  ff. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  22 


338  10.  Kapitel. 

"'AvaxpeovToc  ^)    und    die  drei  grossen   alexandrinischen  Kritiker 
beschäftigten  sich  mit  der  Kritik  des  Textes.  2) 

Nach  und  nach  entstand  eine  bedeutende  Anzahl  anony- 
mer Gedichte,  welche  Anakreon  kopierten,  ohne  dass  die  Ver- 
fasser an  eine  Fälschung  dachten.  Man  schrieb  sie  jedoch 
später  dem  teischen  Dichter  zu ,  obgleich  nur  in  Nr.  6  Ana- 
kreon selbst  zu  sprechen  scheint  und  Bathyllos  mehrmals  vor- 
kommt.^) Es  sind  nur  Spielereien  ohne  den  Reiz  der  Indivi- 
dualität ,  manchmal  mit  recht  hübschen  Pointen ,  aber  fast 
durchgängig  nichts  weiter  als  Epigramme  im  angeblich  ana- 
kreontischen  Versmasse,  welche  Anakreon  in  der  Regel  blos 
abschw'ächen,  zum  Teile  sogar  verwässern.  Der  Eros  des  alten 
Dichters  ist  ein  gewaltiger  Gott,  der  jenen  mit  der  Axt  schlägt 
und  im  winterlichen  Sturzbache  badet  (Fr.  47);  in  den  Ana- 
kreonten  tändeln  mutwillige ,  ich  möchte  beinahe  sagen ,  blos 
dekorativ  aufgefasste  Eroten,  die  aus  den  Denkmälern  der 
alexandrinischen  und  römischen  Zeit  so  wohl  bekannt  sind. 
Unter  dreiundsechzig  Stücken  sind  einunddreissig  (meist  kürzere) 
in  katalektischen  jambischen  Dimetern  abgefasst,  aus  denen 
die  Sammlung  wahrscheinHch  ursprünglich  bestand;*)  wenig- 
stens lautet  der  Titel  Avaxpiovtoc  Ttjioü  av>\LzoGiav.ä  TJfi-iaftßta. 
Damit  verband  sich  eine  Sammlung  von  dreissig  in  jonischeu 
Dimetern  (Anaklomenoi)  abgefassten  Gedichten,  meist  grösseren 
ümfangs,  welchen  die  epigrammatische  Zuspitzung  jener  Sinn- 
gedichte und  damit  der  Hauptreiz  fehlt.  Vereinzelt  stehen 
zwei  Gedichte  in  pherekrateischen  Massen  (Nr.  20  und  49). 
Da  die  Gedichte  weder  nach  dem  Metrum  noch  nach  dem  In- 
halte geordnet  sind,  möchte  man  sich  versucht  fühlen,  diese 
Verwirrung  dadurch  zu  erklären,  dass  der  Sammler  mehrere 
ältere  Sammlungen  aneinander  reihte.^)   In  neuester  Zeit  führte 


1)  Athen.  12,  633  e. 

2)  Bergk  p.  216  ff. 

3)  Wo  1  per  de  antiquitate  carm.  Anacr.  Lpg.  1825  ;  C.  G.  S  t  a  r  k  quaestt. 
Anacreonticae,  Lpg.  1846;  Welc.ker  die  Anakreonteen ,  Kleine  Schriften  1, 
261  ff.  2,  366  ff.;  Wiedemann  de  antiquitate  carm.  Anacr.  I.  Petersb.  1843; 
F.  Colin  camp  de  aetate  carminum  Anacreouteorum,  Paris  1848.  Ihre  Un- 
echtheit  erkannte  bereits  Fr.  Robortellas. 

4)  Bergk  111*  296. 

6)  Düntzer  Ztschr.  f.  Alterthumsw.   1836     Nr.  94. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  339 

Hansen^)  diesen  Gedanken  durch,  indem  er  kleinen  Unterschie- 
den nachforschte  und  so  in  der  ersten  Hälfte  zwei  Samm- 
lungen ausschied  ;  die  erste  besteht  aus  Nr.  1.  3.  5 — 20  und 
die  zweite  aus  Nr.  21 — 34.  Mehrere  Gesichtspunkte  sind  ent- 
schieden beachtenswert,  doch  ist  eine  abermalige  umfassendere 
Untersuchung  notwendig.  Weil  in  der  Handschrift  viele  Stücke 
die  Ueberschrift  loö  aoioö  tragen ,  ohne  dass  immer  Anakreon 
damit  gemeint  wäre  —  sicher  ist  er  es  nicht  in  Nr.  2,  welches 
Basilios  oder  BasiHkos  verfasst  hat,  und  Nr.  5,  das  Planudes 
einem  Julianos  zuschreibt  —  und  ebenso  häufig  unpassend 
olKXo  steht,  möchte  ich  glauben,  dass  unsere  Sammlung  ganz 
oder  zum  grossen  Teil  aus  einer  umfänglichen  lyrischen  An- 
thologie mit  Rücksicht  auf  das  Versmass  geschöpft  sei ;  leider 
ist  es  unmöglich,  die  Zeit  der  Sammlung  oder  dieser  Antholo- 
gie auch  nur  annähernd  zu  bestimmen,  da  wir  bei  keinem  Ge- 
dichte wissen ,  ob  es  nicht  erst  später  hinzugesetzt  wurde. 
Ueberdies  liegt  es  in  der  Natur  des  Gegenstandes,  dass  die 
Gedichte  wenig  Anhaltspunkte  bieten;  doch  hören  wir  Nr.  15, 
3  von  der  rhodischen  Malerei  und  Nr.  26  b  3  erscheinen  statt 
der  Perser  die  Parther.  Der  Verfasser  von  Nr.  5  dichtete  unter 
Anastasios.  Andere  Gedichte  gehorchen  in  ihrem  metrischen 
Baue  nicht  mehr  der  Quantität,  sondern  dem  Accent.  Dass 
gerade  die  Byzantiner  die  klappernden  Masse  der  Anakreonteen 
anzuwenden  liebten,  erhellt  aus  den  nur  zu  zahlreichen  Resten, 
von  denen  Bergk  anhangsweise  die  Gedichte  des  Joannes  von 
Gaza^)  (im  sechsten  Jahrhunderte),  des  Sicihers  Konstantinos, 
Leon  Magistros  (im  zehnten  Jahrhunderte)  und  Georgios  Gram- 
matikos,  sowie  ein  anonymes  dem  Grammatiker  Akoluthos  ge- 
widmetes Poem  zusammenstellt.^) 

Es  gab  natürlich  mehrere  Sammlungen  von  Anakreonteen. 
Die  uns  erhaltene  steht  nur  in  der  Handschrift  der  palatini- 
schen  Anthologie.  Von  einer  anderen  kennen  wir  blos  das  in 
einem  barberinischen  Codex   erhaltene  Verzeichnis^)  einer  klei- 

1)  Auf  der  Philologenvers,  von  Heidelberg;    ich  benütze   den  Bericht  in 
der  philol.  Wochenschrift  1882  Sp.  1624  ff. 

2)  Diese  Stadt    war    der    Hauptsitz    der    Produktion  (Schol.  Pal.  bei  Ja- 
cobs Anthol.  Pal.  IV  p.  814). 

3)  Ueber  andere  Bergk  III*  339  ff.;    über   die   christlichen  Anakreonteen 
Stark  a.  O.  p.  36  ff.  u.  Christ  Anthol.  Gr.  Christ,  p.  XXVI  ff. 

4)  Bergk  III*  341. 

22* 


340  iO.  Kapitel. 

nen  Lese ,  welche  den  Titel  führte :  'Avaxpsövtiov  ODfiTuoataxov 
Tcspl  ovsipwv.  Sie  umfasste  nur  dreizehn  Gedichte,  von  denen 
nicht  mehr  als  zwei  in  Anaklomenoi  waren  und  eins  in  unserer 
Sammlung  fehlte,  befolgte  aber  genau  die  Ordnung  unserer 
Handschrift.  Die  gelegentlichen  Citate  geben  sehr  geringe 
Ausbeute;  Gellius^)  und  Hephaistion^)  sind  die  ersten,  die  Verse 
citieren.  Manches  ist  auch  verloren  gegangen,  doch  beziehen 
sich  solche  Citate  nur  auf  xAnaklomenoi  jüngeren  Datums.'') 

Es  ist  wahrscheinUch,  dass  diese  Anakreontiker  von  ihrem 
Meister  manche  Züge  benützten,  aber  es  ist  doch  reine  un- 
begründete Hypothese,  wenn  man  Anakreon  ganze  Gedichte 
zuschreibt.  Stark  thut  dies  bei  Nr.  3,  32  u.  45  und  Welcker^) 
vermutet  es  von  Nr.  9  oder  11.  Sollte  denn  nicht  auch  einem 
begabten  Nachdichter  hie  und  da  ein  Stück,  das  des  teischen 
Sängers  würdig  gewesen  wäre,  gelungen  sein? 

Die  Anakreon teen  genossen  mit  anderen  pseudoaymen 
Machwerken  die  zweifelhafte  Ehre,  in  den  letzten  drei  Jahr- 
hunderten unendlich  oft  gedruckt^)  und  übersetzt  zu  werden. 
Wer  möchte  aber  vollends  die  Schaaren  der  Nachahmer  zählen, 
die  von  den  Eroten  und  dem  Weine  schwärmten  und  die  The- 
men der  Anakreonteen  mit  wenig  Witz  und  viel  Behagen  ebenso 
unendlich  oft  variierten?^)  Die  lateinische  Literatur  war  von 
dieser  sonderbaren  Schwärmerei  ziemlich  frei  geblieben,  vermut- 
lich weil  die  Gattung  den  etwas  grobkörnigen  Römern  zu  leicht 
beschwingt  war.  Doch  gebrauchte  Petronius  auch  das  ana- 
kreontische  Metrum  und  Florus'')  ahmte  das  dreiunddreissigste 
Gedichtchen  nach. 

Die  erste  Ausgabe  erschien  1554  von  Heinrich  Stepha- 
nus  besorgt  zu  Paris,  lieber  die  zahlreichen  Prachtdrucke  und 
Schulausgaben  können  wir  sofort  zur  ersten  kritischen  Ausgabe 


1)  19,  9  Nr.  3. 

2)  de  metr.  5  Nr.  46,  8  f. 
••J)  Bergk  111*  337  f. 

4)  Kleine  Schriften  2,  389. 

6)  Bibliographie    Ijei    E.    R.    Neubauer    Anakreon    von  Teos,    Radautz 
(Bukowina)  187ü. 

♦>)  C.    V.    Laugadorff    die    auakreontische    Dichtung    in    Deutschland, 
Heidelberg  18Ö2. 

7)  Anthol.  Lat.  86. 


Die  eigentliche  Lyrik  (Melik).  341 

Übergehen;  man  verdankt  sie  Mehlhorn.^)  Dessen  Arbeit  ist 
jetzt  durch  Val.  Rose  (Anacreontis  Teii  quae  vocantur  ao[x;ro- 
aiaxa  %ta[i,ßia,  Lpg.  1868.  ^876)  und  Bergk  (IIP  296—338) 
ersetzt.  Eine  bequeme  Sammelausgabe  \\\\\  Anacreonte,  edizione 
critica  di  Luigi  A.  Michelangeli  (Bologna  1882)  sein. 

Eine  ganz  andere  Fälschung,  deren  Grund  nicht  abzusehen 
ist,  finden  wir  in  dem  bei  Fulgentius  und  mittelalterlichen 
Schriftstellern  angeführten  Anacreon  (Creon)  de  natura  deorum.^) 


1)  Anacreontea  quae  dicuntur,  Glogau  1825. 

2)  C.  F.  Hermann  Pbilol.   10,  323,  vgl.  Bergk  zu  fr.  132. 


11.  Kapitel. 
Anfänge  der  Prosa. 


Entstehung  der  Prosa  —  Logographen  —  Kadmos,   Eudemos,    Amelesagoras, 

Deiochos ,   Deraokles ,    Eugaion ,    Hekataios    —    Pherekydes ,    Anaximandros, 

Anaximenes,  Herakleitos,  die  Pythagoreer. 

Wenn  die  echte  Poesie  jeder  Zeit  von  der  Schrift  unab- 
hängig ist,  ja  durch  das  Niederschreiben  mit  dem  Rhythmus  der 
Verse  und  dem  allgemeinen  Wohlklange  notwendig  einen  Teil 
ihres  Reizes  einbüsst,  kann  dagegen  die  Prosa  ohne  jene  nicht  ■ 
existieren;  das  gesprochene  einfache  Wort  verhallt,  mag  es 
auch  für  den  Augenblick  den  tiefsten  Eindruck  gemacht  haben, 
so  lange  die  Schrift  es  nicht  in  der  ursprünglichen  Form  für 
die  Dauer  festhält.  Die  nicht  in  Verse  gekleideten  Märchen 
wandeln  sich  im  Munde  des  Volkes  unaufhörlich  nach  Form 
und  Inhalt;  weil  sie  keine  bestimmte  Form  besitzen,  erzählt 
sie  jeder  anders  und  selbst  derselbe  Mensch  wird ,  wenn  er 
eines  wiederholt,  nicht  immer  genau  dieselben  Worte  ge- 
brauchen. 

Wir  haben  bei  der  Erwägung  der  homerischen  Frage  ge- 
sehen, dass  der  freie  Gebrauch  der  Schrift  verhältnismässig 
späten  Ursprungs  ist.  Zuerst  stand  sie  jedenfalls  im  Dienste 
des  Staates,  der  sie  zur  Aufzeichnung  von  Namensverzeichnis- 
sen anwendete.  Am  ältesten  sind  die  sogenannten  ava^patpai,*) 
Listen  von  Namen  der  Könige,  Priester,  hohen  Beamten  oder 
auch  der  Sieger  in  Nationalspielen.     Unter  diesen  reichten  die 


t)  J.  Brand is  de  temporum  Graec.  antiquiss.  rationibus,  Bonn  1867; 
A.  V.  Gutschmid  Jahrbb.  83,  20  ff.  und  über  die  späteste,  die  makedo- 
nische Königsliste  Syrab.  phil.  Bonn  1,  103  ff.  Er  versprach  damals  zugleich 
eine  Schrift,  in  der  er   sämmtliche  gleichartige  Urkunden   behandeln  wollte. 


Anfänge  der  Prosa.  343 

Verzeichnisse  der  spartanischen  Könige,  der  argolischen  Hera- 
priesterinen  und  der  olympischen  Sieger  in  sehr  alte  Zeit  hin- 
auf, doch  wurden  sie  wahrscheinlich  später  aus  der  Erinner- 
ung zurückergänzt.  An  diese  Verzeichnisse  schlössen  sich  der 
Zeit  nach,  wie  wir  bereits  gesehen  haben,  die  genealogischen 
Epen,  welche  die  älteste  Geschichte  Griechenlands  in  poetischem 
Gewände  geben  wollten.  Diese  verhinderten  im  eigenthcben 
Griechenland  das  Aufkommen  der  historischen  Prosa;  den  Jo- 
niern  dagegen  fehlte  diese  Art  bis  auf  das  einzige  Werk  des 
Asios,  weil  sie  die  alten  Sagen  lieber  von  der  rein  poetischen 
Seite  mit  den  Augen  Homers  betrachteten.  Als  sie  sich  aber 
endlich ,  durch  das  Beispiel  der  Dorier  und  Aeolier  angeregt, 
entschlossen,  die  Geschichte  ihrer  Ahnen  getreuer  aufzuzeich- 
nen, war  auf  dem  Gebiete  des  Epos  ihre  produktive  Kraft  er- 
loschen. Die  Jonier  wandten  sich  daher  in  ihrer  Vorliebe  für 
das  Neue  einer  neuen  Art  der  Reproduktion  zu,  wobei  sie  der 
günstige  Umstand  unterstützte,  dass,  seit  Fsamraetich  Ägypten 
dem  griechischen  Handel  eröffnet  hatte,  im  Papyrus  ein  beque- 
mes Schreibmaterial  zugänglich  wurde.  Abgesehen  von  dem 
Versuche  des  Asios  fehlen  daher  in  Jonien  die  versificierten 
Chroniken  gänzlich.  Es  ist  also  unrichtig,  wenn  gesagt  wird, 
die  jonische  Geschichtsschreibung  sei  aus  dem  Epos  entstanden.^) 

Man  pflegt  die  alten  Historiker  Logographen  zu  benen- 
nen, obgleich  dieser  Titel  nur  in  seiner  Zweckmässigkeit  eine 
Rechtfertigung  hat;'^)  denn  die  Alten  verstanden  unter  diesem 
Namen  zuerst  die  Prosaiker  überhaupt,^)  dann  die  Leute,  welche 
anderen  für  Geld  Gerichtsreden  abfassten;  korrekter  wäre  die 
Bezeichnung  'ko-^oizoioi,'^)  doch  kommt  sie  auch  Äsop^)  zu. 

Der  feinsinnige  Rhetor  Dionysios^)  schildert  die  Thätigkeit 

1)  Strabo  I  p.  18.  20;  Creuzer  die  bist.  Kunst  der  Griechen  S.  25  ff. 
176  ff. 

2)  Creuzer  historische  Kunst  der  Griechen  ^265  ff.;  Krüger  zu  Dion. 
Hai.  histor.  p.  496;  G.  Curtius  über  zwei  Kunstausdrücke  der  alten  Litera- 
turgeschichte, Berichte  der  sächs.  Ges.  der  Wiss.  1866  S.   141  ff. 

3)  Thuc.  1,  21. 

4)  Von  Hekataios  Herod.  2,  143.  5,  36.  125,  von  ihm  und  Herodot  Arr. 
anab.  5,  6,5;  "ko-^oKoibc;  o  6(p'  -rifJLcüv  lotopixöt;  XsYÖfAsvo?  Harpokr.  (s.  dazu  die 
Erklärer)  u.  s.  w. 

5)  Herod.  2,   134. 

6)  lud.  de  Thuc.  6. 


344  11-  Kapitel. 

der  älteren  Historiker  in  folgenden  Worten :  „Sie  legten  in 
der  Wahl  der  Gegenstände  einen  ähnlichen  Plan  zu  Grunde 
und  standen  sich  ihrem  Können  nach  ziemlich  gleich ;  die  einen 
schrieben  hellenische,  die  anderen  barbarische  Geschichten  und 
sie  verknüpften  diese  nicht  untereinander,  sondern  sonderten 
die  Ereignisse  nach  Völkern  und  Städten  und  trugen  sie  ge- 
trennt vor,  wobei  sie  einen  und  denselben  Zweck  verfolgten, 
alle  Erzählungen  des  Volkes  und  die  Aufzeichnungen  in 
Heiligtümern  und  Archiven  unverändert  ohne  etwas  hinzu- 
zusetzen oder  wegzunehmen,  zum  Gemeingute  zu  machen. 
Darunter  waren  auch  einige  seit  langer  Zeit  geglaubte  P\ibeln 
und  manche  tragische  Verwicklungen ,  die  jetzt  wenig  be- 
achtet werden.^)  Alle  wandten  ungeföhr  denselben  Stil  an; 
er  war  klar,  einfach,  korrekt,  kurz,  den  Vorgängen  angemes- 
sen und  ohne  rhetorischen  Schmuck."  Ueber  letzteren  Punkt 
äussert  er  sich  in  c.  23  ähnlich. 

Die  Heimat  der  Geschichtsschreibung  —  wo  sollte  sie  an- 
ders als  bei  den  Joniern  gewesen  sein,  deren  geistiger  Horizont 
im  Vergleich  mit  den  übrigen  Griechen  am  weitesten  war? 
Von  hier  ging  der  lebhafteste  Handel  nach  allen  Gegenden. 
Die  milesischen  Seefahrer  erschlossen  den  Norden,  durch  den 
Binnenverkehr  und  vielleicht  noch  mehr  im  Solddienste  der 
Barbarenfürsten  drangen  unternehmungslustige  Jonier  in  das 
Innere  Asiens  ein.  So  besass  ein  wissbegieriger  Mann  eine  aus- 
gezeichnete Gelegenheit,  Erkundigungen  über  alles  möghche, 
sei  es  auffallende  Ereignisse  oder  geographische  Dinge,  einzu- 
ziehen. Daher  waren  (vielleicht  mit  Ausnahme  des  Akusilaos) 
alle  älteren  Historiker  Jonier;  doch  steht  es  bei  Chalkedon, 
welches  die  Heimat  des  Amelesagoras  gewesen  sein  soll,  nicht 
fest,  ob  die  Bevölkerung  gleichfalls  diesem  Stamme  angehörte. 

Der  als  erster  Historiker  genannte  Kadmos  von  Milet*) 
ist  ohne  Zweifel  eine  mythische  Person.  Suidas  schreibt  ihm 
eine  xtiot?  MtXTfjTou  xal  r^c  2Xy]c  'Iwvtac  sv  ßtßXioic  8'  zu,  identi- 
ficiert  ihn  aber  nach  Abstammung  und  Vaterland  mit  dem 
thebanischen  Könige  Kadmos.  Vermutlich  ist  die  ganze  Sache 
blos   eine   Verschmelzung    der   Meinungen,    dass    Kadmos   die 


1)  Vgl.  c.  6.  7.     Daher  sagt  Thukydides   1,  21  :  ^ov^d-eoav  inl  zh  itpoaa- 
YoiyoTepov  xij  üxpoa^et  if|  aX-rjö-eoTepov. 

2)  C.  Maller  fragm.  hiflt.  11  p.  2  ff. 


Anfänge  der  Prosa.  345 

Buchstaben  erfand  und  dass  Milet  die  Wiege  der  Geschichts- 
schreibung war.  Daher  betrachteten  manche  Kadnios  nicht 
blos  als  den  ersten  Historiker,^)  sondern  auch  als  den  ersten 
Prosaiker  überhaupt.^)  Jene  Schrift  aber  muss  in  den  Biblio- 
theken wirklich  existiert  haben;  denn  es  heisst,  dass  sie  Bion 
von  Prokonnes  in  seinem  Buche  excerpiert  habe,^)  und  Diony- 
siüs  bezweifelt  ihre  Echtheit.'')  Wahrscheinlich  ist  auch  der 
jüngere  Milesier  Kadmos  des  Suidas  nichts  als  ein  Doppelgän- 
ger, obgleich  sein  Vater  Archelaos  heisst;  hier  war  eben  die 
Fälschung  gar  zu  plump ,  als  dass  sie  nicht  jeder  Gelehrte  er- 
kannt hätte.  Denn  wer  glaubt,  dass  ein  so  früher  Autor 
aXoat?  spwTtxwv  7ra9-/j[j.dT0iv^)  und  16  Bücher  attischer  Geschich- 
ten^) geschrieben  habe? 

Auch  die  meisten  anderen  Logographen'')  sind  blosse  Schat- 
tengestalten: Eudemos  von  Faros  wird  nur  einmal  genannt ;**) 
vielleicht  ist  er  identisch  mit  dem  gleichnamigen  Naxier,  der 
nach  Clemens  von  Alexandria,'')  wie  Gorgias  von  Leontinoi, 
Bion,  Hekataios,  Hellanikos  und  andere,  Melesagoras  benützte. 
Dieser  ist  wohl  eine  Per.son  mit  A  melesagoras  von  Chalkedon, 
dem  Verfasser  einer  Atthis,^")  und  vielleicht  auch  mit  Melesa- 
goras von  Eleusis.'^)     Offenbar  ging  die  Schrift  aus  einer  Fäl- 


1)  Plin.  nat.  b.  7,  205. 

2)  Plin,  nat.  h.  5,  112.  v.Mtq  bei  Suid.  v.  ^epcxüSf]-:.  Wenn  Josephus  (c. 
Ap.  1,  2)  sagt,  Kadmo.s  habe  nicht  lange  vor  den  Perserkriegen  gelebt,  so 
verdient  er  als  tendenziös  hierin  keinen  Glauben. 

3) -dem.  AI.  ström.  6,  267  S.  752  P;  also  benützte  der  Fälscher  Bion 
sehr  stark. 

4)  lud.  de  Thuc.  23,  ebenso  Suid.  v.  'Exataloc  ^'Xr^o'.or  aus  Porphyrios 
iRohde  Rhein.  Mus.  33,  171  A.  1).  Strabo  14,  635  schweigt  deshalb  von 
ihm. 

5)  Rohde  der  griechische  Roman  S.  347  A.  Müller  p.  4  vermutet 
unwahrscheinlich  xxtati;  lcovix(Jüv  (xpfjTtxojv)  iiöXecuv. 

6)  Nach  C.  Müller  II  p.  4  und  v.  Gutschmid  in  Flachs  Hesych.  p.  114 
ebenfalls  erotischen  Inhalts. 

7)  Verzeichnis  bei  Dion.  Hai.   iud.  de  Thuc.   5. 

8)  Dion.  Hai.  a.  O. 

9)  Strom.  6,  267  S.  752  P;  vgl.  Vossius  histor.  Gr.  p.  440  und  C. 
Müller  II  p.  20. 

10)  Dionys.  a.  O.  Apolld.  3,  10,  3,  12,  Antig.  Car.  12.  (C.  Müller  II. 
p.  22  IV  p.   1740.). 

11)  Max.  Tyr.  or.  28,  nach  C.  Müller  II  p.  21. 


346  11-  I^apitel. 

scherfabrik  hervor,  wo  mehrere  echte  Bücher  zu  einem  unechten 
kompiliert  wurden.  Deiochos  (Deilochos)  von  Prokonnesos 
entspricht  dem  Deiochos  von  Kyzikos,  der  über  Kyzikos 
schrieb.^)  Demo  kl  es  aus  dem  jonischen  Städtchen  Pygela  in 
Lydien^)  verfasste  ebenfalls  eine  Lokalgeschichte ,  aus  welcher 
Demetrios  von  Skepsis  dem  Strabo  ein  Fragment  über  Erdbeben 
vermittelte ;  der  Geograph  selbst  las  sie  nicht  mehr. 

Wenn  wir  die  Schriften  dieser  mit  den  Chroniken  ver- 
gleichen, so  gibt  es  andererseits  auch  Annalen  oder,  wie  der 
griechische  Ausdruck  lautet,  wf/ot.  Der  älteste  der  Horographen^) 
ist  Eugaion  von  Samos,  welcher  Jahrbücher  seiner  Vaterstadt 
verfasste ;  sie  dienten  gewiss  den  späteren  Horographen  von 
Samos,  Duris,  Aethlios,  Alexis,  Potamon  von  Lesbos  und  einem 
Anonymus,  als  Quelle.*) 

Ueber  Akusilaos  von  Argos  hören  wir  mehr,  aber  einzig 
und  allein  unverbürgtes.  Dem  späten  Altertum  lag  eine  Schrift 
des  Akusilaos,  YsvsaXoYiat  betitelt,  vor,  welche  hauptsächlich 
aus  den  genealogischen  Dichtungen  des  Hesiod  geschöpft  war, 
in  einigen  Punkten  sie  aber  ,, verbesserte".^)  Sie  mass  von 
manchen  geschätzt  worden  sein ,  weil  Sabinos  unter  Hadrian 
Kommentare  dazu  verfasste;^)  Porphyrios'')  verwarf  sie  indes  als 
unecht.  Auch  die  Historiker  weisen  dem  Akusilaos  unter  sei- 
nen Genossen  einen  geringen  Platz  an.^)  In  der  Vorrede  des 
Werkes  teilte  der  Fälscher  das  mit,  was  Suidas  als  Biographie 
gibt :  Des  Akusilaos  Vater,  der  Argiver  Kabas,  fand  zu  Kerkas 
bei  Anlis'-')  eherne  Tafeln  in  der  Erde ,    die  er  dem  Sohne  zur 


1)  Steph.  Byz.  v.  Ari(j.'}axo(:;  die  Apolloniosscholiasten  citierea  ihn  an 
mehreren  Stellen  für  kyzikenische  Sagen  ;  für  die  Identität  spricht  C.  Müller 
II  p.  17  ft".  Schneidewin  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1843  Sp.  918  unter- 
scheidet beide. 

2)  C.   Müller  11  20  f. 

3)  Stichle  die  griechischen  Horographen.  Phil.  8,  395  ff. 

4)  Drei  Fragmente,  von  denen  höchstens  diis  erste  und  dieses  nur  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  hiehergehört,  stehen  bei  C.  Müller  II  16. 

6)  Cleni.  AI.  ström,  a.  O.  Jos.  in  Ap.   1,  3. 

6)  Suid.  V.  ilajiivo;. 

7)  Said.  V.  'Exatatoc  MiX-fjoioc  und  ooy^ pa^feic,,  vgl.  Rohde  Rhein.  Mus. 
88,  171  A.  1.  • 

8)  Dionys.  Hai.  iud.  de  Thuc.  5.     .Joseph,  ant.  lud.   1,  4. 

9)  So  entstand,  denke  ich,  die  Notiz  des  Suidas:  Kaßa  oloz,  'Apyetoc 
äitb  Rtpxdc^o«;    rtoASüx;    oua"r)i;  A6Xt8o(;    nX-rjoiov.     Akusilaos    heisst  immer  Ar- 


Anfange  der  Prosa.  347 

Verwertung  hinterliess.  Diese  Fiktion  war  ein  beliebter  Kunst- 
griff, den  man  bereits  in  der  alexandrinischen  Zeit  in  praxi 
ausübte.^)  Jedenfalls  kannte  bereits  der  Halikarnassier  Dionys 
die  gefälschte  Schrift.^)  Wenn  ich  nicht  irre,  war  der  wirkliche 
Akusilaos  überhaupt  kein  Historiker ,  sondern  eine  ähnliche 
Figur  wie  Eumelos,  mit  dem  er  mehrmals  zusammen  genannt 
wird.  Er  gehörte  vielmehr  dem  Kreise  der  genealogischen  Dichter 
an  ;  aber  seine  Gedichte  gingen,  wie  die  des  Eumelos,  nur  noch 
früher,  verloren  und  wurden,  wiederum  wie  diese  durch  ein  ge- 
fälschtes Prosabuch  ersetzt.  Aus  einem  solchen  genealogischen 
Epos ,  das  mit  der  Erschaffung  der  Welt  begann ,  etammt  das 
Citat  des  Plato;^)  darf  ich  die  Vermutung  aussprechen,  dass 
der  Philosoph  unter  seinem  Namen  die  Phoronis^)  citierte?  Da- 
mit entfernen  wir  den  Eindringling  aus  dem  Kreise  der  jonischen 
Historiker, 

Jene  schrieben  alle  jonische  Lokalgeschichten  ;  die  Spezial- 
geschichte  eines  barbarischen  Staates  behandelte  zuerst  der 
Lyder  Xanthos,  aber  dieser  lebte  schon  unter  Artaxerxes  ^), 
wird  also  im  zweiten  Teile  zu  besprechen  sein. 

Von  einem  höheren  Standpunkte  fasste  in  dieser  Periode 
nur  Hekataios  von  Milef^)  die  Geschichtsschreibung  auf. 
Ein  Sohn  des  Hegesandros  ^)  und  vornehmer  Famihe^)  entstammt, 


giver,  was  sich    nicht    auf  ein    angebliches    böotisches  Argos  (Unger  Theb. 
parad.  p.  301)  beziehen  kann. 

1)  Roh  de  der  griechische  Roman  S.  272  A.  2  gegen  Hercher  Jahrbb- 
Suppl.  1  (1856)  S.  278,  welcher  behauptete,  diese  Fiktion  komme  nicht  vor 
dem  ersten  christlichen  Jahrhunderte  vor. 

2)  Nach  Fr  ick  Beiträge  zur  Chronologie,  Höxter  1880  rührt  sie  von 
einem  jüngeren  Platoniker  her.  Harpocr.  v.  '0}xf]pt3at  und  Schol.  Apoll. 
Rhod.  4,  1147  eitleren  das  dritte  Buch.  Die  Fragmente  stehen  bei  C.  Müller 
I  100,  597. 

3)  Symp.  p.  178b. 

4)  S.  190. 

5)  Eratosthenes  bei  Strabo  1,  49. 

6)  C,  Müller  I  p.  IX  ff.,  Fragmeute  p.  1  ff.,  dazu  Stiehl e  Philol  8,  590  ff. 
Die  Fragmente  hatte  vorher  R.  H.  Klausen  (Berlin  1831)  gesondert  herausge- 
geben, Ueber  Homonyme  vgl.  Müller  p.  IX  adn.  3,  Stiehle  Philol.  8,  59 ; 
Gottl.  Röper  über  einige  Schriftsteller  mit  Namen  Hekatäos,  Danzig  1877 — 
78,  dazu  Bursians  Jahresber.   1879  III   161  f. 

7)  Herod.  5,  125.  6,  137.  Suidas. 

8)  Herod.  2,  143. 


348  11-  Kapitel. 

bildete  er  sich  teils  durch  Reisen,  teils  durch  seine  politische 
Thätigkeit  yauxi  Geschichtsschreiber  vortrefflich  aus.  Wie  weit 
ihn  sein  Forschungsdrangin  der  Welt  herumführte^),  vermögen 
wir  nicht  mehr  sicher  anzugeben,  weil  seine  geographischen 
Kenntnisse  selbstverständlich  besonders  auf  Erkundigungen  bei 
den  stammverwandten  Seefahrern  beruhten.  Heketaios  konnte 
in  seiner  angesehenen  Stellung  am  sichersten  und  besten  dazu 
gelangen;  er  trat  auch,  als  der  Aufstand  geplant  wurde,  auf, 
um  seine  Landsleute  durch  Schilderung  der  persischen  Macht, 
die  er  mit  eigenen  Augen  geschaut  hatte,  von  dem  tollkühnen 
Unternehmen  abzuhalten.  Was  er  ferner  vorschlug,  als  seine 
Ansicht  nicht  durchdrang,  die  Jonier  sollten  die  Tempelschätze 
verwenden  und  Schiffe  damit  bauen ,  zeigt  ihn  uns  als  einen 
gewiegten  Staatsmann  ^);  nachdem  der  Krieg  sich  zum  Un- 
glücke der  Jonier  wandte,  riet  Hekataios  seinen  Mitbürgern, 
auf  der  Insel  Leros  eine  Festung  als  Zufluchtsstätte  zu  erbauen.^) 
Die  Perser  selbst  schätzten  ihn  so  hoch,  dass  auf  seine  Bitte 
Artaphernes  494  den  jonischen  Städten  gegen  einen  bestimmten 
Tribut  die  Autonomie  zurückgab.  "*) 

Das  hervorragendste  Werk  des  Hekataios,  in  welchem  er 
seine  reichen  auf  den  Reisen  gesammelten  Erfahrungen  nieder- 
legte, war  eine  ^-^c  7r£pio5o?  (auch  TrepnrjYT^oeic  genannt) ;  sie  gab 
eine  Beschreibung  der  ganzen  den  jonischen  Handelsleuten  be- 
kannten Welt,  wobei  Hekataios  allerlei  merkwürdiges  über  die 
Geschichte  hervorragender  Städte  und,  was  sonst  einen  Griechen 
interessieren  konnte,  mitteilte.  Von  _^den  beiden  Hauptteilen 
Europa  und  Asien  zweifelten  manche  Gelehrte,  z.  B.  KalH- 
machos  an  der  Echtheit  des  letzteren  ^)  und  wahrscheinlich  mit 
Recht,  da  das  Zeugnis  des  Eratosthenes  ^)  nur  den  ersten  Teil 


1)  Agathem.  1,  1  avTjp  itoXoreXavY)«;. 

2)  Herod.  6,  36. 

3)  Herod.  6,  126. 

4)  Diod.   10  fr.  50  Kekker  =  25,  2  Dindorf. 

6)  Athen.  2,  70b,  vgl.  9,  4lOe.  Arr.  exp.  Alex.  5,  6,  5  bezüglich  Ägyp- 
tens. Vgl,  A.  von  Gut8«:hmid  Philol,  10,  525  ff.,  welcher  die  Echtheit  ver- 
teidigt; Herrn.  Holländer  de  Hecataei  descriptione  terrae  qnae  creditur, 
Bonn  1861.  Nach  Schwanebeck  Mcgastheuis  Indica  (Bonn  1846  p.  6)  gehen 
die  Berichte  (iber  Indien  (Fr.  174—7)  wie  die  des  Herodot  (3,  98-106)  auf 
Skylax  zurück. 

6)  Strabo  1,  7. 


Anfänge  der  Prosa.  349 

schützt.  Der  Fälscher  benützte  Herodot  zum  Teil  wörtlich.^) 
(J.  Müllers  Vermittlungsversuch,  der  neben  dem  echten  Werke 
eine  untergeschobene  Schrift  über  Asien  annahm  ^),  ist  verfehlt. 
Es  fragt  sich  nur,  ob  wirklich  die  ganze  Asia  unecht  oder  nicht 
etwa  blos  die  Beschreibung  Ägyptens,  Libyens  und  Indiens  ein 
späterer  Zusatz  war.  Hekataios  fügte  seinem  Werke  nach  dem 
Vorgange  des  Anaximandros  eine  Karte  bei^),  welche  zu  rekon- 
struieren nicht  mehr  möglich  ist.  ^) 

Während  er  hier  selbständig  verfuhr,  soll  er  in  den  vier 
Büchern  ^evsaXo^tai  die  von  den  Dichtern  behandelten  Sagen 
bearbeitet  haben.  ^)  Aber  dieses  Werk  erregt  grosse  Bedenken. 
Schon  die  Vorrede^)  passt  nicht  recht  für  die  Zeit:  ,, Hekataios 
von  Milet  spricht  also:  Ich  schreibe  dieses,  wie  es  mir  wahr 
zu  sein  scheint;  denn  unter  den  hellenischen  Erzählungen  gibt 
es  nach  meiner  Ansicht  viele  lächerhche."  Dass  der  Verfasser 
dieses  ,, lächerliche"  durch  den  kahlsten  Rationahsmus  zu  ent- 
fernen suchte ,  ersehen  wir  aus  einem  Citate  des  Pausanias ''), 
wonach  er  das  Heraufholen  des  Kerberos  als  Sieg  über  eine 
giftige  Schlange  deutete.  Aus  dieser  allgemeinen  Auffassungsart 
und  weil  Herodot  Hekataios  einmal  so  citiert,  als  ob  er  ein  ein- 
ziges Werk  geschrieben  habe^),  geht  die  Unechtheit  der  Genea- 
logien ziemlich  sicher  hervor;  damals  ks  man  ja  noch  lieber 
die  Gedichte  selbst,  bis  in  der  alexandrinischen  Zeit  der 
poetische  Schmuck  ein  unnützes  Beiwerk  schien. 


1)  Porphyrios  (1)ei  Said.  u.  Euseh.  praep.  ev.  10,  3  p.  166b)  uud  Herinog. 
18.  2,  12,  6  meinen  das  umgekelirte.  Beispiele  gibt  Cobet  Muemos.  1883 
S.  5  ff. ;  dieser  will  S.  1  ff.  beweisen,  dass  alle  Schriften  des  Hekataios  unecht 
seien,  aber  wer  7A\  viel  beweist,  beweist  gar  nichts. 

2)  Fragm.  bist.  I  p.  XIV. 

3)  Agathemeros  1,  1.  Eust.  prooem.  in  Dion.  I  p.  73  Beruh.,  vgl.  Eratosth. 
bei  Strab.  1,  13.  Nach  E.  Curtius  Gesch.  Griechenlands  I*  490  ging  das 
Anfertigen  der  Karten  von  den  Heiligtümern  aus. 

4)  Gegen  Klausen  Rob.  Müller  die  geographische  Tafel  nach  den  An- 
gaben Herodots  mit  Berücksichtigung  seiner  Vorgänger,  Reichenberg  1881. 

5)  Strabo   1,  34. 

6)  Demetr.  n.  spfXYjv.  §  12. 

7)  3,  25,  5. 

8)  6,  137  £v  xoiz  Xci-^otc-  Die  erwähnte  Stelle  des  Eratosthenes,  in  welcher 
manche  eine  Erwähnung  der  Genealogien  finden  wollen ,  ist  augeuseheinlich 
konupt. 


350  1^.  Kapitel. 

Hermogenes  ^)  urteilte  über  den  Stil  des  Hekataios,  er 
schreibe  in  reiner  jonischer  nicht  mit  epischen  Formen  ge- 
mischter Mundart  und  zeige  nicht  so  viel  Sorgfalt  und  Ge- 
schmack wie  Herodot.  In  der  Form  stand  er  weit  hinter  diesem 
zurück,  obgleich  seine  Rede  rein  und  klar  war  und  an  mehreren 
Stellen  der  Anmut  nicht  entbehrte.  ^)  Nach  dem  Autor  xspl 
u(|;ou<;  fiel  er  gerne  aus  der  indirekten  Rede  plötzlich  in  die 
direkte.  Demetrios^)  endlich  rechnet  ihn  unter  die  Vertreter  der 
8ti(]pY][idvTr]  XiiiQ.  Hekataios  gehörte  zwar  nie  zu  den  Klassikern 
seiner  Nation,  immerhin  fehlte  es  ihm  nicht  an  Verehrern ;  der 
Megalopolitaner  Geschichtsschreiber  Kerkidas  schätzte  ihn  sogar 
unter  allen  Geschichtsschreibern  am  höchsten*)  und  Hermogenes 
(a.  0.)  empfahl  ihn  neben  den  drei  berühmtesten  Historikern 
zur  Nachahmung. 

Hekataios'  Werk  bildet  einen  würdigen  Abschluss  der  ersten 
Periode  und  ist  zugleich  ein  Vorläufer  der  klassischen  Geschichts- 
schreibung, indem  hier  der  Uebergang  von  der  lokalen  Historio- 
graphie zur  Universalgeschichte  gegeben  ist. 

Mit  der  Erforschung  der  Geschichte  ging  die  Naturge- 
schichte und  die  Untersuchung  der  Welt  Hand  in  Hand.  Hier 
waren  es  wiederum  die  Jonier,  welche  den  anderen  Stämmen 
die  Bahn  brachen  und  mit  Anlehnung  an  die  theogonischen 
und  didaktischen  Gedichte  eine  Sprache  für  den  Ausdruck 
philosophischer  Gedanken  schufen. 

Der  erste  philosophische  Schriftsteller  war  nach  allgemeiner 
Annahme  Pherekydes  6  Sopto«;^),  obgleich  die  Alten  seine 
Zeit  offenbar  nicht  kannten  und  diesen  Mangel*')  durch  die 
willkürhchsten  Vermutungen  zu  bedecken  suchten;  die  einen 
setzten  ihn  mit  bequemem  Synchronismus  den  sieben  Weisen 
gleichzeitig.     ApoUodor    dagegen    verband    seine    Blütezeit   mit 


1)  n.  i?£o)v  2,   12,  6,  vgl.  Ps.  Longin.  ^epl  u-^ouc  27,  2. 

2)  Wie  Herodot  und  Thukydides  begann  er  mit  Nennung  seine.s  Namens 
(Dion  Chrys.  63  §  9). 

3)  De  eloc.  12. 

4)  Ael.  V.  h.  13,  20. 

6)  Vgl.  die  Prolegomena  von  Sturz  Pherecydis  Lerii  fragmenta,  Lpg. 
1824  und  Joh.  Conrad  de  Pherecydis  Syrii  aetate  et  cosmologia,  Coblenz 
18Ö6  (Diss.  von  Bonn). 

6)  Rhode  Rhein.  Mus.  33,  201  ff. 


Anfänge  der  Prosa.  351 

der  seines  Landsmannes  Pythagoras^),  dessen  Lehrer  er  nach 
anderen  war.  Da  sein  Vater  den  ungriechischen  Namen  Babys 
trägt  und  er  selbst  ein  Schüler  der  Phöniker  heisst,  ist  als 
Heimat  des  Pherekydes  wahrscheinlich  ursprünglich  Syrien  ge- 
meint. So  berichten  in  der  That  einige.  '^)  Es  existierte  von 
ihm  eine  Schrift  ,,über  die  Natur  und  die  Götter",  welche 
'\lTzx6,]XMyoQ  ,, siebenfaltig"  hiess  ^)  und  unverständlich  wie  das 
Werk  des  Herakht  war.  ^)  Davon  ist  die  Theogonie  oder  Theo- 
logie des  Pherekydes  von  Leros^)  in  zehn  Büchern  wohl  zu 
unterscheiden.  Der  Inhalt  jenes  ohne  Zweifel  gefälschten 
Buches  liegt  ziemlich  im  Dunkeln,  aber  als  Archegetes  der 
Philosophie  war  sein  Name  noch  später  berühmt.  Es  soll  sogar 
Bildnisse  des  Mannes  gegeben  haben;  Christodor  will  eines  im 
Zeuxippos  gesehen  haben  und  eine  Statue*')  und  eine  Büste'') 
tragen  noch  (freüich  ohne  Grund)  seinen  Namen. 

Die  wirkhch  wissenschaftlichen  Versuche,  die  sichtbare 
Natur  zu  erklären,  gehen  von  den  jonischen  Physiologen  ^)  aus. 
Der  erste  derselben,  Thaies,  der  Sohn  des  Examyes ,  hinter- 
liess,  wie  sicher  feststeht,  nichts  schriftliches.  ^) 

Erst  Anaximandros^")  Sohn  des  Praxiades ^^)  aus  Milet, 
eröffnete  die  eigentliche  philosophische  Schriftstellerei.  Nach 
Apollodor^^)  war  er,  wie  dieser  offenbar  aus  einer  historischen 


1)  Diog.  L.  1,  121  und  Eusebios  (armenisch  Ol.  60,  1,  bei  Synkellos  Ol. 
62,  1  neben  Pythagoras  [im  arm.],  Hier.  Ol.  60,  4,  P  Ol.  60,  1,  A  59,  4); 
Cicero  setzt  ihn  daher  richtig  unter  Servius  Tullius  (Tusc.   1,  16,  38). 

2)  Sturz  p.  2.  Er  starb  angeblich  an  der  Phtheiriasis  oder  den  Tod 
des  Äsop. 

3)  Diog.  L.  1,  116  ff.  Suidas.  Isid.  orig.  1,  38  scheint  zu  meinen,  dass 
sie  in  Hexametern  geschrieben  war. 

4)  Clem.  AI.  ström.  5,  244  S.  676  P. 

5)  Preller  ausgewählte  Aufsätze  S.  350  ff. 

6)  Aus  Tivoli  im  Madrider  Museum  (bei  Fea  in  der  üebersetzung  von 
Wiuckelraanns  Kunstgeschichte  III  p.  416,  vgl.  Hübner  antike  Bildwerke  in 
Madrid  S.  110  Nr.  176;  Michaelis  Arch.  Anz.  1863  S.  123).  Vgl.  hier  und 
im  folgenden  P.  Schuster  über  die  erhaltenen  Portraits  der  griechischen 
Philosophen,  Lpg.   1876  mit  4  T. 

7)  Mus.  Worsl.  cl.  2  pl.  4. 

8)  K.  Fr.  H  e  r  m  a  n  n  de  philosophorum  lonicorum  aetatibus,  Göttingen  1849. 

9)  Dies  verbürgen  Aristoteles,  Diogenes  (1,  23)  und  andere  (z.  B.  Themist. 
or.  26  p.  383  D.). 

10)  Jos.  Neuhäuser  Anaximander  Milesius,  Bonn  1883. 

11)  Diog.  L.  2,  1.  Simpl.  comm.  in  Arist.  phys.  lib.  I  p.  3. 

12)  Diog.  L.  2,  2. 


352  11-  Kapitel. 

Andeutung  seines  Buches  schloss,  Ol.  58,  2  (547  d.  h.  wohl, 
als  Kyros  den  Kroisos  besiegte)  vierundsechzig  Jahre  alt,  also 
Ol.  42,  2  (611/10)  geboren.^)  Daraus  ist  die  eusebianische 
a%[i7]  berechnet.^)  Weil  Anaxirnandros  eine  milesische  Kolonie 
nach  dem  pontischen  Apollonia  führte^),  war  er  jedenfalls  ein 
vornehmer  Mann.  Er  schrieb  ein  Buch  mit  dem  gewöhnhchen 
Titel  der  älteren  philosophischen  Werke  Tiepl  (pbGio<;  in  jonischem 
Dialekte,  wobei  er  sich  einer  so  poetischen  Ausdrucksweise 
bediente,  dass  ihn  von  Xenophanes,  Parmenides  und  Empe- 
dokles  imr  das  Versmass  trennte.*)  Dem  späteren  Altertum 
lag  die  Schrift  nicht  mehr  vor,  doch  las  sie  noch  Apollo- 
doros.  ^)  Weil  Anaxirnandros  zuerst  eine  Karte  der  ihm  be- 
kannten Welt  entwarft),  dichtete  ihm  Suidas  eine  y"^«;  TcspioSoc 
an.  Die  astronomischen  Schriften  itspl  aTtXavwv,  otpatpa  und 
ähnliche  waren  Fälschungen. 

Anaximenes  von  Milet,  Sohn  des  Eurystratos,  war  un- 
gefähr mit  ihm  gleichzeitig;  dagegen  hat  nicht  viel  Bedeutung, 
dass  ihn  mehrere  einen  Schüler  des  Anaximandros  nannten 
und  einige  zum  Hörer  des  Parmenides  machten. '')  Er  galt 
wenigstens  als  Zeitgenosse  des  Krösus  *),  nach  dessen  Regierungs- 
antritte (Ol.  55)'')  oder  Sturze  (Ol.  58)^")  seine  Zeit  bestimmt 
wurde.  Nach  Apollodor  starb  er  Ol.  63,  d.  h.  als  Pythagoras 
berühmt  wurde.  Die  Schrift  des  Anaximenes  Tcspl  ^öaioq  war 
ebenfalls   jonisch    und   in    ungeschmückter   Rede    abgefasst^^); 


1)  Diog.    L.  2,  2,    vgl.    Orig.    cff.Xoaofp.    I  p.   12    Miller.     Diogenes    setzt 
fälschlich  hinzu,  er  habe  unter  Polykrates  gelebt. 

2)  Statt   Ol.  52,  2    (Hieron.  B)    nennen    Synkellos    und    der    armenische 
Uebersetzer  Ol.  61,  4,  Hieronymus  Ol.  51,  3  (50,  3  F,  61,  1   P). 

3)  Ael.  V.  h.  3,  17. 

4)  Fragmente  in  Mullachs  Fragmenta  philos.  Graec.  I  240;   wir  kennen 
überhaupt  nur  drei. 

5)  Diog.  L.  2,  2. 

6)  Diog.  L.  2,  2.  Eratosth.  bei  Strabo  1,  7;    Schiek  über  die  Himmels- 
globen des  Anaximander  und  Archimedes,  Hanau  1843. 

7)  Diog.  L.  2,  3.  Suidas. 

8)  Da  üb  Jahrbb.   121,  24  f. 

9)  Porphyrios  bei  Suid.  (Kohde  Rhein.  Mus.  33,  206);  ebenso  Ol.  55,  4  , 
Synkellos  und  Hieronymus,  Ol.  66,  l  Hier.  AP,  Ol.  64,  3  F,  Ol.  64,  4  S. 

10)  So   Apollodoros  nach   Diels   Rhein.   Mus.    31,    27    und   Rohde    a.  O. 
(Ol.  58,  1  nach  Orig.  philos.  p.  13  Miller). 

11)  Fragmente  fehlen  (Mal lach  fragni.  philos.  Gr.  I  241   f.). 


Anfange  der  Prosa.  353 

vielleicht  oder  wahrscheinlich  ging  sie  der  des  Anaximandros 
zeitlich  voraus,  weil  sonst,  wenn  die  Nachrichten  der  Alten 
glaubwürdig  sind,  Anaximenes'  Philosophie  als  ein  Rückschritt 
zu  bezeichnen  wäre.  ^) 

Der  letzte  bedeutende  jonische  Philosoph ,  der  in  Asien 
nicht  blos  geboren  wurde,  sondern  auch  lehrte,  war  Hera- 
klei tos  von  Ephesos,  ein  Sohn  des  Blyson  aus  könighchem 
Geschlechte.  ^)  Seine  Zeit  lässt  sich  aus  den  polemischen  Stellen 
leicht  bestimmen ,  denn  er  selbst  greift  bereits  Hekataios  an  ^) 
und  wird  seinerseits  von  Epicharmos*)  und  Parmenides  gekannt. 
Apollodor  setzt  ihn  daher  mit  Recht  an  den  Beginn  des  jonischen 
Aufstandes  Ol.  69  ^)  oder  70.  ^)  Schuster  möchte  die  Abfassung 
der  Schrift  noch  weiter  herabdrücken ,  weil  Herakleitos  die 
Ephesier  wegen  der  Verbannung  seines  Freundes  Hermodoros 
schilt ;  da  aber  dieser  an  der  Decemviralgesetzgebung  Teil  ge- 
nommen habe,  sei  er  erst  nach  der  Schlacht  von  Mykale  ver- 
bannt worden.  '^)  Diese  Beweisführung  ist  keineswegs  zwingend, 
zumal  es  wohl  gestattet  sein  dürfte,  an  jener  gesetzgeberischen 
Thätigkeit  des  Hermodoros  zu  zweifeln.  Nach  Aristoteles  wurde 
K^'-aklit  sechzig  Jahre  alt.  ^)  Glaubwürdige  Lebensnachrichten 
fehlen  bei  diesem  Philosophen  vollständig.  Einen  weniger 
anekdotenhaften  Charakter  Js  andere  hat  die  Erzählung,  er 
habe  eine  Einladung  des  Königs  l^arius  abgelehnt  ^) ;  doch  hört 
man  von  einem  solchen  Hellenismus  Jieses  Fürsten  sonst  nichts 
und  wenn  er  ihn  aus  politischen  GrÜDv^en  nach  Susa  berufen 
hätte,  dann  würde  ihm  die  Weigerung  sicher  das  Leben  ge- 
kostet haben.  Wir  wollen  also  dieses  Histörchen  zu  den  an- 
deren legen,  welche  seine  Wunderlichkeiten  in  ein  grelles  Licht 
stellen    wollen.  ^°)     Eher    Hesse    sich    hören ,  dass  Herakht  den 

1)  Christodoros  V.  50  f.    will   seine  Statue  im  Zeuxippos  gesehen  haben. 

2)  Schuster  Acta  philol.  Lips.  3,  362  ff. 

3)  Fr.  23  Schuster. 

4)  Aristot.  met.  3,  5  p.   1010a  5. 

5)  Diog.  L.  9,  1    und  Suidas ;  Ol.  69,  3    Euseb.  arm.    vgl.  Diels  ßhein. 
Mus.  31,  29  ff. 

6)  Ol.  70,   1  Hierou.,  70,  4  Hier.  B,  71,  1   Synkellos. 

7)  Schuster  a.  O.  S.  80,  2. 

8)  Uiog.  L.  8,  52. 

9)  Cleni.  AI.  ström.   1,  130  S.  854  P. 

10)  Schuster  a.  O.  S.  361  f.  Zu  den  Fabeln  gehört  auch,  dass  er  sein  Buch 
nicht  veröffeqtlichte,  sondern  der  Arterais  weihte. 

Sittl,  Gescliichte  der  griechischen  Literatur.  23 


354  1 '  •  Kapitel. 

ephesischeii  Tyrannen  Melankomas  zur  Abdankung  bewog^); 
aber  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  nahm  er  trotz  seiner  könig- 
lichen Abkunft  an  dem  politischen  Leben  überhaupt  nicht 
Teil.  ^)  Darum  blieb  er  trotz  der  mamiigfachen  Umwälzungen 
immer  unangefochteu  in  seiner  Vaterstadt,  deren  Mitbürger  ihn 
für  einen  ungefährlichen  Philosophen  halten  mochten.^)  Hera- 
klit  sprach  freilich  seine  aristokratischen  und  antireligiösen  Sätze 
nur  selten  klar  aus,  sondern  versteckte  sie  absichtlich  *)  in  ausser- 
ordentlich dunkle  und  geheimnisvolle  Reden,  die  oft  nicht 
weniger  schwer  als  die  Orakel  zu  deuten  waren ^);  alles,  was 
er  sagt,  ist  pointiert  und  voll  von  Antithesen. 

Wir  haben  uns  hier  nicht  mit  den  philosophischen  Sätzen, 
welche  Herakleitos  in  seiner  Schrift  zspi  'fmioQ  niederlegte,  zu 
beschäftigen.  Wichtig  ist  uns  jedoch  einerseits  sein  Verhältnis 
zur  älteren  Literatur,  andererseits  die  Thätigkeit  der  Späteren. 
Herakleitos  stellt  sich  als  echter  Sonderling  in  allen  Dingen 
auf  einen  Standpimkt,  welcher  dem  der  Majorität  der  Mensch- 
heit diametral  entgegengesetzt  ist.  Was  also  den  Griechen  als 
klassisch  gilt,  ist  ihm  ein  Gegenstand  des  Spottes:  „Gelehr- 
samkeit schaft't  an  sich  keinen  Verstand.  Sonst  müsste  sie  ja 
dem  Hfcsiod  und  Pythagoras  dazu  verholfen  haben  und  auch 
noch  dem  Xenophanes  und  Hekataios."  ^)  „Bei  den  meisten 
gilt  Hesiod  als  Meister.  Von  dem  sind  sie  überzeugt,  dass  er 
das  meiste  weiss  —  er,  der  nicht  einmal  von  Tag  und  Nacht 
eine  richtige  Erkenntnis  hatte!  Denn  beide  sind  im  Grunde 
dasselbe."')  „Pythagoras,  Mnesarchos  Sohn,  forschte  am  meisten 
unter  allen  Menschen    und  aus   seinen  Aufzeichnungen   sachte 


1)  Cleiu.  AI.  Str.  a,  O. 

2)  Schusters  7.  Excure  S.  77  ff.  ist  ohne  reale  Grundlage.  Er  trat  sogar 
die  ererbtet  Rechte  eines  Opferkönigs  an  seinen  jüngeren  Bruder  ab. 

3)  In  der  Kaiserzeit  brachten  sie  sein  Bild  auf  ihren  Münzen  an 
(Schuster  a.  O.  8.  366  f.;  Ztsch.  f.  Numism.  IX.  T.  4,  21). 

4)  Bei  Clem.  AI.  ström.  5,  252  S.  699  P  äXXa  xa  |j.£v  r?jc  -("^(üztoiz  ßä8-Yj 

XpUJttetV    ftlCtOTlT)    U-(rxd"T^. 

6)  Aristot.  rhet.  3,  5  p.  1407  b  14;  ebenso  Dem.  de  eloc.  192  und  Theon 
prog.  p.  81,  30;  Tinioii  nannte  ihn  atvtxrfj-;.  Sokrates  soll  gesagt  haben, 
man  bedürfe,  um  in  die  Tiefen  .seiner  Philosophie  einzudringen,  eines  delischen 
Tauchers. 

6)  Fr.  23  Seh. 

7)  Fr.  26  Seh. 


Anfänge  der  Prosa.  355 

er  sich  dann  seine  eigene  Weisheit  zusauiuiiiu,  Vielwisserei, 
Pfusclierei".  *)  Die  Aeusserungen  über  Xenophanes  und  Heka- 
taios  kennen  wir  nicht  mehr,  obgleich  gerade  bei  jenem  eine 
P>läuterang  sehr  wünschenswert  wäre;  jedenfalls  ist  die  V^iel- 
wisserei  auf  philosophisch -physikalischem  Gebiete  zu  suchen.^) 
Heraklit  legte  aber  auch  den  Massstab  der  Moral  an  die  Literatur 
an;  darum  sagte  er:  ,, Homer  hätte  verdient,  vom  Kampfplatze 
der  Sänger  hinausgetrieben  und  mit  Ruten  gestrichen  zu  werden 
und  ebenso  Archilochos."  ^)  Jenem  warf  er  sogar  Neigung  zur 
Astrologie  vor.  ^)  Die  Poesie  verachtete  Heraklit  durchaus  und 
die  Redekunst  gefiel  ihm  ebenso  wenig  ^);  daher  legte  er  in 
seinem  eigenen  Werke  auf  die  Form  nicht  den  geringsten  Wert. 
Herakleitos'  Philosophie  machte  zu  ihrer  Zeit  und  während 
der  attischen  Periode  kein  besonderes  Aufsehen,  wenn  auch 
mehrere  Philosophen  teils  ablehne: id  teils  günstig  zu  ihr  Stellung 
nahmen.  Er.^t  die  Stoiker  widmeten  ihr  das  fleissigste  Studium 
und  kommentierten  ihn  mehrfach,  so  Herakleides  Pontikos.'')  Aus 
ihren  Kreisen  gingen  aucli  die  gefälschten  heraklitoischen  Briefe, 
wahrscheinlich  dem  ersten  Jahrhunderte  nach  Christus  ange- 
hörig, hervor,  welche  von  fleh^-^igem  Studium  seines  Werkes 
zeugen.^)  Auch  die  älteren  Kirci.-^uväter  liefern  zahlreiche 
Fragmente. 

Eine  brauchbare  Sammlung  der  Fra^^mente^)  liegt  vor  in 
der  umfänglichen  Monographie  P.  Schusters  ,, Heraklit  von 
Ephesus,  ein  Versuch,  dessen  Fragmente  in  ihrer  ursprünglichen 
Ordnung  wieder  herzustellen"^),  der  zugleich  den  Versuch 
machte,  den  Gedankengang  des  Buches  zu  rekonstruieren. 
Trotz  des  blendenden  Scharfsinnes  und  der  reichen  Gelehrsam- 
keit ist  dieser  Versuch    nicht  gelungen.     Den  Vorzug  verdient 


1)  Fr.  22  Seh. 

2)  Schuster    S.  372   f.    denkt    an    mythologische    oder    antiquarische  Ge 
lehrsamkeit. 

3)  Fr.   134  Seh. 

4)  Fr.  135  Seh. 

5)  Gomperz  Rhein.  Mas.  32,  476  f. 

6)  Schuster  a.  O.  S.  351  flf. 

7)  Jakob  Bernays  die  heraklitischen  Briefe,  Berlin  1869. 

8)  lieber  die  ältere  Literatur  Schuster  S.  355  ff.    Unter  den  mehr  philo- 
logischen Arbeiten  ist  Jakob  B  e  r  n  a  y  s  Heraclitea,  Bonn  1848  hervorzuheben 

9)  Acta  societatis  philologae  Lipsiensis  III  (1873)  S.  1 — 398. 

23* 


356  11-  Kapitel. 

die  Ausgabe  von  J.  Bywater  (Heracliti  Ephesii  reliquiae,  London 
1877);  ein  neues  Fragment  teilt  er  aus  Albertus  Magnus  im 
Journal  of  pliilology  9,  230  ff.,  ein  anderes  Gomperz  im  Rhein. 
Mus.  32,  476  f.  mit.  Jetzt  ist  auch  A.  Patins  Schrift  ,, Quellen- 
studien zu  Heraklit.  Pseudohippokratische  Schriften,  Würzburg 
1880  (in  der  Festschrift  für  Urlichs)  beizuziehen. 

In  Unteritalien  war  gleichzeitig  ebenfalls  ein  reges  geistiges 
Leben  aufgeblüht,  aber  teils  blieb  es  ohne  literarische  Frucht, 
indem  die  Lehren  von  Mund  zu  Munde  sich  fortpflanzten,  teils 
wählten  die  Philosophen  lieber  das  poetische  Gewand,  sei  es, 
dass  ihnen  die  Prosa  noch  nicht  geläufig  war  oder  dass  sie 
ihren  Sätzen  durch  rhapsodischen  Vortrag  in  weiteren  Kreisen 
Eingang  verschaffen  wollten.  Die  Eleaten  wählten  die  dich- 
terische Form,  weil  ihnen  Xenophanes  hierin  vorangegangen 
war;  doch  haben  wir  über  Parmenides  und  Zenon  hier  noch 
nicht  zu  sprechen. 

Die  Pythagoreer  dagegen  zogen  das  mündliche  Wort 
vor;  denn  alles,  was  von  Pythagoras  selbst  oder  seineu  nächsten 
Schülern  herrühren  soll,  ist  unecht.  Von  den  „goldenen  Ver- 
sen" des  Pythagoras  war  bereits  oben  die  Rede;^)  es  mag  ver- 
schiedenes davon  auf  alter  Tradition  beruhen.  Die  Späteren^) 
sammelten  ja  derartige  Sentenzen  des  Pythagoras  (lloO-aYopixal 
a;ro'f doste);  Mullach  stellt  im  ersten  Bande  der  Fragmenta  phi- 
sophorum  Graecorum  p.  485  ff.  einen  Teil  der  Ueberreste 
zusammen.  Vieles  ist  noch  in  syrischer  Uebertragung  erhal- 
ten.^) Direkte  Fälschung  liegt  dagegen  in  den  angeblichen 
Schriften  des  Pythagoras  über  Erziehung  (TcaiSsoTtxöv)  und  über 
den  Staat  (TcoXtnxdv)  vor.  Kein  grösseres  Zutrauen  verdient  die 
Schrift  des  Lukaners  Okellos  irspl  rfic:  toö  rtavTÖg  ^öasw«;;*)  sie 
ist  im  attischen  Dialekte  abgefasst  und  wird  zuerst  von  Philon^) 
angeführt.  Dieses  Buch  sowie  ein  Bruchstück  des  Okellos  Tiepi 
vö(iö>  gehören  wahrscheinlich  zu  den  unechten  pythagorischen 
Schriften,  mit  denen  der  pythagorisierende  König  Juba  von 
Mauretanien  von  literarischen  Betrügern  getäuscht  wurde  ;^)   in 


1)  8.  231. 

2)  So  Aristoxeno»  nach  Stobuios. 

8)  Gildemeister  Hermes  6,  81  fl'. 

4)  Zuletzt  in  MullachH  fragm.  phil.  Graec.   1,  383  ff.  abgedruckt. 

5)  Incorr,  mund.  3. 

6)  David  in  Aristot.  categ.  p.  28  Bekker. 


Anfange  der  Prosa.  '  357 

einem  unechten  Briefe  des  Archytas^)  kommen  Schriften  des 
Okellos  Tispl  ßaaiXirjtaf:  und  Trspl  oo'.ötyjto?  vor.  Der  erste  beglau- 
bigte Schriftsteller  der  Pythagoreer  ist  Philolaos.  ein  Zeitgenosse 
des  Sokrates. 

Unteritalien  nimmt  somit  an  der  Gründung  der  griechi- 
schen Prosa  keinen  Anteil;  Theagenes  von  Rhegion  soll  frei- 
lich schon  unter  Kambyses  über  Homer  geschrieben  haben, 
aber  eine  solche  Schrift  war  offenbar  vor  der  Zeit  der  Sophistik 
überhaupt  nicht  möglich  und  überdies  erst  durch  die  Angriffe 
des  Xenophanes  und  Herakleitos  hervorgerufen.  Jene  törichte 
Zeitangabe  entsprang  blos  aus  dem  Synchronismus  des  ersten 
Prosaikers  von  Unteritalien  mit  dem  ersten  Philosophen  dessel- 
ben Landes  —  mit  Pythagoras. 

Bei  so  früher  Zeit  ist  es  auch  nicht  möglich,  dass  die 
Architekten  Theodoros ,  Chersiphron  und  Metagenes  wie 
Vitruv  (7  praei.  p.  12)  behauptet,  über  die  von  ihnen  er- 
bauten Tempel  Schriften  herausgaben.  Von  Fälschung  dai'f 
hier  keine  Rede  sein;  Brunn''*)  dachte  früher  an  praktische  Auf- 
zeichnungen. Semper^)  vergleicht  aber  einen  sehr  wichtigen 
Bauplan  des  Klosters  Sankt  Gallen,  der  mit  Namen  und  Mass- 
angaben versehen  ist.  Solche  waren  also  aus  dem  Nachlasse 
berühmter  Tempelarchitekten  überliefert  und  wurden  von  den 
späteren  fleissig  studiert  und  kommentiert.  Daher  citiert  Pollux 
(10,  188)  slxs  4>iXtöv  £iT£  0£ö5(rtpoc,  indem  er  schwankt,  ob  die 
Regel  von  dem  Kommentator  oder  dem  Baumeister  selbst  her- 
rühre. 


i)  Hercher  epistolographi  Graeci  p.  132. 

2)  Geschichte  der  griechischen  Künstler  I  37. 

3)  Der  Stil  II  445. 


12.  Kapitel. 
Schluss. 

Das  Ende  dieser  Periode  bezeichnet,  wenn  wir  die  politi- 
schen Ereignisse  lieranziehen  wollen,  die  Herrschaft  der  Peisi- 
stratiden  und  der  jonische  Aufstand.  Das  geistige  Leben  Grie- 
chenlands hatte  bisher  von  Asien  her  die  schöpferischen  An- 
regungen empfangen.  Von  dort  her  waren  alle  Neuerungen 
gekommen  und  wenn  auch  die  eigentlichen  Hellenen  sich 
in  dem  Geleisteten  ohne  Scheu  mit  den  Ostgriechen  messen 
konnten,  der  Ruhm  der  Originalität  gebührte  doch  den  letzte- 
ren. Daran  änderte  die  Herrschaft  der  persischen  Satrapen 
anfangs  wenig,  aber  sie  übte  nach  und  nach  einen  zersetzen- 
den Einfluss  aus,  indem  die  Jonier  die  Waffen  bei  Seite  legten 
und  in  schwelgerischen  Vergnügungen  den  Trost  für  ihre  ver- 
lorene Freiheit  suchten.  Die  Energie  des  Scliaffens  entschwand 
und  machte  einer  gewissen  geistigen  Dumpfheit  Platz,  welche 
den  frischen  Aufschwung  hinderte.  Ein  vernichtender  Schlag 
traf  vollends  die  Kultur  der  Jonier,  als  die  Perser  ihren  Auf- 
stand nierlerwarfen  und  den  Rebellen  die  jedem  Griechen' not- 
wendige Bewegungsfreiheit  raubten.  Die  jonischen  Refugies 
nalimen,  wohin  sie  kommen  mochten,  einen  hohen  Rang  in 
der  geistigen  Welt  ein,  aber  sie  mussten  empfinden,  dass  sie 
nicht  mehr  allein  den  Ton  anzugeben  hatten. 

Wenn  wir  fragen ,  in  welchem  Staate  bisher  die  Literatur 
die  freundlichste  Aufnahme  und  die  verständigste  Pflege  ge- 
funden hatte,  so  müssen  wir  ohne  Bedenken  Sparta  nennen. 
Der  spartanische  Staat  leidet  noch  immer  unter  dem  Vorurteil, 
er  sei  eine  gegen  aussen  streng  abgesperrte  Kaserne,  in  welcher 
die  Disciplin  als  das  einzige  ideale  Moment  ohne  Nebenbuhler 
herrschte,  gewesen ;  zu  diesem  Zeiträume  wenigstens  passt  die- 
ses  düstere    von    attischen  Rhetoren   und   Komikern   herstam- 


Schluss.  359 

mende  Gemälde  nicht  im  geringsten.  Sparta  war  vor  allem 
der  Mittelpunkt  der  chorischen  Kunst,  da  das  Fest  der  Kar- 
neen  aus  allen  Gegenden  Meister  herbeizog  und  das  Volk  von 
Natur  einen  ausserordentlich  feinen  Sinn  für  Musik  besass;*) 
denn  bei  ihm  hielt,  wie  sein  Dichter  sagte,  das  schöne  Kithara- 
spiel  dem  Eisen  die  Wage.'^)  Sparta  war  somit,  wenn  auch 
nicht  durch  aktive  Bethätigung ,  der  Vorort  der  griechischen 
Literatur.  Athen  dagegen  erscheint  vor  Solon  und  den  Peisi- 
stratiden  blos  als  ein  grosses  Bauerndorf.  Nachdem  Solon  die 
jonische  Elegie  nach  Attika  verpflanzt  hatte,  thaten  Peisistratos 
und  seine  Söhne  ausserordentlich  viel  für  die  Erweckung  eines 
höheren  Sinnes.  Sie  führten  die  dramatischen  Aufführungen 
und  den  vollstän^'igen  Vortrag  der  homerischen  Epen  ein  und 
sammelten  bereits  bJ.'"'^'^''.  Damals  etwa^)  erstand,  nachdern 
der  Peloponnes  schon  eine  iNIenge  von  Kunstwerken  hervorge- 
bracht hatte,  in  Endoios  endlich  der  erste  attische  Künstler. 
Den  eigentlichen  Impuls  des  bhtzgleichen  Emporschiessens  gaben 
aber  die  Perserkriege,  welche  durch  die  ungeheuere  Bedrängnis 
die  ganze  Fülle  der  Energie,  welche  den  Athenern  verliehen 
war,  entwickelten. 

Warum  treten  aber  von  nun  an  die  Dorier  und  ÄoHer 
so  sehr  zurück?  Aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  ihr  Haupt- 
talent der  Lyrik  und  Musik  zugewendet  war;  in  dieser  leisteten 
sie  allerdings  noch  hohes,  aber  allgemeinerer  Anerkennung  er- 
freute sich  nun  die  Redekunst.  Den  Doriern  (besonders  den 
Spartanern  und  Argivern)  fehlte  jedoch  von  Natur  die  Rede- 
gewandtheit, welche  den  Athenern  angeboren  war.  Es  ist  also 
nicht  zu  viel  gesagt,  wenn  wir  behaupten,  diese  schnellfertige 
Zunge  habe  Athen  an  die  Spitze  der  griechischen  Literatur  ge- 
bracht. Auch  in  der  Poesie  trat  der  rhetorische  Zweig  des 
Dramas  am  meisten  hervor;  zudem  entsprang  dieser  aus  den 
in  Athen  so  sehr  gepflegten  Kulten  des  Dionysos  und  der 
Demeter,  welche  die  meisten  Dorier  nicht  kannten. 


1)  Arist.  rep.  8,  5  p.  1339b  2  oä  [xavöavovtE^  Sjxux:  oovavxai  xptvetv  öpi)-iiüc, 
üj«;  'f aoL,  zä  -^pr^zzä.  xal  xä  (xyj  ypYjaxä  twv  [xsltüv.  Aristandros  von  Faros  stellte 
daher  Sparta  als  eine  Frau  mit  Lyra  dar.     (Paus.  3,  18,  8).) 

2)  Alkman  fr.  35. 

3)  Brunn  Kunst  bei  Homer  S.  44  ff.  nimmt  die  siebzigste  Olympiade 
an. 


Zio 


Berichtigungen : 

S.  12  A.  6  gehört  „besonders  —  nennt''  zu  A.  5. 

S.  203  Z.  23  lies  „fällt"  statt  „fehlt", 

S.  264  Z.  2  lies  „Gnomologie"  statt  „Genealogie" 


GESCHICHTE 


DER 


GRIECHISCHEN    LITERATUR 


BIS  AUF 


ALEXANDER  DEN  GROSSEN 


VON 


D«    KARL  SITTL. 


ZWEITER  TEIL. 


MÜNCHEN 
THEODOR    ACKERMANN 

KÖNIGLICHER  HOFBUCHHÄNDLEK 

1886. 


fl^ 


Vorrede. 


Es  ist  nicht  mehr  7a\  früh,  wenn  ich  beim  Erscheinen  des 
zweiten  Bandes  die  Grundsätze,  welchen  ich  gefolgt  bin,  zur 
Beurteilung  vorlege.  Durch  den  Titel  des  Werkes  habe  ich 
mich  verpflichtet,  die  klassische  Literatur  bis  zur  Zeit  Alexan- 
ders darzustellen,  womit  übrigens  nicht  gesagt  sein  soll,  dass, 
falls  mir  Kraft  und  Freude  bleiben,  ich  auf  die  Behandlung  der 
nachklassischen  Literatur  verzichte.  Natürlich  kann  als  Grenze 
dieser  beiden  Hauptperioden  nicht  ein  bestimmtes  Jahr  be- 
zeichnet werden,  sondern  es  ist  in  jeder  Literaturgattung  sowohl 
ein  passender  Abschluss  der  klassischen  Periode  als  auch  ein  charak- 
teristischer Anfang  des  Nachklassischen  anzustreben.  Aristo- 
teles darf  selbstverständlich  die  klassische  Periode  nicht  schliessen, 
weil  er  der  w^ahre  Archegetes  des  gelehrten  Zeitalters  ist  und 
unendlich  viele  emsige  Schüler  Jahrhunderte  lang  von  seinen 
Ideen  zehren.  Andererseits  gehört  das  Verkommen  der  ein- 
zelnen Arten  nicht  mehr  unserer  Zeit  an;  die  Periode  darf 
nicht  mit  einem  Missklang  enden,  darum  habe  ich  z.  B.  Dei- 
narchos  und  die  phrasenhafte  Geschichtsschreibung  der  Iso- 
krateer  von  der  Klassicität  ausgeschlossen. 

Ueber  die  Einteilung  des  so  begrenzten  Stoffes  dürfte  in 
der  Hauptsache  jetzt  keine  tiefgreifende  Meinungsverschieden- 
heit bestehen.  Die  bloss  historische  Darstellung  ist  ja  bei  der 
griechischen  Literatur  so  gut  wie  unmöglich,  während  die  eido- 
graphische  zwar  den  konservativen  Zug  der  hellenischen  Literatur 
und  das  Zurücktreten  des  Individualismus  beleuchtet,  aber  der 
EinheitUchkeit  ermangelt.     Es  sind  daher  beide  Methoden  hier 


IV  Vorrode. 

verschmolzen,  freilich  dürfte  es  keine  Darstellungsart  geben, 
welcher  nicht  einige  Unbequemlichkeiten  anhafteten;  die  beste 
ist  gewiss  die,  welche  die  wenigsten  mit  sich  führt. 

Gemäss  dem  Titel ,, Geschichte';  ist  eine  mögliclist  zusammen- 
hängende geschichtliche  Erzählung  versucht,  weshalb  die  Para- 
grapheneinteilung wegfallen  musste,  zugleich  konnte  die  ge- 
wohnte Art,  die  Bibliographie  mitzuschleppen,  nicht  fortbestehen. 
Der  Verfasser  musste  den  Versuch  machen,  ob  nicht  die  wüsten 
Massen  von  Büchertiteln  mit  der  Literaturgeschichte  in  orga- 
nische Verbindung  gesetzt  werden  könnten ;  es  ergab  sich  leicht 
ein  Grundprincip,  welches  dies  ermöglichte.  Hat  doch  die 
Literaturgeschichte  jetzt  nicht  mehr  in  der  Biographie  der 
Autoreu,  sondern  in  der  Analyse  der  Schriftwerke  ihren  Schwer- 
punkt, und  sie  muss  noch  weit  mehr  eine  Geschichte  der 
Bücher  werden. 

Die  Entstehung  einer  Schrift,  ihre  Wirkung  auf  die  Zeit- 
genossen und  das  Fortleben  samrat  der  Beehiflussuug  der  fol- 
genden Literatur  und  den  Arbeiten  der  Gelehrten,  verdient 
ohnehin  gewiss  mehr  Beachtung  als  die  nicht  immer  dem  An- 
sehen förderlichen  Lebensumstände  des  Schriftstellers  und  wird 
dem  ästhetischen  Urteil  nicht  selten  den  richtigen  Standpunkt 
anweisen.  Freilich  stehen  nur  dem  Erforscher  der  neueren 
Literaturen  die  Materialien  für  die  Geschichte  eines  Buches  in 
der  erforderlichen  Fülle  zu  Gebote.  Hinsichtlich  des  Altertums 
sind  alte  Quellen  und  neuere  Vorarbeiten  gerade  für  die  inte- 
ressanteren Seiten  der  Aufgabe  recht  spärlich.  So  darf  ein 
erster  Versuch,  das  Nachleben  der  Schriften  zu  schildern,  auf 
eine  milde  Beurteilung  rechnen.^) 

Für  die  Darstellung  der  betreteneren  Gebiete  waren  sowohl 
die  alten  Quellen  als  auch  die  ungeheure  philologische  Literatur 
beizuziehen.  In  Bezug  auf  die  Kritik  ersterer  mag  es  in  einer  Mono- 
graphie nicht  zu  grossen  Schaden  anrichten,  wenn  hier  etwas 
geleugnet,  da  etwas  festgehalten  und  breitgeschlagen,  dort  ein 


')  In  diesem  Bande  sind  die  Bildnisse  der  Schriftsteller  nicht  mehr  er- 
wähnt. Früher  um  einen  p:i.sseuden  Platz  verlegen,  freue  ich  mich  jetzt  auf 
Baumeisters  Denkmäler  des  khissischen  Altertums  verweisen  zu  können;  ausser- 
dem seien  genannt  .1.  Hernoulli  die  erhaltoncn  Bildnisse  berühmter  Griechen, 
Basel  1877;  Bürchner  Ztsch.  f.  Numismatik  9,  109  ff;  Imhoof-Blumer 
Portraitköpfe  auf  antiken  Münzen,  Leipzig  1885  S.  68  f. 


I 


Vorrede.  V 

drittes  umgedeutelt  wird ,  wie  es  gerade  dem  scharfsinnigen 
Verfasser  zu  seinem  Vorhaben  passt;  bei  einem  grösseren  Werke 
müsste  eine  solche  Art  naturgemäss  zu  Schanden  werden. 
Während  des  letzten  Jahrzehnts  hat  sich  aber  eine  wissenschaftliche 
Methode  im  Stillen  herausgebildet,  wenn  sie  auch  vorläufig  nur 
auf  dem  Gebiete  der  Chronologie  Dank  den  Arbeiten  von  Diels 
und  Rohde  in  weitere  Kreise  gedrungen  ist.  Aber  dasselbe 
kritische  Prinzip  muss  auf  l.'-;*  o-esammte  Ueberlieferung,  welche 
sicii  auf  die  voralexandrinische  Liternu^r  bezieht,  angewendet 
werden.  Vergegenwärtigen  wir  uns  nur  die  Quellen  der  alten 
Literarhistoriker!  ürkundhches  Material  war,  abgesehen  von 
Ehrendekreten  oder  Aufschriften  von  Statuen,  nur  für  scenische 
und  lyrische  Agone  vorhanden.  Die  Gelehrten  waren  also  haupt- 
sächlich auf  das  angewiesen,  was  die  Klassiker  (ot  TtaXatot, 
ap/alot)  entweder  über  sich  selbst  mitzuteilen  für  gut  fanden 
oder  von  einander  zu  Lob  und  Schimpf  sagten.  Solche  Notizen 
wurden  ziemlich  fleissig  gesammelt  und  verarbeitet,  ohne  dass 
der  Grammatiker  erwog,  ob  ein  boshafter  Gelegenheitswitz  eines 
Komikers  denselben  Wert  habe  wie  das  Zeugnis  eines  angesehenen 
ernsten  Mannes.  Ausserdem  schoss  das  Unkraut  der  Anekdoten 
üppig  auf,  sei  es,  dass  ältere  anonyme  Anekdoten  auf  berühmte 
Männer  bezogen  wurden  oder  dass  die  Philosophenschuleu 
durch  allerlei  parteiische  oder  gehässige  Erfindungen  einander 
zu  überbieten  oder  anzufeinden  versuchten.  Endlich  hat  die 
Kombinationssucht  und  das  Etymologisieren  auch  in  der  Lite- 
raturgeschichte viel  Unheil  angerichtet.  Da  nun  die  Ueber- 
lieferung so  beschaffen  ist,  kommt  es  darauf  an,  ihr  Gewebe 
in  die  verschiedenen  Bestandteile  aufzulösen  und  womöglich  die 
Nachrichten  der  klassischen  Zeit  selbst  hervorzusuchen.  Können 
wir  für  irgend  eine  Notiz  eine  solche  primäre  Quelle  auffinden, 
dann  bedürfen  wir  aller  derer  nicht,  welche  sie  daraus  direkt 
■oder  mittelbar  abgeschrieben  haben.  So  genügt  z.  B.  Pia  tos 
Zeugnis  vollständig  und  es  kann  uns  gleichgiltig  sein ,  ob 
Diogenes,  Suidas  und  wie  sie  alle  heissen  mögen  dieselbe  Stelle 
wie  wir  gelesen  und  notiert  haben.  Was  dagegen  die  Späteren 
selbst  dazugethan  haben,  das  gehört  den  Anmerkungen,  damit 
die  Beschaffenheit  der  literarhistorischen  Quellen  dem,  der  sehen 
will,  vor  Augen  trete.  Da  für  den  zweiten  Band  die  zeitge- 
nössischen Quellen  reichhcher  fliessen,   prägt  sich  hier  die  be- 


VI  Vorrede. 

schriebene  Methode  deutlicher  aus;  es  waren  deshalb  die  alten 
Quellen  vollständiger  anzuführen. 

Die  grossen  äusseren  Schwierigkeiten,  mit  denen  der  Ge- 
schichtsschreiber der  griechischen  Literatur  zu  kämpfen  hat, 
beruhen  vornehmlich  auf  den  unendhchen  Bücherreihen,  welche 
berücksichtigt  werden  sollen.  So  viel  vier  Bibliotheken  Münchens, 
deren  Vorständen  und  Beamten  ich  öffentlich  für  ihr  Entgegen- 
kommen zu  danken  die  Pflicht  habe,  liefern  konnten,  habe  ich 
excerpiert;  manches  Citat  und  manchen  Titel  (besonders  von 
Gymnasialprogrammen)  musste  ich  trotzdem  aus  zweiter  Hand 
übernehmen.  Auch  mögen  15rmüdung  und  Ueberdruss  in  den 
Excerpten  gelegentlich  Fehler  verursacht  haben,  die  ich,  nicht 
über  eine  sehr  umfangreiche  eigene  Bibliothek  verfügend,  bei 
der  Revision  passieren  Hess.  Aber  wer  selbst  schon  auf  dem 
dornigen  Felde  der  Bibliographie  sich  abgemüht  hat ,  wird 
hierüber  billig  urteilen.  Wertloses  blieb  weg,  dagegen  wurden 
ältere  Schriften  angeführt,  um  an  die  Priorität  zu  erinnern. 
Wiederholt  habe  ich  einfach  auf  Schriften,  wo  man  die  ältere 
Literatur  verzeichnet  findet,  verwiesen.  Uebrigens  sei ,  um 
Missverständnisse  zu  vermeiden  bemerkt,  dass  die  Anführung 
eines  Buches  nicht  besagt,  der  betreffende  Absatz  im  Texte 
sei  daraus  entnommen.  Ich  verweise  dadurch  nur  den  Leser, 
welcher  der  Sache  genauer  nachgehen  will,  auf  eine  ausführ- 
lichere Erörterung,  mag  auch  der  betreffende  Verfasser  ein  dem 
meinigen  entgegengesetztes  Resultat  daraus  gezogen  haben. 

Denn  so  vieles  ich  aus  jenen  Vorarbeiten  verwerten  konnte, 
so  notwendig  war  es,  in  dem  Gewirre  der  entgegengesetzten  und 
vermittelnden  Ansichten  die  Selbständigkeit  des  ürteiles  zu 
wahren.  Wer  von  den  offiziellen  Lernjahren  her  eine  bestimmte 
Anschauung  mitbringt  und  um  die  Hterarische  Produktion  sich 
wenig  bekümmert,  pflegt  die  Vorstellung  zu  haben,  eine  Ge- 
schichte der  griechischen  Literatur  kominlitjre  der,  welcher  nicht 
ein  älterer  angesehener  Gelehrter  ist ,  aus  einigen  Dutzend 
Schriften  zusammen. 

Bequem  wäre  dies  freilich,  aber  wie  viele  der  wichtigsten 
Fragen  sind  denn  so  geklärt,  dass  sich  eine  bedeutende  und 
gewichtige  Majorität  für  eine  bestimmte  Ansicht  entschieden 
hat?  Ist  nicht  vielmehr  der  Normalzustand  gerade  der,  dass 
die  Ansichten  extrem  und  unversöhnlich  sich  gegenüberstehen? 


Vorrede.  VII 

Wenn  man  nun  weder  für  „Gebildete"  schreibt,  noch  seine 
eigene  Ansicht  hinter  schwülstigen  Phrasen  verbirgt,  hat  man  hier 
überall  Partei  zu  ergreifen.  Glücklich  wer  einer  bestimmten 
Schule  angehört !  Er  macht  es  wenigstens  Lehrern  und  Freunden 
recht.  Ich  selbst  glaube,  ^^on  dem  Gedanken  ausgehend,  dass  die 
Kritik  der  neueren  Leistun^'^n  nicht  minder  notwendig  ist  als 
die  der  alten  Ueberlieferung,  alie  A^^ sichten  nüchtern  und  un- 
parteiisch geprüft  zu  haben. 

Mit  Rücksicht  auf  den  Raum  habe  ich  nach  Kürze  und 
Klarheit  des  Ausdrucks  gestrebt,  zumal  es  mir  persönhch  nicht 
zusagt,  einen  Panathenaikos  oder  Olympikos,  den  die  leidigen 
Thatsachen  Lügen  strafen,  zu  deklamieren.  Der  Literarhistoriker 
der  klassischen  Zeit  soll  dem  Leser  nicht  geistreiche  Schlag- 
wörter, welche  oft  nur  falsche  Vorstellungen  erzeugen,  an  die 
Hand  geben,  sondern  die  Lektüre  der  Werke  selbst  erleichtern 
und  zu  selbständigem  Urteil  anregen,  indem  er  getreuhch  dar- 
legt ,  was  wir  bereits  wissen ,  noch  nicht  wissen  und  nicht 
wissen  können.  Die  moderne  Fertigkeit,  politische  und 
literarische  Ereignisse  mit  spielender  Hand  zu  verknüpfen  — 
man  nennt  das ,  glaube  ich  ,  pragmatische  Darstellung  —  ist 
mir  leider  nicht  zu  eigen.  Nicht  der  Staat  ist  es ,  denke  ich, 
dessen  Schicksale  die  der  Literatur  bestimmen,  sondern  was 
man  mit  dem  Worte  ,, die  Gesellschaft"  bezeichnen  kann.  Selbst 
die  Perserkriege  sind  ja  an  der  griechischen  Literatur  spurlos 
vorübergegangen ,  aber  das  Luxusleben ,  das  der  daraus  ent- 
springende grosse  Aufschwung  des  Handels  mit  sich  führte, 
war  für  die  griechische  Bildung  von  ausserordentlicher  Be- 
deutung. 

Noch  manches  hätte  ich  auseinander  zu  setzen ,  was  in 
bestimmter  Absicht  geschehen  ist,  doch  darf  ich  die  Vorrede 
nicht  ungebührlich  verlängern,  denn  auch  der  zweite  Band  im 
besonderen  fordert  einige  Vorbemerkungen. 

Er  ist  der  Prosa  und  nicht  der  Poesie  der  athenischen 
Blütezeit  gewidmet,  weil  die  Sophistik  sowohl  das  klassische 
Zeitalter  insgesammt  beherrscht  als  auch  für  die  folgenden  Perioden 
eine  unvergleichlich  grössere  Bedeutung  als  die  gleichzeitige  Poesie 
besitzt,  wie  durch  diesen  und  den  folgenden  Teil  hoffentlich  darge- 
than  werden  wird.  Die  Prosa  ist  so  viel  als  möglich  im  Anschlüsse 
an  die  alten  Rhetoren  gegliedert,    wie   ich  mich  überhaupt  be- 


VIII  Vorrede. 

müht  habe,  an  die  Griechen  den  Masstab  ihrer  Zeit  und  ihres 
Landes  anzulegen.  Für  die  Geschichte  der  Beredsamkeit  ist 
Blass'  Werk  grundlegend,  aber  ich  glaube,  meine  volle  Selb- 
ständigkeit bewahrt  zu  haben ;  vor  allem  erscheint  die  Anord- 
nung des  Stoffes  verändert,  nicht  als  ob  ich  dadurch  still- 
schweigend gegen  Blass'  Disposition  polemisieren  wollte,  sondern 
weil  es  mir  förderlich  erschien,  den  Gegenstand  auch  von  einer 
anderen  Seite  zu  betrachten.  Die  Geschichte  der  Philosophie, 
wie  überhaupt  aller  Wissenschaften  ist  bei  Seite  gelassen ,  ab- 
gesehen von  einigen  Bemerkungen ,  welche  auf  die  Persönlich- 
keit eines  Gelehrten  Licht  werfen.  Indem  ich  noch  bemerke, 
dass  dem  dritten  Bande  ein  ausführhcher  Generalindex  beige- 
geben werden  wird,  erübrigen  mir  nur  ein  paat  persönliche 
Bemerkungen, 

Vor  zwei  Jahren,  als  der  erste  Band  dem  Abschlüsse  nahe 
war,  erfreute  mich  der  verewigte  Bursian,  der  durch  die  Aus- 
hängebogen mit  dem  Buche  bekannt  war,  durch  die  Annahme 
der  Widmung  und  das  Versprechen,  ,,mit  Wort  und  Schrift  ein 
'treuer  patronus"  desselben  zu  werden  ;  genau  sechs  Wochen, 
nachdem  er  das  Dedikationsexemplar  entgegengenommen  hatte, 
wurde  seine  Leiche  bestattet.  Gleichwohl  hat  sein  Urteil,  wie 
das  anderer  unbefangener  und  vorurteilsloser  Männer  der 
Wissenschaft  mich  freudig  an  die  Fortsetzung  des  Werkes 
gehen  lassen.  Allerdings  hat  es  an  Angriffen  nicht  gefehlt, 
aber  man  weiss,  dass  sie  von  Persönhchkeiten  ausgingen,  die 
an  der  Sache  nicht  uninteressiert  sind ;  zwei  haben  sich  sogar, 
indem  sie  aus  sehr  durchsichtigen  Gründen  mit  der  dürftigen 
Verklausulierung  ,,cum  grano  salis"  oder  „anscheinend"  sich 
deckten,  nicht  gescheut,  meine  persönliche  Ehre  anzugreifen. 
Auch  diesem  Bande  gegenüber  werden  dieselben  ohne  Zweifel 
da.sselbe  Verfahren  einzuschlagen  sich  beeilen.  Ich  kann  mich 
leicht  darüber  trösten,  nachdem  schon  der  erste  Band  eine  un- 
verhoftt  rasche  und  weite  Verbreitung  gefunden  hat.  Möge  der 
zweite  die  Zahl  der  Gönner  und  Freunde  noch  vermehren.  Es 
fällt  mir  nicht  ein,  auf  Grund  meines  Alters  eine  andere  Be- 
urteilung zu  erbitten  als  eine  gerechte,  aber  ich  vertraue  da- 
rauf, dass  es  in  der  Wissenschaft  keine  lex  annalis  gibt,  auf 
Grund  deren  Jüngere,  das  Streben,  ihr  nach  Kräften  zu  dienen, 
unterdrücken  müssten. 

München,  im  September  1885. 

Karl  Sittl. 


/x 


Inlialts-Uebertelcht. 


Seite 
Einleitung i 

Erziehung  und  Bildung;  politische  Veränderungen;  Volks- 
versammlung und  Gericht  in  Athen ;  Buchhandel  und 
Lesen;  die  Sophisten. 
(Kapitel:  Die  ersten  Sophisten 14 

Protagoras ;   Stesimbrotos   und  andere  Homeriker ;    Pro- 
dikos und  Hippias. 

2.  Kapitel :  Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  und  seine  Schule)  .  33 

Goigias;  Polos,  Likymnios,  Alkidamas  und  die  übrigen 
Gorgianer;  Stofle  der  Prunkreden. 

3.  Kapitel :  Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit  ....      56 

IvoraxundTeisias;  Thrasymachos;  Theodoros;  Antiphon  ; 
Polykrates  und  Zoilos;  Rückblick. 

4.  Kapitel:  Die  Anfänge   der  politischen  Beredsamkeit         ...      78 

Perikles   und   seine  Nachfolger;    Fälschungen    (IV.  und 
III.  Rede    des  Andokides);    die    Aristokraten:    „Vom 
Staat  der  Athener",  Theramenes,  Kritias,  Andokides. 
S.Kapitel:  Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates     ....      96 

Isokrates :  Leben  ;  gerichtliche  Reden ;  Reden  gegen  die 
Sophisten,  Helena  und  Busiris,  über  das  Gespann; 
die  politischen  Reden  (in  chronologischer  Folge) ;  „über 
den  Vermögenstausch" ;  Fälschungen  (Nikokles,  Briefe, 
Schreiben  an  Demonikos);  Verlorenes;  Stil  und  Ge- 
dankeninhalt; Freunde  und  Feinde;  Schüler;  Fort- 
leben der  Schriften  des  Isokrates ;  Handschriften  und 
Ausgaben. 
6.  Kapitel:  Lysias  und  isaios 141 

Lysias:  Leben;  Schulreden  und  Rhetorik ;  Gerichts- 
reden, ihre  Zeit  und  Echtheit;  Charakter  der  lysiaui- 
schen  Beredsamkeit;  Geschichte  der  Schriften,  Hand- 
schriften und  Ausgaben.  Isaios:  Leben;  Reden; 
Stil  und  Ethos ;  äussere  Geschichte  bis  auf  unsere  Zeit. 
T.Kapitel:  Demosthenes 166 

Biographien;  Leben  und  Wirken  (mit  Einschluss  der 
Staatsreden) ;  Charakter  und  Politik ;  die  unechten 
Staatsreden;  die  für  öffentliche  Processe  verfassten 
Reden;  Privatreden;  die  Kunst  des  Demosthenes; 
äussere  Geschichte  seiner  Schriften  vom  Altertum 
bis  auf  unsere  Zeit. 


8.  Kapitel : 

9.  Kapitel 


10.  Kapitel 


II.  Kapitel 


12.  Kapitel 


13.  Kapitel 


14.  Kapitel 


Seite 
Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes 246 

Aischines;  Hypereides;  Lykurgos;  Polyeuktos ;  Aristo- 
geiton;  Pytlieas;  Philinos  und  Kallikrates. 

Der  Dialog  (Plato) 270 

Die  Eristiker:  Zenon  und  Melissos,  die  ^v/.rj\  o'.aXE|Ei<:; 
Sokratischer  Dialog:  Die  Dialoge  von  zweifelhafter 
Echtheit,  Kebes,  Antisthenes,  Aischines;  Plato: 
Leben,  Charakter  und  Wissen,  unechte  Schriften, 
chronologische  Ordnung,  Abfassungszeit,  die  echten 
Werke  geordnet  nach  der  äusseren  Form,  Charak- 
teristik des  Dialoges,  Stil,  Nachahmer,  Kritik  und 
Erklärung  bis  auf  unsere  Zeit. 

Die  kunstlose  Geschichtsschreibung 352 

Städtechroniken ;  Hippeus  von  Rhegion ;  Antiochos  von 
Syrakus  ;  Xanthos ;  Genealogien  (Pherekydes) ;  Charon 
von  Lampsakos,  Hellanikos,  Skamon  und  Damastes; 
geographische  Werke  (Skylax). 

Herodot  und  Ktesias 368 

Plerodot:  Lebensgeschichte;  Weltanschauung;  Studien 
und  Kritik;  Komposition  des  Werkes;  Schluss  und 
alhnälige  Entstehung  desselben;  Stil;  äussere  Ge- 
schichte; Kteeias,  Deinonund  Herakleides  von  Kyme. 

Thukydides  und  Philistos 401 

Thukydides:  Biographien,  Leben,  Abfassungszeit 
seines  Buches,  religiöse  und  politische  Ansichten,  Zu- 
verlässigkeit, Komposition  des  Werkes,  Reden,  Stil, 
Wertschätzung  bei  den  Späteren,  Schoben,  Hand- 
schriften und  Ausgaben;  Philistos  und  Athanas. 

Xenophon 432 

Biographie  und  Charakter ;  Anabasis  (Sophainetos),  Hel- 
lenika,  Agesilaos ;  Kyropädie  und  sokratische  Bücher ; 
über  den  spartanischen  Staat  und  die  athenischen 
Finanzen;  Schriften  über  den  Reiterdienst;  Jagdhuch; 
Hieron;  Reihenfolge  der  Schriften;  der  jüngere  Xeno- 
phon; Stil;  Wertschätzung;  Handschriften u.  Ausgaben. 

Die  Fachliteratur .        .476 

Naturforscher:  Anaxagoras,  Archelaos  und  Diogenes; 
Leiikippos  und  Demokritos;  Ion  und  Andren;  Pytha- 
goreer  (Timaios,  Okelos,  Philolaos  und  Archytas). 
Mathematiker,  Astronomen  und  Mediciner.  Militärische 
Literatur. 


Einleitung. 


Erziehung  und   Bildung;  politische  Veränderungen ;   Volksversammlung  und 
Gericht  in  Athen;  Buchhandel  und  Lesen;  die  Sophisten. 


Vor  den  Perserkriegen  bewegte  sich  das  Leben  der  griechischen 
Staaten  in  einem  beschränkten  Kreise.  Adel  und  ererbter 
Reichtum  waren  die  leitenden  Mächte ;  selbst  wo  freiere  Ein- 
richtungen bestanden,  lag  in  der  Sitte  der  Väter  ein  gewichtiges 
Hindernis  durchgreifender  Aenderungen.  Der  Bürger  that  sich, 
wenn  anders  ihn  seine  Geburt  den  bevorrechteten  Ständen  zu- 
teilte, durch  natürliche  Klugheit  oder  die  Erfahrung  eines 
langen  Lebens  hervor.  Gebildete  und  Ungebildete  waren  noch 
kaum  geschieden,  denn  wenig  war,  was  zu  erlernen  notwendig 
oder  nützlich  schien:  Die  körperlichen  Uebungen  in  den 
Gymnasien  förderten  die  Wehrhaftigkeit  des  jungen  Bürgers, 
während  die  Musik  nach  der  allgemeinen  Ansicht  der  Griechen 
seine  Gefühle  und  Leidenschaften  regelte  und  mässigte.  Wenn 
der  Knabe  ausserdem  in  einigen  Dichtersprüchen  die  sittlichen 
Anschauungen  seines  Volkes  kennen  gelernt  hatte,  war  die 
Erziehung,  soweit  die  Eltern  sie  fremden  Lehrern  überliessen, 
abgeschlossen.  Die  Einführung  der  Schrift  vermehrte  den  Lehr- 
plan um  Lesen  und  Schreiben ;  denn  der  Bürger  bedurfte  dieser 
Kunst,  um  Gesetze  oder  öffentliche  Ankündigungen  verstehen 
und  Handelsgeschäfte  abschliessen  zu  können.  Alles  ward  ja 
auf  den  Staat  bezogen. 

Ueber  die  trostlosen  Wirren  des  politischen  Streites  erhob 
den  Griechen  der  Gedanke  an  die  Götter.  Auch  das  kleinste 
Städtchen  setzte  seinen  Stolz  darein,  sie  in  glänzender  Weise 
zu  feiern.  Alle  Schöpfungen  der  älteren  griechischen  Kunst 
standen   unmittelbar   oder   indirekt   mit   dem  Götterdienste   in 

Bittl,  Geschichte  d«r  griechischen  Literatur.  II.  1 


2  Einleitung. 

Verbindung.  Ebenso  verbanden  viele  Fäden  die  Poesie  mit  dem 
Kultus ;  denn  man  wusste  keinen  schöneren  Schmuck  der  Feste 
als  die  öffentliche  Recitation  oder  Aufführung  von  Dichtungen. 
Darum  stand  keine  griechische  Regierung,  am  wenigsten  die 
Tyrannis,  zurück,  wo  es  Künstler,  Musiker  und  Dichter  zu 
ehren  und  zu  belohnen  galt.  Von  der  öffentlichen  Meinung 
begünstigt,  ja  oft  verwöhnt  und  durch  die  langjährige  Tradition, 
welche  vom  Aelteren  auf  den  Jüngeren,  oft  auch  vom  Vater 
auf  den  Sohn  sich  vererbte,  ungemein  gefördert,  mussten  jene 
der  Vollkommenheit  immer  näher  kommen.  So  war  es  vor 
den  Perserkriegen  gewesen  und  so  blieb  es  auch  im  klassischen 
Zeitalter. 

Unter  ganz  anderen  Bedingungen  wuchs  die  klassische 
Prosa  heran.  Die  spärlichen  Inkunabeln,  die  am  Ende  des 
ersten  Bandes  eine  Stelle  fanden,  besassen  blos  für  die  Geschichte 
der  Wissenschaften  einen  gewissen  Wert;  es  gab  vor  den 
Perserkriegen  noch  keine  Prosaschriftsteller,  sondern  nur  Ge- 
lehrte, welche,  wiederum  für  Gelehrte,  die  Früchte  ihrer  Studien 
formlos  aufzeichneten.  Die  Masse  des  Volkes  blieb  davon  un- 
berührt, sie  redete  vielmehr  von  gelehrtem  Müssiggang,  den 
sich  nur  reiche  Leute  aus  Laune  gestatten  köimten.  Die 
Naturforscher  verfielen  wegen  ihrer  unpraktischen  Thätigkeit 
dem  Volkswitze  ^)  und  imponierten  ihren  Landsleuten  bloss 
dann,  wenn  sie  den  Bauern  das  Wetter  vorhersagten  oder  durch 
Ankündigung  von  Naturerscheinungen  abergläubische  Furcht 
verhüteten.  Herakleitos  ist  der  beste  Repräsentant  dieser 
menschenscheuen  Gelehrten,  welche  nicht  für  ihr  Volk,  sondern 
für  sich  und  ein  paar  Schüler  schrieben. 

Eine  Aenderung  aller  dieser  Verhältnisse  konnte  nicht 
von  dem  damaligen  Vororte  Griechenlands  ausgehen,  weil  in 
Sparta  die  militärische  Dressur  alle  übrigen  Interessen  einengte. 
Die  Jonier  dagegen  waren  von  jeher  die  neuerungssüchtigsten 
unter  den  Griechen ;  welcher  andere  Zweig  dieses  Stammes 
aber  hatte  im  fünften  Jahrhunderte  noch  Macht  und  Energie 
zu  Neuerungen  gewahrt  als  die  Athener?  Welche  Kraft  der 
weise  Solon    und  die   hochsinnigen  Peisistratiden    dem  kleinen 


1)  Ausser  den  Wolken  des  Aristophaues  .sind  z.  B.  Plat.  Theaet.  174  a. 
Xeuopb.  couv    ü,  8.     Biou  bei  Pluturch.  de  lib.  educ.   10  unzuführen. 


Einleitung.  3 

Staate,  von  dem  man  ehedem  kaum  sprach,  eiiigeflösst  hatten, 
trat  mit  einem  Male  nach  der  Vertreibung  der  Tyrannen  hervor  ^). 
In  kürzester  Zeit  erhob  sich  Athen,  das  niclit  lange  Vorher  nur 
mit  äusserster  Anstrengung  den  Sieg  über  Aigina  errangen 
hatte,  zu  einer  Seemacht.  Die  Eroberung  von  Chalkis,  die 
Unterstützung  der  jouischen  Stammesgenossen,  welchen  die 
mächtigen  Spartaner  kurzsichtig  ihre  Hilfe  verweigert  hatten, 
die  Anlegung  des  Piräushafens  und  der  erneute  Krieg  mit  der 
Nebenbuhlerin  Aigina  folgten  sich  Schlag  auf  Schlag,  augen- 
scheinlich um  desselben  Zieles  willen  bewusst  ins  Werk  gesetzt.  Die 
Perserkriege,  weit  entfernt  die  natürhche  Entwicklung  Athens 
aufzuhalten,  beförderten  sie  vielmehr  in  erstaunlichem  Masse. 
Dank  der  Schwerfälligkeit  Spartas  fiel  den  rührigen  Athenern 
mit  dem  grösseren  Teile  des  Ruhmes  zugleich  der  volle  materielle 
Gewinn  zu.  Seitdem  Athen  durch  den  Anschluss  der  Seestädte 
die  griechischen  Meere  und  den  gesammten  Handel  beherrschte, 
strömte  ein  ungeheurer  Reichtum  dort  zusammen,  welcher  den 
Athenern  gestattete,  ihre  Stadt  zur  schönsten  und  prächtigsten 
in  Griechenland  zu  erheben.  Die  Steuern  der  Bundesgenossen 
und  Unterthanen  kamen  in  gleicher  Weise  den  Götterfesten 
zu  Gute ;  denn  in  prächtigen  Tempeln,  Bildwerken  und  Festen 
zeigte  jede  hellenische  Stadt  ihren  Reichtum.  Nun  waren  auch 
die  materiellen  Grundlagen  für  die  herrliche  Entfaltung  der 
Poesie  und  der  übrigen  Künste  gegeben;  doch  unterscheidet 
sich  die  Periode,  welche  der  Sturz  der  Peisistratidenherrschaft 
und  die  Perserkriege  einer-,  die  Schlacht  von  Chaironeia  anderer- 
seits begränzen,  auf  diesem  Gebiete  nicht  prinzipiell  von  der 
älteren  Zeit. 

Als  aber  das  befreite  Athen  allmälig  zu  einem  Handels- 
und Industriestaate  wurde,  musste  es  seine  Verfassung  immer 
mehr  demokratisieren ;  war  es  doch  billig,  dass  die  Bürger,  auf 
deren  Arbeit  die  Macht  des  Staates  ruhte,  zum  mindesten  die 
gleichen  Rechte  wie  die  Grundbesitzer  erhielten.  Stufenweise 
ging  daher  Athen  zur  reinen  Demokratie  über  und  das  ganze 
Volk  wurde  souverän.  Jeder  beliebige,  mochte  er  reich  oder 
arm,  vornehm  oder  von  niederen  Eltern  sein,  konnte  nun  eine 


l)Herod.  5,78  'AS-Tjvaloi  TupavvEü6fj.£vot  p.Ev  oüSafiwv  Tuiv  otflac  neptoixeovTwv 
ijoav  td  noKi\iia  djielvotx;,  «TCaXXaj^ä-svtEC  8e  xupävvcov  jj.axp(i)  itptiüxot  syevovxo. 

1* 


4  Einleitung. 

politische  Rolle  spielen,  wenn  er  seinen  Mitbürgern  imponierte. 
Was  eröffnete  aber  dazu  am  sichersten  den  Weg  in  einer  Stadt, 
wo  die  Bürger  rasch  dachten  und  rasch  sprachen  ^),  wo  die  Kinder, 
wie  die  Griechen  scherzend  behaupteten,  um  einen  Monat  früher 
als  anderswo  zu  reden  begannen  ^),  wo  man  kaum  ein  grösseres 
Vergnügen  kannte,  als  bald  selbst  zu  sprechen  bald  andere 
sprechen  zu  hören  ^)?  Selbstverständlich  Beredsamkeit.  Der 
Buchstabe  der  Verfassung  räumte  freilich  jedem  Bürger  das 
Recht  öffentlich  seine  Meinung  zu  sagen  (loYjYopta)  ein*),  aber 
wo  eine  aufgeregte  lärmende  Volksversammlung  mit  beissendem 
Witze  alles,  was  ihr  lächerlich  schien,  sofort  rügte  und  den 
Redner,  der  nicht  gefiel,  am  Weitersprechen  hinderte  ^),  konnte 
der  Unerfahrene  nicht  ohne  weiteres  die  Rednerbühne  besteigen. 
Wer  aber  nicht  in  Verwirrung  geriet  und  den  rechten  Ton  an- 
zuschlagen wusste,  erreichte  mit  dem  lebendigen  Worte  alles. 
Die  grosse  bunt  zusammengesetzte  Volksversammlung  beriet, 
zumal  in  aufgeregten  Zeiten,  mit  wenig  Ueberlegung  und 
schwankte  häufig  zwischen  Extremen  hin  und  her.  Der  Redner 
stand  hier  also  nicht,  wie  unsere  Parlamentarier,  geschlossenen 
Parteien  mit  vorgefassten  Meinungen  gegenüber,  sondern  vor 
einer  Zuhörerscliaft,  die  er  zu  Gunsten  seiner  Ansicht  zu 
stimmen  hoffen  durfte.  Weil  demnach  das  Volk  in  der  Regel 
nach  dem  augenblicklichen  Eindruck,  den  es  durch  eine  ge- 
schickte Rede  empfangen  hatte,  stimmte,  lässt  sich  in  der 
athenischen  Geschichte  selten  eine  konsequente  Politik  wahr- 
nehmen.    Durch  die  Redekunst  also  wussten  die  Staatsmänner 


1)  Dicaearch.  vit,  Graec.  1,4.  Ps.  Demosth.  10,3  u.  A. ;  Herod.  1,  60 
xoioi  npcütotot  XsYOjJLEVotot  elvat  *EXXT|va)v  ootpifjv.  Lsocr.  8,  52  ixpooTco'.oüfjiEvcii 
84  oo^ptutaTot  xü)v  'KXX4jvu>v  eivai.     Plat.  Protag.  319  b. 

2)Tertulliau.  de  auima  20. 

3)  Plato  leg.  l,(341e  tyjv  moXiv  Sitavtsi;  4]}jlü)V  "EXXtjvec  6jcoXajjißovouoiv 
(«C  ^tXoXoYÖC  t4  satt  xal  koX6Xoi('o<;.  Die  Wandlungen,  welche  das  Wort 
<ftX6XoYo<;  dnrchzumachen  hatte,  beleuchtet  K.  Lehrs  de  vocabulis  tptXöXoYoc 
YpajtjiaTixoi;  xpiTixö^,  Königsberg  1838  (abgedruckt  hinter  Herodiani  scripta 
tria  emendntioru,  Königsberg  1848). 

4)  K.  Hermann  griechische  Staatsalterthümer  §  66,  6;  z.  B.  Demosth. 
15,  18.  21,  124. 

5)  Wie  es  selbst  in  der  Volksversammlung  einer  kleinen  griechischen 
Stadt  zuging,  schildert  Dion  Chrysoatomos  7,  24  fi".;  Lucian  (Prometh.  in 
verb.   1)  erwähnt  den  ^Lü%'zr^^  ''Axtixöc. 


Einleitung.  5 

Athens  die  Souveränität  des  Volkes  für  ihre  Politik  auszubeuten  ^), 
durch  die  Beredsamkeit  allein  erhielt  sich  Perikles  Jahrzehnte 
lang  sicherer  an  der  Spitze  des  Staates  als  ein  Gewaltherrscher 
mit  einem  grossen  Söldnerheere  vermocht  hätte. 

Die  Demokratie  gestaltete  in  Athen  sogar  die  Gerichte  um. 
Es  gab  hier  keine  geschlossenen  Gerichtshöfe,  sondern  Volks- 
gerichte. In  jenen  hätte  die  gerichtliche  Beredsamkeit  nie  ihre 
Blüte  erlangt,  denn  Richterkollegien  würden  die  sachliche  Führung 
Von  Anklage  und  Verteidigung  erzwungen  haben.  In  Athen 
selbst  überdauerte  nur  das  geheiligte  Gericht  auf  dem  Areopag 
die  demokratischen  Reformen  und  hier  bestand  noch  die  alte 
Satzung  in  Kraft,  dass  beide  Parteien  blos  über  das  zum  Falle 
selbst  gehörige  sprechen  sollten  ^);  widrigenfalls  gebot  ihnen 
der  Herold  Einhalt^).  Die  gleiche  Geschäftsordnung  galt  in 
mehreren  —  man  darf  wohl  sagen,  in  allen  oligarchischen 
Staaten  Griechenlands  *).  Wie  nützlich  solche  Bestimmungen 
waren,  zeigten  die  gewöhnHchen  Gerichte  Athens.  Die  Mangel- 
haftigkeit der  Gesetzgebung  hätte  durch  geübte  Richter  aus- 
geglichen werden  können,  aber  wahrhaft  verhängnisvoll  wurde 
sie  bei  den  grossen  Schaaren  von  Geschworenen,  welche  eine 
oberflächliche  Kenntnis  der  Gesetze  mitbrachten  und  zum  grössten 
Teile  den  niederen  Klassen  der  Bürgerschaft  angehörten,  denn 
solche  lockte  der  Richtersold.  Wie  sich  dem  entsprechend  die 
Geschworenen  nicht  gerade  würdig  benahmen^),  so  trugen  die 
streitenden  Parteien  ihren  Neigungen  Rechnung,  wenn  sie  sich 
gegenseitig  mit  Schmähworten  überschütteten.  Den  meisten 
Richtern  fehlten  die  zur  Entscheidung  einer  schwierigen  Streit- 
frage notwendigen  Kenntnisse.  Da  ihnen  jedoch  die  Gesetze 
von  den  Parteien  vorgelesen  und  erklärt  wurden,  hätten  auf- 
geweckte. Köpfe  danach  ohne  grosse  Mühe  ein  Urteil  fällen 
können,    wenn   nur  die  Zeugenvernehmung  viel   mehr  als  eine 


1^  Isocrat.  15,  230  ff.;  vgl.  auch  Plato  com,  fr.  50.  Ps.  Lys.  entxatp.  19. 
Noch  später,  als  die  Beredsamkeit  nicht  mehr  dieselbe  Bedeutung  hatte,  klingt 
dies  nach  (z.  B.  Tacit.  dial.  5.  Dio  Chrys.  XVIII.  Procop.  epist.  80). 

2)  Antiph.  6,  9.  14.  Lys.  3,  46.  7,  42.  Lycurg.  Leoer.  12  u.  A.,  s.  Spengel 
Aristo telis  ars  rhetorica  II  p.  14  f. 

3)  Lucian.  Anachars.  19  (von  Quintilian  4,  1,  7  falschlich  verallgemeinert), 

4)  Aristot.  rhetor.  1,1  p.  1354  a  18. 

5)  Aristoph.  Vesp.  622  ff. 


ß  Emleitnng. 

blosse  Form  gewesen  wäre.  Denn  die  Bürger  trauten  sich 
untereinander  so  wenig  Glaubwürdigkeit  zu,  dass  die  Aussagen 
der  freien  Zeugen  wenig  galten^).  Man  zog  ihnen  die  auf  der 
Folter  erpressten  Aussagen  gemeiner  Sclaven  vorl  Unter  solchen 
Verhältnissen  war  den  Processierenden  ihr  Verfaliren  klar  vor- 
gezeichnet. Es  galt,  nicht  blos  sein  Recht  durch  sachgemässe 
Beweise  darzuthun,  da  ja,  wer  an  der  Wahrhaftigkeit  der 
Zeugen  zweifelte,  dem  in  eigener  Sache  Sprechenden  noch 
weniger  traute,  als  die  Richter  in  die  rechte  Stimmung  zu  veV- 
setzen  ^).  Der  Ankläger  pflegte  in  der  Regel  die  Geschworenen 
dadurch  zur  Erbitterung  zu  reizen,  dass  er  ein  Zerrbild  von 
dem  Charakter  des  Angeklagten  entwarf  und  ihm  womöglich 
Versäumung  einer  Bürgerpflicht  oder  undemokratische  Gesinnung 
nachzuweisen  versuchte.  Der  Angeklagte  hingegen  bemühte 
sich  um  das  Mitleid  der  Richter,  zu  welchem  Zwecke  er  Thränen 
und  Bitten,  mit  Schmeicheleien  vermischt,  nicht  sparte  ^)  und 
zum  Schlüsse  oft  die  weinenden  Kinder^)  oder  den  alten  Vater 
vorführte^),  oder  er  wagte  durch  Schmähung  des  Gegners  die 
Aufmerksamkeit  von  den  Klagepunkten  abzulenken^).  Auch 
konnte  es  nicht  schaden,  wenn  man  die  Richter  durch  Fabeln 
oder  Witze  in  vergnügte  Stimmung  versetzte '').  Schon  zu 
Üdysseus'  Zeiten  hatte  den  Griechen  die  wohl  ersonnene  Lüge 
besser  als  die  ungeschmückte  Wahrheit  gefallen ;  nicht  umsonst 
war  die  Beredsamkeit,  gerade  wie  der  Betrug,  dem  Hermes 
geweiht  **).  Man  gab  sogar  im  Notfalle  die  Gesetze  ungenau 
an^).  Dabei  ist  übrigens  nicht  zu  vergessen,  dass  die  allgemeine 
Anschauung  dem  Feinde  mit  allen  möglichen  Mitteln  zu  schaden 
geradezu  gebot. 

Kein  alter  Rhetor   hat  deshalb  den   klassischen   Rednern 


1)  Die  hieher  gehörigen  Stellen  der  Redner  dürften  bekannt  sein.     Ari- 
stophanes  bekräftigt  sie  (Vesp.  782). 

2)  Vgl.  Aristot.  rhetor.  1,  1  p.   1364  b  16  ff. 

3)  z.  B.  Aristoph.  Vesp.  664 f.  Demostb.  21,  75. 

4)  Aristoph.  Vesp.  568  ff. 

6)  Aeschin.  de  falsa  legat.  179. 

6)  Aeschin.  Timarch.  178. 

7)  Vgl.  Aristoph.  Vesp.  566  ff. 

8)  Lucian.   Herc.  4;    über  'Kpix-rj';  XÖYtoc   Preller   griechische   Mytho- 
logie V  340.  342. 

9)  Bärmann  Rhein.  Mus.  :i2,  383  f. 


Einleitung.  7 

trotz  ihrer  Künste  alles  geglaubt;  sie  brachten  ihnen  ebenso 
wenig  naive  Gläubigkeit  entgegen,  wie  die  Athener,  zu  welchen 
jene  gesprochen  hatten  ^).  Diese  verhehlten  sich  nicht,  dass  oft 
der  blendende  Schein  oder  die  Leidenschafthchkeit  des  Wortes 
über  die  Gerechtigkeit  der  Sache  den  Sieg  davon  trug  ^).  Der 
athenische  Staat  glaubte  die  Gleichstellung  aller  Bürger  herbei- 
zuführen, wenn  er  von  jedem  verlangte,  dass  er  seine  Sache 
vor  Gericht  selbst  vertrete;  nur  für  die  Frauen  sollte  ein  Ver- 
wandter einstehen.  ■^).  Dank  dieser  Massregel  war  der  Unschuldige 
verloren ,  wenn  er ,  selbst  ungeübt ,  einem  nichtswürdigen 
Rabulisten  gegenüber  stand.  Der  Gesetzgeber  erreichte  daher 
nichts  anderes  als  dass  ein  lästiger  Schwärm  von  Sykophanten 
heranwuchs ,  welche  die  wohlhabenden  Bürger  mit  frivolen 
Processen  verfolgten.  Indem  solche  Menschen  „beinahe  ihre 
Wohnung  in  den  Gerichtssälen  aufschlugen",*)  erwarben  sie 
sich,  bald  anklagend  bald  bei  anderen  Processen  zuhörend, 
eine  grosse  Uebung  in  den  beUebten  Schlagworten  und  Finten. 
Die  ruhigen  Leute  wurden  dadurch  genötigt,  bei  Männern, 
welche  durch  genaue  Kenntnis  der  Gesetze  und  durch  Er- 
fahrung hervorragten,  Hilfe  zu  suchen.  Ein  solcher  Rechts- 
konsulent war  wegen  der  argen  Processiersucht  der  Athener 
eine  vielumworbene  Persönlichkeit.  ^)  Seine  Ratschläge  erstreckten 
sich  wohl  zunächst  auf  die  allgemeinen  Gedanken  der  Rede;  es 
ging    aber   aus    diesen    Kreisen    vielleicht   auch   manche   halb 


1)  Griechische  Belege  sind  überflüssig;  einige  römische  stellt  Teuf  fei 
röm.  LG  §  43,2  zusammen,  unter  den  Plin.  epist.  2,3  (nos  enim  qui  in  foro 
verisque  litibus  teriniur  mnltum  malitiae,  quamvis  nolimus,  addiscimus) 
Beachtung  verdient.  Eine  unbefangene  Würdigung  der  antiken  Beredsamkeit 
fand  man  im  vorigen  Jahrhunderte  bei  Gillies  (Uebersetzung  des  Lysias  und 
Isokrates),  Eeiske  (Uebersetzung  des  Demosthenes  und  Aeschines)  und  Herder 
(Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  XIH  4  S.  429  Kurz);  in  neuerer  Zeit 
hatte  sie  besonders  an  L.  Spengel  einen  sachkundigen  Beurteiler. 

2)  Eurip.  fr.  67  N:  d.-(X(uaaicf.  81  KoWä-n-K:  XYjtp^slc  öcvijp  Bixata  Xe^a«; 
Tiaoov  zh-^lMoaoo  (pepet;  Ps.  Andocid.  4,27.  Vgl.  Demosth.  24, 156.  Aeschin  3,248. 

3)  Meier  u.  Schümann,  der  attische  Process  S.  707  ff. 

4)  So  drückt  sich  Isokrates  15,  38  aus;  vgl.  Plat.  Theaet.  17,  2  c:  sv 
StxaaTfjpio'-c  £x  vecuv  xuXtv?o6|j.£voi,  auch  Aristoph.  Nub.  1003  f. 

5)  Aristoph.  Nub.  469  ff.  Von  Antiphon  sagt  Thukydides  8,  68,  1 :  xouc 
ftY«)VtCofJ.Evouc  xal  ev  8'.-/caoxY]pt({)  xal  Iv  S-rjutp  ^Xeiot«  elz  ivfjp,  Satte 
4o}ißoüXe6aaix6  xi  Soväjxevoc  üxpsXelv. 


3  Einleitung. 

rhetorische  Regel  hervor,  z.  B.  dass  man  am  Schlüsse  die  be- 
sprochenen Hauptpunkte  kurz  zusammenstellen  solle  ^).  Ganz 
besonders  aber  ist  ihnen  wahrscheinlich  ein  Teil  der  sogenannten 
Gemeinplätze  zu  danken,  welche  die  Komiker  schon  früh  zur 
Parodie  reizten  ^).  Man  schritt  von  der  blossen  Beihilfe  der 
Rechtskonsulenten  dazu  fort,  dass  sie  ihren  Klienten  die  Reden 
vollständig  aufsetzten;  letztere  hatten  dann  blos  das  Koncept 
auswendig  zu  lernen.  Aber  diese  Unterstützung  trug  einen 
durchaus  privaten  Charakter;  Advokaten  in  unserem  Siime 
duldete  das  Gesetz  nicht.  Doch  fehlte  es  nicht  an  Mitteln,  es 
zu  umgehen.  Schon  dass  ein  Anderer  für  Geld  die  Rede 
schrieb,  widersprach,  weil  der  reiche  Bürger  dadurch  dem 
ärmeren  überlegen  war,  dem  ganzen  Geiste  der  Gesetzgebung. 
Auch  die  Erlaubnis,  Fürsprecher  (ouvYjYopot)  beizuziehen,  führte 
zur  faktischen  Aufhebung  des  Gesetzes;  denn  es  kam  vor, 
dass  der  Ankläger  oder  Angeklagte  nur  um  der  Form  willen 
wenige  Worte  sprach  und  dem  angeblichen  Fürsprecher  die 
Hauptrede  Überhess  ^).  Erst  in  der  Jugendzeit  des  Demosthenes 
kam  die  Sitte  auf,  derartige  Fürsprecher  für  Geld  zu  mieten*), 
doch  durfte  die  Oeffentlichkeit  nicht  wissen,  dass  sie  nicht  aus 
Ueberzeugung  und  Freundschaft,  sondern   für  Geld    auftraten. 


1)  riat.  Lysis  222e. 

2)  Aristoph,  Vesp.  950  f.  Kratinos  bei  Clem.  ström.  6,  748  (Diels 
Sitzungsber.  der  Berliner  Akad.  1884  S.  367  u.  U.  v.  Wilamowitz  homer. 
Untersuch.  S.  312  A.  9  nehmen  an,  er  parodiere  ein  bestimmtes  Handbuch, 
vgl.  auch  Aristot.  rhetor.  3,  7  p.  1408a  34  mit  Spengels  Note.  Die  Volks- 
redeu  blieben  ebensowenig  von  solchen  Allgemeinheiten  frei  (parodiert  bei 
Aristoph.  Thesmoph.  383  flf.).  Genauere  Untersuchungen  über  die  Gemeinplätze 
sind  zu  wünschen;  Abhandlungen,  wie  Gust.  Gebauer  de  praeteritionis 
Ibrniis  apud  oratores  Atticos,  Leipzig  1874  (Festschrift  von  Zwickau)  und  de 
hyjwtacticis  et  paratacticis  argunienti  ex  contrario  formis  quae  reperiuntur 
apud  oratores  Atticos,  Zwickau  1877;  K.  Schepe  de  trausitionis  formuJis 
quibus  oratores  Attici  praeter  Isocratem  Aeschinem  Demosthenemque  ntuntor, 
Pr.  V.  Bückeburg  1878,  auch  Mor.  H.E.Meier  opuscula  academica  II  (1863) 
p.  307  ff.  streifen  das  Gebiet  nur. 

3)  So  geschah  es  bei  den  Reden  für  Phormion,  und  gegen  Neaira, 
wahrscheinlich  auch  im  Krauzprozesse. 

4)  Demosth.  61,  16.  Lycurg.  Leoer.  138.  Dinarch.  1,  111;  vgl.  Plat. 
leg.  11,  938  b.  Nach  Ps.  Plut.  848  e  war  Hypereides  der  erste,  dem  wider- 
spricht aljer  die  Stelle  bei  Plato. 


Einleitung.  9 

Demnach  darf  man  nicht  einmal  diese  als  Advokaten  in  unserem 
Sinne  bezeichnen. 

Für  die  Verhandlungen  in  der  Volksversammlung  war 
fremde  Beihilfe  nicht  üblich.  Wahrscheinlich  genügten ,  wie 
jetzt  in  Frankreich ,  die  pohtischen  Klubbs  (sratpiai)  dem 
dringendsten  Bedürfnisse ;  aber  die  Strebsamen  begehrten  eine 
förmliche  Vorbildung,  welche  ihnen  nicht,  wie  wir  meinen 
möchten,  historische,  geographische  und  uationalökonomische 
Kenntnisse,  sondern  Beredsamkeit  und  Schlagfertigkeit  gäbe^). 
Anaxagoras  konnte  ihnen  das  noch  nicht  bieten,  was  sie  be- 
gehrten, wiewolil  er  durch  die  Annahme  eines  ordnenden  Welt- 
geistes gewissermassen  den  ersten  Schritt  von  der  Naturkunde 
zur  Staatswissenschaft  machte  und  zuerst  Dilettanten  zu  Schülern 
hatte.  Wenn  auch  die  Pythagoreer  für  das  bürgerliche  Leben 
erzogen  wurden,  widersprach  doch  ihr  Cliquenwesen  und  ihre 
Geheimniskrämerei  dem  demokratischen  Geiste  allzu  sehr. 

In  Athen  bereiteten  also  die  reine  Demokratie  und  die 
schlimmen  Zustände  der  Rechtspflege  den  günstigsten  Boden 
für  einen  Mann,  welcher  ehrgeizige  Jünglinge  zur  Teilnahme 
am  öffenthchen  Leben  heranbilden  wollte;  hier  besassen  auch 
die  Bürger  die  notwendige  Begabung'^)  und  Regsamkeit,  um 
das  Neue  rasch  zu  durchdringen  und  bald  selbstthätig  zu  ver- 
vollkommnen. In  den  nicht  demokratischen  Staaten  konnte 
die  neue  Bildung  keine  festen  Wurzeln  fassen,  weil  sie  mit 
dem  öfifentHchen  Leben  kaum  in  Zusammenhang  stand,  sondern 
mehr  die  augenblickliche  Laune  reicher  Aristokraten,  die  bald 
wieder  zum  Pferdesport  zurückkehrten,  ausmachte;  darum  hatte 
zwar  Gorgias  in  Thessalien  noch  grössere  Erfolge  als  in  Athen 
aufzuweisen  und  doch  hinterliess  sein  Aufenthalt  dort  keine 
Spuren.  Die  Böoter  und  Eleer  waren  wegen  ihrer  schweren 
Zunge  verrufen ,  den  Spartanern  und  Argivern  fehlte  es  zwar 
weder  an  Schlagfertigkeit  noch  waren  sie  für  Beredsamkeit 
unempfänglich  ^),    aber  wortreich   und   schön   zu    sprechen  ver- 


1)  Ti  av  stitotfJiEV  a^töv  (töv  oocptoxYjv)  eivat,  du  ScüxpatEC?  ^  EiriOTaxfjv 
Toö  TCOfTjoai  Seivöv  XeYetv;  sagt  der  junge  Hippokrates  auf  dem  Wege  zu  Pro- 
tagoras  (Plat.  Protag,  312  c). 

2)  Plato  leg.  1,  642  c  xo  xs  ötzo  ttoXXcüv  XeYOfisvov,  wc  8oot  'AS-vjvatwv 
slalv  afot%-oi,  Stacpopovxtu?  elal  zoiobzoi,   Sonsl  äXr^d-iora.xa  Xifso^-at. 

3)  Darauf    deutet    die    Erzählung    bei    Aeschin.    1,    180  f.;    daher   sind 


]  Q  Einleitung. 

standen  sie  nicht  und  begehrten  auch  nicht  danach.  Die 
Fürsten  interessierten  sich  für  Poesie  und  Musik,  die  ihrer 
Herrschaft  Glanz,  ihren  Unterthanen  Zerstreuung  gewährten, 
aber  Sophisten  waren  selten  an  den  Höfen  zu  finden,  ausser 
wo,  wie  auf  Cypern  und  Makedonien  der  Zusammenhang  mit 
der  Bildung  Griechenlands  demonstrativ  zu  wahren  war  oder 
wenn,  wie  in  Syrakus,  ein  Freund  der  Philosophie  des  Tyrannen 
Launen  bestimmte. 

Neben  den  grossen  Ereignissen,  welche  die  Weltgeschichte 
bewahrt,  üben  auch  scheinbare  Kleinigkeiten  oft  einen  nicht 
unbedeutenden  Einfluss  aus.  Dichtungen  kann  man  leicht 
auswendig  lernen  und  der  Grieche  hörte  sie  noch  in  der 
klassischen  Zeit  Heber  recitiert  oder  gesungen  als  er  den  blossen 
Text  in  einem  Buche  las.  Die  Prosa  dagegen  ist  an  die  schrift- 
liche Aufzeichnung  gebunden ;  oder  will  man  Märchen,  Fabeln 
und  andere  Erzählungen,  wie  sie  selbst  das  ungebildetste  Volk 
besitzt,  zur  Prosa  rechnen?  Wenn  es  also  vor  Erfindung  der 
Schrift  keine  Prosa  gibt,  so  ist  auch  das  Material,  auf  das  ein 
Volk  schreibt,  nicht  gleichgiltig ;  denn  solange  man  Stein  oder 
Metall  benützte,  war  ebensowenig  eine  Prosaliteratur  möglich, 
man  müsste  denn  trockenen  Inschriften  die  Ehre  dieser  Be- 
zeichnung erweisen.  Erst  die  Seeherrschaft  Athens  verhalf  den 
Griechen  zu  dem  unscheinbaren,  aber  unentbehrlichen  Hilfs- 
mittel, dem  Papy  ros  ^);  wenn  sich  auch  der  Handel  gewiss  schon 
früher  dieses  Artikels  bemächtigt  hatte,  kam  jedenfalls  erst, 
seit  Athen  mit  Aegypten  in  engen  Verkehr  getreten  war,  das 
Papier  in  solcher  Masse  nach  Athen,  dass  es  allgemein  zu- 
gänglich wurde.  Nun  entstand  auch  ein  Buchhandel  und 
dieser   hatte    naturgemäss    seinen    Centralsitz    in    Athen.      Im 


Qnintil.  2,  16,  4  und  Porphyr,  abst.  4,  3  p.  160,  26  N  übertrieben.  Die 
richtige  Mitte  ist  Plat.  Hipp.  maj.  283eflf.  angedeutet.  Ob  am  Grabmal  des 
Leonidas  und  Pausanias  schon  in  alter  Zeit  Gedächtnisreden  gehalten  wurden 
(Pausan.  3,  14,  1),  ist  sehr  zu  bezweifeln. 

1)  Ueber  Papyro.s  und  Buchhandel  in  Griechenland:  Becker  Charikles  I 
207 ff.  TI  113 flf.;  Egger  lettre  ä  M.  Didot  sur  le  prix  du  papier  dans  l'antiquitö, 
Paris  1857;  Rieh.  Schöne  Jahrbb.  f.  Phil.  101,  802  f.;  W.  S c h m i t z  Schrift- 
steller und  Buchhändler  in  Athen  und  im  übrigen  Griechenland,  Heidelberg  1876; 
Th.  Birt  das  antike  Buchwesen,  Berlin  1882. 


Einleitung.  11 

fünften  Jahrhunderte  konnten  bereits  Privatleute  Bibhotheken  ^) 
anlegen  —  freilich  Bibliotheken  von  so  beschränktem  Umfange 
als  vor  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  einem  einzelnen 
möglich  war.  Wenn  man  aber  die  Schriften  des  Anaxagoras 
um  höchstens  eine  Drachme  kaufen  konnte^),  befremdet  es 
nicht,  dass  am  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  Bücher  in  aller 
Händen  zu  finden  waren  ^) ;  selbst  nach  den  Kolonien  gingen 
grosse  Büchersendungen  ab*).  Einen  grösseren  Leserkreis  mögen 
freilich  nur  Verordnungsblätter,  Prophezeiungen  und  Koch- 
bücher gehabt  haben  ^) ;  Aristoteles  meinte,  verschiedene  Volks- 
redner hätten  blos  das  gastronomische  Gedicht  des  Philoxenos 
gelesen  und  auch  dieses  nicht  ganz  ^).  Immerhin  konnten  aber 
die  Sophisten,  welche  Musterreden  herausgaben,  auf  Absatz 
rechnen.  Historische  und  fachwissenschaftliche  Werke  dagegen 
beschränkten  sich  auf  gelehrte  Leser  ^) ;  sonst  wäre  es  nicht 
möglich,  dass  die  Schriften  des  Herodotos  und  Thukydides  so 
wenig  Beachtung  fanden  und  bei  Atliens  Rednern  historische 
Fehler  eine  gewöhnliche  Erscheinung  sind.  Die  Gebildeten 
lasen  in  der  Regel  nur  rhetorisch  geschriebene  Bücher,  welche 
sie  unterhielten  und  zugleich  in  die  kunstreiche  Handhabung 
der  Sprache  einführten;  doch  ist  das  Wort  ,, lesen"  eigentlich 
nicht  einmal  hier  am  Platze.  Im  allgemeinen  galt  die  Nieder- 
schreibung nur  als  ein  Surrogat  des  lebendigen  Wortes,  das 
sie  wohl  äusserlich  festhalten,  aber  nicht  ersetzen  könne;  diese 
Ansicht,    welche  noch  Plato    im  Phaidros    ausdrückte,    spiegelt 


I 


1)  Der  locus  classicus  über  die  Bibliotheken  ist  Athen,  epit.  I  p.  3a; 
Euripides  Aristoph.  Kau.  943.  1409,  vgl.  Eurip.  Erechth.  fr.  370,  6  N;  Euthy- 
demos  Xenoph.  memor.  4,  2,  1;  über  Eukleides  E.  Curtius  griechische 
Geschichte  III  ^  S.  755  A.  32.  Das  Wort  ßtßXioö-fjxf]  kommt  zuerst  bei  dem 
jüngeren  Kratinos  (fr.  11  Mein,  bei  Pollux  7,  211),  ßißXioirojXfjc  bei  den 
Komikern  Aristomenes  (Pollux  a.  O.)  und  Theopompos  (Zonar.  lex.   s.  v.)  vor. 

2)  Plato  apol.  p.  26  de.  Das  Papier  w^ar  bereits  so  wohlfeil,  dass  die 
Weihrauchhändler  es  zum  Einwickeln  verwendeten  (Anekdote  au«  Chamaileon 
bei  Athen  8,  374  b). 

3)  Aristoph.  Ran.  1114  ßtßXiov  x'  e/wv  sxaoTOi;  fiavA-avei  xa.  Ss^tä. 

4)  Xenoph.  Anab.  7,  5,  14. 

5)  Ueber  die  beiden  ersten  Arten  ist  Aristophanes  in  den  Vögeln  (wo 
ein  ({^•fjcpiafi.aTOTCcüXTjc  auftritt)  und  Kittern  zu  vergleichen. 

6)  Aristot.  bei  Athen,  1,  6d. 


12  Einleitung. 

sich  in  der  griechischen  Bezeichnung  (avaYiY^w'^xsiv)  ,, wieder  er- 
kennen". Damm  las  man  nicht,  sondern  Hess  sich  vorlesen. 
Selbst  Isokrates,  der  doch  nie  öffentlich  auftrat,  bestimmte 
seine  Reden  nicht  dazu,  mit  den  Augen  gelesen  zu  werden. 
Vielmehr  las,  wer  ein  Exemplar  einer  Schrift  erlangte,  dasselbe 
seinen  Freunden  vor  oder  übertrug  dieses  Geschäft  einem 
Sklaven  ^) ;  eifrige  lernten  auch  wohl  die  Abhandlung  aus- 
wendig, um  des  Buches  entraten  zu  können  ^).  Aus  diesem 
Grunde  achteten  die  Schriftsteller  ungemein  auf  den  Wohl- 
klang, indem  sie  stets  an  Hörer,  nicht  an  Leser  dachten.  Noch 
weniger  spielte  die  Schrift  bei  den  Werken  der  Dichter  eine 
bedeutende  Rolle ;  man  las  sie  blos,  um  Stellen  zu  memorieren 
und  auch  die  sogenannten  Lesedramen  waren  nicht  für  Leser 
bestimmt,  sondern  sie  wurden  in  Privatcirkeln  vorgelesen. 

Diese  äusseren  Momente  wirkten  mit,  um  jene  eigenartige 
Kulturbewegung,  welche  man  mit  dem  Namen  derSophistik 
zu  belegen  pflegt,  zu  fördern ;  hervorgerufen  aber  ward  sie, 
wie  wir  oben  gezeigt  haben,  durch  die  pohtischen  und  gericht- 
lichen Zustände  Athens;  der  attische  Staat  hat  selbst  die 
Sophisten  herangezogen  ^).  Da  die  Gründe  der  Entstehung 
nicht  durchweg  die  reinsten  waren,  konnte  die  Sophistik  nicht 
eine  ethisch  befriedigende  Form  annehmen ,  zumal  seit  die 
Stürme  des  peloponnesischen  Krieges  auf  das  Rechtsgefühl  zer- 
setzend einwirkten^).  An  sich  war  sie  jedoch  der  Moral  nicht 
feindlich,  sondern  ignorierte  sie  einfach.  Wer  aber  deshalb 
mit  ihr  rechten  will,  muss  dann  auch  mit  Plato  die  Poesie 
oder  wenigstens  mit  Rousseau  das  Theater  verwerfen.  Die 
Sokratiker  jedoch,  welche  alles  auf  die  Moral  bezogen,  kämpften 
natürlich  gegen  jenen  Indifferentismus  erbittert  an,  wobei  sie 
aber  gera<ie  durch  ihre  unermüdliche  Polemik  bezeugten,  wie 
tief  die  sophistische  Denkweise  in  die  gebildeten  Kreise  einge- 
drungen war.  Das  gewöhnliche  Volk  hasste  die  Sophisten  als 
Atheisten  und  als  Erzieher  von  Sykophanten,  zugleich  ver- 
achtete es  au  ihnen  die  fremde  Abkunft  und  den  Gelderwerb, 
wegen    dessen  sie,    wie  die    Aerzte,    mit  den  geringgeachteten 

1)  DicH  ist  in  Plato«  Theaitetos  der  Fall. 

2)  So  handelt  der  platonische  Phaidros. 
8)  Vgl.  Isoer.  15,  296  f. 

4)  Thnkydid.  3,  82. 


Einleitung.  1 3 

Handwerkern  zusammengeworfen  wurden.  Der  allgemeine 
Name  der  Sophisten,  der  ursprünglich  jeden,  welcher  irgend 
eine  Kunst  gründlich  verstand,  kennzeichnete,  galt  blos  dem 
gewöhnlichen  Volke  und  den  Piatonikern  als  Schimpf.  Seit 
der  perikleischen  Zeit  kommt  er  im  besonderen  den  Lehrern 
7A1,  von  welchen  die  nächsten  Kapitel  handeln  sollen  ^). 

1)  Ueber  die  Sophisten:  Lud.  Cresollius  theatrum  veterum  rhetorum 
oratorum  declamatorum  quos  in  Graecia  nominabant  aocpioxac,  Paris  1620, 
abgedruckt  in  Gronovs  antiquitatt.  Graec.  vol.  X.  (als  Materialsammluug 
noch  immer  brauchbar  und  wegen  der  Verbindung  der  alten  nnd  späten 
Sophisten  wichtig ;  da  die  Sophistik  der  Kaiserzeit  mit  der  älteren  grosse 
Verwandtschaft  hat,  ist  E.  Roh  de  der  griechische  Roman  und  seine  Vor- 
läufer Leipzig  1876  III.  Buch  auch  für  diese  Periode  sehr  wichtig);  von  der 
neueren  Literatur,  welche  Ueberweg  Geschichte  der  Philosophie  P  85  f. 
verzeichnet,  erwähne  ich  nur:  Jac.  Geel  historia  critica  sophistarum  qui 
Socratis  aetate  Athenis  flomerunt,  Trajecti  1823;  Wilh.  Röscher  de  historicae 
doctrinae  apud  sophistas  majores  vestigiis,  Göttingen  1838  (Diss.);  J.  Frei 
Rhein.  Mus.  7,  527  ff.  8,  268  ff. ;  Fr.  Suse  mihi  Jahrbb.  f.  Philol.  97,  513ff. 
Nik.  Wecklein  die  Sophisten  und  die  Sophistik  nach  den  Angaben  Piatos, 
Würzburg  1866;  Mart,  Schanz  Beiträge  zur  vorsokratischen  Philosophie 
aus  Plato  I.  Die  Sophisten,  Göttingen  1867;  H.  Sidgwick  Journal  of 
philology  4,  288ff.  5,  66ff. ;  Alph.  Emminger  die  vorsokratische  Philosophie 
nach  den  Berichten  des  Aristoteles,  Würzburg  1878. 


Erstes   Kapitel. 
Die  ersten  Sophisten. 

Protagoraa;  Stesimbrotos  und  andere  Homeriker;  Prodikos  und  Hippias. 


Das  Verdienst,  die  Bedürfnisse  der  Zeit  erkannt  zu  haben, 
gebührt  nicht  einem  Bürger  Athens;  denn  trotz  der  raschen 
Auffassungsgabe,  welche  sie  auszeichnete,  haben  die  Athener 
auf  sehr  wenigen  Gebieten  den  Ruhm  der  Erfindung  oder  der  Be- 
gründung. Ihre  Sache  war  es  vielmehr,  die  Mängel  des  Neuen 
scharfsinnig  zu  erkennen  und  es  dadurch  zur  Vollendung  zu 
führen.  In  einem  Städtchen  der  thrakischen  Küste  wuchs  der 
Mann  auf,  welcher  zu  der  grossartigen  Umgestaltung  der  helle- 
nischen Bildung  berufen  war. 

Die  jonischen  Kolonien  am  Nordrande  des  ägäischen  Meeres 
erfreuten  sich,  dank  dem  Reichtum,  den  ihnen  der  Handel  mit 
den  Barbaren  und  die  Aufdeckung  edler  Metalle  eintrugen,  einer 
blühenden  Kultur.  Schon  seit  Archilochos'  Zeit  war  die  Pflege 
der  Musik  und  des  Gesanges  hier  heimisch;  nicht  umsonst 
führten  die  chalkidischen  Städte  die  Lyra  als  gemeinsames 
Münzzeichen.  Zur  Zeit  der  Perserkriege  begannen  die  thrakischen 
Jonier  sich  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  hervorzuthun.  Aus 
Thasos  kam  Polygnotos,  der  Begründer  der  klassischen  Malerei, 
wie  der  realistische  Bildhauer  Paionios  aus  dem  chalkidischen 
Lande,  nach  der  Bundeshauptstadt.  Nicht  lange  Zeit  verging 
und  derselbe  Teil  der  Jonier,  welcher  durch  die  kurze  Perser- 
herrschaft nicht  so  entnervt  wie  seine  Stammesgenossen  war, 
machte  sich  in  noch  höherem  Grade  um  das  geistige  Leben 
von  Hellas  verdient. 

Protagoras   von    Abdera*)   unterschied  sich  anfangs, 

1)  L.  F.  Herbst  in  Petersens  philologisch-historischen  Studien,  Heft  1 


Die  ersten  Sophisten.  15 

wie  es  scheint,  von  den  älteren  Naturphilosophen  keineswegs; 
er  studierte  die  exakten  Wissenschaften,  wobei  er  auf  eine 
technische  Erfindung  verfiel  ^).  Skeptisch  geworden,  sah  aber 
Protagoras  auf  sie,  zumal  wenn  er  sie,  wie  die  Astronomie  nicht 
auf  den  Menschen  zu  beziehen  wusste,  mit  Verachtung  herab  ^). 
Was  er  lehrte  war  nicht  unpraktisches  Wissen,  sondern  die 
apstr]  und  das  xaXöv  %al  aYa^öv  ^) ;  deutsche  Wörter  können  die 
griechischen  Begriffe  nicht  wiedergeben,  auch  dem  ebenso  vagen 
Ausdruck  ,, Humanismus"  fehlt  der  politische  Beigeschmack 
der  griechischen  Wörter.  Protagoras  lehrte  eben,  wodurch  sich 
ein  Grieche  unter  seinen  Mitbürgern  auszeichnen  könnte;  sich 
selbst    benannte    er    aber   mit    dem    althergebrachten   Namen 


(Hamburg  1832)  S.  88flf.;  Job.  Frei  quaestiones  Protagoreae,  Bonn  1845,  mit 
Nachtrag  Rhein.  Mus.  5,  596  ff.;  A.  J.  Vitringa  de  Protagorae  vita  et  philo- 
sophia  disquisitio,  Groningen  1852.  Für  Ab  der  a  .spricht  Plato  Protag.  309  c. 
republ.  600c,  mit  ihm  die  meisten  späteren;  da  aber  Abdera  eine  Kolonie 
von  Teos  war,  durfte  Eupolis  den  Sophisten  nach  dieser  Stadt  benennen 
(fr.  159  M  bei  Diogen.  Laert.  9,  50,  vgl.  Steph.  Byz.  v,  Tetu?  und  xiviq  bei 
Suida.s).  Dieselbe  Variante  findet  sich  bezüglich  des  jüngeren  Hekataios 
Strab.  14,644.  Der  Vater  des  Protagoras  heisst  bald  Artemon  (Diog.  L.  9,50. 
Schol.  Plat.  p.  217  B.  Suid.)  bald  Maiandrios  (Deinon  und  Apollod.  bei  Diog. 
9,  50,  vgl.  Eudocia),  Maiandrides  (Suid.  v.  1.)  oder  Maiandros  (Philostr.  vit. 
.soph.  1,  10;  cod.  h ,  hat  MsvavSpo?,  v^ie  Epiphan.  adv.  haer.  III.  vol.  II  p. 
1088  b;  bei  Suidas  NsavSpiou).  Nach  Philostratos  a.  O.  (aus  Deinon?)  bewirtete 
er  Xerxes,  wofür  die  Magier  den  jungen  Protagoras  unterrichteten ;  andere 
erzählen  da.sselbe  von  Demokrit. 

1)  Er  erfand  die  xüXt]  (Aristot.  bei  Diog.  9,53  u.Suid.  v.  xoxuXfi),  womit 
Aristoteles  schwerlich  den  Wulst,  welchen  die  La.stträger  auf  die  Schulter 
nahmen,  meinte.  Epikur  benützte  aber  die  übliche  Bedeutung,  um  Protagoras 
zu  einem  Lastträger  zu  machen;  Demokrit  soll  sein  Talent  erkannt  und  aus- 
gebildet haben  (Diog.  10,  8.  9,  63.  Athen.  8,  354  c.  Schol.  Plat.  p.  217  B. 
Gell.  5,  3.  Suid.  v.  U^Mza^^ö^az  und  tpopp-otpopoc,  vgl.  Gramer  Anecd.  Paris.  I 
172,  1  ;  Schüler  des  Demokrit  Aristokles  bei  Euseb.  praep.  ev.  14,  17,  8. 
Diog.  9,  50.  Philostr.  vit.  soph.  1,  10.  Clem.  Alex.  1,  301).  W^enn  diese  bos- 
hafte Erfindung  widerlegt  zu  werden  braucht,  führe  ich  Plutarch  adv.  Colot.  4. 
Diog.  9,  42.  Sext.  Empir.  8,  389  f  an,  wonach  Demokrit  gegen  seinen  angeb- 
lichen Schüler  polemisierte. 

2)  Plat.  Protag.  318  e.  Aristoteles  erwähnt  met.  2,  2  p.  998  a  3,  dass  er 
sich  gegen  die  Astronomen  wandte.  Eupolis  (fr.  159  M  bei  Diog.  9,  50,  vgl. 
Eustath.  p.  1547,  53)  wirft  ihn  trotzdem  mit  den  Naturphilo.sophen  zusammen. 

3)  Protagoras  versprach  ßsXtiooc  ■jroielv  (rratSeüetv)  zobc,  avd-ptÜTzooc;  Plat. 
Protag.  317  b.  318  a  und  lehrte  eüßouXtav  sowohl  uspl  tcüv  olxeiaiv  als  Kspl  ta 
xr^q  TCÖXscuc  ibid.  318  e. 


16  Erstes  Kapitel. 

oo^tan^«:.  Wer  darin  zu  unterweisen  versprach,  wonach  alle 
ehrgeizigen  Jünglinge  demokratischer  Staaten  strebten,  musste 
ungeheuren  Erfolg  erzielen.  Weit  entfernt,  Schüler  suchen  zu 
müssen,  drängten  sich  so  viele  zu  ihm,  dass  er  nicht  alle  an- 
nahm ^).  In  Athen  rechnete  es  sich  der  reichste  Bürger  zur 
Ehre,  den  Sophisten  beherbergen  zu  dürfen  ^) ;  trotzdem  blieb 
er  nicht  in  jener  Stadt,  sondern  besuchte  viele  griechische  Städte 
bis  nach  Sicilien  hin,  überall  mit  Enthusiasmus  aufgenommen 
und  wie  ein  Fürst  von  einer  Schaar  Bewunderer  begleitet^). 
Mit  stolzem  Selbstgefühle  verlangte  Protagoras,  der  erste  welcher 
sich  für  seinen  Unterricht  bezahlen  liess*),  nicht  ein  bestimmtes 
Honorar,  sondern  überliess  es  seinen  Schülern,  nach  dem  Ende 
des  Unterrichtes  den  Preis  des  Gelernten  selbst  zu  bestimmen^). 
So  glänzend  der  Ruhm  des  Sophisten  bei  seinen  Lebzeiten  war, 
so  rasch  erlosch  er  nach  seinem  Tode;  darum  liegen  über  seine 
Lebensschicksale  nur  wenige  Angaben  vor.  Dass  Protagoras 
der  älteste  Sophist  war,  darin  stimmen  alle  überein  ^).  Plato 
erzählt  ferner,  dass  er  Sokrates  an  Alter  überragte  und,  ungefähr 
siebzig  Jahre  alt,  nach  mindestens  vierzigjähriger  Lehrthätigkeit 
stai;b').  Aber  die  erstere  Angabe  darf  ebensowenig  verleiten, 
ein  bestimmtes  Jahr  anzusetzen  ^)  als  die  Scenerie  des  platonischen 

1)  Plato  Protag.  310  de.  311  d. 

2)  Im  Hause  des  Kallias  spielt  der  platonische  Protagoras;  auch  Eupolis 
verspottete  die  dortigen  Zustände. 

3)  Sicilien  Plat.  Hipp.  maj.  282 e,  Begleiter  Protag.  316a. 

4)  Plato  Protag.  349  a. 

5)  Arist.  etil.  Niconi.  9,  1  p.  1164  a  24,  etwas  ungünstiger  Plato  Protag. 
328  b.  Das  Honorar  von  hundert  Minen  ist  von  Zenon  entlehnt  (Diog.  9,  62. 
Schol,  Plat.  217,  Suid.  entstellt  Anon.  vit.  Plat.  p.  8,  46  West.;  10000  Denare 
wurden  von  Qnintil.  3,  1,  10  als  Preis  der  te^vai  bezeichnet).  Den  bei  Korax 
und  Teisias  zu  erwähnenden  Prozess  um  das  Honorar  übertrug  man  auf  Pro- 
tagoras und  Euathlos,  seinen  Ankläger  (Diog.  9,  66,  der  §  65  unter  den 
Schriften  Six-rj  önip  fiiaS-oö  anführt.  Apul.  Hör.  4,  18.  Gell.  6,  10.  Walz 
rhetor.  IV  180  adn.,  vgl.  Quintil.  3,  1,  10). 

6)  Plato  Euthyd.  286  c  versteht  unter  den  ol  tzi  itaXatitepoi  die  Eleateu. 

7)  Protag.  317  c  oüSsvic  8too  ob  navttov  äv  ojicüv  xaö-' -fiXtxiav  itaf»jp  sTfjv 
(vgl.  Theaet.  171c).  Meno  91  e;  die  Schollen  p.  217  B  (über  die  Lesart  vgl. 
TengHtrüm  und  Stahlberg,  super  dial.  Piatonis  qui  Protagoras  inscribitur,  Abö 
1824  p.  16  Anm.  e)  und  evioi  bei  Diog.  9,  66  scheinen  hier  Ivevrjxovta  et*»] 
statt  iß3ojj.Y|xovxa  gelesen  zu  habeu. 

8)  Wenn  ihn  Apollodor  Ol  84  (Diog.  9,  56,  vgl.  Euseb.  Ol  84,  2  armen, 
n.  Hieron.,  86,  4  Synkell.)  ansetzt,  legt  er  dabei  die  Angabe  des  Herakleides 


Die  ersten  Sophisten.  17 

Dialoges,  bei  welcher  sich  Plato  starke  Anachronismen  gestattete. 
So  viel  mag  aber  daran  richtig  sein,  dass  Protagoras  nach 
langem  Zwischenraum  Athen  zum  zweiten  Male  besuchte^). 
Dort  zog  er  aucli  Porikles' Aufmerksamkeit  auf  sich^);  dessen 
Sohn  Xanthippos  warf  dem  Vater  vor,  er  hätte  mit  dem  Philo- 
sophen einmal  einen  ganzen  Tag  über  eine  spitzfindige  Streit- 
frage disputiert^),  und  Protagoras  setzte  in  einer  Schrift  seinem 
Gönner  ein  Denkmal,  indem  er  die  Standhaftigkeit,  mit  welcher 
Perikles  den  Tod  seiner  Söhne  ertrug,  feierte^).  Es  scheint  dem- 
nach, dass  der  Sophist  zur  Zeit  der  grossen  Pest  (430/29)  sich  in 
Athen  aufhielt.-  In  den  Jahren  424  und  423  weilte  er  nicht 
dort;  dagegen  brachte  ihn  der  Komiker  Eupolis  422/21  als 
Schmarotzer  des  reichen  Kallias  auf  die  Bühne  ^).  Dieser  grobe 
Spott  war  ein  bedeutungsvolles  Anzeichen  der  Abneigung,  welche 
viele  Athener  gegen  den  fremden  Sophisten  hegten.  Als  er 
vollends  in  einem  Buche  den  verwegenen  Satz  aufstellte  :  ,,Von 
den  Göttern  kann  ich,  weder  ob  sie  existieren,  noch  ob  sie 
nicht  existieren,  mit  Bestimmtheit  sagen",  nötigte  ihn  die  An- 
klage,   welche  Euathlos^)  erhob,   aus  Athen  zu  fliehen^).     Die 


(Diog.  9,  50),  Protagoras  habe  den  Thurieru  die  Gesetze  entworfen,  zu  Grunde 
(Herbst  a.  O.  S.  89). 

1)  Plat.  Protag.  310e;  über  die  Anachronismen  Athen.  5,  218bc, 
auch  11,  505  f. 

2)  Dasselbe  wird  von  Euripides  und  Megakleides  berichtet,  in  deren 
Wohnungen  er  Vorträge  gehalten  haben  soll  (Diog.  9,  54). 

3)  Stesimbrotos  bei  Plutarch.  Pericl.  36. 

4)  Frg.  3  bei  Plutarch.  cousol.  ad  Apoll.  33. 

5)  Der  Komos  des  Ameipsias  und  die  Wolken  des  Aristophanes,  welche 
424,  resp.  423  zur  Aufführung  kamen,  erwähnten  ihn  nicht;  vgl.  Athen. 
5,  218  bc. 

6)  Aristot.  bei  Diog.  9,  54  (Gramer  Anecd.  Paris.  I  172,  7);  nach  anderen 
klagte  ihn  Pythodoros,  einer  der  Vierhundert  au.  Auch  wenn  dies  richtig 
wäre,  genügte  es  nicht,  um  seine  Verurteilung  gerade  in  das  Jahr  411  zu 
setzen,  vgl.  Müller-Strübing  Jahrbb.  f.  Phil.  121,  84 f. 

7)  Philochor,  bei  Diog.  9,  55.  Timon  bei  Sext.  Emp.  9,  57  und  viele 
Spätere,  ausgemalt  bei  Philostrat.  vit.  soph.  1,  10.  Timon  sprach  als  frommen 
Wunsch  aus,  man  hätte  die  Schriften  des  Protagora»  verbreuuen  sollen  (v. 
47  Mullach:  s^eXov  8e  xscfpYjv  aoYYpä|J.|J.aTa  tJ'siva'.).  Spätere  erzählteu  dies 
»Is  wirkliche  Thatsache  (Cic.  nat.  d.  1,  23,  63  [Minuc.  Fei.  8,  3.  Lactant. 
de  ira  dei  9,  2].  Aristokles  bei  Euseb.  praep.  ev.  14,  19,  7.  Diog.  9,  52. 
Schol.  Plat.  p.217.  Suidas);  aber  die  Schriften  waren  ungehindert  im  Umlauf 
(vgl.  Plat,  Theaet.  152  a).  Merkwürdig  ist,  dass  Plato  Menon  91  de  so  spricht, 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  H.  2 


j[8  Erstes  Kapitel. 

Rache  der  beleidigten  Götter  soll  Protagoras  auf  dem  Meere, 
als  er  nach  Sicilien  fuhr,  ereilt  haben  ^).  Ob  er  wirklich  im 
Meere  ertrank,  ist  ebensowenig  sicher  festzustellen  als  das  Jahr, 
in  welchem  der  Process  stattfand;  gewöhnHch  verbindet  man 
ihn  mit  dem  Hermokopidenprocess  ^),  obgleich  in  diesem  Falle 
die  Vögel  des  Aristophanes  gewiss  darauf  anspielen  würden. 

Jener  Satz  über  die  Götter  entsprang  der  Weltanschauung 
des  Protagoras.  Sein  Gebiet  war  die  Wissenschaft  vom  Menschen; 
deim  der  Mensch  ist  ,,das  Mass  aller  Dinge",  eine  ohjective 
Wahrheit  gibt  es  nicht.  Um  die  skeptische  Philosophie  gegenüber 
den  herrschenden  Ansichten  beweisen  zu  können,  war  ihm 
blendende  Dialektik  und  darum  auch  die  volle  Herrschaft  über 
die  Sprache  unentbehrlich.  Protagoras  hätte  ja  gewiss  nicht 
„wie  Orpheus  alle  Hörer  bezaubert",  wenn  er  nicht  durch 
klangvolle  Worte  und  poetische  Bilder  ihren  Ohren  geschmeichelt 
hätte  ^).  Er  vermass  sich  über  denselben  Gegenstand  bald 
ausführlich,  bald  mit  gesuchter  Knappheit,  bald  in  diesem, 
bald  in  jenem  Sinne  zu  sprechen^).  Zu  seinen  rednerischen 
Erfolgen,  die  ihm  den  Stichnamen  Aöyoc  eintrugen  ^),  führte 
aber  den  Philosophen  nicht  blos  eine  bedeutende  durch  Uebuug 
gebildete  Anlage  für  wissenschaftliche  Dialektik,  sondern  er 
beschäftigte  sich  als  der  erste  unter  den  Griechen  und  vielleicht 
als  der  erste  unter  den  Menschen  überhaupt  mit  der  Theorie 
der  Sprache,  die  durch  ihn  aufhörte,  ein  blosses  Werkzeug  der 
Gedanken  zu  sein.  Es  mutet  uns  jetzt  seltsam  an,  wenn  wir 
hören,    dass    der   gelehrte  Mann    die  Wortgattungen    und    die 


als  ob  der  Process  nie  vorgefallen  sei;  ich  kann  nicht  glauben,  dass  in  Theaet. 
171  d  eine  plumpe  Anspielung  auf  Flucht  und  Tod  des  Protagoras  liegt. 

1)  Philochoros  bei  Diog.  9,  65  (anders  eviot;  vgl.  Philostr.  vit.  soph.  1,10. 
Sext.  Emp.  9,  56). 

2)  zuerst  Meier  de  Andocidis  oratione  contra  Akibiadeni  VI  p.  37. 

3)  Plato  scheint,  wie  schon  Philostratos  und  Porphyrios  annahmen, 
seinen  Stil  in  allgemeinen  Zügen  nachzubilden ;  Wernsdorf  (ad  Himerinm  20, 
10)  u.  A.  hielten  sogar  den  Mythus  320c— 322d  für  wörtlich  entlehnt. 

4)  Plato  Protag.  329  b.  334  e.  335  b  (|j.axpoXoYia  und  ßpa/uXoYia,  vgl. 
Aristoph.  Thesm.  177f.). 

5)  Aelian.  var.  bist.  4,  20.  Schol.  Plat.  p.  217.  Snidas  mit  efifjucjä-oc 
(wohl  aus  einem  Komiker).  Favorinus  bei  Diog.  9,  60  verwechselt  ihn  mit 
Demokritos,  der  icfia  geheissen  haben  soll.  Dem  Protagoras  gilt  vielleicht 
■JjSuXoYoc  oo<ft«  des  Kratinos  (bei  P>ekk.  Anecd.  335). 


hie  ersten  Sophisten,  J^ 

Aussageformen  bestimmte*);  aber  damals  waren  dies  grosse 
Entdeckungen,  welche  nur  Schritt  für  Schritt  erweitert  wurden. 
Unser  Sophist  mussto  die  Sprache  von  seinem  Standpunkte 
aus  wie  das  Ergebnis  menschlicher  Uebereinkanft  betrachten, 
zu  dessen  Vervollkommnung  jeder  besser  Wissende  berechtigt 
und  berufen  war.  So  wagte  Protagoras,  als  er  die  Gesetze  des 
grammatischen  Geschlechtes  untersuchte,  im  Widerspruche  mit 
der  Umgangssprache  das  Richtige  (6p8-öv)  festzusetzen,  eine 
pedantische  Gleichmacherei,  welche  die  Komiker  sich  nicht 
entgehen  liesen  '^-  Nicht  einmal  den  Dichtern  gestattete  der 
Sophist  eine  gewisse  Freiheit ;  was  für  ein  ungeschliffener  Mensch 
schien  ihm  Homer  zu  sein,  weil  er  nicht  im  höflichen  Optativ 
die  Muse  seine  Helden  zu  besingen  einlud  ^) ! 

Wie  die  Wolken  des  Aristophanes  zeigen,  kam  diese  Sprach- 
theorie auch  beim  Unterrichte  vor,  indes  war  Uebung  im  Dis- 
putieren ohne  Zweifel  die  Hauptsache*).  Da  Protagoras  eine 
objektive  Wahrheit  nicht  anerkannte,  waren  nach  seiner  Ansicht 
zwei  entgegengesetzte  Reden  über  jede  Sache  möghch.  Er 
machte  sich  also  kein  Gewissen  daraus,  seine  Schüler  über  den 
nämlichen  Gegenstand  pro  und  contra  disputieren  zu  lassen,  was 


1)  Er  bestimmte  appeva  S"fj).ea  axeuvj  (was  sicher  bezeichuender  als 
oüSexspa  war,  Aristot.  rhetor.  3,  5  p.  1407  b  7)  und  su/iuX-f]  epojTfjatc:  ccko- 
xptai?  EVToX-f]  (Diogeu.  9,  53.  64.  Said.  v.  flptuTaYop^C  nnd  uüO-fAYjv.  Quiutil. 
3,  4,  10);  vgl.  Schanz  die  Sophisten  S.  142.  Für  die  älteste  Geschichte 
der  griechischen  Grammatik  sind  ausser  den  allgemeinen  Werken  (L.  Lersch 
die  Sprachphilosophie  der  Alten  H.  I.  II.  Bonn  1830;  A.  Gräfenhan  Geschichte 
der  classischen  Philologie  im  Alterthum,  Bd.  I.  Bonn  1843;  H.  Stein  thal 
Geschichte  der  Sprachwissenschaft  bei  den  Griechen  und  Römern,  Berlin  1863)  zu 
vergleichen  :  J.  C lassen  de  grammaticae  Graecae  primordiis,  Bonn  1829  und 
G.F.  Schömann  die  Lehre  von  den  Redeteilen  nach  den  Alten,  Berlinl862. 

2)  Aristot.  sophi.st.  eleuch.  14  p.  173  b  19;  darauf  deutet  Plato  Cratyl. 
391c.     Seine  Manier  verspottet  Aristophanes  in  den  Wolken  V.  658  fif. 

3)  Aristot.  poet.   19p.  1456b  16. 

4)  Suidas  und  die  Platoscholien  schreiben  ihm  die  Begründung  der 
Eristik  zu;  nach  dem  Dialektiker  Artemidoros  fährte  er  tac  tzpbc,  xäc,  d'kzsK: 
Ent/^f  tp-fjaetc  ein  (Diogen.  9,  53),  d.  h.  Disputationen  über  allgemeine  Themata 
nicht  über  bestimmte  Fälle  (oTzo^izziz,  vgl.  Cic.  top.  21,  79.  Walz  rhet. 
iudex  p.  713).  Vgl.  Timon  bei  Diog.  9,  52  IlpoutaYÖp-rj?  x'  eüifA'.xxoc  ep:l^i\isvai 
tu  eISui;. 

2* 


20  Erstes  Kapitel. 

die  Feinde  des  Philosophen  zu  dem  Vorwurfe,  er  verspreche 
der  schlechteren  Sache  zum  Siege  zu  verhelfen  (töv  TJTxova  Xö^ov 
xpeiTTo)  TTOtslv),  ausnützten  ^).  Freilich  war  seine  Methode  für 
den  Wahrheitssinn  seiner  Schüler  nicht  gerade  förderlich, 
zumal  da  zur  Lösung  der  gestellten  Aufgaben  künstliche  Trug- 
schlüsse unvermeidlich  waren  ^) ;  auch  musste  jeder  weiter 
Denkende  fürchten,  dass  Jünglinge  von  nicht  festen  Grund 
Sätzen  das  erlernte  im  wirklichen  Leben  zur  Obstruktion  ihrer 
Gegner  anwendeten.  Protagoras  disputierte  aber  nicht  bloss  pro 
et  contra,  sondern  überhaupt  über  alles,  was  Spitzfindigkeit  er- 
forderte. Mit  Perikles  stritt  er  z.  B.,  ob  bei  einem  fahrlässigen 
Todschlage  im  Agon  der  Wurfspeer,  der,  welcher  ihn  geworfen, 
oder  der  Leiter  der  Uebungen  die  Schuld  trügen.  Da  ferner 
die  Griechen  in  den  Aussprüchen  ihrer  Dichter  gleichsam  den 
Codex  der  nationalen  Sittenlehren  erblickten,  knüpfte  Protagoras 
an  auffällige  Sittensprüche  Erörterungen ,  wobei  zum  ersten 
Male  ethische  Fragen  besprochen  wurden;  so  discutiert  er  bei 
Plato^)  ein  Gedicht  des  Simonides,  welches  einen  Widerspruch 
mit  einer  anderen  Sentenz  desselben  Dichters  zu  enthalten 
schien.  Neben  solchen  praktischen  Disputierübungen  gab  er 
vielleicht  seinen  Schülern  einige  dialektische  Gemeinplätze  zum 
Auswendiglernen  *).  Während  Protagoras  auf  solche  Weise  den 
Geist  und  die  Zunge  derselben  möglichst  gelenkig  zu  machen 
suchte,  blieb  das  Gebiet  der  eigentlichen  Rhetorik  noch  unbe- 
rührt; denn  seine  Mahnung,  man  solle  auf  den  rechten  Augen- 
blick achten,  gehört  eher  zur  Psychologie^).  Mit  dem  aber, 
was  er   lehrte,    nahm  es  der  Sophist  höchst  ernst  und   sprach 

1)  Mullach  stellt  unter  fr.  6  und  6  die  Belege  zusammen;  vgl.  auch 
Euripid,  fr.  180  N. 

2)  Aristot.  metaph.  8,  3  p.  1047  a  6.  Diog.  9,  62. 
8)   Plat.  Protag.  c.  26  ff.  p.  339  —  347. 

4)  Statt  TE/vf]  eptoTtxüiv  (Diog.  9,  56)  sagt  Quintilian  3,  1,  12  loci  com- 
munos;  er  schöpft  aus  Cicero  (Brut.  12,  46),  der  aus  Aristoteles  übersetzt: 
rerura  illustrium  disputationes,  dies  aber  durch  den  eigenmächtigen  Zu- 
satz verdirbt:    quae  nunc  communes  appellantur  loci. 

5)  Diog.  9,  62  xatpoä  Sövafiiv  e4E5eto;  was  vorhergeht,  itpcüToc  jjLepv) 
Xpovoo  3iu)ptoE,  ist  nicht  sicher  zu  deuten.  Petersen  (bei  Herbst  S.  166)  bezieht 
68  auf  die  dem  Kedner  notwendige  Benützung  der  Zeit;  dagegen  denkt  C.  F. 
Hermann  Ztsch.  f.  Allerthumsw.  1834  Sp.  881  an  die  grammatischen 
Tempora. 


Die  ersten  Sophisten.  21 

vernünftige  Ansichten  über  den  Unterricht  aus:  „Die  Theorie 
ist  nichts  ohne  die  Praxis,  wie  die  Praxis  niclits  ist  ohne  die 
Theorie';  ,, der  Unterricht  verlangt  Talent  und  Fleiss  und  auch 
so  muss  man  frühzeitig  zu  lernen  beginnen'^  ^). 

Die  Schriften  des  Protagoras  ^),  in  denen  er  sich  deg 
jonischen  Dialektes  seiner  Heimat  bediente  ^),  hingen  mit  seinem 
Unterrichte  eng  zusammen.  Auf  die  Lebensführung  bezogen 
sich  die  Abhandlungen  Tcept  ^ikonixiac,  t:b[A  apstwv  und  Ttspl  twv 
oox  opO-w?  xolc,  av^pcoTcot?  ;rpaooo[j-£V(j)v  TTpcaiaxTcxöc,  auf  den 
Unterricht  im  Allgemeinen  die  Schrift  Trspl  xwv  [xa^yj[j-drwv, 
Homers  Nekyia  gab  wohl  Protagoras  die  Veranlassung,  Tispl  iwv 
SV  ''AlSoo  zu  schreiben ;  dieser  Titel  lehrt  uns  den  Humor  der 
Schilderung,  welche  Plato  im  Protagoras  von  der  Sophisteu- 
gesellscliaft  entwirft  (315  b),  erst  recht  würdigen.  Das  Haupt- 
werk des  Philosophen  war  aber  der  Dialektik  gewidmet.  In 
zwei  Büchern  handelte  er  von  Göttern  und  Natur,  von  Staats- 
einrichtungen und  Künsten  in  der  Weise,  dass  er  zuerst  einen 
Satz  bewies  und  ihn  hierauf  widerlegte;  der  skeptisch  gemeinte 
Titel  lautete  ,, Wahrheit'"*).  Protagoras  bekämpfte  darin  unter 
anderem  die  eleatische  Philosophie;  man  warf  Plato  vor,  er  habe 
das  Werk  in  seinem  ,, Staate"  ausgenützt. 

1)  Stob,  floril.  29,  80;  Gramer  Auecd.  Paris.  I  p.  171. 
'2)  Fragmente  bei  Frei  a.  O.  p.   176  ff.  und  Mullach  fragmeuta   philo- 
sophorum  Graecorum  II  130  ff. 

3)  Frg.  3  bei  Flutarch.  consol.  ad  Apoll.  33. 

4)  'AX-fj^sia  Plat.  Theaet,  161  c  u.  ö.,  auch  ä.vxiko-fiv.a  (Aristoxenos  bei 
Diog.  3,  37.  57,  vgl.  auch  Plato  soph.  225  b,  äviiko-^lrxi  Diog.  9,  55)  oder 
xataßaXXovtsf;  (Sext.  Empir.  7,  60,  ein  Titel  wie  uTCSpßäXXovxJC  oder  ünoKop-^l- 
CovTE?,  Diels  Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.  1883  S.  489),  oder  ixs^a?  Xö^o? 
(Gramer  Anecd.  Par.  I  171,  31),  vgl.  Jak.  Bernays  Rhein.  Mus.  7,  464  ff.  = 
gesammelte  Abhandinngen  I  117  fF.  Die  vier  Teile  deutet  Plato  sophist. 
232  cd  au;  d  sagt  er:  Td  '(£  fx-rjv  Tztpl  naocüv  xz  xal  xatä  jj.iav  exdtaxvjv  xi'/yqv, 
a.  Sst  jrpöc  ixaGTOv  aüxöv  xöv  OY]|ji.toopYÖv  ötvxe'.Trelv,  8£8f)[JLoatü)[j.£va  tzoo 
xaxaßeßXfjxat  '(Sfpa^s.^iva.  X(I)  ßouXo|j.Evcu  \i.ad-slv.  —  Ta  IIpcuxaYopEia  [JLOt 
(paivst  nepl  xY)c  näX-qz  (daher  hat  Diogenes  die  angebliche  Schrift  uspl 
irdX'rjc)  y-o^l  xwv  aXXcuv  xeyvcüv  EipYjviEva'..  Den  ersten  Abschnitt  des 
zweiten  Teiles  machte  icEpl  TroXixetac  aus,  wofür  Aristoxenos  den  Haupttitel 
ftvxiXoYtxd  gebrauchte.  Den  ersten  Teil  bildeten  Tcepl  d-z&v  (Diog.  9,  54,  wo 
npdixov  xojv  X6yü)v  nicht  zu  übersehen  ist.  Euseb.  praep.  ev.  14,  3,  6)  und 
jtepl  xYi<;  jv  ap-^/rfi  xaxaaxdaecoc  von  Herbst  S.  148,  Frei  S.  183  und  Bernays 
I  119  A.  verschieden  erklärt)  oder  Tcspl  xoü  wzoq  (Porphyr,  bei  Euseb,  praep, 
ev.  10,  3,  17  =  de  natura  rerum  Ciq.  de  orat,  3,  32,  128), 


22  Erstes  Kapitel. 

Bemerkenswerte  Schüler  hat  Protagoras  nicht  hinterlassen ; 
von  seinen  Zuhörern,  welche  den  Beruf  ihres  Lehrers  ergriffen, 
heht  Plato  den  Antirnoiros  von  Mende  hervor'),  welcher  uns 
sonst  völlig  unbekannt  ist.  Der  l)erühniteste  unter  ihnen, 
Theodoros  von  KjTene  wandte  sich  den  mathematischen  Wissen- 
schaften zu  ^.  Erst  späte  Philosophen  sprachen  von  einer 
Sekte  der  Protagoreer  ^).  Ebensowenig  gelingt  es  jetzt,  bei  den 
Klassikern  bestimmte  Spuren  seines  Einflusses  nachzuweisen. 
Wir  müssen  uns  mit  der  allgemeinen  Thatsache  begnügen,  dass 
Protagoras  die  Aufklärung  in  Griechenland  begründete. 

Doch  ist  es  möglich,  dass  Protagoras  seine  jonischen  Lauds- 
leute  vorzüglich  auf  ihren  Lieblingsdichter  hinwies  und  sie  an- 
regte, an  auffallenden  Stellen  [anoplai),  die  zum  Teil  noch  jetzt 
die  Erklärer  belästigen,  ihren  dialektischen  Scharfsinn  zu  üben*). 
Dieses  Spiel  des  Witzes  begegnete  sich  mit  einer  religiösen 
Richtung;  die  konservativeren  Philosophen,  vielleicht  auch  die 
Anhänger  der  Mysterien  suchten  den  vielfachen  moralischen 
Bedenken ,  welche  die  Lektüre  Homers  und  Hesiods  erweckte, 
dadurch  zu  begegnen,  dass  sie  die  Göttermythen  allegorisch 
erklärten.  Der  erste  war  angeblich  Theagenes  von  Rhegion, 
den  manche  mit  Rhegions  altem  Dichter  Ibykos  zusammen- 
stellten, während  andere  gewiss  richtiger  Anaxagoras  für  älter 
ansahen  ^).  Diese  symbolische  Deutung  floss  bei  Homer  mit 
der  dialektischen  Lösung  von  Schwierigkeiten  zusammen;  man 
geheimnisste  sogar  den  ganzen  Voirat  des  damaligen  Wissens 
in    die    homerischen   Epen    hinein  ^).     Den    Gebildeten    waren 


1)  Plato  Protag.  315  a. 

2)  Plato  Theaet.  166  a.  Die  Schülerschaft  des  Prodikos  und  Isokrates 
(Schol.  Plat.  217.  Bnid.  Upuixn.-föp'x':)  ist  unbegründet;  Suidas  rechnet  sogar 
Hekataios  dazu.  Auffallend  bestimmt  sagt  Diogenes  9,  54,  dass  Archagoras 
seine  Schriften  im  Lykeion  vorlas. 

8)  Procl.  in  Tim.  p.  78  b.  Heracl.  Pythag.  Fabricius-Harles  bibl.  gr. 
Vin  349. 

4)  Bd.  I  S.  134;  Lobeck  Aglaophamus  p.  155 ff. 

6)  Neben  Theagenes  kommt  die  Form  Bto-(ivr^r  vor  (vgl.  Wecklein 
carae  epigraphirae  p.  39  f.).  Nach  Tatiaii.  or.  adv.  Graec.  4fi  lebte  er  zor 
Zeit  des  Kambyses,  d.  h.  des  Polykrates;  über  Anaxagoras  Favorinns  bei 
Diogen.  2,  11.  Vgl.  auch  Porphyr,  zu  II.  Y  67.  vSchol.  Aristoph,  Av.  822 
(entstellt  Pax  928).  Bekk.  Anecd.  729.     Fragmente  fehlen. 

6)  Plat.  republ.  10,  698 de. 


Die  ersten  Soi>histen.  23 

derartige  Untersuchungen  von  hohem  Interesse,  weil  für  den 
Griechen  Homer  das  Grundbuch  der  Religion  und  Sitte  war. 
Wie  wir  sahen ,  knüpfte  schon  Protagoras  Abhandlungen  und 
Disputationen  an  Dichterstellen  an,  wodurch  er  die  thrakischen 
Jonier  speziell  auf  dieses  Gebiet  hinwies. 

Unter  diesen  beschäftigten  sich  zumal  die  Bewohner  von 
Thasos  gehie  mit  deu  homerischen  Gedichten.  Es  gab  dort 
viele  Rhapsoden  *),  was  aber  noch  weit  besser  die  wirkliche 
Popularität  Homers  beweist,  sind  die  possierlichen  Parodien, 
welche  den  Thasier  Hegemon  berühmt  machten.  Auch  Ge- 
lehrte versuchten  sich  an  dem  alten  Dichter:  von  Hippias^) 
ist  wenig  mehr  als  der  Name  bekannt.  Weit  berühmter 
war  Stesimbrotos  von  Thasos^),  der  sich  vermass, 
den  verborgenen  Sinn  der  homerischen  Gedichte  (oirövota)  deu 
Griechen  aufzudecken  und  frappierende  Worte  des  Dichters 
zu  rechtfertigen  '^).  Aus  dem  Buche,  das  er  über  dieses 
Thema  herausgab^),  erfahren  wir,  ausser  dass  er  Smyrna 
als  Homers  Vaterlaud  betrachtete  ^),  durch  die  Scholien  des 
Porphyrios  und  warum  der  alte  Nestor  allein  den  schweren 
Humpen  heben  konnte  (A  636)  und  inwiefern  Lykaon  zuerst 
bei  Achilleus  Demeters  Frucht  gegessen  habe  (<I>  76) ').  Zu 
seinen  Schülern  gehörten  der  Dichter  Antimachos  und  Nikeratos 
von  Athen  ^),  Mit  Stesimbrotos'  Unterricht  hängt  in  gewissem 
Sinne  die  Schrift  ,,über  die  Mysterien"  (Trepl  twv  TeXsTwv)  zu- 
sammen, worin  er  von  deu  Kabiren,  Daktylen  und  anderer 
Mysterieimiythologie  handelte  ^)  Allgemeineres  Interesse  ver- 
dient aber  ein  Parergon  „Erinnerungen  an  Kimon,  Thukydides 


1)  Hegemon  bei  Athen.  15,  698  d  ff. 

2)  Aristot.    poet.    25    p.   1461  ii  22    (vgl.  Scholia    p.  299  b  45).     Osann 
Khein.  Mus.  2,  510  änderte  ohne  Grund  Qüoioq  in  'HXeloc. 

3)  Ed.  Heuer  de  Stesinibioto  Thasio  ejusque  reliquiis,  Diss.  v.  Münster 
1863;  C.  Müller  fragmenta  histovicorum  Graecorum  II  p.  52 — 58. 

4)  Plat.  Ion    130d.  Xenoph.  conviv.  3,  6. 

5)  Tatian.  or.  adv.  Graec.  48. 

6)  Vita  Hom.  VI  p.  31,  7  W^estermann. 

7)  Textkritische  Bemerkungen  anzunehmen,   nötigt  Scho!.  AO  193,   wo 
das  Citat  aus  Krates  entlehnt  scheint,  keineswegs. 

8)  Antimachos  Suid.   v.  'Avxtj;.ayoc;  Nikeratos  Xenoph.  conv.  3,  6. 

9)  Der    Titel    steht    Etym.    M.    p.    465,  30;    vgl.    fr.    13—17.     Müller, 
5 — 9  Heuer. 


24  Erstes  Kapitel. 

und  Perikles"^);  wer  erwägt,  dass  Stesirabrotos ,  weit  entfernt, 
Geschichte  schreiben  zu  wollen,  nur  wie  Ion  seine  Erinne- 
rungen aufzeichnete ,  wird  weder  die  Irrtümer  ^)  die  man 
übrigens  gewöhnlich  übertreibt,  noch  seine  parteiischen  Urteile 
als  genügende  Gründe  gelten  lassen ,  um  die  Echtheit  der 
Schrift  anzuzweifeln^).  Man  dürfte  besonders  die  Erinnerungen, 
welche  die  jetzigen  Griechen  ihrem  Freiheitskriege  widmeten, 
sammt  den  sich  daraus  entspinnenden  Zeitungspolemiken  mit 
Nutzen  vergleichen.  Den  schweren  Vorwurf,  den  Stesimbrotos 
gegen  Perikles'  Moral  erhoben  haben  soll,  sprach  er  nicht  selbst 
aus,  sondern  führte  ihn  unter  den  Anklagen,  welche  Xanthippos 
gegen  seinen  Vater  zu  schleudern  wagte,  auf"^);  dagegen  war 
Stesirabrotos  gegen  Kimon ,  den  Bezwinger  seiner  Heimat 
Thasos,  augenscheirdich  gereizt^),  weshalb  er  ihm  vielleicht  auch 
einen  Platz  im  Titel  versagte.  Der  V^erlust  des  Buches,  welches 
uns  gezeigt  hätte ,  was  die  Athener  von  ihren  berühmten 
Staatslenkern  und  die  Jonier  von  ihren  Zwingherren  hielten,  ist 
fast  mehr  zu  bedauern  als  der  Verlust  der  anderen  alten  Ge- 
schichtswerke %  Die  Fragmente  dieser  Memoiren  lehren  über 
das  Leben  des  Stesimbrotos,  dass  er  Kliraon  noch  kannte  und 
die  berühmte  Pest  überlebte  ^).  Die  Mannigfaltigkeit  der  Schrift- 
stellerei  darf  bei  einem  Zeit-  und  Stammesgenossen  des  geistreichen 
Dilettanten  Ion,  der  ebenfalls  pikante  Memoiren  schrieb  und 
sich  zugleich  in  Mystik  vertiefte,  nicht  im  mindesten  be- 
fremden. 


1)  'Ev  T(I>  ejtiYpa^o}JLev(})  nepl  0c}j.ioxoxXeou«:  xal  0ouxü5t8oo  xal  riepiiiXeoo? 
Athen.  13,  189  e;  es  sdieint  also  nur  ein  Buch  gewesen  zu  sein. 

2)  Z.  B.  Diincker  Geschichte  des  Altertums  VIII  188,  1.  * 

3)  Gegen  Bursians  verwerfendes  Urteil  literarisches  Centralblatt  1860 
Sp.  621),  welches  Rühl  die  Quellen  Plutarchs  im  Leben  des  Kimon  1867 
S,  37flf.  ausführt,  vgl.  Heuer  S.  31  ö.,  Ad.  Schmidt  das  Zeitalt«r  des 
Terikles  I  S.  183—278.  II  8.  1—364  (welcher  Stesimbrotos  zur  Quelle  des 
Thukydides  und  vieler  anderer  macht),  H.  Sauppe  Abhandl.  der  Göttiug. 
Ges.  der  Wissensch.  1867  S.   1  ff,  U.  v.  Wilamowitz  Hermes  12,  361  ff. 

4)  Plut.  Per.  36,  5  ist  augenscheinlich  genauer  als  Plut.  c.  13,  14  und 
Athen.  13,  689  de;  fragm.  4  verrät  eine  andere  Stimmung. 

6)  Frag.  2.  3.  5.  6. 

6)  Das  Citat  bei  Fulgent.  de  abstrus,  serm.  v.  sandapila  ist  erfanden. 

7)  Fr.  11  bei  Plut.  Per.  36,  5.  Als  Zeitgenossen  der  von  ihm  geschil- 
derten Männer  bezeichnen  ihn  Pluturch    (Cim.  4)   und  Athenaios  (13,  569  d). 


Die  ersten  Sophisten.  25 

Lehrer  homerischer  Weisheit  waren  ferner  Anax  im  an- 
dres^) und  Glaukon^);  Metrodoros  von  Lampsakos 
soll  nach  dem  Vorgange  des  Auaxagoras  die  Mythen  der  Epiker 
zuerst  physikalisch  erklärt  haben  ^).  Sonst  heisst  es ,  dass 
Dionysios  von  Olynth  und  der  Dichter  An timac hos  von 
Kolophon^)  über  Homer  schrieben.  Demokrit  verband,  wenn 
die  Schrift  izspi  '0{i7]poo  t)  opfl-osTtetTj?  xal  YXwaaswy  echt  ist,  mit 
dem  Homerstudium  grammatische  Forschungen.  Wenn  man 
aus  diesen  dürftigen  Notizen  einen  allgemeinen  Satz  ableiten 
darf,  beschäftigten  sich  im  fünften  Jahrhundert  blos  die  Jonier 
aktiv  mit  dem  Homerstudium.  Gänzlich  verschwand  diese 
Richtung  freilich  nie;  bei  Antisthenes  werden  wir  verschiedene 
mit  Homer  zusammenhängende  Schriften  zu  verzeichnen  haben 
und  die  Dutzendsophisten  liebten  zur  Zeit  des  Isokrates  noch 
immer,  Verse  aus  Homer  und  Hesiod  öffentlich  zu  recitieren 
und  ihren   Witz  dabei  zur  Schau  zu  tragen  ^). 

Aus  jenen  speziell  Homer  erforschenden  Kreisen  gingen 
ohne  Zweifel  sowohl  manche  Aenderungen  des  Textes  ^)  als 
auch  jene  strenge  Kritik  aus,  welche  dem  alten  Dichter  nur 
Ilias  und  Odyssee  beliess  ;  denn,  wie  Herodots  Beispiel  zeigt, 
wurden  die  Gelehrten  durch  Beobachtung  der  Widersprüche 
auf  solche  skeptische  Urteile  geführt.  Für  Plato  steht  das 
Resultat  bekannthch  schon  fest. 

Ueber   ähnliche    Studien   und    Schriften,     die     sich    auf 
Hesiod    und    andere  Lieblingsdichter    der  Nation    bezogen ,    ist 


1)  Xenoph.  conviv.  3,  6;  möglicherweise  ist  er  eine  Pei-son  mit  dem 
Historiker.  Einem  Kollegen  des  Stesimbrotos  würde  die  Schrift  ,,ao}j.ßoXd)V 
HoO'aYCipöicov  E^-fjYYjaK;"  (Suidas)  nicht  übel  anstehen. 

2)  Plat.  Ion  530  d.  Aristot.  poet.  25  p.  1461  b  1;  rhet.  3,  1  p.  1403  b 
26  erwähnt  er  einen  Teer  Glaukon,  welcher  den  rhetorischen  Vortrag  lehrte. 
Ueber  rXaöxor  Schol.  II.  A  636,  vgl.  Sehrader  Porphyrii  quaestt.  Hom. 
rell.  p.  385. 

3) "Plat.  Ion  530  cd.  Favoriuus  bei  Diog.  2,  11  ;  eine  Probe  bei  Hesych. 
V.  'Af^fJLEfivova. 

4)  Beide  erwähnt  Tatiauos  or.  ad  Graec.  48  unter  den  jrpsoßotaToi  (statt 
Antimachos  bietet  Euseb.  praep.  ev.  10,  12,  2  KaXXi}j.a)(oc).  Dionysios  ist 
vielleicht  der,  welchen  Porphyrios  zu  II.  B  308  iv  xü>  s  tcüv  öcTcoptov  citirt. 

5)  Isokrat.   12,   18. 

6)  Z.  B.  Aristot.  soph.  el.  4  p.  166  b  3  oiov  xal  t6v  "0|i7jpov  tnoi 
StopO-oövtat  ivpöc  -zohiz  eXeYj^ovxat;  cot;  äxöncDC  elpYjxöta  u.  .«.  w. 


26  Erstes  Kapitel. 

keine  einzige  nähere  Angabe  erhalten ;  aber  Isoicrates  (15,  45) 
sonderte  als  eine  besondere  Literaturgattung  aus :  ol  Ss  rcspi  zobc, 
Tzoifizaq  S'ftXooöfpyjaav. 

Diese  halb  dialektisch  halb  allegorisch  gefärbte  Richtung 
darf  man  auf  Protagoras  zurückführen ;  die  Sophisten  aber, 
welche  im  eigentlichen  Griechenland  nach  ihm  auftraten,  waren, 
wiewohl  von  ihm  angeregt,  doch  im  einzelnen  ziemlich  unab- 
hängig. Für  viele  Jonier  begann  durch  Protagoras  die  alte 
Naturphilosophie  ein  überwundener  Standpunkt  zu  werden, 
während  sie  im  eigentlichen  Griechenland  fast  ebenso  neu  wie 
die  Wissenschaft  des  Protagoras  war.  Daher  neigten  die  Ge- 
lehrten von  Hellas  zu  einer  Vereinigung  beider  Richtungen, 
was  zu  Polyhistorie  führte. 

Prodikos  von  Keos*)  war  jünger  als  Protagoras,  scheint 
aber  ein  wenig  älter  als  Sokrates,  der  sich  mit  leichter  Ironie 
seinen  Schüler  nannte,  gewesen  zu  sein  ^).  Der  Philosoph  unterhielt 
zu  Prodikos  freundlichere  Beziehungen  als  zu  einem  anderen 
Sophisten,  weshalb  er  ihm,  wie  Plato,  allerdings  spöttisch  sagt, 
viele  Schüler  überliess  ^) ;  ebenso  stellte  ihn  Antisthenes  dem  reichen 
Kallias  vor*).  Prodikos  war  nicht  wie  Protagoras  Sophist  von 
Beruf,  sondern  weil  ihn  die  Vaterstadt  wegen  seiner  Rede- 
fertigkeit oft  mit  diplomatischen  Aufträgen  betraute,  hielt  er  in 
den  Städten,  wohin  ihn  seine  Amtsgeschäfte  führten,  gegen 
hohes  Eintrittsgeld  wissenschaftliche  Vorträge^).  In  Athen  war 
er  eine  stadtbekannte  Persönlichkeit,  die  zwar  von  den  Komikern 
viel  zu  leiden  hatte  ^),  aber  den  Ruf  grosser  Gelehrsamkeit  ge- 

1)  Welcker  Prodikos  von  Keos  Vorgänger  des  Sokrates,  Rhein.  Mus. 
1  (1832)  S,  533  flf.  4  (1836)  S.  355  flf.  =  kleine  Schriften  2,  393  flf.  Schon  der 
Titel  deutet  die  übertriebene  Meinung  an ,  welche  Welcker  von  den  Ver- 
diensten des  Sophisten  hatte,  vgl.  dagegen  Schanz  a.  O.  S.  38  ff.  Beweist 
Plat.  Protag.  339  e  wirklich,  dass  er  gerade  aus  der  Stadt  Julis  stammte? 

2)  Plat.  Meno  96  d.  Hipp.  maj.  282  c.  Cratyl.  384b  (Axioch.  366  c);  jünger 
als  Protagoras  war  er  nach  Prot,  317c;  apol.  19 e  beweist  schwerlich,  dass 
er  Sokrates  überlebte,  vielmehr  stellt  ihn  Plato  im  „Protagoras"  wohl  nicht 
ohne  Grund  als  kränklich  dar.  Da«s  er  den  Tod  des  Sokrates  erlitt  (Suid.), 
dürfte  auf  einem  dtirch  den  keischen  Schierlingstrank  veranlassten  Missgriff 
beruhen  (Welcker  kl.  Sehr.  2,  503). 

8)  Plat.  Theaetet.  151b. 

4)  Xenoph.  conviv.  4,  62. 

6)  Plat.  Hipp.  maj.  282c. 

6)  Aristoph.  Nub.  361.  Av.  692.  fragm.  482. 


Die  ersten  Sophisten.  27 

noss^).  Wiewohl  Prodikos  durch  das  Auftreten  des  Protagoras 
oliiie  Zweifel  die  Anregung  empfing,  seine  Kenntnisse  in  ähn- 
licher Weise  zu  verwerten,  war  er  doch  keineswegs  von  jenem 
Sophisten  unmittelbar  abhängig^).  Seine  Natur  war  nüchtern 
und  eitler  Wortverschwendung  abgeneigt,  üeber  jede  Sache 
l)eliebig  lange  disputieren  zu  können,  hielt  Prodikos  für  wert- 
los; man  solle  über  einen  Gegenstand  weder  kürzer  noch  länger 
als  angemessen  sei  sprechen  ^).  Auf  Schmuck  der  Rede  scheint 
er  dementsprechend  weniger  gesehen  zu  haben  als  auf  treffende 
Ausdrücke  ■*).  Dieses  Streben  führte  ihn  zur  Begründung  der 
Synonymik,  indem  er  die  eigentliche  Bedeutung  jedes  Wortes 
festzustellen  und  es  gegen  verwandte  Bezeichnungen  abzugrenzen 
suchte,  z.  B.  schied  er  rjSovirj  y.apd  xsptjji?  und  eufppoaovT]  ^).  Die 
Resultate  dieser  Forschungen ,  welche  für  die  Bildung  des 
Stiles,  wie  für  die  Festsetzung  der  Begriffe  gleich  wichtig  waren, 
teilte  Prodikos  in  einem  berühmten  Vortrage  mit,  den  Plato 
spöttisch  die  Fünfzigdrachmenvorlesung  nannte  ^).  Die  mora- 
lische Richtung,  die  den  Sophisten  mit  Sokrates  verband,  be- 
thätigte  er  durch  erbauliche  Vorträge  über  Herakles  und  andere 
Heroen  ^),  die  sich  die  Zuhörer  zum  Muster  nehmen  sollten ; 
besonders  behebt  w-ar  ,, Herakles  am  Scheidewege",  eine  Parabel, 
welche  von  ihm  selbst  erfunden  scheint  ^). 


1)  üpoStxoo  ootpoitspo«;  (wohl  ans  einem  Komiker)  Apostol.  proverb.  14,  76 
mit  Schneidewius  Note. 

2)  Suidas  von  flpcuTaYÖpa:;  und  Hpöocxoc;  (verderbt  Schol.  Plat.  217  B), 
der  ihn  einen  Schüler  des  Protagoras  nennt,  wird  durch  den  platonischen 
Dialog  widerlegt, 

3)  Plat.  Phaedr.  267  b. 
_.             4)  Plat.  Eutbyd.  277  e  Tzptäxov  irepl  6vo|j.aTtMV  ipS-oTYjto?  |j.a^£lv  Sei. 
W            5)  Tä  öv6|i,aTa  Siatpelv  Plat.  Charmid.  163  d    und  Laches  197  d.  Protag. 

337ab.  341b.  Aristot.  top.  2,  6  p.  112b  22;  vgl.  Schanz  S.  151  ff. 

6)  Plat.  Cratyl.  384  b  (Die  „Volksausgabe"  für  einen  Drachme  wird  man 
für  nichts  anderes  als  einen  Witz  halten  dürfen).  Aristot,  rhet.  3,  14  p. 
1416b  15. 

7)  Plat.  syrapos.  177  b. 

8)  Xenophon  erzählt  sie  memor.  2,  1,  21—34  und  zwar,  wenn  er  auch 
nach  §  21  ein  Buch  benützte  (Philostr.  vit.  soph.  l,  12  ist  erfunden),  ohne 
den  Wortlaut  wiederzugeben ;  er  wendet  bloss,  um  das  Werk  als  sophistisch 
zu  kennzeichnen,  den  gorgianischen  Stil  (Blass  attische  Bereds.  I  30  f.)  an. 
üeber  die  Parabel  vgl.  Böttiger  Hercules  in  bivio  e Prodici fabula  et  monu- 
mentis  priscae  artis  illustratus  1829. 


28  Erstes  Kapitel. 

Diese  Rede  veröffentlichte  Prodikos  mit  drei  anderen;  die 
Vierzahl  veranlasste  den  preciösen  Titel  ^üpc(.i  ^).  Darin  war 
wohl  auch  die  Abhandlung  ,,über  die  Natur  des  Menschen" 
einbegriffen^).  Sie  lehrt,  dass  auch  tue  Naturphilosophie  dem 
Sophisten  nicht  fremd  geblieben  war. 

Während  die  Schriften  des  berühmten  Sophisten  rasch 
verschollen,  übten  seine  Vorträge  einen  erheblichen  und  nach- 
haltigen Einfluss  auf  die  Entwickelung  des  Prosastils  aus,  ja 
der  Keer  hat  die  Bildung  einer  wahrhaft  klassischen  Prosa 
vielleicht  mehr  gefördert  als  Gorgias.  Denn  er  lehrte  nicht 
die  kunstreiche  Verschnörkelung  der  Sprache,  sondern  die  strenge 
Zucht  des  Stils.  Prodikos  forderte  einen  richtigen  und  scharf 
bezeichnenden  Ausdruck.  Wenn  hiebei  auch  manche  Spitz- 
findigkeit mit  unterlief,  gewann  doch  die  Klarheit  und  Sorgfalt 
der  Sprache  ausserordentlich  ;  daher  zeigten  fast  alle  Erzeugnisse 
der  attischen  Literatur,  welche  während  des  peloponnesischen 
Krieges  entstanden,  Spuren  der  prodikeischen  Synonymik. 
Die  Alten  haben  sie  bereits  bei  Thukydides^)  und  Euripides*) 
beobachtet.  Antiphon  hält  sich  ebenfalls  nicht  davon  frei. 
Plato  lässt  im  Symposion  Pausanias ,  einen  Zuhörer  des 
Prodikos ^),  dessen  Lehren  befolgen.  Von  Kritias*')  und  Thera- 
menes '')  könnte,  wären  ihre  Schriften  erhalten,  dasselbe  gezeigt 
werden.     Einige  lassen  auch  Isokrates    bei  ihm   in   die  Schule 


1)  Xenophon  sagt  ev  ty  ouYYpajJ.fi'XTi  xü)  irspl  'IlpaxXeouc;  nach  Schol. 
Aristoph.  Nub.  3ö0  (vgl.  Av.  693  Said.  v.  IIpoS'.xoc  und  ^ßpai)  gehörte  sie 
zu  den  'üpai.  Ebenso  nuuute  mau  die  drei  Reden  des  Aischines  Xdiptte!;. 
Andere  Vermutungen  über  den  Titel  bei  Welcker  S.   4(')6f. 

2)  ITepl  (püaEtu-:  ävO-pcoTCou  Galen  II  p.  130K.,  vgl.  Cic.  de  orat.  3,  32,  128; 
hierher  gehört  wahrscheinlich  das  von  Di  eis  Hermes  13,  1  aufgefundene 
Fragment.  Der  Vortrag  über  die  Seele,  welche  dem  „Axiochos"  zu  Grunde 
liegt,  ist  ebenso  bedenklich  wie  ein  '0\o|jl7:ix6?  (Lucian.  Herod.  3). 

3)  Marcellin.  vit.  Thuc.  36. 

4)  Vit.  Eurip.  I  Z.  10  (II  Z.  9),  III  Z.  7  (aus  einer  ähnlich  lautenden  Quelle 
Gell.  16,20,  4);  vgl.  Aristoph.  Ran.  1154  flf.  (wo  1181  speziell  der  Ausdruck 
ipfrör»)?  t&v  ej:d>v  steht),  auch  Fragm.  801. 

6)  Plat.  Protag.  316d. 

6)  Plat.  Charmid.  163  (b)  d. 

7)  Aeschines  Socrat.  bei  Athen.  6,  220  b  (vgl.  Suid.  QvjpaftlvTjc).  Aristp- 
phaneis  Kan.  970  spottet  deshalb,  er  sei  oü  Xioi;  aKkä  Keio^. 


Die  ersten  Sophisten.  29 

gellen  ^).     Eigentliche  Schüler   hat  aber  Prodikos   gewiss   nicht 
gehabt,  da  ja  die  Sophistik  nicht  sein  Lebensberuf  war. 

Die  encyklopädische  Richtung  tritt  noch  mehr  hervor  bei 
Jlippias  von  Elis^).  Er  war  gleichfalls  nicht  ein  blosser 
Sophist,  sondern  diente  seiner  Bürgerschaft  häufig  als  Gesandter^). 
Bei  diesen  Gelegenheiten  hielt  er  in  Griechenland  und  Sicilien^) 
für  teueres  Geld  Vorträge  in  geschlossenen  Cirkeln;  natürlich 
kam  Hippias  gelegentliclv  auch  nach  Athen,  wo  er  mit  Sokrates 
verkehrte.^)  Plato  stellt  ihn  in  zwei  nach  ihm  benannten  Dialogen 
so  dar,  als  ob  er  sogar  unter  den  selbstbewussten  Sophisten 
durch  seine  Eitelkeit  aufgefallen  wäre;  aber  Plato  übertreibt 
ohne  Zweifel  *').  Um  so  mehr  ist,  was  er  ihm  an  Vorzügen 
zugesteht,  glaubwürdig.  Ein  wunderbares  Gedächtnis  '^)  gestattete 
nämlich  Hippias,  eine  ausserordentliche  Fülle  von  Kenntnissen, 
deren  sich  kein  anderer  seiner  Zeitgenossen  rühmen  konnte, 
spielend  zu  erwerben  ^) ;  er  eignete  sich  sogar  eine  Menge  von 
praktischen  Fertigkeiten  an,  so  dass,  wenn  wir  Plato  glauben 
dürfen,  die  reiche  Gewandung,  in  der  er  zu  Olympia  vor  der 
Festversammlung  auftrat,  vollständig  von  seiner  Hand  gefertigt 
war  ^).  Sonst  erzählt  niemand  etwas  über  Hippias.  Jedenfalls 
war  er  ungefähr  ein  Zeitgenosse  des  Prodikos  ^*'). 


1)  Bionys.  Hai.  und  Ps.  Plut.  in  den  Biographien  des  Redners. 

2)  Osann  Rhein.  Mus.  2,  496 ff. ;  Geel  Rhein.  Mus.  3,  132  ;  Mähly  Rhein, 
Mus.  16,  614  ff,   16,  38  fl'. 

3)  Plat.  Hipp.  maj.  281  ab. 

4)  Plat.  apol.  19  e.  Hipp,  maj.  281  be.  283eff. 

5)  Xenoph.  mem.  4,  4,  5  ff. 

6)  Schanz  a.  O.  S.  61  f. 

7)  Plflt.  Hipp.  maj.  286 e.  Verschiedene  behaupten,  er  habe  es  wieder 
Dichter  Simonides  durch  Zaubertränke  erworben  (Animian.  Marc.  IG,  6,  8). 
Ein  Sophist  sollte  überhaupt  ixvYjjjLovtxoc  sein  (vgl.  Aristoph.  Nub.  414.  483. 
Aeschin.  2,  112):  s.  Morgenstern  de  arte  veterum  mnemonica,  Dorpat 
1835;  Val.  Rose  Aristoteles  pseudepigr.  p.  140;  Roh  de  der  griech.  Roman 
S.  296  A.  2. 

8)  Uo\oii.ad"fi(:  nennt  ihn  Xenophon  mem.  4,  4,  6. 

9)  Plato  Hipp.  min.  368  b  ff. 

10)  Auf  ihn  zielt  Aristophanes  Nub,  638;  der  Hippias,  dessen  Wittwe 
oder  Tochter  Isokrates  heiratete,  war  tfotz  Suidas  (v.  'Atfapsuc)  nicht  unser 
Sophist,  sondern  ein  Athener. 


30  Erstes  Kapitel. 

Der  Vielwisserei  des  Hippias  entsprach  die  Mannigfaltigkeit 
seiner  Vorträge.  Vor  allem  unterrichtete  er  in  den  mathematischen 
und  musikalischen  Wissenschaften  (Arithmetik,  Geometrie 
und  Astronomie,  Musik,  Rhythmik  und  Harmonik ') ;  ahor  er 
entwarf  auch,  wie  Prodikos,  von  den  Helden  der  homerischen 
Epen  farhenreiche  Bilder  oder  liess  den  unerfahrenen  Neoptolemos 
durch  Nestor  belehren  ^).  Hippias'  Wissen  ging  aber  mehr  in 
die  Breite  als  in  die  Tiefe;  denn  er  förderte,  soviel  wir  wissen, 
weder  eine  einzelne  Wissenschaft  noch  die  allgemeine  Bildung, 
weshalb  ihn  Aristoteles  ignorieren  durfte.  Selbst  die  '(pc(.^\Lanv.ri 
im  älteren  Sinne,  die  Lehre  von  dem  Klange  der  Bachstaben, 
welche  mit  der  Rhythmik  und  Harmonik  zusammenhing, 
scheint  Hippias  dem  Demokritos  abgelernt  zu  haben,  wenn 
anders  derselbe  Trspl  su^wvwv  xat  a^tovwv  Ypa{jL[i.dTüiv  geschrieben 
hatte  ;  übrigens  hatten  schon  die  Lyriker  auf  den  Wohlklang 
der  einzelnen  Buchstaben  geachtet  und  Lasos  deshalb  zwei 
Gedichte,  in  denen  der  Buchstabe  o  nicht  vorkam,  verfasst^). 
Doch  empfing  der  athenische  Staatsmann  Archinos,  als  er 
die  Einführung  des  jonischen  Alphabetes  beantragte,  wahr- 
scheinlich von  Hippias  die  Anregung,  sich  mit  der  Lautphysiologie 
zu  beschäftigen^)-  Hippias  selbst  wurde  einerseits  von  der 
Musik  und  Metrik  aus  andererseits,  wie  die  Poetik  des  Aristoteles 
zeigen  mag ''),  durch  das  Studium  der  Dichter  auf  dieses  Gebiet 
geführt.  Was  seine  Stellung  zur  Redekunst  anlangt,  huldigte 
Hippias  ähnlichen  Grundsätzen  wie  Prodikos  ^),  wiewohl  er  ihn 
anscheinend  an  Beredsamkeit  übertraf;  er  rühmte  sich  ja,  jede 
Sache  immer  neu  behandeln  zu  können  ^)  und  Plato  legt  ihm 
im  Protagoras  (337  c  ff.)   eine   volltönende  Rede   in   den  Mund, 


1)  Plat.  Prot.  318  e.  Hipp.  maj.  285  d.    Hipp.  min.  366  c.  367  de.  368  d. 

2)  Plat.  Hipp.  min.  363a  — c.  Hipp.  maj.  286  ab;  eine  genauere  Be- 
trachtung dieser  Stellen  wird  abhalten,  die  Vorträge  zusammenzuwerfen. 

3)  Vgl.  Athen.   10,  465  cd. 

4)  Ein  Fragment  der  Schrift,  welche  .\rchinos  darüber  veröffentlichte, 
wies  Usener  Kheiu.  Mus.  25,  691  f.  nach;  vielleicht  stand  Kullias'  bekannte 
Ypa|jL|jittTixY]  tpuYtuSia  damit  in  Zusammenhang. 

6)  Aristot.  poet.  c.  20.  21. 

6)  Plat.  Phaedr.  267  b. 

7)  Xenoph.  mem.  4,  4,  6. 


bie  ersten  Sophistert.  31 

welche   eine  grosse  Vorliebe  für  Verbindung   von    Synonymen 
und  für  bildliche  Ausdrücke  zeigt  ^). 

Obgleich  sich  Hippias  in  allen  Gattungen  der  Poesie  und 
1^-osa  versuchte  ^),  war  den  Alten  ein  einziges  in  attischer  Mundart 
—  Hippias  konnte  doch  nicht  elisch  schreiben  —  abgefasstes 
Werk,  welches  die  buntscheckigen  Kenntnisse  des  Verfassers 
vor  Augen  stellen  sollte,  bekannt.  Die  prahlerische  Voirede 
der  aDva^cioYi]  ^)  verkündete  dem  Publikum,  dass  Hippias  aus 
allen  möglichen  prosaischen  und  poetischen  Werken  der  Griechen 
— ■  und  Barbaren  eine  Auswahl  zu  geben  gedenke.  Hippias 
hatte  also  seine  mannigfaltigen  Kenntnisse  nicht,  wie  die  übrigen 
Gelehrten  des  fünften  Jahrhunderts,  auf  weiten  Reisen  mühsam 
erworben,  er  war  vielmehr  der  erste  Vielleser,  der  erste  Stuben- 
gelehrte; beispielsweise  memorierte  er,  auch  nach  dem  ßeifalle 
der  Lakedämonier  begierig,  in  Eile  allerlei  merkwürdiges  über 
die  griechische  Vorzeit,  was  sie  interessieren  konnte.  In 
einem  Buche  handelte  nun  Hippias,  wofern  die  enthaltenen 
Fragmente  sännntlich  dazugehören,  von  berühmten  Dichtern, 
Philosophen,  Gesetzgebern  und  Hetären,  über  Sternbilder,  die 
Argonautensage,  die  früheste  Belegstelle  des  Wortes  „Tyrann", 
die  Namen  der  Weltteile  und  des  eleischen  Ephyra^);  Hippias 
muss  wahrlich  aller  Gewandtheit  seiner  Zunge  bedurft  haben, 
damit  er  alle  diese  Dinge  in  Zusammenhang  brachte.  Als  dem 
berühmtesten  Eleer  legten  ihm  manche  auch  die  Liste  der 
olympischen  Sieger^)  bei  und  die  örthche  Tradition  schrieb  ihm 
das  Epigramm  einer  Siegerstatue  zu  ^).  Bei  Hippias  sind  weder 
Schüler  noch  Spuren  seiner  Schule  nachzuweisen. 


1)  Besonders  338  a,  vgl.  Schanz  S.  144.  Die  Bemerkung  des  Philostratos 
Vit.  soph.  2,  21  litittaCovTt  xs  etuxst  %a\  YopYtdCovxi  beruht,  was  Hippias  anlangt, 

gewiss  nur  auf  Plato. 

2)  l'lat.  Hipp.  min.  3*38 cd. 

3)  Diesen  Titel  gibt  Athen.  13,  609a  an;  das  bei  Clem.  Alex,  ström. 
6,  265  S.  stehende  Fragment  bildete  augenscheinlich  einen  Teil   der  Vorrede. 

4)  Diese  Fragmeute  sind  bei  C.  Müller  fragm.  histor.  Graec.  II  59—63 
zusammengestellt;  zwei  von  Stobaios  angeführte  Sentenzen  veranlassten  Geel 
bist.  crit.  sophist.  p.  192  eine  besondere  Schrift  irepl  apsxcüv  anzunehmen. 

5)  Phit.  Nnma  1  am  Ende;  Meziriac  wollte  hier  'HXeIov  in  A-fjXtov 
ändern.  Es  gab  nämlich  einen  'ir^rdaz  h  A-riXio?  (C.  Müller  will  'HXeloc), 
der  nach  Schol.  Apoll.  Rhod.  3,  1079  si^vwv  övo^iaaiat  schrieb;  frg.  4und5M. 
haben  damit  nichts  zu  thun. 


32 


Erstes  Kapitel. 


Wie  wir  sehen,  trotzte  in  dem  eigentlichen  Griechenland 
kein  Gelehrter  dem  Vorurteile  so  sehr,  dass  er  als  unabhängiger 
Wanderlehrer  auftrat;  zugleich  brach  man  nicht  so  entschieden 
wie  es  Protagoras  gethan  hatte,  mit  den  frülier  alleinberechtigten 
Wissenschaften ,  sondern  strebte  eine  Vermittlung  zwischen 
jenen  und  den  Bedürfnissen  des  praktischen  Lebens  an. 


Zweites   Kapitel. 

Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  und  seine 

Schule).*) 

*)  Die  Geschichte  der  Beredsamkeit  wurde  von  dem  feinsinnigen  Hardion 
(sur  l'origine  et  les  progres  de  la  rhetorique  dans  la  Grece,  in  den  M^moires 
de  l'academie  des  iuscriptions  t.  IX — XIX)  eröffnet ;  an  David  Ruhnkens 
historia  critica  oratorum  Graecorum  (im  VIII.  Bande  von  Reiskes  oratores 
Graeci  ahgedruckt)  ist  jetzt  wenig  zu  rühmen.  In  unserem  Jahrhundert 
waren  die  Arbeiten  der  Franzosen,  unter  denen  ich  G.  P  e  r  r  o  t  l'eloquence  politique 
et  judiciaire  ä  Athenes,  Paris  1873  und  Jules  Girard  etudes  sur  l'eloquence 
Attique.  Lysias  Hyperide  Demosthene,  Paris  1874  hervorhebe,  auf  die  ästhe- 
tische Würdigung  der  alten  Redner  gerichtet;  A.  Westermann  Geschichte 
der  Beredsamkeit  in  Griechenland  und  Rom,  Bd.  I.  Leipzig  1833  entwarf  zuerst 
eine  philologische  Darstellung.  In  dem  umfixssenden  Werke  von  Friedrich 
Blass,  die  attische  Beredsamkeit,  Bd.  I.  von  Gorgias  bis  Lysias,  Leipzig  1868 
(2.  Aufl.  augekündigt).  II.  Isokrates  und  Isaios  1874,  III.  1.  Demosthenes  1877 
2.  Demo.sthenes'  Genossen  und  Gegner  188Ü  sind  zum  ersten  Male  nicht  bloss 
die  äussere  Geschichte  erörtert  und  allgemeine  Urteile  gegeben,  sondern  auch 
die  Eigentümlichkeiten  jedes  Redners  und  die  einzelnen  Denkmäler  auf  das 
sorgsamste  und  genaueste  analysiert.  R.  C.  Jebb  the  Attic  orators  from 
Antiphon  to  Isaeos,  London  1876,  2  Bde.  ist  mir  nicht  bekannt. 

Die  ältere  Geschichte  der  Theorie  der  Beredsamkeit  behandeln  L.  Spengel 
ouvaYWY"']  t£)(vtuv  sive  artium  scriptores  ab  initiis  usque  ad  editos  Aristotelis 
de  rhetorica  libros,  Stuttgart  1828  und  Benoit  sur  les  premiers  manuels 
d'invention  oratoire,  Paris  1846. 

An  Sammelausgaben  der  attischen  Redner  werden  folgende  wiederholt 
genannt  werden :  die  Aldusausgabe  der  Attiker  mit  Gorgias,  Alkidamas,  Anti- 
sthenes,  Lesbonax  und  Herodes,  Venedig  1513  3  Bde.  fol.;  Oratores  Graeci, 
(ausser  Demosthenes)  von  Henr.  Stephanus,  Paris  1575 ;  Oratorum  Graecorum 
quorum  princeps  est  Demosthenes,  quae  superunt  monumenta  ingenü  ed. 
J.  Jac.  Reiske,  Lipsiae  1770 — 75,  12  Bde.  (Isokrates  fehlt);  Oratores  Attici 
ex  rec.  Imm.  Bekkeri,  Oxonii  1822—28  4  tom.  und  Berolini  1823 — 84  5  tom.; 
Oratores  Attici  recogn.  ...  lo.  G.  Baiterus  et  Herm.  Sauppius,  Turici  1838 
—  60  9  fasc.  (mit  den  SchoUen  und  Fragmenten),  kleinere  Ausgabe  Turici 
1838 — 43;  Oratores  Attici  .  .  .  cum  translatione  reficta  a  C.  MüUero,  Paris 
1846 — 47  (mit  Schollen  und  Fragmenten). 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  3 


34  Zweites  Kapitel. 

Gorgias;  Polos,  Likymnios,  Alkidamas  und  die  übrigen  Gorgianer ;  StoflFe  der 

Prunkreden. 

Bei  jenen  älteren  Sophisten  war  die  Beredsamkeit  nur 
Mittel  zum  Zweck;  sie  begründeten  dieselbe  nicht,  sondern  be- 
reiteten nur  ihr  Aufblühen  vor.  Wenn  kein  Athener  diese  Lücke 
ausfüllte,  so  konnte  kein  anderer  als  ein  sicilischer  Grieche 
dafür  eintreten.  Den  hellenischen  Bewohnern  von  Sicihen  waren 
ja  Geschwätzigkeit  und  unerschöpflicher  Witz  angeboren^);  zudem 
erhielt  ihre  Sprache  durch  Personifikationen  und  Metaphern, 
an  die  sie  sich  vielleicht  im  Verkehr  mit  den  Puniern  gewöhnten, 
einen  poetischen  Anstrich^).  Nicht  umsonst  hiess  ,,Herr  und 
Frau  Rede"  (Aö^oc  xai  Ao^iva)  eine  Posse  des  Epicharmos.^) 

Der  erste  Sicilier  nun,  von  dem  Aristoteles  sagen  durfte, 
er  habe  zur  Rhetorik  „den  An stoss  gegeben"*),  war  der  bekannte 
Philosoph  und  Arzt  Empedokles,  der  am  Krankenbette,  mit 
den  unvollkommenen  Heilkünsten  der  Empirik  nicht  zufrieden, 
auch  die  Seele  seiner  Patienten  durch  den  Zauber  seiner  Rede 
stärkte  und  hoffnungsvoll  stimmte  oder  sie  zu  unangenehmen 
Heilmitteln  überredete^).  Weil  dies  gewiss  viel  zu  seinen  an- 
geblichen W^underkuren  beitrug,  pries  er  in  seinen  Gedichten 
die  Macht  der  Peitho^). 

Empedokles  verdient  jene  Anerkennung  des  Aristoteles  auch 
deshalb,  weil  ohne  Zweifel  Gorgias  von  Leontinoi'),  der 
erste  Rhetor,    von    ihm   die  wichtigsten   Anregungen    empfing. 


1)  Schon  Pindar  (Pyth.  1,  42)  nannte  sie  ntpif\u>a-zof.',  vgl.  Lorenz 
Leben  und  Schriften  des  Koers  Epicharmos  S.  94. 

2)  Vgl.  Plat.  Gorg.  493  a,  der  vielleicht  auf  Tiraokreon,  frg.  6  (Bergk 
III*  639)  anspielt. 

3)  Lorenz  a.  O.  S.  146. 

4)  Diog.  9,  25.  Sext.  Empir.  7,  6  (xEX'.VY)xEvat  wird  durch  „movisse  aliqua 
circa  rbcloricen"  Quintilian.  3,  1,  8  als  Originalausdruck  erwiesen);  Plethons 
Citat  bei  Walz  rhetor.  VI  688  ist  erdichtet. 

6)  Vgl.  Satyros  bei  Diog.  8,  58;  im  allgemeinen  Plato  leg,  4,  720  d. 
Gorgias  unterstützte  so  seinen  Bruder  Herodikos  und  andere  Aerzte  Plat. 
Gorg.  466  b. 

6)  Bei  Clem.  Alex,  ström.  6,  694  S,  686  P. 

7)  Heinr.  Foss  de  Gorgia  Leontino  commentatio,  Halle  1828,  Deuschle 
in  seiner  Ausgabe  des  platonischen  Gorgias,  Susemihl  Gorgias  and  die 
attische  Prosa,  Jahrbb.  f.  Phil.  115,  793  ff.  Blass  144  ff. 


Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  nnd  seine  Schule).  35 

Gorgias,  der  Sohn  eines  Charmantides  ^)  und  Bruder  des  Arztes 
Herodikos,  tritt  uns  in  den  Geschichtsbüchern  Ol.  88,  1  oder  2 
(427)  entgegen,  als  er  mit  anderen  Gesandten  seiner  Vaterstadt 
nach  Athen  kam,  um  dessen  Hilfe  anzurufen^).  Dort  erregte 
er  durch  das  Neuartige  seiner  Reden,  welche  er  im  Privatkreise 
hielt,  das  grösste  Aufsehen  ^).  Dieser  Erfolg  veranlasste  vielleicht 
Gorgias,  den  Lehrerberuf  zu  ergreifen.  Ohne  irgendwo  festen 
Wohnsitz  zu  nehmen,  zog  er  in  Griechenland  umher,  überall 
auf  das  ehrenvollste  aufgenommen  und  von  lernbegierigen 
Jünglingen  umdrängt.  Am  hebsten  hielt  sich  der  Rhetor  in 
dem  reichen  Thessalien  auf,  wo  das  Fürstengeschlecht  der 
Aleuaden  ihn  begünstigte  *) ;  ob  er  nach  Athen  ein  zweites  Mal 
kam,  ist  sehr  zweifelhaft,  Plato's  Worte  scheinen  es  auszu- 
schhessen^).  Gorgias  endigte  sein  Leben  im  höchsten  Alter, 
nachdem  erden  ausserordentlich  reichen  Ertrag  seiner  Thätigkeit '') 
in  egoistischer  Müsse  und  Einsamkeit,  keiner  Bürgerschaft  ver- 
pflichtet und  ohne  Famihe,  massvoll  genossen  hatte'). 


1)  So  die  Inschrift  von  Olympia  Archäol.  Ztg.  35,  43  (ebenso  Suidas, 
zu  dessen  Artikel  man  E.  Rohde  Rhein.  Mus.  33,  185  A.  1  vergleiche);  falsch 
KapiiavTi^Y)?  Pausan.  6,  17,  8,  vgl.  H.  Keil  analecta  epigraphica  p.  208. 

2)  Plat.  Hipp.  maj.  282  b.  Timaios  bei  Dionys.  Lys.  3,  vgl.  Diodor.  12 
53,  2.  Pausan.  6,  17,  8. 

3)  Timaios  a.  O.;  die  späteren  Rhetoren  wussten  allerlei  davon  zu  er- 
zählen (Walz  rhetor.  4,  15.  5,  216.  Olympiod.  in  Plat.  Gorg.  Jahns  Archiv 
14,  109). 

4)  Plat.  Meno  70  b.  Isoer.  15,  155  (ausgesponnen  Cic.  orator  52,  176, 
Philostr.  epist.  73,  2,  auf  Jason  übertragen  Pausan.  6,  17,  9).  In  Böotien 
hatte  Gorgias  den  bekannten  Proxenos  zum  Schüler  (Xenoph.  anab.  2,  6,  16). 

5)  Plat.  Meno  71c.  Der  platonische  Dialog  Gorgias  ist  für  die  Chronologie 
natürlich  unbrauchbar.  Susemihl  a.  O,  S.  797 f.  nimmt  an,  dass  er  4! 8  oder 
419  noch  einmal  nach  Athen  kam. 

6)  Das  Honorar  von  hundert  Minen  finden  wir,  wie  Protagoras,  so  auch 
Gorgias  beigelegt  (Diod.  a.  O.  Suid.).  Nach  Isoer.  15,  166  hinterliess  er  1000 
Statere  (nominell  200  Minen). 

7)  Isoer.  14,  156;  nach  §  165  lebte  er  tiXecotov  j^povov.  Spätere  wollten 
die  Zahl  seiner  Jahre  genauer  wissen:  108  Plin.  nat.  h.  7,  156.  Philostr.  vit. 
soph.  1,  9.  Ps.  Lucian.  jj-axpoß.  23  (nach  diesem  starb  Gorgias  durch  freiwilligen 
Hungertod).  Censorin.  de  die  nat.  15;  109  Apollodor.  bei  Diog.  8,  58  (Quiutil. 
3,  1,  9,  Olympiodor.  Jahns  Archiv  14,  112.  Suid.).  Anekdoten  aus  dem  106. 
oder  107.  Jahre  Plut.  defect.  orac.  20  und  Val.  Max.  8,  13  ext.  2;  diese 
erzählend  teilt  ihm  Cic.  de  senect.  5,  13  ungenau  107  Jahre  zu.  Vereinzelt 
steht  Pausan.  G,  17,  9  mit  106  Jahren.     Vgl.  auch  Klearchos  bei  Athen.  12, 

3* 


3g  Zweites  Kapitel. 

Gorgias  wollte,  wie  die  übrigen  Sophisten  für  das  öffentliche 
Leben  erziehen,  aber  er  war  der  erste,  welcher  die  Beredsamkeit 
in  den  Vordergrund  stellte.  In  der  Redekunst  schienen  ihm 
alle  Wissenschaften  zu  gipfeln,  weil  durch  sie  jene  zum  Ausdrucke 
gelangen  und  der  Mensch  ohne  rohe  Gewalt  den  Sinn  seiner 
Mitbürger  nach  seinem  Willen  lenkt  ^).  Darum  nannte  er  sich 
nicht  Sophist,  sondern  R  h  e  t  o  r,  in  welchem  Worte  dem  Griechen 
der  politische  Einfluss  miteingeschlossen  war^).  Damit  war  ein 
erheblicher  Schritt  vorwärts  gethan,  um  die  allgemeine  Auf- 
merksamkeit auf  die  Sprache  selbst  zu  lenken,  mochte  auch 
Gorgias  als  Lehrer  noch  höchst  unvollkommen  sein  und  seinen 
pjrfolg  zum  grossen  Teil  dem  Eindrucke  seiner  Persönlichkeit 
verdanken.  Weil  Empedokles  seinem  klugen  Schüler  gezeigt 
hatte,  wie  sehr  der  Erfolg  beim  Publikum  von  Aeusserlichkeiten 
abhängig  sei,  imponierte  Gorgias  seinen  Zuhörern,  indem  er  wie 
ein  Fürst  im  Purpurgewande  vor  sie  trat^).  Damit  er  hinter 
Protagoras  nicht  zurückstehe,  rühmte  er  sich  etwas  reklamenhaft, 
wie  er  über  alles  erdenkliche  reden  und  jedem  Antwort  stehen 
könne  und  nichts  weniger  fürchte,  als  dass  ihm  die  Worte  aus- 
gingen*).     Dazu  bedurfte   er   aber   mannigfaltiger  Kenntnisse; 


648(1.  Jene  108  oder  109  Jahre  scheinen  nur  aus  Plat.  apol.  p.  19e  errechnet; 
denn  man  nahm,  wie  Quintiliau  3,  1,  9  andeutet  an,  dass  Gorgias  damals 
(Ol.  95,  1)  noch  lebte.  Wenn  man  nun  an  der  Hand  von  Aristoteles  (Cic. 
Brut.  12,  46)  den  Beginn  der  siciliachen  Beredsamkeit  und  damit  auch  die 
Blüte  des  Gorgias  Ol.  78  ansetzte,  so  ergaben  sich  108  oder  109  Jahre,  sobald 
man  Gorgias  in  demselben  Jahre  wie  Sokrates  oder  im  folgenden  sterben  Hess. 
I'orphyrios  (bei  Suid.)  nennt  Ol.  80,  wo  Perikles  auftrat.  Schlimmer  war 
das  kindische  Verfahren,  den  Rhetor  wegen  seiner  patriotischen  Reden  zum 
Zeitgenossen  der  Perserkriege  zu  stempeln  (Ps.  Plutarch.  Antiph.  83*2  e  und 
Vita  Antiph.  p.  236,  3  West.),  woraus  Plin.  83,  83  LXX.  circiter  Olympiade 
und  Suidaa'  Worte  aXXd  )(p-r)  voelv  TCpeoßöxepov  aotov  eivat  zu  erklären  sind. 
Vgl.  Diels  Rhein.  Mus.  31,  39f.  Plut.  Socrat.  daem.  13  ist  für  die  Chrono- 
logie wertlos. 

1)  Plat.  Gorg.  452de.  466aff.  u.  ö.  Phileb.  68ab. 

2)  Plat.  Gorg.  449  a.  Mit  ^-rjxopec  setzt  Plat.  Protag.  329  b  die  Gorgianer 
Protagoras  entgegen. 

3)  Aelian.  var,  bist.  12,  82,  was  im  Hinblick  auf  Empedokles  und  Hippias 
glaublich  ist;  sonst  kJmnle  man  denken,  da.ss  die  Bemerkung  von  der  Sitte 
der  spiUeren  Sophisten  (Roh de  der  griechische  Roman  S.  307  A.  2)  ent- 
lehnt sei. 

4)  Plat.  Gorg.  447  c.  46üc.  467 ab.  Arist.  rhet.  3,  17  p.   1418a  34. 


Die  älteren  Priinkredner  (Gorgias  und  seine  Schule).  37 

doch  hört  man  bloss,  dass  Gorgias  sich  mit  Naturphilosophie 
eingehend  beschäftigte,  wobei  er  in  die  Fussstapfen  seines 
Lehrers  Empedokles  trat^).  üer  platonische  ,,Menon"  zeigt, 
dass  der  Empedokleismus  nicht  ein  später  überwundenes  Stadium 
in  der  geistigen  Entwicklung  des  Gorgias  war ;  der  Rhetor 
scheint  auf  diesem  Gebiete  niclit  unbedeutendes  geleistet  zu 
haben,  weil  ihn  Isokrates  als  Metaphysiker  erwähnt^)  und  ein 
Aristoteliker  seine  Philosophie  zu  recensieren  nicht  verschmähte. 
Wie  Gorgias  durch  seine  glänzende  Erscheinung  die  Augen 
der  Zuhörer  blendete,  so  suchte  er  auch  hinsichtlich  der  rhe- 
torischen Durchbildung  seiner  Reden  ihre  Sinne  (das  Wort  im 
weiteren  Sinne  genommen)  durch  starke  Mittel  zu  reizen.  Vor 
allem  glaubte  er  die  gewöhnlichen  Redner  überwunden,  wenn 
er  der  ungebundenen  Rede  die  Freiheiten  der  Poesie  zuteilte^); 
denn  damals  ahnten  die  Gebildeten  noch  nicht,  dass  man  auch 
mit  den  jedem  offen  stehenden  Mitteln  über  das  Alltägliche 
sich  erheben  könne.  Schwulst  und  Uebertreibung  galten  zu 
jener  Zeit  noch  für  schön,  weil  sie  fremdartig  und  phantastisch 
klangen.  Gorgias  setzte  also  die  Wörter  der  Umgangssprache 
gegen  poetische  und  veraltete  Ausdrücke  hintenan^),  doch  war 
er  nicht  so  erfiudungsarm  wie  die  Sophisten  der  Kaiserzeit  ^), 
dass  er  die  Dichter  hätte  plündern  müssen.  Wenn  er  sie  auch 
kannte  und  feinsinnig  beurteilte ''),  wetteiferte  er  selbständig 
sogar    mit    den   Dithyrambendichtern'),    an  welche   gewichtige 


\ 


1)  Plat.  Menon  76c,  vgl.  Satyros  bei  Diogeu.  8,  59.  Olympiodor  (Jahns 
Archiv  14,  112)  vereinigt  die  Abfassung  der  philosophischen  Schrift  chrono- 
logisch mit  der  Blüte  des  Empedokles  (Ol.  84  Diogen.  8,  74).  Vgl.  Suse- 
mihl  Jahrbb.  f.  Phil.  73,  40  ff.  Di  eis  Sitzungsberichte  der  Berliner  Akad. 
1883  S.  343  ff. 

2)  Isokr.  15,  368. 

3)  Aristot.  rhetor.  3,  1  p.  1404  a  24  ff.  Dionys.  Halle.  Walz  rhetor, 
Gr.  V  446. 

4)  Blass  160. 

5)  Philostrat.  vit.  soph.  p.  221,  6.  244,   13.  257,  2.  271,  9  K. 

6)  Aischylos'  Sieben  gegen  Theben  nannte  er  [xeotöv  "Apscuc  (Plutarch. 
quaest.  symp.  7,  10,  2  vgl.  Ovid.  amor.  1,  1,  12). 

7)  Dionys.  Halle.  Ijys  3  oh  icoppcu  8t^upa{j,ß(«v  evta  tpO-EYYOfJ-svo?  l^gl- 
Max.  Planud.  Walz  rhet.  V  446,  1),  vgl.  Hardion  Memoires  de  l'acad.  des 
inscr.  19,  203;  U.  v.  Wilamowitz  homer.  Untersuch.  S.  313, 


38  Zweites   Kapitel. 

Komposita^)  und  kühne  Uebertragungen ,  wie  ,,der  Zeus  der 
Perser"  (Xerxes)  oder  ,, lebende  Gräber"  (von  den  leichen- 
fressenden Geiern)  erinnerten^).  Wohl  bekannt  mit  der  Vor- 
liebe, welche  das  hellenische  Volk  für  den  musikalischen  Klang 
empfand,  schmeichelte  Gorgias  dem  Ohre  durch  gleich  oder 
ähnlich  tönende  Wörter  und  Formen,  sei  es  dass  er  sich  ver- 
schiedener Ableitungen  desselben  Stammes  im  gleichen  Satz- 
gliede  bediente,  oder  dass  er  die  Periodenteile  durch  den  Reim 
auf  das  engste  verknüpfte.  ^)  Im  weiteren  Sinne  mag  man  den 
Parallelismus  der  Gheder  ebenfalls  als  rhythmisch  bezeichnen. 
Gorgias  erweiterte  nämlich  die  Sätze  in  höclist  einfacher  Weise 
dadurch,  dass  er  statt  der  einfachen  Aussago  die  antithetische 
Vergleichung  mit  einem  zweiten  setzte*);  er  ging  dabei  von 
der  richtigen  Beobachtung  aus,  welche  später  Aristoteles  for- 
mulierte, Lob  und  Tadel  beruhten  hauptsächlich  auf  der  Ver- 
gleichung mit  einem  anderen.  Durch  die  Antithese  wurde  daher 
zugleich  an  Stelle  eines  einfachen  Gedankens  eine  geistreiche 
oder  geistreich  sein  sollende  Pointe  gewonnen  und  ein  voller 
harmonisch  gebauter  Satz  erzielt.  Aber  die  Masslosigkeit  seines 
Talentes  riss  Gorgias  über  die  Grenzen  des  Schönen  weit 
hinaus.  Der  Rhetor  Demetrios '')  erhebt  den  Vorwurf,  er  wende 
ohne  Abwechslung  die  breiten  Perioden  zu  häufig  an.  Ferner 
häufte  Gorgias  zu  viele  Antithesen  in  einen  einzigen  Satz  zu- 
sammen^), wovon  Dionysios  aus  dem  Epitaphios  ein  wahrhaft 
groteskes  Beispiel  anführt'').  Es  ist  für  die  Geschichte  des 
griechischen  Prosastils  von  solcher  Wichtigkeit,  dass  wir  uns 
eine  kurze  Zergliederung  nicht  versagen  können :    Den  Anfang 


1)  Aristot.  rhet.  3,  3  p.  1406b  37;  zu  den  StirXä  vgl.  Vahlen  Rhein. 
Mus.  21,  146. 

2)  Ilepl  ü<|^ooq  3,  2;  anderes  Aristot.  rhet.  3,  3  p.  1406  b  8,  vgl.  Dionys. 
Lys.  3.  Isae,  19  (itavxa^oö  rtatSapnoSYj  fi-c^öiLevov). 

8)  Dionys.  de  vi  Demosth.  6.  26.  ad  Ammae.  II  2.  17.  Cic.  orator  12, 
39.52,  175.  Diodor.  12,  53,  4.  Plato  parodierte  diese  Gleichklänge  im  „Gor- 
gias" wiederholt,  z,  B.  462  e. 

4)  Dionys.  u.  Diod.  a.  O.  Cic.  orator  12,  38.  Quintil.  9,  3,  74  (Gorgias 
in  hoc  immodicns).     Demetr.  n.  fepjiYiv.  29. 

5)  Ilepl  fep}i"rjveiac  12,  16  \L-i\zt  neptoSotc  8Xov  tov  \6fov  auvEtpeoO-ai  tix; 
6  FopYtot). 

6)  Plat.  Phaedr.  267  b  Änstpa  {t-fix-r;. 

7)  Bei  Maximos  Planudes  Walz  Ehetor.  V  648  flf. 


Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  nnd   seine  Schule).  39 

macht  ein  Paar  gleichgebauter  antithetischer  Fragen,  dem  ein 
antithetisciies  Satzpaar  verbunden  mit  einer  Antithese  von  zwei 
Participien  folgt.  Nun  erhebt  sich  Gorgias  zu  einer  unförm- 
lichen Periode:  Auf  einen  mit  einer  kurzen  Antithese  verbun- 
denen Hauptsatz  folgt  ein  Particip  mit  Antithese,  ein  anderes, 
das  drei  verbundene  Infinitive  regiert,  dann  ein  mit  ,,und" 
angereihtes  Particip,  zu  dessen  Erläuterung  wieder  zwei  parti- 
cipiale  Antithesen  dienen,  ferner  nach  einem  kurzen  Gegensatze 
nicht  weniger  als  sieben  asyndetisch  neben  einander  gestellte 
Attribute,  so  dass  das  Subject  des  Hauptsatzes  dreizehn  nominale 
Bestimmungen  hat.  Der  folgende  Satz  enthält  wieder  drei 
Antithesen  und  vier  durch  outs  —  oute  —  eingeleitete  Glieder. 
Mögen  auch  solche  ungeheuerliche  Perioden  selbst  bei  Gorgias 
nicht  viele  ihresgleichen  gehabt  haben,  so  berechtigen  sie  doch  im 
Verein  mit  dem  übrigen  zu  dem  Urteile,  dass  Gorgias  von  dem 
klassischen  Maasse  weit  entfernt  war.  FreiHch  hat  Gorgias 
gewiss  nicht  so  geschrieben  wie  er  sprach,  denn  derartige 
Perioden  hätten  den  Redner  ebenso  erschöpft  wie  die  Zuhörer 
ermüdet.  Die  Künsteleien  des  Gorgias  mussten  auf  den  Leser 
einen  weit  geringeren  Zauber  ausüben  als  auf  den  Hörer,  weil  dem 
Prunke  der  Worte  der  Gedankeninhalt  wenig  entsprach^);  er 
verschleierte  eher  die  Gedanken  als  dass  er  sich  verständlich 
zu  werden  bemühte^).  Das  bunte  Farbenspiel  seiner  Reden 
war  übrigens  nicht  immer  ernst  gemeint.^) 

Gorgias  erscheint  jetzt  an  der  Spitze  der  epideiktischen 
Beredsamkeit ;  doch  dürfte  er  thatsächlich  nicht  der  Bahnbrecher 
gewesen  sein.  Die  Nachrichten  über  Empedokles  und  Epicharms 
Fragmente  ^)  gewähren  vielmehr  der  Ansicht  einer  gewissen 
Berechtigung,  dass  die  Geschichte  der  gorgianischen  Manier 
in  Sicilien  weit  höher  hinaufreicht;  sogar  die  Gleichklänge  sind 
schon  bei  jenen  Vorgängern  nachzuweisen^). 


1)  Dionys  bei  Maxim.  Planud.  Walz  rhet.  V  551. 

2)  Plutarch.  recta  rat.  aud.  7. 

3)  Aristot.  rhetor.  3,  7  p.  1408b  20  fiet '  dpaiveiac.  tuonsp  Topfia^ 
iitotst  xal  tot  ev  $at8p({), 

4)  Lorenz  Leben  und  Schriften  des  Koers  Epicharmos  S.  95. 

6)  Epicharm.  bei  Etym.  M.  725,  5  noXXol  axatYjpec,  ftTCoSox-rjpsc  obhe 
el?.  Dem  Empedokles  schrieb  man  ein  mit  ähnlichen  Wörtern  spielendes  Epi- 
gramm zu  (Diogen.  8,  65). 


40  Zweites  Kapitel. 

Die  Kunst  des  Gorgias  kannten  die  Alten  aus  mehreren 
Reden  ^),  welche  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  in  jonischer  Mundart 
geschrieben  waren.  Denn  für  einen  Jonier  war  damals  kein 
Grund  vorhanden,  eine  Mundart,  welche  zur  Zeit  des  archi- 
damischen  Krieges  kein  anderer  nichtathenischer  Gelehrter  als 
höchstens  der  Eleer  Hippias  annahm,  statt  der  ausgebildeten 
seines  Stammes  anzuwenden,  zumal  wenn  er,  wie  Gorgias,  sich 
nur  ein-  oder  höchstens  zweimal  in  Athen  aufhielt.^)  Gorgias 
ist,  wenn  ihm  Prodikos  nicht  zuvorkam,  der  erste,  welcher  die 
von  ihm  gehaltenen  Reden  nachher  schriftlich  herausgab,  um 
seinen  Ruhm  auch  in  die  Städte,  wohin  er  persönlich  nicht 
kam,  zu  verbreiten  und  der  Nachwelt  zu  bewahren.  Das  höchste 
Ansehen  genossen  unter  diesen  Reden  die  Pythische,  die  Olympi- 
sche und  die  Leichenrede.  Von  der  ersten  kennen  wir  nichts 
mit  Ausnahme  der  Anekdote,  dass  Gorgias  sie  von  dem  Altare 
herab,  auf  dem  später  sein  vergoldetes  Bild  stand,  an  die 
pythische  Festversammlung  gerichtet  habe^).  Der  'OXo^jltcixö?*) 


1)  Fragmente  bei  Sauppe  Oratores  Atticill.  129 ff.  (C.  Müller  Orat.  Alt. 
II),  vgl.  Mullach  fragm.  philos.  Graec,  II  143  ff. 

2)  Auf  Grund  der  Annahme,  dass  Gorgias  die  attische  Mundart  an- 
wendete, machte  U.  v,  Wilamowitz  über  die  Eatstehung  der  griechischen 
Schriftsprachen,  Verhandl.  der  Wiesbadener  Philologen vers.  Leipzig  1878 
S.  36  ff.  (modificiert  homer.  Untersuchungen  S.  311  ff.  u.  S.  X)  geistreiche 
Korabinationen  über  Gorgias' Einfluss ;  vgl  auch  Susemihl  Gorgias  u.  die 
attische  Prosa,  Jahrbb.  f.  Phil.  115,793  ff.  Das  Fragment  des  Epitaphios 
beweist  jedoch  nichts,  da  Dionysios  auch  Herodot  in  das  Attische  umsetzte 
(vgl.  de  compos.  verb.  4).  Ein  Rest  des  Jouischen  dürfte  aber  p.  649,  11  W. 
geblieben  sein,  wo  «Lv  S-fj  (8'  el.  Sei)  =  wv  S-fj  steht.  Niceph.  Gregor,  ad 
Synes.  p.  409,  der  Gorgias  zur  otp^^ata  'Atfl-tt;  rechnet,  verdirbt  nur  Philo- 
stratos.  Entscheidend  ist  wohl,  dass  die  Atticisten  dieseu  berühmten  Khctor 
ignorierten,  während  sie  z.  B.  sogar  den  weit  weniger  berühmten  Thrasy- 
machos  berücksichtigten. 

3)  Philostr.  vit.  soph.  1,  11,  2.  Er  weihte  nach  der  olympischen  In- 
schrift (arch.  Ztg.  35,  43,  ebenso  Hermippos  bei  Athen.  11,  505  d)  die  Sta- 
tue selbst,  nicht  die  Griechen  (Cic.  de  orat.  3,  32,  129).  Sie  war  vergoldet 
(Pausan.  10,  18,  7),  nicht  aus  massivem  Golde  (Hermipp.,  Cic,  Plin.  33,  83).  Sein 
Nachkomme  Eumolpos  errichtete  ein  anderes  Bild  in  Olympia  (Pausan.  6, 
17,  7),  dessen  Inschrift  die  deutsche  Expedition  auffand  (Archäol.  Ztg. 
86,  43). 

4)  Ein  Fragment  trug  J.  Bernays  Rhein.  Mus.  8,  432  f.  =  gesammelte 
Abhandl.  I  121  f.  nach. 


Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  und  seine  Schule).  41 

eröffnet  eine  lange  Reihe  von  ähnlichen  Vorträgen,  welche  die- 
selbe Idee  mit  der  gleichen  Resultatlosigkeit,  abgesehen  von 
dem  rauschenden  Beifalle,  den  die  Zuhörer  aus  der  augen- 
blicklichen Begeisterung  heraus  spendeten,  vor  den  Wallfahrern 
von  Olympia  behandelten;  Gorgias  war  ja,  so  viel  wir  wissen, 
der  erste,  welcher  die  Griechen  von  der  heiligen  Stätte  aus 
mahnte,  sie  sollten  ihre  endlosen  Zwistigkeiten  ruhen  lassen 
und  sich  von  neuem  gegen  die  Perser  erheben.  Der  Beifall, 
den  der  ßhetor  dadurch  erntete,  erweckte  zahlreiche  Nachfolger, 
welche  mehr  oder  weniger  die  gleichen  Gedanken  in  derselben 
Reihenfolge  aussprachen.  Eine  merkwürdige  Parallele  geben 
die  glänzenden  Deklamationen  ab,  welche  deutsche  Humanisten 
an  den  Reichstagen  gegen  die  Türken  hielten  ^)  Die  dritte  Rede 
entstand,  indem  Gorgias  zu  Athen  bei  einer  öffentlichen  Leichen- 
feier, natürlich  nicht  vom  Staate  beauftragt,  sondern  nachdem 
der  offizielle  Redner  gesprochen  hatte,  auftrat  und  die  Glanz- 
punkte der  athenischen  Geschichte,  besonders  die  Perserkriege 
verherrlichte,  während  er  den  peloponnesischen  Krieg  nur  flüchtig 
streifte;  er  verfolgte  dabei  jedenfalls  den  Zweck,  die  Athener 
durch  die  Bebandlung  ihres  Lieblingsthemas  für  Leontinois 
Wünsche  zu  gewinnen.  Eine  Lobrede  auf  die  Stadt  Elis 
würdigte  Aristoteles  einer  kurzen  Erwähnung  ^),  da  der  Redner 
auf  ehi  Proömium  verzichtete;  ein  Enkomion  des  Achilleus 
erregte  den  Tadel  des  Philosophen,  weil  Gorgias,  statt  jenen 
zu  preisen,  erst  Peleus,  dann  den  Ahnherrn  Aiakos,  hierauf 
die  Gottheit  und  endlich  die  Tapferkeit  verherrlichte  ^).  Auch 
vor  paradoxen  Gegenständen  schreckte  er  nicht  zurück^).  Mit 
Gerichtsreden  hat  sich  Gorgias  nie  befasst. 

Der  Charakter  der  gorgianischen  Beredsamkeit  läge  viel  klarer 
vor  uns,  dürfte  man  die  zwei  Reden,  welche  einige  Handschriften 
dem  berühmten  Redner  beilegen  ^),  für  echte  Werke  gelten  lassen. 


1)  L.  Geiger  Renaissance  und  Humanismus  S.  373 f. 

2)  Rhetor.  3,  14  p.  1416  a  1;  er  beginnt  sofort  mit  dem  Gleiehklang 
^RXic,  nÖKiq, 

3)  Aristot.  rhet.  3,  17  p.  1418a  34. 

4)  Philostr.  v.  soph.  1,  9  p.  208,  21  Kays.,  vgl.  S.  54  A.  6.  Cicero  Brut.  12,  47 
eagt  allgemein:  singularum  rerum  laudes  vituperationesque. 

5)  Die  erste  Rede  ist  in  ziemlich  vielen  Handschriften  überliefert,  welche 
in  drei  Klassen  zerfallen;  von  diesen  können  zwei  auf  je  eine  Stammhand- 
schrift reduciert  werden.     (Nachträge  zum  Apparat  gibt  H.  Sehen  kl  Wiener 


42  Zweites  Kapitel. 

Dicljobrede  auf  Helena  (KlivriQ  £Y/.w[itov)bezeic]inet  der  Redner 
selbst  am  Ende  als  Spielerei  (jcatYviov).  Nachdem  er  in  der  Einlei- 
tung gemäss  der  Schablone  der  Enkomien  die  edle  Abkunft  Helenas 
erhoben,  sucht  er  ihre  Untreue  zu  entschuldigen,  indem  er 
nachweist,  dass  Helena,  ob  nun  durch  das  Geschick,  mit  Gewalt 
oder  durch  Ueberredung  zu  dem  verhängnisvollen  Schritte  be- 
wogen, Verzeihung  verdiene.  Diese  Disposition  führt  er  mit 
grosser  Genauigkeit,  für  die  er  sich  selbst  belobt,  geistreich 
durch,  ohne  sich  um  die  gewöhnliche  Moral  zu  bekümmern. 
Wiewohl  die  zahlreichen  Gleichklänge  und  Antithesen  an  die 
Manier  des  Gorgias  erinnern,  ist  sie  doch  schon  bedeutend  ge- 
mildert. Fülle  verwegener  Bilder,  Auftürmung  von  Antithesen, 
auch  die  philosophisch  klingen  sollenden  Neutra  an  Stelle  der 
Abstrakta  sucht  man,  wenige  Stellen  ausgenommen,  vergebens. 
Auch  in  einem  anderen  Punkte  zeigt  die  Rede  einen  Fort- 
schritt gegen  Gorgias.  Denn  während  derselbe,  wie  aus  dem 
Schvi^eigen  der  Alten  hervorgeht,  dem  Rhythmus  keine  Auf- 
merksamkeit s(;henkte,  dürfte  man  in  unserer  Rede  schon  einen 
bewussten  Tonfall  am  Anfange  und  Schluss  der  Perioden  nach- 
weisen können  ^).  Da  der  Verfasser  andererseits  für  den  Hiatus 
kein  Ohr  hat  ^),  ist  er  schwerlich  nach  Isokrates  zu  setzen. 
Nun  erwähnt  dieser  bekannthch  in  der  Einleitung  zu  seiner 
,, Helena"  (§  14)  eine  Rede  auf  dieselbe  so  als  ob  sie  kurz  zuvor 
herausgegeben  worden  wäre.  Isokrates  begrüsst  sie  als  eine 
erfreuliche  Erscheinung  gegenüber  dem  Ungeschmacke  vieler 
Sophisten,  tadelt  aber  die  Art  und  Weise,  wie  der  ungenannte 
das  Thema  bearbeitete.  Während  derselbe  nämlich  eine  Lob- 
rede auf  Helena  geben  wollte,  schrieb  er  eine  Verteidigungs- 
rede.    Dies  passt  genau  auf  unsere  Rede,  in  welcher  der  Preis 


I 


Studien  3,  86).  Die  Handschriften  der  zweiten  Rede  gehen  säramtlich  auf 
ein  Original  zuriick.  Die  „Helena"  veröffentlichte  Aldns  1518  mit  dem  Iso- 
krate«;  der  „Pulamedes"  sl-eht  in  den  Sammlungen  von  Aldus  und  H.  Stephanas, 
beide  bei  Keiske  vol.  VIII.,  Bekker  vol.  IV.  resp.  V,,  Sauppe,  fasc.  VH.  u.  C. 
Müller  II.,  zuletzt  von  Bla8.s  mit  dem  kritischen  Apparat  hinter  dem  Antiphon 
(p. 'I50flf.)  herausgegeben.  Die  „Helena"  ist  nach  Burges  bei  Dobree  adver- 
saria  I  666  sehr  lückenhaft  überliefert. 

1)  Häufig  kommen  päonische Ftisse  vor;  deren  Eiufiihrung  wird  Thrasy- 
machos  zugeschrieben. 

2)  Benseier  de  hialu  p.  168. 


Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  und  seine  Schule).  43 

der  Heroin  auf  die  Einleitung  beschränkt  ist  *).  Den  Verfasser 
nennt  Isokrates  leider  nicht;  die  Grammatiker  rieten  auf 
Anaxinienes,  Polykrates  und  Gorgias,  aber  Isokrates'  Ton  zeigt, 
dass  weder  sein  Gegner  Polykrates  ^)  noch  der  alte  Meister 
Gorgias  ^)  gemeint  ist.  Anaxinienes  die  Rede  beizulegen  *), 
hindert  die  Chronologie. 

Die  zweite  Rede,  ,,Palamedes",  eine  fingierte  Verteidigung, 
welche  Palamedes  vor  den  achäischen  Fürsten  hält,  hat  kein 
alter  Rhetor  als  Werk  des  Gorgias  betrachtet  ^).  Sie  weicht 
auch  völlig  von  seiner  Art  ab :  Die  gorgiaiiischen  Figuren  kommen 
nicht  häufig  vor  und  es  mangelt  die  Wortfülle;  statt  des 
rauschenden  Stromes  gorgianischer  Perioden  liebt  dieser  Rhetor 
kleine  kurze  Sätzchen.  Zudem  führt  die  gegen  den  Hiatus 
sich  kundgebende  Abneigung  auf  die  Zeit  nach  Isokrates  ^). 
Wenn  man  an  dem  Namen,  welchen  jene  eine  Stammhand- 
schrift  der  Rede  vorsetzt,  fest  halten  will,  steht  vielleicht  nichts 
im  Wege,  an  den  jüngeren  Gorgias  zu  denken;  für  diesen 
spricht  der  Satzbau,  welcher  an  die  Richtung  der  asianischen 
Rhetoren  erinnert,  denn  zu  diesen  neigte  sich  der  jüngere  Gor- 
gias hin  ''). 

Eine  eigentliche  Rhetorik  verfasste  Gorgias  für  seine 
Schüler  nicht;  abgesehen  von  einigen  mündüchen  Regeln,  deren 


1)  §  3—5,  vgl.  §  5—6  und  21. 

2)  TivEC  im  Argument  der  Kede  (vom  Busiris  entlehnt),  ebeuso  Spengel 
ouvaYcuY'T)  t£)(V(«v  p.  271  fl'. 

3)  Im  Isokratesargnnieut  erwähnt  und  Lexicon  Vindob.  p.  149,  13  citiert. 
Reiske  orat.  Graec.  VIII  191,  Sauppe  und  andere  verwarfen  beide  Reden, 
die  „Helena"  wird  aber  von  Foss  a.  O.  p.  78  flf.,  C,  Schönborn  de  authentia 
declamationum  quae  Gorgiae  Leontini  nomine  exstant,  Breslau  1826  und 
Benseier  de  hiatu  p.  168 f.  mehr  oder  weniger  bestimmt  verteidigt.  Blass 
der  I  64  flf  beide  verworfen  hatte,  nahm  sie  II  221  f.  314  Anm.  III  2,  326  f.  in 
Schutz.  Morawski  Ztsch.  f.  österr.  Gymn.  1879  S.  161  flf.  weist  sprachliche 
AehnUchkeiten  mit  Alkidamas  nach. 

4)  Machaon  im  Argument  der  Rede ;  die  Identität  beweist  der  Zusatz : 
tpepetat  8'  evceivou  Xö^oc  ^EXsvyjc  anoko^ia  fxäXXov  oooa  T^^ep  i'^v.üyiiiov. 

5)  Quintil.  2,  4,  41  bezieht  sich  freilich  wohl  nur  auf  erdichtete  Rechts- 
fälle, welche  dem  täglichen  Leben  entnommen  sind. 

6)  Beuseler  de  hiatu  p.  167  f. 

7)  Blass  die  griechische  Beredsamkeit  in  dem  Zeitraum  von  Alexander 
bis  auf  Augustus  S.  97  f. 


44  Zweites  Kapitel. 

einige  in  der  Tradition  fortlebten  ^),  erteilte  er  ihnen  keinen 
systematischen  Unterricht,  sondern  stellte  ihnen  eine  Sammlung 
von  Gemeinplätzen  zusammen,  welche  sie  auswendig  lernen 
mussten  ^). 

Trotz  der  Mangelhaftigkeit  dieses  Unterrichtes  hat  kein 
Grieche,  nicht  einmal  ein  Athener,  auf  die  attische  Literatur 
einen  so  tief  gehenden  Einfluss  ausgeübt  wie  Gorgias.  So 
lange  er  lebte,  war  seine  Manier  in  allen  Gattungen  der  Erosa 
massgebend.  Von  der  Gattung,  welche  er  begründete,  ist  dies 
selbstverständlich,  aber  auch  die  Gerichtsreden  des  Antiphon 
zeigen,  wie  diese  Art  gleichfalls  nicht  unberührt  blieb.  Selbst 
der  herbe  Thukydides  verschmähte  nicht  vieles  von  ihm  an- 
zunehmen ^).  Die  ältesten  Schriften  der  sokratischen  Schule 
entstanden  gleichfalls  unter  dem  gorgiauischen  Einflüsse.  Nicht 
einmal  die  Tragödie  blieb  von  dem  Gorgianismus  frei,  da  der 
gezierte  Agathen  die  Antithesen  und  Gleichklänge  seines 
Meisters  auf  die  Bühne  brachte*);  deshalb  trifft  ihn  Piatos 
Spott  im  ,, Gastmahl",  wo  Agathou  am  Schlüsse  seiner  Rede 
in  die  Manier  des  Gorgias  verfällt  ^).  Sogar  das  Epos  seiner 
Zeit  soll  nicht  unbeeinflusst  geblieben  sein  ^).     Am  deutlichsten 


1)  Aristot.  rhetor.  3,  18  p.  1419  b  3  (etp-r]),  vgl.  Plat.  Phaedr.  267  a 
(ähulich  Ammian.  Miircell.  30,  4,  3). 

2)  Arist.  soph.  elench.  33  p,  183  b  37  (vgl.  Quintil.  3,  1,  12),  vgl.  l'lat. 
Phaedr.  261c  (Schanz  die  Sophisten  S.  129  ff.),  Satyros  bei  Diog.  8,  58; 
xe^vai  Ttvec  Dionys.  Halic.  bei  Maxim.  Plan.  Walz  rhet.  V  648  adnot.,  Diodor. 
12,  53,  2  xr/vac  ^Yitopixäc  itpüixoc  s^eöps,  Sopatros  Walz  rhet.  V  7,  11,  Vgl, 
Bakius  scholica  hypoinnemata  UI  74 ff.  Morawski  Jitsch.  f.  Österreich. 
Gymn.  1879  S.  163.  Ein  hi.storisches  Werk  wäre  anzunehmen  nach  Clem. 
Alex.  Strom.  6,  267  MeXeoaYopoa  exXetl'e  FopYiat;  6  Asovxlvoc  xotl  Eu8yj|i.o?  6 
Nd^io?,  wenn  nur  dieser  Schriftsteller    nicht   so  nachlässig   kompiliert  hätte, 

3)  Dionys.  ep.  a<l  Amm.  2,  2.  Lys.  3,  jud.  de  Thucyd.  24.  Marcellin. 
Vit.  Thucyd.  36  (aus  Antyllos),  61.  Philostrat,  ep,  73  (13),  2.  Der  letzte 
nennt  ausserdem  Kritias;  wenn  er  auch  „Perikles  oder  Aspasia"  anführt,  so 
denkt  er  wohl  an  den  tliukydideischen  Epitaphios  und  den  Meuexenos. 

4)  Spengel  oava-iMf-ri  p.  91  f.  Aristophanes  am  Anfange  der  Thesmo- 
phoriazusen  und  frg.  317  M.  xax"AYä*a>v'  ävx-.S-Exov  e^eopYjfJLevov,  vgl.  Aelian. 
var.  bist.  14,  13.  Die  Komiker  parodieren  diese  Sonderbarkeiten  oft,  z.  B. 
Eupolis  fr.  240.  248  und  bei  PoUux  3,  77.  Aristoph.  Vesp.  466.  Plato  com. 
fr.  224.  Phryn.  fr.   1,  6  u.  ö. 

6)  Plat.  sympos.   194  e— 197  e.  198c  (vgl.  Schanz  a.  O.  S.  147  ff.) 
6)  FhiloBtr.  epist.  73  (13),  3;  meint  er  Antimachos? 


I 


Die  älteren  Pmnkredner  (Corgias  und  seine  Schule).  45 

zeugt  aber  der  Umstand,  dass  man  in  der  Volksversammlung 
Gorgianisches  vorbringen  durfte,  von  der  Herrschaft  dieser 
Mode;  kein  geringerer  als  Alkibiades  eignete  sich  die  bilder- 
reiche Sprechweise  des  Gorgias  an  ^).  Auch  die  nächsten 
Generationen  hingen  mehr  als  sie  zugestehen  wollten,  von 
Gorgias  ab.  Ohne  ihn  war  kein  Isokrates  möglich  und  Plato, 
obgleich  er  ihn  bitter  verspottet,  vermochte  seine  Schule  nicht 
zu  verleugnen,  wie  sich  auch  Antisthenes  und  Aischines  an 
Gorgias  gebildet  hatten.  Der  echte  gorgianische  Stil  kam  trotz 
der  Opposition  des  Isokrates  bei  den  ,, Ungebildeten",  wie 
Aristoteles  verächthch  sagt  ^),  nie  ganz  aus  der  Mode;  z.  B. 
schrieb  der  Verfasser  der  ,,hippokratischen"  Schrift  Tcspl  ^oawv 
in  dieser  Weise  ^). 

Dieses  Fortleben  seines  Ruhmes  hatte  Gorgias  einigen 
Schülern,  welche  ihm  fort  und  fort  treu  blieben,  zu  verdanken ; 
wiewohl  ein  einziger  zu  dauerndem  Ansehen  gelangte,  waren 
mehrere  zu  ihrer  Zeit  nicht  so  unbedeutend,  dass  Plato  und 
Aristoteles  sie  hätte  totschweigen  können.  Polos  von  A  krag as, 
ein  junger  Begleiter  des  Gorgias  von  aufbrausendem  Charakter  ^), 
zog  sich  Piatos  Gegnerschaft  durch  eine  rhetorische  Schrift  zu, 
in  welcher  er  die  Redekunst,  deren  Ziel  ihm  das  wahrscheinliche 
war,  auf  Uebung  begründete;  Polos  drückte  diesen  Grundsatz 
in  echt  gorgianischer  Weise  aus :  ri  {isv  £[X7r£tpta  xiyyrf^  l;cot7]0£y, 
ri  S'  äzeipia  xbyriv  ^).  Da  er  nach  eosTrsia  strebte,  fand  er  Gefallen 
daran,  die  Theorie  seiner  Kunst  mit  neuen  technischen  Aus- 
drücken zu  bereichern ;  so  war  er,  wie  Plato  ironisch  erzählt, 
der  Ei'finder  der  SizXaatoXoYia,  YV(ojj.oXoYta  und  elxovoXoYta ").  Gleich 

1)  Thukydides  sucht  hierin,  wie  der  Scholiast  zu  6,  18  bemerkt,  die 
Manier  seiner  wirklichen  Reden  nachzubilden. 

2)  Ilberg  studia  Pseudippocratea  p.  23  flf. 

3)  Khet.  3,  1  p.  1404  a  26  ol  uoXXol  tdiv  anai^söxuiV. 

4)  Plat.  Gorg.  463  e  o^u?,  so  zeichnet  ihn  Fiat,  überhaupt  im  Gorgias. 
Herodikos  (?)  sagte  zu  ihm:  öceI  ob  ntüloq  et  (Aristot.  rhet.  2,  23  p.  1400  b20). 

5)  Aristot.  met.  1,  1  p.  981a  3,  vgl.  Plato  Gorg.  462  c,  über  das  ekoc 
Phaedr.  267  a.     Suidas  nennt  die  Schrift  willkürlich  Tispl  Xs^scuc. 

6)  Plato  Phaedr.  267  c.  Der  erste  Ausdruck  bezeichnet  schwerlich  das- 
selbe wie  elc  8uo  Xi'^siv  Rhetor.  ad  Alex.  24,  sondern  Komposita  (wie  SitcXcuok; 
Aristot.  rhet.  3,  3  p.  1406  b  6,  SwXoIc  öv6fj.aoi  1405  b  35).  Plato  nennt  alles 
{i.oüO£la  Xö'(U)v  (zu  erklären  nach  }j.oootx*f]  Prot.  340  a,  „Tummelplätze  von 
Reden"  nach  Blass  174  u.  Rud.  Hirzel  Commentatt.  in  hon.  Momms.  p. 
21  A.). 


4ß  Zweites  Kapitel. 

seinem  Lehrer  beschäftigte  sich  Polos  neben  der  Rhetorik  mit 
Naturphilosophie  ^).  Die  Späteren  wissen  nichts  verlässiges  von 
ihm  ^).  Nach  Suidas  legten  ihm  manche,  die  sonst  dem  Damastes 
zugeteilte  Schrift,  welche  von  den  Geschlechtern  der  Belagerer 
Trojas  handelte,  bei. 

Polos  hatte  nach  Plato  jene  schönen  Wörter  von  dem 
ChierLikymnios  erhalten^),  welcher  ebenfalls  eine  Rhetorik 
verfasste.  Sie  erregte  durch  ihre  seltsame  Terminologie  den 
Spott  des  Aristoteles  %  dagegen  führt  er  billigend  den  Ausspruch 
desselben  an,  die  Schönheit  eines  Wortes  entspringe  aus  dem 
Klange  oder  aus  der  Bedeutung^).  Likymnios  gab  wie  es 
scheint  Reden  heraus^);  nebenbei  schrieb  er  Dithyramben  für 
die  Leetüre.  Die  Identität  des  Sophisten  und  des  Dichters  ist 
ja  doch  wohl  durch  das  Beispiel  des  Euenos  gesichert. 

Einen  dauernden  Ruhm  gewann  unter  den  Gorgianern 
allein  Alkidamas  aus  dem  äolischen  Elaia'),  des  sonst 
unbekannten  Sophisten  Diokles  Sohn  *),  dessen  Leben  vollständig 


1)  Plato  Gorg.  466  d. 

2)  Das  angebliche  Citat  der  Rhetorik  bei  Syrian.  in  Hermog.  (Spengel 
oüva-c-  p.  87)  ist  aus  Plato  Gorg.  448  c  entnommen.  Maxim.  Planud.  in 
Hermog.  Walz  V  514,  16  bezieht  sich  gleichfalls  auf  das,  was  Polos  bei 
Plato  sagt.  Philostr.  vit.  soph.  1,  13  und  Lucian.  Herod.  3  sind  unglaub- 
würdig. 

3)  Plat.  Phaedr.  267  c  övojidtiuv  te  Aixüjivsicuv  a  exsivw  sSwp-fjoato  irpi? 
«ot-rjoiv  zhtmlaz;  deshalb  macht  ihn  der  Scholiast  zum  Lehrer  des  Polos, 
was  Suidas  (v.  I1ü>Xoc)  in  das  Gegenteil  verkehrt. 

4)  Rhet,  3,  13  p.  1414  b  17  enouptuot?,  &ito7tX(ivv)oi(;,  oCoi;  über  die 
Wortklassen  Schol.  Plat.  p.  131;  vgl.  Schol.  II.  B  106. 

6)  Aristot.  rhet.  3,  2  p.  1406  b  7. 

6)  Dionys.  de  vi  Demosth.  26  (vgl.  Gomperz  Sitzungsber.  der  Wiener 
Akad.  83,  693  f.). 

7)  Vgl.  Schneidewin  Götting.  gel.  Anzeigen  1846  S.  112 ff.  Die  Frag- 
mente der  Dithyramlien  (in  Bergks  poetae  lyr.  Graec.  III*  p.  698  ff.)  sind  zu 
geringfügig,  um  mehr  als  ein  Beispiel  der  gorgianischen  Figuren  zu  enthalten 
(fr.  2,  1  'A^eptuv  äf^ea). 

8)  Joh.  Vahlen  der  Rhetor  Alkidamas,  Sitzungsbericlite  der  Wiener 
Akademie,  hist.-phil.  Cl.  Bd.  43  (1801)  S.  491—628;  Blass  II  317  ff.  Fragmente 
bei  Sauppe  II164ff.  u.C.  Müllerorat.  Att.  II  316.  Elaia  nennen  Athen.  13, 
692  c,  Suidaa  und  Tzetz.  Chil.  11,  747.  Quintilian  3,  1,  10  bringt,  obgleich  er 
das  richtige  Elaites  hat,  den  olcatischen  Palamedes  Piatos  herein. 

9)  Nach  Suidas  schrieb  dieser  )iouoix(i(,  wenn  nur  nicht  [louoixi  fe-^fafföxoz 
ein  Miaa Verständnis  von  iq  p.ououä  (d.  h.  ^ouoeiov)  eYpat}'^  ^^^- 


Die  älteren  Prunkredner    (Gorgias  und  seine  Schule).  47 

im  Dunkel  liegt,  ausser  dass  er  gelegentlich  auf  die  Thaten 
des  Epaminondas  und  Pelopidas  anspielt^).  Da  Alkidamas  im 
platonischen  Gorgias  nicht  vorkommt,  dürfte  er  jünger  als 
Polos  und  Likymnios  gewesen  sein  ^). 

Als  getreuer  Schüler  des  Gorgias  studierte  Alkidamas  niclit 
bloss  Rhetorik,  sondern  auch  Naturphilosophie,  die  er  einmal 
zum  Gegenstande  einer  Rede  nahm  ^).  Sonst  hatte  Alkidamas 
eine  gewisse  Vorliebe  für  paradoxe  Themen;  so  veröffentlichte 
er  ,,ein  Lob  des  Todes"  ^)  und  eine  Rede  auf  die  Hetäre  Nais  '*), 
Demgemäss  mag  eine  Streitschrift  (MsaoYjvtaxöc),  die  er  gegen 
den  „Archidamos"  des  Isokrates  richtete  ^),  zu  beurteilen  sein. 
Der  Verfasser  fingierte,  wie  es  scheint,  in  der  spartanischen 
Volksversammlung  aufzutreten,  damit  sie  an  den  Messeniei'n 
Gerechtigkeit  übe  und  sie  freigebe.  Alkidamas  stand  hier  an- 
scheinend sittlich  höher  als  der  athenische  Rhetor,  denn  er 
sprach  zum  ersten  Male  unter  den  Griechen,  wenn  auch  seine 
Stimme  ungehört  verhallte,  den  denkwürdigen  Satz  aus :  ,,Frei 
hat  Gott  alle  Menschen  geschaffen;  niemand  hat  die  Natur 
zum  Sklaven  gemacht"  ^).  Aber  wer  weiss,  ob  dieser  edle  Spruch 
nicht  blos  als  ein  Aufsehen  erregendes  Paradoxon  gemeint 
war.  Wie  Alkidamas  auf  dem  Gebiete  der  epideiktischen  Rede 
durch  die  geflissenthche  Aufsuchung  des  Paradoxen  Gorgias  zu 
überbieten  strebte,  so  erweiterte  er  den  Kreis  der  Themen, 
indem  er  auch  die  anderen  Schulhäupter  der  Beachtung  würdigte. 
Bei  Protagoras  fand  er  die  Anfänge  einer  Theorie  der  Sprache 
und  versuchte  Verbesserungen  ^),  die  er  wahrscheinlich  in  einer 

1)  Fragment  bei  Aristot.  rhet.  2,  23  p.  1898  b  18. 

2)  Wenn  Suidas  sagt  (v.  TopYta^),  da.ss  er  die  Schule  des  Gorgias  über- 
nahm, so  ist  dies  ein  Anachronismus. 

3)  $uc'.7iöc  Diog.  8,  56  (Foss  de  Gorgia  p.  17  will  ev  t(L  jj.ouaix(|)). 

4)  Cic.  Tusc.  1,  48,  IIG.  Meuauder  TztrA  sittSsixT.  2,  1  p.  346,  18  Sp. 
Tzetz.  Chil.  11,  747  ff. 

5)  Athen.  13,  592  c. 

6)  Die  Rede  des  Isokrates  ist  die  ältere,  weil  sie  keine  Spur  von  Polemik 
enthält  (Bruno  Keil  analecta  Isocratea  p.  6  adn.  2).  Alkidamas  scheint  also 
das  Jahr  360  überlebt  zu  haben. 

7)  Fragment  bei  Schol.  Aristot.  rhet.  1,  13.  Aristot.  rhet.  2,  23  p. 
1397  a  11  durfte  den  Namen  des  Verfassers  als  bekannt  voraussetzen. 

8)  Nach  Diogen.  9,  54  unterschied  er  (fäaic,  ücTCotpaatt;,  epaiXTjoci;  und 
npooaYopeucK;. 


4y  Zweites  Kapitel. 

rhetorischen  Schrift  niederlegte^).  Dagegen  erinnert  das  am 
öftesten  genannte  Buch  „Museion"  an  die  Sammelarbeit  des 
Hippias.  Der  gesuchte  Titel  dieser  Schrift  rief  zahlreiche 
Hypothesen  hervor  ^).  Wenn  Alkidamas  den  Namen  nicht  in  ganz 
allgemeinem  Sinne  nahm  %  mag  er  darin  die  jtouatxoi  (Dichter 
und  Musiker)  als  Liebhnge  der  Götter  gefeiert  haben;  deshalb 
erzählte  er  z.  B.  die  Strafe,  welche  die  Götter  über  die  Mörder 
des  Hesiod  verhängten*),  auch  die  Anekdoten  von  Arion  und 
Archilochos  werden  hier  eine  Stelle  gefunden  haben. 

Hinsichtlich  des  Stiles  schloss  sich  Alkidamas  ganz  der 
Richtung  seines  Lehrers  an,  ja  er  scheint  dessen  Manier  noch 
übertrieben  zu  haben,  da  Aristoteles  in  seiner  Rhetorik  (III 3) 
die  Beispiele  der  „Frostigkeit"  ((})0'/pdTY]<:)  mit  Vorliebe  aus  dem 
jüngeren  Rhetor  entlehnt.  Alkidamas  liebte  also  zusammen- 
gesetzte ^)  und  veraltete")  Wörter,  sowie  gesuchte  Vergleiche  '') 
im  Uebermasse.  Besonders  charakterisierte  aber  den  Rhetor 
eine  grosse  Vorliebe  für  unnötige  Beiwörter  und  Umschreibungen  ^). 
Auch  in  dem  vollen  Periodenbau  schloss  er  sich  an  seinen 
Lehrer  an.  Doch  während  jenem  bei  der  Nachwelt  der  Ruhm 
des  Begründers  förderlich  war,  stand  die  Konkurrenz  desisokrates 
der  Fortpflanzung  von  Alkidamas'  Reden  im  Wege,  obgleich 
er  als  Aeolier  natürlich  attisch  schrieb. 


1)  Vgl.  Quintil.  3,  1,  10. 

2)  Nach  Bergk  analecta  Alex.  I  21  feierte  er  den  Musentempel  auf 
dem  Helikon;  Sauppe  zu  fr.  8,  3  bezeichnet  das  Buch  als  promptuariura 
qnoddam  rhetoricum. 

3)  Wie  bei  Aristot.  rhet.  3,  3  p.  140Ga  24  zb  tyjc  (püoewc  fioooelov. 

4)  Certamen  Homeri  et  Hesiodi  p.  323  (42);  nach  Nietzsche  Rhein. 
Mus.  26,  636  ff.  soll  der  ganze  Agon  daraus  entlehnt  sein,  weil  Stobaios  flor. 
120,  3  die  bekannten  pessimistischen  Verse  öpx*'!'^  H-^^  l*-^  «püvat  u.  s.  w.  aus 
dem  Museion  anfuhrt.  Sauppe  meint,  diese  Verse  seien  im  ifv-ünt-iov  tJ-avdxou 
vorgekommen  (so  schon  Wyttenbach  ad  Plutarch.  de  consol.  p.  116),  welches 
einen  Teil  des  fiooaecov  gebildet  habe. 

6)  P.  1406  a  2  iroplxpcuc»  x£Xeo<p6poc  (poetisch),  xt)av6xpu>C  (aus  Enripides) 
6)  P.  1406  a  9    aO-upjjia,    fttaa^aXia    (beide    episch    und    lyrisch),    ^"rifui 

(poetisch  und  bei  Xenophon). 

7)  P.  1406  b  11.     Er  nannte   die  Philosophie  eniteixiop.«  xwv  voficuv,  die 

Odyssee  xaXiv  avS-ptojttvou  ßloo  xaxonTpov. 

8)  P.  1406  a  18  z.  B.  xov  u^pöv  ISpwta,  xouc  xwv  noXecuv  ßaotXet?  vofioo?, 

KavÖTjfiou  yi^äftixoz  u.  A.;  Zusatz  von  Genitiven  :   ib  t-rj?  füoecuc  fiouaetov,  tolc 

T7j<  o).Y)c  xXdfJoic;  Umschreibungen    elc   tyjv   twv  'loO'p.ttuv  rtavrj'^opiv,   3pop.aia 


Die  älteren  Prunkredner  (Gorgias  und  seine  Schule).  49 

Auch  Alkidamas'  Name  steht  in  einigen  Handschriften  an 
(ier  Spitze  von  zwei  Reden : 

Die  eine  davon  ,,über  die  Sophisten"  überschrieben^) 
und  nur  durch  eine  originelle  Handschrift,  welche  auch  die 
Helena  des  ,, Gorgias"  enthält,  überliefert^),  gilt  den  Verfassern 
geschriebener  Deklamationen.  Staramte  sie  wirklich  aus  dem 
vierten  Jahrhundert  %  dann  würde  sie  uns  in  die  literarischen 
Kämpfe  jener  Zeit  einfüliren.  Sie  müsste  gegen  Isokrates, 
welcher  seine  Reden  nicht  frei  vortrug,  sondern  in  Abschriften 
vorlas  oder  verbreitete  ■*),  gerichtet  sein.  Die  angeblichen  Be- 
ziehungen auf  Isokrates  sowie  die  vermeinthche  Rephk  desselben^) 
sind  jedoch  so  unbestimmt,  dass  sie  die  Echtheit  nicht  beweisen 
können.  Glücklicherweise  liegen  bestimmte  Indicien  für  das 
Gegenteil  vor.  Alkidamas  soll  Isokrates  angreifen !  Fas  est 
et  ab  hoste  doceri  mag  ein  schöner  Spruch  sein,  aber  der  soge- 
nannte Alkidamas  schreibt  die  Polemik  in  der  gleichen  Form 
wie  einer,  der  Isokrates'  Lehren  befolgt.  Während  der  wirkliche 
Rhetor  als  Gorgianer  gegen  den  Hiatus  noch  unempfindlich 
war  '^),  soll  er  ihn  hier  im  Kampfe  gegen  den  Feind  des  Hiatus 
sorgfältig  meiden;  er  soll  ferner  seine  Rede  nach  den  Vor- 
schriften des  Isokrates  disponieren '')  und  auch  im  Stile  mehr 
dessen  zwar  voller  aber  verhältnismässig  einfacher  Schreibart 
als  dem  gorgianischen  Schwulste  nachstreben,  wenn  auch  die 
Rede   mit  mannigfachen  bildlichen  Ausdrücken   aufgeputzt  ist. 


1)  ÜEpl  Tüiv  Touc  '{fia.Tzxobe^  Xö^ouc  fpafO'nmv  Y|  Ttepl  aotpioTÄv. 

2)  Sie  erschienen  zuerst  bei  Aldus  (im  dritten  Bande  seiner  Sammel- 
ausgabe von  1513,  dann  bei  Isokrates  1534);  die  andere  Rede  steht  im  ersten 
Bande  der  AJdina  und  bei  H.  Stephanus.  Die  neueren  Sammlungen  stellen 
sie  hinter  Gorgias;  die  neueste  kritische  Recension  befindet  sieh  in  Blass' 
Ausgabe  des  Antiphon  p.^  193  ff. 

3)  So  meinen  Speugel  ouvaYüJY"']  P-  173  flf.  (aber  s.  zu  Aristot.  rhet. 
p.  419),  Welcker  kleine  Schriften  2,  448f.,Vahlen  a.  O.  S.  607 ff.  und 
Blass  II  325  ff. 

4)  Dieser  dachte  übrigens  selbst  über  die  Nachteile  geschriebener  Reden 
verständig  (5,  25.  26). 

5)  Paueg.  11  soll  sich  auf  §  12  f.  beziehen  (C.  Reinh  ardt  de  Isocratis 
aemulis  p.  15  ff.),  aber  letztere  Stelle  gilt  den  Verfassern  von  poetischen  oder 
gerichtlichen  Deklamationen. 

6)  Vgl.  fr.  1,2?  3,  2  siebenmal,  5,21? 

7)  Spengel  Isokrates  und  Plato,  Abhandl.  der  bayer.  Akademie  VII 
3,  739 ff.;  Reinhardt  a.  O.  S.  22 ff. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur,  n.  4 


50  Zweites  Kapitel. 

Ebenso  möchte  man  von  einem  Schüler  des  Gorgias  häufigere 
Antithesen  erwarten ;  der  Redner  gebraucht  dagegen  die  Kon- 
junction  ,,und"  mit  lästiger  Häufigkeit.  Nicht  einmal  die 
gorgianischen  Figuren  sind  häufig.  Erweist  also  die  Technik 
der  Rede,  dass  sie  erst  nach  der  Zeit  des  Isokrates  entstand  '), 
so  weist  uns  zugleich  eine  Stelle  deutlich  auf  die  nachklassische 
Zeit.  Der  Verfasser  denkt  sich  nämlich  (§  4)  den  Reden- 
schreiber, wie  er  in  Mitten  vieler  Bücher,  welche  Reden  älterer 
Sophisten  enthalten,  sitzt  und  die  schönsten  Stellen  zu  seinem 
Flickwerke  aussucht.  Dies  passt  gewiss  eher  auf  eine  Zeit  der 
Reproduktion  als  für  die  klassische  Periode^).  Der  Verfasser 
erscheint,  wenn  anders  sein  überaus  grosses  Selbstgefühl  (§  29  ff.) 
berechtigt  war,  als 'ein  angesehener  Redner  und  bekennt  sich 
zu  recht  gesunden  Ansichten,  die  man  einem  Gorgianer  nicht 
ganz  zutrauen  kann  ^). 

Dieselbe  Handschrift,  sowie  die  zweite  Stammhandschrift, 
worin  die  „Helena"  überliefert  ist,  enthalten  eine  von  jener 
Streitschrift  völlig  verschiedene  Rede  ,,Odysseus  klagt 
Palamedes  des  Verrates  au"^),  welche  die  Verteidiger  der 
ersteren  gewöhnlich  verwerfen  ^).  Diese  fingierte  Anklage,  welche 
Odysseus  in  den  Mund  gelegt  ist,  ein  dürftiges  Sophistenkunst- 
stück mit  wenig  Witz  und  nicht  ohne  aufdringliche  Gelehrsamkeit 
(§  24  f.)  enthält  nichts,  was  gegen  die  Echtheit  spräche.  Die 
gorgianischen  Figuren  treten  zurück,  weil  die  Rede  den  gericht- 
lichen Verhältnissen  angepasst  ist,  auch  der  Abschnitt  über 
die  Erfindungen,  so  wenig  er  herein  passt,  befremdet  nicht  bei 
einem   Zeitgenossen    von  Skamon    und    Ephoros,    welche    sich 


1)  Dies  nehmen  auch  Sauppe  Orat.  Att.  11  p.  156  nnd  Bcnseler  de 
hiata  p.  1701*.  an. 

2)  Zur  Zeit  der  Rede  wurden  auch  öffentliche  Wettreden  gehalten 
(§  18.  22) ;  vgl.  dazu  z.  B.  R  o  h  d  e  der  griechische  Roman  S.  306. 

3)  §  12.  33. 

4)  'Oou3'3tu5  ■f.rx-za.  II«),a|x-fj8ou(;  upoSooia?. 

6)  Gegen  die  Echtheit  sprachen  sich  Hardion  Memoires  de  l'acad. 
des  inscr.  19,  216,  Poes  de  Gorgia  S.  84  ff.,  Vahlen  a.  O.  S,  622ff.  und 
Blass  II  331  ff.  (der  S.  343f.  an  Polykrates  denkt)  aus;  Benseier  de 
hiatu  p.  I69f.  und  O.Jahn  Palamedes  S.  15  f.  verteidigen  sie.  FuhrRheiu. 
Mus.  33,  582  bringt  ein  sprachliches  Moment  für   die  Verschiedenheit. 


Die  älteren  Prunkrettner  (Gorgias  und  seine  Schule).  51 

lait  diesem  Gegenstande  ernstlich  beseliäftigten.  Wäre  nur 
die  liandschriftliche  Beglaubigung  besser! 

Zu  den  Gorgianern  scheint  auch  der  Sophist  Lykophron^) 
gehört  zu  haben;  Aristoteles,  der  allein  ihn  erwähnt,  entnimmt 
nämlich  aus  ihm  zugleich  mit  Gorgias  und  Alkidamas  Proben 
für  den  ,, frostigen"  Gebrauch  zusammengesetzter  und  poetischer 
Wörter^);  offenbar  erklärte  sich  Lykophron  zur  Improvisation 
bereit,  denn  der  Stagirit  lobt  die  Geistesgegenwart,  mit  welcher 
er,  als  ein  Enkomion  auf  die  Lyra  gefordert  wurde,  die  Rede 
auf  einen  anderen  Gegenstand  überlenkte  ^).  Aristoteles  teilt 
auch  einige  geistvolle  Aussprüche  des  Sophisten  mit^).  Jene 
dürftigen  Fragmente  scheinen,  da  von  Tiiescus  und  den  Perser- 
kriegen die  Rede  ist,  aus  einem  Epitaphios  und  vielleicht  noch 
anderen  Produkten  des  attischen  Patriotismus  entlehnt.  Lyko- 
phrons  Thätigkeit  mag  zum  Teil  noch  dem  fünften  Jahrhundert 
angehören.      Auch   Menon^)  ist   vielleicht   hieher  zu  rechnen. 

Ueber  die  stilistischen  Grundsätze  ist  bei  Gorgias  und 
Alkidamas,  was  wir  wissen,  auseinandergesetzt;  damit  sie  die 
nötige  Klärung  und  Mässigung  erfuhren,  die  ihnen  durch 
Isokrates  zu  Teil  wurde,  war  es  notwendig,  dass  vorher  die 
Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit  die  Sprache  des  täglichen 
Lebens  einer  strengen  Stilisierung  unterzogen.  Isokrates  und 
seine  Schule  können  also  erst  nach  diesen  behandelt  werden. 
Ein  erheblicher  Unterschied  zwischen  Gorgianern  und  Isokrateern 
beruhte  ferner  in  der  Wahl  der  Stoffe  und  in  dieser  Beziehung 
dürfte  es  nützlich  sein,  die  meist  allgemein  gehaltenen  Notizen 
zu  einem  Gesammtbilde  zu  vereinigen. 

Die  Wahl  der  Themen  hing  vor  allem  davon  ab,  was  die 
Redner  anstrebten.  Gorgias  lehrte  nicht  die  praktische  Bered- 
samkeit, welche  in  der  Volksversammlung  und  den  Gerichts- 
höfen zur  Ausübung  kam ;  daher  bezogen  sich  auch  seine 
Reden  nicht  auf  das  tägliche    Leben.     Da   es  sich  also  nicht 


1)  Vahlen  Rhein.  Mus.  21,  143  ff. 

2)  Rhet.    3,    3    p.    1405  b   36.    1406  a  7    töv   noXüKpoawirov    oupavov,    -cyjc 
y.f(u\oY.opö^oo  Y'^JCj  Cf.v.xr^v  axEvoiropov;  TisXwpoc,  atwic» 

3)  Aristot.  Sophist,  elench.  15  p.   174  b  32. 

4)  Aristot.    frg.   82    bei  Stob.    flor.    86,  24.  metaph.   8,  6  p.    1045  b   10. 
phys.  1,  2  p.  185  b  27.  pol.  3,  9  p.   1280  b  10. 

5)  Hermogeu.  iv.  lö.  II  p.  395,  21   Sp. 

4* 


'! 


52  Zweites  Kapitel. 

darum  handelte,  einen  bestimmten  Zweck  zu  erreichen  und  die 
Zuhörer  zu  überreden,  sondern  ihnen  zu  gefallen  und  ihren 
Beifall  zu  ernten  —  nannte  man  doch  die  Vorträge  Schau- 
stellungen (sTTtSsi^st?  oder  Sst^stq)  —  stand  die  schöne  Form, 
nicht  der  Inhalt  im  Vordergrund,  etwa  wie  bei  Liedern  die 
Melodie  die  Hauptsache  zu  sein  pflegt.  Die  Redner  wollten 
lieber  an  Worten  als  an  Gedanken  üeberflu«s  haben;  das 
Pubhkum  erwartete  ja  auch  von  ihnen  keine  Belehrung,  sondern 
die  Hellenen  liessen  eine  epideiktische  Rede  wie  eine  Dichtung 
unbefangen  und  ohne  Reflexion  auf  sich  wirken  ^).  Darum 
gestatteten  sie  auch  den  Rednern  in  Lob  und  Tadel  arge 
Uebertreibungen  ^),  wofern  sie  geistreich  waren.  Alles  erst  zu 
beweisen  und  dann  zu  widerlegen,  war  seit  Protagoras  jedem 
Sophisten  geläufig  und  unentbehrhch.  Geringeren  morahschen 
Bedenken  unterliegt  es,  wenn  die  Rhetoren  über  jede  Sache  in 
beUebiger  Länge  sich  ergingen  ^)  und  das  Grossartige  gleich- 
giltig  und  das  Gleichgiltige  grossartig,  das  Traditionelle  neu 
und  das  Neue  traditionell  behandelten  ^).  Eine  besondere 
Kunstfertigkeit  bestand  in  der  Improvisation;  Gorgias  beant- 
wortete jede  Frage  ohne  Vorbereitung  in  wohlgesetzter  Rede 
und  von  Lykophron  wird  ausdrücklich  erzählt,  dass  man  ihm 
ein  Thema  zur  Improvisation  vorlegte '').  Alle  Verhältnisse 
entsprachen  fast  genau  dem  Sophistenleben  der  Kaiserzeit  ^'). 

Da  also,  was  man  sagte,  bei  weitem  weniger  wichtig  war, 
als  wie  man  es  sagte,  fiel  die  Wahl  eines  Themas  einem  ge- 
übten Deklamator  nicht  im  mindesten  schwer.  Freihch  erkannte 
man  sogleich,  der  epideiktischen  Rede  eigentfiches  Gebiet  sei 
Lob  oder  auch  Tadel  '').  In  dem  aber,  was  gepriesen  oder 
verurteilt  wurde,  legten  sich  die  Sophisten   nicht  die   mindeste 


1)  Thukyd.  3,  38,  7  dirXüii;  te  ixoTjc  -JjSovg  •/jootup.Evoi  xal  ootpiotJ»v 
deaTaic  eoixots?;  Isoer.  15,  46  f.;  Aristot.  rhet.  3,  1  p.  1404  a  19  ol -fäp  Yp«fö|JLSvoi 
KÖfoi  jjLeiCov  lo'j^üooai  8ia  x-rjv  Xi^iv  vj  8ia  ttjv  Sictvoiav. 

2)  Aristot.  rhet.  1,  9  p.  1368  a  27  "^  a5$7)Oi<:  ertifrjSeiotäTYj  xolq  irtiheiv.- 
Tixotc  (XoYot?). 

3)  Plat.  Gorg.  449  c.  Rhetor.  ad  Alexandr.  22. 

4)  Plat.  Phaedr.  267  a. 

6)  Auch  vou  Isokrates  setzt  die  bei  Galenos  XIV  672  K  mitgeteilte  Anekdote 
die  Fertigkeit  der  Improvisation  voraus. 

6)  Roh  de  der  griechische  Roman  8.  308  f. 

7)  Aristot.  rhet.  1,  3  p.  1358  b  12. 


I 


Die  älteren  Prnnkredner  (Gorgias  und  seine  Schule).  53 

Beschränkung  auf.  Sie  sprachen  über  Götter  (Eros)  ^),  Heroen 
(Achilleus  und  Herakles)  ^)  und  berühmte  SterbUche  der  Ver- 
gangenheit (wie  Aristeides  oder  Sokrates)  ^).  Hie  und  da 
machten  sie  den  Inhalt  dadurch  mannigfaltiger,  dass  sie  zwei 
Personen  mit  einander  verglichen,  z.  B.  Penelope  mit  Klytaim- 
nestra  oder  Paris  mit  Hektor^);  das  gab  ja  Stoff  für  eine  lange 
Reihe  der  beliebten  antithetischen  Pointen.  Ausser  den  Indi- 
viduen wurden  auch  hervorragende  Städte,  die  zwei  ,, Augen" 
Griechenlands  oder  Eli.s,  Olympias  Beschützerin  verherrlicht^). 
Für  jene  fand  man  eine  beliebte  Form  des  Enkoraions  in  dem 
,,Epitaphios".  Aber  auch  Tapferkeit,  Gerechtigkeit,  Eintracht 
und  andere  abstrakte  Tugenden  hatten  ihre  Lober  ^). 

Die  Sophisten  wurden  bald  der  Ehiförmigkeit  dieser  Themen, 
für  deren  Disposition  nach  und  nach  eine  gewisse  Schablone 
in  Gebrauch  kam,  überdrüssig  und  suchten  „paradoxe"  Stoffe; 
an  der  Bezwingung  der  sprödesten,  selbst  widerwärtigsten  Auf- 
gaben ihre  dialektische  Kunst  zu  üben  waren  sie  stolz.  Am 
wenigsten  bot  das  Problem,  bei  einer  Person  von  üblem  Rufe 
die  guten  Seiten  hervorzuheben  und  das  Schlimme  zu  ver- 
tuschen, Schwierigkeiten.  Man  verherrlichte  nicht  bloss  eine 
Helena,  die  Rhetoren  machten  sich  sogar  an  Polyphemos  und 
Busiris '')  und  auch  der  verhasste  Kritias  blieb  nicht  ohne  Für- 
sprecher ^).  Hingegen  bekämpfte  Polykrates  die  Verehrer  des 
Sokrates  durch  eine  Anklage  des  Philosophen  ^).  Damit  be- 
gnügten sich  aber  die  extravagantesten  Rhetoren  nicht ;  Alkidamas 


1)  'EpcuTixoi  gab  es  schon  vor  Lysias  Plat.  Phaedr.  235  cd  ;  Götter  im 
allgemeinen  Philodem,  rhetor.  4,  35. 

2)  Achilleus;  Gorgias'  Rede  und  Aristot.  rhet.  1,  3  p.  1359  a  3.  3,  16  p. 
1416  b  27;  über  Herakles  sprach  Prodikos. 

3)  Aristeides  Aristot.  rhet.  3,  14  p.  1414  b  36.  Sokrates  Isoer.  Busir.  6, 
wenn  xcuv  tKaivelv  autöv  etO'iafJLEVwv  auf  Reden  geht, 

4)  Philodem,  rhetor.  4,  36  f. 

5)  Athen  Plat.  Tim.  24  de.  Isoer.  15,  61;  Sparta  Isoer.  12,41;  über  Elis 
redet  Gorgias  selbst. 

6)  Philostr.  vit.  soph.  praef.  p.  202,  16  SisXey^'^o  H"^^  T^P  '^^P^  ftvSpiac, 
SisXeYEto  §£  itspl  SixatoxfjTO? ;  Gerechtigkeit  Aristot.  rhet.  2,  22  p.  1396  a  32, 
Ttjpl  6}xovo'.cx?  hiess  eine  Rede  Antiphons  (wie  später  eine  des  Aristeides). 

7)  Wie  Polykrates  (der  nicht  der  erste  auf  diesem  Gebiete  war,  Isoer. 
11,  46)  und  Isokrates. 

8)  Aristot.  rhet.  3,  16  p.    1416  b  28. 

9)  Isoer.   11,  4.  5. 


54  Zweites  Kapitel. 

pries  den  Tod  und  die  Armut,  Polykrates  die  Mäuse.  Selbst 
der  Bettlerstand  und  die  Verbannung  0,  das  Salz  ^j  und  die 
Bohnen  ^),  die  Hunde  ^)  wie  die  ßrummfliegen  '")  reizten  die 
verschrobene  Phantasie.  Wie  es  scheint,  missbrauchte  schon 
Gorgias,  wenn  auch  in  sehr  beschränktem  Masse,  die  Redekunst 
zu  solchen  „Spielereien"  (TcaiYVta)  ^).  Diese  Paradoxensucht 
verdient  aber  eine  milde  Beurteilung,  denn  dieselbe  Mode  trat 
unter  der  Kaiserherrschaft''),  bei  den  Byzantinern^)  und 
während  der  Renaissance  immer  von  neuem  wieder  auf  und 
erzeugte  manch'  witzigen  Einfall,  z.  B.  Lukians  Scherze  über 
das  Podagra  und  die  Mücke  oder  unseres  Pirkheimer  laus 
podagrae;  nur  sind  die  Griechen  nie  zu  den  Themen  eines 
Fracostro  und  Strascino  herabgesunken. 

Wiewohl  Lob  und  Tadel  immer  der  Hauptgegenstand  der 
epideiktischen  Reden  blieben,  verschlossen  sich  die  Sophisten 
nicht  gegen  andere  Stoffe.  Von  der  älteren  Stufe  der  Wissen- 
schaft hatten  sie  die  Naturphilosophie  übernommen  und  wid- 
meten ihr  Reden  oder  besser  gesagt,  Vorträge  ^).  Die  Politik 
wurde  vor  Isokrates  kaum  berührt,  wenn  man  nicht  die  „olym- 
pischen" Reden,  welche  Gorgias'  Vorbild  hervorrief^''),  anführen 
will.  Dagegen  machten  die  epideiktischen  Reden  zu  Piatos 
Zeit    den    Liebesgedichten    Konkurrenz,    indem    Jünglinge  die 


1)  Isoer.  10,  8.  Aristot.  rhet.  2,  24  p.   1401  b  25. 

2)  Plafc.  symp.  177  b  (er  erwähnt  einen  ganzen  Band  solcher  Spielereien). 
Isoer,  10,  12. 

3)  Demetr.  tc.  Ipjxvjvsiac  170. 

4)  Arist.  rhet.  2,  24  p.  1401  a  15.  Menander  eittSeixT.  2,  1  p.  346,  18. 
Sp. ;  von  Tieren  überhaupt  spricht  Philodem.  rhet.  4,  36. 

5)  Bo|j.ßo).'.o':  Isoer.  10, 12. 

6)  Sehol.  Fiat.  p.  130  B.  |Xf)8£vö(:  epwxojvtö?  noxt  (puXXov  Xaßwv  elitev 
sl<;  xh  (p  u  X  X  0  V  \ö'(ov  t'.va,  elxa  el«;  tyjv  'Afl-tjväv  xod  7ta}AjJ.-rjxY)  Xöyov 
^meteivaxo. 

7;  Cresollius  theatrnra  veterum  rhetorum  p.  200 f.,  vgl.  z.  B.  Gell. 
17,  12.  Fronto  schrieb  über  Rauch,  Staub  und  Faulheit. 

8)  Z.  B.  Michael  Psellos  Fabricius-Harles  bibl.  Gr.  X  72. 

9)  Im  allgenu'inen  Philostr.  vit.  »oph.  p.  202, 17  87tY|  aiTeo)(Y)|iäxt(3Tat  4j 
lUa.  xoö  x6a}j.oo;  die  s[»äleren  Sophisten  folgten  darin  den  Gorgianeru  (Dio 
Chrys.  or.  33,  44  6|j.£i(;  Taux;  |j.e  nzpl  äoxpwv  y.al  y*^?  e?oxecxs  liaXiitad'ixi, 
auch  §  4). 

10)  Vgl.  Isoer.  4,  3. 


Die  älteren  Prnnkredner  (Gorgias  und  seine  Schule).  55 

Neigung  der  geliebten  Knaben  auch  durch  dieses  Mittel  sich 
7A\  verschaffen  suchten  ^). 

Die  Phantasie  erfordernde  Kunst,  welche  darin  bestand, 
dass  der  Rhetor  sich  in  eine  Situation  lebhaft  hineindachte  und 
eine  Rede  im  Namen  einer  anderen  Person  fingierte,  war  vor 
Demetrios  von  Phaleron  wenig  entwickelt.  Die  fingierten  Reden 
von  Helden  des  troischen  Krieges,  welche  unter  dem  Namen 
des  Gorgias,  Antistheues  und  Alkidamas  überliefert  sind,  erregen 
7Aun  Teil  grosse  Bedenken;  die  einzige  ,,Alexandros"  betitelte 
Rede  '^),  deren  Echtheit  Aristoteles  garantiert,  war  seinen  Lesern 
so  wohl  bekannt,  dass  er  den  Namen  des  Verfassers  weglassen 
koimte.  Jedenfalls  war  bis  auf  Demetrios^)  die  Heroengeschichte 
das  einzige  Gebiet,  auf  dem  man  derartige  Stoffe  suchte. 

Die  Erhebung  zu  würdigen  Gegenständen,  die  mit  dem 
gebührenden  Ernste  zu  behandeln  waren,  blieb  Isokrates  vor- 
behalten. 


1)  Plato  Lysis  204  d.  205  a;  Lysias  hat  diese  Gattung  ausgebildet. 

2)  Bruno  Keil  Hermes  19,  649  weist  aus  Aristot.  rhet.  3,  14  p.  1414b 
38  nach,  dass  die  Kede  Paris  selbst  in  den  Mund  gelegt  war. 

3)  Sauppe  orat.  Att.  11  223  und  Vahlen  Rhein.  Mus.  21,  I47f.  dachten 
an  Polykrates,  Bruno  Keil  analecta  Isocratea  p.  132  wegen  des  Artikels  (ev 
TU)  "AXs^ävSfX}))  an  Gorgias. 


Drittes  Kapitel. 
Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit. 

Korax  und  Teisias ;  Thrasymachos ;  Theodoros ;   Antiphon  ;  Polykrates  und 

Zoilos;  Rückblick. 

Während  Gorgias  und  seine  Anbänger  gleich  den  vorher 
besprochenen  Sophisten  die  allgemeine  Bildung  ihrer  Schüler 
im  Auge  hatten,  wünschten  viele  lieber  einen  direkten  Unter- 
richt, welcher  ihnen  die  Kunst  des  Prozessierens  und  Dispu- 
tierens  enthüllte,  wodurch  die  Besseren  sich  und  ihre  Freunde 
zu  schützen,  die  Schlechteren  Reichtum  und  Ansehen  zu  er- 
werben hofften;  denn  es  stellte  sich  bald  heraus,  dass  jener 
allgemeine  Unterricht  vor  den  Geschworenen  wenig  half,  im 
Gegenteil  den  Unerfahrenen,  welcher  das  Erlerute  auskramte, 
eher  lächerlich  machte '). 

Auch  für  diesen  Mangel  kam  die  Abhilfe  aus  Sicilien, 
dessen  Bewohner  an  Streit-  und  Prozesssucht  hinter  den  Athenern 
keineswegs  zurückstanden.  Als  vollends  nach  der  Vertreibung 
der  Tyrannen,  welche  466  in  Syrakus  begann  und  dann  über 
die  ganze  Insel  hin  erfolgte,  arge  Anarchie  auf  Sicilien  herrschte^), 
hatten  die  Gerichte,  wie  Aristoteles  gewiss  richtig  annahm  ^), 
mehr  als  je  mit  zahlreichen  leidenschaftlich  geführten  Prozessen 
zu  thun.  Ein  scharfsinniger  und  erfahrener  Mann  konnte 
bei  einer  solchen  Lage  der  Verhältnisse  durch  belehrende  Rat- 
schläge grosses  Ansehen  gewinnen.  Insoweit  sich  die  daraus 
entspringenden   Anfänge   einer  Theorie   der   praktischen  Bered- 

1)  Plat.  Theaet.  172  c. 

2)  Vgl.  H.  Mu88  de  Syracusanoruni  statu  qualis  fuit  Thrasybulo  mortuo 
usque  ad  Ducetii  intcritum,  Jena  1867. 

8)  I^i  Ci('«*ro  Bnit.  12,  46  (variiert  und  ausge.sponuen  Walz  rhet.  II 
140,  12ff.  IV  11,  Hfl.  VI  12,  Hfl-.  48,  26 ff".). 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  57 

samkeit  auf  Sicilien  beschränkten,  waren  sie  den  übrigen 
Griechen  kaum  bekannt  und  wir  würden  nicht  einmal  einen 
Namen  zu  verzeichnen  haben,  wäre  nicht  die  älteste  rhetorische 
Schrift,  ein  Lehrbuch  des  Korax  von  Syrakus^),  in  die 
Hände  des  Aristoteles  gekommen ;  der  Philosoph  zieht  daraus 
das  Urteil,  dass  bereits  Korax  nicht  auf  die  objektive  Wahrheit 
sondern  auf  das  wahrscheinliche  (eixdc)  ausgingt);  z.  B.  sollte 
bei  einem  Misshandlungsprozesse  der  Schwache  auf  seine 
Schwäche,  wegen  welcher  die  That  physisch  nicht  glaublich 
sei,  der  Starke  hingegen  auf  seine  Kraft,  die  sofort  den  Ver- 
dacht auf  ihn  lenke,  hinweisen.  Da  ihn  Aristoteles  zu  den 
Eristikern  rechnet  ^),  scheint  er  bloss  eine  Sammlung  von 
dialektischen  Formeln,  zu  welcher  ihn  wohl  die  eleatischen 
Philosophen  mittelbar  anregten,  angelegt  zu  haben  *).  Späte 
Rhetoren  prunkten  gerne  mit  dem  alten  Namen,  benutzten  aber 
im  besten  Falle  eine  gefälschte  Rhetorik  % 

Da  Korax  nach  Griechenland  nicht  kam,  wusste  Plato 
nichts  von  ihm;  der  älteste,  den  er  anführt,  ist  der  Syrakusaner 
Teisias^),  welcher  offenbar  Athen  mit  Erfolg  besuchte,  sonst 
würde  Plato  seine  Theorie  der  WahrscheinHchkeit  nicht  be- 
kämpft haben'').  Auch  Aristoteles  kannte  des  Teisias  rhetorische 
Schrift*),  welche,  wie  es  scheint,  von  der  seines  Vorgängers 
nicht  viel  verschieden  war'').  Die  Vorbereitung  für  die  gericht- 
liche Thätigkeit  war  ihm  aber  nicht  die  Hauptsache,  weil  er 
auch  bald   kurz  bald  lang  zu  reden  versprach.     Teisias  unter- 


1)  Usener  Ehein.  Mus.  28,  434 f. 

2)  Ehet.  2,  24  p.  1402  a  17. 

3)  Ibid.  Z.  14,  Aristoteles  sagt  soph.  elench,  33  p.  183b  31  vorsichtig: 
Teioiac  fJ^EV  [leta  xobq  jrpcuxouc. 

4)  Cic.  Brut.  12,  46  übersetzt  mit  „artem  et  praecepta"  offenbar  rkjyac, 
Ttvä?  (p7]top'.y.ac). 

6)  Der  bekannte  Prologist  der  „Ehetorik  an  Alexander"  empfiehlt  dem 
König  das  Buch  des  Korax  neben  seinem  eigenen !  Angaben  machen  Doxo- 
patris  Walz  rhet.  II  119,  16ff.  VI  13,  lOf.,  Maxim.  Planud.  V  215,  22f. 
Anonym.  III  610,  6 f.  611,  10,  Syrianos  IV  575,  7,  Schol.  Hermog.  V  12,  2fif., 
Troilos  VI  49,  1  flf. 

6)  Die  gewöhnliche  Form  Ttoiat;  ist  spät. 

7)  Phaedr.  273  a  (SoxeI  Se  toöto  TCOtfifiaY«  swat  tot?  irepi  taöxa)  — d  (nplv 
xal  o£  itapeXfl-elv) ;  auch  269  d  vermutet  Krische  Ttoia?. 

8)  Soph.   elench.  34  p.  183b  31. 

9)  Nach  S  n  s  e  m  i  h  1  genetische  Entwicklung  der  platonischen  Philosophie 


58  Drittes  Kapitel. 

schied  sich  viehnehr,  wie  seine  Nachfolger,  hauptsächhch  nur 
darin  vonGorgias,  dass  er  ausser  der  allgemeinen  Bildung  auch  jene 
praktischen  Lehren  vortrug.  Die  Rhotoren  der  Kaiserzeit 
kannten  die  Lehren  des  Teisias  nicht  im  geringsten,  halfen 
dieser  Lücke  auch  nicht  durch  Fälschung  ah,  sondern  waren 
damit  zufrieden,  ihm  Schüler i)  und  eine  Anekdote^)  anzu- 
dichten. Nur  Pausanias  spricht  von  Reden,  unter  denen  eine 
für  eine  Syrakusanerin  geschriebene  besonders  überzeugend  ge- 
wesen sein  solP). 

Dem  Teisias  reiht  Aristoteles  Thrasyraachos  von  Chal- 
kedon*)  an,  welcher  seine  Thätigkeit  in  Athen  entfaltete.  In 
diesem  bedeutenden  Manne  vereinigten  sich  sicilische  Rhetorik 
und  Dialektik  mit  der  Gelehrsamkeit  von  Hellas  ^);  er  beschäftigte 
sich  mit  der  Philosophie,  was  ihm,  da  er  seine  Ansichten  oben 
drein  ohne  attische  Urbanität  auszusprechen  gewohnt  war  ^), 
bittere  Angriffe  von  Seiten  Piatos  zuzog.   Seine  wahre  Bedeutung 


4 


I  S.  485  war  die  xiyyyi  des  Teisias  von  der  des  Korax  nicht  verschieden  ; 
Verrall  Journal  of  philology  9,  197  If.  lässt  beide  znsanjmen  das  Buch 
schreiben. 

1)  Isokrates  nach  den  Biographen  (s,  u.),  was  Anon.  vit.  Isoer.  p.  254,9 
W.  verdirbt ;  Lysias  Ps.  Plut.  835  d  (in  Thurioi,  wobei  zugleich  ein  Syrakusaner 
Nikias,  dessen  Namen  Spengel  ouv^yiuy*^  p.  38  für  eine  Doublette  hält, 
erwähnt  wird)  und  Suidas  ;  sogar  Gorgias  Schol.  Hermog.  Walz  IV  14,  27 
(aus  Plat.  Phaedr.  267  a  erschlossen). 

2)  Aus  dem  Sprichwort  ex  xaxoö  v.6pav.rjq  y.fxv.b\i  wov  entstand  die  be- 
kannte Erzählung,  wie  Korax  mit  seinem  Schüler  Teisias  um  das  Honorar 
disputiert  (Sext.  Empir.  2,  96  f.  Walz  rhet.  IV  13  f.  V6f.  65.  215  f.  [Die  1000 
Drachmen  sind  von  Isokrates  entlehnt].  VI  13  f.  —  Schneidewin,  paroemio- 
graph.  Graec.  I  p.  107  zu  82,  II  p.  73  zu  34,  p.  466  zu  20,  Proverb.  Lau- 
rent. Rhein.  Mus.  38,408  W,  Schol.  Plat.  p.   130  B.). 

3)  6,  17,8;  er  gibt  den  Syrakusaner  dem  Gorgias  auf  seiner  Gesandt- 
schaft zum  Begleiter!  Nach  Diodor.  bei  Clem.  Alex.  Strom.  1366  war  Antiphon 
der  erste,  welcher  eine  gerichtliche  Rede  veröffentlichte. 

4)  K.  Fr.  Hermann  de  Thrasymacho  Cbalcedonio  sophista,  ind,  lect. 
hib.  Gott.  1848;  Chr.  Petersen  Philol.  4,  243fl'.  Seineu  Kollegen  und 
Landsmann  Demetrios,  welcher  älter  gewesen  sein  soll,  nennt  bloss  Dio- 
genes 5,  83. 

6)  Da  er  nicht  ^"qTUjp,  sondern  oo(p'.offi<;  sein  wollte,  hiess  es  in  seiner 
Grabschrift  (Athen.  10,  454 f.  Anthol.  app,  359):  vj  U  xiyyri  oo(pit).  Auch 
der  „KJeitophon"  kennt  ihn  als  Rivalen  des  Sokrates. 

6)  Herodikos  sagte  zu  ihm:  äü  ^•paaüfiay/i':  t\  (Aristot.  rhet.  2,23  p.  1400b 
20);  80  wird  er  von  Plato  im  „Staate"  geschildert. 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  59 

lag  aber  auf  dem  Gebiete  der  Rhetorik,  in  welcher  Thrasymachos 
bei  den  Athenern  sich  so  grossen  Anseljens  erfreute,  dass  ihn 
Flato  im  Phaidros  unermüdlich  bekämpfte  nnd  sogar  mit 
Odysseus  verglich  ^). 

Als  Lehrer  der  Rhetorik  verfasste  Thrasymachos  ein  theore- 
tisches Buch,  das  in  der  Geschichte  der  Rhetorik  Epoche  machte; 
dieses  umfangreiche  Werk  ^)  behandelte  nicht  mehr  bloss  die 
gerichtliche  Dialektik,  es  erstreckte  sich  bereits  auf  die  eigent- 
liche Rhetorik,  wobei  Thrasymachos  über  den  Stil  (z.  B.  den 
Periodenbau)  Anweisungen  gab  ^) ;  da  man  vor  Gericht  in  der 
Regel  mehr  das  Gefühl  als  den  Verstand  der  Geschworenen 
einzunehmen  hatte,  begründete  er  ferner  die  Theorie  des 
studierten  Vortrags  (Djrdxpiat?)  und  lehrte,  wie  man  Mitleid, 
Leidenschaft  und  Gehässigkeit  künstlich  hervorrufen  kömie^). 
Thrasymachos  war  ja  ein  Zeitgenosse  des  Euripides,  Melanthios 
und  der  gleichgesinnten  Musiker,  welche  in  Drama  und  Musik 
der  Sentimentalität  Rechnung  trugen.  Die  Lehrsätze  waren 
durch  Sammlungen  von  Musterstücken,  z.  B.  Einleitungen  und 
rührenden  Abschnitten  erläutert^). 

Praktisch  mag  Thrasymachos  seine  Kunstfertigkeit  gar  oft 
bewiesen  haben,  indem  er  athenischen  Bürgern  Reden  ver- 
fasste, aber  er  gab  keine  derselben  heraus  ^),  weil  dies  damals 
noch  kaum  gebräuchlich  war.  Dagegen  trennte  sich  Thrasy- 
machos insofern  nicht  entschieden  von  Gorgias  als  er  über 
philosophische  Gegenstände  sprach  ^) ;  mit  praktischem  Blicke 
eröffnete    er  jedoch  der  Beredsamkeit   ein  neues  Gebiet.     Dem 

1)  261c.  266  c.  267  c,  269  d.  271a. 

2)  MeyaXf)  zsyyfi  Schol.  Arist,  Av.  880  (das  Citat  ist  aus  einem  Master- 
stück), xiyyt]  ^Y)xopix-fj  Suid. 

3)  Dies  ist  der  Sinn  von  Suidas  o<;  ^pw-cot;  mpiohov  v-azehtt^z  xat  tov 
vöv  TTjc  ^fjTop'.x-fjc  xpörtov  elof)Y*f]aaTO. 

4)  Plat.  Phaedr.  267  cd. 

6)  Suidas  nennt  neben  der  T£-/vri  &cpop[i,al  pTjtopixai;  an  Abteilungen 
kennen  wir  icpootixta  Athen.  10,  416a,  oTtspßäXXovcc^  Plut,  quaest.  conviv.  1, 
2,  3,  eXeot  Aristot.  rhet.  3,  1  p.  1404a  15  (Quintil.  3,  1,  12),  vgl.  Schanz 
die  Sophisten  S.   132  f. 

6)  Dionys.  Isae.  20;  wegen  des  vorhergehenden  Satzes  kann  die 
Stelle  nicht  geändert  werden.  Auch  Suidas  erwähnt  bloss  uat-fvia  und 
au{j.ßooXeuTtxo6c. 

7)  Plat.  Phaedr.  271a;  Cic.  de  orat.  3,  32,  128  (de  natura  rerum  et 
disseruit  et  scripsit)  deutet  auf  einen  <pootx6i;. 


60  Drittes  Kapitel, 

Fremden  war  die  Rednerbühiie  in  der  Volksversammlung  unzu- 
gänglich und  ein  Mann  in  öfFentlichem  Amte  wagte  damals 
schwerlich  sich  der  Diskretion  eines  Sophisten  anzuvertrauen, 
jedenfalls  hätte  dieser  die  gelieferte  Arbeit  später  nicht  ver- 
öffentlichen dürfen.  Aber  niemand  verwehrte  dem  Rhetor,  zum 
Besten  seiner  Schüler  über  politische  Fragen  der  Gegenwart 
Reden  auszuarbeiten,  die  natürlich  den  Anschein  hatten,  als 
ob  sie  in  der  Volksversammlung  gehalten  würden^);  so  be- 
schweren sich  in  einer  Rede,  deren  Anfang  Dionysios  erhielt, 
die  Bewohner  von  Larissa  über  den  makedonischen  König 
Archelaos  ^).  Der  Verlust  dieser  Reden^)  ist  die  traurigste  Lücke, 
welche  die  Zeit  in  die  Denkmäler  der  alten  Beredsamkeit  riss; 
denn  Thrasymachos  gebührt  das  Verdienst,  den  Stil  der  klassischen 
Prosa  angebahnt  zu  haben. 

Den  Schwulst  und  die  poetischen  Floskeln  des  Gorgias 
verschmähend,  wählte  er  lieber  eine  scheinbar  schlichte  aber 
gewählte  Rede  und  befleissigte  sich  der  Gedrungenheit  und 
Kürze.  Er  wurde  somit  der  ,,Archeget"  des  mittleren  Stiles^). 
Aber  Thrasymachos  dämmte  nicht  bloss  das  Uebermass  des 
Gorgias  in  geregelte  Bahnen  ein,  sondern  er  ersann  zugleich 
einen  neuen  Schmuck  der  Sprache,  von  dem  der  Sicilier  noch 
nichts  gewusst  hatte.  Mit  dem  Reize,  den  die  Poesie  an  dem 
Versmasse  besass,  wetteiferte  er  durch  den  rhythmischen  Fall 
der  Sätze  ^) ;  im  besonderen  fand  Thrasymachos  Nachahmer, 
als  er  für  die  Anfänge  und  Schlüsse  der  Perioden  den  päonischen 
Rhythmus  empfahl  ^).  Wer  mag  es  dem  Redner  verargen, 
wenn  er  in  der  frischen  Freude  des  Finders  jenes  Kunstmittel 
im  Uebermasse  anwendete? 


1)  Dionys.  de  vi  Demosth.  3  (e4  fevöc  xdiv  8Y)(i,Y)Yoptx(I»v  Xo-ftov)  widerspricht 
also  der  eben  angeführten  Stelle  nicht. 

2)  Blas 8  III  2,  330 f.  bemerkte,  dass  eine  Deklamation  des  Herodes 
Attikos  dasselbe  Thema  behandelt. 

3)  Die  düjftigen  Fragmente  stehen  bei  Sauppe  II  162  f.  und  C.  Müller 
II  244,  ein  Denkmal  der  Beredsamkeit  des  Thrasymachos  versuchte  Petersen 
Philol.  4,  244  flF.  nachzuweisen. 

4)  Theophrast.  bei  Dionys.  de  vi  Demosth.  3  und  Lys.  6 ;  Dionys. 
Isae.  20  xaftapöc  |i-cv  xal  XtKibz  xal  Seivö?  eöpelv  xe  xal  eiTceiv  OTpo^YU^ux;  xal 
■Ktfiixx&ro  ßciöXetai;  ungenau  Cic.  orator  12,  39. 

6)  Cic.  orator  62,  176  cujus  omuia  nimis  exstant  scripta  numerose. 
6)  Aristot.  rhet.  3,  8  p.  1409  a  2. 


I 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  61 

Thrasymacbos  war,  wenn  auch  schwerlich  der  erste  Nicht- 
athener,  so  doch  der  erste  Dorier,  welcher  die  Sprache  Athens, 
ohne  kleinliche  Eifersucht,  annahm,  weil  er  sich  dauernd  in 
Athen  aufhielt  und  mit  seinem  Heimatdialekte  weder  Zuhörer 
noch  Leser  gefunden  hätte.  Dass  er  attisch  schrieb,  steht  fest, 
da  Vestinos  die  Reden  des  Thrasymachos  in  seinem  attischen 
Würterbnche  berücksichtigte  ^).  Daraus  ersehen  wir  zugleich, 
dass  sie  auch  nach  der  Zeit  Ciceros  ^)  noch  gelesen  und  studiert 
wurden;  aber  keiner  der  nach  Dionysios  lebenden  Rhetoren 
nennt  auch  nur  seinen  Namen. 

Leider  ist  die  Zeit  dieses  einflussreichen  Redners  nur  an- 
nähernd zu  bestimmen;  soviel  steht  fest,  dass  er  älter  als 
Lysias  war^)  und  bis  in  das  vierte  Jahrhundert  hinein  lebte ^). 
Ohne  Thrasymachos  war  kein   Lysias  möglich. 

Weder  so  vielseitig,  noch  so  bedeutend  wie  Thrasymachos 
war  Theodoros  von  Byzanz,  der,  vielleicht  von  jenem,  dem 
Bürger  einer  engverwandten  Stadt,  nach  Athen  gezogen,  dort 
mit  grösserem  Erfolge  als  Lysias  lehrte  ^).  Anderes  ist  über 
seine  Lebensumstände  nicht  bekannt. 

Seine  Rhetorik  behandelte  die  Enthymeme "),  aber  auch 
die  Komposition  der  Reden,  die  er  durch  spitzfindige  Zerlegung 
der  Glieder  kompliciert  machte,  z.  B.  schied  er  die  Erzählung 
des  Thatbestandes  in  Vorerzählung,  P^rzähhmg  und  Nach- 
erzählung').     Plato     spottete     daher     über    den     Wortdrechs- 


1) 'Suidas  V.  OoTjaTlvoi;;  auch  Herodes  Attikos  scheint  sich  mit  ihm 
beschäftigt  zu  haben  (S.  60  A.  2). 

2)  Cic.  orator  52,  175. 

3)  Dies  zeigt  sowohl  Piatos  Staat,  auch  wohl  der  „Kleitophon"  als  der 
Ansatz  des  Aristoteles  (soph.  elench.  34  p.  183  b  32),  der  ihm  die  Stelle 
zwischen  Teisias  und  Theodoros  anweist;  wenn  Dionysios  Lys.  6  (vgl.  3) 
beide  tür  Zeitgenossen  oder  gar  Lysias  für  älter  hält,  beweist  er  nur  seine 
Voreingenommenheit  für  Lysias. 

4)  Der  Komiker  Ephippos  (bei  Athen.  11,  609  c)  spottete:  Bpuawvo- 
S-paaD[j.«-/^o-X7j4icxepfj.aTtuv.  Aristoph.  Daital.  fr.  211,  8  M.  (vom  Jahre  427) 
bezieht  sich  nicht  auf  deu  Rhetor,  sondern  auf  eine  Person  des  Stückes. 

5)  Aristot.  bei  Cic.  Brut.  12,  48. 

6)  Aristot.  rhet.  2,  23  p.  1400b  16  (TiTtpöxspov  9cO?u>poo  tex^^  ist 
unverständlich). 

7)  npoStYjOfjotc  SffjYvjati;  etccöitiyyjoi?  Aristot.  rhet.  3,  13  p.  1414  bl4  (die 
Rhetoren  der  Kaiserzeit  gerieten  auf  ähnliche  Subtilitäten,  Walz  rhet.  III 
463  mit  N.  28).     Die    Angaben     in    der    anonymen    Rhetorik   bei  Spengel  I 


62  Drittes  Kapitel. 

ler^);  Theodoros  setzte  jedoch  nur  seine  eigene  Theorie  ins  Werk,  da 
er  in  seinem  Buche  lehrte,  man  solle  neue  Wörter  gebrauchen  ^), 
eine  Forderung,  welche  dem  Geschmacke  seiner  Zeit  entsprach. 
Für  die  Entwicklung  des  Prosastiles  war  l'heodoros  ohne  Be- 
deutung^). Dionysios  ^)  tadelte  an  seinen  Musterstücken  und 
den  Kedeu  die  Nachlässigkeit  der  Arbeit.  Theodoros  gab  nämlich 
Gerichtsreden  heraus,  welche  nach  Aristoteles  nüchterner  als 
die  lysianischen  waren  ^).  Alte  Kritiker,  die  Lysias  die  Reden 
gegen  Thrasybulos  und  Andokides  absprachen,  teilten  sie 
seinem  Konkurrenten  zu,  gewiss  aus  keinem  anderen  Grunde 
als  weil  sie  keinen  anderen  Zeitgenossen  kannten ;  die  zweite 
derselben  ist  bekanntlich  erhalten.  Von  den  nach  Aristoteles 
lehrenden  Rhetoren  berücksichtigte  ihn  nur  üionysios  ^). 

Weder  Theodoros  noch  Lysias  waren  die  ersten,  welche  der 
öffenthchen  Meinung  den  Affront  anthaten,  Reden,  welche  sie 
processierenden  Athenern  geschrieben  hatten,  lierauszugeben. 
Wenn  wir  von  Teisias  absehen,  wagte  diesen  dem  Geiste  der 
Gesetze  zuwiderlaufenden  Schritt  zuerst  Antiphon. 

Diesen  Namen  führten  im  Altertum  zahlreiche  Schriften 
verschiedener  Art,  unter  welchen  Gerich  tsre  den  die  grösste 
Zahl  ausmachten.  Harpokrations  Quellen  erkannten  die  Echt- 
heit von  dreizehn  derselben,  zu  denen  die  erhaltenen  Reden 
,,über  die  Ermordung  des  Herodes"(V.)  und  „über  den  Choreuten" 
(VI.)    gehörten,     an ''),    während    er    zwei    für    zweifelhaft    er- 


427 ff.  beziehen  sich,  wie  p.  440,  1  zeigt,  auf  Theodoros  von  Gadara  (vgl. 
über  diesen  Blass  die  griechische  Beredsamkeit  von  Alex,  bis  auf  Augustns 
S.  158  f.),  ebenso  wahrscheinlich,  was  ixepi  u'^ouc  3,  5  und  in  den  Rhetores 
Latini  steht. 

1)  AoYoSaioaXoi:  Phaedr.  266 e. 

2)  Aristot.  rhet.  3,  11  p.  I4l2a  25. 

3)  Vgl.  Dionys.  de  vi  Dem.  8. 

4)  De  Isaeo  19  oote  ev  xat?  TE/vat(;  (vgl.  Bakiu.s  scholica  hypoinn.  III 
78)  axptßY]  ooTE  s^sxaoiv  Ixocvrjv  ev  tote  Eva^w^vioit:  SeSoixoxa  Xo^otc ;  er  gehörte 
übrigens  zu  den  c.  20  aufgeführten  lieduern. 

5)  Cic.  Brut.  12,  48  (jejunior). 

6)  Cicero  keimt  ihn  bloss  aus  Pluto  und  Aristoteles, 

7)  Upi?  xöv  A-rjjjLCioö'Evoui;  -fpatf-rjv  oder  üvxtfpoKf'lv  (Harpocr.  v.  "AvSpcuv 
=  napavo|iüJv  xaxTjYopia  fr.  46  bei  Suid.,  vgl.  Ps.  l'lut.  833 d),  upö;  'Kpa- 
oioxpaxov  nepl  xawvwv  (xatLv),  npb'z  xyjv  KaÄXioü  EvSst^tv,  ejrtxpoirtxöi;  [xaxa] 
KaXXioxpaxou  oder  KaXXioxpaxi}),  xaxä  AaiorcoStoü,  nf>bz  NtxoxXea  ^epl  opu>v, 
tncxponixö':    Tt|j.oxp«xjt,    xaxä    ^cXivou,     itepl     z-qq    eic;    xbv    eXeöS-epov    italSa 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  63 

klärte^).  Andere  erwähnen  weitere  sechs,  darunter  die  „Anklage  der 
Stiefmutter  wegen  Giftmord"  (I.)^).  Die  Zeit,  in  welcher  diese 
Reden  entstanden,  erstreckt  sich  von  spätestens  425  bis  in  die 
dem  sicilischen  Feldzuge  unmittelbar  folgenden  Jahre  % 

Antiphon  schrieb  aber  nicht  bloss  auf  Bestellung  Reden, 
sondern  er  bereitete,  wie  die  bisher  besprochenen  Sophisten, 
für  die  gerichtliche  Thätigkeit  vor  ^),  wobei  er  seinen  Schülern 
ein  mit  Musterstücken  ausgestattetes  Lehrbuch  an  die  Hand 
gab-'');  dazu  gehörten  ohne  Zweifel,  obgleich  kein  altes  Citat 
für  sie  Bürgschaft  leistet,  die  erhaltenen  drei  Tetralogien, 
dialektische  Erörterungen  von  drei  schwierigen  Kapitalprocessen, 
in  je  zwei  Anklagen  und  Verteidigungen  ausgeführt. 

Gerade  wie  Thrasymachos,  verhüllte  Antiphon  seine  Kunst 
dem  grösseren  Publikum  durch  den  Vortrag  epideiktischer 
Keden^);   davon    werden   die  Titel  Tispl  ©[lovota?  (fr.   106 — 119) 


[ößpetu?],  uEpl  Toü    Atvoiüiv  (?)    (f/opou    und    Tispl  toü  ilajJLOiJ-pav.ojv  cpöpou  (^«fj-o- 
vl'paxixö;;). 

1)  Kaxa  TcpüxavEcuc  und  rcpo?  4>tXi7C7iov  UKoXo'^i.a. 

2)  Kax'  'AXxißtaSou  XotSopiac  (Athen.  12,  525  b,  während  Plutarch  Alcib.  3 
titiert  £v  Tai?  'AXxißidoou  Xo'.Sopiatc,  an  denen  es  in  jener  Anklagerede  sicher 
lüclit  fehlte;  xatä  '^iTZTzov.^äzotiz  tou  oxpaxYjYOü  (interpoliert  taxpoö  Ps.  Plut. 
S33d);  o.Ko\o'(ia.  xoö  Müppou  fr.  34.  35  Bl. ;  npöi;  lloXusoxxov  fr.  47;  icepi 
ü/opaKoSiGfioti  fr.  7.  Der  von  Studeraund  Hermes  2,  434  tf.  veröflfeutlichte 
\inglaubwürdige  Pinax,  den  ich  hier  probeweise  anführen  will,  gibt  Antiphon 
50  ßeden. 

3)  Die  Rede  gegen  Hippokrates  niuss  vor  424,  wo  er  fiel,  geschrieben 
sein.  Die  Eeden  über  die  Tribute  von  Lindos  und  Samothrake  hängen  wohl 
mit  der  Ol.  88,  4(425)  erfolgten  Regelung  der  Tribute  (U.  K  öhler  Urkunden 
und  Untersuchungen  zur-  Geschichte  des  delisch-attischen  Bundes  S.  150) 
zusammen.  Die  Rede  über  den  Choreuteu  (vgl.  §  11)  und  gegen  Philiuos 
(fr.  61)  sind  nach  dem  sicilischen  Zuge  verfasst  (Sauppe  orat.  Att.  11  144). 
Vgl.  auch  F.  Kirchner  de  temporibus  orationum  Antiphontearum,  Frank- 
furt a.  O.  1864. 

4)  Plutarch.  de  gloria  Athen.  8. 

6)  Fr.  71—76,  vgl.  Quintil  3,  1,  10;  Pollux  6,  143  spricht  sich  zweifelnd 
aus.  Sopatros  Walz  V  7,  12  ff.  kennt  das  Buch  nur  mehr  vom  Hörensagen. 
Bei  Ps.  Plut.  832  e  ist  aber  icpwxoc  ok  Vop^iac,  zu  schreiben  wie  Neaxwp  zeigt. 
Aristoteles  bezeugt  wenigstens  Gemeinplätze  (Cic.  Brut.  12,  47);  im  besonderen 
werden  upoot}j.'.a  (fr.  68.  69)  und  snlXo-j^oi  (fr.  70)  augeführt. 

6)  Hermogen.  p.  414,  9  fl".  Philostr.  vit.  soph.  1,  15,  4  aocpcaxtxol  Ss  y«al 
exepo'.  Q\ö'(oi)  |j.£v,  cotptaxixwxspoi;  ?£  6  unep  f'qc,  ofjLovoiac,  £v  ö»  YvcufAoXoYiat  ts 
Xa[jL7:pat  v.al  (f'.KÖao^oi  a£}j.vfj  xs  cmu-^^s\'ia  xal  äii7jv^ic[j.£VYj  tcocyjxcxoIc  ovofxao; 
xal  xä  airoxdSYjv  Ep[j.Yjv£u6jj.Eva  TCapaTrXrja'.a  xd)V  neSiiuv  xoic;  Xsioi^^ 


64  Drittes  Kapitel. 

und  ;roXtnxö(:  (fr.  120—124)  angeführt^).  Der  Natnrphilosoplne, 
welche  ja  auch  der  Chalkedonier  behandelte,  waren  zwei  Essais 
„über  die  Wahrheit"  (fr.  80— 105  a),  deren  Titel  der  Redner 
von  Frotagoras  entlehnte,  gewidmet.  Aristoteles  schenkte  ihnen 
nicht  mehr  Beachtung  als  denen  des  Thrasymachos,  ausser  dass 
er  Antiphons  dialektische  Quadratur  des  Cirkels  erwähnte  ^). 

Endlich  existierte  ein  altertümliches  Buch  „über  die  alten 
Dichter  und  Sophisten",  welches  gewöhnlich  unter  dem  Namen 
des  Glaukos  von  Rhegion  ^)  angeführt  wird,  manchen  jedoch 
aus  uns  unbekannten  Gründen  für  ein  Werk  des  Antiphon  galt. 

Alle  diese  Schriften  heissen  also  Werke  Antiphons,  aber 
welcher  dieses  Namens  hat  sie  verfasst?  Der  berühmte  Anti- 
phon^), des  Sophilos  Sohn  aus  dem  Demos  Rh  am  nus^),  ge- 
hörte zu  den  Aristokraten,  welche  sich  mit  den  durch  Perikles 
geschaffenen  Zuständen  nicht  versöhnen  konnten ,  sondern 
grollend  das  öffentliche  Leben  mieden,  indem  sie  eine  Gelegen- 
heit zur  Wiederherstellung  der  alten  Verfassung  abwarteten. 
Antiphons  Name  würde  daher  in  den  Jahrbüchern  der  attischen 
Geschichte  fehlen,  wenn  er  nicht  im  Jahre  411  geglaubt  hätte, 
jene  Gelegenheit  sei  gefunden.  Er  stand  damals  mit  Phrynichos 
an  der  Spitze  der  antiradikalen  Bewegung  und  büsste,  weil  die 
spartanische  Hilfe  ausblieb,  mannhaft  im  Lande  bleibend,  wäh- 
rend die  meisten  Verschworenen  flohen,  den  Misserfolg  mit 
dem  Tode;  der  zur  Verurteilung  führende  Autrag,  den  Andron, 


1)  Aristides  schrieb  itepi  &p.ovoiac,  Dion  Chrysostomos  einen  itoXtxtxi? 
iv  exxX-rjofa  (XLVIII.).  U.  v.  Wilaniowitz  Hermes  11,  296  identificiert 
die  Bürgerrede  mit  der  Anklage  des  Alkibiades. 

2)  Aristot.  <pua.  dxp.  1  p.  185a  17,  vgl.  soph.  eleuch.  p.  172a  3. 

3)  Fragmente  in  C.  Müllers  fragm.  histor.  Graec.  II  p.  23  f.;  b  e4  'ItoXtac 
Plutarch.  mus.  4,  aus  Rhegion  und  Zeitgenosse  des  Demokrit  Diogen.  9,  38; 
nEpl  (^nip)  tüiv  apy^aioiv  notTjtiJüv  te  xal  |jiou!3ix<iiv  Plut.  mus.  4.  7  (hier  als 
avai'pa<f/-f)  bezeichnet),  nepl  not-rjxdv  Ps.  Plutarch.  833  d,  itepl  toü  ßlou  xdtv 
erc'  (ev)  ("■fttTQ  zptoxeuodvTUJv  Porphyr,  vit.  Pyth.  7  und  Diogen.  8,  3 ;  Glaukos 
eitleren  Apollod.  bei  Diogen.  8,  62,  der  angebliche  Plutarch  „über  die 
Musik''  und  Harpocr.  v.  Mouaaloi;,  Antiphon  bloss  Porphyr,  und  Diog.  a.  O., 
vgl.  Ps.  Plut.  833d.  Nach  Nauck  Philo).  5,  677  soll  ;cEpl  AlaxuXou  fio^tov 
(Argum.  Aeschyl.    Pers.)  ein  Abschnitt  des  Buches  gewesen  .sein. 

4)  Alb.  Dryander  comm.  de  Autiphoutis  Rhamuusii  vita  et  scriptis 
capita  selecta,  Halle  1838. 

6)  Dekret  bei  Ps.  Plutarch.  834  a. 


I 


Die  Lehrer  der  gericlitlicheri  Beredsamkeit.  65 

einer  seiner  früheren  Genossen,  gestellt  hatte,  ist  noch  erhalten  ^). 
Vor  dem  Tode  sagte  Antiphon  zu  Agathon  ,  er  kümmere  sich 
mehr  um  das  Urteil  eines  Wackeren  als  vieler  Wichte  ^).  Anti- 
phons unvergänglicher  Ruhm  wird  der  warme  Nachruf  bleiben, 
den  ihm  der  sonst  mit  Lob  so  geizende  Thnkydides  widmete 
(8,  68):  ,, Antiphon  stand  hinter  keinem  einzigen  Athener  au 
Tüchtigkeit  zurück  und  war  durch  Beredsamkeit  wie  durch 
Scharfsinn  ausgezeichnet ;  in  der  Volksversammlung  trat  er  nie 
auf,  ebenso  wenig,  so  weit  es  von  ihm  abhing,  vor  Gericht, 
sondern,  dem  gewöhnlichen  Volke  durch  den  Ruf  der  Gewandt- 
heit verdächtig,  unterstützte  er  nach  Kräften  den,  der  vor  den 
Richtern  oder  dem  ganzen  Volke  zu  reden  hatte,  durch  Rat- 
schläge und  er  selbst  verteidigte  sich,  als  ihm  nach  dem  Sturze 
der  Vierhundert  der  Prozess  gemacht  wurde  ,  so  gut  wie  kein 
anderer  vor  ihm."  Diese  Rede  gab  Antiphon  natürlich  nicht 
selbst  heraus  ;  da  die  Alten  aber  eine  Rede  ,,über  den  Staats- 
streich" eitleren  ^),  müssten  seine  Freunde  dies  besorgt  haben, 
wenn  nicht  eine  absichtliche  Fälschung  vorliegt.  Antiphon 
erteilte  also  (seinen  Gesinnungsgenossen,  dürfen  wir  einfügen) 
Anleitung,  worüber  Plato  sich  spöttisch  äusserte*);  da  er  ihn 
aber  mit  Aspasia  zusammenstellt,  war  ihm  Antiphon  nicht  ein 
Lehrer  wie  Gorgias  oder  em  anderer  Sophist.  Die  Stelle  des  Thu- 
kj^dides  bezieht  sich  gleichfalls  nur  auf  freiwillige  Ratschläge; 
denn  die  bezahlte  Abfassung  von  Reden  durfte  der  Historiker 
nach  den  Anschauungen  seiner  Zeit  nicht  loben. 

Warum  setzen  nun  Plato  und  Aristoteles  ^)  dem  Namen 
des  Antiphon  das  Demotikon  „aus  Rhamnus"  bei?  In  Athen 
lebte  zur  Zeit  des  Sokrates  nicht  bloss  jener  Aristokrat,  sondern 
auch  ein  Traum-  und  Zeichendeuter  desselben  Namens^),  welcher 
zugleich  als  Sophist  auftrat  und  Sokrates  anfeindete.  Xenophon  '^) 

1)  Bei  Ps.  Plutarch.  vit.  dec.  orat.  833dflf.  (aus  Krateros'  Urkunden- 
sammlung, vgl,  Harpocr.  v."Av8pa)v). 

2)  Aristot.  eth.  Eudem.   3,  5  p.   1232  b  6. 

3)  Vgl.  Sauppe  orat.  Att.  II  138. 

4)  Menexen.  236  a. 

5)  bei  Cic.  Brut.  12,47. 

6)  H.  Sauppe  commeutatio  de  Antiphonte  sopbista,  ind.  lect.  GfÖt- 
tiugen  1867;  A.  Croiset  Annnaire  pour  l'encour.  des  etudes  gr.  17,  143 ff. 

7)  Memorab.  1,  6. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  11.  6 


66  Drittes  Kapitel. 

stellt  ihn  als  einen  nur  auf  Gelderwerb  und  Wohlleben  be- 
dachten Menschen  hin,  der  Sokrates  seine  Zuhörer  abspenstig 
machen  wollte.  Die  Identität  des  Sophisten  und  Zeichendeuters 
wird  durch  Aristoteles  bezeugt  ^).  Von  diesem  Manne  rührte 
bestimmt  ein  berühmtes  Traumbuch  her''').  Ferner  war  er  es 
ohne  Zweifel,  welcher  in  Korinth  gleich  Empedokles  (hu*ch 
seine  Beredsamkeit  sympatlietische  Kuren  verrichtete  ^).  Wen 
die  Komiker  wegen  Armut,  Frechheit,  Habsucht*)  und  als 
,, Wortkoch"'')  verspotteten,  ist  nicht  sicher  auszumachen. 

Für  die  alten  Gelehrten  existierte  eine  förmliche  Antiphon- 
frage; ein  Kompilator  wie  der  angebliche  Plutarch  brachte  es 
freihch  fertig,  in  seiner  Biograpliie  den  Politiker,  den  Sophisten, 
einen  nicht  literarisch  thätigen  Athener  und  sogar  den  Tragiker 
Antiphon  zu  einer  Person  zusammenzuwirren ;  aber  die  Kritiker 
waren  vorsichtiger :  Hephaistion  untersuchte  die  Frage,  welcher 
Antiphon  bei  Xenophon  gemeint  sei,  in  einer  besonderen 
Schrift*^)  und  Hermogenes')  fand  den  Stil  der  Werke  nicht 
gleichmässig,  weshalb  er  sie  zwischen  dem  Staatsmann  und  dem 
Sophisten  verteilen  wollte.  Jenes  hat  nicbt  viel  zu  bedeuten, 
da  doch  Antiphons  Klienten  vor  Gericht  nicht  wie  Kunstredner 
sprechen  durften ;  vielmehr  findet  man  bei  genauerer  Betrach- 
tung in  den  erhaltenen  Gerichtsreden  mehr  Spuren  des  epideik- 
tischen  Stiles  als  in  den  gleichartigen  Werken  anderer  Redner. 
Die  Ansicht  des  Hermogenes  zu  prüfen,  gestattet  uns  der  Ver- 
lust der  meisten  Werke  nicht.  So  viel  aber  wird  feststehen, 
daas  der  reiche^)  Aristokrat  Antiphon  das  selbst  später  noch 
anrüchige  Gewerbe   eines  Redenschreibers  nicht  ausgeübt  hat ; 


1)  bei  Diogen.  2,  46  (er  sagt  ausdrücklich  b  TepaToaxoiroc). 

2)  Citate  bei  Sauppe  a.  O.  p.  17  f.;  war  es  in  Versen,  weil  Suidas 
Antiphon  xepaTOOXÖito?  xal  enojtotoc  nennt?  Melampiis  nsp\  TtaXfjiwv  citirt 
Antiphon. 

3)  Ps.  Pluüirch.  8iJ3c. 

4)  Aristoph.  Vesp.  1270.  1301.  Plato  com.  bei  Ps.  Plut.  833  c  (Wenn 
Philostr.  Vit,  soph.  1,   15  genauer  ist,  war  der  Redenschreil)er  gemeint). 

5)  AoYO|x«Yeipo<;  Suidas  v.  'AvtupAv.  Aristophanes  wendet  im  Frieden 
V.  44  das  antipbonti-sche  Wort  SoxYjocoocpo?  zum  Spotte  an. 

6)  Athen,   16,  673  e f.    * 

7)  Ilepl  ISeÄv  *2,  11. 

8)  Was  hätte  ihm  sonst  der  Staatsstreich  genützt?  Dass  der  Vater  Schul- 
meister war  (Ps.  Plutarch.  832  b),  bezieht  sich  gewiss  auf  den  Sophisten. 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  67 

Thukydides  kann  nur  mündliche  Unterweisung  von  Freunden 
meinen. 

Die  erhaltenen  Reden,  welche  sich  nur  um  Mord  oder 
Todschlag  drehen  (Xö^ot  ^ovtxot)^),  zerfallen,  wenn  ich  nicht 
irre,  in  zwei  Gruppen ;  für  den  wirklichen  Gebrauch  waren 
nur  die  Reden  ,,«ber  die  Ermordung  des  Herodes" 
(TTspi  Toö  'HpcpSou  (pövoo  V.)^)  und  „über  den  Choreuten" 
{Tispl  TOÖ /opsoToö  VI.)  ^)  bestimmt,  welche,  wenn  auch  die  fünfte 
Rede  etwas  mehr  Streben  nach  Variation  zeigt,  wahrscheinlich 
von  einem  Verfasser  herrühren'*). 

Die  erste  Rede  hingegen  „über  den  Giftmord"  und 
die  drei  sogenannten  Tetralogien  sind  bloss  Uebungsstücke, 
welche  für  den  Unterricht  bestimmt  waren  ^).  Bei  den  Tetra- 
logien liegt  dies  auf  der  Hand;  das  rhetorische  ist  bei  Seite 
gesetzt,  die  Sprache  im  allgemeinen  schlicht,  aber  gelegentlich 
mit  pathetischen  Ausdrücken  verziert").  Das  Hauptgewicht 
liegt  vielmehr  auf  den  Enthymemen,  welche  der  Rhetor  für 
seine  Schüler  zusannnengestellt  hat.  Es  fehlen  daher  individuelle 
Züge,  höchstens  von  F  4  abgesehen,  wo  ein  Freund  statt  des 
entwichenen  Angeklagten  spricht,  und  die  Paare  von  Anklagen 
und  Verteidigungen  treten  nicht  lebenswahr  heraus.  Die  drei 
Probleme  waren  schon  zur  Zeit  des  Antiphon  nicht  neu ;  wenig- 
stens disputierte  Perikles  mit  Protagoras  über  einen  der  zweiten 
Tetralogie  sehr  ähnhchen  Fall.  Die  Sprache  weicht  in  manchem 
von  der  der  übrigen  Reden  ab'). 

1)  Zur  Erklärung  A.  P  h  i  1  i  p  p  i  der  Areopag  u.die  Epheten,  Berlin  1874, 

2)  Ueber  den  Rechtsfall  M.  Sorof  Jahrbb.  f.  Phil.  127,  105 fif. 

3)  Unecht  nach  A.  Wagen  er  Revue  de  Instruction  publique  XIII, 
(1870)  Nr,  2;  über  die  Zeit  s.  S.  63  A.3. 

4)  Auch  die  Anrede  an.  die  Richter  stimmt  überein :  Gewöhnlich  sagt 
Antiphon  u)  avSps?,  nur  je  einmal  tu  av^pec  Stxaaxai  5,84.  6,1.  Auffallend  ist 
jedoch,  dass  das  altmodische  touto  ]jlev  — toöto  U  —  elfmal  in  V.,  aber  nie  in 
VI.  vorkommt.  Wenn  in  V.  fünfzehn  aa  und  1  xt  (§  91.)  überliefert  sind, 
während  in  VI.  immer  xx  steht,  zeigt  dies  bloss  die  gesonderte  Ueberlieferung 
des  Textes. 

5)  Jo.  Jonsius  de  scriptoribus  historiae  philosophicae  p.  325  sah  in 
allen  Reden  Deklamationen. 

6)  Blass  I  S.  147  A.  4.  153  A.  6.   161. 

7)  Vgl.  H.  van  Her  wer  den  Mnemos.  n.  s.  9,  203  f.  (nach  ihm  sind 
sie  von  einem  Späteren  jonischer  Abkunft  verfasst);  Dittenberger  Hermes 
16,321   A.   329;     Phil.    Weber    Entwicklungsgeschicht«    der    Absichtssätze, 

6* 


gg  Drittes  Kapitel. 

Aber  auch  die  erste  Rede  kann  nicht  für  einen  bestimmten 
Fall  aufgesetzt  sein^);  Zeugnisse  fehlen,  wo  man  sie  erwartete, 
und  werden  durch  bloss  dialektische  Kombination  ergänzt;  der 
Ankläger,  der  beim  Tode  seines  Vaters  vierzehn  Jahre  alt  war 
(§  1.  30),  Hess  nach  der  Fiktion  auch  erst  seinen  leibhchen  Bruder 
volljährig  werden,  bis  er  die  Anklage  einbraoiite.  Im  Ausdruck 
findet  man  gewisse  Uebereinstimmungen  mit  den  Tetralogien, 
so  dass  sich  die  Uebungsreden  von  den  eigentlichen  Gerichts- 
reden absondern^);  überdies  verdient  die  mehr  poetische  Anrede 
„o  Richtende"  Beachtung  ^), 

Der  Umfang  des  Erhaltenen  ist  zu  gering  als  dass  ein 
sicheres  Urteil  über  Echtheit  und  Unechtheit  aus  der  Sprache 
möglich  wäre;  denn  jede  der  erhaltenen  Reden  hat  ihre  be- 
stimmte Eigentümlichkeit.  In  den  Tetralogien  finden  wir, 
weil  Enthymerae  klar  aneinander  zu  reihen  sind ,  meist  einen 
knappen  und  präcisen  Ausdruck;  die  sechste  und  fünfte  Rede 
sind  beide  ziemlich  weitschweifig,  aber  unter  sich  im  Satzbau 
verschieden;  die  erste  Rede  sondert  sich  von  allen  durch  Ge- 
ziertheit, die  besonders  in  der  manierierten  Wortstellung  zu 
Tage  tritt,  ab.  Immerhin  zeigt  der  Stil*)  ein  gewisses  einheit- 
liches Gepräge,  welches  allerdings  vielleicht  nicht  einen  und 
denselben  Verfasser,  sondern  überhaupt  die  Anfänge  der  attischen 


Würzburg  1885  II  S.  16.  Die  Echtheit  verteidigt  J.  Hartman  studia 
Antiphoiitea,  Leiden  1882.  Vgl.  Phil.  Both  de  Antiphoutis  Rhamnusii  tetra- 
logiis,  Oldenburg  1876. 

1)  Mätzner  in  seiner  Ausgabe  (Berlin  1838)  S.  125;  Meier  und 
Schömann  der  attische  Prozess  S.  311;  bestritten  von  P.  G.  Ottsen  de 
rerum  inventione  et  dispositione  quae  est  in  Lysiae  atque  Antiphontisorationibus, 
Flensburg  1847  und  Fr.  Wieden hofer  Antiphontis  esse  orationem  quam 
editiones  exhlbent  primam  demonstratur,  Pr.  v.  Wien  1384.  Für  unecht  halten 
die  Rede  L.  Spengel  oovaYWfri  p.  118,  Schmitt  de  oratione  in  novercam 
quae  Antiphontis  iertur,  Fulda  1853  u.  F.  Pahle  die  Reden  des  Antiphon, 
Jever  1860  S.  12ft.;  auch  Blas»  I  181  ff.  urteilt,  wenn  die  Rede  echt  sei, 
stelle  sie  „eine  sehr  primitive  Stufe  der  Entwicklung  des  Antiphon"  dar, 
was  Hoppe  Antiphonteorum  specimen,  Halle  1874  billigt. 

2)  Vgl.  was  Fuhr  Rhein.  Mus.  33,675  über  das  Tempus  bei  |jieaXu> 
und  S.  678  über  ts  xal  bemerkt. 

3)  'ü  S'.xiCovTe«:  §  7  (allerdiugs  in  einem  Satze,  der  angefochten  wird). 

4)  Joh,  Becker  de  sophisticarum  artium  vestigiis  apud  Thucydidem, 
Berlin  1864;  Ad.  Hoppe  Antiphonteorum  specimen,  Halle  1874  p.  32—63; 
Phil.  Bot  h  de  Antiphontis  et  Thucydidis  genere  dicendi,  Marburg  1876. 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit,  69 

Beredsamkeit  kennzeichnet.  Es  fehlt  die  Einfachheit  und  Un- 
gezwungenheit, welche  Thrasy machos  und  Lysias  ihren  Reden 
zu  geben  verstanden.  Weil  der  Verfasser  noch  nicht  weiss, 
wie  er  dem  Publikum  seine  Künste  verhüllen  soll,  schwankt 
er  zwischen  der  Unbehilfliclikeit  eines  gewöhnlichen  Bürgers 
—  beispielsweise  wird  dasselbe  Wort  nicht  selten  in  kurzen 
Zwischenräumen  gebraucht ')  —  und  sophistischem  Prunk.  Wie- 
wohl der  Gleichklang  nicht  häufig  vorkommt  ^),  ist  durchweg 
die  Schule  des  Gorgias  fühlbar.  Am  meisten  tritt  dies  natürlich 
in  den  Fragmenten  der  epideiktischen  Schriften  hervor,  aber 
auch  in  den  Deklamationen  etwas  mehr  als  in  den  praktischen 
Reden.  Antiphon  vermeidet  einfache  und  schlichte  Bezeich- 
nungen und  greift  gerne  zu  veralteten  und  poetischen  Wörtern^). 
In  dem  Lehrbuche  (fr.  76)  empfahl  er  ausdrücklich  Neubildungen 
und  bereicherte  selbst  die  Register  der  Lexikographen  mit 
seinen  Ableitungen  und  Zusammensetzungen.  Da  ein  breiter 
Ausdruck  den  Vorzug  vor  einem  kurzen  zu  verdienen  schien, 
kommen  Pleonasmen  und  Umschreibungen  ^),  unter  denen  das 
philosophisch  klingende  Neutrum  mit  dem  Genitiv  hervor- 
sticht^), sehr  häufig  vor.  Im  Periodenbau  nahm  Antiphon  von 
Gorgias  die  Vorliebe  für  symmetrisch  gebaute  durch  korre- 
spondierende Partikeln  gegliederte  Sätze  an,  wobei  er  auch  vor 
überlangen  Perioden  nicht  zurückscheute  ^);  die  Form  der 
Antithese  kam  besonders  oft  vor^).  Die  rhetorischen  Figuren 
waren  bereits  entwickelt  (z.  B.  tritt  die  Epanaphora  wiederholt 
auf)^),  dagegen  die  advokatischen  Kunstgriffe  erst  im  Werden  ^). 
Die  volle  Wirkung  wird  durch  die  in  allzugrosser  Fülle  ver- 
wendeten Gemein[)lätze,  welche  den  docierenden  Theoretiker 
verraten,  etwas  beeinträchtigt;  der  Redner  hat  noch  nicht  ge- 
lernt, sie  mit  dem   speciellen  Falle  in  innigere  Verbindung   zu 


1)  Becker  a.  O.   S.  30;  auch   1,25  codd. 

2)  Hoppe  a.  O.  S.  52. 

3)  Both  a.  O.  S.  15  ff.  24  f. 

4)  Both  a    O.  S.  26  ff. 

5)  Both  a.  O.  S.  36ff. ;  das  kühnste  ist  xö  twv  Ix^P'»^  ßouXofxsvov  5,73. 

6)  Z.  B.  6.  2  f.  23.  45. 

7)  Becker  a.   O.  S.    19f.    Both  a.  O.  S.  27 f.  29;  Ed.  Belling  de  perio 
dorum  Antiphontearura  symmetria,  Breslau  1868. 

8)  Becker  a.  O.  S.  22  f. 

9)  Caecilius  bei  Phot.  biblioth.  259  p.  485  b  14  ff. 


70  Drittes  Kapitel. 

setzen.  Was  das  Verhältnis  der  Redeabschnitte  anlangt^)  so 
pflegt  die  Einleitung  mit  altertümlicher  Breite  angelegt  zu  sein  ^). 
Die  Beweisführung  ist  schwächlich  und  lässt  in  sännnthchen 
drei  Reden  wichtige  Punkte  unaufgeklärt.  In  allen  Beziehungen 
kann  man  sich  keinen  grösseren  Unterschied  denken  als  er 
zwischen  Antiphon,  dem  ersten  in  seiner  Art,  und  Demosthenes, 
den  zu  überbieten  unmögHch  war.  Dort  Unbeholfenheit,  hier 
die  raffinierteste  Kunst;  dort  eine  etwas  gezierte  pompöse 
Würde  und  Feierlichkeit''),  wie  sie  dem  Geschmacke  des  thuky- 
dideischen  Zeitalters  entsprach,  hier  ein  leidenschaftliches  Pathos, 
welclies  damals  für  ungeziemend  gegolten  hätte. 

Die  Altertümlichkeit  der  Reden  Antiphons  verhinderte, 
dass  er  unter  die  eigentlichen  Schulautoren  Aufnahme  fand; 
wie  jedoch  die  Blutgesetze  Drakons  neben  den  Gesetzen  Solons 
fortdauerten,  so  genoss  Antiphon  als  Specialist  für  Kapital- 
sachen bei  den  Späteren  einiges  Ansehen.  Als  einer  der  zehn 
Attiker  wurde  er  von  den  Grammatikern  behandelt,  wenn  auch 
nur  in  den  allgemeinen  Schriften,  die  sich  auf  alle  zehn  Redner 
erstreckten  ^).  Dagegen  lasen  ihn  die  Rlietoren  wenig  ^)  und 
nur  Gajus  Harpokration  schrieb  eine  Monographie  über  Anti- 
phon ^).  Begreiflicherweise  fehlen  SchoHen,  doch  enthalten  die 
Handschriften  eine  Biographie  des  Redners  und  Inhaltsangaben 
der  einzelnen  Stücke '). 

Die  handschriftliche  Ueberlieferung  Antiphons  ist 
nicht  selbständig;    man    stellte    nämlich    die    fünf   weniger  be- 


1)  Car.  Li u der  de  rerura  dispositione  apud  Antiphontein  et  Andocidem 
oratores  Atticos  comin.,  Upsala  u.  Göttingen  1859. 

2)  Auch  die  archaische  Beredsamkeit  lionis  hatte  diese  Eigentüuilicli- 
keit  (Tacitus  dialog.  19.  22). 

3)  Toü  zhKptKoöz  liäXtaxa  otoxaCofisvoc   Fliot.  bibl.  269  p.  486  b   14. 

4)  So  wahrscheinlich  schon  im  Kommentar  des  Didymos  vgl.  Hermogeu. 
It.  18.  p.  414,5  Sp. 

6)  Spengels  Khetoren  citieren  ihn  nie  (nur  Denietrios  rtepl  fepjjifiv.  53 
eine  verlorne  Rede).  Die  Tetralogien  werden  bei  Walz  11  33,  29.  378,  9.  VII 
11,  2.  1310,  19  von  Byzantinern  angeführt.  Cicero  scheint  nichts  gelesen 
zu  haben. 

6)  llepl  TÄv  'AvTi(pd)vxoc  fjyfiiLäxuiv  8uid.;  nach  einer  Vermutung  von 
Toupius  (zu  Suid.  Aoöjtepxoc)  behandelte  Lupercus  die  berühmte  Pfaueurede. 

7)  Nach  argum.  VI.  hatte  derselbe  Verfasser  Inhaltsangaben  zu  Demos- 
thenes geschrieben. 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Bererlsanakeit.  71 

rühmten  Attiker  Andokides,  Isaios,  Deinarchos,  Antiphon  und 
Lykurgos,  m  einen  Band  zusammen.  Diese  Sammlung  ist 
uns  in  zwei  unabhängigen  Handschriften  überliefert,  von  welchen 
die  eine  vollständige,  der  codex  Crippsianus  A  des  brittischen 
Museums ,  im  dreizehnten  Jahrhundert  auf  dem  Athos  ge- 
schrieben ist;  der  codex  Oxoniensis  N  hingegen,  wahrscheinlich 
aus  dem  folgenden  Jahrhundert  stammend,  enthält  jetzt  nur 
die  drei  letzten,  wobei  der  Schluss  des  Ijykurgos  fehlt.  Es  sei 
mir  gestattet,  ein  für  alle  Mal  den  lebhaften  Streit,  der  sich 
über  die  Vorzüglichkeit  der  einen  oder  anderen  Handschrift 
entsponnen  hat,  hier  kurz  zu  skizzieren.  Bekker  und  Baiter- 
Sauppe  (Oratores  Attici  1  p.  1  ff.,  Fragmente  H  p.  138  ff.)  war 
bloss  die  Handschrift  A,  deren  Vortrefflichkeit  sie  entdeckten  ^), 
bekannt;  erst  Mätzner  machte  in  seiner  Ausgabe  des  Antiphon 
(Berlin  1838)  auf  N  aufmerksam  und  gab  ihm  den  Vorzug. 
So  viel  ist  nun  klar,  dass  beide  Handschriften  aus  einer  Quelle 
stammen ;  aber  die  schwierige  Frage  besteht  darin,  ob  A  (in 
der  ersten  Hand,  deren  Lesarten  später  an  vielen  Stellen  korri- 
giert wurden)  oder  N  dem  Originale  näher  stehe,  mit  anderen 
Worten  welche  von  beiden  Recensionen  durch  einen  Gramma- 
tiker überarbeitet  wurde.  Die  meisten  Gelehrten  haben  sich  zu 
Gunsten  von  A  entschieden  '').  Doch  auch  N  fand  Verteidiger^); 
Blass  vermutet,  dass  bereits  im  Archetypus  doppelte  Lesarten 
vorhanden  waren*),  und  befolgt  demgemäss  in  der  neuesten 
Ausgabe  des  Antiphon  (Leipzig  1881)  eklektische  Grundsätze. 
In   der  That  ist   noch   nicht  genügend    nachgewiesen,    dass  N 


1)  Doch  verwertete  sie  schon  Dobree  in  seinen  adversaria  I  167  ff. 

2)  Ausser  H.  Sauppe  quaestiones  Antiphonteae,  ind.  schol.  Göttingen 
1861  vgl.  Briegleb  zur  Kritik  des  Antiphon,  Anclam  1861;  Arn.  Hug  comm. 
de  arte  critia  in  Anliphoutis  orationibus  factitanda,  Zürich  1872  (Univ.-Progr.) ; 
Ad.  Bohlmann  Antiphontea,  Breslau  1882  cap.  1;  Eosenberg  Jahrbb.  f. 
Phil.  107, 97 ff.  (zu  Deinarchos);  Th.  Thalheim  zu  Lykurgos,  Jahrbb.  f. 
Phil.  115,  673  ff.;  Graffunder  de  Crippsiano  et  Oxoniensi  Antiphontis 
Dinarchi  Lycurgi  codicibus,  Berlin  1882. 

3)  Fr.  Franke  neue  Jenaische  Literaturztg.  1842  Nr.  249 f.  u.  Ztsch.  f. 
Alterthumsw.  1843  Sp.  259 ff.;  Blass  in  der  ersten  Ausgabe  des  Antiphon; 
Jernstedt  in  seiner  Ausgabe,  Petersburg  1880  (die  eine  genaue  Kollation 
von  N  enthält);  Paul  Job.  Vo  gel  in  Dinarchum  curae  grammaticae  rhetoricae 
criticae,  Leipzig  1877. 

4)  Zur  Kritik  des  Antiphon,  Rhein.  Mus.  27,  92  ff.  und  in  der  Vorrede 
zur  zweiten  Ausgabe. 


72  Drittes  Kapitel. 

wirklich  Interpolationen  erfahren  habe  ^) ;  zudem  haben  neue 
genauere  Kollationen  ^)  gezeigt ,  dass  das  vorhandene  Material 
bisher  nicht  zuverlässig  war,  auch  sprachliche  Beobach- 
tungen sind  vorläufig  zu  wenig  herangezogen.  Wäre  es  un- 
möglich, dass  ein  verderbtes  Original  in  doppelter  Weise  emen- 
diert  wurde? 

Ueber  die  Ausgaben  bleibt  nach  dieser  Auseinander- 
setzung weniges  beizufügen.  Die  Reden  Antiphons  erschienen 
zuerst  in  den  Sammlungen  des  Aldus  und  Stephanus  ^),  dann 
bei  Reiske  (VIII  199  ff.),  ßekker  und  Baiter-Sauppe ;  der  kritische 
Apparat  ist  am  besten  bei  Jernstedt  und  Blass  mitgeteilt.  Ein 
Kommentar  wurde  den  Reden  Antiphons  seit  Mätzner  (Berlin 
1838)  nicht  mehr  beigefügt,  so  viel  auch  in  den  das  griechische 
Recht  behandelnden  Schriften  dafür  vorgearbeitet  ist. 

Eine  ähnliche  Figiu-  wie  Thrasymachos,  Theodoros  und 
Antiphon  war  der  Rhetor  Polykrates  von  Athen*),  welchen 
widrige  Verhältnisse  ausserhalb  seiner  Heimat  Unterricht  in  der 
Beredsamkeit    zu    erteilen    nötigten^).      Indes    hatte    er    wenig 


1)  Hug  a.  O.  p.  19 f.  verzeichnet  die  angeblichen  Interpolationen  von  N ; 
aus  Antiph.  6,  90  u.  6,  23  scheint  mir  gerade  hervorzugehen,  dass  die  beiden 
Schreiber  selbständig  unverständliche  Stellen  änderten;  dort  stand  wohl  im 
Archetypus  mit  Dittographie  <pY](peioafj,evot)(;- 

2)  Für  Antiphon  Jernstedts  Ausgabe;  für  Lykurg  Thalheim  a.  O. 
Isaios  Bürmann,  Hermes  17,  384flf.  und  in  seiner  Ausgabe.  Wa«  die  übrigen 
Handschriften  anbelangt,  so  wird  die  Unabhängigkeit  des  codex  B  behauptet 
von  Hug  a.  O.  und  Herrn.  Eeutzel  exercitatt.  criticae  in  Antiphontis 
orationibus,  Giessen  1879,  geleugnet  von  Thalheim  Jahrbb.  f.  Phil,  116, 
673flf.  u.  Jernstedt  a.  O.  p.  XIX— XXII;  auf  Grund  einer  genaueren 
Kollation  wies  nun  Bürmann  Hermes  17,  384flf.  und  Rhein.  Mus.  40,  387flf. 
nach,  da.s8  B  direkt  aus  A  abgeschrieben  ist.  Die  Handschriften  LMZP  bilden 
eine  Gruppe,  welche  das  Fehlen  von  Isae.  1,  22—2,47  gemeinsam  hat;  nach 
Jernstedt  a.  O.  p.  XVI  A,  8  ist  das  Original  L,  nach  Reutzel  S.  ISff.  B. 
Die  Handschrift  Q  bietet  für  Isaios  und  Andokides  eine  selbständige  Ueber- 
lieferung  (Bürmann  Rhein.  Mus.  40,  390  ff.). 

3)  Die  Ausgabe  von  Hannover  1619  zählt  sechazehn  Reden,  weil  die  V. 
zerlegt  ist. 

4)  J.  Vahlen  der  Rhetor  Polykrates,  Rhein.  Mus.  21,  146ff.;  Blass 
n  336  flf.  Fragmente  bei  Sauppe,  Orat.  Att.  II  p.  220  flf.  u.  C.  Müller  II  312. 
Athener  nach  Aischrion  von  Samos  bei  Athen.  8,  335 d. 

6)  Isoer.  11,  1.  2.  Erdichtet  ist  natürlich,  dass  er  auf  Kypros  lehrte 
(Argum.  Isoer.  XI.). 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  73 

Glück  :  die  Thessaler  zogen  ihm  Gorgias  vor  ^),  schlimmer  aber 
war,  dass  er  von  den  athenischen  Rhetoren  angefeindet  wurde. 
Seiner  Anklage  des  Sokrates  setzte  Lysias  eine  Verteidigung 
des  Philosophen  entgegen,  wie  auch  Xenophon  in  den  „Er- 
innerungen an  Sokrates"  gegen  den  Eedner  auftrat  ''^),  und 
1  sokrates  suchte  an  des  Polykrates  „ßusiris"  in  hochfahrendem 
Tone  die  Unfähigkeit  seines  Landsmannes  nachzuweisen.  Jene 
Anklage  war  nach  393  verfasst,  weil  die  neuen  Mauern  Konons 
darin  vorkamen  ^),  kann  also  nicht  für  die  wirkliche  Anklage 
geschrieben  worden  sein  *). 

Polykrates  hatte  ja  eine  grosse  Vorliebe  für  frappierende 
Themata;  wie  er  Sokrates  angriff,  weil  ihn  die  Gebildeten  ver- 
ehrten, so  verteidigte  er  den  verrufenen  Menschenfresser  Busiris ; 
der  Sophist  mag  sich  dieser  Aufgabe  nicht  mit  Geschick  ent- 
ledigt haben,  doch  wer  glaubt  seinem  Gegner,  dass  er  zuerst  ^) 
ßusiris,  den  er  doch  preisen  wollte,  zu  einem  Kannibalen  machte  ? 
Dieser  Schrift  stellt  sich  ein  Enkomion  auf  Klytaimnestra  würdig 
an  die  Seite  ^) ;  ausserdem  verfasste  Polykrates  scherzhafte  Reden 
auf  die  Mäuse ^),  die  Töpfe  und  die  Stimmsteine''').  Einmal 
verglich  er,  man  weiss  leider  nicht  wen,  in  humoristischen 
Antithesen  mit  Agamemnon^). 

Diese  Reden  waren  nur  Parerga  (juaiYVia),  sein  eigentlicher 
Beruf  hingegen  wies  den  Rhetor  auf  die  gerichtliche  Rede. 
Ob  Polykrates  ein  Handbuch  dieser  Gattung  verfasste  ^"),  steht 
nicht  fest;  jedenfalls  gab  er  aber  Gerichtsreden  heraus,  da  ihn 


1)  Pausan.  6,  17,  9. 

2)  K.  Fr.  Hermann  Geschichte  der  platonischen  Philosophie  S.  629 
bezieht  Plat.  Euthyd.  306  d  f.  auf  ihn. 

3)  Favorinus  bei  Diogeu.  2,  39,  vgl.  Suid.  v,  noXüy.päT-r]<;. 

4)  Diese  unrichtige  Ansicht  hatte  Hermippos  von  Smyrna  (bei  Diogen. 
2,38,  vgl.  Qnintil.  2,  17,  4  dicitur.  3,  1,  11.  Aelian.  var.  hist.  11,  10.  Argura. 
Isoer.  orat.  XI.  Themist.  orat.  23,296  p.  357,  20  D.  Epist.  Socrat.  14,3  Suid.), 
s.  Meier  quaestioues  Andocideae  III  p.  XIV.  Auch  Polydeukes  von  Nau- 
kratis  schrieb  unter  Commodus  eiue  Anklage  des  Sokrates  (Suidas). 

5)  Dies  ist  ebenso  unwahr  wie  was  Isokrates  (11,  5)  über  Alkibiades  sagt. 

6)  Quintil.  2,   17,  4. 

7)  Aristot.  rhet.  2,  24  p.   1401  b   16. 

8)  Alexander  in  Spengels  rhet.  III  p.  3,   10. 

9)  Demetr.  it.  epfjLYjv.   120. 
10)  Quintil.  3,  1,  II. 


74  Dritte«  Kapitel 

Dionysios  mit  Antiphon,  Thrasymachos,  Kritias  und  Lysias 
zusammenstellt  ^).  Zu  diesen  älteren  Rednern  gehörte  Polykrates 
in  der  That,  weil  er  nach  Isokrates'  eigener  Angabe  (11,  50) 
älter  als  dieser  war.  Dionysios  lässt  als  Verehrer  des  Isokrates 
nichts  gutes  an  dessen  Gegner:  Seine  Gerichtsreden  sollen 
inhaltslos,  die  epideiktischen  frostig  und  schwulstig  (was  auf 
Nachbildung  des  Gorgias  schliessen  lässt),  die  Scherzreden  ohne 
Witz  gewesen  sein  ^). 

Im  vierten  Jahrhunderte  entstand  ein  Schandbuch,  welches 
schon  der  Philosoph  Clirysippos  als  Werk  der  Hetäre  Philainis 
bezeichnete-^),  aber  der  Satiriker  Aischrion  behauptete,  Polykrates 
habe  es  ihr  in  böswilliger  Absicht  untergeschoben*). 

Schüler  des  Polykrates  hiess  der  bekannte  Rhetor  Zoilos 
von  Amphipolis  ^),  der  wahrscheinlich  zur  selben  Zeit  wie 
Isokrates  in  Athen  lehrte  ^).  Er  verfasste  gleichfalls  scherzhafte 
Aufsätze,  z.  B.  Lobreden  auf  Polyphemos  und  die  öde  Insel 
Tenedos '').  Seine  ernste  Thätigkeit  war  den  Gerichtsreden 
zugewandt  ^),  aber  niemand  achtete  sie  einer  Erwähnung  wert. 
Eine  Rhetorik  war  nicht  vorhanden'-'). 

Wenn  aber  auch  Zoilos  hierin  Polykrates  an  die  Seite 
trat,  brachte  er  aus  seiner  Heimat  das  Interesse  für  ein  anderes 


1)  Dionys.  Isae.  20.  Vgl.  Epist.  Socrat.  14,  3. 

2)  Dionys.  Isae    20. 

3)  Athen.  8,  335  de. 

4)  Athen.  8,  335  b  — d  (itepl  öcppo8totu>v  ist  der  Titel).  Aehnliche  Fälle 
weist  E.  Rohde  der  griechische  Roman  S.  3471".  nach. 

6)  Porphyr,  zu  II.  E  7  nennt  Zoilos  irrlünilich  Ephesier  wie  den  Zenodot; 
das  richtige  steht  K  274.     Ueber  Zoilos  vgl.  Bd.  I  S.  157  und  BlassII  344 ff. 

6)  Nach  Ktesibios  studierte  der  junge  Deraosthenes  seine  Reden  (Ps. 
Plutarch,  Demosth.  844  c);  Schüler  des  Polykrates  Aelian.  var.  hist.  11,   10. 

7)  Polyphemos  Schol,  Plat.  p.  142  B;  Tinedos  Strab.  6,  271.  Diodor, 
welcher  behauptete,  Zoilos  habe  nur  das  Buch  über  Homer  geschrieben  (fr. 
ine.  2  bei  Tzetz.   schol.  exeg.   II.  p.   126,  4),    wird  durch  Ktesibios  widerlegt. 

8)  Dionys.  Isae.  20. 

9)  Phoibammou  Speng,  III  44,  2  und  Quintiliau  9,  1,  14  werden  auf 
einen  jüngeren  Zoilos  bezogen.  Wenn  jedoch  Vitruv  7  praef.  8  ihn  mit  dem 
ersten  Ptolemäer  zusanimenbringt,  meint  er  keinen  anderen  (Hardion 
Memoire«  de  l'acad.  d.  inscr.  VIII  178ff.)  —  er  sagt  ja  ex  Macedonia  — , 
sondern  irrt  in  der  Zeit;  ebenso  falsch  rechnet  ihn  Porphyrios  II.  K  274  zu 
den  Isokrateern. 


Die  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  75 

Studium  mit.  Der  Leser  wird  sich  erinnern,  dass  besonders 
die  Anwohner  der  thrakischen  Küste  ihren  Scharfsinn  an  den 
homerischen  Gedicliten  übten,  indem  sie  teils  das  ilmen  auf- 
fallende tadelten,  wie  z.  B.  Protagoras  that,  teils  wirkliche  oder 
vermeintliche  Schwierigkeiten  durch  spitzfindige  Lösungen  zu 
heben  suchten.  Die  erste  umfassende  Leistung  auf  diesem 
Gebiete  war  des  Zoilos  Werk  „Homergeissel'  (0\u]po\fÄ'3zii)  ^), 
welches  durch  seinen  Umfang  —  es  enthielt  neun  Bücher  —  sich 
als  ernst  gemeint  erweist  und  nicht  für  eine  poetische  Deklamation 
gehalten  werden  darf  ''').  Zoilos  ging  mit  dem  natürlichen 
hausbackenen  Verstände,  jeglichen  Sinnes  für  Poesie  haar,  an 
die  Beurteilung  Homers  ^).  Wo  also  der  Dichter  seiner  Phantasie 
die  Zügel  schiessen  Hess,  fragte  Zoilos  nach  der  realen  Möglichkeit, 
z.  B.  spottete  er,  weil  die  Gefährten  des  Odysseus,  obgleich  von 
Kirke  in  Schweine  verwandelt,  weinten,  über  die  weinenden 
Ferkel,  oder:  die  Seele  des  Patroklos  kann  nicht  wie  Rauch  in 
die  Unterwelt  enteilen  {W  100),  denn  —  der  Rauch  steigt  in 
die  Höhe.  Hauptsächlich  rief  das  Fabelhafte  ([lö^oi)  der  Epen 
Angriffe  von  Seiten  des  Zoilos  hervor  '^) ;  aber  auch  die  Sprach- 
formen entgingen  seinem  unverständigen  Tadel  niclit  ^). 

Durch  dieses  Buch  wurde  Zoilos  für  die  Nachwelt  niclit 
ganz  unverdient  das  Prototyp  hämischer  und  thörichter  Kritik 
und  die  Homerenthusiasten  rächten  den  Dichter  durch  alberne 
Anekdoten  an  des  Kritikers  Andenken  ^).  Seine  Werke  gingen 
natürhch  unter;  hatte  er  sich  doch  auch  den  Platonikern  durch 
eine  Streitschrift,  die  er  als  getreuer  Schüler  des  Polykrates 
gegen  Piato  richtete,   verhasst  gemacht  ^),   wie  den  Isokrateern 


! )  Diesen  Titel  darf  man  aus  dem  lateinischen  Ciceromastix  und  Aeneido- 
mastix  erschliessen  (Lehrs  a.  O.  S.  208  A.).  Ueberliefert  ist  nur,  dass  man 
dem  Redner  selbst  diest-n  Namen  beilegte  (Vitra v,  a.  O.  Porphyr,  zu  IL  K  274. 
Suidas), 

2)  Wie  schon  Porphyr,  zu  II.  K  261  meinte. 

3)  Heraclit.  alleg.  14.  Porphyr,  E  7.  20.  S  22.  Plut.  quaest.  couv.  6,  4,2. 
Ihpl  ü<^ouq  9,  14. 

4)  Strabo  6,  271. 

5)  Wie  Chrysippos  hielt  er  Scüai  A  129  für  den  Plural  (Schol.  A). 

6)  Vitruv.  VII  praef.  8.  Aelian.  var,  bist.  11,  10  (nach  diesem  hiess  er 
xuojv  pfjtopixoc,  Suidas  macht  daraus  einen  Kyuiker:  p7]Ta>p  8s  -rjv  v.al  tptXöaocpO!;). 
Suidas.     Vgl.  Ovid.  remed.  am.  365. 

7)  Dionys.  ad  Cn.  Pomp,  de  Plat.  1  (zweimal).     Aelian,  var.  bist.  11,  10. 


76  Drittes   Kapitel. 

durch  einen  Angriff  auf  ihren  Lehrer  ^).  Zoilos  soll  auch  gleich 
Anaximenes  historische  Schriften,  ausserdem  Grammatisches 
geschrieben  haben  ^). 

Aus  der  Schule  des  Zoilos  ging  Anaximenes  von 
Lampsakos^),  einer  der  Lehrer  und  Begleiter  Alexanders, 
hervor,  welcher  als  rhetorischer  Geschichtsschreiber  nicht  mehr 
unserer  Periode  beizuzählen  ist ;  das  gleiche  gilt  von  der  ihm 
beigelegten  Rhetorik. 

Neben  diesen  berühmten  Lehrern  der  gerichtlichen  Bered- 
samkeit gab  es  ohne  Zweifel  viele,  welche  nichts  schriftliclies 
hinterliessen,  z.  B.  das  chiische  ßrüderpaar  Euthydemos  und 
Dionysodoros,  welche  Plato  im  „Euthydemos"  zur  Zielscheibe 
seines  Spottes  machte  ^);  ausserdem  entstanden  im  vierten  Jalir- 
hunderte  viele  Schriften  ^),  welche,  von  kaum  bekannten  Rhe- 
toren  verfasst,  rasch  verschollen;  so  hört  man  gelegentlich  von 
der  Rhetorik  eines  Boton,  welche  in  Wirklichkeit  von  Thera- 
menes  hergerührt  haben  soll  ^). 

Vergleichen  wir  die  in  diesem  Kapitel  behandelten  Redner 
mit  Gorgias  und  seiner  Schule,  so  zeigt  sich,  dass  diese  Rich- 
tungen nach  vollständig  verschiedenen  Zielen  führten ;  die 
Gorgianer  wollten  für  das  öffentliche  Leben  überhaupt  erziehen, 
während  die  anderen,  wiewohl  sie  scheinbar  die  allgemeine 
Ausbildung  nicht  vernachlässigten,  Fertigkeit  in  der  praktischen 
Rede  anstrebten.  Da  bei  den  verworrenen  Justizverhältnissen 
Athens  ihre  Schulen  mit  Notwendigkeit  Pflanzstätten  von 
Sykophanten  wurden,  unterlagen  sie  dem  allgemeinen  Hasse 
des  Volkes,  das  zugleich,  um  feineie  Unterschiede  unbekümmert, 
gegen  jene  anderen  Rlietoren  dieselben  Beschuldigungen  erhob. 
Ein  Bild  dieser  Zustände  gibt  besonders  die  isokrateischo  Rede 

1)  Suidas,   vgl.  Aeliau,    a.  O.    6  xal  ez  "Oiifjpov  fpä>^a.<;  xal  £<;  nXäxtuva 
xal  Iz  fiXXouc- 

2)  Suidas:  tffia'J^t  (ievtoi  xiva  xal  ■■(pai).\t.a'ziY.ä  •  .  .  ,  loxoptav  aizb  ^eo- 
Yovia?  iüx;  xyji;  ^iXiiritoo  teXeütY|i;  ßißXta  y'  (sie,  richtig  8exa  Eudokia),  itepl 
'Afi'f  titöXeux;  (hier  setzt  Eudokia  ßtßXia  xpia  bei). 

3)  H. Usener  quaestiones  Anaxinieneae,  Göttingen  J 856;  Blassn349ff. 

4)  Plat.  Euthydera.  272a.  27:?«;. 

6)  Vgl.  Aristot.  sophist.  elench.  34  p.   183  b  33. 

ö)  Ps.  Plutarch.  Isoer.  837  a.  Statt  ß6xu»v  ist  wohl  Mätu)v,  der  Nanu' 
eines  Sophisten,  den  der  Komiker  Antiphanes  verspottete  (Athen.  8,  342  cd. 
343  a)  herzustellen. 


I 


I 


l)ie  Lehrer  der  gerichtlichen  Beredsamkeit.  77 

,,über  den  Vermögenstausch".  Die  Schriften  des  Isokrates  zeigen 
auch,  wie  sehr  er  bei  jeder  Gelegenheit  bestrebt  war,  die  Ge- 
meinschaft mit  den  verhassten  Praktikern  abzulehnen  ;  gegen 
die  ,, politischen"  Rhetoren  und  Dialektiker  polemisiert  er  daher 
nur,  gegen  jene  drückt  er  seine  Verachtung  aus.  Auch  die 
Sokratiker  bekämpften  diesen  Zweig  -  der  Beredsamkeit  am 
scbärfsten  ^),  weil  in  den  Lehrbüchern  offen  erklärt  wurde,  es 
sei  nicht  die  Wahrheit,  sondern  die  Wahrscheinlichkeit  anzu- 
streben. 

Der  Verschiedenheit  die  Ziele  entspricht  der  Verschiedenheit 
der  literarischen  Produktion.  Von  Korax  höchstens  aligesehen, 
hielten  wohl  alle  Redner  den  Zusammenhang  mit  der  höher 
stehenden  Richtung  des  Gorgias  dadurch  fest,  dass  sie  gleichfalls 
Deklamationen  über  frei  gewählte  Themata  verfassten ; 
doch  bevorzugten  sie  dabei  solche,  welche  mit  dem  eigentlichen 
Unterrichte  zusammenhingen,  als  paradoxe  Gegenstände,  welche 
Gelegenheit  zur  Entwicklung  von  Scharfsinn  und  Spitzfindigkeit 
gaben,  und  politische  Fragen  ihrer  Zeit.  Diese  Klasse  von 
Rhetoren  beschränkte  sich  ferner  nicht  auf  mündliche  durch 
Musterstücke  erläuterte  Anweisung,  welche  bei  den  Gorgianern 
üblich  war,  sondern  es  gab  beinahe  jeder  einen  förmlichen 
Leitfaden  heraus  ^).  Damit  aber  das  Publikum  sähe,  dass  die 
darin  gegebenen  Vorschriften  von  wirklichem  Nutzen  seien, 
veröffentlichten  sie  als  Proben  ihrer  Kanst  besonders  gelungene 
Reden,  welche  vermögende  Bürger  sich  für  ihr  Geld  hatten 
ausarbeiten  lassen. 

Die  Rücksichtnahme  auf  das  praktische  Leben  musste  auch 
dazu  führen,  dass  der  pompöse  Stil  des  Gorgias  gemässigt  wurde 
und  die  ümgangsspraclie  zu  ihrem  Rechte  kam ;  in  dieser  Be- 
ziehung hat  Thrasymachos  die  grössten  Verdienste.  Auf  seinen 
Schultern  stehen  Isokrates  und  Lysias. 


1)  Plat.  Phaedr.  260a.  272  de.  Lach.   196  b.  Theaet.   172  cd  ff.  besonders 
leg.   11,  937  d  £f. 

2)  Vgl.  Fiat.  Fhaedr.  261  b  und  Aristoteles  iu  der  Einleitung  zur  Rhetorik. 


Viertes  Kapitel. 
Die   Anfänge   der  politischen  Beredsamkeit. 

Perikles  und  seine  Nachfolger;  Fcälschuugen  (IV.  nntl  III.  Rede  des  Andokides)  ; 
die  Aristokraten:  „Vom  Staat  der  Athener",  Theramenes,  Kritias,  Andokides. 

Die  berühmten  Staatsmänner  Athens  dankten,  wie  in  der 
Einleitung  dargelegt  ist,  ihre  Stellung  wesentlich  der  Macht 
hinreissender  Beredsamkeit;  selbst  Eerikles  wäre  es  trotz  aller 
ausgezeichneten  Eigenschaften  nicht  gelungen,  so  lange  Jalire 
die  Leitung  des  Volkes  zu  bewahren,  wenn  seine  Worte  nicht 
auf  die  Zuhörer  einen  wahren  Zauber  ausgeübt  hätten.  Eupolis 
schildert  die  Beredsamkeit  des  Perikles  in  den  berühmten 
Versen  unübertrefflich  (fr.  94  M): 

A.  KpdTiotoc  ooTOC  sy^vst'  avö-pitoTctov  Xs^siv, 

OTTOTS     TtapsXdot    8\    WOTTSp     OCYa^ol    5pO[i.'^C 

ix  Ssxa   TtoSwv  -^pst  Xsywv  xouq  pTjtopac. 

B.  Ta/DV  XsYsit:  |xsv,  Tzpbc,  8i  7'  aotoö  xC^  xd/si 
7csiii-(ü  Ttc  STuexä'ö-tCsv  STrl  zoic,  ^(siXsatv. 

OoTWC    ixTjXst    Xat    [JLÖVOC    TWV    pTjTÖpMV 

TÖ  xdvTpov  SYxaTsXstTTE  tot?  axpocDjiivotc. 
Aristophanes  verglich  ihn  sogar  mit  dem  donnernden  und 
blitzenden  ülynjpier^),  und  doch  sprach  Perikles  nicht  leiden- 
schaftlich ,  sondern  mit  unzerstörbarem  Ernste  und  begleitete 
seine  Worte  nicht  wie  die  späteren  Redner  mit  lebhaftem 
Geberdenspiel  ^).  Feierliche  Langsamkeit  hätte  das  ungeduldige 
Volk  allerdings  nicht  ertragen,  Perikles  musste  es  durch  ge- 
läufiges und  schnelles  Sprechen  mit  sich  reissen.  Das  Geheimnis 
seines  Erfolges  lag  gewiss  zum  grossen  Teile  darin,  dass  die 
Zuhörer  sich  bewusst  waren,  der  Staatsmann    spreche   nur   in 


1)  Ariatoph.  Acham.  630  f.,  in  einer  anderen  Komödie  hiess  es  (Plutarch. 
Pericl.  8):  itivbv  xepaovöv  ev  ^Xtuocij   «p^peiv. 

2)  Plut.  Per.  5.  Aeschin.  1, 25.  Mau  übertrug  von  Demosthenes  auf 
Perikles  die  Erzählung,  das«  er  sich  vor  dem  Spiegel  übte  (Ailios  Dionysios 
bei  Eustath.  II.  K  385. 


Die  Anfange  der  politischen  Beredsamkeit.  79 

bedeutungsvollen  Momenten  und  nie  unüberlegt;  um  diesen 
Eindruck  hervorzurufen,  erklärte  Perikles  zuweilen  mit  kluger 
Berechnung,  wenn  ihn  das  Volk  auf  die  Rednerbühne  forderte, 
dass  er  nicht  vorbereitet  sei '),  und  betete  vor  jeder  Rede  zu 
den  Göttern,  es  möchte  ihm  kein  ungeeignetes  Wort  entfallen. 
Perikles'  Beredsamkeit  war  eine  Naturgabe,  wenn  er  auch  im 
Umgänge  mit  Anaxagoras  und  Protagoras  seine  dialektische 
Schlagfertigkeit,  durch  die  er  jeden  Gegner  ins  Unrecht  setzte  ^), 
erworben  oder  vervollkonmmet  haben  mag.  Die  Philosophen 
behaupteten  freilich,  nur  jener  wissenscliaftliche  Unterricht  habe 
Perikles  seine  Redegewalt  verliehen  %  und  die  Spötter  liessen 
ihn  von  Aspasia  lernen^). 

Nach  dem  Tode  des  gewaltigen  Staatslenkers  vollzog  sich 
ein  gewaltiger  Umschwung.  Auf  der  einen  Seite  kam  mit 
Ivleon  die  volkstümliche  Beredsamkeit  in  der  Pnyx  zur  Herr- 
scliaft,  Stimme  und  Geberde  unterlagen  nicht  mehr  dem  edlen 
Maasse,  das  Perikles  beobachtet  hatte.  Kleon  imponierte  der 
lärmenden  Menge  durch  seine  Stentorstimme  und  begleitete, 
während  die  früheren  Redner  die  Hände  unter  dem  Ueberrocke 
gehalten  hatten,  seine  Worte  mit  leidenscliafthchen  Gesten  •^). 
Doch  ging  er  nicht  von  des  Perikles  Sorgfalt  ab,  sondern  teilte 
sogar  Freunden  den  Entwurf  seiner  Rede  vorher  mit  ^).  Auf 
der  anderen  Seite  war  durch  den  sophistischen  Unterricht  die 
Unbefangenheit  des  Ausdrucks  dahin.  Alkibiades  wollte  durch 
neue  Wendungen  frappieren  und  überlegte,  wie  er  sich  wohl 
am  gebildetsten  ausdrücke,  weshalb  er,  wenn  Improvisation 
notwendig  war,  nicht  fliessend  sprechen  konnte  '^).  Jungathen 
liebte  überhaupt  die  eben  gewonnene  Bildung  durch   künstlich 

1)  Flutarch.  de  liberis  educaudis  9.  Ans  der  Erzählung,  dass  Perikles 
f<(!hriltliche  Koucepte  anfertigte  (vgl.  Arist.  bei  Cic.  Brut.  12,  46),  machte 
Suidas;  Ttpwxoc  '^(tOLnxbv  Xoyov  ev  SixaoxYjpto)  siTts  xwv  npb  ahxoii  o^^sStaCovxujv. 

2)  Vgl.  Plut.  Per.  8  (offenbar  ans  Stesimbrotos). 

3)  Plato  Phaedr.  270  a. 

4)  Plat.  Menex.  235  e.  Aeschin,  Socrat.  u.  Plato  com.  bei  Schol.  Plat. 
p.  185  B. 

5)  Plutarch.  Nie.  8.  Tib.  Gracch.  2.  Quiutiliau.  11,  3,  123,  vgl,  Schol. 
Aeschin.   1,  25. 

6)  Aristophan.  Equ.  347  ff. 

7)  Theophrast.  bei  Plut.  Alcib.  10  am  Ende. 


gO  Viertes  Kapitel. 

erfundene  Wörter  zu  zeigen  ^),  unter  denen  die  Bildungen  auf 
txöc  wegen  ihres  gelehrten  Anstrichs  besonders  in  der  Mode 
waren  ^). 

Diese  Skizze  gründet  sich  bloss  auf  gelegentliche  Notizen 
der  Komiker  und  Historiker;  denn  alle  Staatsmänner  des 
fünften  Jahrhunderts,  also  sämmtHche  Vertreter  der  Glanzzeit 
Athens  haben  es  verschmäht,  ihre  Reden  in  Abschriften  zu 
verbreiten^),  damit  man  sie  nicht  Sophisten  schelte'*).  Es 
drängte  sie  ja  nichts  zu  einer  solchen  Neuerung;  denn  hatte 
die  Rede  Erfolg,  dann  erfuhr  die  Nachwelt  das  Verdienst  des 
Sprechers  durch  den  Volksbeschluss ;  hörte  aber  das  Volk  nicht 
auf  ihn,  wozu  die  Erinnerung  an  die  Niederlage  erhalten? 
Nichtsdestoweniger  pflanzten  sich  gewisse  Bonmots  und  Schlag- 
wörter durch  mündliche  Tradition  fort^);  denn  es  war  beiden 
hervorragenden  Politikern  üblich,  ihre  Reden  durch  auffallende 
Aussprüche  und  Wendungen  interessant  zu  machen,  wie  z.  B 
die  Tradition  des  englischen  Parlaments  eine  ähnliche  Würze 
grosser  Budgetreden  verlangt.  In  der  Zeit  des  Demosthenes 
verschmähte  mau  auch  Komikerwitze  nicht  ^).  Von  solchen  ge- 
flügelten Worten  teilt  Aristoteles  eine  erhebliche  Anzahl  in  seiner 
Rhetorik  mit,  darunter  den  berühmten  Vergleich,  den  Perikles 
in  einer  Leichenrede  anbrachte:  ,,Wie  der  FrühHng  im  Jahre 
dahingeht,  so  entschwinden  die  Jünglinge  aus  der  Stadt" ''). 
Die  meisten  Bonmots  legte  man  Demades,  dem  Gegner  des 
Demosthenes  bei,  welcher,  obgleich  er  aus  niederem  Stande 
entsprossen  war,  alle  übrigen  Redner  an  Witz  und  Schlagfertigkeit 


1)  ^Ap'{Ofionia':i]pt<;  Xö-^Oi\>  Kratinos  hei  PoUnx  7,  103  ;  e6pfjoiE7i'J](;  Aristoph. 
Nub.  447;  f-Yiiiaxiotot  xatvoic;  il).  943;  Ir.  211  (Daital.),  auch  (J77M. 

2)  Vgl.  Aristoph.  Eqn.   1378  ff. 

3)  Plnt.  Pericl.  8.  Ps.  Plut.  Autiph.  832  d.  Luciuu.  Demosth.  eucom.  20. 
Proleg.  in  Aristid.  panath. 

4)  Plat.  Phaedr.  257  d. 

6)  Das  8;leiehe  geschah  in  Rom  (Tacit.  dialog.  20). 

6)  Vgl.  Aristot.  rhet.  1,15  p.  1376  a  9. 

7)  Aristot.  rhet.  1,7  p.  1365a  31  xov  ETrixd'fiov  Xs^wv,  wahrscheinlich 
als  er  nach  dem  saraischen  Kriege  am  Grabe  der  Gefallenen  sprach ;  er  rief 
damals  eine  solche  Begeisterung  hervor,  dass  ihn  die  Frauen ,  als  er  geendet 
hatte,  bewundernd  kränzten  (Plut.  l'er.  28,  vgl.  ?  Philodem.  rhet.  4,  7). 
Derselbe  Vergleich  steht  auch  llerodot  7,  162  (offenbar  unabhängig).  Euripid. 
Suppl.  447  flf.     Demades  (?)  bei  Athen.  3,  99d.  Cicero  senect.  19,70. 


Die  Anfange  der  politischen  Beredsamkeit.  81 

j 

übertraf;  die  Sammlung  seiner  Witze,  welclie  aucii  durch  be- 
rühmte Worte  anderer  Redner  vermehrt  wurde  ^),  war  in  der 
Kaiserzeit  so  beliebt,  dass  man  sogar  vollständige  Reden  des 
Demades  daraus  fälschte^). 

Da  die  Späteren  mit  der  betrübenden  Thatsache,  dass  kein 
Staatsmann  des  fünften  Jahrhunderts  ein  Denkmal  seiner  Be- 
redsamkeit hinterliess,  sich  keineswegs  zufrieden  geben  wollten, 
fanden  Fälscher  hier  ein  ergiebiges  Feld  ihrer  Thätigkeit.  Sie 
begannen  mit  Dämon ^),  der,  wie  es  heisst,  Ferikles  in  der 
Musik  unterwies  ;  in  dieser  Kunst  vorzüglich  ausgebildet,  setzte 
er  sie  mit  der  Politik  in  Verbindung.  Es  gab  nun  später  eine 
Rede,  welche  er  angebUch  vor  dem  Areopag  über  die  Musik 
hielt ^).  Die  Aussprüche,  welche  Flato  von  ihm  anführt^), 
dürften  aus  mündlicher  Ueberlieferung  stammen.  Vor  allem 
aber  lud  der  Ruhm  des  Perikles  zur  Fälschung  ein  ^) ;  auch 
von  Alkibiades  konnte  man  Reden  kaufen'').  Selbst  von 
dem  „bronzenen"  Dionysios  verzeichnete  Kallimachos  in  den 
alexandrinischen  Katalogen  eine  Rede,  worin  er  den  Athenern 
die  Einführung  von  Bronzemünzen  anriet^). 

Durch  das  Zeugnis  des  platonischen  Phaidros  wissen  wir, 
dass    die   Abneigung   gegen   die    VeröfFentüchüng    von   Reden 

1)  H.  Diels  Kheiu.  Mus.  29,  107  ff.  Hermes  13,  9.  Sie  wurde  von  Deme- 
trios  nspl  k^^T^wxc,  282  ff.  benützt. 

2)  E.  Scholl  Hermes  3,  277  ff.  teilt  ein  Verzeichnis  von  vierzehn  solcher 
Reden  mit;  vgl.  Suidas  v.  A7j}j.a8"irjc  3.  und  Tzetz.  Chil.  6,119.  Erhalten 
ist  noch  ein  Bruchstück  irepl  ttjc  SwSsxasTtai; ,  welches  auch  Suidas  s.  v. 
nennt  (herausg.  in  den  Sammlungen  der  Redner  und  hinter  der  Ausgabe  des 
Diuarch  von  Fr.  Blass,  Leipzig  1871).  Die  angeblichen  „Excerpte  aus  der 
vollständigen  Rede  des  Demades"  (Herm.  Haupt  Hermes  13,  489 ff.)  sind  nichts 
als  eine  Spruchsammlung  und  älter  als  die  Rede. 

3)  Fr.  Buche  1er  Rhein.  Mus.  40,  309 ff. 

4)  Philodem.  mus.  4,  33  f.,  vgl.  Athen.  14,  628  c.  Aristid.  Quiutil 
2  p.  95. 

5)  Plat.  rep.  3-400.  4, 424  cd.  Wahrscheinlich  gab  letztere  Stelle  zur 
Fälschung  Anlass. 

6)  Cic.  Brut.  7,  27  (cuius  scripta  quaedam  feruntur).  de  erat.  2,  22,  93. 
Aus  den  gefälschten  Reden  schloss  Ailios  Dionysios  oder  vielmehr,  die  er  mit 
tpaai  meint,  dass  Perikles  zuerst  tx  statt  aa  gebraucht  habe  (Eustath.  11.  K  385). 

7)  Cic.  de  orat.  2,22,93.  Ps.  Flut.  Antiph.  832  d. 

8)  Athen.  15, 069  de;  echt  waren  gekünstelte  Elegien  (Bergk,  poetae  lyr. 
Gr.  n*  262  ff.). 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur,  n.  6 


g2  Viertes  Kapitel. 

auch  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  noch  nicht  geschwunden 
war.  Also  muss,  was  an  der  Grenze  des  fünften  und  vierten 
Jahrhunderts  geschrieben  sein  soll,  gleichfalls  den  Verdacht 
erregen.  Wenn  die  Vermutung  richtig  ist,  dass  Archinos 
dem  Lysias  die  Ausgabe  von  Reden  zum  Vorwurfe  machte, 
dürfte  er  selbst  schwerUch  einen  Epitaphios  veröffentlicht  haben^). 
Alle  Wahrscheinlichkeit  spricht  überhaupt  dafür,  dass  eine  be- 
kannte platonische  Stelle  zur  Fälschung  Anlass  gab^);  der 
Verfasser  beutete,  um  sich  die  Arbeit  zu  erleichtern,  den  Pane- 
gyrikos  des  Isokrates  aus  ^). 

Kein  Zweifel  wird  über  die  Unechtheit  der  Reden  des 
Kephalos  möghch  sein,  von  welchem  Suidas  berichtet,  er 
habe  zuerst  Proömien  und  Epiloge  der  Staatsrede  beigefügt;  in 
dieser  Redegattung  waren  sie  nämlich  nicht  notwendig.  Die  Notiz 
ist  offenbar  aus  gefälschten  Reden  gezogen  ^).  Man  legte  Kephalos 
sogar  ein  Enkomion  auf  die  Hetäre  Nais  bei,  welche  mit  Lysias 
bekannt  war^). 

Auch  die  erhaltenen  Staatsreden,  welche  Andokides 
gehalten  haben  soll,  sind  Deklamationen  später  Sophisten,  Wie 
wir  bald  sehen  werden,  war  Andokides  nicht  im  geringsten 
ein  Schriftsteller,  sondern  er  veröffentlichte  nur  die  zwei  Reden, 
welche  er  in  eigenen  Angelegenheiten  gehalten  hatte,  um  die 
öffentliche  Meinung  zu  seinen  Gunsten  umzustimmen.  Von  der 
vierten  Rede  ,, gegen  Alkibiades'*'')  sollte  es  jedem  sofort 
klar  sein,  dass  sie  Andokides  nicht  gehalten  haben  kann ; 
schon  ein  alter  Kritiker  vermutete  daher,  Lysias  habe  sie  einem 


1)  Phot.  bibl.  260  p.  487  b  32,  vgl.  Ps.  Plut.  Antiph.  832  d.  Ein  Fragment 
bei  Clem.  Alex,  ström.  6,  627  S. 

2)  Plat.  Menexen.  234  b. 

3)  Vgl.  Porphyr,  bei  Clem.  Alex,  ström.  6  p.  627  S.  Phot.  bibl.  260 
p.  487  b  34. 

4)  Ein  Fragment  bietet  Suidas  v.  eirit[p,ia. 

5)  Athen.  13,  592c.  Ruhnken  historia  critca  p.  41  f.  nimmt  einen 
jüngeren  Redner  desselben  Namens  an. 

6)  Die  Unechtheit  erkannte  zuerst  Taylor  lectiones  Lysiacae  p.  260ff., 
den  Ruhnken  vergeblich  bekämpfte;  vgl.  Mor.  Herm.  Ed.  Meier  de  Andocidi.s 
quae  vulgo  fertur  contra  Alcihiadem,  oratione  Halle  1886 — 1843  (I.  III.— V. 
VI.  1—13)  =  Opusculii  academica  I.  (1861)  p.  74—343.  IL  (1863)  p. 
1—170;  Vater  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  9  (1843)  S.  166  flF.  11  (1846)  S.  426  H.; 
Blass  I  326  ff.;  O  ravenho  rst  quaestiones  Andocideae  spec.  I.  Helmstedt  1878. 


Die  Anfange  der  politischen  Beredsamkeit.  83 

Staatsmanne  auf  Bestellung  geschrieben  ^).  Es  handelt  sich 
in  der  Verhandlung,  wo  die  Rede  gehalten  sein  soll,  darum,  ob 
der  Ostrakismos  Nikias,  Alkibiades  oder  den  Sprecher  trifft. 
Wenn  schon  die  Möglichheit  nicht  zu  läugnen  ist,  dass  jedem 
Kandidaten  vor  der  Abstimmung  eine  Verteidigungsrede  gestattet 
war  und  dabei  jeder  so  viel  als  möglich  seinen  Nebenbuhler  in 
Verdacht  der  Staatsgefährlichkeit  bringen  wollte,  so  lässt  sich 
dadurch  doch  die  Seltsamkeit  nicht  rechtfertigen,  dass  der 
Redner  —  mag  er  nun  die  Maske  des  Phaiax  ^)  oder  eines  andern 
Konservativen  tragen  —  die  politische  Laufbahn  des  Alkibiades 
bloss  beiläufig  berührt  und  nur  sein  Privatleben  angreift.  Alle 
Zweifel  werden  jedoch  durch  die  Betrachtung  der  chronologischen 
Verliältnisse  gehoben;  denn  der  Redner  erwähnt  die  Vernich- 
tung der  Melier,  welche  im  Sommer  416  stattfand,  wie  ein 
schon  einige  Zeit  vergangenes  Ereignis  und  doch  hat  er  keine 
Ahnung  davon,  dass  Alkibiades  den  Staat  in  das  Abenteuer 
einer  sicilischen  Expedition  stürzen  will  1  Obendrein  berichten 
die  Historiker,  dass  der  Ostrakismos  zuletzt  Hyperbolos  traf, 
und  dieses  Ereignis  fiel  in  das  Jahr  418  oder  417^).  Dies  ist 
der  stärkste,  aber  nicht  der  einzige  historische  Verstoss  ^).  Auch 
formell  erscheint  die  Rede  wegen  des  Mangels  einer  Anrede  als 
Deklamation. 

Trägt  diese  Rede  den  Namen  des  Andokides  ohne  irgend 
welchen  Grund,  so  knüpft  die  dritte  ,,für  den  Frieden"^) 
an  ein  wirkhches  Ereignis  aus  dem  Leben  des  Redners  an. 
Wie  nämlich  Philochoros  berichtet,  ging  er  während  des  korinthi- 
schen Krieges   an   der  Spitze  einer  Friedensgesandtschaft  nach 


1)  Athen.  9,  408  c ;  an  Lysias  dachte  man,  weil  unter  dessen  Schriften 
auch  eine  Anklage  des  jüngeren  Alkibiades  stand. 

2)  Diesen  nannte  schon  Taylor. 

3)  Vgl.  zuletzt  Beloch  die  attische  Politik  seit  Perikles,  Leipzig  1884  S.339f. 

4)  §  13  ist  falsch;  die  Vermutung  atpaxsüovto?,  welche  Ludwig  M ende 
index  lect.  Gryphisw.  aest.  1821  p.  5  n.  9  aufstellte,  ist  unwahrscheinlich. 
Ueber  die  Erhöhung  der  Tribute  (§  11)  vgl.  Ulr.  Köhler  Urkunden  und 
Untersuchungen  zur  Geschichte  des  delisch-attischen  Seebundes  S.  l50  f.;  §  12 
8Y|Xu»asi — ixöXsjxoc  ist  eine  vaticinatio  ex  eventu. 

5)  Ueber  den  Stil  Walth.  Francke  de  Andocidis  oratione,  quae  est  de 
pace,  Halle  1876.  Er  ist  für  die  Echtheit,  ebenso  Blasa  I  324  f.  und  Mo- 
rawski  Ztsch.  f.  österr.  Gymn.  1879  S.  402;  vgl.  auch  Walther  Frenze! 
de  Andocidis  de  pace  oratione,  Königsberg  1866. 


g^  Viertes  Kapitel. 

Sparta,  ohne  etwas  auszurichten  ^).  Die  vorliegende  Rede,  welche 
er  bei  dieser  Gelegenheit  in  der  athenischen  Volksversammlung 
gehalten  haben  soll,  erweckte  bereits  bei  den  Alten  Verdacht^, 
wenn  auch  vielleicht  nur  deshalb,  weil  sie,  die  Geburt  des 
Andokides  fälschlich  Ol.  78,  1  (468/7)  setzend,  an  der  physischen 
Möglichkeit  zweifelten.  Doch  kamen  sie  auf  falschem  Wege 
zu  dem  richtigen  Resultate^),  Der  Rhetor,  welcher  die  Rede 
verfasste,  ist  über  die  Zeitverhältnisse  sehr  ungenau  unterrichtet. 
Er  beginnt,  obwohl  er  die  Schlacht  von  Knidos  voraussetzt  (§  22), 
mit  der  unwahrscheinlichen  und  unbewiesenen  Behauptung, 
dass  kein  Athener  an  der  Rätlichkeit  des  Friedens  zweifle;  der 
Demos  soll  jedoch  davon  den  Umsturz  der  Verfassung  befürchten, 
als  ob  ein  solcher  damals  in  Aussicht  gewesen  wäre.  Was 
thut  nun  der  Redner  um  diese  Furcht  zu  heben?  Er  gibt  eine 
detailHerte  Schilderung  (§4— 9)  der  Vorteile,  welche  die  Friedens- 
perioden dem  athenischen  Schatze  und  Arsenale  gebracht  haben ; 
dass  die  Verfassung  unangetastet  bHeb,  kommt  bloss  nebenbei 
zur  Sprache.  Da  dem  Rhetor  also  das  Verständnis  der  allge- 
meinen Zeitlage  mangelt,  wird  man  von  ihm  noch  weniger 
Kenntnis  der  verwickelten  Chronologie  jener  Zeit  erwarten.  In 
der  That  weiss  er  nicht  einmal,  dass  im  Jahre  391,  welches 
zweimal  vorausgesetzt  wird^),  die  Mauern  Athens  wieder  auf- 
gebaut waren  ^).  Ein  Athener  jener  Zeit  musste  ferner  über 
die  §  18  erwähnten  Kämpfe  anders  denken  als  ein  Rhetor,  der 
sein  Wissen  aus  Xenophons  parteiischen  Hellenika  schöpfte. 
Fügen  wir  dazu  noch,  dass  der  Redner  den  Hiatus  mehr  be- 
achtete,   als    bei    einem    Praktiker   jener    Zeit   glaubhch    ist  ^). 

1)  Philochoros  im  Argument  der  Rede. 

2)  Dionysios  im  Argument;  Harpocr.  v.  'EXXTjvotajJiiat,  veiopta,  iziy^ai. 

3)  Für  die  Unechtheit  traten  ein  Taylor  (in  den  lectiones  Lysiacae), 
Markland,  Hemsterhuis  und  Andere. 

4)  Lechaion  ist  genommen  (§  18)  und  die  Böoter  kämpfen  seit  vier 
Jahren  (§  20). 

6)  §  12,  14 ;  ebenso  sind  die  Lakedäraonier  noch  unbesiegt  (§  19).  Ueber 
die  verschiedenen  Ansichten,  welche  die  Verteidiger  der  Echtheit  (z,  B. 
K.  W.  Krüger  historisch-philol.  Studien  Bd.  II.)  über  die  Zeit  aufstellten, 
vgl.  Frid.  Kirchner  de  Andocidea  quae  fertur  tertia  oratione,  Berlin  1861, 
dazu  BlassI282f.  und  Bursians  Jahresber.  9,  266,  K.  Fuhr  animadversiones 
in  oratores  Atticos,  Bonn  1877  p.  6  fi". 

6)  Benseier  de  hiatu  p.  173  ff. 


Die  Anfänge  der  politischen  Beredsamkeit.  85 

Diesen  Momenten  würden  wohl  die  meisten  nachgegeben  haben, 
wäre  nicht  die  Meinung  verbreitet,  dass  Aischines  (2,  172  ff.) 
unsere  Rede  benützte  oder  besser  gesagt  plünderte  ^).  Es  handelt 
sich  um  jenes  Bild  der  Segnungen  des  Friedens,  das  bei  ,,An- 
dokides"  wenigin  den  Zusammenhang  passt;  die  kleinen  Varianten 
sprechen  nicht  zum  Vorteile  des  angeblichen  Andokides.  Insbe- 
sondere charakterisiert  den  unpraktischen  Rhetor,  was  er  §  5  über 
den  Bau  von  Kriegsschiffen  sagt.  Ich  glaube  sogar  zeigen  zu  können, 
dass  er  ein  verderbtes  Exemplar  des  Aischines  benützte  ^).  Jeden- 
falls hat  kein  klassischer  Redner  ein  längeres  Stück  aus  einer 
veröffenthchten  Rede  entlehnt.  Auch  im  Ausdruck  weichen 
beide  Fälschungen,  indem  sie  unter  sich  übereinstimmen,  von 
den  echten  Reden  des  Andokides  ab  ^). 

Somit  besassen  die  Alten  aus  der  vordemosthenischen  Zeit 
keine  einzige  echte  Staatsrede;  es  gab,  wie  Aristoteles  aus- 
drücklich bemerkt,  auch  keinen  Lehrer  dieser  Redengattung. 
Nichts  von  der  Hand  der  alten  Staatsmänner  war  vorhanden, 
als  ihre  Anträge,  welche  ohne  rhetorischen  Schmuck  im  Kanzlei- 
stil abgefasst  waren. 

Während  die  demokratischen  Staatsmänner ,  denen  die 
Volksversammlung  offen  stand,  keinen  Grund  zur  schriftlichen 
Ausgabe  ihrer  Reden  hatten,  sondern  im  Gegenteil  hiebei  mit 
der  öffentlichen  Meinung  zu  kämpfen  gehabt  hätten,  waren 
beide  Gesichtspunkte  bei  den  Konservativen  nicht  vorhanden. 
In  der  Volksversammlung  wollten  die  Führer  derselben  nicht 
auftreten,  damit  sie  sich  nicht  dadurch  mit  der  damaligen 
Verfassung  einverstanden  erklärten,  sie  konnten  es  aber  auch 
nicht,  weil  das  Volk  sie  hasste.  Andererseits  war  es  den  Aristo- 
kraten natürlich  gleichgiltig,  wenn  sie  die  Masse  Sophisten 
schmähte.  Die  ohgarchischen  Clubbs  *)  hatten  daher  ihre  besondere 


1)  Krüger  historisch-philologische  Studien  IL  (1851)  S.  239  ff. 

2)  MtXx'.aSoo  Toö  Ktii-ojvo?  Aeschin.  2,  172  konnte  leicht  aus  dem  rich- 
tigen K[|j.(MVo<;  Toü  Mik-ziä^oo  entspringen  ;  daraus  stammt  MiXxtd§Yjv  töv  Kt|Xü)VO(; 
Andoc.  §  3.     Auch  vai  §  24  scheint  dem  Aeschines  (3,  22.  28)  abgelernt. 

3)  Te  xai  kommt  I.  II.,  aber  nicht  m.  IV,  vor  (Fuhr  Khein.  Mus.  33, 
578  f.).  Auch  die  Orthographie  ist  gesondert:  I.  11.  haben  nach  den  besten 
Handschriften  xt,  III.  33  und  IV.  41  oa. 

4)  Ueber  die  Ixaiptat  vgl.  W.  Vi  scher  die  oligarchische  Partei  und 
die  Hetärien  in  Athen,  Basel  1835  und  H.  Büttner  Geschichte  der  politischen 
Hetärien  in  Athen,  Leipzig  1840. 


gß  Viertes  Kapitel. 

Literatur,  politische  Flugschriften,  die  vor  dem  Volke  geheim 
gehalten  wurden ;  sie  kamen  nur,  wenn  sie  von  einem  berühmten 
Manne  herrührten  oder  wenigstens  einen  bekannten  Namen 
trugen,  auf  die  Nachwelt. 

Der  ältesten  uns  bekannten,  welche  an  Xenophons  Schrift 
über  den  Staat  der  Lakedämonier  angefügt  ^)  sich  erhielt,  pflegt 
man  den  Titel  ,,vom  Staate  der  Athener"  zu  geben.  Da 
sie  unverkennbar  Ende  425  oder  Anfang  424  geschrieben  ist  ^), 
kann  sie  von  Xenophon,  dessen  das  Werk  in  stilistischer  Be- 
ziehung unwürdig  ist,  unmöglich  herrühren  ^).  Den  wirklichen 
Verfasser  möchte  man  um  so  lieber  nennen  können  als  uns 
hier  ein  Staatsmann  von  durchdringendem  Blicke  entgegentritt. 
Die  Flugschrift  hat  nicht  ein  Philosoph  nach  der  Schablone 
seiner  Theorie  verfasst,  sondern  ein  praktischer  Politiker  setzt, 
obgleich  er  mit  der  Verfassung  Athens  nicht  zufrieden  ist, 
einem  auswärtigen  Aristokraten ,  welcher  sich  in  Athen  eine 
bei  beherztem  Angriff  sofort  zerfallende  Pöbellierrscliaft  vorstellt, 
die  Folgerichtigkeit  der  demokratischen  Einrichtungen  und 
ihre  daraus  entspringende  Stärke  ruhig  und  leidenschaftslos 
auseinander,  wobei  er  häufig  Beispiele  aus  den  letzten  Jahr- 
zehnten der  athenischen  Geschichte  anführt.  Er  entwickelt 
seine  Sätze  in  aller  Schlichtheit,  ohne  irgend  welche  Verbrä- 
mung;  hie  und   da    durchzieht   eine  leichte  Ironie   seine   Dar- 


1)  Beide  stehen  iu  den  drei  besten  Pariser  und  fünf  italienischen  Hand- 
schriften zusammen;  in  anderen  sind  sie  getrennt. 

2)  Vgl.  3,  2  irepl  To5  iroXE|j.ou.  2,  14.  16.  Vor  01.91,  4  muss  sie  verfasst 
sein,  weil  die  Bundesgenossen  noch  Steuern  zahlen  (2,  1.  3,  2.  5)  und  ihr 
Recht  in  Athen  suchen  müssen  (1,16);  2,  15  ist  vor  der  E-xpedition  des  Bnisidas 
(Ol.  89,  1,  Sommer  424)  geschrieben,  2,  18  bezieht  sich  anf  die  Besetzung  von 
Pylos  und  Methone  (Anfang  Ol.  88,4).  S.  Röscher  Klio  I  172,  genauer 
Kirch  hoff  über  die  Abfassungszeit  der  Schrift  vom  Staute  der  Athener, 
aus  den  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1878,  vgl.  auch  O.  Hempel 
quaestt.  de  Xenophonti.s  qui  fertur  libello  de  republica  Atheniensium ,  Halle 
1882,  Cap.  1  (p.  17  ff.  über  die  Sprache).  Mor.  Schmidt  Memoire  eines 
Oligarchen  in  Athen  über  die  Staatsmaximen  des  Demos,  Jena  1876  und 
Gustav  Faltin  quaestiones  de  libello  'A6-7]vatu)V  iroXixeia,  Breslau  1872  p. 
46  ff.  kommen  auf  das  Jahr  430/29. 

8)  Schon  Demetrios  Magnes  (Diogen.  2,  67)  erkannte  die  Unechtheit. 
Die  ältere  Literatur,  welche  Karl  Morel  quaestt.  de  libello  qui  dicitur 
Xenophon tis  de  republica  Atheniensium,  Bonn  1868  p.  3  f.  verzeichnet,  ist 
antiquiert. 


Die  Anfange  der  politischen  Beredsamkeit.  87 

Stellung^).  Man  wird  unwillkürlich  an  den  principe  des  Re- 
publikaners Macchiavelli,  wiewohl  dieser  ein  ganz  verschiedenes 
Ziel  vor  Augen  hatte,  erinnert ;  durchmustern  wir  aber  die  Schrift- 
steller des  Altertums,  so  zeigt  sich  der  Verfasser  am  meisten  dem 
Thukydides  verwandt,  wenn  dieser  auch  nicht  selbst  die  Schrift 
verfasst  hat^).  Den  eigentlichen  Obligarchen  kann  man  ihn 
nicht  zurechnen,  dazu  ist  er  zu  vorurteilslos.  Die  Grundan- 
schauung des  Verfassers  gipfelt  ja  offenbar  in  den  Worten 
(III  1):  „Mit  der  athenischen  Verfassung  bin  ich  nicht  einver- 
standen; da  sie  aber  einmal  die  Demokratie  wollen,  führen  sie 
diese  Staatsform  mit  Glück  durch".  Wenn  er  von  den  Parteien 
die  Worte  XP'*]'^'^^'^  ^^^  TrovTjpoi  gebraucht,  ist  dies  durch  die 
Adresse  leicht  zu  erklären.  An  den  leidenschaftlichen  Aristo- 
kraten Kritias^)  darf  man  also  gewiss  nicht  denken.  Da  wir 
den  Verfasser  leider  nicht  bestimmen  können,  richtete  sich  die 
Forschung  in  neuerer  Zeit  auf  die  Form  der  Schrift.  Weil 
wiederholt  eine  einzelne  Person  angeredet  wird,  denkt  man  seit 
Röscher  an  ein  Sendschreiben,  welches  für  einen  nicht  athenischen 
Aristokraten  bestimmt  war ;  der  Schreiber  wollte  dadurch  vielleicht 
ihn  und  seine  Genossen  von  einem  Abfallsversuche  abmahnen  % 
Die  Schrift  liegt  jedoch  jetzt  in  wahrhaft  traurigem  Zustande 
vor,  indem  sie  durch  Wiederholungen  und  Lücken  entstellt  ist 
und  des  Zusammenhanges  ermangelt.  An  der  Herstellung  des 
letzteren  haben  mehrere  Gelehrte  ihren  Scharfsinn  versucht. 
Bald  wurde  die  Schuld  einem  Excerptor   zugeschrieben  %  bald 


1)  Manche  (so  Reiske,  Aug.  Fuchs  quaestt.  de  libris  Xenophonteis 
de  repiiblica  Lacedaemoniorum  et  de  republica  Athenienslum,  Leipzig  1838, 
G.  Schneider  proleg.  p.  92,  Thirlwall  history  of  Greece  IV  258)  hielten 
die  Schrift  überhaupt  für  ironisch.  Kein  Wunder!  Hatte  doch  Macchiavelli 
dasselbe  Schicksal. 

2)  Wie  Röscher  Klio  I  172  wegen  gewisser  Aehnlichkeiten  (z.  B.  I 
19  f.  II  4f.  Uff.  mit  Thucyd.  1,  143)  meinte. 

3)  Böc  kh  Staatshaushaltung  der  Athener  I'*  433  ff.  u.  A.  Pia  ten  de  auctore 
libri  Xenophontei  qui  est  de  republica  Athenienslum,  Breslau  1843  entschieden 
sich  für  diesen,  weil  PoUux  8,  25  StaSixdCetv,  welches  HI  4  vorkommt,  aus 
Kritias  citiert. 

4)  U.  V.  Wilamowitz  bei  Susemihl,  index  lect.  aest.  Greifswald 
1884  p.  21;  ähnlich  Schjött  vgl.  Berliner  philol.  Wochenschrift  1881   Sp.  56. 

5)  So  H.  Müller-Strübing  Phüol.  Suppl.  4,  1—188. 


yg  Viertes  Kapitel. 

auf  eiue  im  Archetypus  vorgekommene  Verwirrung  geschoben  *) 
Es  trat  sogar  die  Vermutung  auf,  die  Zerrüttung  des  Textes 
rühre  davon  her,  dass  man  einen  Dialog  zu  einer  Abhandlung 
bearbeitet  habe  ^).  Doch  passt  ein  Dialog  über  einen  politisclien 
Gegenstand  für  das  fünfte  Jahrhundert  nicht. 

Besser  steht  es  um  die  Wortkritik;  nachdem  nämlich  die 
Abhandlung  lange  Zeit  im  Xenophontischen  Corpus  wenig  be- 
achtet mitgeschleppt  worden  war,  erschienen  im  Jahre  1874 
gleichzeitig  zwei  vortreffliche  Separatausgaben  von  Ad.  Kirch- 
hoff (Berlin  1874)  und  Curt  Wachsmuth  (in  seiner  commentatio 
de  Xeuophontis,  qui  fertur  libello  'A^Tjvaiwv  TzoXizdcn,  Programm 
der  Universität  Göttingen  1874). 

Die  Oligarchen,  welche  schon  während  des  archidamischen 
Krieges  im  Stillen  thätig  gewesen  waren  ^),  scheinen  nach  dem 
Frieden  des  Nikias,  welcher  den  Gemässigten  zu  Gute  kam, 
sich  eifriger  gerührt  zu  haben.  Damit  hing  das  Erscheinen  einer 
Flugschrift,  welche  die  Späteren  für  ein  Werk  des  Andokides 
ausgaben,  zusammen.  Da  sie  vor  418  oder  417  abgefasst  war^), 
rührte  sie  schwerlich  von  dem  damals  noch  jungen  Andokides 
her;   man   sollte  ausserdem  erwarten,  dass   sie   ein  Gegner   in 


i 


1)  Kirch  hoff  über  die  Schrift  vom  Staate  der  Athener,  aus  den  Ab- 
handlungen der  Berliner  Akad.  1874,  welcher  annimmt,  dass  die  Trümmer 
des  zerfetzten  Archetypus  falsch  zusammengesetzt  wurden,  stellt  neunzehn 
Abschnitte  her,  muss  aber  mehrere  Lückeu  zugeben;  Moritz  Schmidt  a.  O. 
nimmt  die  Verschiebung  einer  Blattlage  an.  Nicht  so  kühn  geht  L.  Lange 
de  pristina  libelli  de  republica  Atheniensium  forma  restituenda  comm.  I. 
Progr.  V.  Leipzig  1882,  11.  Leipziger  Studien  5,  396 — 428  vor.  Vgl.  auch  die 
Separatiiusgabe  von  Belot,  Paris  1880.  Gottfr.  Hermann  und  Sauppe  hatten 
bedeutende  Interpolationen  angenommen. 

2)  Cobet  Mnemosyne  7,  387  fi'.  =  novae  lectiones  738  flf.;  Fr.  Pankow 
zu  der  Schrift  vom  Staate  der  Athener,  Berlin  1866  (Pr.  von  Gnesen); 
C.  Wachsmuth  comm.  de  Xeuophontis  qui  fertur  libello 'A^Yivaiiov  iroXtieia, 
Göttingen  1874,  bekämpft  von  Faltiu  quaestiones  de  libello  'A{>^vai(uv 
itoXiTEia,  Breslau  1872  und  F.  G.  Ret  t ig  über  die  Schrift  vom  Staate  der 
Athener,  Zeitschrift  f.  Österreich.  Gymn.  28,  24111.  401  ff.  56lff.  (der  sich 
auch  gegen  Kirchhoff  und  Schmidt  wendet).  Die  Hauptstütze  der  Hypothese 
ist  fioc  III  10,  welches  Faltin  in  oot,  Dindorf  in  xot  ändert. 

3)  Aristoph.  Equ,  861  ff. 

4)  Kirchhoff  Andocidea,  Hermes  1,  1  ff.  Plut.  Themist.  32  citiert  ev 
T<j)  npb(;  xot)<i  Itaipooc;  Fragmente  in  Sauppes  Orat.  Att.  U  p.  166f.  Mü  Her- 
st rübin  g  Aristophanes  u.  die  historische  Kritik  S.  569  A.  findet,  was 
über  Hyperbolos  gesjigt  wird,  zu  arg  und  bestreitet  die  Echtheit. 


Die  Anfänge  der  jwlitischen  Beredsamkeit.  89 

den  bekannten  Processen  gegen  Andokides,  wenn  dieser  der 
Verfasser  war,  verwendet  hätte.  Wahrscheinlich  wurde  die 
Broschüre  von  dem  Führer  eines  oHgarchischen  Rings  anonym 
herausgegeben. 

Die  Oligarchen  waren  zu  klug,  um  bloss  mit  Intriguen 
und  Flugschriften  die  Reaction  vorzubereiten.  Von  Sykophanten 
welche  die  Parteistellung  für  ihren  persönlichen  Vorteil  aus- 
nützten, mit  Anklagen  unermüdlich  verfolgt,  mussten  sie  auf 
die  Erwerbung  rednerischer  und  juristischer  Fertigkeit  bedacht 
sein.  Vor  allem  hatten  die  Führer  die  Aufgabe,  die  jüngeren 
und  unerfahrenen  Leute  ilu-er  Partei  durch  Ratschläge  und 
vielleicht  auch  durch  förmlichen  Unterricht  gegen  derartige 
Angriffe  zu  schützen.  Ich  erinnere  daran,  wie  Antiphon  seinen 
Parteigenossen,  wenn  sie  wider  ihren  Willen  öffentlich  zu  sprechen 
luitten  oder  auch  in  der  Volksversammlung  sich  hervorwagten,  hilf- 
reich an  die  Hand  gii^g.  Aus  demselben  Grunde  machte  man  T  h  e  r  a- 
menes^),  dem  der  Umgang  mit  Prodikos  den  Spitznamen 
,,Keer'' eingetragen  hatte"),  zum  Verfasser  tecli nischer  Schriften'*). 

Der  bedeutendste  unter  den  Reaktionärern  war  jedoch 
Ivritias,  der  Führer  der  Dreissig*),  welcher,  als  er  noch  auf 
heimliche  Konspirationen  beschränkt  war,  eine  lebhafte  lite- 
rarische Thätigkeit  entfaltete.  Von  den  Sophisten  trefflich 
unterwiesen,  gab  er  Musterstücke  zur  Uebung  in  der  prak- 
tischen Beredsamkeit  heraus  ^)  und  verfasste  dazu  einige  Muster- 
reden, über  welche  wir  das  Urteil  des  Rhetors  Hermogenes 
hören    wollen  ^):     „Er  ist,    ähnlich    wie    Antiphon,     würdevoll, 


1)  Ueber  sein  Leben  vgl.  C.  PÖhlig  der  Athener  Therameues,  Jahrbb- 
i.  Phil.  Suppl.  9,  265  ff. 

2)  Aristoph.  Kau.  968  ff.,  für  Suidas  ein  Anlass,  um  zwei  Theramenes 
aufzustellen. 

3)  Suidas  s.  v.  [aeXcTojv  (pfjToptxouv)  ßißXta  y'  nämlich :  uepl  cixoccuaecuc 
Xofoü,  Tcspl  slxovoiv  r^xo'.  napaßoXwv,  itcpl  a)(^Y]}idcTü)v.  Ueber  die  xEyvYj  des 
Boton  s.  S.  76. 

4)  Fragmente  seiner  Schritten  in  den  Fragmenta  historicortim  Graecorum 
ed.  C.  Müller  II  68  ff. 

5)  Dazu  gehörten  irpooijxta  hrni'qfopiv.ä  Hermogen.  n.  t§.  p.  416,  3  Sp. 
(wo  xal  [jiäXtata  nicht  zu  übersehen  ist). 

6)  Hermogen.  k.  lo.  p.  415,  25ff. ;  Dionysios  de  Isae.  20  (vgl.  Lys.  2) 
stellt  ihn  mit  den  im  vorigen  Kapitel  behandelten  llednern  zusammen.  Der 
Reden  waren  nicht  viele  (Cic.  de  orat.  2,  22,  93  uonnulla). 


90  Viertes  Kapitel. 

schwulstig  und  zur  apodiktischen  Ausdrucksweise  geneigt,  doch 
ist  seine  Sprache  reiner  und  bei  Umschreibung  bleibt  er  klar 
und  verständlich.  Es  liegt  in  vielen  Stellen,  zumal  in  seinen 
Einleitungen,  etwas  ungekünsteltes  und  überzeugendes.  Ob- 
gleich er  auf  Sorgfalt  sehr  bedacht  ist,  zeigt  er  sie  doch  nicht 
so  offen  wie  Antiphon,  sondern  strebt  nach  Natürlichkeit.  Auf 
diese  ist  er  mehr  als  auf  die  anderen  Arten  des  Ethos  bedacht." 
Aus  der  schwulstigen  Schilderung  des  Philostratos  ^)  ist  nach- 
zutragen, dass  Kritias  poetische  Wörter  mied,  nichtsdestoweniger 
sich  jedoch  gewählt  auszudrücken  verstand.  Kritias  strebte 
zugleich  nach  frappierenden  Wendungen  und  Gedanken,  wes- 
halb er  Wörter  (namentlich  zusammengesetzte)  neu  bildete  ^). 
Aus  diesen  Urteilen  dürfte  hervorgehen,  dass  unserem  Schrift- 
steller die  Neuerungen  des  Thrasymachos  nicht  fremd  gebHeben 
waren.  Da  er  aber  doch  noch  zu  den  archaischen  Rednern 
zählte  und  der  Abscheu  gegen  das  Haupt  der  dreissig  Tyrannen 
das  Hterarische  Interesse  überwog,  bheb  Kritias  aus  dem  Kanon 
der  Attiker  weg;  erst  Herodes  Atticus  führte  ihn  in  den  Kreis 
der  Musterredner  ein"^),  weshalb  der  Atticist  Phrynichos'^)  und 
Herraogenes  seine  Reden  berücksichtigten,  während  Aristeides, 
wie  gegen  die  Prinzipien  des  Hermogenes  überhaupt,  auch  gegen 
seine  Verteidigung  des  Kritias  ankämpfte  ^).  Philostratos  war 
der  letzte,  welcher  Kritias  beachtete. 

Neben  diesen  Schulschriften  arbeitete  Kritias  auch  politische 
Broschüren  aus,  welche  sich  auf  die  zwei  Stützen  der  griechischen 
Oligarchie,  Sparta  und  Thessalien  bezogen^).  Die  Fragmente 
sind  so  einseitig  überliefert,  dass  sie  bloss  das  Urteil  gestatten, 
Kritias  habe  unter  anderem  die  örtlichen  Lebensgewohn- 
heiten mit  eingehender  Gründlichkeit  behandelt.  Zwei  die 
athenischen  Staatsmänner  betreffende  Bemerkungen    sind  nicht 


1)  Vit.  Sophist.  1,  16,  4. 

2)  Julius  PoUux  7,  196. 

3)  Philostr.  vit.  sophist.  2,  1,  14  p.  244,  6  K;  Cicero  las  uiclits  (Brut. 
7,  29),  auch  Harpokrations  Quelleu  berücksichtigten  ihn  nicht. 

4)  In  der  oo^ptattx-})  irapaoxeuYj  Phot.  bibl.  cod.   158  p.   101  b  9. 

6)  P.  517,20  oder  530,  13  Sp.  (vgl.  Spengelll  p.  XlXf.);  daraus  erhellt 
die  Zeit  de«  Rhetor».  Auch  PoUux  äussert  sich  unfreundlich  (7,  196  Kpittoo  .  . . 
xal  tÄv  jxäXXov  aüToö  xexpifi^vujv). 

6)  MoXiTela  .\.axE5ai|j.oviu)v  (Blass  I  262  A.  3  gibt  einen  Nachtrag  zu 
C.  Möller)  und  8sTtaXüv. 


I 


Die  Anfänge  der  politischen  Beredsamkeit.  91 

sicher  unterzubringen  ^);  die  zweite,  welche  Kimon  wegen  seiner 
unpatriotischen  Unterstützung  der  Lakedämonier  tadelte,  muss 
aus  einer  Zeit,  wo  die  Gegensätze  der  Parteien  noch  nicht  un- 
versöhnlich waren,  stammen. 

Kritias  lebte  aber  nicht  bloss  für  die  Politik,  sondern  er 
hat  sich  die  volle  sophistische  Bildung  angeeignet  und  selbst- 
ihätjg  verwertet''*).  Für  ihn  war  sie  nicht  bloss  Mittel  zum 
Zwecke,  durfte  sich  doch  Kritias  zu  den  Gelehrten  zählen  ^). 
Wie  er  Sokrates  nahe  stand  '^),  so  erwarl)  er  sich  die  Achtung 
Piatos,  der  ihn  stets  mit  Wohlwollen  behandelt  '^)  und  ihm  eine 
bedeutende  Rolle  im  Charmides  anweist.  Ein  anderer  Sokratiker 
Hess  ihn  im  ,,Eryxias"  auftreten.  Kritias  schrieb  sogar  über 
philosophische  Gegenstände  nicht  ohne  Glück  %  denn  Aristoteles 
würdigte  eine  Ansicht  von  ihm  der  Erwähnung  '').  Nach  dem 
Vorgange  des  Protagoras  beschäftigte  sich  Kritias  endlich  mit 
den  berühmten  Dichtern  der  Nation,  natürlich  mit  Homer  *^), 
doch  auch  mit  Archilochos  '•'). 

Diesen  Oligarchen  will  ich  einen  Mann  anreihen,  der  einst 
ihr  Genosse,  sie  verriet  und  seinen  Abfall  durch  ein  unstetes 
Leben  büsste;  seiner  Erziehung  und  Bildung  nach  gehörte 
Andokides  zu  jenen,  aber  er  wusste  sich  später  auch  bei  den 
Demokraten  vorzudrängen.  Alle  politische  Reden ,  die  man 
ihm  zuschrieb,  sind  als  unecht  erschienen  und  er  würde  wie 
die  anderen  Politiker  Athens  ausserhalb  der  Literaturgeschichte 


1)  Aeliau.  var.  hist.   10,  17.  Plut.  Cim.   16. 

2)  Dem  Alexandei-  von  Aphrodisias  (bei  Philopon.  zu  Alistot.  de  aniiua 
1,2  p.  8c)  erschien  dies  so  unerhört ,  dass  er  einen  zweiten  Kritias  als  Ver- 
lasser der  prosaischen  Schritten  erdichtete.  Mehrere  Spätere  geljcu  Kritias 
den  Namen  aocp:aT'f](;. 

3)  Plat.  Charraid.   161b.   162 be. 

4)  Xenophon  mem.  1,  2,  2911.  versucht  dies  umsonst  ganz  zu  leugnen. 
Plato  zeugt  wider  ihn. 

5)  Z.  B.  Timae.  20a  Kpixiav  oe  noo  Ttävts?  ol  t-^3'  Tojjisv  ooosvbc,  lhnuxt]v 
ovxa  CUV  \i'(oii.sv.  Daraus  ist  das  bekannte  Bonmot  (Proklos  in  Tim.  p.  22) 
ausgesponnen,  Kritias  sei  nuter  den  Philosophen  ein  Laie,  unter  den  Laien 
ein  Philosoph. 

6)  Suidas  führt  an:  jtspl  (puoscoc  spcuzoz,  jrpuiTOi;  otcpoptajjLoi;  und  zwei 
Bücher  ojAtXiai. 

7)  Aristot.  de  an.   1,  2  p.  405  b  5. 

8)  Philostr.  vit.  soph.  prooem.  p.  201,  5  K.  vgl.  Tzetz.  exeg.  II.  p.  8  H. 

9)  Aelian.  var.  hist.  10,  13,  1. 


92  Viertes  Kapitel. 

stehen,  wenn  ihn  nicht  sein  eigentümliches  Schicksal  zu  einem 
his  dahin  unerhörten  Schritte  getrieben  hätte. 

Das  uralte  Geschlecht  der  ,, Herolde",  welches  in  Hermes 
und  Odysseus  seine  Ahnherren  verehrte  ^),  wurde  zur  Zeit  des 
Perikles  von  einem  Manne  vertreten,  dessen  Schwelgerei  ihm 
dank  dem  Komödienspotte  eine  traurige  Berühmtheit  sicherte^); 
Leogoras  —  so  war  sein  Name^)  —  und  sein  noch  nicht  er- 
wachsener*) Sohn  Andokides^)  wurden,  weil  die  vor  ihrem 
Hause  stehenden  Herme  unversehrt  geblieben  war,  in  den 
berüchtigten  Hermokopidenprozess  verwickelt ;  Andokides  rettete 
sich  und  seine  Angehörigen,  obgleich  er  seine  eigene  Beteiligung 
zugestehen  musste^),  durch  die  Anzeige  der  Schuldigen  und 
das  Versprechen ,  dass  sein  Vater  grosse  Vermögenshinter- 
ziehungen aufdecken  werde.  Trotzdem  machte  ein  Volksbe- 
schluss,  welcher  den  Rehgionsfrevlern  die  Betretung  des  Marktes 
und  der  Heiligtümer  untersagte,  die  Straflosigkeit  illusorisch  '^). 
Andokides  entfernte  sich  daher  in  Handelsgeschäften,  um  das 
vom  Vater  sehr  verringerte  Familienvermögen  wieder  zu  heben,  fli 
und  verweilte  besonders  in  Makedonien  und  Cypern  ®).  Erst  " 
im  Jahre  411  versuchte  er  die  Gunst  der  Athener  wieder  zu 
erringen,  dadurch  dass  erder  vor  Samos  liegenden  Flotte  wohlfeile      1 


1)  Hellanikos  bei  Plut.  Alcib.  21  (Ps.  Plutarch.  Andocid.  834  b.  Suid.); 
vgl.  Bossler  de  gentibus  et  familiis  Att.  sacerdotalibus ,  Darrastadt  1833  p. 
29ff.  Vater  quaestionum  Audocidearura  particula,  Halle  1840.  Das  Geschlecht 
gehörte  zum  Demos  Kydathen  (CIA.  II  553  und  Androtion  bei  Schol.  Aristid. 
in  486  D;  nicht  0op(at)e6?,  wie  eine  Quelle  von  Ps.  Plut.  834  b  hat). 

2)  Aristoph.  Vesp.  1269.  Nub.  109.  Plato  com.  bei  Athen.  9,  387  a. 

3)  CIA.  TI  553  steht  er  in  der  Form  Ati(»-(6par,. 

4)  Andocid.  2,  7. 

6)  Jan.  Ott,  Sluiter  lectioues  Andocideae,  Leiden  1804,  bearb.  von 
C.  Schiller,  Leipzig  1834.  Die  Quellen  seiner  Lebensgeschichte  sind  seine  Reden 
(gegen  deren  Glaubwürdigkeit  J.  J.  Hart  manu  de  Hermocopidarum  mysteri- 
onimque  profanatorum  judiciis,  Leiden  1881),  die  angeblich  von  Lysias  (VI.) 
verfa.s8te  Ankluge  und  die  Historiker.  Daher  stammen  die  Nachrichten  in  der 
Biographie  des  Pseudoplutarch  (vgl.  Phot.  bibl.  261  p.  488)  und  dem  dürf- 
tigen Artikel  des  Suidas. 

6)  Thucyd.  6,  60,  4.  Andokides  sucht  sich  1,  61flf.  2,26  hinauszuredeh. 
Nach  Kratippos  (I*s.  Plut.  834  cd)  hatte  er  sich  schon  früher  wegen  eines 
ähnlichen  Frevels  zu  verantworten. 

7)  Andocid.  1,71;  Straflosigkeit  2,23. 

8)  Ps.  Lys.  6,  26,  vgl.  Andoc.  2, 11. 


Die  Anfange  der  politischen  Beredsamkeit.  93 

Lieferungen  machte^);  hierauf  wandte  er  sich  sofort  nach  Athen, 
(loch  da  hier  indes  der  Staatsstreich  erfolgt  war,  wurde  er, 
wie  er  behauptet^),  wegen  jener  Förderung  der  Demokraten 
verhaftet.  Warum  Andokides  nacli  seiner  Befreiung  Athen 
wieder  verHess,  lässt  er  im  Unklaren ;  nachdem  er  sich  ein  paar 
Jahre  in  Elis  aufgehalten  hatte  ^),  wurde  ein  neuer  Versuch 
gewagt,  indem  er  dem  Rate  wichtige  politische  Mitteilungen 
machte  und  eine  grosse  Sendung  von  kyprischem  Getreide  ver- 
inittelte'*).  Trotzdem  konnte  der  Renegat  durch  seine  Rede  ,,über 
die  Rückkehr"  (II.)  nicht  erreichen,  dass  man  ihn  von  der  oben 
(  rwähnten  Verordnung  des  Isotiraides  ausnahm.  Er  verliess  daher 
Athen  von  neuem  und  befuhr  als  Kaufmann  das  östliche  Mittel- 
meer, wobei  er  intime  Verbindungen  mit  Fürsten  und  vornehmen 
Männern  anknüpfte  und  grosse  Besitztümer,  besonders  aufCypern, 
gewann^).  Erst  als  die  Dreissig  gestürzt  waren  und  Andokides 
die  Hermokopidengeschichte  vergessen  glaubte,  kehrte  er  etwa 
402  aus  Cypern  nach  Athen  zurück  ^)  und  übte  hier  alle  Rechte 
eines  Bürgers  aus').  Nach  drei  Jahren  erst  klagte  ihn  Kephisios, 
von  Kallias  und  anderen  unterstützt,  der  unberechtigten  Teil- 
nahme an  den  Mysterien  an;  aber  der  aus  Mysten  zusammen- 
gesetzte Gerichtshof  sprach  Andokides,  welchen  die  angesehenen 
Staatsmänner  Anytos  und  Kephalos  verteidigten*),  frei.  Er 
war    damals    etwa   vierzig   Jahre    alt,    also  um  440  geboren^). 

1)  Andocid.  2,  11  ff. 

2)  2,  13  ff.,  vgl.  Ps.  Lys.  27. 

3)  Ps,  Plat.  835a  nennt  Elis,  schweigt  aber  von  dem  V^ ersuche;  Blass 
I  278  setzt  die  Rückkehr  etwa  in  das  Jahr  409.  Philippi  Jahrbb.  f.  Philol. 
1 19,  686  meint  dagegen,  sie  habe  frühestens  407  stattgefunden,  weil  er  über 
die  Seetreffen  von  411  und  410  mit  ev  x(|)  xoxs  Xp6v(})  (§  12)  spricht. 

4)  Andocid.  2,  19  ff. 

5)  Ps.  Lys.  G;  Andoc.  1,145.  Ps.  Lys.  48;  Andoc.  1,4.  144.  Ps.  Lys.  48. 

6)  1,4.  132;  über  das  Jahr  Blass  I  279,  vgl.  Ps.  Lys.  38  f. 

7)  1,  132.  133ff.  Ps.  Lys.  33.  11.  Man  sah  in  Athen  einen  Dreifuss,  den 
er  als  Chorege  geweiht  hatte  (Ps.  Plut.  835b),  vgl.  CIA.  II.  553. 

8)  Andocid.  1,  150. 

9)  Ps.  Lys.  46.  Nach  Ps.  Plut.  835  a  ist  er  Ol.  78,1  geboren;  nach  Blass 
I  271  und  Müller-Strübing  Aristophanes  S.  599  ist  dies  aus  der  Strategie, 
weUhe  sein  Grcssvater  Andokides  vor  Samos  bekleidete,  errechnet.  Diese 
ansprechende  Vermutung  ist  anfechtbar  geworden,  seit  ein  in  schriftlich  er 
Fund  gezeigt  hat,  dass  Thukydides  1,  51,  4  nicht  'AvSotiiSyjc,  wie  schon  Ps. 
Plutarch.  834c  las,  sondern  ApaxovxtS-rjc:  schrieb  (vgl.  Müller-Strübing 
Aristophanes    und    die    historische    Kritik    S.  599  ff.    u.    Stahl    Rhein.  Mus. 


94  Viertes  Kapitel. 

Später  wurde  er  während  des  korinthischen  Krieges  mit  einer 
Gesandtschaft,  welche  über  den  Frieden  unterhandehi  sollte, 
nach  Sparta  geschickt,  erzielte  aber  kein  Resultat  ^).  Damit 
schliesst  dieses  wechselvolle  Leben  ab. 

Andokides  war  kein  Sophist;  so  lange  er  der  oHgarchischen 
Partei  angehörte,  war  er  noch  zu  jung  und  zu  wenig  angesehen, 
um  durch  Flugschriften  wirken  zu  können.  Seit  er  aber  zur 
Regierungspartei  übergegangen  war,  müsste  er  die  Vorurteile 
des  souveränen  Volkes  achten.  Wie  also  aus  jener  Periode 
seines  Lebens  keine  echte  Schrift  vorhanden  war  (die  Rede 
gegen  Alkibiades  ist  sicher  unecht,  ebenso  wohl  auch  der 
Aufruf  an  die  Oligarchen),  so  veröfifentlichte  Andokides,  seit  er 
zu  den  einflussreichen  Bürgern  gehörte,  seine  politischen  Reden 
so  wenig  als  seine  Genossen;  wir  haben  ja  gesehen,  was  von 
der  Gesandtschaftsrede  ,,über  den  Frieden"  zu  halten  sei.  Da- 
gegen gab  er  die  Reden,  welche  er  in  jenen  beiden  Prozessen 
hielt,  heraus,  um  die  öffentliche  Meinung  für  sich  zu  stimmen 
und  auch  die  Bürger,  welchen  der  günstige  Spruch  der  Ge- 
schworenen nicht  alle  religiösen  Bedenken  genommen  hatte,  zu 
bekehren,  nicht  aber,  damit  Schüler  und  Klienten  angelockt 
würden.  Echt^)  sind  also  nur  die  zwei  Reden  7:spl  zfi<;  laotoö 
%a^ö8oo  (11.)^)  und  die  längere  Tcspl  xwv  [luaTTjpiwv  (I., 
ungefähr  im  Jahre  399  gesprochen)*). 

Da  Andokides  weder  ein  Rhetor  war  noch  seine  Reden 
als  Musterstücke  herausgab,  repräsentieren  sie  die  Art,  wie  die 
gebildeten  Männer  Athens  um  das  Jahr  400  zu  sprechen  pflegten. 
Weil  es  sich  jedoch  um  die  heiligen  Mysterien  handelt,  flndet  es 


40,  439  ff.).  Es  ist  aber  möglich,  dass  die  Blüte  die  Andokides  01.88,  l,d.  h.  gleich- 
zeitig mit  Gorgias  gesetzt  wurde.  Vgl.  Völcker  de  auno  quo  natns  sit  Ando- 
cides  orator,  Meppen  1872.  Zu  veotvjxt  vergleicht  Fuhr  animadv.  in  oratore^ 
Att.  p.  18  adn.  1  mit  Recht  Thucyd,  6,  17. 

1)  'AupaxTOü?  ftveXö-eiv  Philochor.  im  Arg.  orat.  III.;  der  Verfasser  der 
dritten  Rede  scheint  die  Schuld  den  Athenern  beizumessen,  Ps.  I'lut.  835  ü 
dog^en  tugt  bei:  ftStxelv  36$ac  efOY^- 

2)  Reibst  dies  bestreitet  S.  A.  Naber  de  fide  Audocideae  oratiouis  de 
mysteriis,  Leiden  1860  und  Audocidis  oratio  de  reditu,  Mneraos.  III  (1864) 
p.   60  ff. 

3)  riepl  T7J?  äiSsiac  Harpocr.  v.  ÄppioSstv. 

4)  Der  Titel  lautet  auch  nepl  ttji;  evSei^swc;  gegen  Sauppe,  der  daraus 
mit  Ps.  Plat.  836u  eine  besondere  Rede  machte,  s.  Blass  I  284  f. 


Die  Anfänge  der  politischen  Beredsamkeit.  95 

Andokides  für  passend,  die  Sprache  des  täglichen  Lebens  durch 
poetische  Wendungen  höher  zu  stimmen  ^);  Selbständigkeit 
dürfte  dabei  nicht  zu  rühmen  sein,  sondern  er  verwendete,  was 
ihm  aus  den  populären  Tragödien  erinnerlich  war.  Der  Satz  bau 
ist  kunstlos  und  von  Schwerfälligkeit  oft  niclit  frei.  Auch  in 
der  Ordnung^)  und  der  Auswahl  der  Gedanken  zeigt  sich  nichts 
von  Kunst.  Die  Beweise  sind  selten  bestechend  geformt  und 
arrangiert;  wenn  Andokides  erzählt,  ermüdet  er  durch  Weit- 
schweifigkeit und  Einschiebsel.  Auch  an  rhetorischen  Künsten, 
mögen  sie  der  blossen  Zierde  oder  auch  der  Belebung  dienen, 
sind  die  Reden  arm.  Kurz,  es  spricht  ein  gebildeter  Mann, 
aller  kein  Rhetor. 

Aus  dem  persönlichen  Motive,  das  die  Veröffentlichung 
der  zwei  Reden  veranlasste,  ist  nicht  bloss  ihre  geringe  Kunst- 
fertigkeit, sondern  auch  die  Einleitung  von  Urkunden  zu  er- 
klären. Während  nämlich  die  Kunstredner  bei  der  Veröffent- 
lichung gerichtlicher  Reden  die  Urkunden  und  Zeugenaussagen 
nur  zu  markieren  pflegten,  da  sonst  die  Einheit  des  Stiles  zer 
stört  worden  wäre,  war  dieser  ästhetische  Grund  bei  unserem 
Redner  nicht  wirksam,  im  Gegenteil  wollte  er  durch  die  Bei- 
gobung  von  Zeugnissen  und  anderweitigen  Belegen  seine  Glaub- 
würdigkeit erhöhen.  Wenn  auch  nicht  alles,  rührt  doch  das 
meiste  von  dem  Redner  selbst  her  ^). 

Immerhin  scheint  eine  fremde  Hand  dabei  thätig  gewesen 
zu  sein*)  und  dies  führt  auf  die  Frage,  wie  Andokides  von 
den  Rhetoren  bearbeitet  wurde.  Da  er  weder  berühmt  noch  ein 
eigentlicher  Fachmann  war,  verdankt  er  seine  Aufnahme  unter 
die  Zehn  gewiss  nur  der  Verhasstheit  des  Kritias.     Wem,    wie 


1)  Blass  I  291. 

2)  K.  W.  Linder  de  rerum  dispositione  apud  Antiphontem  et  Andocideni, 
IJpsala  u.  Göttingen  1859. 

3)  Die  Namenverzeichnisse  sind  von  Kirrihhoff  Jahrbb.  f.  Phil.  1860 
S.  838  u,  Mouatsber.  der  Berliner  Akademie  1865  S.  545  u.  U.  Köhler 
Jahrbb.  f.  l'hilol.  81,  238  f.  gerechtfertigt.  Ueber  die  drei  Beschlüsse  Joh. 
Droyseu  de  Demophanti  Patroclidis  Tisameni  poj)nli  scitis,  Berlin  1873,  be- 
richtigt von  Rad.  Scholl  Jenaische  Literaturztg.  1874  S.  186. 

4)  Die  Benützung  einer  voreuklidischen  Inschrift  zeigt  U.  v.  Wilamo- 
witz  horaer.  Untersuch.  S.  305  A.  15  an  einem  Irrtum,  den  Andokides  selbst 
schwerlich  begangen  haben  kann. 


96  Viertes  Kapitel. 

dem  Halikarnassier  Dionysios  die  Zehnzahl  gleichgiltig  war, 
ignorierte  infolge  dessen  Andokides  ^).  Die  Rhetoren  der  Kaiser- 
zeit pflegten  auf  ihn  verachtungsvoll  wie  auf  einen  Eindringling 
herabzusehen  ^)  und  citierten  ihn  nie.  Nichtsdestoweniger  schrieb 
Valerius  Theon  über  Andokides  ^) ;  auch  sind  den  zwei  unechten 
Reden  Einleitungen  vorgesetzt. 

Die  Ueberlieferung  des  Textes  ruht  hier  ungefähr  auf  den 
gleichen  Grundlagen  wie  bei  Antiphon  %  doch  fehlt  bei  diesem 
Redner  die  Oxforder  Handschrift.  Vor  Bekkers  Ausgabe  sind 
bloss  die  Sammlungen  von  Aldus,  Stepharms  und  Reiske  zu 
nennen.  Erst  I.  Bekker  (Oratores  Attici  1822  f.)  zog  bessere 
Handschriften  heran ;  auf  seiner  Recension  ruhen  die  Ausgaben 
von  K.  Schiller  (Leipzig  1835)  und  Baiter-Sauppe ;  den  besten 
Text  bietet  die  Separatausgabe  von  Fr.  Blass  (Leipzig  1871. 
^1880).  Die  Erklärung  wurde  durch  Alb.  Gerh.  Beckers  kom- 
mentierte Uebersetzung  (Quedlinburg  1832)  gefördert;  Dobsou 
hat  in  den  oratores  Attici  I.  u.  XIII.  viel  Material  zusammen 
getragen. 

Als  Schriftsteller  hat  Andokides  die  grösste  Aehnlichkeit 
mit  Aischines.  Beide  sind  Schriftsteller  wider  Willen,  welche 
bloss  zu  ihrer  persönlichen  Verteidigung  Reden  veröffentlichen, 
beide  nicht  professionsmässige  Redner,  sondern  im  Vergleich 
mit  den  übrigen  der  Zehn  Dilettanten.  Aischines  würde  daher 
am  passendsten  neben  Andokides  seine  Stelle  finden,  wenn  er 
nicht  aus  praktischen  Gründen  hinter  Demosthenes  zu  stellen 
wäre;  zudem  ist  er  doch  nicht  ganz  von  der  weiteren  Ent- 
wickelung  der  Beredsamkeit  unbeeinflusst. 


1)  Er  verwarf  (wohl  beiläufig?)  die  Friedensrede  (Argum.  or.  III.). 

2)  Qniutilian.  12,10,21  non  igitur  jam  usqiie  ad  Coccuiu  et  Audocidem 
reraittemur;  im  zehnten  Buche  erwähnt  er  ihn  nicht  einmal.  Herodes  Atticns 
sagte:  'Av8oxi8ou  fxiv  ßeXxtcuv  Eijii  (Philostr.  vit.  soph.  2,  1,  14). 

3)  Suidas  v.  ö^wv. 

4)  8.  S.  71. 


i 


Fünftes  Kapitel. 
Die  Vollendung  der  Kunstrede;  Isokrates. 

Isokrates:  Leben;  gerichtliche  Reden;  Reden  gegen  die  Sophisten,  Helena 
und  Busiris,  über  das  Gespann;  die  politischen  Reden  (in  chronologischer 
Folge) ;  „über  den  Vermögenstausch"  ;  Fälschungen  (Nikokles,  Briefe,  Schreiben 
an  Dcmonikos);  Verlorenes;  Stil  und  Gedankeninhalt;  Freunde  und  Feinde; 
Schüler;  Fortleben  der  Schriften  des  Isokrates ;  Handschriften  und  Ausgaben. 

Wiewohl  die  Schule  des  Gorgias  für  die  Entfaltung  der 
griechischen  Literatur  von  der  grössten  Bedeutung  war,  Hess 
sie  doch  viel  vermissen.  Der  verschnörkelte  und  verkünstelte 
Stil  der  Gorgianer  konnte  die  Athener  eine  Zeitlang  blenden, 
aber  ernüchtert,  mussten  sie  einen  Meister  wünschen,  der  die 
siciHsche  Kunst  mit  attischem  Geschmacke  veredelte.  Den 
wahren  Philosophen  waren  andererseits  die  Spielereien  der 
Gorgianer  ein  Greuel  und  in  der  That  kornite  der  Sinn  für 
das  Wahre  und  Gute  bei  diesem  Treiben  nicht  gedeihen. 

Im  Zeitalter  des  peloponnesischen  Krieges  hatten  die  Athener 
die  fremden  Lehrer  bewundert  und  umdrängt,  aber  aus  ihrer 
Mitte  war  keiner  erstanden,  der  zu  den  Hauptvertretern  der 
Sophistenbildung  gezählt  werden  konnte.  Erst  an  der  Scheide 
des  fünften  und  vierten  Jahrhunderts  traten  zwei  Athener  auf, 
welche  ihrer  Stadt  auch  in  der  Prosa  den  ersten  Rang  sicherten ; 
es  ist  aber  eine  eigentümliche  Erscheinung,  dass  beide  unfrei- 
willig, nur  durch  äussere  Umstände  genötigt  den  Weg  ein- 
schlugen, der  sie  zur  Unsterblichkeit  führte. 

Der  eine,  welcher  die  Kunstprosa  vervollkommnete,  war 
Isokrates^).      Die    chronologischen    Grenzen    seines     langen 


1)  J.  G.  Pfund  de  laocratis  vita  et  scriptis,  Progr.  des  Joachimsthal'- 
schen  Gymn.  Berlin  1S33  (vgl.  H.  Sauppe  Ztsch.  f.  Alterthuraswissenschaft 
1835  Sp.  403flf.);  W.  Oncken  Isokrates  und  Athen,  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Einheits-  und  Freiheitsbewegung  in  Hellas,  Heidelberg  1862.  Nachrichten 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  7 


Ö^  Fünftes   Kapitel. 

Lebens  sind  durch  die  eigenen  Angaben  des  selbstgefälligen 
Mannes  und  Nachrichten  seiner  Schüler  ziemlich  genau  fest- 
stellbar: Isokrates  wurde  um  Ol.  86,  1  (436/5)  geboren*)  und 
starb,  ungefähr  achtundneunzig  Jahre  alt,  bald  nach  der  Schlacht 
von  Chaironeia  (338),  welche  dem  greisen  Patrioten  das  Leben 
verleidete  ^).  Bis  zu  seinem  Tode  hat  er  unermüdlich  geschaffen 
und  gelehrt. 

Als  Isokrates  geboren  ward,  dachte  niemand  daran,  dass  er 
die  damals  von  wenigen  geachtete  Laufbahn  eines  Sophisten 
ergreifen  werde.     Sein  Vater  Theodoros,  ein  Mitglied  des  Demos 


boten  die  Reden  des  Isokrates  und  die  Schriften  seiner  Schüler,  namentlich 
des  Theopompos  und  Kephisodoros ,  welcher  den  Lehrer  gegen  Aristoteles 
verteidigte.  Erhalten  sind  Biographien  von  dem  Rhetor  Dionysios  von  Hali- 
karnass  (de  Isocrate  c.  1),  dem  angeblichen  Plutarch  (s.  Bruno  Keil  analecta 
Isocratea  p.  89  ff.,  vgl.  Photius  biblioth.  260)  und  einem  anonymen  Apologeten 
(in  welchem  Westermann  ad  Plut,  dec.  orat.  p.  9  Zosimos  vermutet; 
dieser  schrieb  nämlich,  wie  er  in  der  Biographie  des  Demosthenes  angibt, 
auch  über  Isokrates.  Zuerst  veröffentlicht  von  Mustoxydis  auXXof^  olko- 
onao|j.axü>v  övexSotcuv  III  p.  9 — 23,  am  besten  in  den  Züricher  Oratores  Attici 
n  p.  3  ff.  und  Westermanns  Bto^pacpoi  p.  253 ff.),  Philostratos  (vit.  sophist. 
1, 17)  und  Suidas. 

1)  Die  Rede  über  den  Vermögenstausch  verfasste  Isokrates  nach  seiner 
eigenen  Angabe  im  Alter  von  82  Jahren  (§  9);  nun  ist  sie  kurz  nach  355 
geschrieben.  Die  Alten,  welche  Synchronismen  liebten,  setzten  sie  gerade 
354/3,  wo  Demosthenes  zum  ersten  Male  auftrat.  Dann  war  Isokrates  Ol.  86, 1 
geboren  (Dionys.  Ps.  Plut.  836  e.  Diogen.  3,3,  vgl.  Suidas.  Das  Verfahren 
fühlt  man  noch  bei  Ps.  Plut.  837  f  durch)  und  wurde  98  oder  fast  99  Jahre 
alt  (ersteres  Dionys.  Quintilian,  3,  1,  14.  Pausan.  1,  18,  8.  o\  8e  bei  Anon. 
Z.  42,  letzteres  Lucian.  }j.axpoß.  23  mit  rrspl,  Tod  im  99.  Jahre  Cic.  senect. 
5,  13;  abgerundet  100  Jahre  xtvec  bei  Ps.  Plut.  837e  u.  ol  }jlev  Anon.  Z.  41). 
Alle  beruhigten  sich  aber  dabei  nicht :  Argum.  or.  XIV.  nimmt  Ol.  87,  3 
oder  2  an.  Auch  die  Blütezeit  wird  verschieden  bestimmt:  Mit  Sokratea  ist 
Isokrates,  wie  so  oft,  verwechselt,  wenn  ihn  Eusebios  im  Jahre  der  Anabasis 
ansetzt.  Beim  zweiten  Ansatz  (Ol.  101,  2  Synk.  101,  1  Hieron.  und  Armen.) 
bezog  man  den  Panegyrikos  auf  den  Frieden  von  Ol.  101,2.  Spidas  gibt 
dem  Redner  106  Jahre,  weil  er  das  berühmte  Jahr  des  Eukleides  Ol.  94,  2 
als  Blütezeit  annahm. 

2)  Aphareus  und  Demetrios  bei  Anon.  Z.  142  ff.  (Dionys.  Ps.  Plut.  837  e. 
838b.  Pausan.  1,18,8.  Ps.  Lucian.  (j.axp6ß.  23.  Philo^r.  §  4).  Der  Verfasser 
des  dritten  isokratischen  Briefes  weiss  davon  nichts  (vgl.  Fr.  Blass  Rhein. 
Mus.  20, 109  ff.).  Die  Anekdote,  da.s8  der  Redner  vor  seinem  Tode  drei  Dauaos, 
Pelops  und  Kadmos  betreffende  Prologe  des  Euripides  deklamiert  habe  (Ps. 
Plut,  837  e.  Anon,  Z.  146  ff.,  vgl,  Ps.  Lucian.  a.  O.),  entsprang  aus  Isoer, 
panatb.   80. 


Die  Vollendung  der  Knnstrede :  Isokrates.  99 

Herchia^),  welcher  eine  Flötenfabrik  besass^),  Hess  ihm  eine 
ungewöhnliche  Erziehung  erteilen,  wie  sie  wenige  der  jungen 
Athener  damals  genossen^)  und  so  trug  er  schon  als  Knabe 
einen  Sieg  davon.  Später  hörte  Isokrates  den  berühmten  Gor- 
gias^);  auch  bezeugt  Plato,  das  er  mit  Sokrates,  der  sich  viel 
von  ihm  versprach,  umging").  Ein  eigentlicher  Sokratiker 
wurde  aber  Isokrates  nicht,  weil  ihn  Naturanlage  und  Neigung 
auf  die  Beredsamkeit  hinwiesen. 

Da  führte  der  dekeleische  Krieg  den  Ruin  vieler  athenischer 
Familien,  darunter  auch  der  unseres  Redners  herbei  und  Iso- 
krates, der  noch  drei  Geschwister  hatte,  musste  auf  die  Ver- 
wertung des  Erlernten  bedacht  sein  ^).  Weil  er  am  ehesten  von 
dem  Redenschreibeu  Geldgewinn  hoffen  durfte,  bequemte  sich 
Isokrates,  wiewohl  ihm  die  Gerichtshändei  widerstrebten,  mehrere 
Jahre  lang  dazu,  anderen  Leuten  für  Geld  Anklage-  und  Ver- 
teidigungsreden aufzusetzen,  eine  Thätigkeit,  deren  er  sich  später 
so  schämte,  dass  er  sie  gänzlich  verleugnete^);  seinen  Gegnern 
bot  sie  aber  einen  erwünschten  Angriffspunkt. 

1)  Biographen,  Themist.  orat.  II  p.  28  b,  IV  p.  60a.  Tzetz.  Ciiil.  11,652. 
Die  Mutter  soll  Hedyto  geheissen  haben  (Anon..  Z  2). 

2)  Aristophanes  u.  Strattis  bei  Ps.  Plut.  836  e,  Halbertsma  Mnemos. 
1855  p.  218  If.  meint,  Isokrates  habe  dieses  Gespräch  fortgeführt;  in  der  That 
gab  Strattis  ihm  selbst  den  Namen  ahkotpoKfi^  (Anon.  Z.  82).  Philostratos  §  4 
bestreitet  es. 

3)  Isocrates  15,161;  Siegerstatue  auf  der  Akropolis  Ps.  Plut.  839  b,  vgl. 
Plat.  Phaedr.  279a  nXeov  y|  TccxiSoiv  o'.svi'^Y.oi, 

4)  Aristoteles  bei  Quintil.  3,  1,  13;  auch  auf  dem  Grabdenkmale  des 
Isokrates  war  er  abgebildet.  Dionysios,  Plutarch  836  f  und  Suidas  nennen 
ausserdem  Prodikos  (auch  Anon.  Z.  85),  Teisias  und  Theramenes  (auch  Anon. 
u,  Schol.  Aristoph.  Pax  541).  Eine  den  letzteren  betreffende  Anekdote  steht 
Ps.  Plut,  836 fu.  Anon.  Z.  18 ff.  (vgl.  Bakius  schol.  hypomnemata  III  48 flf.) 
aber  statt  Isokrates  ist  Sokrates'  Name  einzusetzen  (Diodor.  14,  5,  2,  vgl. 
Harles  zu  Fabric.  bibl.  Gr.  II  777  f.)  wie  in  der  Erzählung  bei  Ps.  Plut.  839a. 
Suidas  zählt  ausserdem  einen  Erginos  auf;  Kuhnken  bist.  orat.  p.  42  und 
Blass  II  S.  13  denken  an  den  redegewandten  Staatsmann  Archinos. 

6)  Plato  Phaedr.  278 e.  279a,  Anekdote  Ps.  Plut.  838  e  und  Olympiod. 
in  Plat.  Gorg.  p.  392.  Spuren  sokratischer  Denkweise  weisen  nach  C.  Aug. 
Krook  Isocrates  ställning  til  sofisterna  och  Sokrates,  Helsingfors  1856  und 
H.  Schröder  quaestiones  Isocratsae  duae,  Utrecht  1859  p.  1 — 41. 

6)  Isoer.  15,  161  f.;  über  die  Geschwister  Ps.  Plut.  836  e. 

7)  Isoer.  12,11.  15, 161  f.,  wie  auch  sein  Schüler  Kephisodoros;  Aristot. 
warf  ihm  „ganze  Konvolute"  von  Gerichtsreden  vor  (Dionys.  18).  Vgl.  Bakius 
schol.  hypomu.  III  60 f.  Rehdan  tz  Gott.  Gel.  Anz.   1872  S.   1173. 

7* 


100  fünftes  Kapitel. 

Aus  dieser  Periode  seines  Lebens  stammen  die  erhaltenen 
drei  Gericlitsreden  (XVII. — XIX.),  von  denen  zwei  über 
fingierte  Fälle  geschriebenen  Deklamationen  XX.  und  XXI. 
und  die  nur  die  äussere  Form  von  Gerichtsreden  festhaltenden 
Stücke  XV.  und  XVI.  zu  sclieiden  sind  ^). 

Den  Anfänger,  der  sich  in  die  ihm  peinliche  Aufgabe  noch 
nicht  mit  Anstand  zu  schicken  weiss,  führt  uns  die  Rode  gegen 
Kallimachos  (XVIII.)  vor.  Isokrates  verfasste  sie  nach  dem 
Erlasse  der  Anarchie  (§  1),  vielleicht  noch  vor  400^)  für  einen 
ungenannten  Athener,  welcher  die  Klage  des  Kallimachos  durch 
Erhebung  der  Paragraphe  zu  parieren  versuchte.  Die  Rede 
schleppt  sich  in  einförmigem  Flusse,  von  keiner  Abschweifung 
unterbrochen,  dahin;  die  häufigen  rhetorischen  Fragen  können 
das  Fehlen  der  Frische  und  Lebendigkeit  nicht  ersetzen.  Nur 
hie  und  da  wie  §  11  rafft  sich  der  Redner  zu  kräftigeren  Aus- 
drücken auf^). 

Dass  aber  Isokrates  auch  in  dieser  Redegattung  der  Meister- 
schaft allmälig  nahe  kam,  thun  zwei  recht  hübsch  gearbeitete 
Reden  dar,  welche  ein  ziemlich  langer  Zeitraum  von  jenem 
Versuche  scheidet.  Den  Trapezitikos  (XVII.)  sprach  der 
Sohn  eines  vornehmen  Skythen,  nach  dessen  Behauptung  der 
angesehene  Banquier  Pasion  ein  Depositum  unterschlagen  hatte. 
Der  Frozess,  welcher  in  die  Jahre  nach  der  Schlacht  von  Knidos 
(395,  §  36)  und  vor  dem  Tod  des  bosporanischen  Königs 
Satyros  (§  57  u.  ö.,  äusserstenfalls  387)^)  fällt,  lag  für  den 
Sprecher,  der  keine  Zeugen  hatte,  sehr  misslich,  zumal  da  der 
Angeklagte  in  hohem  Ansehen  stand ;  diese  Bedenken  konnten 
aber  keinen  griechischen  Advokaten  abschrecken,  im  Gegenteil 
bot  der  gewiss  das  grösste  Aufsehen  erregende  Prozess  Isokrates 


1)  Nach  Kyprianos  tot  in^ppfjta  zoö  'looxpatou?  S.  22  Aura.  u.  Eni. 
Havet  iutroductioa  au  discours  d'Isocrate  sur  l'antidosis,  i'aris  1863  p.  222 
wurde  keiue  dieser  Gerichtsreden  wirklich  gehalten. 

2)  Blas.s  II  196  mit  Anm.  4  bestimmt  nach  §  27 ff.  45 If.  als  terminus 
ante  quem  das  Jahr  397;    Dobree  adversaria  I  281  setzt  die  Rede  Ol.  95  an. 

3)  Deshalb  wahrscheinlich  zweifelten  Dobree  adversaria  I  281  u.  Hal- 
bertsma  Mnemos.  1865  S.  221 II.  die  Echtheit  an,  dagegen  Fulv.  Ursinus 
Virgilius  cum  üraecis  scriptoril)us  collatus  p.  230,  weil  er  in  seiner  Hand- 
schrift des  Harpokratiou  v.  'l'ivtov  ^l^aio';  statt  'iGoxpätYji:  citiert  fand. 

4)  Den  Tod  dieses  Königs  setzte  man  früher  Ol.  96,4  (393/2);  vgl.  aber 
jetzt  Arn.  Schäfer  Rhein.  Mus.  23,  418ff. 


Die  Vollendung  der  Knnstrede  :  Isokrates.  101 

Gelegenheit,  wenn  er  durch  die  Anwendung  aller  Kniffe  und 
Sophismen  seiner  Sache  den  Schein  des  Rechtes  lieh,  seine 
Klientel  zu  vermehren^). 

Während  man  bei  dem  Lesen  dieser  Rede  die  Rabulisterei 
unangenehm  empfindet,  erweckt  der  Aiginetikos  (XIX.)  einen 
günstigeren  Eindruck.  Denn  der  vornehme  Siphnier ,  für 
welchen  Isokrates  dieses  Mal  arbeitete,  verteidigt  nicht  bloss 
vor  einem  äginetischen  Gerichtshofe  seine  Ansprüche  auf  das 
Erbe  eines  Freundes  mit  grosser  juristischer  Gewandtheit,  sondern 
er  entwirft  auch  zugleich  ein  hübsches  Bild  der  Freundschaft, 
die  ihn  mit  dem  Erblasser  verband ,  und  stellt  die  tödliche 
Krankheit  wie  auch  die  von  ihm  geübte  unermüdhche  Pflege 
anziehend  dar.  Wenn  auch  der  Redner  selbst  keinerlei  An- 
deutung über  die  Zeit,  wo  der  Prozess  zur  Verhandlung  kam, 
bietet,  muss  die  Rede  wegen  ihrer  Vollendung  in  die  letzte 
Zeit  seiner  Advokatur  gehören  ^) ;  es  darf  dabei  nicht  ver- 
schwiegen bleiben,  dass  Isokrates,  wie  diese  Rede  am  besten 
zeigt,  von  seinem  Gegner  Lysias  vieles  zu  lernen  wusste.  Sein 
eigener  Ruf  war  damals  offenbar  schon  über  die  Grenzen  seines 
engeren  Vaterlandes  hinausgedrungen. 

Man  darf  annehmen,  dass  Isokrates  in  jenen  Jahren  zu- 
gleich Reden  schrieb  und,  wie  Thrasymachos  und  die  Anderen, 
junge  Leute  an  sich  zog,  um  sie  für  den  Gerichtssaal  vorzu- 
bereiten. Denn  von  zwei  Uebungsstücken,  welche  zu  Schul- 
zwecken fingierte  Fälle  behandeln,  scheint  wenigstens  das  eine 
echt^).  Der  Rhetor  stellt  in  Form  eines  Epiloges  (XX.)  Ge- 
meinplätze über  Körperverletzung  zusammen ;  individuelle  Züge 
fehlen  so  sehr,  dass  sogar  der  Name  des  Angeklagten,  Lochites 


1)  Wegen  der  Misslichkeit  der  Sache  leugnen  Cobet,  Halbe rtsma 
a.  O.  und  Benseier  Ausgabe  p.  X  a.  1.  XI  a.  1  die  Echtheit  und  G  r  o  s  s  e 
über  Isokrates'  Trapezitikos,  Arnstadt  1884,  der  p.  8—16  die  Sophismen  aufdeckt, 
hält  sie  für  eine  Schulrede,  wie  auch  Hier.  Wolf  gedacht  hatte.  Aus  formalen 
Gründen  sucht  Kays  er  Jahrbb.  f.  Philol.  73,  356  ff.  die  Unechtheit  zu  be- 
weisen. Dagegen  verteidigt  L.  Galle  de  Isocratis  oratione  trapezitica, 
Dresden  1884  (Diss.  v.  Leipzig)  den  isokratischen  Ursprung. 

2)  Blass  II  S.  215  nimmt  wohl  richtig  an,  dass  sie  frühestens  390 
geschrieben  ist;  Benseier  hatte  an  das  Jahr  402,  Pfund  an  397  gedacht. 
O.  Müller  Aeginetica  p.  131  setzt  sie  gar  nach  Ol.  104,4  (361).  Halbertsma 
verwirft  auch  diese  Rede. 

3)  Harpokration  citiert  keines  von  beiden. 


102  Fünftes  Kapitel. 

auf  den  Gegenstand  der  Klage  anspielt.  Für  die  Echtheit  der 
Rede  spricht  die  Abneigung  gegen  den  Hiatus');  auch  erinnert 
die  Fülle  dos  Ausdrucks  an  Isokrates. 

Da  hingegen  die  Rede  gegen  Euthynos  (XXI.)  in 
beiden  Beziehungen  von  den  Grundsätzen  des  Isokrates  ab- 
weicht^), kann  sie  nicht  von  ihm  herrühren-'*).  Es  steht  aller- 
dings sowohl  durch  das  Zeugnis  des  Aristoteles  als  durch  die 
Gegenschriften  des  Antisthenes  und  Speusippos  fest*),  dass 
Isokrates  eine  Rede  entwarf,  worin  ein  ähnliches  Thema  be- 
handelt war,  wie  das  wirkliche  Leben  im  Trapezitikos  bot;  er 
nannte  auch  bereits  den  Angeklagten,  der  Rechenschaft  (eo^uva) 
über  ein  unter  vier  Augen  anvertrautes  Depositum  ablegen 
soll,  Euthynos.  Die  Sachlage  war  für  den  Ankläger  möglichst 
schwierig  gestellt,  weil  er  durch  blosse  Schlüsse  die  Schuld  des 
Angeklagten  nachzuweisen  hatte.  Wie  man  nun  dieser  auch 
a^äpzopoQ  genannten  Rede  im  Namen  seines  Rivalen  Lysias 
eine  Verteidigungsrede  entgegenstellte  ^),  so  befremdet  es  nicht, 
dass  ein  späterer  Rhetor  denselben  Gegenstand,  die  interessan- 
teste Aufgabe  der  gerichtlichen  Dialektik,  von  neuem  be- 
arbeitete. 

Die  literarische  Debatte  insbesondere,  welche  dieser  Rede 
folgte,  mag  Isokrates  veranlasst  haben,  die  Beschäftigung  mit 
der  gerichtlichen  Beredsamkeit  aufzugeben  und  ein  seinen 
Neigungen   mehr   zusagendes  Gebiet    zu    suchen^).     Etwa    um 

1)  Benseier  de  hiatu  in  oratoribus  Atticis  p.  60  f. 

2)  Benseier  a.  O.  p.  56. 

3)  Die  Echtheit  verteidigen  Usener  Rhein.  Mus.  25,  603  und  Blass 
II  203 f.;  Weissenborn  (in  Ersch  und  Gnibers  Encycl.)  Isokrates  8.  67  ver- 
mutet, sie  sei  unvollendet.  Nach  Blass  ging  der  Schluss  der  Rede  verloren  ; 
aber  ein  pathetischer  Epilog  passte  nicht  recht  für  eine  Rede,  welche  bloss 
ein  Kunststück  der  Dialektik  sein  sollte. 

4)  Aristot.  rhet.  2,  19  p.  1392b  11  (das  angeführte  findet  sich  in  der 
erhaltenen  Rede  nicht);  Antisthenes  schrieb  jcpö?  xbv  'laoxpatouc  ftfidpTupov 
(Diogen.  6,  16,  nach  Usener  quaestion.  Anaxim,  p.  7  und  Rhein.  Mus. 
35,  144f.  mit  dem  Dialog  irepl  ^'.xofpä'ftuv  ^)  Aoata?  xal  'looxpä-CTjc  identisch). 
Speu.sippo8  Ttpöc  zbv  öt(j.(ipxopov  (Diogen.  4,5);  auf  diese  Schrift  bezieht  sich 
die  ungeschickt  gefasste  Notiz :  itpwtoc  irapa  'laoxpdxQüi;  xa  xaXoüjxsva  ftitöppfjxa 
eir^\iv(nev,  u»?  «pYjol  Kaivso?  (Diogen.  4,  2). 

5)  Vgl.  Sauppe  oratores  Att.  II  p.  199  =  187  (von  Harpokration  nicht 
bezeugt). 

6)  Cic.  Brut.  12,  48  entstellt«  natürlich  Aristoteles,  als  er  ihn  sagen  Hess: 
cum    ex  eo  quasi  committeret  contra  legem  quo  quis  judicio  circumvcniretur, 


Die  Volleudung  der  Kunstrede:  Isokrates.  103 

das  Jahr  390,  also  uiigefälir  fünfundvierzig  Jahre  alt  begann 
er  junge  Athener  an  sich  zu  ziehen,  welche  für  das  öffentliche 
Leben  im  allgemeinen  vorgebildet  werden  wollten  ^) ;  von  ihnen 
nahm  später  Androtion  die  einflussreichste  Stelle  ein,  doch  war 
er  so  verrufen,  dass  Isokrates  seinen  Schüler  verleugnete  ^). 

In  diese  Zeit-^)  fällt  die  Programmrede  „gegen  die 
Sophisten"  (XIII.),  worin  sich  Isokrates  gegen  alle  seine 
Konkurrenten  wendete.  Er  bekämpft  nicht  Personen^),  sondern 
Richtungen,  zunächst  die  Dialektiker  (§  1 — 8),  hierauf  die 
Gorgianer  (ot  too?  ttoXitlxodc  Xöyodc  D7:La^vo6[i£Vot,  §  9  — 13), 
worauf  er  als  Programm  seiner  Schule  aufstellt,  mit  der  üebung 
müsse  natürliche  Anlage  der  Schüler  zusammenwirken  (§  14 — 18). 
Was  aber  den  Lehrer  angeht,  so  hat  er  nicht  bloss  die  Theorie 
gründlich  vorzutragen,  sondern  zugleich  durch  sein  eigenes 
Beispiel  die  Zuhörer  zur  Nacheiferung  anzuregen.  Nachdem 
er  mit  verächtlicher  Kürze  die  Lehrer  der  gerichtlichen  Bered- 
samkeit gestreift  (§  19.  20),  wendet  er  sich  nochmals  kurz  gegen 
jene  beiden  Klassen  seiner  Gegner  und  hebt  wiederum  die 
Notwendigkeit  natürlicher  Anlage  hervor  (20.  21)  *'').  Der  Schluss 
der  Rede  ist  bis  auf  ein  kleines  Stück  verloren  gegangen. 

saepe  ipse  in  Judicium  vocaretur  (indes  deutet  auch  das  Gerücht  Ps.  Phit.  837a 
auf  gerichtliche  Verfolgung);  Usener  Ehein.  Mus.  35,  141  fl'.  erkannte,  dass 
sich  diese  Worte  ursprünglich  auf  die  Polemik  der  Philosophen  bezogen. 

1)  Vgl.  die  genauen  Untersuchungen  von  Rehdan tz  Gott.  gel.  Anz.  1872 
S.  1174  ff.  und  Blass  II  S.  17  ff.,  wozu  Isokrates'  eigene  Worte  (15,  195 
VEÜ)t£poc  und  (tv-iiäCuiv)  passen.  Chronologische  Gründe  (Susemihl  index 
lect.  aestiv.  Greifswald  1884  p.  15  f.)  und  die  Vergleichung  der  Quellen  (Br. 
Keil  analecta  Isocratea  p.  93 f.)  sprechen  gegen  die  Behauptung  (tivei;  bei 
Ps.  Plut.  837  b,  nach  dessen  Worten  die  Abfassung  des  Panegyrikos  vorher- 
ging), dass  er  auf  Chios  lehrte  und  die  athenische  Verfassung  dort  einführte. 
Zur  Emendation  der  Stelle  A.  Schäfer  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1848  Sp.  261. 

2)  15,  93  erwähnt  er  ihn  nicht. 

3)  Isoer.  15,  93  ox'  y]P)(6[jly)v  irspl  taoxfjv  elvat  xtjv  TTpaYfiaxetav,  X6yov 
SteScuxa  Ypöt*}«?' 

4)  Man  bemüht  sich  oft,  die  Angegriffenen  näher  zu  bestimmen;  mit 
den  Dialektikern  sollen  die  Megariker  (S  p  e  n  g  e  1  Isokrates  und  Plato  S.  747), 
Antisthenes  (Usen  er  quaestiones  Anaximeneae  p.  12f.  Ueberweg  Echtheit 
und  Zeitfolge  der  plat.  Schriften  S.  257),  Plato  (Bonitz  platonische  Studien 
2,  40  und  Conr.  Fischer  über  die  Person  des  Logographen  in  Piatons 
Euthydera,  Progr.  v.  Lemberg  1880;  nach  letzterem  replicierte  der  Philosoph 
im  Euthydem)  gemeint  sein. 

5)  Aristoteles  (a.  O.)  sagte  daher  spöttisch:  primo  artem  dicendi  esse 
negavisse. 


J04  Fünftes  Kapitel. 

Obgleich  Isokrates  bezüglich  der  Methode  des  Unterrichts 
von  den  gewöhnUchen  Rhetoren  sich  entschieden  lossagte,  ging 
er  in  Bezug  auf  die  Stoffe  anfangs  nicht  so  radikal  vor.  Die 
älteren  Reden  zeigen  nur  Ansätze,  sich  von  den  hergebrachten 
Formen  zu  emancipieren ;  Isokrates  kämpft  gegen  letztere  an, 
ohne  dass  er  endgiltig  mit  ihnen  bricht. 

Viele  Aehnlichkeiten  mit  seiner  Antrittsrede  weist  die 
„Helena"  (X.)auf^),  in  welcher  Isokrates  die  Eristiker  (§  1 — 6) 
und  die  Rhetoren  (§  7 — 13)  noch  heftiger  angreift;  der  Redner 
beschränkt  jedoch  seine  Polemik  diesmal  auf  eine  Gattung  von  ■1 
Themen,  indem  er  die  Unsitte,  an  paradoxe  oder  unwürdige  ' 
Themen  den  Scharfsinn  zu  verschwenden,  mit  scharfen  Worten 
tadelt  und  zur  Wahl  edler  Stoffe  auffordert.  In  dieser  Beziehung 
empfängt  ein  Ungenannter,  der  ein  Lob  der  Helena  geschrieben 
hat,  von  ihm  Anerkennung,  indes  tadelt  Isokrates  die  Aus- 
führung (§  14.  15).  Um  aber  nicht  bloss  abzusprechen,  wie  er 
sagt,  unternimmt  der  Redner  selbst  ein  Enkomion  auf  die 
Tochter  des  Zeus  zu  schreiben ;  dieses  ist  so  vollständig  nach 
gorgianischer  Weise  ausgeführt,  dass  Isokrates  lange  Exkurse 
über  die  Schönheit  und  gar  über  Theseus  (§  21 — 38)  ^),  was 
mehr  dem  Patriotismus  als  der  Kompositionskunst  des  Redners 
Ehre  macht,  einflicht.  Am  Schlüsse  empfiehlt  er  noch  seinen 
Schülern  ein  Thema  zur  Bearbeitung. 

Ein  noch  grösseres  Selbstbewusstsein  tritt  in  der  Rede 
„Busiris"  (XI.)  ^)  zu  Tage;  diese  richtet  sich  nicht  mehr  gegen 
Schulen,  sondern  greift  einen  einzelnen  Sophisten,  den  nicht 
unberühmten  Polykrates,  an.  Es  macht  einen  peinlichen  Ein- 
druck zu  sehen,  wie  Isokrates  den  älteren  Mann,   der  ihn  an- 


1)  Nach  Welcker  kleine  Schriften  2,  428  ist  sie  in  hohem  Alter  ver- 
faset;  auch  .T.  Zycha  Bemerkungen  zu  den  Anspielungen  in  der  13.  und  10. 
Rede  des  Isokrates,  Pr.  des  Leopoldst.  Obergymn.,  Wien  1880  und  Br.  Keil 
anall.  Isoer.  p.  8,  der  sie  um  366  ansetzt,  rechnen  sie  nicht  zu  den  Erstlings- 
werken. Der  Titel  lautet  in  den  Handschriften  'EXevyj';  eyx(Ö]X'.ov,  in  ver- 
schiedenen Citaten  bloss  'KXevy]  (Keil  a.  O.  p.  132 f.)  Das  Argument  scheint 
zn  zeigen,  djiss  Polykrates  gegen  die  „Helena"  schrieb  oder  wenigstens  dass 
eine  Streitschrift  mit  seinem  Namen  vorhanden  war. 

2)  Lnciaa.  encom.  Demosthenis  10  nennt  diesen  Exkurs  spöttisch 
napE|JLiTÖpeo{x<'/. 

3)  Als  die  frülieste  epideiktische  Retle  des  Isokratea  betrachtet  sie 
H.  Sanppe  Ztsch.  f.  Altertlmmswiss.  1886  Sp.  408. 


Die  Vollendung  der  Kunstrede :  Isokrates.  105 

scheinend  nicht  einmal  gereizt  hat,  mit  dem  ausgesprochenen 
Gefühle  unendhcher  Ueberlegenheit  wie  einen  Schüler  auf  seine 
Fehler  hinweist.  Polykrates  mag  in  der  Tliat  Busiris  mit  wenig 
Erfolg  gelobt  haben  und  auch  mit  der  Anklage  des  Sokrates  ^) 
nicht  glücklicher  gewesen  sein,  aber  wenn  nun  Isokrates  das- 
selbe Thema  behandelt,  damit  sein  Konkurrent  sehe,  wie  er 
es  hätte  machen  sollen,  liefert  er  etw^as  anderes  als  ein  sophistisches 
Schaustück?  Isokrates  macht  sich  die  Aufgabe  dadurch  recht 
leicht,  dass  er  das  wunderbare  Nilland  mit  klangvollen  Phrasen 
preist  und  Basiris  nur  oberflächlich  (§  30)  damit  in  Beziehung 
setzt.  Ein  langer  Epilog  (§  44  ff.)  führt  Polykrates  wiederum 
seine  ganze  Unfähigkeit  vor  Augen  und  spricht  ziemlich  unver- 
blümt aus,  dass  keiner  so  tief  in  die  Beredsamkeit  eingedrungen 
sei  als  der  Verfasser. 

Die  Rede  ist  vielleicht  383  oder  bald  nachher  verfasst  ^), 
damals  arbeitete  Isokrates  an  einer  Schrift,  welche  ihn  zum 
berühmtesten  Rhetor  Athens  machte.  Vor  dieser  sei  aber, 
weil  sie  bereits  zur  zweiten  Periode  seines  Schaffens  überleitet, 
eine  eigentümliche  Rede  eingeschaltet,  deren  Gegenstand  Isokrates 
später  in  völlig  anderer  Form  ausgeführt  hätte.  Da  die  damalige 
Sophistensitte  Lob-  und  Verteidigungsreden  fast  nur  bei  Heroen 
gestattete,  musste  Isokrates  gleichsam  auf  einem  Umwege  Alki- 
biades  loben,  wozu  ihm  vielleicht  die  von  Lysias  verfasste 
Verteidigung  des  Nikias  als  Vorbild  diente.  So  entstand  die 
Rede  „über  das  Gespann"  (XVI.);  Isokrates  nimmt  zum 
Ausgangspunkt  die  Fiktion,  der  Sohn  des  Alkibiades  sei  von 
Teisias,  welchem  jener  zu  Olympia  ein  Gespann  wegnahm,  zum 
Schadenersatz  vor  Gericht  gefordert  und  entgegne,  nachdem  er 
die  Anklage  zurückgewiesen,  auf  die  Schmähungen,  welche 
Teisias  gegen  seinen  Vater  geschleudert  habe.  Die  Rede  er- 
scheint also  wie  der  zweite  Teil  einer  vor  Gericht  gehaltenen 
Verteidigung.  Wann  immer  man  auch  jene  Gewaltthat  ansetzen 
mag,  in  jedem  Falle  war  die  Sache  verjährt.  Der  Anfang  der 
Verteidigung  wurde  demnach  nie  geschrieben,  weil  der  Process  nie 


1)  Auf  diese   geht  Isokrates  nicht  ein,   wahrscheinlich   weil  bereits  die 
Gegenschrift  des  Lysias  erschienen  war  (Meier  index  lect.  Hai.  aestiv.  1831), 

2)  §  19   wirft  Isokrates   den  Spartanern  vor,    dass  sie  sich  an  fremdem 
Eigentum  vergreifen. 


1Q6  Fünftes  Kapitel. 

stattfand  0-  Gegen  wen  ist  ferner  die  Rede  geschrieben  ?  Be- 
kanntlich existiert  eine  gegen  den  jüngeren  Alkibiades  gerichtete 
Rede  des  Lysias  (XIV.),  in  welcher  sein  Vater  §  30 — 40  scharf 
mitgenommen  wird ;  dabei  stimmt  besonders  §  30  auffällig  mit 
§  10  unserer  Rede  überein  ^).  Nun  nennt  Isokrates  den  An- 
kläger Teisias,  während  der  Geschädigte  nach  dem  Zeugnisse 
der  Historiker^)  Diomedes  hiess,  und  es  gibt  schwerlich  ein 
passenderes  Pseudonym  für  Lysias  als  den  Namen  des  syra- 
kusanischen  Gerichtsredners.  Die  395/4^)  gehaltene  Rede  des  ^ 
Lysias  gibt  einen  termirms  post  quem  ab  ^).  Isokrates  hat  ■■ 
übrigens  schon  durch  die  äussere  Form  der  Rede  zu  verstehen  " 
gegeben,  dass  sie  nicht  für  einen  wirklichen  Fall  bestimmt 
war.  Wir  finden  alle  Ingredienzien  des  Prunkstiles  mit  vollen 
Händen  angewendet,  Antithesen  (die  zum  Teil  geistreich  sind), 
umfängliche  häufig  durch  Participien  geschwellte  Perioden  (z.  B. 
16.  26  f),  gewählte  Worte,  Paare  von  Synonyma,  Vermeidung 
des  Hiatus  ^)  und  sorgfältige  Rhythmik,  wobei  die  trochäischen 
Schlüsse  beliebt  sind;  historische  Genauigkeit  darf  man  eben- 
falls in  einer  epideiktischen  Rede  nicht  suchen  '). 

Isokrates  wich  also  als  Schriftsteller  anfänglich  von  den  sophist- 
ischen Traditionen  nicht  viel  ab ;  er  selbst  war,  wie  gelegentliche 
Aeusserungen  ^)  erkennen  lassen,  darüber  nicht  im  unklaren.  Als 


I 


1)  Dass  im  codex  Urbinas  ein  Stück  des  Anfangs  fehlt,  beweist  nichts  ; 
es  ist  nur  ein  Blatt  ausgefallen.  Br.  Keil  auall.  Isoer.  p.  95  f.  will  in  Athen. 
5,  215  e  (welche  Stelle  übrigens  nicht  mehr  aus  Demochares  ist)  einen  Hin- 
weis auf  den  verlorenen  Anfang  finden.  Vgl.  für  die  Vollständigkeit  Zycha 
Wiener  Studien  6,  23  flf. 

2)  Blass  II  206  A.  6.  Nach  Sachse  quaestt.  I^ysiac.  spec.  Halle  1873 
p.  30  ff.  bezieht  er  sich  auch  auf  die  lysianische  Rede  gegen  Poliochos. 

3)  Diodor.  13,  74,  3.  Plut.  Akib.  12,  vgl  Ps.  Andocid.  4,  26.  Ueber 
die  Identität  Starke  de  Isocratis  oratione  npbq  KaXXi(ia)(ov  et  Ttepl  xoü 
CtüYOüc,  Posen  1856  p.  16  ff. 

4)  Blass  I  486. 

5)  Dazu  passt  §  4  ttüv   Se  vewtepcDV  evexa  oi  t&v  |iJv  izpaf\t.äxuiv  ootepoi 

6)  §  42  ist  durch  doppeltes  yj  entschuldigt;  §  50  Suv-fjoetat,  i-fiü  steht 
im  Epilog. 

7)  Wegen  der  Verdrehung  dcsThatbestandes  beanstandet  von  C.  Chr.  M  a  u  v  e 
de  oratione  Isocratea  quae  inbcribitur  de  bigis,  Arnheira  1878  (Diss.  v,  Leiden). 

8)  Ich  meine  die  Auseinandersetzung  über  die  Paradoxa  in  der  „Helena", 
ferner  11,  9  önoO'eoiv  xaittep  ob  ortouSatav  ouaav  obhi  oep,voüC  Xöfooc  e^oooav. 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  107 

athenischer  Bürger  hatte  er  aber  bei  seinem  Rednertalente  das 
Recht  und  beinahe  die  Pflicht,  als  politischer  Redner  in  der 
Volksversammlung  aufzutreten;  doch  besass  Isokrates  weder 
eine  starke  Stimme  noch  Keckheit,  zwei  Eigenschaften,  welche 
unter  den  unruhigen  Athenern  dem  Politiker  unerlässlich  waren  ^). 
Ueberdies  gehörte  Isokrates  zu  den  Bürgern,  welche  die  Rück- 
kehr zur  Verfassung  des  Kleisthenes  wünschten  und  mit  den 
Regierungsmännern  nicht  einverstanden  waren.  Da  er  sich 
jedoch  den  Staatsmännern  seiner  Zeit  an  Einsicht  und  Bered- 
samkeit überlegen  fühlte,  begann  Isokrates  für  seine  Ideen 
durch  Flugschriften,  welche  die  Form  von  Reden  wahrten, 
Propaganda  zu  machen. 

Diesen  Gedanken  erfasste  Isokrates  nicht  mit  plötzHchem 
Uebergange,  sondern  er  knüpfte  wieder  an  die  Schablone  der 
älteren  Sophisten  an.  Gorgias  war  vor  der  olympischen  Fest- 
versammlung aufgetreten  mit  der  Mahnung,  die  Hellenen  möchten 
den  Bruderzwist  aufgeben  und  ihre  vereinten  Kräfte  gegen  den 
Perserkönig  kehren;  dieselben  Gedanken  hatten  sie  nach  ihm 
an  den  heiligen  Stätten  von  anderen  Rednern  zu  hören  be- 
kommen. Isokrates  eignete  sich  jene  Ideen  an,  lagen  sie  doch 
damals  nach  dem  schmählichen  Ende  des  korinthischen  Krieges 
den  Patrioten  besonders  nahe ;  er  trat  indes  nicht  als  Festredner 
vor  die  Menge,  sondern  er  richtete  seine  Worte,  indem  die 
Fiktion  einer  wirklichen  Rede  festgehalten  wurde  *),  an  ein 
lesendes  Publikum.  Während  er  die  beliebten  Gemeinplätze 
der  olympischen  und  Leichen-Reden  ohne  Bedenken  wieder- 
holte ^),  wie  es  die  Epiker  einst  mit  den  Formeln  gethan 
hatten,  erkannte  der  Redner  mit  richtigem  BHcke,  dass  solange 
keine  Eintracht  zwischen  den  Staaten  Griechenlands  herrschen 
könne,  so  lange  nicht  die  Frage  der  Hegemonie  zum  Austrage 
gebracht  sei.     Darum  wird   für  den  athenischen  Patrioten  der 


1)  5,  81.  12,  9.  10;  übertrieben  bei  Ps.  Plut.  838 de.  Anon.  Z.  33fiF. 

2)  Darum  meinte  der  Khetor  Menandros  (Spengel  III  391,  3  flf.  Walz 
IX  251),  er  habe  seine  Rede  in  Olympia  vorgetragen;  L.  Prell  er  Demeter 
und  Persephone  S.  71  dachte  an  die  Panathenäen.  Aber  Isokrates  5,  84  sagt 
ausdrücklich  :  TrapsxaXeoojj.'/jv  xoli;  axouoo(jLEVoic  (nicht  axououot). 

3)  Vor  allem  natürlich  gorgianische  (s.  Blass  11  S.  240  A.  2),  was 
Ps.  Plutarch.  8371  und  Philostrat.  §  2  übertrieben,  vgl.  Theon  progymn.  p. 
63,  31  Sp. 


108  Fnnftes  Kapitel 

erste  Teil  seines  Pan  egyrikos  ^)  zu  einer  begeisterten  Schil- 
derung der  Verdienste,  welche  sich  Athen  seit  der  mythischen 
Zeit  um  alle  Hellenen  erworben  habe;  darum  gebühre  ihm 
wenigstens  zur  See  die  führende  Stelle.  Der  zweite  Teil  gilt 
dem  Perserkriege,  dessen  Erfolg  unzweifelhaft  sei.  Isokrates 
deutet  selbst  an,  dass  er  lange  an  der  Kede  gearbeitet  hat  (§  14.). 
Die  letzten  Ereignisse,  welche  er  erwähnt,  sind  die  Belagerung 
von  Olynthos  und  Phleius  (§  126),  deren  Uebergabe  379  erfolgte; 
dagegen  ist  nicht  mit  Bestimmtheit  festzustellen,  ob  die  Spartaner  i 
gegen  Ende  des  Jahres  381  oder  im  Frühjahre  380  gegen  ■■ 
Phleius  zogen.  Letzteres  wäre  der  äusserste  Termin  der  ■ 
Herausgabe,  weil  der  kyprische  König  Euagoras,  der  380  unterlag, 
sich  noch  gegen  die  Perser  hielt  ^).  Ist  es  nun  auch  bloss  eine 
rhetorische  Floskel,  wenn  Timaios  sagte,  Alexander  der  Grosse 
habe  in  weniger  Jahren  die  Eroberung  Asiens  als  Isokrates  den 
Panegyrikos  vollendet  %  so  hat  doch  sein  Lehrer  jedenfalls  die 
Schrift  unter  ganz  anderen  Umständen  (wahrscheinlich  in  den 
Friedensjahren  385 — 383)  begonnen  als  er  sie  vollendete.  Die 
spartanischen  Angriffe  auf  Olynth  und  Theben  riefen  in  Athen 
eine  gereizte  Stimmung  hervor,  welche  sich  bei  Isokrates  in 
einer  bitteren  Schilderung  der  lakedämonischen  Säbelherrschaft 
spiegelt*);  der  Redner  verkennt  selbst  nicht  (§  129),  dass  sie 
zu  seinen  versöhnlichen  Absichten  wenig  passe.  Er  arbeitete 
eben  zu  langsam  als  dass  er  nicht  von  den  rasch  sich  drängenden 
Ereignissen   überholt  worden    wäre^).      Obgleich    demnach    die 


1)  Mit  diesem  Namen  bezeichnet  ihn  Isokrates  selbst  6,  9  und  12,  172. 
Für  die  rhetorische  Beurteilung  ist  die  Üebersetzung ,  welche  Wieland  im 
Attischen  Museum  I  1  von  der  Rede  gegeben  hat,  interessant. 

2)  §  !41.  Vgl.  Blass  II  230  f.,  der  dem  Diodor  (15,  8)  einen  Irrtum 
nachweist,  s.  jedoch  III  2,  350  f. 

3)  llepl  ß^J^ooc  4,  2;  Pedanten  errechneten  daraus  zehn  Jahre  (FI.  otj^ooc 
a.  O.  Dionys.  compos.  verb.  26  ü><;  ol  xiv  e).a/taxov  •;(p6vov  YpäcpovTEi;  ötTtotpatvooai 
(Quintil.  10,  4,  4].  l's.  Plut.  837  f;  anders  erklärt  Keil  anall.  Isoer.  p,  6 
A.  1  die  Zahl)  oder  fast  drei  Olympiaden  (Plutarch.  glor.  Ath.  8  p.  350  e) 
oder  fünfzehn  Jahre  (ol  U  bei  Ps.  Plut.  a.  O.).  Tzetz.  Chil.  11,  672  übertrug 
dies  auf  den  Panathenaikos. 

4)  Nitsche  Ztsch.  f.  Gymna.sialwesen,  Jahresberichte  1874  S.  59  glaubt, 
Isokrates  bekämpfe  die  erste  Ausgabe  von  Xenophons  Hellenika. 

6)  W.  Heinr.  pjugel  de  tempore  quo  divulgatus  sit  Isocratis  panegyricus, 
Stargard  1861  und  Rauchenstein  in  seiner  Ausgabe  S.  21  f.  nahmen 
w^en  Diodor  (s.  Anm.  2)  an,  die  Rede  sei  385/4  abgeschlossen   worden  und 


Die  Vollendutig  der  Kunstrede:  Isokrates.  109 

Rede  zu  spät  kam,  war  der  Erfolg  grossartig;  Isokrates,  der 
schon  zur  Zeit  der  Abfassung  ein  angesehener  Lehrer  war  *), 
übertraf  mit  dem  Fanegyrikos  alle  bis  dahin  aufgetretenen 
Redner  und  er  hat  in  rhetorischer  Beziehung  diese  Höhe  später 
vielleicht  nie  mehr  erreicht. 

Bald  nachher  bot  sich  Isokrates  eine  Gelegenheit  für 
politisches  Wirken,  Euagoras  von  Salamis,  welcher  ohne  selbst 
gebildet  zu  sein ,  mit  den  Vertretern  der  hellenischen  Bildung 
Fühlung  suchte,  hatte  seinen  Sohn  Nikokles  zu  Isokrates  ge- 
sandt ^).  Als  dieser  durch  den  Tod  des  Euagoras  Ol.  101,  3 
(o74/3)  die  Herrschaft  erhielt,  glaubte  sich  Isokrates  verpflichtet, 
seinen  Schüler  über  die  Pflichten  eines  Fürsten  zu  belehren. 
Die  Rede  an  Nikokles  (H.)  ^)  ist  also  ein  Fürstenspiegel; 
wie  so  häufig,  ersetzt  Isokrates  den  Mangel  an  Komposition 
durch  sorgfältige  Ausführung  des  einzelnen.  Doch  lässt  der 
spröde  Gegenstand  seinen  Redefluss  nicht  recht  zur  Entfaltung 
kommen. 

Etwas  später"*)  sandte  Isokrates  an  seinen  fürstlichen  Zög- 
ling ein  zweites  Sendschreiben ,  welches  ein  Enkomion  auf 
l^]uagoras  (IV.)  enthielt-'').  Er  hebt  mit  Selbstgefühl  hervor, 
<iass  er  damit  der  Redekunst  ein  neues  Gebiet  eröffne  (§  5  ff".) 
und  wirklich  verherrlichten  die  Früheren  ausser  den  mythischen 
Heroen  höchstens  Helden  der  Perserkriege.     Isokrates  will  nun 


Isokrates  habe  §  125 — 132  erst  später  eingelegt,  dabei  aber  §  141  zu  ändern 
vergessen.  Wie  mir  scheint,  wollte  Isokrates  auft^ngs  nnr  die  üble  Behand- 
lung der  ehemaligen  Unterthanen  Athens  rügen,  vgl.  §  122  und  132. 

1)  Für  Isokrates  war  ohne  Zweifel  Athen  eine  Bildungsstätte  von  Hellas 
(§  50)  deshalb,  weil  er  sich  selbst  iu  hervorragendem  Maasse  daran  beteiligt 
wusste.  —  Nach  Aelian.  var.  bist,  13,  11  begeisterte  der  Panegyrikos  Philipp 
und  Alexander  den  Grossen  zum  Perserkriege ;  er  hätte  deu  „Philippos" 
nennen  sollen  (Argum.  V.). 

2)  Isoor.  9,  78. 

3)  Hpöc  NixoxXea,  auch  mit  dem  Zusätze  uspl  xoü  ßaatXeusiv  oder  Tcepl 
yAZ'.Ktiaz.  Harpocr.  v.  0EOY''''^  •  iv  xalzTcpbf:  ^iv.ov.Xia  ()Tzo8"r\v.a.'.z,  H.Stephanus 
zweifelte,  ob  diese  Rede  von  uuserem  Isokrates  herrühre. 

4)  §  78.  Er  war  schon  alt  (§  73).  Nach  §  78  ist  die  Rede  vor  363 
wo  der  Isokrateer  Klearchos  die  Ty^nnis  errang,  geschrieben.  Nikokles  soll 
Isokrates  zwanzig  Talente  für  die  erste  Rede  geschenkt  haben  (Hermipp.  im 
Argum.  IL,  vgl.  Ps.  Plut.  838  a).     Isokrates    an  seinem  Hofe  Ps.  Plut.   838  f. 

ö)  Der  Titel  lautet  einfach  EüaY°P«'5- 


HO  Fünftes  Kapitel. 

auch  den  Männern  der  jüngsten  Vergangenheit  diese  Ehre  er- 
weisen und  wählt  dazu  Euagoras,  wobei  er  nach  dem  übHchen 
Schema  sein  Leben  von  der  Geburt  bis  zum  Grabe  verfolgt. 
Leider  fehlte  dem  Rhetor  die  persönliche  Bekanntschaft  mit 
seinem  Helden,  weshalb  er  individuelle  Züge  durch  Allgemein- 
heiten und  Hyperbeln  ersetzen  musste  ^). 

Bald  wandte  sich  Isokrates ,  dessen  Erwartungen  von 
Nikokles  nicht  gerechtfertigt  wurden,  den  Vorgängen  in  Hellas 
zu  und  behandelte  sie,  vielseitig  wie  er  war,  wieder  in  neuer 
Form.  Es  folgten  zwei  Reden,  bei  welchen  er  nicht  selbst  der 
Sprechende  ist.  Die  eine,  die  platäische  (nXaxaixöc  XIV.) 
scheint  Isokrates  wirklich  für  eine  Gesandtschaft  der  Platäer 
geschrieben  zu  haben  ^) ;  denn  wenn  er  auch  das  Schreiben  von 
Reden  im  Prinzip  aufgegeben  hatte,  handelte  es  sich  ja  hier 
um  eine  wichtige  politische  Angelegenheit.  Die  Platäer  flehten 
nämlich  gleich  nach  der  Zerstörung  ihrer  Stadt,  welche  01.101,  4 
(373/2)  oder  101,  3  (374/3)  3)  durch  die  Thebaner  erfolgte,  die 
Athener  um  Schutz  an,  wobei  sie  die  Aufgabe  hatten,  die  Vor- 
würfe der  Thebaner  zurückzuweisen,  die  beschworenen  Verträge 
anzurufen  und  in  Athen  eine  günstige  Stimmung  für  sich  her- 
vorzubringen. Isokrates  musste  hier  die  in  der  Volksversamm- 
lung übliche  Redeweise  wählen  und  der  sorgsamen  Ausfeilung 
entsagen,  schon  weil  die  Zeit  der  Vollendung  nicht  in  seinem 
Belieben  stand.  Trotz  seinem  geschickten  Plaidoyer  ver- 
hinderten Gründe  der  Pohtik,  dass  die  Platäer  ihren  Zweck 
erreichten. 


1)  §  58  S.  verschweigt  er  sogar  die  Hilfe,  welche  Euagoras  von  den 
Athenern  erhielt. 

2)  Dies  nimmt  Grote  Geschichte  Griechenlands  V  437  M.  an.  Die 
meisten  Gelehrten  (auch  Bloss  II  242)  sehen  in  ihr  eine  Deklamation;  aber 
vaticinationes  ex  eventu  sind  thatsächlich  nicht  vorhanden,  denn  die  Zer- 
störung von  Thespiai  (§  18)  und  den  erneuten  Krieg  mit  den  Spartanern 
(§  17.  43.)  musste  jeder  Politiker  damals  befürchten.  Die  Platäerrede  des 
Thukydides  ist  gar  nicht  benützt. 

3)  Ersteres  gibt  Tausanias  9,  1,  8  au,  letzteres  Diodor  15,  46  (mit  Zu- 
stimmung von  Clinton,  Benseier  in  der  Ausgabe  8.  11,  G.  Busolt  Jahrbb, 
f.  Phil.  Suppl.  7,  786  und  Blass  III  2,  #511'.);  wegen  oüvö-rjxai  10.  44  und 
elfiTjv/jc  §  14  (vgl.  Weisseuborn  Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1847  Sp.  921  und 
E.  Curtius  Griech.  Gesch.  IIP  776  A.  24)  war  der  Friede  von  374  bereits 
geschlossen. 


Öie  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  111 

Die  Platäerrede  dürfte  also  einem  praktischen  Zwecke  ge- 
dient haben,  das  Gegenteil  jedoch  steht  bei  dem  Archidamos 
VI.)*)  fest;  hier  dachte  sich  Isokrates,  der  spartanische  Kron- 
prinz Archidamos  ermahne  im  Jahre  365^)  die  Spartaner,  die 
Abtretung  Messeniens  um  keinen  Preis  zuzugeben,  sondern 
lieber  ihre  Familien  aus  dem  Lande  zu  senden  und  den  Wider- 
stand bis  zum  äussersten  fortzusetzen.  Weil  Isokrates  gerade 
Archidamos  und  nicht  seinen  berühmten  Vater  auftreten  lässt, 
scheint  die  Rede  erst  nach  dem  Tode  des  Agesilaos  (360)  ab- 
Liefasst  zu  sein^).  Trotzdem  war  sie  nicht  ohne  politische  Be- 
deutung, da  die  Spartaner  auf  Messenien  nie  verzichteten  und 
nach  Epameinondas'  Tode  neue  Hoffnungen  schöpften;  vor 
allem  aber  wollte  der  Reder  dem  befreundeten  Könige  ein 
Kompliment  machen  und  den  spartanischen  Staat  preisen  *), 
damit  die  herben  Stellen  des  Panegyrikos  vergessen  würden. 
Wir  haben  es  also  eigentlich  mit  einer  kunstreichen  Verschleier- 
ung der  panegyrischen  Absicht  zu  thun.  Darum  hält  sich 
Isokrates  nicht  im  mindesten  an  den  Stil  der  Staatsreden, 
sondern  bietet  seine  ganze  sophistische  Kunst  auf,  wofür  die 
Alten  der  Rede  das  höchste  Lob  gespendet  haben  ^). 

Isokrates  hatte  sich  bisher,  was  die  Verhältnisse  seiner 
Heimat  betraf,  jeder  Einmischung  enthalten;  als  jedoch  nach 
dem  Sturze  des  Kallistratos  des  Redners  Göimer  Timotheos 
grösseren  Einfluss  gewann  und  Eubulos  mit  der  Partei  der 
vermögenden  Bürger  seine  Friedenspolitik  durchzusetzen  ge- 
dachte, war  die  rechte  Gelegenheit  für  den  Schriftsteller  gekommen. 
In  zwei  Reden  setzte  er  seine  und  jener  Staatsmänner  Ansicht 
über  die  innere  und  äussere  Reform  des  athenischen  Staates 
auseinander.     Von   der    auswärtigen  Politik    zu    sprechen,    gab 

1)  Analysiert  von  Volkmann  Khetorik  der  Griechen  S.  255  ff. ;  nach 
Dionys.  Isoer.  9  wurde  sie  wirklich  von  Archidamos  gehalten  und  Bruno  Keil 
versetzt  sie  in  das  tiugierte  Jahr. 

2)  Nach  der  Wiederherstellung  Messenes  (28  f.)  und  vor  der  Schlacht 
von  Mautineia  (56), 

3)  Ueber  das  Todesjahr  des  Agesilaos  U  n  g  e  r  Chronologie  des  Manetho 
S.  311  ff.  Wenn  Demosthenes  in  der  ersten  philippischen  Rede  wirklich  das 
Proömium  des  Isokrates  und  nicht  einen  Gemeinplatz  benützte,  dann  ist 
auch  die  untere  Zeitgreuze  gegeben. 

4)  Isoer.  panath.  239. 

5)  Philostrat.  vit.  soph.   1,  17,  3. 


212  l^'ünfles  kapitel. 

der  Abfall  der  Bundesgenossen  Athens  einen  traurigen  Anlass. 
Isokrates  versetzt  daher  seine  Leser  in  die  Volksversammlung, 
welche  über  den  Friedensschluss  7a\  entscheiden  hatte.  Doch 
wird  diese  äussere  Einkleidung  der  Rede  über  den  Frieden 
(VIII.)  ^)  nur  flüchtig  angedeutet  (§  16.  25),  denn  statt  dass 
Isokrates  die  Gründe,  welche  zum  Frieden  drängten,  oder  die 
Bedingungen  des  Friedens  prüft,  will  er  die  Ansichten  des 
Eubulos  empfehlen.  Dieser  Aufgabe  entledigte  sich  der  Redner, 
obgleich  er  selbst  im  Panegyrikos  einer  anderen  Politik  das 
Wort  geredet  hatte,  mit  einer  Schärfe  des  Ausdrucks,  die  er  _^ 
nur  einem  gedemütigten  und  fast  ruinierten  Volke ,  wie  es  die  ■■ 
Athener  damals  waren,  bieten  durfte.  Isokrates  war,  als  er 
die  Rede  schrieb,  schon  über  achtzig  Jahre  alt,  welch'  ehr- 
würdiges Alter  die  Schwächen  der  Rede  entschuldigen  darf; 
sonst  verdienten  die  ermüdenden  Wiederholungen  Tadel,  nach 
§  74  verliert  nämhch  der  Redner  vollständig  den  Faden. 

Das  athenische  Volk  war  gegen  eine  scharfe  Behandlung 
der  auswärtigen  Angelegenheiten  nicht  allzu  empfindlich ;  aber 
wie  Demosthenes,  der  dem  Volke  über  die  Kriegführung  bittere 
Wahrheiten  sagte,  über  die  inneren  Einrichtungen  schwieg  oder 
sich  mit  der  äussersten  Vorsicht  ausdrückte,  so  wählte  Isokrates 
den  mildesten  Ton,  als  er  in  der  Rede  vom  Areopag  ('Ape- 
QTzoLfiziv.ör:  VII.)  die  Verfassung  Athens  prüfte.  Er  versuchte 
nämlich  den  Nachweis,  dass  Athen  in  das  Unglück  gekommen 
sei,  seitdem  man  die  alte  Verfassung  des  Solon  und  Kleisthenes 
geändert  habe,  besonders  aber,  weil  die  Befugnisse  des  Areopag 
geschmälert  worden  seien.  Die  Fiktion  einer  öfienthchen  Rede 
wird  die  ganze  Schrift  hindurch  festgehalten;  aber  den  Ilaupt- 


1)  llepl  elp-fjvTjc;  Aristoteles  nannte  sie  oü|Xfia/tx6?  rhet,  3,  17  p.  1418a 
32.  Vgl.  Thirlwall  histoi-y  of  Greece  V  315  ff.  Der  Friede  wurde  wahr- 
scheinlich am  Anfang  von  Ol.  lOG,  2  =  355  abgeschlo-ssen  (U.  Köhler  Mit- 
teilungen des  deutschen  archäologischen  Institutes  in  Athen  6,  30  ft.). 

2)  Man  begreift  daher,  daas  viele  die  Rede  längere  Zeit  vor  den  Ab-schluss 
des  Friedens  setzten,  nämlich  an  den  Anfang  des  Krieges  (Leloup  Isocratis 
oratio  de  pace,  Mainz  182G;  Schill bach  de  Isocratis  oratione quae inscribitur 
Tttpl  Bip-fjVTj':,  Progr.  V.  Potsdam  1868),  in  das  zweite  Kriegsjahr  (Brequigny, 
Auger,  Clinton  und  Weissenboru,  ungefiihr  ebenso  Eules  über  die  Abfassungs- 
zeit der  isokrateischen  Friedensrede,  Pr.  v.  Corbach,  Mengeringliausen  1833) 
oder  sogar  vor  den  Abfall  (Christian  Isokrates'  Werke  Stuttg.  1832  I 
S.  413  ff.  Oncken  Isokrates  und  Athen  S.  180). 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  113 

teil  (§  20 — 55)  nimmt  eine  idealisierende  Schilderung  der  guten 
alten  Zeit  und  des  segensreichen  Wirkens  der  Areopagiten  ein, 
womit  er,  um  nicht  in  den  Ruf  eines  Oligarchen  zu  kommen, 
eine  Lobrede  auf  die  Demokratie  verbindet  (§  56 — 70).  Der 
Redner  haftet  überall  nur  an  der  Oberfläche  und  dringt  nicht 
tiefer  ein.  Während  die  Rede  im  allgemeinen  den  Frieden  mit 
den  Bundesgenossen  und  die  355  sich  kundgebende  Feindschaft 
des  Perserkönigs  voraussetzt  ^)  und  jedenfalls  nach  der  Friedens- 
rede geschrieben  ist  %  stammen  §  1 — 7  aus  einer  Zeit,  wo  die 
Athener  noch  über  zahlreiche  Bundesgenossen  geboten  und 
nichts  zu  befürchten  hatten.  Isokrates  begann  also  die  Rede 
vor  dem  Bundesgenossenkriege  und  übersah  später  die  Differenz. 
Die  Rede  scheint  von  den  Demokraten  nicht  wohlwollend  auf- 
genommen worden  zu  sein,  denn  Isokrates  schweigt  von  ihr  in 
der  Antidosis  •''). 

Seinen  Gesinnungsgenossen  war  auch  daran  gelegen ,  dass 
Athen  zu  Philipp  von  Makedonien  in  ein  freundschaftliches 
Verhältnis  kam;  nun  konnte  der  berühmte  Schriftsteller  mög- 
licherweise bei  dem  Fürsten,  der  Interesse  an  der  hellenischen 
Bildung  vielleicht  mehr  zeigte  als  besass,  leichter  den  Boden 
für  Verhandlungen  ebnen  als  die  offiziellen  Vertreter  des  Volkes. 
Wenn  nur  Isokrates  nicht  so  langsam  gearbeitet  hätte  1  Ehe  er 
mit  seinem  Sendschreiben  au  Philipp  (V.)*)  zu  Ende 
kam,  schloss  Athen  mit  dem  Könige  notgedrungen  Frieden  ^), 
Nichts  destoweniger  veröffentlichte  er  es  nach  rascher  Umar- 
beitung ^).  Von  Phihpp  hoffte  Isokrates  jetzt  die  Ausführung 
dessen,  was  er  im  Panegyrikos  Athen  zugedacht  hatte,  die 
Versöhnung  der  Griechen  und  den  Herserkrieg.  Dem  erfahrenen 
Staatsmann  und  Feldherrn  gegenüber  spielte  er  dabei  eine 
etwas   lächerUche    Rolle,    was    ihm   selbst   nicht   ganz   entging 


1)  Vgl.  Schäfer  Demosthenes  und  seine  Zeit  I  S.   151  A.   1. 

2)  Vgl.  §  74—77  mit  9,  94. 

3)  Pfund    de    Isocratis   vita  et  scriptis    p.  21  schliesst  daraus,  sie  sei 
erst  nach  dieser  Eede  ausgegeben  worden. 

4)  <i>iXcnT:oc,  bei  Harpokration  meistens  4>tXiK7tix6(;  genannt,    lieber  das 
Schreiben  vgl.  Arn.  Schäfer  Demosthenes  und  seine  Zeit  II  221  ff. 

5)  Dies  sagt  er  selbst  §  7,  vgl.  56. 

6)  Der   phokische    Krieg    war    noch    nicht  zu    Ende    (§   54  f.    74),    vgl. 
Clinton  fasti  Hellenici  zu  346. 

S  i  1 1 1 ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  H.  8 


114  i^nftes  Kapitel, 

(§  105).  Auch  diese  Rede  leidet  wieder  an  dem  grossen  Mang€ 
dass  Isokrates  nicht  zur  rechten  Zeit  zu  schliessen  wusste;  in 
Hinsicht  auf  die  Detailausführung  entliält  sie  eine  merkwürdige 
Aeusserung  (§  27):  ,,Ich  habe  auf  Wohllaut  und  Farbenspiel 
der  Sprache  (tat?  ■jcspi  djv  Xs^iv  eoppo^jiiaiq  v.cd  TioixtXtaic)  nicht 
gesehen,  die  ich  in  jüngeren  Jahren  anwendete  und  meinen 
Schülern  empfahl ,  damit  ihre  Reden  anmutiger  und  über- 
zeugender seien,  doch  jetzt  bin  ich  alt  und  kann  es  nicht 
mehr,  sondern  es  ist  mir  genug,  wenn  ich  bloss  die  Gedanken 
einfach  darlegen  kann."  Aber  was  einer  so  viele  Jahre  Tag 
für  Tag  geübt  und  gelehrt  hat,  wird,  zumal  in  hohem  Alter, 
nicht  leicht  abgelegt.  Die  Technik  unterscheidet  also  die  Rede 
nur  wenig  von  der  früheren ;  dagegen  fühlt  der  Leser  das  Alter 
in  dem  Mangel  harmonischer  Klarheit. 

Der  nämliche  Mangel  entstellt  noch  mehr  den  P  a  n  a- 
thenaikos  (XII.),  der  in  der  Literaturgeschichte  einzig  da- 
stehen dürfte;  wurde  er  doch  von  einem  vierundneunzigjährigen 
Manne  (kurz  vor  den  Panathenäen  Ol.  109,  3=342)  in  Angriff 
genommen  und  drei  Jahre  später  (339)  vollendet  ^).  Das  Alter 
machte  sich  freilich  sehr  bemerkbar.  Das  Vorgefühl  des  nahen 
Todes  treibt  zunächst  Isokrates  (§  1 — 35),  seine  Anschauungen 
über  Bildung  in  das  rechte  Licht  zu  stellen,  worauf  er,  ganz 
unvermittelt,  eine  Lobrede  auf  Athen  beginnt,  das  auf  Kosten 
Spartas  erhoben  wird  (§  35 — 198);  ein  Agamemnon  behandelnder 
Exkurs  (§  74 — 87)  wird  auch  durch  die  wortreichen  Entschul- 
digungen nicht  gerechtfertigt  und  Isokrates  gesteht  selbst  seine 
Verwirrung  ein  ^.  Statt  nun  die  Rede  mit  einem  passenden 
Epilog  zu  beenden,  wendet  er  sich  zu  einer  persönlichen  Ange- 
legenheit": Isokrates  las  nämlich  jene  Schrift  einigen  Schülern  vor, 
die  davon  natürlich  höchst  befriedigt  waren  (§  199.  200).  Als  aber 
ein  oligarchisch  gesinnter  Isokrateer,  ein  Bewunderer  der  Spar- 
taner^), sein  Urteil  abzugeben  hatte,  geriet  er  mit  seinem  Lehrer  in 


1)  Diese  Angaben  des  Schriftstellers  selbst  sind  bei  Ps.  Lucian.  [lavipoß. 
23  und  Ps.  Plut.  837  e  entatellt. 

2)  §  88.  Schäfer  Deniostheues  UI  6  und  Blass  11  294  vermuten,  er 
habe  Philipp  vor  Angen  gehabt. 

3)  Vielleicht  Dioskorides,  welcher  über  den  lakonischen  Staat  schrieb 
(Plut.  Lycurg.  11,  7.  Athen.  4,  140  b  f.);  so  meint  Bergk  fünf  Abhandlungen 
S.  26  A.  1. 


Die  Vollendnng  der  Kunstrede:  Isokrates.  115 

Streit,  wobei  sich  der  letztere  zu  heftigen  Angriffen  auf  Spartas 
Einrichtungen  und  Pohtik    (§  200 — 230)    hinreissen    Hess.     Da 
Isokrates  jedoch  bald  seine  Heftigkeit  bereute,  versammelte   er 
alle  Schüler.     Als    sie    die    Rede    mit    lebhaftem    Beifalle    auf- 
nahmen,   erhebt    sich    jener    Ohgarch    und    erklärt,    er    denke 
jetzt    über   die  Rede    des  Isokrates    anders.     Die  Herabsetzung 
der  Spartaner  sei  nur  scheinbar   und    sein  Meister  habe    über- 
haupt nur  dem    oft   behandelten  Thema,    indem  er  Athen   mit 
dessen    Nebenbuhlerin    verglich,    eine    neue    Seite    abgewinnen 
wollen.     Nachdem    er    hierauf    ein  Enkomion  Spartas  skizziert 
hat  (§  253 — 259),    schlägt  er  vor,    die  Rede  zwar  zu  veröffent- 
lichen, aber  den  spartanischen  Verehrern  des  Isokrates  zu  Liebe 
jene  Debatten    beizufügen.     Isokrates    billigt  diesen  Vorschlag, 
ohne  wie  er  selbst  geheimnisvoll  bemerkt  (§  265),   die  Richtig- 
keit  jener    Annahme    zu    erörtern.     Aber    die    Gedanken    und 
Hoffnungen,  welche  ihn  bewegten,  sprach  gewiss  jener  Schüler 
aus,  als  er  sagte  (§  260 f.):   ,,Ich  muss  dich  glückhch   preisen, 
denn,  wie  mir  scheint,  wird  dir  noch  bei  Lebzeiten  zwar  nicht 
grösserer  Ruhm  als  du  verdienst  —  dies  wäre  ja   kaum   mög- 
lich —  aber  bei  mehr  Menschen  und  mit  geringerer  Anfechtung 
als  bisher  zu  Teil  werden,    nach    dem  Tode    aber   ist    dir    die 
Unsterblichkeit  gewiss,    wie  sie   ausgezeichnete  Menschen,    von 
den  kommenden  Geschlechtern  nicht  vergessen  geniessen,  und 
du   verdienst    sie;    denn    beide  Staaten    hast  du    herrhch    und 
würdig  gelobt,  die  eine  nach  dem  Sinne  der  Menge,  welche  kein 
Vernünftiger    missachtet,    sondern   auf   alle  Weise  für  sich  zu 
gewinnen  sucht,  die  andere  aber  nach  der  Erwägung  der  tiefer 
blickenden  Männer,  deren  Beifall  mancher  dem  der  Menge  vor- 
zieht, mag  auch  diese  weitaus  zahlreicher  als  jene   sein".     Der 
greise  Redner  wollte  also  in  dem  Andenken  der  Spartaner  wie 
der   Athener    als   der   ausgezeichnetste  Lobredner   ihrer  Städte 
fortleben;  aber  seine  angebliche  Neutralität,  die  er  §  266 ff.  in 
gewundenen  Phrasen  entschuldigt,  war  eher  beide  zu  verstimmen 
geeignet;  die  starke  Selbstgefälligkeit  mag  man  dem  gefeierten 
Patriarchen  der  Rhetorik  verzeihen.     Wiederholungen  und  eine 
gewisse  Gedankenarmut,  welche  in  der  Benützung  der  früheren 
Reden  hervortritt^),   sind   bei  dem   hohen  Alter  des  Verfassers 


1)  Nachgewieseu  von  Blass  11  298  A.  7. 


116  Fünftes  Kapitel. 

begreiflich;   aber    die  Schrift   ist   bei    weitem  mehr  wunderlich 
und  seltsam  als  gelungen. 

Dies  sind  in  chronologischer  Ordnung  die  politischen 
Schriften,  die  uns  aus  der  Feder  des  Isokrates  überliefert  sind ; 
es  bleibt  somit  nur  eine  echte  Rede,  welche  unter  keine  der 
bisher  besprochenen  Kategorien  fällt,  sondern  gleichsam  das 
literarische  Testament  des  Isokrates  ist,  übrig,  die  Rede  über 
den  Vermögenstausch  (xspl  avtiSöoewt:  XV.)  ^).  Die  Volks 
meinung  legte  Isokrates,  dem  Lehrer  vieler  reicher  Fremder, 
ein  ungeheueres  Vermögen  bei ;  da  er  sich  aber  nicht  dazu  be 
kannte,  war  er  Steuerprozessen  ausgesetzt.  Den  ersten  gewann 
er  ^),  aber  Lysimachos  nötigte  ihn  durch  einen  zweiten  Prozess 
zur  üebernahme  einer  Trierarchie  ^).  Da  der  Redner  der  An- 
sicht war,  dass  zur  Verurteilung  wesentlich  die  über  seine 
Lehrthätigkeit  verbreitete  missgünstige  Ansicht  beigetragen  habe, 
entschloss  er  sich,  wie  er  in  einer  förmlichen  Vorrede  aus- 
führlich auseinander  setzt,  zweiundachtzig  Jahre  alt  (§  9)  seine 
Grundsätze  öffentHch  darzulegen.  Isokrates  wählte  die  Fiktion, 
er  sei,  ähnlich  wie  einst  sein  Lehrer  Sokrates,  angeklagt,  die 
Jugend  durch  den  rhetorischen  Unterricht  zu  demoralisieren 
und  dem  Unrechte  zum  Siege  zu  verhelfen  (§  30);  so  war  er 
gleichsam  von  den  Umständen  genötigt,  sich  selbst  zu  loben, 
was  man  ihm  sonst  verdacht  hätte.  Deshalb  behielt  Isokrates, 
auf  seine  neue  Idee  nicht  wenig  stolz,  die  Annahme  einer 
üerichtsrede  sorgfältig  bei  und  machte  sie  im  Stile  gelegentlich 
fühlbar  ^).  Die  eigentliche  ohnehin  schon  sehr  lange  Vertei- 
digung (§  14 — 166)  wird  mit  einer  ebenso  umfangreichen  Rede 
verbunden,  in  welcher  die  Grundsätze  seiner  Kunst  [tpiKooo'f ia.) 
entwickelt  werden  (§  167 — 290);  Isokrates  wiederholt  dabei 
einige  Glanzstellen  aus  älteren  Reden.  Die  ungeheure  Schrift 
macht    uns    besser    als    eine   andere    seiner    Werke    mit   dem 


1)  Em.  Havet  introduction  au  diseours  d'  Isocrate  sur  rantidosis, 
Paris  1863;  Georg  Schlüter  argumentum  et  structuram  Isocrateae  de  per- 
mutatione  bonorum  orntionis  explan.,  Progr.  v.  Hildesheim  1869. 

2)  Ps.  Plut.  839  c  erzählt,  dass  ihn  Aphareus  gegen  den  Ankläger 
Megakleides  verteidigt«. 

3)  Isokrates  wurde  vor  Gericht  gewiss  wieder  von  seinem  Adoptivsohn 
vertreten  (B  a  k  i  u  s  scholica  bypomnemata  III  64). 

4)  Blass  U  287  A.  4. 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  117 

Menschen  und  dem  Redner  Isokrates  bekannt;  da  nun  seine 
Persönlichkeit  nicht  viel  interessantes  hat,  übt  die  Länge  der 
Rede  eine  bedenkliche  Wirkung  auf  den  Leser  aus.  Es  gelang 
ihm  freilich  ausnahmsweise,  eine  Disposition  durchzuführen  und 
sich  nicht  auffallend  zu  wiederholen,  aber  was  soll  man  denken, 
wenn  der  Verfasser  selbst  (§  12)  den  Rat  gibt,  die  Rede  in 
Abschnitten  zu  lesen? 

Diese  Reden,  die  gerichtlichen  ungerechnet  fünfzehn  an 
der  Zahl,  machen  den  literarisclien  Nachlass  des  Isokrates  aus; 
während  ein  echtes  Werk  dank  den  zahlreichen  Bewunderern, 
welche  jedes  Zeitalter  ihm  zuführte,  nicht  untergegangen  zu 
sein  scheint  ^)  —  denn  die  Menge  von  Gerichtsreden  will  im 
Munde  eines  gereizten  Gegners,  mag  er  auch  ein  Aristoteles 
sein,  nicht  viel  besagen  ^)  —  drängten  sich  vielmehr  Schüler- 
arbeiten in  die  Sammlung  ein. 

Das  Sendschreiben,  welches  Nikokles  von  seinem  Lehrer 
empfing,  belehrte  ihn  über  seine  Pflichten  gegen  die  ünterthanen ; 
war  es  nicht  natürlich,  dass  ein  Royalist  auch  in  Erinnerung 
brachte,  welche  Pflichten  ein  Volk  gegen  seinen  Fürsten  hat? 
So  entstand,  wie  ich  glaube,  der  sogenannte  Nikokles  (III.). 
Die  Rede  hält  angeblich  Nikokles  an  seine  versammelten  ünter- 
thanen ^),  welche  vorher  die  von  Isokrates  ihrem  Könige  ge- 
sandte Rede  angehört  haben  sollen,  und  zwar  nicht  etwa,  wie 
man  denken  sollte,  nach  seiner  Thronbesteigung,  sondern  nach- 
dem er  längere  Zeit  regiert  hat  (§  31.  63).  Welch'  seltsame 
Situation,  über  die  uns  ,, Isokrates"  nicht  einmal,  durch  eine 
erläuternde  Vorrede  aufklärt!  Obendrein  weiss  sich  der  Ver- 
fasser nicht  recht  in  sie  zu  schicken:  Schon  die  Einleitung, 
welche  die  Redekunst  verherrlicht,  passt  für  manche  andere 
Rede  des  Isokrates  besser;  und  im  weiteren  hören  wir  weder 
einen  Ünterthanen  des  Perserkönigs  (§  23)  noch  den  Beherrscher 
eines  kleinen  Fürstentums  (§  57)  sprechen^).    Selbst  wenn  man 


1)  Ueber  Sentenzen  Br.  Keil  analecta  Isoer.  p.  101  flf.  doch  s.  S    102. 

2)  Auch    weiss   man  nicht,  ob  er  den   9,  57  versprochenen  Nachruf  auf 
Konon  schrieb. 

3)  Der  Verfasser  der  Inhaltsangabe  gebraucht  die  dürftige  Auskunft,  er 
habe  sich  an  die  Vornehmsten  gewendet. 

4)  Für  Isokrates  passt  auch  die  skeptische  Auffassung  der  Götter  (§  26) 
nicht.     Ein  formeller  Beweis  der  Unechtheit  liegt  ausserdem  in  den  Eingangs- 


113  Fünftes  Kapitel. 

dies  alles  hingehen  lässt,  würde  doch  kein  Athener,  am  wenigsten 
der  Verfasser  des  Panegyrikos,  sich  dazu  verstanden  haben, 
Syrakus  für  die  grösste  der  hellenischen  Städte  (§  23)  zu  er- 
klären; eher  möchte  dies  die  Heimat  des  Verfassers  nachweisen, 
zumal  da  er  gleich  darauf  die  Verfassung  Karthagos  der  spar- 
tanischen gleichstellt  und  daneben  wohl  auf  die  römische 
Diktatur  anspielt.  Wenn  auf  das  Schweigen  des  Harpokration 
Gewicht  zu  legen  ist,  zweifelten  auch  alte  Gelehrte  an  der 
Echtheit  der  Rede  ^).  Diese  ganze  Deduktion  wäre  umsonst, 
wenn  Isokrates  in  der  „Antidosis"  diese  Rede  wirklich  citiert 
hätte;  es  spricht  aber  alles  dafür,  dass  jener  Rhetor  die  schöne 
Stelle  jener  Schrift  dem  Proömium  wörtUch  einflocht  ^). 

Eine  gelegentliche  Aeusserung  des  Rhetors  (5,  81),  er  habe 
an  den  jüngeren  Dionys  ein  Sendschreiben  abgehen  lassen, 
führte  zur  Erfindung  eines  solchen,  doch  beschränkte  sich  der 
Fälscher  auf  die  Einleitung  (jetzt  als  I.  Brief  bezeichnet),  wie 
er  oder  ein  anderer  von  ähnlichen  Sendschreiben  an  die 
Kinder  des  lason  (VI.Brief)  und  an  Archidamos(IX. Brief) 
auch  nur  die  Einleitung  verfasste.  Davon  unterscheiden  sich 
die  eigentlichen  Briefe,  welche  nach  derselben  Schablone  wie 
die  anderer  berühmter  Griechen  gefertigt  sind.  Die  Diadochen- 
zeit  brachte  Isokrates  in  vier  Briefen  mit  Makedonien  in  Ver- 
bindung; sie  sind  an  Philipp  (IL  III. )^),  Antipatros  (IV.) 
und  Alexander  den  Grossen  (V.)  gerichtet.  Dazu  kommen 
Schreiben  an  seinen  Freund  Timotheos  (VII.;  und  an  die 
Beamten  von  Mytilene  (VlIL).  Der  Verfasser  hat  sich  den 
Stil  des  Isokrates  so  zu  eigen  gemacht,  dass  hervorragende 
Kenner  an  der  Echtheit  nicht  zweifelten^).     Naiv   ist  aber   im 


I 


Worten,   die   aus   der  Helenarede  entlehnt  sind;  jede  Rede   des  Isokrates  hat 
sonst  ihren  eigenen  originellen  Anfang. 

1)  Em.  Havet  a.  O.  p.  235  setzt  sie  in  die  makedonische  Zeit;  auch 
H.  Stephanus  und  Auger  verwerfen  die  Rede. 

2)  Abgesehen  davon,  dass  das  ganze  Proömium  zur  Rede  nicht  passt, 
beweisen  die  Worte  des  Isokrates  Sreep  xal  iipoxepov  elnov  (§  253)  nichta ; 
sonst  citiert  er  ja  die  Reden  ausdrücklich.  Hier  deutet  er  durch  nichts  an, 
dass  er  eine  ältere  Rede  citiert. 

3)  In  einem  ist  der  platonische  Phaidros  benutzt  (Orelli  antidos.  307); 
den  dritten  kannte  schon  Hermippos  (Argum.  or.  V.  am  Ende,  wo  das  Zeugnis 
älschlich  auf  den  „Philippos"  bezogen  wird). 

4)  Sauppe  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1836  Sp.  409  sprach  zuerst  Zweifel 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  119 

sechsten  Schreiben  (§  7)  das  Geständnis,  dass  die  Gedanken 
des  Isokrates  wiederholt  werden^).  Der  letzte,  an  den  jüngeren 
Dionys  gerichtete  Brief  gehört  nicht  zur  Sammlung,  sondern 
ist  mit  anderen  unzweifelhaft  fingierten  Briefen  überliefert. 

An  den  Nikokles  übersandten  Fürstenspiegel  schloss  sich 
endlich  eine  zweite  Rede  (I.)  an,  welche,  an  Demonikos^), 
mit  dessen  Vater  Hipponikos  der  Verfasser  befreundet  war, 
gerichtet,  für  den  Privatmann  Ijebensregeln  zusammenstellt; 
der  junge  Mann  erhält  in  bunter  Menge  zahlreiche  unge- 
ordnete und  ünverbundene  Lehren,  von  denen  der  Verfasser 
zuletzt  selbst  eingestehen  muss,  dass  vorläufig  nicht  Alles  für 
den  Adressaten  passe.  Die  Rede  an  Nikokles,  welche  das  allge- 
meine Vorbild  abgab,  wird  stark  und  nicht  sehr  geschickt  be- 
nutzt^); die  Disposition  ist  des  Isokrates  nicht  würdigt)  und 
die  Sprache  weicht  vielfach  von  der  isokrateischen  ab  %  selbst 
unattische  Formen  fehlen  nicht  *').  Diese  in  die  Augen  fallenden 
Abweichungen  entgingen  auch  den  Griechen  nicht,  von  denen 
manche  die  Rede  verwarfen '');  wenn  aber  ein  Kritiker  an  den 


r 


aus;  Frid.  V  ater  quaestionum  historic.  fasc.  I.  de  Isocratis  qui  fertur  epistolis, 
Kasan  1846  verwarf  den  ersten  Brief;  Aut.  Westermann  commentatio  de 
epistol.  scriptoribus  Graecis  V.,  Leipzig  1854;  Fr.  Blass  II  270  ff.  290  flf.  u. 
Rhein.  Mus.  20,  10911.  A^erteidigt  die  Echtheit;  E.  Heinr.  Haupt  de  Isocratis 
epistolis  I.  VI.  VIII.  Zittau  1873  (Diss.  v.  Leipzig)  verzeichnet  p.  29—39  die 
Literatur;  K.  C.  Jebb  on  the  sixth  letter  of  Isocrates,  Journal  of  philology 
V  (1874)  p.  266—68;  über  den  vierten  Brief  Br.  Keil  anall.  Isoer.  p.  143  ff. 

1)  Epist.  Socratic.  30,  13  wird  Isokrates  getadelt,  dass  er  an  jeden  das- 
selbe schreibe. 

2)  Upbz  A7jfJL6vtv.ov  (ü)i;  sj^ei  6  noXbz  y^ö-^oq,  argum.  war  er  ein  Kyprier 
nach  Analogie  des  Nikokles,  mit  welchem  ihn  Constaut.  Porphyr,  them.  15 
und  Tzetz.  Chil.  bist.  382  verwechseln)  ;  die  Rede  wird  gewöhnlich  Jiapaiveasic 
citiert  (Keil  S.  74,  doch  bezeichnen  Hermog.  II.  p.  437,  21  und  Argum.  or.  1 
damit  die  ganze  Gattung);  napaivEatc  Dionys.  rhet.  5,  1;  eittoToX-rj  s.  Keil 
p.  99  ff. 

3)  E.  Albrecht  Philol.  43,  244  ff. 

4)  W.Jahr  quaestiones  Isocrateae,  Halle  1881  p.  28— 41  kann,  obgleich 
er  viel  ausscheidet,  keinen  tadellosen  Zusammenhang  herstellen. 

5)  Am  besten  handelt  darüber  Jahr  a.  O.,  wobei  o6v  §  16  und  xaXo- 
v.a.'fa.d-ia.  §  6.  51  besondere  Hervorhebung  verdienen;  vgl.  noch  Phil.  Weber 
Entwicklungsgeschichte  der  Absichtssätze  II  S.  25. 

6)  §  16  ouvEtSYjGEiC)  44  elS-fjaeiCj  52  vcaO'iCävouaav. 

7)  Anon.  Z.  52  ff.  (p.  255  Westerm.),  vgl.  Argum.  or.  I.  Für  echt  nehmen 
unter  den  älteren   die  Rede  an  Dionysios    (Isoer.  8   xa^'  ixaoTov  avSpa  t8i« 


120  Fünfte«  Kapitel. 

jüngeren  Isokrates  dachte^),  dürfte  er  mit  dieser  Vermutung 
das  Richtige  nicht  getroffen  haben;  denn  da  das  Hiatusgesetz 
des  Isokrates  mehrere  Male  verletzt  wird  ^)  und  die  gorgianischen 
Figuren  mehr  als  gut  ist  zur  Anwendung  kommen"),  ist  der 
Verfasser  nicht  unter  den  unmittelbaren  Schülern  des  Rhetors 
zu  suchen.  Mehrere  Stellen  treffen  wohl  nur  deshalb  mit  der 
Rhetorik  ,,an  Alexander"  zusammen,  weil  er  bei  der  Zusammen- 
stellung der  Sprüche  ältere  Quellen  benützte.  Er  schrieb  vor 
dem  Fälscher  der  Phalarisbriefe  *). 

Dionysios  von  Halikarnass  hielt  im  ganzen  25  Reden,  also 
die  erhaltenen  21  und  vier  Sendschreiben,  für  echt;  sein 
Genosse  Caecilius  liess  drei  mehr  zu.  Die  Alten  besassen  aber 
im  Ganzen  sechzig  Nummern.  Die  von  jenen  Kritikern  ver- 
worfenen Reden  wären  spurlos  untergegangen,  wenn  nicht  der 
anonyme  Biograph  (Z.  126  ff.)  die  Titel  von  2J  Reden  erhalten 
hätte.  Ausserdem  las  Hermippos  einen  Nekrolog  auf  Gryllos^), 
den  Sohn  Xenophons,  der  aus  dem  nämlichen  Gau  wie  Iso- 
krates stammte.  Es  kann  nicht  auffallen,  dass  die  Reden  des 
jüngeren    Isokrates    unter    die   Werke    des   Meisters   gerieten*'). 


u.  10  Ttpbq  .  .  .  IStmtai;,  vgl.  rhetor.  5,  1),  Hermogenes  irpoY-  3  p.  23,  25  Sp., 
und  Chalcidius  (Wrobel  Ztsch.  f.  österr.  Gyrau.  26,  743  f.).  Von  den  Neueren 
verwerfen  die  Kede  H.  Ferd.  Beyer  de  oratione  ad  Demonicum  quae  vulgo 
Isocratis  esse  dicitur  indole  et  auctore  comment.  I.  Leipzig  1831  ;  Ben  seier 
Jahrbb.  f.  Phil.  1860 II  121  ff.;  Blass  II  254ff.,  vgl.  III  2,  252;  Lehmann 
van  Lehnsfeld  de  oratione  ad  Deraonicum  Isocrati  abiudicanda,  Leiden 
1879;  W.  Jahr  quaestioneslsocrateae,  Halle  1881  (Diss.) ;  spätere  Ueberarbei- 
tung  nehmen  an  Aug.  Pauly  aliquot  quaestiones  Isocrateae,  Heilbronn  1828 
(Progr.)  und  Benseier  de  hiatu  p.  36 ff.;  Verteidiger  fand  die  Rede  an 
O.  Schneider  in  seiner  Ausgabe  S.  VIff.  und  0£oS.  'ÄY^uXituv  (Henkel) 
Tü>v  Jtepl  'laoxpäTT)  C'flt'fjaEcuv  ßißXiov  npihzav,  Rudolstadt  1877  (Progr.). 

1)  Harpocratio  v.  enaxTÖi;  opv.oq. 

2)  Benseier  de  hiatu  p.  36. 

3)  Lehmann  a.  O.  p.  24—36. 

4)  Blass  II  267  A.  2;  Henkel  a.  O.  p.  28;  Jahr  p.  28*. 
6)  Dobree  advers.  critica  I  p.  559. 

6)  Diogen.  2,  65.  Ueberliefert  ist  freilich  louxpdTYjc,  wofür  Godofr. 
Olearius  Naoxpätvji;  vermutete.  Suidas  v.  x^^Cetv  citiert  'laoxpatfjc  ev  tote 
itpi?  ElSod'eav. 

7)  Suidas  führt  als  Reden  des  jüngeren  Isokrates  auf:  'AjjL«pixxoovtx6c 
and  «potpeTtxixöc;  vielleicht  sind  auch  irspl  toö  xaxoixtajioü  MiX-rjatoK;  und 
icEpl  Toü  {jLexoixiad^vai  eine  und  dieselbe  Rede. 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  121 

Die  „Inselrede"  (NTrjatwTtxöc)  mag  den  achten  Brief  nach  sich 
gezogen  haben. 

Auf  Grund  jener  für  echt  anerkannten  Reden  ein  Bild  von 
der  Kunst  des  Isokrates  zu  entwerfen  und  seine  Bedeutung  ab- 
zuwägen, ist  für  einen  modernen  Gelehrten  und  besonders  für 
einen  deutschen  eine  bedenkliche  Aufgabe,  wenn  er  nicht  den 
Geschmack  einer  so  völlig  verschiedenen  Zeit  zum  Schaden  der 
historischen  Wahrheit  urteilen  lassen  will.  Ist  doch  das  Gefühl 
für  die  Behandlung  der  Sprache  einem  Nichtgriechen  kaum 
erlangbar  und  unser  Ohr  für  die  Harmonie  der  Perioden  und 
den  rhythmischen  Fall  der  Satzglieder  abgestumpft.  Wer  nun 
in  den  Reden  des  Isokrates  einen  bedeutenden  Politiker,  einen 
originellen  Denker,  einen  scharf  ausgeprägten  Charakter  sucht, 
wird  in  das  strenge  urteil  Niebuhrs  und  Sauppes  ^)  einstimmen. 
Die  Natur  hat  ihn  weder  den  Genies  noch  den  grossen  Charak- 
teren beigesellt ,  aber  es  sollte  nie  vergessen  werden ,  dass 
Isokrates  zu  seiner  Zeit  trotz  der  grossen  Konkurrenz^)  der 
angesehenste  Rhetor  von  ganz  Grieclienland  war.  Die  Gattung 
der  Beredsamkeit,  der  er  sich  widmete,  wurde  von  den  Griechen 
ebenso  hoch  geachtet  wie  wir  sie  gering  schätzen,  und  niemand 
wird  leugnen  können,  dass  Isokrates  für  ihre  Vervollkommnung 
viel  gethan  hat.  Nicht  einmal  der  Vorwurf  ist  gerechtfertigt, 
er  habe  die  Kunstrede  in  das  Schulziinmer  gebannt  und  ein 
Publikum  von  Lesern  erzogen;  Isokrates  war  nicht  der  erste, 
welcher  seine  Rede  schriftUch  herausgab  ^),  sondern  die  am 
Ende  der  Einleitung  auseinander  gesetzten  Motive  veränderten 
die  Wünsche  des  Publikums,  weshalb  Isokrates'  Gegner  so  gut 
wie  er  selbst  ihre  Reden  verbreiteten*). 

Feines  Gefühl  für  das  Schöne  und  unermüdeter  Fleiss 
wirkten  bei  den  Reden  des  Isokrates  zusammen.  Als  Bürger 
einer  Stadt,  in  welcher  der  gesunde  Sinn  der  Einwohner  alles 
übertriebene  und  unnatürliche  rügte,  musste  Isokrates  von  der 
Ueberschwänglichkeit    des    Gorgias    und    seiner    Schule    abge- 


1)  Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1835  Sp.  403  ff.;  ebenso  Schröder  quaestiones 
Isocrateae  p.  153  ff. 

2)  Die  neuesten  Reden  waren  die  beliebtesten  (15,  82), 

3)  Er  gebraucM  die  Ausdrücke  8:aSio6vai  (15,  87  193)  und  exSiSöv«:  (15,  9). 

4)  Vgl.    Isoer.    10,    8    ToX|j.(Jüa:   -(pä'iisi'^;    11    xwv    xoioü-cüjv    auYYpwfJ-fAaxcuv. 
14  töv  •^pä'^avza..  15,  61  toüc  te  i^potepov  '(pä<^a.vxa.z  Tcepl  ttjv  UKÖ^eatv  xaüxfjv. 


122  Fünftes  Kapitel. 

stossen  werden.     Ihre  Kunstmittel   sind   bei   ihm   in  der  Regel 
so  massvoll  angewendet,  dass  sie  harmonisch  wirken^). 

Um  mit  dem  Wortschatze  zu  beginnen,  so  rühmten  die 
Alten  an  Isokrates  die  Reinheit  der  Sprache  (xa^apöv),  worin 
nur  Lysias  mit  ihm  wetteifern  könne;  er  bediente  sich  der 
Konversationssprache  der  gebildeten  Athener  und  vermied  alle 
veralteten  oder  dunkeln  Wörter  ^).  Bei  diesem  etwas  beschränkten 
Vorrate  war  der  Redner  darauf  angewiesen,  die  synonymen 
Begrifife  nach  dem  Muster  des  Prodikos  präcis  abzugrenzen  ^) 
und  immer  die  genau  bezeichnenden  Ausdrücke  zu  gebrauchen*). 
Da  Isokrates  überdies  seine  Lieblingswendungen,  die  ihm  überall 
in  die  Feder  kamen,  hatte  ^),  bedurfte  er  eines  ausserordentlich 
feinen  Taktes  in  der  Zusammenstellung  (oDV^eatc),  um  nie  ge- 
wöhnlich zu  werden  ^).  Gorgias'  Beispiel  verleitete  ihn  nicht 
zu  jenen  kühnen  Metaphern,  welche  später  nur  Lächeln  erregten; 
denn  es  entging  ihm  schwerlich ,  dass  sie  eher  für  das  erregte 
Pathos  als  für  den  gemächlichen  Fluss  des  epideiktischen  Stiles 
passten  ^).  Selbst  der  gebräuchlicheren  Tropen  bedient  sich 
Isokrates  mit  Mass  ^).  Wo  sich  der  Tön  erhebt,  treten  lieber 
volltönende  gewichtige  Ausdrücke  und  schmückende  Beiwörter 
ein").  Isokrates  stellte  sich  hierin  also  zu  Gorgias  in  ent- 
schiedenen Gegensatz  und  folgte  mehr  dem  Beispiele  des  Thrasy- 
.  machos.  Doch  hat  er  diese  geläuterten  Anschauungen  nicht 
von  vornherein  gehabt;  „Helena"  und  ,, Busiris",  dem  Inhalte 
nach  sophistische  Kunststücke,  verraten  vielfach  die  gorgianische 


1)  Blass  II  98  flf.  analysiert  ausführlich  den  Stil  auf  Grund  der  Urteile 
alter  Rhetoren  (zusammengestellt  bei  Gottl.  Ben.  Schirac  h  de  vita  et  genere 
8cril)endi  Isocratis,  Halle  1765  disp.  II);  vgl.  auch  Ernst  O.  Gehle  rt  de 
elocutione  Isocratea  I.  Leipzig  1874. 

2)  Dionys.  Lys.  2.  3.  Isoer.  2.  11.  Dem.  4.  18  u.  ö.  Hcrmog.  n.  t?.  p. 
277,  19.  Vgl.  was  Isokrates  5,  4.  9,  9.  10  selbst  bemerkt.  Etwas  seltenere 
Wörter  verzeichnet  Gehlert  a.  O.  p.  22  f. 

3)  Kurcptavoi;  xa  öcTCoppfjxa  xoö  'looxpdxooi;  p.   18 f. 

4)  Dies  hiess  axpißlc,  axplßsta  (vgl.  Isoer.  6,  4). 

5)  8.  z.  B.  Werfer  Acta  philol.  Mouac.  I  253. 

6)  Menander  p.  339,  14  fr.  Sp. 

7)  Dionys.  Dem.  18.  Hermog.  n.  18.  1,  12  p.  332,  17  ff.  Sp.,  vgl.  Isoer. 
orat.  9,  10. 

8)  Dionys.  Isoer.   11.  Gehlert  a.  O.  p.  29—35. 

9)  Vgl.  Aristot.  rhet.  3,  7  p.  1408  b  10  ff. 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  123 

Schule.  Später  machte  er  sich  aber  mehr  und  mehr  selb- 
ständig, wiewohl  manches  sophistische  haften  blieb  ^).  Man 
pflegt  Isokrates  häufig  eine  breite  pleonastische  Schreibweise  ^) 
vorzuwerfen ,  aber  von  den  besten  Reden  wenigstens  dürfte 
gelten,  dass  der  Redner,  wenn  er  Synonyma  verband  oder  dem 
einfachen  Ausdrucke  Umschreibungen  vorzog,  bald  die  Symme- 
trie der  Satzglieder,  bald  den  angenehmen  Tonfall  im  Auge  hatte. 
Bei  der  Zusammenfügung  der  Worter  beschränkte  Isokrates, 
wie  es  scheint,  als  der  erste  den  Zusammenstoss  von  zwei 
Vokalen  auf  eine  beschränkte  Zahl  unvermeidlicher  Fälle  ^), 
während  seine  Vorgänger  gegen  diese  Härte  unempfindlich  ge- 
wesen waren ;  doch  hatte  Thrasymachos  sie  etwas  einzuschränken 
])egonnen.  Auch  Isokrates  gelangte  erst  allmählig  zu  einem 
strengen  Gesetze*).  Erging  soweit,  harte  Zusammenstösse  von 
Konsonanten  zu  vermeiden^).  Er  verbot  ferner  seinen  Schülern 
zwei  gleichlautende  Silben  (wie  in  skoöaa  oa(pfi)  auf  einander 
folgen  zu  lassen,  ohne  sich  selbst  von  diesem  Missklange  ganz 
frei  zu  halten^).  Isokrates  hat  überhaupt,  was  die  Griechen 
unter  aovO-s^tc  verstanden,  zur  höchsten  Feinheit  entwickelt  '^) 
und  doch  pflegt  die  Wortstellung  ungeachtet  aller  Sorge  um  die 
Euphonie  ziemlich  regelmässig  zu  sein^).  Die  Alten  rügten 
l)loss  eine  gewisse  Einförmigkeit  und  übertriebene  Sorgfalt,  die 
bei  den  Schülern  noch  auffallender  hervortrat^). 


1)  Dahin  gehört  z.  B.  der  häufige  Gebrauch  des  Plurals  von  Abstrakten 
(Gebiert  a.  O.  p.  20 f.). 

2)  Ueber  die  Pleonasmeu  Jos.  Strange  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  3,  573  fi. 
Gehl  e  rt  a.  O.  p.  24  ff.  Namentlich  sind  Umschreibungen  mit  elvat,  -([-(wod-al, 
jtoislai^ai  beliebt.  Ungerecht  ist  der  Autor  von  lltpl  ut];ooc,  38,  2  hiä  x-J^v 
xoö  Tzävxa  ah^'i]v.v.ü}z  ^.i'^nv  (piXoxtfxiav  ;  billiger  sagt  Dionys  2.  (Xe^ic)  yf.zyo\}.i\>t] 
TzXooaiiwz,  aber  ßpaoutlpa  xoö  [xsxpioo. 

3)  Ben  seier  de  hiatu  in  oratoribus  Atticis  et  historicis  Graecis,  Frei- 
berg 1841  I  p.  3—61;  Blass  II  132  ff.  Der  Hiatus  ist  z.  B.  bei  nepi  und  xi  ge- 
stattet.    Isokrates  setzt  des  Hiatus  wegen  gerne  8:öxt,  r^-d-lmio-i]-T:sp,  xoioöxov 

{=   TO'.OÖXO)    u.    dgl. 

4)  Karl  Schwabe  de  dicendi  genere  Lsocrateo,  Halle  1883  p.  15  f. 

5)  Dionys.  compos.  23  p.   185  11. 

6)  L.  Spengel  auvaY">Y"'l  '^^/"■''"V  p.  IX— XXIII;  Strang'a.  O.  S.  608 ff.; 
Blass  III  2,  346. 

7)  Dionys.  comp.  verb.  p.  170  f.  184.  de  vi  Demosth.  c.  20.  40. 

8)  Hermog.  tx.  loediv  p.  283,  21  ff.  Sp. 

9)  Dionys.  comp.  verb.  c.  19.  Quintil.  9,  4,  35.  10,  1,  79. 


124  Fünftes  Kapitel. 

Auch  der  Periodenbau  verdankt  Isokrates  eine  wesentliche 
Vervollkommnung ,  weil  er  von  den  Aggregaten  zahlreicher 
kurzer  Glieder,  an  welchen  Gorgias  Gefallen  gefunden  hatte, 
abging  und  sie  durch  eine  ebenmässige  Folge  klar  gebauter 
und  gewissermassen  architektonischer  Perioden  von  nicht  allzu 
grosser  Länge  ersetzte^).  Er  gewann  dadurch  den  Beifall  des 
Aristoteles,  welcher  aus  ihm  die  Musterbeispiele  für  den  Satzbau 
entlehnte^).  Der  Philosoph  empfiehlt  im  Zusammenhang  damit 
die  in  zwei  Glieder  (xwXa)  geteilte  Periode  und  scheidet  die 
zwei  Arten  der  mit  einfachen  Konjunktionen  (Si-jjpTjtxsvrj)  und  mit 
korrespondierenden  Partikeln  (avTtxEt[i£virj)  gebildeten  Periode. 
Für  die  letztere  hat  Isokrates,  wie  alle  epideiktischen  Redner, 
eine  besondere  Vorliebe,  weshalb  man  in  seinen  Reden  die 
Figur  der  Antithese  häufig  angewendet  trifft^).  Die  kunstvolle 
Rede  basiert  ja,  wie  die  dekorative  Kunst  der  Griechen*),  auf 
dem  Grundsatze  der  genauen  Entsprechung.  Isokrates  ver- 
schmäht sogar  nicht,  Parallelismen  und  Antithesen  künstlich 
herbeizuführen,  indem  er  zwei  gesonderte  Bemerkungen  zu  einer 
einzigen  verbindet  (was  besonders  im  Panegyrikos  oft  vorkommt) 
oder  heterogene  Dinge  vergleichend  zusammenstellt^).  Daraus 
entspringt  der  Nachteil,  dass  er,  um  das  rhythmische  oder 
rhetorische  Gleichgewicht  zu  erhalten ,  leere  Füllwörter  und 
Dehnungen  zulassen  muss  ^).  Der  Einförmigkeit  aber  tritt 
Isokrates  durch  die  Forderung  entgegen,  zwei  einander  folgende 
Sätze  sollten  nicht  in  der  gleichen  Weise  eingeleitet  werden  '). 
Gelegenthch  schreckt  er  auch  vor  ungebührlicher  Ausdehnung 
der  Perioden  nicht  zurück  ^),  indes  entwirrt  sie  der  Leser  un- 
schwer.    Für  den  Vortrag  passen  sie  freilich  nicht  recht''). 

1)  Cicero  orator  13,  40  unterscheidet  die  Stufen  der  Entwicklung  besser 
als  Demetrio.s  k.  £p|j.7jv.  12. 

2)  Aristot.  rhetor.  3,  9. 

3)  Dionys.  ars  rhet.  1,  8.  Quintil.  9,  3,  74.  Peter  Henu  de  Isocrate 
rhetore,  Köln  1861   (Diss.  v.  Halle)  p.  32—35. 

4)  H.  Brunn  Phein.  Mus.  6,  321  ff.  480  flf. 
6)  Theon  Ttpof  ojiväafj..  p.  92,  24  flf.  Sp. 

6)  Dionys.  Isoer.  3. 

7)  Maxim.  Planud.  Walz  V  469,  13. 

8)  Z.  B.  im  Panegyrikos  43  u.  44,  47—49  u.  64—56. 

9)  Der  Peripatetiker  Demetrios  (Philodem.  rhet.  4,  17)  tadelte  ihn  des- 
wegen ;  auch  Hieronymos  meinte,  sie  seien  angenehmer  zu  lesen  als  vor- 
zutragen (a.  O.). 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  125 

Solchen  Stilfragen  widmete  Isokrates  die  mühsamste  Arbeit; 
weit  entfernt,  eine  bestimmte  gleichbleibende  Manier  sich  anzu- 
eignen, war  er  fortwährend  auf  Verfeinerung  bedacht,  so  dass 
selbst  in  Kleinigkeiten  eine  allmälige  Veränderung  des  Sprach- 
gebrauches nachgewiesen  werden  kann^). 

Was  den  üedankeninhalt  der  Reden  anlangt,  führt  Isokrates 
alle  Gedanken  voll  aus  und  beleuchtet  sie  nach  allen  Seiten; 
darum  bleibt  dem  Leser  nichts  hinzuzusetzen  und  schroffe 
Uebergänge  sind  höchst  selten.  Der  Redner  kündigt  die  Dis- 
position häufig  ausdrücklich  an  und  beobachtet  sie  sorgsam  ^). 
Die  Uebergänge  zwischen  den  einzelnen  Abschnitten  werden 
breit  und  voll  markiert,  indem  Isokrates  meistens  das  vorher- 
besprochene rekapituliert  und  durch  eine  Antithese  gleichzeitig 
den  Uebergang  zu  einem  neuen  Punkte  gewinnt^).  Uns  Neuere 
stören  hauptsächlich  die  mit  dem  Thema  gar  nicht  zusammen- 
hängenden Episoden,  welche  meist  in  der  Verherrlichung  einer 
Person  bestehen"*);  aber  die  Alten  dachten  nun  einmal,  wie 
Aristoteles  selbst  bezeugt  ^),  über  die  Zulässigkeit  derselben 
anders.  Freilich  verdient  die  Komposition  mehrerer  im  höchsten 
Alter  geschriebenen  Reden  entschiedenen  Tadel  % 

Dies  sind  gewissermassen  die  Grundlinien  des  isokrateischen 
Stiles ;  es  bleibt  also  noch  der  eigentliche  Redeschmuck,  der 
,, Pomadetopf"  des  Isokrates''),  darzustellen  übrig.  Der  rhetor- 
ischen Figuren "°)  bediente  sich  Isokrates  natürlich  mehr  als 
die  übrigen  Attiker,  doch  weder  im  üebermass  noch  unge- 
schickt; die  Rhetoren  pflegten  daher  aus  seinen  Reden  Muster- 


I 


1)  Für  -Ts-tj  vgl.  Fujir  Rhein.  Mus.  83,  594  f.;  anderes  Karl  Schwabe 
de  dicendi  genere  Isocrateo,  Halle  1883. 

2)  Hermog.  n.  18.  p.  284,  1  ff.,  vgl.  Otto  Kohl  de  Isocratis  suasoriarum 
dispositione,  Progr.  v.  Kreuznach  1874. 

3)  Sam.  Lj  u  ngdal  de  transitione  Isocratea,  Upsala  1871  (die  gerichtücheu 
Reden  sind  von  den  epideiktischen  nicht  geschieden). 

4)  X.  21  fi.  Theseus,  41  ff.  Paris;  XI.  21  ff.  die  ägyptischen  Priester  und 
Pythagoras;  XII.  72  ff.  Agamemnon. 

5)  Aristot.  rhet.  3,'  17  p.   1418  a  32. 

6)  Vgl.  auch  Schol.  Isoer.  3,   1. 

7)  MupoO-rixiov  Cic.  ad  Attic.  2,  1. 

8)  Gehlert  de  elocutione  Isocratea  p.  36 — 43;  Diouys.  3  axTqixaxtCst  ts 
(popttxcü?,  xal  T«  TCoXXa  Y^fvexai  (]/u)(p6c  vj  x(i)  itopptu^-sv  Xap.ßdv£tv  ^  xö)  p.7j 
«psTrovxa  eivat  xa  oj^-Jjjiaxa   zolq  TCpaYfJiaotv. 


126  Fünftes  Kapitel. 

beispiele  zu  entnehmen  ^),  wenn  auch  manche  in  diesem  Punkte 
wiederum  den  Mangel  an  Abwechslung  tadelten  '^).  Wie  sich 
Isokrates  hierin  zu  Keinen  Vorgängern  verhielt,  ist  nicht  klar; 
dagegen  scheinen  bezüglich  des  musikalischen  Klanges  der 
Sätze  die  Grenzen  seiner  Originalität  ungefähr  bestimmbar  zu 
sein  :  Von  Gorgias  lernte  er  gleichküugende  Wörter  unmittelbar 
zu  verbinden  oder  an  das  Ende  zusammengehöriger  Glieder  zu 
stellen,  wenn  er  auch  dem  Uebermass  des  Erfinders  fern 
blieb  ^).  Mehr  bot  ihm  Thrasymachos ,  über  welchen  Isokrates 
darin  hinausging,  dass  er  den  Hiatus  strenger  mied;  in  Bezug 
auf  den  rhythmischen  Tonfall  der  Sätze  verhielt  er  sich  aber  zu 
ihm  wie  bei  den  Gleichklängen  des  Gorgias,  insofern  er  die 
Uebertriebenheit  des  Vorgängers  milderte;  nichtsdestoweniger 
wird  man  gelegentlich  an  Verse  erinnert*). 

Wie  die  Neueren,  fühlten  sich  viele  der  Alten  mehr  ange- 
zogen von  der  Kraft  und  Energie  des  Demosthenes  oder  der 
naiven  Schlichtheit  des  Lysias  als  durch  seine  Sorgfalt  und 
Glätte^).  Aber  ein  unbefangener  Betrachter  wird  nicht  den 
Mangel  an  Pathos^)  rügen,  wenn  er  erwägt,  dass  in  einer  für 
Leser  geschriebenen  Rede  ein  anderer  Ton  als  vor  einer  leicht 
erregbaren  Volksversammlung  angeschlagen  werden  musste. 
Die  Kompliciertheit  der  isokratoischen  Regeln  bedingte,  dass 
der  Rhetor  an  seinen  Schriften  gewöhnlich  lange  arbeitete;  aber 
schwerlich  würden  viele  diesen  Vorwurf  erheben,  hätte  er  nicht 
persönlich    mit  Rücksicht   auf   seine   Feinde    erklärt,    dass    die 


1)  Z.  B.  Spengels  rhet.  Graeci  III  p.  152,  30  flf.  Clemens  npbc,  MsptovuiJLOv 
««pl  t&v  'looxpaTixüiv  a)(Y)fj.axtov  Suid.  vgl.  Phot.  u.  Etym.  Magn.  v.  CäXfj, 
Phot.  V,  "Hpa?,  TcaXt[ißoXo(:  (Suid.). 

2)  Dionys.  Isoer.  3  und  Philonikoa  bei  Dionys.  Isoer.  13.  Eine  Liebliugs- 
wendung  ist  z.  B.  die  mit  xaixoc  eingeleitete  rhetorische  Frage  (L.  Spengel 
Isokrates  und  Plato  S.  740.). 

3)  Dionys.  Isoer.  2  extr.  14.  Hermog.  p.  332,  25.  Anon.  Z.  118  flf.  Henn 
de  Lsocnite  rhetore  p.  37 — 41,  z.  B.  (pYj|x-r]v  xal  jxvtjjjltjv,  y^pr^\i.azix  xal  xtYjjjLcuTa. 
Lucilius  (Gell.  18,  8,  2)  hat  daher  nicht  Unrecht,  wenn  er  solche  Reime  als 
sokrateisch  bezeichnet. 

4)  Z.  B.  11,  11  (mit  Ausnahme  der  kretischen  Basis  besteht  der  Haupt- 
teil des  Satzes  nur  aus  Spoudeen,  Daktylen  und  Choriamben).  Vergl. 
Dionys.  Isoer.  2.  K.  Peter  de  Isocratis  studio  numerorum  (Festschrift  zum 
60jährigen  Amtsjubiläum  Raspes,  Parchim  1883  S.  8 — 19). 

6)  Dionys.  Isoer.  3.  Hermog.  n.  18.  p.  834,  19  u.  A. 

6)  Dionys.  Isoer.  2  extr.  und  Hieronymos  bei  demselben  c.  13. 


I 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  127 

scheinbare  Einfachheit  seiner  Reden  das  Ergebnis  langer  mühe- 
voller Arbeit  sei.  Decken  aber  nicht  die  Forscher  in  der 
neueren  Literatur  oft  unerbittlich  auf,  wie  sorgsam  scheinbare 
Improvisationen  gefeilt  seien?  Mögen  der  Laie  und  der 
Aesthetiker  unserer  Zeit  Isokrates  abfällig  beurteilen,  der 
Historiker  wird  zugestehen,  dass  Isokrates,  wiewohl  er  nirgends 
neue  Wege  eröffnete,  aus  den  Errungenschaften  der  vorher- 
gehenden Generation  das  Treffliche  herauszufinden  und  erheblich 
weiterzubilden  verstand.  Fünfzig  Jahre  früher  geboren,  wäre 
Isokrates'  Name  der  Vergessenheit  anheim  gefallen,  aber  sein 
Zeitalter  bedurfte  eines  solchen  Mannes,  dessen  Talente  weniger 
für  die  Erfindung  von  Neuem  als  für  die  Kritik  des  Gegebenen 
geeignet  waren. 

Wiewohl  demnach  Isokrates  auf  den  Schultern  des  Gorgias 
stand  ^)  und  den  Titel  ,, Sophist"  nicht  verschmähte,  wirkte  doch 
der  Umgang  mit  Sokrates  bestimmend  auf  seine  Anschauungen. 
Während  es  den  Sophisten  gleichgiltig  war,  über  welchen  Gegen- 
i^tand  sie  sprachen,  forderte  Isokrates  die  moralische  Güte  und 
Würde  des  Stoffes  '^)  und  beschäftigte  sich ,  von  seinen  ersten 
\'ersuchen  abgesehen,  nur  mit  Stoffen,  die  für  das  bürgerliche 
Leben  von  Bedeutung  waren ;  daher  wurden  seine  Beden  später 
als  Handbuch  der  praktischen  Lebensweisheit  empfohlen  ^).  Die 
unpraktische  Vielwisserei  und  die  hohle  Eristik  verspottete  Iso- 
krates; gleich  Plato  setzte  er  die  Dichter  zurück,  freihch  weil 
er  seine  Kunst  als  die  schwierigere  höher  stellte,  und  verachtete 
die  Komödie^).  Auch  darin  befand  er  sich  mit  Sokrates  in 
Uebereinstimmung ,  dass  er  nicht  jeden  Schüler  ausbilden  zu 
können  prahlte,  sondern  natürhche  Anlage  zur  Vorbedingung 
machte^);  diese  schätzte  der  Rhetor  so  hoch,  dass  er  begabte 
Schüler   Götterkinder    nannte  ^).     Aber    in    der    Brust    unseres 


1)  Vgl.    Th.   Klett  das  Verhältnis   des  Isokrates  zur  Sophistik,   Progr. 
V.  Ulm  1880. 

2)  SirooSalat  utco^eosk;,  osp-voi  ^oyot  11,  9. 

3)  Dionys.  Isoer.  4;   Dionysios  schrieb  eine  besondere  Abhandlung  über 
seine  t^oXitixt]  fikoGOfia. 

4)  12,  26;  9,  9.  36,  vgl.  12,    19;  2,  44.  8,  14. 

6)  13,  17.  15,  187.  Hermog.  npoy.  5  p.  100,  14  ff,  Sp.  erzählt,  Isokrates 
habe  gesagt,  dass  ein  Schüler  Tctvaxcoiou  xatvoö  (xal  voö)  brauche. 
6)  6eä)V  itaißei;  Hermog.  Kpo-^oiiv.  6  p.  97,  18. 


128  Fünftes  Kapitel. 

Redners  kämpften  zwei  Seelen,  der  Sokratiker,  welcher  das 
Beste  seiner  Schüler,  der  Heimat  und  von  ganz  Hellas  wollte, 
und  der  Sophist,  dem  das  schöne  Wort  lieber  als  die  schlichte 
Sache  war.  Einmal  entschlüpfte  ihm  der  von  den  Sokratikern 
verabscheute  Satz,  dass  die  Redekunst  in  der  Ueberredung  be- 
stehe (15,  249);  dann  erklärte  er  wie  etwas  allbekanntes,  bei 
Lob  und  Tadel  sei  Uebertreibung  am  Platze  (11,  4).  In  der- 
selben Rede  drückt  er  Gleichgültigkeit  gegen  die  objektive 
Wahrheit  aus  (11,  33),  wie  er  auch  die  doppelseitige  und  ver- 
schiedenartige ßeliandlung  eines  Themas  anerkennt  (4,  8 ;  vgl. 
64).  Dementsprechend  gestattet  sich  Isokrates  im  Panathenaikos 
eine  schlimme  Zweideutigkeit  und  Widersprüche  sind  nicht 
selten^),  da  Isokrates  vieles  nach  den  Umständen  gemodelt  hat. 
Er  selbst  charakterisiert  die  Zwitterhaftigkeit  seiner  Stellung 
unbewusst  dadurch,  dass  er  ao^ioxf^c  und  ^tXöao<po?,  ^tXoaotpsw 
nicht  nach  dem  Beispiele  der  Sokratiker  scharf  scheidet.  Dass 
Isokrates  Honorar  annahm,  konnte  ihm  bei  seinen  Vermögens- 
verhältnissen niemand  verargen ''^) ;  die  Bezahlung  betrug  zehn 
Minen  ^). 

HinsichtHch  seiner  politischen  Anschauungen  stand  er  der 
sokratischen  Schule  nicht  fern.  Die  Flugscliriften  des  Isokrates 
sprachen  die  Wünsche  der  gebildeten  und  vermögenden  Minorität 
aus,  welche  ehrenvollen  Frieden  mit  den  griechischen  Staaten 
und  Phihpp  von  Makedonien  wünschte  und,  von  der  Ver- 
worrenheit der  iinieren  Verhältnisse  angeekelt,  alles  Heil  in  der 
Rückkehr  zur  Verfassung  des  Solon  und  Kleisthenes  erbhckte. 
So  dachte  Phokion,  der  von  Antipatros  den  traurigen  Auftrag 
annahm,  diese  Wünsche  durchzuführen,  so  dachte  Timotheos, 
welchem  Isokrates  durch  innige  Freundschaft  verbunden  war*). 


1)  So  wird  der  Friede  des  Antalkidas,  den  er  8,  16  für  unübertrefflich 
ausgibt,  4,  115  ff.  getadelt;  8,  86.  96  wirft  er  den  Athenern  nud  Spartanern 
ihre  Züge  gegen  die  Perser  vor,  während  er  im  Panegyriko.s  und  Philijipos 
ander»  darüber  urteilt;  vgl.  auch  10,  60  mit  11,  41. 

2)  Eine  Aeusserung  15,  164  veranlasste  die  Behauptung,  er  habe  von 
keinem  Athener  ein  Honorar  angenommen  (Ps.  Plut.  838  e.  Anon.  Z.  37  f.). 
Nach    der    Erzählung    seiner    Freunde    weiute    er,    als    er  das  erste  Honorar 

empfing,  weil  er  nun  nicht  mehr  unabhängig  sei  (Ps.  Plut.  837  b). 

3)  Demosth.  36,  42,  also  786  Mark. 

4)  In  der  „Antidosis"  (§  101  —  139)  ist  ein  Enkomion  auf  Timotheos, 
dessen   Freundschaft    man  ihm  verargte,  eingefiochten ;   er  soll  den  Sekretär 


I 


Die  Vollendung  der  Kunstrede :  Isokrates.  129 

Mit  den  Piatonikern  teilte  Isokrates  die  Vorliebe  für  Sparta, 
dessen  äussere  Politik  er  allerdings  verurteilte  ^),  und  für  die 
aufgeklärte  Monarchie  ^),  woraus  zugleich  eine  gewisse  Sympathie 
für  Makedonien  entsprang.  Seine  religiösen  Ansichten  gingen 
nicht  besonders  tief^);  beruht  ihm  doch  die  Rehgion  auf  der 
Furcht  (11,  24f.). 

Betrachten  wir  nun  die  Zeugnisse  über  die  äusseren  Be- 
ziehungen ,  welche  Isokrates  zu  den  Schülern  des  Sokrates 
unterhielt,  so  muss  den  ersten  Platz  die  berühmte  Stelle  Piatos 
einnehmen;  in  seinem  Phaidros  stellt  bekanntlich  Sokrates  dem 
unphilosophischen  Lysias  den  jungen  Isokrates  mit  folgenden 
Worten  gegenüber  (279  a):  Aoxei  (tot  öcftsivwv  t)  xara  tooc  Trspl 
Aoatav  stvat  Xö^ooc  td  xf^c  '^oastdc,  sti  ts  tjO-si  YsvvtxcöTsptp  xexpäodai 
wate  oöSsv  av  Ysvotro  ^aa[i.aaTÖv  rpotoDOT]«:  X7i<;  r[KixiaQ  sl  ;cepl  ahzobz 
re  xoiic.  Xöyod?,  olc,  vöv  kmysipBi,  ttXsov  ri  TratStov  Slsvsyxoi  töv 
TKüTTOTS  d(};a[xsva)v  Xöycov,  I'ti  ts  et  aotcp  {iyj  aTio'/pTjast  Taöta,  IttI 
[letCw  Ss  TIC  auTÖv  d'/oi  6p»i7]  ^s'.OTepa  •  ^Dost  ^dp,  w  ^iXe,  sveoxt  tt? 
ipiXoao'fta  T"^  Toö  dvSpöc  Stavoicj,  Dieses  Lob  ist  um  so  höher 
zu  schätzen  als  Plato  strenge  zu  urteilen  pflegt.  Noch  mehr, 
eine  Stelle  des  Phaidros  (269  d)  stimmt  so  sehr  mit  einer  Be- 
merkung der  Rede  ,, gegen  die  Sophisten"  (17.  18)  überein,  dass 
Plato  damit  die  dort  ausgesprochenen  Grundsätze  zu  billigen 
scheint  *).  Auch  der  Peripatetiker  Praxiphanes  muss  sie  als 
Freunde   gedacht  haben,    weil   er    in   seinem  Dialog  „über  die 


des  Timotheos  gemacht  und  dafür  bei  der  Einnahme  von  Samos  ein  Talent 
als  Lohn  empfangen  haben  (Ps.  Plut.  837  c,  vgl.  Epist.  Socratic.  30,  13). 
Der  berühmte  Feldherr  errichtete  ihm  sogar  im  Eleusinion  eine  Statue  (Ps. 
Plut.  838  d);  nach  Cic.  de  orat,  3,  34,  139  und  Ps.  Plut.  837  c  war  er  .sein 
Schüler. 

1)  7,  61.  11,  17  f.,  vgl.  VI.,  anders  8,  58  eXeo*ep(uaavTe?. 

2)  10,  34;  bekanntlich  stand  er  mit  Euagoras  und  Nikokles  in  Ver- 
bindung. 

3)  Schröder  quaestiones  Isocrateae  duae,  Utrecht  1869  p.  115  ff.;  Rob. 
Schaudau  de  Isocratis  doctrina  rhetorica  et  ethica,  Breslau  1869. 

4)  Auch  Phaedr.  268— 269c  ist  mit  19,  10.  16  zusammenzustellen.  Vgl. 
Jos,  Werber  die  Rede  des  Isokrates  gegen  die  Sophisten,  Pr.  des  I.  Gymn. 
Teschen  1872;  Usener  Rhein.  Mus.  35,  138;  J.  Zycha  Bemerkungen  zu 
den  Anspielungen  in  der  13.  und  10.  Rede  des  Isokrates,  Pr.  des  Leopold- 
stärdter  Obergymn.  in  Wien  1880. 

Slttl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  9 


iäö  fünftes  Kapitel. 

Dichter"  Isokrates  in  Piatos  Hause  weilen  liess^)  und  unter 
den  unechten  Reden  des  Isokrates  befand  sich  eine  mit  dem 
Titel  „über  Plato",  nicht ,, gegen  Plato"^).  Erst  nach  dem  Tode 
des  Philosophen  trat  eine  offene  Gegnerschaft  zwischen  den 
Akademikern  und  Isokrateern  zu  Tage;  Speusippos  hatte  wahr- 
scheinlich schon  früher  Isokrates  angegriffen  (S.  102),  nun  be- 
kämpften Theopompos  und  Kephisodoros  Plato  mit  Heftigkeit  ^) 
und  auch  Isokrates  machte  in  seiner  letzten  Rede  (118)  gegen 
die  Akademie  einen  Ausfall.  Auf  der  anderen  Seite  feindete 
Aristoteles  den  Rhetor  an*),  für  welchen  Kephisodoros  eintrat, 
aber  als  er  seine  Rhetorik  schrieb,  war  der  Streit  vergessen  und  er 
beurteilte  Isokrates  sogar  eher  mit  Wohlwollen  ^).  Die  Broschüre 
des  Antisthenes  ,,7rpö?  töv  'looxpaTooc  aiiapropov"  scheint  bloss 
eine  Gelegenheitsschrift  gewesen  zu  sein,  weil  Theopomp  diesem 
Sokratiker  auffallendes  Lob  spendete^).  Bei  Xenophon  endlich 
war  nie  von  einer  Gegnerschaft  die  Rede,  vielmehr  glaubte 
man,  Isokrates  habe  dem  tapferen  Sohn  seines  Gaugenossen 
einen  Nachruf  gewidmet.  Dies  ist  der  wirkliche  Thatbestand, 
befreit  von    den    geistreichen,    aber    unbeglaubigten  Versuchen 


1)  Diogen.  Laert.  3,  8. 

2)  Isoer.  Philipp.  12  ist  weder  beleidigend  noch  speziell  auf  Plato 
beziehbar. 

3)  Dionys.  ad  Cn.  Pomp,  de  Plat.  am  Ende  von  Kap.  1 ;  Athen.  6,  608  c ; 
vgl.  Epist.  Socrat.   30,   12.     Arriau.  Epictet.  diss.  2,   17,  2. 

4)  Cicero  orat.  19,  62  Aristoteles  Isocratem  ipsum  lacessivit  (d.  h.  er  wett- 
eiferte mit  ihm),  auch  off.  1,  1,  4  quorum  uterque  suo  studio  delectatus  con- 
tempsit  alterum  geht  bloss  zurück  auf  die  Nachricht  (Cic.  Tusc.  1,  4,  7): 
cum  motus  esset  Isocratis  rhetoris  gloria,  dicere  docere  etiam  coepit  adules- 
ceutes.  Aristoteles  soll  eine  Konkurrenzschule  errichtet  und  dabei  das 
gehässige  Citat  gebraucht  haben:  ato)^p6v  ohuküv,  'laoxpärrjv  (statt  ßap- 
ßapov)  8'  eäv  li-(t'.v  (Syriau.  Walz  IV  297,  26  ff.,  kürzer  Quiutiliau.  3,  1,  14), 
aber  Diogen.  6,  3  bezieht  es  auf  Xenokrates.  Isoer.  pauath.  17  ff.  kann  nicht 
gegen  Arist^teh-s  (Bergk  fünf  Abhandlungen  S.  25)  gerichtet  seiu,  der  damals 
Athen  bereits  verla-ssen  hatte.  Vgl.  Luzac  lectiones  .\tticae  II  117  ff.  Stahr 
Ari8U)telia  I  63ff.  II  42  ff.  276  ff.  M.  G.  Dimitsas  'Aö-rivatov  VI  (1877) 
S.  393  ff. 

5)  Besonder«  lallt  anf  (rhet.  1,  10  p.  1368  a  20):  8itep 'laoxpdtfi?  etcoiec 
iiä  TTjv  iouvYja-Etav  toö  BtxoXoifEtv,  während  er  ihm  früher  seine  Gerichtsreden 
vorgeworfen  hatte. 

6)  Diogen.  Laert.  6,  14. 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  131 

alter  und  moderner  Gelehrten,   Spuren  literarischer  Fehden   in 
den  Schriften  des  Isokrates  und  des  Plato  nachzuweisen  ^). 

Hingegen  steht  es  fest,  dass  Isokrates  bei  jeder  Gelegen- 
heit gegen  die  Nachfolger  des  Gorgias  und  des  Zenon  (die 
Eristiker)  polemisierte,  wobei  er  sich  mit  den  Sokratikern  in  voller 
Uebereinstimmung  befand  ^).  Lysias  verachtete  er  jedenfalls  wie 
überhaupt  alle  Verfasser  von  gerichtlichen  Reden  ^) ;  die  Frage, 
ob  Lysias  seinerseits  ihm  öffentlich  entgegentrat,  hängt  von  der 
Echtheit  der  Reden  gegen  Alkibiades  und  für  Euthynos  ab. 
Isokrates  klagt  nicht  selten  über  Anfeindungen,  welche  er  von 
seinen  Konkurrenten  zu  erleiden  hatte;  ohne  Zweifel  forderte  er 
sie  selbst  heraus,  denn  mit  einem  unverhohlenen  starken  Selbstbe- 
wusstsein  auftretend,  versenkte  er  sich,  je  älter  er  wurde,  immer 


1)  Athen.  5,  220d.  11,  507  a.  Epist.  Socrat.  30,  2  (wonach  im  „Philipp" 
Plato  angegriffen  sein  soll,  nach  Welcker  kleine  Schriften  II  446  §  12). 
Isokrates  soll  Plato  angreifen  in  der  Kede  gegen  die  Sophisten  (Bonitz 
platonische  Studien  II  756)  und  „Helena"  (Welcker  a.  O.  Spengel  a.  O. 
S.  766,  vgl.  Usener  Khein.  Mus.  25,  592);  Plato  soU  sich  gegen  ihn  wenden 
im  Euthydemos  304 e.  305b  (seit  Heindorf,  Literatur  bei  Cornel  Fischer 
über  die  Person  des  Logographen  in  Piatons  Euthydem,  Pr.  des  2.  Obergymn. 
in  Lemberg  1880),  Theaitetos  (Bergk  fünf  Abhandlungen  S.  18)  und  Gorgias 
(Gotschlich  über  die  Veranlassung  des  platonischen  Dialoges  Gorgias  und 
die  Polemik  in  demselben,  Prog.  v,  Beuthen  1871).  Vgl.  besonders  Gustav 
Teichmüller  literarische  Fehden  im  vierten  Jahrhunderte  v.  Chr.  I.  Berlin 
1881.  Die  Stelle  im  Phaidros  bereitete  daher  viele  Schwierigkeiten  und 
wurde  viel  besprochen:  Ausser  den  den  Dialog  behandelnden  Monographien 
vgl.  Joh.  Bakius  scholica  hypomnemata  HI.  (Leiden  1844)  p.  27  flf. ;  Gottfr, 
Stallbaum  Isocratea  ad  illustrandas  Phaedri  Platonici  origines,  Pr.  der 
Thomasschule,  Leipzig  1850;  L.  Spengel  Isokrates  und  Piaton,  Abhandl. 
der  bayer.  Akad.  hist.-phil.  Cl.  VH  3(1855)  (S.  733  f.  verteidigt  er  die  Lesart 
eixE  sl  der  Platohandschriften  statt  ext  el)  und  Philol.  19,  594  flf.;  Leop.  Kon- 
V  all  na  die  Prophetie  in  Piatons  Phaedrus  und  Isokrates'  Rede  gegen  die 
Sophisten,  Pr,  v.  Marburg  iu  St.  1866;  Em.  Pluutke  Piatos  Urteil  über 
Isokrates  I.  Jena  1871;  Th.  Bergk  fünf  Abhandlungen  zur  Geschichte  der 
griech.  Philosophie  S.  29  flf.;  H.  Siebeck  Jahrbb.  f.  Phil.  131,  241  flf.;  anderes 
bei  Rehdantz  Gott.  gel.  Anz.  1872  S.  1179**.  Spöttisch  ist  das  Urteil 
Piatos  nach  Geel  Rhein.  Mus.  1838  S.  9  flf.,  Halbertsma  Mnemos.  1855 
S.  227  und  Bakius  a.  O.  Skeptisch  verhält  sich  gegen  die  Kombinationen 
K.  Fr.  Hermann  gesammelte  Abhandl.  S.  302  A.  49. 

2)  Karl  Reinhardt  de  Isocratis  aemulis,  Bonn  1873  (besonders  p.  13flf,). 

3)  Isoer.  4,   11.   12,  1  u.  ö.  vgl.  Anon.  Z.  123  flf. 

9* 


132  .       Fünftes  Kapitel. 

mehr  in  Selbstbewunderiing  *),  welche  ihn  gegen  jeden  Angriff 
äusserst  empfindlich  machte. 

Sein  Selbstgefühl  musste  allerdings  gehoben  werden,  wenn 
er  auf  die  zahlreichen  durch  edle  Geburt  und  Reichtum  aus- 
gezeichneten Schüler^)  blickte,  welche  fast  aus  allen  Gegenden 
griechischer  Zunge  zu  ihm  eilten  und  Jahre  lang  seinen  Unter- 
richt genossen.  Das  meiste  Gewicht  mochte  er  darauf  legen, 
dass  seine  Lehren  in  der  Schultradition  fortgepflanzt  würden, 
und  wirklich  ergriffen  nicht  wenige  den  Beruf  ihres  Meisters. 
Die  athenische  Schule  übernahm  Isokrates  von  Apollonia^) 
dem  vielleicht  die  ominöse  Namensgleichheit  zu  dieser  Ehre 
verhalf;  in  Athen  lebte  auch  der  Phaselite  La  kr  i  tos,  zu  dessen 
Schülern  der  berüchtigte  Archias  gehörte*).  Auf  Chios  lehrte 
Metrodoros,  aus  dessen  Schule  der  bedeutende  Redner 
Theokritos  hervorgingt);  wahrscheinlich  gehörte  auch  Metrodors 
Bruder,  der  Rhetor  Kaukalos,  zu  den  Isokrateern.  Das 
grösste  Ansehen  genoss  aber  bei  den  späteren  Theoretikern  der 
Tragiker  Theodektes  von  Phaselis^),  weil  er  ein  Lehrbuch 
im  Sinne  des  Meisters  verfasste  '').  T  h  e  o  p  o  m  p  o  s  und 
Naukrates  von  Erythr  ai  ^)  gaben,  weil  ihr  Reichtum  ihnen 
ein  unabhängiges  Leben  gestattete,  keinen  Unterricht,  sondern 
zogen  von  Stadt  zu  Stadt,  nicht  nach  Geld,  sondern  nur  nach 
Ruhm  begierig.    Einen  grossen  Triumph  feierte  die  isokrateische 


1)  4,  4.  14.  5,  23.  12,  16.  260  f.  263.  15,  2  ff.  u.  s,  w. 

2)  Hermippos  schrieb  ein  besonderes  Werk  irspl  tAv  'laoxpcttou«:  |jLa^7jTtüv 
(vgl.  Dionys.  Isae.  1),  wovon  das  zweite  und  dritte  Buch  citiert  werden 
(Harpocr.  v.  'laatoc,  Athen.  8,  342  c,  vgl.  10,  451  e).  Man  kannte  gegen 
hundert  Namen  (Ps.  Plut.  837  c).  Vgl.  Bakius  scholica  hypoiunemata  III  p. 
85  ff.;  Paul  Sanneg  de  schola  Isocratea  I.,  Halle  1867. 

3)  Suid.  Epifet.  Socrat.  30,  11. 

4)  Ps.  Demosth.  36,  16.  41.  42.  Ps.  Plut.  837  d;  Hermippos  bei  Plut. 
Dem.  68. 

6)  Snidas  v.  öeoxpttoc. 

6)  Blas»  n  410 ff.  Er  hielt  sich  in  Athen  auf,  wo  auch  sein  Gral)raal 
war  (Ps.  Plut,  Isoer.  837  c). 

7)  Spengel  oüva-fui-fri  te)^vwv  p.  160;  es  wurde  auch  Aristoteles  bei- 
gelegt, weil  mau  sein  Citat  rhet.  3,  9  p,  1410  b  2  f.  niissversland:  al  8' ap/al 
Ttüv  Xoftuv  oyeSöv  ev  toIi;  BeoSExxeioti;  e^Tfjpid-fiYjvTat  (vgl.  Val.  Rose  Aristoteles 
peeudepigraphus  p.  135  ff.). 

8)  Er  scheint  gleichfalls  ein  Lehrbuch  verfaest  zuhaben  (Quintil.  3,6,8). 


Die  Vollendung  der  Knnstrede:  Isokrates,  133 

Schule,  als  die  Wittwe  des  Königs  Maussollos  bei  der  Leichen- 
feier auf  die  beste  Trauerrede  einen  Preis  setzte.  Drei  Schüler 
des  Isokrates  rangen  um  den  Sieg  und  Theopompos  trug  ihn 
davon  ^). 

Auch  die  öffentliche  Beredsamkeit,  die  in  der  Volksver- 
sammlung und  im  Gerichtssaal  ihre  Stätte  hatte,  konnte  sich 
dem  Einflüsse  des  Isokrates  nicht  entziehen  ^),  weil  nicht  minder 
solche,  welche  im  öffentlichen  Leben  hervorragen  wollten,  zu 
ihm  kamen.  Kleinasien  und  andere  entlegenere  Gegenden 
lieferten  ihm  jedoch  mehr  Schüler  als  seine  eigene  Heimat, 
wiewohl  zuerst  angesehene  Athener,  welche  er  mit  Stolz  auf- 
zählt (15,  93),  seinen  Unterricht  suchten.  Unter  den  zahl- 
reichen Namen ^)  verdienen  nur  Androtion,  Leodamas  und 
der  ßyzantier  Python,  welcher  die  Gunst  des  Königs  Philipp 
gewann,  Hervorhebung.  Ob  die  berühmten  Redner  des  vierten 
Jahrhunderts  bei  Isokrates  persönlich  Unterricht  nahmen  oder 
die  von  ihm  herausgegebenen  Reden  studierten  und  etwa  vom 
Hörensagen  die  eine  oder  die  andere  Regel  sich  aneigneten, 
ist  nicht  zu  entscheiden;  jedenfalls  kann  man  bei  Isaios^), 
Aischines  ^),  Hypereides  ^),  Lykurgos '')  und  selbst  Demosthenes  ^) 


1)  Gell.  10,  18,  6  (aus  Hyginus  ? ,  s.  §  7).  Einige  Hessen  Isokrates  selbst 
dabei  auftreten  (Ps.  Flut.  838  b),  was  man  gewöhnlich  auf  den  jüngeren 
Isokrates  bezieht  aber  aus  Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  10,  3,  3  scheint 
eher  hervorzugehen ,  dass  man  eine  übermütige  Aeusserung  des  Theopomp 
missverstand. 

2)  Dionys.  Isoer.  1. 

3)  Vgl.  Ps.  Plut.  837 cd.  Aision  Suid.  v.  A7)|i,oaO'£VYj<:  (vgl.  Hermippos 
bei  Plut.  Dem.  11);  Kokkos  Suid.  s.  v.,  vgl.  Quintilian.  12,  10,  21;  Hiero- 
nymos  von  Megulopolis  Schol.  Demosth.  fals.  leg.  p.  344;  Klearchos  von 
Herakleia  der  spätere  Tyrann  (Memnon  bei  Phot.  bibl.  224  p.  222  b  12).  Der 
Homonymiker  des  Diogenes  führt  aus  Herrnippos  an:  Krates  von  Tralles  4, 
23,  Anaxagoras  2,  15,  Straton  5,  61  und  den  Arkadier  Aischines  2,  64.  Vielleicht 
gehörte  auch  Kallias  von  Syrakus  zur  Schule  (Hermippos  bei  Plutarch. 
Demosth.  5). 

4)  Schüler  nach  Hermippos  (Harpocr.  s.  v.  und  Dionys.  Isae.  1,  vgl. 
Anon.  vit.  Isoer.  Z.  53.  Suid.  v.  AT^fioa^lvf);;) ;  zweifelnd  Ps.  Plut.  837  d. 

5)  Ps.  Plut.  840a.  ApoUon.  vit.  Aesch.  Z.  34.  Schol.  Aesch.  2,  1  (vgl. 
A.  Schäfer  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1848  Sp.  264).     Philostr.  vit.  soph.l,  18,3. 

6)  Anon.  vit.  Isoer.  Z.  63,  vgl.  Westermann  zu  Ps,  Plut,  837  d, 

7)  Anon,  Z.  53.  Wie  es  scheint,  rechnete  ihn  Hermippos  zu  den  Isokra- 
teern  (Athen.  8,  342  c),  jedoch  zweifelnd  (Ps.  Plut.  837  d). 

8)  Bekannt    ist   die   Erzählung,    dass  ihn  Isokrates  abwies,    weil  er  das 


134  Fünftes  Kapitel. 

manche  Spuren  isokrateiscber  Technik  walu*nehmen.  Was  aber 
unter  der  Sammlung  des  Demosthenes  in  dem  Stile  des  Rhetors 
geschrieben  ist,  nämlich  die  Rede  über  den  trierarchischen 
Kranz,  der  Erotikos  und  der  Brief  Philipps  rührt  von  dem  be- 
rühmten Staatsredner  ganz  und  gar  nicht  her. 

Der  Einfluss  des  Isokrates  erstreckte  sich  nicht  bloss  auf 
die  Beredsamkeit;  wer  den  Stil  des  Isokrates  für  die  voll- 
kommenste Gestalt  der  griechischen  Sprache  ansah,  konnte, 
wenn  ihm  wirkliches  Stilgefühl  abging,  leicht  verleitet  werden, 
jene  Mustersprache  auch  anderen  Gattungen,  vor  allem  aber 
der  Geschichtsschreibung  aufzuzwingen.  Seit  Isokrates  gilt  das 
toTopixov  Ysvo?  als  die  vierte  Art  der  Beredsamkeit^);  diese 
Richtung  vertraten  Theopompos,  Ephoros  von  Kyme  und 
Kephisodoros  ^),  wodurch  sie  verschuldeten ,  dass  der  wahre 
historische  Stil  verschwand  und  die  Behandlung  des  Stoffes 
mehr  auf  geistreiche  Antithesen  und  Pointen  als  auf  Ver- 
ständniss  und  Anschaulichkeit  gerichtet  war.  Zu  den  Historikern 
gehörten  in  weiterem  Sinne  auch  Asklepiades  von  Tragi  los, 
welcher  die  von  den  Tragikern  bearbeiteten  Sagen  (TpaYC|)So6{JLsva) 
untersuchte  %  und  D  i  o  s  k  u  r  i  d  e  s  *),  der  Verfasser  von  Memoiren 
und  einer  Darstellung  des  spartanischen  Staates. 

Wie  endlich  Gorgias'  Richtung  in  Agathon  auch  die 
athenische  Bühne  erfasste,  so  dürften  die  Grundsätze  des  Iso- 
krates gleichfalls  auf  die  tragische  Sprache  übertragen  worden 
sein    und    hier    sogar    dominiert    haben;    denn    seine    Schüler 


Honorar  nicht  bezahlen  konnte  (xtvE?  bei  Plut.  Dem.  5,  von  einem  Jsokrateer 
persifliert  Ps.  Plut.  837  d).  Nach  Ktesibios  (Hermipp.  bei  Plut.  Dem.  6,  vgl. 
Ps.  Plut.  844  c.  Suid.  ATiiioofl-lvv)!;  1.)  verschaffte  er  sich  heimlich  die  Regeln 
des  Isokrates;  missverstauden  Ps.  Plut.  844 ah.  Schon  die  Alten  wiesen 
Aehnlichkeiten  nach  (z.  B.  Schol.  Isoer.  4,  136.  139).  Vergl.  Funkhänel 
Ztfich.  f.  Alterthumsw.  1837  Sp.  485ff.  Schäfer  Demosthenes  I292fif.  Dionys. 
ad  Ammae.  I  2  (vgl.  Philostrat.  vit.  soph.  1,  17,  1)  fasst  alle  diese  Redner 
zusammen. 

1)  Citate  bei  Gros  Philodem,  rhetor.  p.  lOOf. 

2)  Der  Historiker  ist  gewiss  mit  dem  Isokrateer,  welcher  Aristoteles 
bekämpfte,  identisch;  Dionysios  ad  Ammae.  1,  2  scheint  Reden  von  ihm 
gekannt  zu  haben. 

3)  C.  Müller  fragmenta  historicorum  Graecorum  II  301  flF. 

4)  C.  Müller  ».  O.  II  192  ff.,  berichtigt  von  E.  Hillcr  Rhein.  Mus. 
40,  204  ff. 


Die  VoUendnug  der  Kunsfrede:  Isokrates.  135 

Theodektes,  Aphareus,  der  Adoptivsohn  des  Rhetors  ^)  und 
Aphareus  zählten  zu  den  hervorragendsten  Tragikern  der 
Epigonenzeit. 

Aus  der  Schule  des  Isokrates  gingen  nach  dem  berühmten 
Ausspruche  Ciceros^)  „wie  aus  dem  trojanischen  Pferde  lauter 
Fürsten  (meri  principes)"  hervor.  Dieser  grossartige  Erfolg  ist 
jetzt  schwer  verständHch,  weil  wir  Isokrates  als  Lehrer  nicht 
kennen  ^).  Der  Unterricht  muss  sehr  gründhch  gewesen  sein, 
denn  er  dauerte  drei  bis  vier  Jahre  ^);  aus  Isokrates'  eigenen 
Schriften  erfährt  man  nichts  darüber  als  dass  er  seine  Reden 
vorlas  (5,  26),  sie  vor  der  Veröffentlichung  mit  Vorgerückteren 
besprach  (12, 200)  und  den  Schülern  Abschriften  überliess(12, 251). 
Seine  Theorie  hielt  er  aber  dem  PubUkam  verborgen,  und  gab 
eine  Rhetorik  nicht  heraus^),  denn  die  in  der  Kaiserzeit  citierten 
Regeln  sind  apokryph*').  Die  Erzählung,  dass  Isokrates  jeden 
Monat  unter  seinen  Schülern  einen  Wettkampf  veranstaltete'), 
ist  raöghcherweise  mehr  als  eine  Anekdote. 

Seit  dem  Erscheinen  des  Panegyrikos  war  Isokrates  ohne 
Zweifel  der  gefeiertste  Redner  Athens*)  und  Athen  bedeutete 
damals    schon    die    ganze    gebildete  Welt    hellenischer    Zunge; 


1)  Ueber  die  Familienverhältnisse  des  Isokrates,  vgl.  Schäfer  Ztsch. 
f.  Alterthumsw.  1848  Sp.  262. 

2)  De  oratore  II  22,  94  (benützt  Quintilian.  12,  10,  22). 

3)  Matthiessen  einige  Andeutungen  über  die  Richtung  und  den  Einfluss 
der  isokrat eischen  Schule,  Pr.  v.  Plön  1865. 

4)  Isoer.  15,  87.  Klearchos  war  vier  Jahre  bei  ihm  (Memnon  bei  Phot. 
bibl.  224  p.  222  b  12). 

5)  Vgl.  Isoer.  12,  16,  womit  die  Anekdoten  über  Demosthenes  (S.  133 
A.  8)  und  Speusippos  (S.  102)  zusammen/ustellen  sind;  die  an: öppY|xa  wurden 
von  A.  KoTTpiavöc,  xä  &TC6pp-f]ta  xoö  'looxpdxouc,  Athen  und  Berlin  1871 
paradox  gedeutet. 

6)  Cic.  de  inv.  2,  2,  7  u.  Alt.  2,  1,  1  beweisen  nichts;  Isoer.  epist.  6, 
8—10  sind  apokryph.  Quintilian  2,  15,  4.  3,  1,  14,  Ps.  Plut.  838  e.  Anon. 
Z.  137  fif.  stellen  die  Echtheit  in  Zweifel.  Sonst  erwähnen  Sext.  Emp.  2,  62, 
späte  Scholiasten  des  Hermogenes  und  Tzetzes  die  Rhetorik  (vgl.  Rehdantz 
Gott.  gel.  Anz.  1872  S.  1201  £F);  die  Echtheit  derselben  behauptete  L.  Spengel 
ouvaYWYYj  p.  182  (bekämpft  von  Bakius  scholica  hypomnemata  III  67flf.). 

7)  Menander  IniUiv.x.  p.  398,  9  ff.  Sp. 

8)  Daher  nennt  ihn  Aristoteles  rhet.  3,  17  p.  1418  a  30  unter  allen 
ol  'Aö-fivrja'.  pTixope?  allein  mit  Namen;  Anon.  Z.  65  fabelt,  dass  ihm  die 
Ehre  eines  ößentlichen  Begräbnisses  zu  Teil  wurd«. 


136  Fünftes  Kapitel. 

seine  Reden  waren  überall  verbreitet  und  wurden  in  den  ge- 
bildeten Cirkelu  mit  Vorliebe  gelesen  ').  Als  der  Philosoph  von 
Stagira  die  Gesetze  der  Beredsamkeit  aufstellte,  wusste  er  keine 
besseren  Beispiele  der  epideiktischen  Rede  zu  finden  als  die  ihm 
die  Schriften  des  Isokrates  boten ;  letzterer  sprach  also  nicht 
die  Unwahrheit,  wenn  er  behauptete  (12,  6),  dass  selbst  den 
Konkurrenten  seine  Reden  als  Musterstücke  dienten.  Gewiss 
hat  die  Schule  des  Isokrates  neben  Athens  politischer  Bedeutung 
das  meiste  dazu  beigetragen ,  dass  der  attische  Dialekt  die 
,, gemeinsame"  Schriftsprache  von  ganz  Griechenland  wurde, 
wie  der  Rhetor  auch  im  Verein  mit  Plato  und  dessen  Schule 
Athen  zum  Mittelpunkte  der  griechischen  Bildung  (rtpotavelov 
'EXXdSo?)  ^)  erhob  und  ihr,  als  sie  die  politische  Macht  verlor,  die 
Stelle  der  ältesten  und  gesuchtesten  Universitätsstadt  rettete. 

Auch  die  folgenden  Jahrhunderte  haben  keinen  hervorge- 
bracht, der  dem  attischen  Redner  in  seiner  Gattung  gleichkam^), 
und  eine  Anzahl  von  Lehrern  bewahrte  die  Tradition  seiner 
Schule*);  auch  die  sogenannte  Rhetorik  an  Alexander  lehnt 
sich  teilweise  an  die  Normen  des  Isokrates  an^).  Trotzdem 
waren  der  Tadler  nicht  wenige :  Nicht  bloss  der  alte  Cato  warf 
der  isokrateischen  Art  Greisenhaftigkeit  vor^),  auch  der  Philo- 
soph Kleochares  meinte,  seine  Reden  glichen  den  Körpern  von 
Athleten,  die  demosthenischen  hingegen  denen  von  Soldaten ''). 
Hieronymos  vermisste  Pathos  und  männliche  Kraft;  Isokrates 
spreche  über  die  bedeutendsten  Gegenstände  mit  der  Stimme 
eines  Knaben^).  Auch  die  radikalen  Wortführer  der  attischen 
Renaissance,  denen  Demosthenes  und  Lysias  besser  zusagten, 
sparten    den   Tadel   nicht  ^).     Mehr   Glück    hatte  Isokrates    bei 


I 


1)  Vgl.  Isoer.  9,  74,  StateO-puXYjjj.evot   15,  66. 

2)  Theopomp,  bei  Athen.  6,  254  b, 

3)  Cicero  Brut.  8,  32. 

4)  Qnintilian.  4,  2,  31. 
6)  Bla&s  II  363  f. 

6)  Plutarch.  Cato  major  c.  23. 

7)  Photius  bibl.  cod.  176  p.  121  b  9  flf.  (dem  König  Philipp  in  den  Mund 
gelegt  Ps.  Plut,  846  c). 

8)  Philodem,  rhetor.  4,  17  ff. 

9)  Brtitns  bei  Cic.  Brut.   13,  40. 


Die  Vollendung  der  Kiinstrede:  leokrates.  137 

den  Kunstrednern  der  Kaiserzeit  *),  von  denen ,  wer  sich  nicht 
/AI  Gorgias  verirrte,  ihn  als  Vorbild  betrachtete ;  so  verfasste 
Aelius  Aristeides  ^)  einen  Fanathenaikos  und  überhaupt  galten 
nun  Panegyrikos  und  Fanathenaikos  für  stehende  Formen  der 
Lobrede  ^).  „Helena"  schwebte  bei  dem  lukianischen  Chari- 
demos  vor.  Die  Gelehrten  dagegen  gaben  sich  wenig  mit  Iso- 
krates  ab;  Suidas  erwähnt  nur  einen  Kommentar  von  Aelius 
Theon  und  Didymos*)  behandelte  Isokrates  mit  den  übrigen 
zehn  Rednern. 

Da  also  wenige  exegetische  Vorarbeiten  vorhanden  waren, 
sind  die  einer  vatikanischen  Handschrift  beigeschriebenen 
Schollen  dürftig  und  von  geringem  Ertragt);  auch  die  In- 
haltsangaben bieten  ausser  der  Erörterung  einiger  Probleme  ^) 
wenig  brauchbares  und  erstrecken  sich  nicht  auf  die  Gerichts- 
reden. In  der  christlichen  Zeit  las  man  Isokrates  seiner 
Sentenzen  wegen,  nebenbei  auch  weil  ihm  der  Polytheismus  zu 
missfallen  schien  ^),  und  bevorzugte  deragemäss  die  drei  ersten 
Reden  ^).  Diese  wurden  auch  in  den  Spruchsammlungen  aus- 
gebeutet*) und  die  Rede  an  Demonikos  schon  im  siebenten 
Jahrhunderte,  wenn  nicht  früher,  von  einem  syrischen  Christen 
in  seine  Muttersprache  tibersetzt;  diese  Uebersetzung  deckt 
Interpolationen  des  griechischen  Textes  auf  und  weicht  vom 
Codex  Urbinas  erhebhch  ab  ^*^).  Isokrates  wurde  in  den  Sen- 
tenzenverzeichnissen   zu   einem  stehenden  Namen,    so    dass    er 


1)  Isokrateer  zur  Zeit  des  Gellius  noct.  Att.  18,  8,  1  isti  apirocali  qui 
Äe  Isocratios  videri  volunt. 

2)  Vgl.  Phot.  bibl.  cod.  246  p.  400  b  8  ff.  Tzetz.  Chil.  11,  662. 

3)  Auson.  Professor,  1,  13  f. 

4)  Harpocratio  v.  iito  {xiaS-tufjLdttcuv. 

5)  Zuerst  von  Korais  in  seiner  Ausgabe  I  440 — 448  veröffentlicht  (nach 
p.  Tcä  der  Einleitung  rühren  sie  von  zwei  Schreibern  her),  dann  bei  Dobson 
III  p.  785  ff.,  Sauppe  II  p.  8—11  und  C.  Müller  II  486—88. 

6)  Wie  zur  XI.  Xm.  und  XIV.  Rede. 

7)  Schol.  Isocrat.  3,  26, 

8)  Schon  der  Kaiser  Julian  stellt  ihn  mit  Phokylides  und  Theognis 
wegen  seiner  7:apaivsaei<;  Salomo  entgegen  (Julian,  bei  Cyrill.  contra  Julian. 
7,  224). 

9)  Alle  testimonia  veterum  sind  von  Bruno  Keil  analecta  Isocratea, 
Prag  und  Leipzig  1885  zusammengetragen. 

10)  Gedruckt    bei   Paul    Lagarde    analecta    Syriaca  p.  167—177,    vgl. 


138  Fünftes  Kapitel. 

mit  Deraokritos    und    Epiktetos    häufig    in    deren   Ueberschrift 
erscheint  ^). 

Weil  die  Reden  des  Isokrates  eine  beUebte  Schullektüre 
abgaben,  war  die  Textesüberlieferung  vielen  Konjekturen 
und  Interpolationen  ausgesetzt ;  die  durch  mehrere  Hand- 
schriften 2)  repräsentierte  Vulgata  weicht  von  dem  Texte,  den 
Dionysios  von  Halikarnass  und  andere  bei  ihren  Citateu  be- 
nutzten^), an  nicht  wenigen  Stellen  ab  und  ist  obendrein  durch 
allerlei  Einschiebsel  entstellt*).  Dagegen  steht  der  codex 
Urbinas  F,  die  Kopie  einer  Uncialhandschrift,  der  alten  Ueber- 
lieferung  näher,  weshalb  Bekker  und  Sau[)pe  auf  ihn  ihren 
Text  basierten^);  aber  diese  Handschrift  macht  die  Vulgata 
keineswegs  entbehrlich.  Auch  ein  altes  Papyrusstück,  das 
§  1 — 30  der  zweiten  Rede  enthält,  hefert  keinen  besseren  Text  % 


Victor  Kyssel    über  den  textkritischen  Wert   der  syi-ischen   Uebersetzungen 
griechischer  Klassiker  II.  (Leipzig  1881,  Progr.  des  Nikolaigymn.)  S.  29  ff. 

1)  Curt  Wachsmuth  Stndien  zu  den  griechischen  Florilegien  S.  121  ff. 

2)  Was  für  die  Erforschung  derselben  geleistet  und  noch  zu  leisten  ist, 
setzt  Blass  in  seiner  Ausgabe  I^  p.  Vf.  auseinander;  vgl.  jetzt  H.  Bür- 
mann  die  handschriftliche  Ueberlieferuug  des  Isokrates  I.  die  Handschriften 
der  Vulgata,  Pr.  des  Friedrichsgymn.  in  Berlin  1885,  wo  eine  Kollation  der 
wichtigsten  Handschriften  für  den  „Philippos"  gegeben  ist. 

3)  K.  Fuhr  Rhein.  Mus.  23,  325  ff.,  vgl.  'A-^v-oUmv  a.  O,  p.  9  f.;  Keil 
a.  O.  S.  80  ff.  (dieser  nimmt  für  alle  drei  Recensioueu  einen  einzigen  Arche- 
typus an). 

4)  Bruno  Keil  a.  O.  S.  146  ff.  auch  Ryssel  a.  O. ;  über  II  §  14—39 
=  XV  73  vgl.  Benseier  de  hiatu  p.  37  ff.  Jahr  quaestiones  Isocrateae 
Halle  1881  p.  26.  41  ff.,  Lehmann  a.  O.  p.  61,  C.  A.  F.  Brückner  de 
locis  in  Isocratis  ad  Nicoclem  oratione  propter  ea  quae  in  oratione  de  antidosi 
ex   illa  referuntur  falso  suspectus,  Pr.  v.  Schweidnitz  1852,  Blass  II  249  f. 

6)  Genau  beschrieben  von  Albert  Martin  le  mauuscrit  d'Isocrate 
Urbin.  CXI.  de  la  Vaticana,  Paris  1881  (bibl.  des  ecoles  franj.  fasc.  24); 
leider  teilt  er  vorläufig  nur  eine  Kollation  des  „Euagoras"  mit.  Die  Angaben 
Bekkers,  welcher  selbst  in  den  Monatsberichten  der  Berliner  Akademie  1861 
S.  1034  ö.  Nachträge  gab,  sind  nämlich  nicht  genau.  Neue  Kollationen 
sind  sonst  nur  für  die  Briefe  (in  Herchers  epistolographi  Graeci)  und  die 
XVI.  Rede  (Fuhr  Rhein.  Mus.  33,  566  ff.)  veröffentlicht.  Ueber  die  Sticht 
metrie  sprach  zuletzt  Fuhr  Rhein.  Mus,  37,  468  ff.  Im  Urbinas  fehlen,  wi. 
in  anderen  Handsthrilten  die  XVIII.  und  XXI.  Rede. 

6)  A.  Schöne  de  Isocratis  papyro  Massiliensi,  Melanges  Graux,  Paris 
1884  p.  481  — 504  (nach  ihm  in  der  Ptolemäerzeit  geschrieben,  während  Blass 
Jahrbb.  f.  Phil.  1884  S.  417  ff.  und  Br.  Keil  Hermes  19,  696  ff.  für  die 
spätere  Kaiserzeit  stimmen).     Die  Ueberschrift  lautet  itapatveaecov  Xöyoc  B. 


• 


Die  Vollendung  der  Kunstrede:  Isokrates.  139 

Auf  tief  greifende  Unterschiede  deutet  die  in  den  Handschriften 
verschieden  gestaltete  Ordnung  der  Reden,  wobei  die  Klassen 
der  Enkomien  (X.  XI.  XIII.  IX.),  der  Paränesen  (I.  IL  III), 
der  symbuleutischen  und  endlich  der  gerichtlichen  Reden  zu 
Grunde  liegen  ^). 

Die  eigentliche  Renaissance  beachtete  Isokrates  wenig,  doch 
blieb  er  nicht  unübersetzt.  Den  griechischen  Text  gab  zuerst 
Demetrios  Chalkondylas  zu  Mailand  1493  heraus,  aber  er  wurde 
erst  durch  die  Ausgabe  des  Aldus  (Venedig  1513)  recht  bekannt, 
welche  man  in  Italien  und  Deutschland  mehrmals  nachdruckte. 
Besonders  Joli.  Lud.  Vives  wirkte  für  die  Lesung  des  Isokrates, 
von  dem  er  sagte:  Isocrate  simplicius  ac  purius  cogitari  non 
potest.  Die  erste  wahrhaft  kritische  Ausgabe  verdanken  wir 
Hieron ymus  Wolf;  sie  erschien  zuerst  1551  zu  Basel,  verbessert 
1565  und  beherrschte,  teils  einfach  nachgedruckt  teils  wenig 
überarbeitet,  bis  in  das  vorige  Jahrhundert  hinein  die  Gestalt 
des  Textes;  auch  für  die  Erklärung  legte  Wolf  durch  die  Aus- 
gabe von  1570  den  Grund.  Er  wurde  auf  diese  Arbeiten  hin- 
gewiesen, weil  Excerpte  des  Isokrates  wegen  ihres  moralischen 
Gehaltes  gerne  beim  griechischen  Unterrichte  verwendet  wurden ; 
ich  nenne  nur  Mich.  Neanders  phraseologia  Isocratis  Graecolatina 
(Basel  1558)  und  die  beliebte  Anthologie  Facciolatis  monita 
Isocratea  (Padua  1737  u.  ö.),  welche  auch  in  Deutschland  Ein- 
gang fand.  Neues  Material  brachten  nach  Wolf  erst  William 
Battie  (Isocratis  orationes  septem,  epistolae,  Cantabrig.  1729, 
dann  opera  quae  nunc  quideni  extant  omnia,  Ijondini  1749 
2  Bde.)  und  Athanase  Auger  (Isocratis  opera  omnia,  Paris  1782 
H  Bde.)  bei.  Auch  W.  Lange  (Isocratis  quae  exstant  omnia, 
Halle  1803)  und  besonders  der  berühmte  Hellenist  Adamantios 
Korais  ('lao/patoDC  Xö^oi  %al  iTciaxoXal  [leta  a)(oXicov  TraXawöv,  Paris 
1807  =  Bl^Xlo^v.'fl  'EXX7]vaY]  I.  IL)  förderten  die  Emendation. 
Eine  neue  Periode  begann  mit  Bekkers  Entdeckung,  dass  die 
Urbiner  Handschrift  den  Vorzug  verdiene;  seine  Recension 
(Oratores  Attici  t.  IL  1823)  bildet  daher  die  Grundlagen  der 
Neueren,  unter  denen  Baiter  und  Benseier  (Leipzig  1852,  2  Bde., 


1)  Vgl.  ßr.  Keil  analecta  Isocratea  p.  75  flf.  Schol.  Demosth.  p.  155,  8 
Dind.  setzt  voraus,  dass  die  Rede  gegen  Lochites  hinter  dem  Trapezitikos 
steht,  wie  es  im  Urbinas  wirklich  der  Fall  ist. 


140 


Fünftes  Kapitel. 


« 


2.  Aufl.  von  Blass  1878)  hervorzuheben  sind.  Die  sachliche 
und  sprachliche  Erklärung  beschränkt  sich  auf  die  gelesensten 
Reden,  hier  sind  aber  tüchtige  Leistungen  zu  verzeichnen : 
Ausgewählte  Reden,  Panegyricus  und  Areopagiticus ,  erklärt 
von  Rauchenstein,  Berlin  1849.  ^1882;  ausgewählte  Reden, 
erkl.  von  0.  Schneider,  Leipzig  1859—60.  2  1874—751.  Demo- 
nicüs,  Euagoras,  Areopagiticus;  IL  Panegyricus  und  Philippus. 
An  Einzelausgaben  sind  zu  nennen:  Areopagiticus  von  J.  ; 
Theod.  Bergmann,  Leiden  1819,  wiederholt  und  vermehrt  von  SB 
Gust.  Ed.  ßenseler,  Leipz.  1832;  Euagoras  von  P.  J.  Leloup, 
Mainz  1828  und  Gust.  Ed.  Benseier,  Leipz.  1834;  Oratio  de 
pace  ed.  P.  J.  Leloup,  Mainz  1826;  Panegyricus  ed.  Fr. 
A.  Spohn,  Leipz.  1817,  2.  Aufl.  von  Job.  G.  Baiter,  Leipz. 
1831;  Antidosis  Job.  Casp.  OrelH,  Zürich  1814  und  Ernest 
Havet,  Paris  1863. 


I 


Sechstes  Kapitel. 
Lysias  und  Isaios. 

Lysias:   Leben;     Schulreden    und    Rhetorik;    Gerichtsreden,    ihre    Zeit  und 

i;(;htheil ;  Charakter  der  lysianischen  Beredsamkeit ;  Geschichte  der  Schriften, 

ilaudschriften     und    Ausgaben.      Isaios:    Leben;    Reden;    Stil    und    Ethos; 

äussere  Geschichte  bis  auf  unsere  Zeit. 

Während  das  Verhältnis  des  Isokrates  zu  seinen  Vorgängern 
ungefähr  bestimmbar  ist,  waltete  über  der  älteren  Geschichte 
der  Gerichtsreden  ein  solcher  Unstern ,  dass  der  Weg  von 
Antiphon  zu  Lysias  im  Dunkeln  liegt.  Für  uns  ist  der  letztere 
der  erste  klassische  Vertreter  seiner  Gattung;  es  ist  ein  eigen- 
tümliches Zusammentrefifen ,  dass  Lysias  seiner  Abstammung 
nach  ein  Sohn  des  redegewandten  Siciliens,  wo  die  ersten  Lehrer 
der  gerichtlichen  Beredsamkeit  auftraten,  aber  durch  die  Er- 
ziehung ein  Athener  war.  So  glich  er  selbst  der  von  ihm  ge- 
förderten Literaturgattung  ^). 

Ferikles  hatte  einst  den  reichen  Syrakusaner  Kephalos, 
der   aus  politischen  Gründen   seine  Heimat    verliess,    bewogen, 


1)  Biographien  des  Lysias  schrieben  Dionysios  (de  Lysia  c.  1),  Pseudo- 
plutarcli  (vgl.  Photios  bibl.  262)  uud  Suidas;  vgl.  A.  Schöne  Jahrbb.  f. 
l'hil.  103,  761  ff.  A.  Zucker  Acta  semin.  Erlang.  I  288  ff.  Die  Haupt- 
quellen waren  seine  Reden  „über  .seine  Verdienste"  und  die  erhaltene  zwölfte, 
deren  Angaben  mit  Vorsicht  zu  benützen  sind  (Herrn.  Stetefeldt  de  Lysandri 
l'lutarchei  fontibus,  Bonn  1867  p.  5—22  u.  Philol.  29,  237 ff.,  Otto  Hirt 
«ommentatt.  Lysiacarum  capita  duo,  Berlin  1881,  anders  Chr.  Renner  com- 
uientatt.  Ly.siac.  capita  duo,  Göttingen  1869;  zu  den  einschlägigen  Ereignissen 
»i»!.  auch  K.  Fr.  Scheibe  die  oligarchische  Umwälzung  in  Athen  und  das 
Archontat  des  Eukleides,  Leipzig  1841;  H.  Luckenbach  de  ordine  rerum 
a  pugna  apud  Aegospotamos  commissa  usque  ad  trigintaviros  gestarum, 
Stra-ssburg  1878;  G.  Lübbert  de  amnestia  anno  CCCHI  a.  Chr.  n.  ab  Ath. 
(lecreta,  Kiel  1881).  In  neuerer  Zeit  schrieben  über  das  Leben  des  Lysiaa 
Taylor  (in  Reiskes  oratores  Attici  VI  p.  100 — 158)  und  L.  Hölscher  de 
i.ysiae  oratoris  vita  et  dictione,  Berlin  1837;  s.  Blass  I  331  ff. 


]42  Sechstes  Kapitel 

dass  er  nach  Athen  übersiedelte ').  Hier  wohnte  er  im  Besitze 
des  Privilegiams  der  Jsotelie  ^)  dreissig  Jahre  lang^) ;  nach  seinem 
Tode,  der  in  hohem  Alter'*)  eintrat,  ging  sein  fünfzehnjähriger  Sohn 
Lysias  mit  dem  älteren  Bruder  Polemarchos  nach  der  athenischen 
Kolonie  Thurioi,  wo  sie  blieben,  bis  die  Stadt  von  den  Athenern 
abfiel;  dies  geschah  Ol.  92,  1  (im  Winter  412/1)  ^).  Die  Brüder 
begaben  sich  darauf  nach  dem  Piräus  und  lebten  hier  in  den 
behaglichsten  Verhältnissen  *^).  Lysias  hatte  bei  dem  Dialektiker 
Euthydemos  und  dem  Rhetor  Thrasymachos  Unterricht  ge- 
nommen''), doch  trat  er,  so  lange  er  dazu  nicht  gezwungen 
war,  nie  öffentHch  auf^).  Aber  bald  wurde  er  in  eine  andere 
Lage  versetzt ;  die  Dreissig  richteten,  durch  den  Reichtum  des 
Hauses  angelockt,  Polemarchos  hin  und  Lysias  entging  nur 
durch  die  Flucht  nach  Megara  dem  gleichen  Schicksale. 
Nach  dem  Sturze  dieser  Schreckensherrschaft  klagte   er    sofort 


II 


1)  Lysias  12,4;  „einige''  (Ps.  Plut.  835  c)  behaupteten,  dass  er  vor  Gelon 
floh.  Dies  ist  freilich  kaum  möglich,  aber  politische  Gründe  spielten  jeden- 
falls mit. 

2)  Blass  I  337  A.  3. 

3)  Lysias  12,  4. 

4)  In  Piatos  Staate  tritt  er  als  hoch  betagter  Greis  auf.  Ps.  Plut.  835  cd 
scheint  genauer  als  Dionysios  zu  berichten. 

5)  Die  Biographen  folgen  offenbar  seinen  eigenen  Angaben.  Da  die 
Chronographen  willkürlich  annahmen,  dass  Lysias  gleich  bei  der  Gründung 
nach  Thurioi  ging,  errechneten  sie  daraus  das  Geburtsjahr  Ol.  80,  2  =  459 
(Ps.  Plutarch.  835  c.  836  a  cpaaiv,  vgl.  Andocid.  835  a.  Dionys.  Lys.  1  u>c  «v 
TIC  elxdaetsv,  Isocrat.  1).  Auch  das  Todesjahr  i.st  kombiniert  (Ps.  Plut.  836  a 
gibt  ihm  83,  76  oder  über  100  Lebensjahre,  d.  h.  er  starb  Ol.  101,  1  (also 
ISuiv  A7j|j.ooi*)-EV7jv  jjLEtpaxiov  ovx«),  Ol.  99,  2,  weil  die  jüngste  anerkannte  Rede 
ungefähr  380  fiel)  oder  Ol.  106,  1  (wo  Deraosthenes  zuerst  auftrat).  Da 
Piatos  Staat  weder  sicher  zu  fixieren  ist,  noch  überhaupt  massgebend  sein 
darf,  ist  sein  Alter  nicht  zu  bestimmen,  auch  das  Gedicht  des  Philiskos 
(Bergk  poet.  lyr.  II*  327)  gewährt  keine  zuverlä.ssige  Stütze;  der  Phaidros 
zeigt  aber,  dsiss  er  älter  als  Lsokrates  war.  Vgl.  über  die  verschiedenen  An- 
sichten der  Früheren  Beruh.  Pretzsch  de  vitae  Lysiae  oratoris  temporibua 
definiendis,  Halle  1881  p.  3— 5  und  A.  Weineck  das  Geburtsjahr  des  Lysias 
und  die  sich  daran  knüpfenden  Fragen,  Mitau  1881. 

6)  Lysias  XII.;  Piräus  wahrscheinlich  Plat.  Phaedr.  227  b. 

7;  Vgl.  die  Sceuerie  in  Piatos  „Staat"  I.  Polemarchos  war  nicht  w" 
praktisch ;  er  interessierte  sich  für  Philosophie  Plat.  Phaedr.  267  b. 

8)  Dies  lieweist   Lys.  12,  3;   Plat.   Phaedr.  257  c   zeugt    nicht  dagegen 
vergl.  d. 


I 


Lysias  und  Isaios.  143 

Eratosthenes,  einen  der  Dreissig,  an,  konnte  aber  die  Verur- 
teilung nicht  durchsetzen  ^).  Gleichzeitig  traf  ihn  ein  neues 
Missgeschick.  Weil  er  nämlich  mit  grossem  Eifer  die  Rückkehr 
der  Patrioten  gefördert  hatte^),  beantragte  Thrasybulos,  er  solle 
zum  Danke  das  Bürgerrecht  erhalten.  Aber  wiewohl  Lj'^sias 
selbst  eine  Rede  „über  seine  Verdienste"  hielt,  brachte  Archinos 
den  verfassungswidrigen  Antrag  zu  Fall  ^),  An  Ei-satz  für  die 
materiellen  Verluste  war  noch  weniger  zu  denken;  wollte  also 
Lysias  wieder  reich  werden,  so  bUeb  ihm  nichts  übrig  als  dass 
er  das  Beispiel  des  Gorgias  oder  des  Thrasymachos  nachahmte. 
Er  entschloss  sich  zu  letzterem. 

Diesem  gleicht  Lysias  hinsichthch  der  Ausdehnung  seiner 
Schriftstellerei.  Sein  Verehrer  Fhaidros  hörte  bei  ihm  nach 
der  Fiktion  des  platonischen  Dialoges  einen  Erotikos,  welchen 
Plato  seiner  Schrift  beifügt  %  um  strenge  Kritik  daran  zu  üben. 
Das  Lob,  welches  er  daneben  (234  e)  der  Rede  zukommen  lässt, 
kann,  wenn  Sokrates  nicht  rein  ironisch  spricht,  nur  der 
schlichten  Klarheit  und  der  sorgfältigen  Ausführung  gelten ; 
denn  die  Rede  ist  ziemlich  trocken  und  der  Satzbau,  wenn 
auch  einfacher  als  bei  Gorgias,  zugleich  einförmiger^).  Be- 
sonders folgen  kurze  Antithesen  in  zu  grosser  Fülle  auf 
einander. 

Dieser  Aufsatz  gehörte  zu  einer  Gruppe  von  Reden,  mit 
denen  Lysias  der  Beredsamkeit  ein  neues  Gebiet  eröifnete;  er 
verfasste    nämlich    sieben  Sendschreiben  (sjutaToXi/ol  XöYot),    mit 


1)  Vgl.  Raucheustein  Philol.  10,  599  flf. 

2)  Ps.  Flut.  836  e  f.  aus  Lysias. 

3)  Ps.  Plut.  835  f.  Max.  Planud.  Walz  V  343,  U  W.  (Der  Rat  war 
damals  Doch  nicht  gebildet).  Nach  Scheibe  Jahrbb.  f.  Phil.  31,  359  f.  ist 
die  Erzählung  aus  Aeschin.  c.  Ctesiph.   195  geschöpft. 

4)  Wegen  Phaedr.  228  de  ist  die  Authenticität  unzweifelhaft;  obendrein 
1  adelt  Plato  Einzelnheiten  262  e.  263.  Vgl.  besonders  Aug.  Kr ische  Göttinger 
Studien  II  1  S.  953  ff.  und  Leop.  Schmidt  Verhandlungen  der  Wiener 
rhilologenvers.  (1858)  S.  93  ff.  E.  Egger  Aunuaire  de  Tassoc.  pour  l'encour. 
des  etudes  grecques  5,  17  ff.;  den  lysiauischen  Ursprung  leugneten  K.  Fr.  H  e r- 
111  an n  Abhandlungen  und  Beiträge  zur  klassischen  Litteratur  und  Alterthums- 
kunde,  Göttiugen  1849  S.  1—21,  Steinhart  Piatons  Leben  S.  62—74  und 
Aug.  L.  J.  Schmidt  commentationis  de  Piatonis  Phaedro  particula,  Berlin 
1858  p.   18  ff. 

5)  Die  sonst  nicht  sehr  häufigen  Verbindungen  xal  fxev  8-rj  und  ett  S-rj 
wendet  er  zum  Ueberdruss  an. 


144  Sechstes  Kapitel, 

Ausnahme  eines  einzigen  erotischen  Inhalts,  welche  an  schöne 
Knaben  und  Hetären  gerichtet  waren  ^).  Er  führte  damit  den 
Brief  in  die  Literatur  an. 

Einen  ähnlichen  Stilcharakter  hat  die  olympische  Rede 
('OXofi-Tttaxöc:,  jetzt  XXXIII.),  von  welcher  der  Rhetor  Dionysios 
den  Anfang  erhielt.  Lysias  forderte  die  zu  Olympia  ver- 
sammelten Griechen  in  einer  an  Antitliesen  reichen,  aber  wenig 
prunkvollen  Rede  auf,  vom  Bürgerkriege  abzulassen;  statt  dessen 
wies  er  sie  nicht  auf  den  Perserkrieg  hin.  Er  hatte  gewiss 
nicht  vergessen,  dass  sein  Vater  einst  in  Syrakus  zu  den  ange- 
sehensten Bürgern  gehört.  Darum  bat  er  die  Griechen  und 
vor  allem  die  damals  (Ol.  98)^)  mächtigen  Spartaner,  die  er 
durch  Schmeicheleien  zu  gewinnen  suchte,  sie  möchten  den 
älteren  Dionysios  vertreiben  und  den  Siciliern  die  Freiheit 
wiedergeben. 

Neben  diesen  epideiktischen  Reden  scheint  Lysias  gleich 
Thrasymachos  politische  Musterreden  ^)  verfasst  zu  haben ; 
wenigstens  teilt  Dionysios  ein  Stück  einer  solchen  (jetzt  mit  der 
Nummer  XXXIV.  bezeichnet)  mit,  als  deren  Inhalt  er  angibt, 
was  unsere  Ausgaben  an  Steile  des  Titels  setzen:  Tuspl  toö  (iy] 
xataXöoat  ttjv  ^rarptov  TroXitetav  'A^yjvYjat,  welche  sich 
Lysias  gleich  nach  der  Rückkehr  der  Demokraten  gehalten 
dachte  *).  Der  Stil  ist  nicht  der  der  Praxis,  sondern  sophistisch 
gefärbt. 

Insoweit  gleicht  also  Lysias  Thrasymachos ;  ausserdem  gab 
es  aber  zwei  Schulreden,  welche  der  Richtung  des  Gorgias  an- 
gehörten. Die  Verteidigung  des  beklagenswerten  Nikias 
kennen  wir  bloss  aus  Dionysios  (c.  14) ,  welcher  sie  dem 
Lysias  wegen  ihres  gorgianischen  Charakters  absprach,  obgleich 
Theophrastos  die  Echtheit  bezeugte;  warum  soll  Lysias  nicht 
anfangs  in  der  Technik  unselbständig  gewesen  sein?  Bezüglich 


I 


1)  Vgl.  Suidas,  Ps.  Plut.  836  b.  Der  Platoscholiast  Herraeias  (p.  77  A»\ 
rechnet  den  Erotikos  dazn.  Lysiaa  hatte  viel  mit  Athens  Demimonde  zu 
thun,  vgl.  Ps.  Demosth.  in  Neaer.  21.  Athen.   13,  592  b  c.  693  f. 

2)  So  Diodor  (vgl.  A.  Schäfer  Philol.  18,  187fr.);    Ol.  99  nach  Grol. 

3)  A-r)|ji-riYoptai  Ps.  Plut.  836  b. 

4)  Kritisch  bearbeitet  von  H.  Usener  Jahrbb.  f.  Phil.  107,  145  Ö.; 
vgl.  Grosser  ebend.  101,  693  ft'. ;  nach  Lübbert  a.  O.  S.  68  ff.  ist  die 
Bede  nach  der  Einnahme  von  Eleusis  verfasst. 


I 


Lyslas  und  Isaios.  145 

der  Art  der  Verteidigung  ist  jedenfalls   anzunehmen,    dass   sie 
der  Rede  des  Isokrates  „über  das  Gespann"  glich. 

Anders  ist  über  den  Epitaphios  (II.)  zu  urteilen,  eine 
Rede,  die  wie  das  gleichnamige  Werk  des  Gorgias  bei  einer 
öffentlichen  Leichenfeier  gehalten  sein  will.  Die  Ueberschrift 
sTzizä^pioQ  Tol?  Kopiv^twv  ßoYj^ol?  ^)  ist  eine  blosse  Vermutung; 
Athen  war  in  der  fingierten  Zeit  bereits  von  Konon  wieder 
umwallt  (§  63)  und  hatte  einen  Sieg  aufzuweisen.  An  sich 
müsste  es  schon  auffallen,  wenn  Lysias  später  noch  plötzlich 
die  Manier  des  Gorgias  nachgebildet  hätte;  aber  eine  Stelle  der 
aristotelischen  Rhetorik  beweisst,  dass  der  Verfasser  auch  einen 
Epitaphios  nachahmte ,  der  den  Gefallenen  von  Lamia  galt  ^). 
Er  benützte  überhaupt  seine  Vorgänger,  am  meisten  Isokrates, 
ausgiebig  ^). 


1)  Bei  Band  in  i  catal.  codd.  Graec.  Laurent.  I  555,  2  steht  jedoch  bloss 
KÖ^fOZ  lKt.räf'.oq  sie  touc  sv  itoXsfAio  aTCoS-avovTa?. 

2)  Aristot.  rhet.  3,  10  p.  1411  a  31  citiert  mit  oio^/  ev  xü)  entxafptcj) 
(offenbar  eines  bekannten  Redners)  einen  Satz  von  2,  60,  aber  aus  einer  Rede 
auf  die  bei  Lamia  gefallenen  Athener ;  denn  die  Emendation  ev  Aa|j.'.a  ist 
evident  (vgl.  Spengel  im  Kommentar  p.  407).  Citiert  wird  die  Rede  als 
Werk  des  Lysias  (Dionys.)  rhet.  6,  1,  Harpocr.  v.  Fspavia  u.  s.  w.;  in  einer 
Handschrift  der  Laurentiana  (Bandini  catal.  codd.  Graec.  III  338,  9)  steht 
die  Aufschrift  Afjfj.oaö-Evtxöc  Xo^oc.  Schon  Reiske  orat.  Graec.  V  63  f., 
Valkenaer  orationes  p.  218  und  F.  A.  Wolf  ad  Demosth.  Leptin.  p.  363 
sprachen  Verdacht  aus,  der  gerechtfertigt  wurde  von  Dobree  Adversaria  I 
p.  3  ff.  (der  I  192  isokrateische  Manier  zu  finden  glaubt),  Kölscher  a.  O. 
p.  47  ff.,  Heinr.  Eckert  de  epitaphio  Lysiae  oratori  falso  tributo,  Berlin 
1868  (p.  2  Literaturverzeichnis),  Rieh.  Richter  de  epitaphii  qui  sub  Lysiae 
nomine  fertur  genere  dicendi,  Greifswald  1881  (vom  Gesichtspunkte  der 
Sprache  aus);  Reuss  Rhein.  Mus.  38,  148  ff.,  Br.  Keil  analecta  Isocratea 
p.  98;  unter  den  Verteidigern  der  Echtheit  sind  G.  Gevers  de  Lysia  epitaphii 
iiuctore  Caput  alterum,  Göttingen  1839  (p.  44 — 64  über  den  Stil)  und  L.  Le 
Be  au  Lysias'  Epitaphios  als  echt  erwiesen,  Stuttgart  1863  (p.  2— 4  testimonia 
veterum  [es  fehlt  Schol.  Demosth.  epitaph.  10],  p.  4  —  10  Literaturangaben), 
vgl.  Jahrbb.  f.  Phil.  93,  808  ff. 

3)  Rud.  Scholl  Philol.  25,  167  und  Reuss  Rhein,  Mus.  38,  149  (anders 
Le  Beau  a.  O.  p.  62  ff.);  über  das  Verhältnis  zu  Thukydides  Blass  I  432  ff. 
437,  zum  Menexenos  des  Plato  Carl  Schönborn  über  das  Verhältnis  in 
welchem  Piatons  Menexenos  zu  dem  Epitaphios  des  Lysias  steht,  Breslau  1830 
(Progr.  V.  Guben),  K.  W.  Krüger  hist.-phD.  Studien  I  238  ff.,  Vitus  Lörs 
quae  ratio   inter  Piatonis  Menexenum  et  Lysiae  laudationem   s,  epitaphium 

S  i  ttl ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  10 


146  Sechstes  Kapitel. 

Zu  den  sophistischen  Uebungen  des  Lysias  gehörte  endlich 
eine  Verteidigung  des  Sokrates\\  welche,  da  er  dem 
Philosophen  keineswegs  vertraut  war,  nicht  aus  wahrer  Empfin- 
dung entsprang,  sondern  bloss  die  paradoxe  Anklageschrift 
des  Folykrates  (S.  73)  bekämpfen  sollte ;  ebenso  schrieb 
Lysias,  wie  es  heisst,  gegen  die  ,, zeugenlose"  Rede  des  Isokrates 
(S.  102). 

Da  er  jüngere  Leute  in  seiner  Kunst  unterwies,  musste  er 
nach  dem  Brauche  nicht  bloss  jene  Musterreden  verfassen, 
sondern  den  Schülern  auch  Stücke  zum  Auswendiglernen  an 
die  Hand  geben  ^);  ein  rhetorisches  Handbuch  war  aber  nicht 
vorhanden.  Der  Grund  dürfte  darin  liegen,  dass  er  als  Lehrer 
sich  mit  Theodoros  von  ßyzanz  nicht  messen  konnte  ^)  und 
bald  aufhörte,  Unterricht  zu  erteilen.  Nichtsdestoweniger  fuhr 
er  fort,  wie  seine  Verteidigung  des  Sokrates  und  Piatos  Phaidros, 
dessen  Polemik  sonst  zu  spät  käme,  darthun,  epideiktische 
Reden  abzufassen  und  einigen  Anhängern  mitzuteilen. 

Seine  Hauptthätigkeit  richtete  aber  Lysias  auf  die  Abfassung 
der  gerichtlichen  Reden,  worin  er  Theodoros  weit  hinter 
sich  Hess.  Wie  beschäftigt  der  geschickte  Anwalt  war,  zeigt 
die  blosse  Zahl  der  überlieferten  Reden ;  nicht  weniger  als  425 
trugen  seinen  Namen  und  auch  strenge  Kritiker  erkannten 
volle  233  Reden  für  echt  an").  Wir  kennen  über  160 
Titel  von  echten  und  unechten  Reden-'*),  die  hier  aufzuführen, 
nichts  nützen  würde;    dagegen    muss    die  erhaltene  Sammlung 


intercedat  I.  Trier  1846,  Pius  Knöll  sind  Beziehungen  zwischen  dem  Epi- 
taphios  im  Menexenos  und  dem  sogenannten  Lysianischen  nachzuweisen  ? 
Krems  1873. 

1)  Es  bildete  sich  daher  die  Anekdote,  dass  er  Sokrates  eine  Verteidig- 
ungsrede anbot,  ohne  ihn  zur  Annahme  bewegen  zu  können  (Cic.  de  orat.  1 
64,  231  [Quintil.  2,  16,  30.  11,  1,  HJ.  Diogen.  2,  40). 

2)  Marcellin.  ad  Hermog.  Walz  rhet.  IV  362,  7  elol  -(ap  ol  totoüxot  ton&i 
YEYUfivaojxevot  tij)  Auotqc  ev  Tale  itapaaxEüatc- 

3)  Aristot,  bei  Cic.  Brut.  12,  48  quod  Theodorus  esset  in  arte  subtilior. 

4)  Ps.  Plut.  836  a  cod.  B  (vulg.  230)  =  Photios  biblioth.  cod.  262  p. 
488  b  16.  Die  Kritiker  werden  oberflächlich  mit  ol  uepl  Acovuoiov  xal  Kat- 
xtXtov  bezeichnet.  Da  Dionysios  (Lys.  c.  17)  von  Staxooiouv  ohv.  eXdxTO'j-: 
8txavixou5  Xo-fOüc  spricht,  scheint  jene  Zahl  seine  Ansicht  wiederzugeben; 
eine  mildere  Kritik  (Suidas)  beliess  Lysias  über  300  Reden. 

6)   Verzeichnet  bei  Blass  1  348  ff.  III  2,  336  f. 


I 


Lysias  und  Isaios.  147 

einer  kritischen  Prüfung  unterzogen  werden.  Wir  besitzen  noch 
(Ireissig  gerichtliche  Reden ,  wozu  die  Rede  gegen  Diogeiton 
(XXXII.)  l<:omtnt,  von  welcher  Dionysios  einen  grossen  Teil 
erhalten  hat;  dagegen  ist  die  erste  Rede  „über  die  Tötung 
des  Eratosthenes"  abzusondern,  weil  sie  ursprünghch  mit 
dem  Epitaphios  (IL)  eine  gesonderte  Ueberheferung  hatte;  sie 
wurde,  wie  der  Epitaphios,  von  den  Alten  anerkannt.  Was 
nun  aber  die  eigentliche  demnach  aus  neunundzwanzig  Reden 
1  )estehende  Sammlung  betrifft,  so  ergibt  sich  ein  für  das  kritische 
Ih'teil  des  Sammlers  sehr  ungünstiges  Resultat.  Von  Dionysios 
und  Harpokration  sind  nämlich  nur  zwei  Reden  bezeugt: 
XII.  xata  'Epatoa^EvoD?^) ; 

VII.    TlSpt    TOÖ    OTj/OÖ  ^). 

Dieselben  erwähnen  sonst  sechs  Reden ,  bezeichnen  sie  aber 
als  verdächtig : 

VI.  xat'  'AvSoxiSoo  aasßeia?;^); 
IX.  U7:£p  (;:spl)  von  OTpattWTOO  ^) ; 
X.  xata  0so[iV7JOTao  d  ^); 
XIV.  xata  'AXxtßtdSoo  XeiTtota^too  ^) ; 
XXIV.  oTtäp  (TTspl)  TOD  aSuvdrou '') ; 

XXX.  xata    Nixo[td5(oa    (Nixo]xcL-/idoo)    '{pa\i\LCLviiiiQ     so^ovwv 
xaTYjYopia  ^). 


1)  Paradox  Alph.  Heck  er  de  oratione  in  Eratosthenem  trigintavirum 
Lysiae  falso  tributa,  Leiden  1848. 

2)  Gotth.  Meutzner  comment.  de  Lysiae  oratione  nspl  toö  aYjxoi), 
Leipzig  1860  (Festschrift  von  Plauen). 

3)  Harpocr.  v.  v.aza-:z\r^t.  und  cpapjxaxo«; ;  vgl,  Sluiter  lectiones  Andocideae 
ed.  C.  Schiller  p.  111  ff. 

4)  Harpocr,  v.  oiv.aitoot(;. 

5)  Harpocr.  v.  aniXXsiv^  aitopp-fjta,  T:£cpaG[j.sv7]i;,  TCo3oxdxxf);  vgl.  Konr. 
Herrmann  zur  Echtheitsfrage  von  Lysias'  X.Rede  und  über  das  Verhältnis 
zwischen  Rede  X.  und  XL,  Pr.  v.  Hannover  1878.  Er  schreibt  sie  einem 
späten  Rhetor  zu;  Blass  Bursians  Jahresber.  1880  I  S,  184  wei.st  auf  eine 
merkwürdige  Aehnlichkeit  (§  28)  mit  dem  Epitaphios  hin. 

6)  Harpocr.  v.  'AXv.tßtärjYjc. 

7)  Harpocr.  v.  aSuvatot. 

8)  Harpocr,  v.  eitißoXv].  Die  Anklageforra  i.st  streitig,  vgl.  Ott«  Guide 
quaeationes  de  Lysiae  oratione  in  Nicomachum,  Berlin  1882  p.  28  ff.,  F.  von 
Stoj  entin  Jahrbb.  f.  Phil.  121,  200  ff.  und  P.  S  c  h  u  1 1  z  e  de  Lysiae  oratione 
trigesima,  Berlin  1883. 

10* 


lAQ  Sechstes  Kapitel. 

Zu  dieser  Gruppe  gehörte  auch  die  Rede  xata  Ntxt'Soo 
apY^ac,  welche  aus  der  Handschrift  ausfiel^). 

Die  übrigen  einundzwanzig  Reden  aber  sind  von  den 
Kritikern  in  keiner  Weise  erwähnt: 

III,  Tcpöc  S[[itova  axoXoYia ; 

IV.  TTspl  tpaDjJLatoc:  Ix  Tcpovotac ; 
V.  oTi^p  KaXXtoo  tspoaüXiac:  aizoko'^la; 

XI.  xata  ©soprjaTOo  ß'; 
XIII.  xata  'AYopatoo; 
XV.  xata  'AXxtßtaSoD  aatpaTSia?; 
XVI.  iv  ßooX-;]  MaVTid-§(p  8oxL[i-aCo[JLSV(j>  aTroXoYia^); 
XVII.  SYjiiootwv  aSLXY][idT(öv  (Sauppe  xp7j[j.ato)v) ; 
XVIII,  Tcspi  8Y]{j.sDa£(ö(:  Tcöv  Toö  Ntxioo  aSsX^oö  (Eoxpatooc  nur 
im  Epilog^); 
XIX.  ;cspl  Twv  'ApioTO^pavooc   xpTrjjiatcov   xpöq   x6   Syitiöatov*); 
XX.  oTtsp  noXuaTpaTOo ; 
XXI.  (XTtoXoYia  SwpoSoxiac  a7rapdoir][io<;^); 
XXII.  xata  Twv  otTOTrtoXwv  ^) ; 
XXIII.  xaxa  naYxXiwvoc  Ott  oox  -^v  riXataieoi:; 
XXV.  ÖYjtioo  xataXoaswc  aTuoXoYia  (das  Ende  felilt); 
XXVI.  TTspl  f^?  EoavSpoo  Soxt[i-aaia(;  (der  Anfang  fehlt); 
XXVII.  xata  'ETCtxpdtoü?   xal   twv    oojiTcpsoßsotwv    kniko'^of:   ax; 
OeöSwpoc '') ; 

1)  Ilarpocr.  v.  SiaYpd^J'aofl'at,  e5'6'5vai,  h^oXoaxazei. 

2)  Volk  mann  Rhetorik  S.  222  glaubt,  es  sei  der  Epilog  verloren 
gegangen. 

3)  Der  Titel  ist  im  Palatinus  hinzugefügt,  weil  der  Anfang  verloren 
ging;  Galenos  XVIII  2,  657  K  citiert  xaxcc  IIoXiou/ou.  Kölscher  sah  in  der 
Rede  eine  Deuterologie ;  Emil  Gotth.  Sachse  quaestionum  Lysiac.  specimen, 
Halle  1873  behauptet,  es  handle  sich  um  eine  irapaYpatp-rj  und  hält  die  Rede 
für  überarbeitet;  zur  Sache  vgl.  Rud.  Scholl  qnaestiones  fiscales  juris  Attici, 
BerUn  1873  p.  17  ff. 

4)  ßakius  scholica  hypomnemata  III  211fr. 

5)  Bakius  a.  O.  lU  252  ff. 

6)  Bakius  a.  O.  III  255  ff. 

7)  Job.  M.  Hentschel  quaestionum  de  Lysiae  oratione  Epicratea capita 
duo,  Meissen  1874;  Rud.  Scholl  a,  O.  p.  14  ff.  Wenn  die  Rede  nicht 
verstümmelt  ist,  wie  aus  dem  nicht  aufzufindenden  Citate  bei  Bekker  Anecd. 
103,  11  vermutet  wird,  dann  muss  sie  eine  Deuterologie  sein;  Hentschel  hält 
sie  für  eine  peroratio.  Nach  U a  m  a  ker  quaestt.  de  nonnullis  Lysiae  orationibus, 
Leiden  1843  p.  72  ff.  ist  die  Rede  aus  zwei  Fragmenten,  von  denen  das  eine 
§  1  Evfl-üjxeioö-ai  —  9  Koic  fäfi  umfusst,  zusamnieugesctzt. 


I 


Lysias  nnd  Isaios.  149 

XXVnr.  xata  'EpYOxXsooc  sttiXoyoc; 
XXIX.  xaxa  <I>iXoxpaToo?  ItciXo^oc; 
XXXI.  xata  4>iX(ovoc  8oxi[j.aaiac:. 

Eine  besondere  Stelle  verdient  die  Rede  ;cpö<:  tooc  oovoo- 
Giaora?  xaxoXoYtwv  (VIII.),  welche  nicht  vor  Gericht,  sondern 
in  einer  Klubbsitzung  gegen  ein  anderes  Vereinsmitglied  ge- 
halten ist. 

Die  erhaltene  Sammlung  leidet  an  vielen  Fehlern;  nicht 
der  schlimmste  vielleicht  besteht  darin,  dass  die  Kritik  des 
Dionysios  und  Caecilius  ignoriert  wird ,  denn  die  kritische 
Methode  der  Alten  war  nicht  selten  leicht  anfechtbar.  Aber 
der  Sammler  mischte  unter  die  eigentlichen  Reden,  in  welchen 
der  Fall  von  Anfang  an  vollständig  exponiert  wird,  mehrere 
Epiloge  (mindestens  XVIII.  XXVII— XXIX.)  und  Deuterologien, 
welche  der  Sacherklärung  grosse  Schwierigkeiten  bereiten.  Was 
soll  man  vollends  von  dem  Urteile  dessen  denken,  der  zwei 
Doubletten  nicht  verschmähte?  Die  Anklagen  gegen  Alkibiades 
und  Theomnestos  wurden  nämlich  von  späteren  Rhetoren  zur 
Uebung  umgearbeitet  (XI.  XV.),  ohne  dass  dies  bei  der  Zu- 
sammenstellung bemerkt  ward.  Endlich  lässt  das  lysianische 
Corpus  überhaupt  Ordnung  und  Planmässigkeit  vermissen ,  die 
Privatreden  sind  z.  B.  nur  durch  wenige  Proben  vertreten. 
Nehmen  wir  dazu  noch,  dass  die  Ueberlieferung  des  Textes 
schlecht,  teilweise  sehr  schlecht  ist,  so  wird  man  die  Schwierig- 
keiten, mit  denen  die  höhere  Kritik  bei  Lysias  zu  kämpfen  hat, 
würdigen  können. 

Ein  von  dem  Geschmacke  des  Einzelnen  unabhängiges 
Moment  ist  die  Zeit  der  Reden  ^):  Wir  wir  sahen,  kann  Lysias 
erst  nach  der  Rückkehr  der  Demokraten,  als  er  nicht  mehr  der 
reiche  Mann  wie  ehedem  war,  Rechtsanwalt  geworden  sein. 
Daher  darf  über  die  Unechtheit  der  Rede  für  Polystratos 
(XX.)  kein  Zweifel  bestehen  ^) ;  denn  der  Prozess  fiel  zwar  nach 


1)  Vgl.  Stutzer  Hermes  15,  22  ff.  (über  die  Abfassungszeit  der  7.  14. 
18.  21.  und  25.  Rede). 

2)  Ol.  93,  2  nach  Blass  I  503,  ol.  92,  2  Krüger  zu  Clinton,  fasti 
Hell.  p.  85  u.  Röhl  Hermes  11,  378  f.;  vgl.  über  den  Inhalt  der  Rede,  der 
wegen  vermeintlicher  historischer  Irrthümer  Anstoss  erregte,  FranzK. Franke  1 
de  oratione  pro  Polystrato  habita  I.  Berlin  1869;  Walter  Parow  de  orationis 
quae   inter  Lysiacas    lociim    obtinet   vicesimum    bizkp   IIoXüatpdTot)    inscriptae 


J50  Sechste«  Kapitel. 

dem  Staatsstreiche  der  Vierhundert  (§  22),  aber  vor  der  Herr- 
schaft der  Dreissig  vor.  Vielleicht  war  die  Arginusenschlacht 
noch  nicht  geschlagen. 

Lysias  selbst  hielt  -/Aierst  eine  Rede  in  eigener  Sache,  als 
er  Eratosthenes  für  den  Tod  seines  Bruders  verantwortlich 
machen  wollte;  dies  geschah  403,  als  die  Dreissig  noch  in 
Eleusis  waren  ^).  Bald  darauf  beginnt  eine  dicht  geschlossene 
Kette  von  Reden,  die  zwischen  den  Jahren  402  und  380  abge- 
fasst  sind.  Dem  fünften  Jahrhunderte  gehören  noch  an  die  XXV. 
(403/2)2),  XXI.  (etwa  401)/^),  XXXII.  (bald  nach  402)*),  vielleicht 
auch  XXIV.  (einige  Jahre  nach  403,  s.  §  25).  In  das  nächste 
Jahrzehnt   fallen    die  VI.  (etwa  399),    XXX.   (399/8,  vgl.  §  5), 

XIII.  und  XXXI.  (in  den  Jahren  nach  400?)  5),  XVII.  (397, 
vgl.  §  3  und  5),  XVIII.  (vor  dem  korinthischen  Kriege,  §  15), 

XIV.  (395/4)6)  ^^^  Yii  (etwa  396/5,  vgl.  §  11).  Diesen  folgt 
die  XVI.  (zwischen  392  und  389  geschrieben,  vgl.  §  10.  15)'). 
Noch  späterer  Zeit  entsprangen  die  Reden  XXVIII.  (389)  und 
die  daran  anknüpfenden  XXVII.  und  XXIX.,  ferner  XIX.  (387)«), 
XXII  (387  oder  bald  darauf)  9),  X.  (384/3,  vgl.  §  4)  und  XXVI. 
(382)  ^*');  die  jüngste  war  die  durch  Dionysios  uns  bekannte  Rede 
„für  Pherenikos",  welche  um  das  Jahr  380   fiel.     Nach   dieser 


forma  et  auctore,  Berlin  1870  (Diss.  v.  Halle);  Th.  Thalheim  des  Lysias 
Rede  für  Polystiatos,  Pr.  des  Elisabethgymn .  Breslau  1876;  Aug.  Pobl  de 
oratioue  pro  Polystrato  Lysiaca,  Strassburg  1881. 

1)  Vgl.  Frohberg  er  Jahrbb.  f.  Phil.  82,  408  ff.;  Grosser  Jahrbb. 
f.  Phil.  99,  193  ff.  465  ff. 

2)  Blass  I  496,  nach  Stutzer  etwas  später. 

3)  Nach  Blatts  I  609  401  oder  400,  nach  Froh  berger  und  Grosser  a.  O. 
403,  nach  Stutzer  402,  jedenfalls  bald  nach  der  Kestauratiou  verfasst,  wie 
§  17  zeigt. 

4)  Blass  I  620. 

6)  Rauchenstein  nnd  Blass  I  657  (etwa  398  oder  noch  später).  477 
(etwa  398). 

6)  Alex.  Falk  (in  der  Uebersetzung),  Kauch  enst  ein  Schweiz.  Mus. 
1862  S.  273  ff.,  Blass  I  486;  unsicher  nach  Stutzer. 

7)  Bald  nach  394  oder  393  Fr  oh  berge  r  Jahrbb.  f.  Phil.  82,  412  f. 

8)  Vgl.  §  60  mit  Xenoph.  Hell.  6,  1,  25. 

9)  Blass  III  2,  340  ff.  wegen  §  8  nnd  14,  vgl.  Falk  p.  266,  nach  389 
C.  Fuhr  animadv.  in  orat.  Att.  p.  16  f.  adn. 

10)  Sauppe   epistola   critica  p.  19ff. ;   Blass  I  470  ff.     Aus.serdem  fällt 
in.  nach  394  (§46). 


Lysias  nnd  Isaios.  151 

Zeit  gab  Lysias  entweder  freiwillig  sein  Geschäft  auf,  um  den 
Erwerb  in  Müsse  zu  geniessen  oder  es  hinderte  ihn  der  Tod 
an  weiteren  Arbeiten.  Dionysios  hatte  daher  gewiss  Recht,  als 
er  zwei  für  Iphikrates  bestimmte  Reden  aus  den  Jahren  372/1 
und  354,  welche  überdies  im  Stil  abwichen,  Lysias  absprach  ^). 

Nächst  der  Zeit  bleibt  die  Beobachtung  des  Hiatus  nicht 
rosultatlos;  während  nämlich  Lysias  um  den  Zusammenstoss 
der  Vokale  sich  natürlich  nicht  bekümmert  hat,  steht  die 
Klubbrede  (VIIL)  auf  dem  Standpunkte  der  isokrateischen 
Gerichtsreden  ^).  Deswegen  ist  es  aber  nicht  notwendig ,  dass 
sie  eine  des  praktischen  Zweckes  entbehrende  Deklamation 
eines  späteren  Rhetors  war^). 

Auf  die  zwei  bisher  verworfenen  Reden  wurde  ein  Mittel 
angewendet,  durch  das  manche  in  neuester  Zeit  die  Probleme 
der  lysianischen  Kritik  mit  einem  Schlage  lösen  zu  können 
glaubten.  Es  liegt,  wie  oben  angedeutet  ist,  auf  der  Hand, 
dass  die  zweiten  Reden  gegen  Theomnestos  (XL)  und  Alkibiades 
(XV.)  ^)  nichts  anderes  als  verkürzte  Variationen  der  vorher- 
gehenden Originale  sind.  Ich  gebrauche  absichtlich  diese 
Wendung  statt  ,,  Auszug",  weil  jene  Uebungen  nicht  ausführliche 
Inhaltsangaben  vorstellen ,  sondern  Bearbeitungen  desselben 
Gegenstandes  sind,  deren  geringerer  Umfang  sehr  einfach  er- 
klärt werden  kann.  Da  nun  in  unserer  Sammlung  mehrere 
Reden  sehr  lückenhaft  überliefert  sind  oder  über  den  Fall,  für 
welchen  sie  einst  bestimmt  waren ,  dürftige  Andeutungen  geben, 
hielten  es  mehrere  Gelehrte  für  angezeigt,  statt  dass  sie  die 
allgemeine  Mangelhaftigkeit  der  üeberlieferung  in  Betracht 
zogen    oder   untersuchten,    ob    eine    Deuterologie    vorliege,    die 


1)  Dionys.  Lys.  12;  vgl.  über  die  Zeit  der  zweiten  Eede  A.  Schäfer 
Demosthenes  und  seine  Zeit  I  S.  153  f.  A.  4. 

2)  ßenseler  de  hiatu  p.  183,  berichtigt  von  Ernst  Fritzsche  de 
Pseudo-Lysiae  oratione  octava,  Jena  1877  (Diss.  v.  Kostock)  p.  9  f.  und  Blass 
III  2,  338.  Schon  Markland,  Taylor  und  Eeiske  bezweifelten  die  Echtheit; 
vgl.  Pert  z  quaestion.  Lysiac.  p.  16  flf.,  B  1  a  s  s  I  655  flf.,  Kirchner  quaestion. 
Lysiac.  specimen,  Demmin  1869,  Th.  Gleiniger  Hermes  9,  150flf.  Die 
Rede  kann  natürlich  nicht  eine  Jugendschrift  sein,  wie  Spengel  ouvw-YtuY*»] 
p.  125  und  Audere  vor  Benseier  meinten;  nach  Th.  Bergk  Philol.  14,  183 
ist  sie  ein  Scherz. 

3)  H.  Bürmann  Hermes  10,  347  ff. 

4)  Markland  wollte  XV.  und  XIV.  zu  einer  Rede  verbinden. 


152  Sechstes  Kapitel. 

Schuld  lieber  auf  einen    excerpierenden  Rhetor   zu  schieben  ^). 

Aus  der  Sprache  die  Unechtheit  einzelner  Reden  zu  ei 
schliessen,  wäre  bei  dem  oben  geschilderten  Zustande  ein  ausser- 
ordentlich schwieriges  Unternehmen.  Höchstens  darf  man  aus 
den  juristischen  Formeln  Schlüsse  zu  ziehen  wagen;  so  hat 
Lysias  für  die  Aufrufung  der  Zeugen  drei  bestimmte  Formeln: 
xai  jJLOi  avaßiTjTS,  xai  {AOi  xaXst  toüc  [xaptopa':  ^)  und  {Adpropa«; 
:cap£to[jLat ,  was  12,  61  hübsch  variiert  wird.  Hierin  weichen 
ausser  der  sicher  unechten  XX.  Rede^)  die  XXXI.  und  be- 
sonders die  XXIII.  Rede  ab*);  nicht  so  einfache  Schlüsse  sind 
bei  der  Anrede  an  die  Richter  zu  ziehen^) :  Wenn  der  Sprechende 
vor  dem  Rate  steht,  gebraucht  er  regelmässig  die  Formel  w 
ßooXT]  ^),  nur  in  XXVI.  wechselt  sie  mit  w  avSpe?  ßooXsotat 
(§  20).  Es  ist  dies  die  letzte  erhaltene  Rede,  so  dass  der 
Unterschied  vielleicht  mit  der  Ciironologie  in  Zusammenhang 
zu  bringen  ist.  In  Kapitalprozessen  werden  der  Wichtigkeit 
der  Sache    wegen    die   Richter    auch    als    ,, athenische  Bürger" 


I 


1)  Schon  Dobree  adversaria  critica  I  198  verfiel  bei  der  vierten  Rede, 
vFelche  Taylor  verworfen  hatte,  auf  dieses  Auskunftsmittel;  indes  ist  hier 
der  Anfang  verloren  (Scheibe,  Francken,  Blass  I  590) ;  über  •  die  VIII.  Rede 
Gleiniger  Hermes  9,  lölflf.  Stutzer  Hermes  14,  499  ff. ;  über  die  IX. 
Stutzer  a.  O.  (Blass  I  608  ff",  bestreitet  dies  und  nimmt  die  Unechtheit  der 
sehr  schlecht  überlieferten  Rede  an);  von  XX.  behauptet  Walter  Parow  de 
orationis  quae  inter  Lysiacas  locum  obtinet  vicesimum  .  .  .  forma  et  auctore 
Halle  1870,  sie  bestehe  aus  den  Resten  von  zwei  Reden  (nämlich  11.  12.  19. 
23 — 36  und  8.  21.  22),  während  das  übrige  epitomiert  sei;  letzteres  dehnen 
Emil  Albrecht  de  Lysiae  oratione  XX.,  Berlin  1878  und  Stutzer  a.  O. 
auf  die  ganze  Rede  aus  (Auch  diese  ist  eine  Dcuterologie,  welche  der  älteste 
Sohn  des  Angeklagten  hielt).  Die  XXX.  Rede  ist  epitomiert  nach  Albrecht 
a.  O.  p.  65  thes.  3,  Stutzer  a.  O.  und  Paul  Schnitze  de  Lysiae  oratione 
XXX.,  Berlin  1883  (p.  37 — 42  über  Stil  und  Sprache).  Auch  hier  lösen  sich 
die  Schwierigkeiten,  zumal  da  ein  Proömium  fehlt,  wenn  man  eine  Dcutero- 
logie annimmt  (Blass  I  460). 

2)  Bei  einem  einzelnen  xdXeaov  21,  10. 

3)  Hier  steht  §  26  das  seltene  xa>.d>  statt  xdXst. 

4)  Erstere  hat  die  Wendung  „dsis  lasst  euch  von  den  Zeugen  sagen" 
(§  14.  23);  in  der  XXIII.  fügt  der  Redner  jener  dritten  Formel  regelmässig 
(4.  8.  11.   14.   16.)  bei:  entXaße  tö  SScup. 

6)  C.  F.  Rocke  1  de  allocutionis  usu  qualis  sit  apud  Thucyd.  Xenoph. 
oratores  Dionem  Aristidem,   Königsberg  1884  war  mir  noch  nicht  zugänglich. 
6)  III.  IV.  VII.  XVI.  XXIV.  XXXI. 


I 


Lysias  und  Isaios.  153 

angeredet^);  nur  die  XXX.  Rede  gegen  Nikomachos  weicht 
davon  ab.  Andererseits  kommt  letztere  Anrede  in  der  XXVIII. 
Rede  ausschliesslich  und  in  der  VI.  mit  einer  Ausnahme    vor. 

Jene  (gegen  Ergokles  gerichtet)  muss  ausserdem  dadurch 
unseren  Verdacht  erregen,  dass  Lysias  gegen  einen  Freund  des 
Thrasybulos  eine  die  Hinrichtung  beantragende  Rede  geschrieben 
und  auch  den  Steirier  selbst,  der  ihm  dereinst  das  Bürgerrecht 
zu  verschaffen  gedacht  hatte,  nicht  besonders  freundlich  be- 
handelt haben  soll ;  auch  Harpokration  bezeichnet  die  Rede  als 
verdächtig. 

Für  die  Echtheit  der  VI.  Rede  gegen  Andokides, 
welche  gleichfalls  schon  die  Alten  anzweifelten,  tritt  ohnehin 
niemand  ein'^).  Sie  ist  ja  nicht  bloss  des  gewandten  Advokaten 
wegen  der  schlecht  geordneten  Masse  unbewiesener  Beschul- 
digungen unwürdig,  Lysias  hätte  auch  die  geschmacklosen 
Bilder,  welche  für  eine  solche  Rede  nicht  passen,  vermieden. 
Dafür  aber,  dass  ein  später  Sophist  das  Thema  zur  LTebung 
bearbeitet  habe  ^),  ist  der  Beweis  nicht  erbracht. 

Von  den  übrigen  Stücken,  welche  die  gewöhnliche  Anrede 
d)  avSpsc  Stxaarai  bieten,  sondern  sich  die  XIX.  Rede,  wo  §  34 
bloss  d)  SixaoTai,'  steht,  und  die  durch  Dionysios  bekannte  XXXII. 
ab,  w^elche  ausser  dem  siebenmal  gebrauchten  üblichen  Titel 
dreimal  den  kürzeren  und  §  21  bloss  d>  avSpec  anwendet. 

Noch  schwieriger  ist  alles,  was  den  Stil  betriö't,  zu  beurteilen : 
Da  Lysias  wenig  Pathos  zu  entwickeln  pflegt,  so  sei  bemerkt, 
dass  er  selbst  an  Ausrufen  sich  höchstens  Trpo?  dswv  'OXu[x;rto)v 
13,  95  und  19,  34.  54)  gestattete;  aber  besonders  die  XIX. 
ist  verdächtig,  weil  dort  (§  34)  noch  «psps  vorantritt ^).  Nur 
der  Verfasser  der  VI.  Rede  sagt  [la  töv  Aia  (7.  32.  38),  nur 
der  von  VIII.  [la  todc  d-Bobc,  (18). 

Der  massvollen  Forschung  ist  hier  ein  fruchtbares  Feld 
eröffnet;  schablonenhafte  Monographien  dagegen  werden  bei 
Lysias  noch  mehr  als  anderswo  das  Ziel  verfehlen. 


1)  I.  VI.  XII.  XIII.  XXVII.  XXVIII. 

2)  Vgl.  Blass  I  566  ff. 

3)  Francken  p.  44  f.,   Falk  in  der  üebersetzung  S.  69;   gegen  Sluiter 
lection.  Andocideae  p.  170.  Vgl.  Kirchhoff  Hermes  1,  7  ff. 

4)  ^epe  §Yj  {'(äp)  gebraucht  er  bIos.s  in  seiner  ersten  Rede  §  34.  62.  94; 
ausserdem  steht  es  in  den  beiden  unechten  Reden  VI.  und  VIII. 


154  Sechstes  Kapitel. 

Aus  der  eigentümlichen  Beschaffenheit  des  lysianischen 
Nachlasses  geht  hervor,  dass  bei  einer  Charakteristik  des 
Redners^)  die  Urteile  der  Alten,  besonders  des  Dionysios  von 
Halikarnass ,  welcher  diesen  Gegenstand  in  einer  besonderen 
Schrift  behandelte,  za  Grunde  zu  legen  und  mit  den  vorhandenen 
Denkmälern  der  lysianischen  Beredsamkeit  zu  belegen  sind. 

An  der  Sprache  des  Lysias  rühmen  alle  die  Reinheit;  er 
gebrauchte  weder  veraltete  oder  dichterische  Wörter  noch  stieg 
er  auf  die  Gasse  herab,  sondern  seine  Sprache  war  die  der  ge- 
bildeten Leute  jenes  Zeitalters.  Es  versteht  sich  aber  dabei 
von  selbst,  dass  Lysias,  wenn  es  gerade  der  Ton  eines  Ab- 
schnittes forderte  und  der  Charakter  des  Sprechers  damit 
harmonierte,  auch  Ausdrücke  des  höheren  Stiles,  seltenere 
Wörter,  ungewöhnliche  Zusammensetzungen  und  kühne  Meta- 
phern sich  nicht  entgehen  liess^).  So  wurde  die  Einfachheit 
der  Sprache  nicht  zugleich  zur  Einförmigkeit.  Lysias  pflegt 
sich  knapp  auszuaiücken,  ist  aber  doch  weit  entfernt  davon, 
nur  das  notwendige  zu  sagen;  wo  er  Eindruck  machen  will, 
zumal  in  den  Epilogen,  kommen  Paare  von  Synonymen^)  gar 
nicht  selten  vor  und  auch  das  allen  Klassikern  gemeinsame 
Streben  nach  Symmetrie  hat  zu  wiederholten  Malen  Satzglieder 
gedehnt*).  Immerhin  liefert  Lysias  den  sprechenden  Beweis, 
dass  Klarheit  nicht  an  Ausführlichkeit  geknüpft  sei;  er  bleibt 
stets  deutlich  und  verständlich,  mag  er  gleich  sich  oft  die  Be- 
quemlichkeit der  Umgangssprache  gestatten  und  die  Personen,  um 
welche  es  sich  handelt,  nur  mit  „er"  oder  ,, dieser"  bezeichnen^). 
Auch  Ellipsen  lässt  er  zu  ^),  wenn  dadurch  der  Sinn  nicht 
verdunkelt  wird.  Die  Satzbildung  des  Redners  ist  ausser- 
ordentlich einfach ;  die  zwei  am  häufigsten  angewendeten  Binde- 


1)  Ausser  Blass  und  Girard  (s.  oben  S.  33)  vgl.  Fiiedr.  Berbig  über 
das  genus  dicendi  tenue  des  Kedners  Lysias,  Pr.  v.  Cüstrin  1871;  Gg.  Carel 
de  Lysiae  judiciali  sernione  sententiae  vetcrum,  Halle  1874. 

2)  Georg  Carel  de  Lysiae  judiciali  sermone  sententiae  veterum,  Halle 
1874  p.  14 — 18.  Glciniger  Hermes  9,  171  (hier  sind  auch  die  wenigen 
Personifikationen  und  Vergleiche  aufgezählt). 

3)  Vgl.  Carel  a.  O.  p.  19. 

4)  Car.  Forts ch  comment.  crit.  de  locis  nonnullis  T  ysiae  et  Demosthenis, 
Leipzig  1827  p.  27. 

6)  H.  Eckert  de  epitaphio  Lysiae  oralori  falso  tribnto  p.  39  flf. 
6)  Fritz 8 che  de  Pseudo-Lysiae  oratione  octava  p.  6  flf. 


Lysias  nnd  Isaios.  155 

mittel  sind  die  Konjunktion  „und",  sowie  die  antithetische 
Verknüpfung  zweier  Sätze  ^),  wobei  man  bloss  die  Antithesen 
des  Isokrates  zur  Vergleichung  heranzuziehen  braucht,  damit 
klar  wird,  wie  geringe  sophistische  Kunst  in  jenen  liegt.  Doch 
sind  natürlich  die  Epiloge,  welche  immer  am  meisten  eine 
rhetorische  Färbung  haben ,  kunstreicher  ausgearbeitet.  Die 
Anakohithe  ^)  sind  nicht  durch  Nachlässigkeit  verschuldet, 
sondern  aus  dem  Bestreben,  die  Umgangssprache  nachzu- 
bilden, entsprungen.  Rlietorische  Figuren  werden  nur  soweit 
zugelassen ,  als  sie  auch  im  gewöhnlichen  Leben  vorkommen ; 
daher  liebt  Lysias  vor  allem  die  lebhafte  Frage  an  die  Richter 
oder  an  die  Gegner^),  während  die  an  den  Sprecher  selbst 
gerichtete  Frage,  weil  sie  manieriert  ist,  selten  vorkommt^).  Die 
Anaphora  und  das  Wortspiel  können  ebenso  wenig  für  sophis- 
tische Mittel  gelten  ;  andererseits  fehlen  die  symmetrischen 
Gleicliklänge  und  ähnhche  Zierrate  der  Prunkrede  fast  gänzlicli^). 
Man  darf  jedoch  dem  lysianischen  Stil  nicht  zu  enge  Grenzen 
ziehen,  wie  z.  ß.  Favorinus  kein  einziges  Wort  des  Lysias  für 
entbehrlich  erklärte*');  Lysias  verschmäht  gelegenthch  weder 
derbe  Witze  noch  selbst  Dichtercitate  ^). 

Am  meisten  erlangte  aber  Lysias  durch  das-^do?,  welches 
er  seinen  Reden  einzuflössen  wusste,  Bewunderung.  Der  athenische 
Redenschreiber  war  in  einer  schwierigen  Lage;  denn  die  Richter 
durften  nicht  ahnen,  dass  der  Sprecher  von  einem  professions- 
mässigen  Advokaten  unterstützt  wurde,  sonst  hätten  sie  ihn 
mit  Voreingenommenheit  angehört  und  die  schönste  Rede  ihre 
Wirkung  verfehlt.  War  doch  selbst  der  Ruf  der  Fertigkeit  und 
Gewandtheit  schädlich,  weshalb  so  häufig  die  Redner  beteuern, 
sie  seien  nicht  „dsivol  X^y^^^"-     Wenn  also  der  Logograph  seinen 


1)  Eckert  a.  O.  p.  39  ff.  ;  Gleiniger  Hermes  9,  170, 

2)  Friedr.  A.Müller  observationes  de  elocutione  Lysiae  I.  de  anacoluthis, 
Halle  1877. 

3)  Gleiniger    Hermcö    9,    170;   sehr  geschickt  ist  die  Frage  z.  B.  12, 
25  f.  angewendet. 

4)  13,  20.  8,  17  und   10,  26  gehören  zu  sicher  unechten  Reden. 

5)  Gleiniger  Hermes  9,  170. 

6)  GeUius  2,  5. 

7)  Demetr.  tc.  Ep[j.fjv.  128  (abgesehen  von  der  Eede  öirlp  xoü  aSovdxou);  Lys. 
fragm.  182. 


156  Sechstes  Kapitel. 

ganzen  Scharfsinn  und  alle  seine  dialektische  Geschicklichkeit 
aufbot,  nützte  er  dadurch  allein  seinem  Klienten  nicht  viel, 
niusste  sich  vielmehr  zugleich  in  den  Stand  und  Charaktei 
desselben  hineinleben  und  seine  eigene  Person  vollkommei 
zurücktreten  lassen.  So  fasste  wenigstens  Lysias  seine  Aufgabe 
auf  und  darum  ist  er,  mag  auch  Plato  seine  philosophischei 
Tändeleien  verspotten,  der  grösste  Psycholog  unter  den  Prosaiker! 
und  von  seltener  plastischer  Begabung.  Wohl  alle  echten  Redei 
sind  Genrebilder  aus  dem  Leben  der  athenischen  Bürger;  dies< 
erscheinen  leibhaftig  vor  uns,  freilich  von  der  vorteilhaftesten' 
Seite  und  gleichfalls  im  Feiertagsgewande ,  sie  sprechen  auch 
nicht  wie  Advokaten ,  sondern  wie  es  ein  tüchtiger  Laie  zu 
Stande  bringen  könnte,  ohne  entlegene  Spitzfindigkeiten  und 
aufdringliches  Arrangement  der  Punkte.  Selbst  der  moderne 
Leser  vergisst,  dass  in  der  Maske  dieser  rechtschaffenen  Bürger 
ein  Advokat  steckt  und  obendrein  ein  raffinierterer  als  Isaios 
und  Deraosthenes.  Denn  diese  sind  so  listenreich  und  ver- 
schmitzt, dass  man  nicht  selten  die  Absicht  merkt,  während 
Lysias,  ohne  so  viel  Dialektik  und  Rhetorik  aufzuwenden,  durch 
seine  scheinbare  Naivität  und  Harmlosigkeit  das  athenische 
Schöffengericht  noch  sicherer  gewann.  Am  ehesten  ahnt  man 
an  der  XXIV.  Rede,  dass  diese  Unschuld  nur  Schein  ist.  Wie 
geschickt  präsentiert  sich  hier  der  Lahme  als  einen  unbescholtenen 
Bürger,  wie  weiss  er  das  Lachen  der  Richter  durch  seine 
burlesken  Einfälle  zu  erregen !  Wer  möchte  ihm  nicht  gerne 
die  Unterstützung,  die  ja  nur  in  einem  Obolos  tägHch  bestand, 
gewähren?  Sieht  aber  ein  Unbefangener  näher  zu,  ob  die 
Anklagepunkte  widerlegt  seien,  so  scheint  es  eher,  dass  der 
Krüppel  keineswegs  arm  war  und  in  seiner  Stube  allerlei  vor- 
ging, was  das  Licht  des  Tages  zu  scheuen  hatte.  Aber  die 
Richter  wurden  durch  seine  Possen  vortrefflich  amüsiert  und 
gewannen  von  dem  Lahmen  sicher  die  beste  Meinung. 

Dionysios  (c.  18)  wendet  daher  sehr  richtig  auf  Lysias  an, 
was  Homer  von  Odysseus  sagt: 

laxe  (};e65ea  ttoXX«  X^ywv  k6{xotaiv  6[i.ota.  Seine  rhetorische 
Manier  vergleicht  derselbe  Rhetor  (c.  3)  mit  den  Statuen  der 
attischen  Meister  Kaiamis  und  Kalli machos,  welche  in  gleicher 
Weise  Einfachheit  und  Schlichtheit  mit  Anmut  und  Grazie  zu 
vereinen    wussten.     Würde    und  Pathos   darf   man    bei  Lysias 


I 


Lysias  und  Isaios.  157 

freilich  nicht  suchen,  er  ist  „eher  einem  klaren  Quell  als  einem 
grossen  Strome  vergleichbar"^);  aber  auf  seinem  beschränkten 
Gebiete  war  er  Meister  und  ist  stets  darin  unübertroffen  geblieben. 
Niemand  hat  so  wie  er  zu  erzählen  verstanden  ^)  und  unter 
seinen  eigenen  Reden  ragt  in  diesem  Punkte  die  I.  ,,über  die 
Tötung  des  Eratosthenes"  so  sehr  hervor,  dass  sie  von  den 
Späteren  als  Musterstück  aus  dem  Corpus  aufgehoben  wurde. 
Es  ist  natürlich,  dass  die  Griechen  des  vierten  Jahrhunderts, 
welche  andere  Forderungen  an  die  Beredsamkeit  stellten,  Lysias 
bei  Seite  schoben  oder  tadelten^).  Doch  erfolgte  bald  nach  dem 
Tode  des  Demosthenes  eine  Reaktion  gegen  dessen  Richtung 
wenigstens  darin,  dass  Charisios  auf  den  schlichten  Perioden- 
bau des  alten  Redners  zurückgriff  ^).  Der  Schwulst  der  asianischen 
Schule,  welche  von  Charisios'  Schüler  Hegesias  ausging,  rief 
zur  Zeit  Ciceros  wiederum  eine  Gegenströmung  hervor.  Während 
dieser  zu  Demosthenes  sich  wandte,  gingen  Brutus  und  Licinius 
Calvus  zum  anderen  Extrem  zurück^).  Die  Art  des  Lysias 
erschien  ihnen  wie  die  Verkörperung  des  biederen  ehrenfesten 
Republikanismus,  sie  konnten  sich  aber  auch  auf  die  Zustimmung 
der  hervorragendsten  Lehrer  der  Beredsamkeit  berufen,  von 
denen  CaeciUus  noch  mehr  als  Dionysios  das  Lob  des  Lysias 
verkündete*').  Als  jedoch  der  blütenreiche  Stil  der  jüngeren 
Sophistik  in  die  Mode  kam,  verminderte  sich  dieser  Enthusiasmus. 
Wenn  Lysias  auch  noch  immer  zu  den  gelesensten  Rednern 
gehörte,  stand  sein  Ansehen  doch  weit  hinter  dem  des  Demo- 
sthenes und  Isokrates  zurück  und  man  studierte  Lysias  mehr 
als  Quelle  des  reinen  Atticismus '^)   denn    wie    ein  Vorbild    der 


1)  Quintilian.  10,   I,  78. 

2)  Dionys.  Lys.  18,  Quintil.  a.  O. 

8)  So  Tlieophrast;  vgl.  Dionys.  Lys.  14. 

4)  Blass  griechische  Beredsamkeit  von  Alexander  bis  auf  Augustus 
S.  20  f. 

6)  Vgl.  Cicero  orator  9,  29.  30;  Blass  a.  O.  S.  132  ff.;  später  Plin. 
epist.  1,  20,  4. 

6)  CaeciUus  (vgl.  Utpl  ö^^ou?  32,  8)  schrieb  eine  begeisterte  Schrift  uepl 
Aooioü,  Dionysios  ausser  der  Analyse  des  lysianischen  Stils,  welche  in  der 
Beurteilung  der  Attiker  steht,  eine  Monographie  über  die  echten  und  unechten 
Eeden  des  Lysias. 

7)  Vgl.  z.  B.  Plutarch.  de  recta  rat.  aud.  9.  Hermogenes  tc.  13.  2,  11 
urteilt  kühl  darüber. 


158  Sechstes  Kapitel. 

Rhetorik.  Es  gab  daher  nur  wenige  Schriften  über  Lysias^)] 
die  einzige  bedeutende  Leistung  rührte  von  Paulos  aus  der 
mysischen  Städtchen  Gernie  ^)  her,  welcher  sämmtliche  Redei 
erläuterte  und  ausserdem  über  die  Echtheit  der  Rede  xspl  ttj? 
'IipixpaTOoi;  Swpsä?  schrieb;  er  verwarf  sogar  die  Rede  über  den 
Stumpf  und  verschuldete,  wie  man  ihm  vorwarf,  durch  leicht- 
sinnige Verdächtigung  den  Untergang  zahlreicher  Reden  ^). 
Daran  mag  indes  eher  die  Scheu,  welche  die  Byzantiner  vor 
allen  umfangreichen  Codices  empfanden,  die  Schuld  getragen 
haben ;  ausserdem  sagte  Lysias ,  obgleich  er  gelegentlich  das 
Vorbild  für  praktische  Reden  abgab  ^),  dem  Geschmack  des 
griechischen  Mittelalters  wenig  zu.  Daher  gingen  die  meisten 
Reden  unter,  Schollen  und  ähnliche  Hilfsmittel  des  Studiums 
fehlen  gänzlich  und  man  verdankt  die  Erhaltung  des  jetzt  vor- 
handenen eigentlich  nur  einem  Zufall. 

Wiewohl  nämlich  anscheinend  zahlreiche  Handschriften 
der  lysianischen  Reden  vorhanden  sind,  ist  nur  der  codex 
Palatinus  X  %  wie  H.  Sauppe  in  der  berühmten  epistola  critica 
ad  Godofredum  Hermannum  (Leipzig  1841)  nachwies,  originell, 
denn  eine  gemeinsame  Lücke  und  das  Auslassen  unleserlicher 
Wörter  verraten,  dass  alle  übrigen  Handschriften  aus  der 
Heidelberger  abgeschrieben  sind.  Dieser  Codex,  dessen  Text 
sehr  verderbt  (z.  B.  besonders  in  der  vierten  Rede)  ist,  wurde 
einst  aus  mindestens  ^)  zwei  Handschriften  abgeschrieben ;  die 
beiden  ersten  gehörten  nämlich  nicht  zum  Corpus,  sondern  zu 
einer  Miscellaneensamralung,  weshalb  sie,  zumal  der  Epitaphios, 
in  unabhängigen  Handschriften  überliefert  sind ''). 


1)  Suidas  erwähnt  Oajus  Harpokratiou  nepl  twv  Titepeioou  xal  Auoiou 
Xo^tuv  und  ein  67t4fiv^|j.a  von  Zenou  und  Zosiraos. 

2)  Nach  Wyttenbach  ist  er  der  Zeitgenosse  des  Porphyrios,  welchen 
Eunapios  I  p.  11  nannte. 

3)  Phot.  bibl.  cod.  262  p.  489  a  35  flf. 

4)  Michael  Psellos  in  Satbas'  Meoactovtx-})   ßißXioö-rixY)  IV^  223. 

6)  Kollation  in  Scbeibes  Ausgabe;  Nachträge  geben  R.  Scholl  Hermes 
10,  202  ff.  und  Spiridion  Lambros  Hermes  10,  257  ff. 

6)  Vielleicht  bildeten  nämlich  die  letzten  Reden  (von  der  25.  an)  eine 
besondere  Handschrift. 

7)  Für  die  erste  Rede  zieht  H.  Sehen  kl  Wiener  Studien  3,  81  ff.  eine 
Venediger  Handschrift  heran;  die  zweite  ist  in  zahlreichen  Sammlungen 
überliefert,  vgl.  Mart.  Erdmunn  de  Pseudo-Lysiae  epitapbii  codicibus,  Leipzig 


Lysias  nod  Isaios.  159 

Auch  die  Renaissance  beachtete  Lysias  wenig  ^).  Die  älteren 
Ausgaben,  welche  mit  der  Rednersaramlung  des  Aldus  (1513) 
und  Stephanus  (1577)  beginnen,  sind  nach  dem  oben  gesagten 
nur  hinsichtlich  der  darin  enthaltenen  Konjekturen  zu  beachten  ^); 
davon  ist  nicht  einmal  die  Ausgabe  Bekkers  auszunehmen. 
Erst  Sauppe  erkannte,  wie  gesagt,  die  Wichtigkeit  des  Palatinus ; 
auf  seiner  Entdeckung  sind  die  Recensionen  von  Scheibe 
(Leipzig  1852.  n874)  und  Cobet  (Amsterdam  1863)3)  aufge- 
baut; letzterer  ändert  sehr  viel,  in  der  That,  mag  man  auch 
über  seine  Vermutungen  nicht  immer  günstig  urteilen,  leidet 
der  Palatinus  an  vielen  Verderbnissen. 

Die  Erklärung  der  Reden  des  Lysias  hängt  enge  mit 
der  Erforschung  der  attischen  Einrichtungen  zusammen'');  von 
den  Früheren  hat  höchstens  Taylor  etwas  brauchbares  geleistet. 
Vortrefflich  ist  die  Ausgabe  von  R.  Rauchenstein  (Berlin  1848, 
nur  von  Fuhr  L  ^1884,  IL  ^1881),  noch  inhaltsreicher  die 
grössere  von  Herrn.  Frohberger  (Leipzig  1866 — 71,  neu  von 
Gebauer  1880 — 81,  3  Hefte),  welche  das  Rhetorische  eingehend 
Ijerücksichtigt. 

Da  Lysias  keine  Schule  hielt,  hatte  er  keine  Schüler,  aber 
auch  mittelbar  können  wir  seinen  Einfluss  wenigstens  in  der 
Literatur  nicht  sicher  nachweisen ;  der  bedeutendste  der  zeitlich 
ihm  nahestehenden  Redenschreiber  wandte  sich,  sei  es  dass  er 
dem  Zuge  der  Zeit  oder  den  angeborenen  Neigungen  folgte, 
einer  neuen  Riciitung  zu. 


1881  (Diss.  von  Strassbuvg),  berichtigt  von  U.  v.  Wilamowitz  Deutsche 
Literaturztg.  1882  Sp.  462,  K.  Fuhr  pbilol.  Rundschau  II  Nr.  3  und  K.  S. 
philol.  Anz.  13,  713  ff.  Erdmanu  veröffentlichte  im  selben  Jahre  eine  Separat 
ausgäbe. 

1)  Der  bekannte  Filelfo  versuchte  eine  Uebersetzung  (Voigt  Wieder- 
belebung des  class.  Alterthums  II  '^  180  A.  4). 

2)  Ich  nenne  noch  die  Au.sgaben  von  Jod.  van  der  Heid  (und  Andr. 
Schott),  Hannover  1618,  Taylor  London  1739.  Canterbury  1740,  Reiske  orat. 
Graec.  V.  VI.  1772,  Auger  Paris  1783,  Förtsch  Leipzig  1829  und  Joh.  Franz, 
München  1831. 

3)  Vgl.  auch  orationes  selectae  .  .  .  ed.  H.  van  Herwerden,  Groningen 
1863;  Anton  Westermann  quaestiones  Lysiacae  III.  Leipzig  1865  (Univ.- 
Pr.)  gibt  den  kritischen  Apparat  zur  12.  Rede. 

4)  Vgl.  besonders  Rud.  Scholl  quaestiones  fiscales  juris  Attici  ex  Lysia 
illustratae,  Berlin  1873. 


160  Sechstes  Kapitel. 

Ueber  die  Lebensverhältnisse  des  Isaios  ^)  ist  nichts  anderes 
mit  Sicherheit  bekannt  als  dass  sein  Vater  Diagoras  hiess^)» 
der  Rhetor  Dionysios  schloss  ferner  aus  seinen  Reden,  dass  er 
nach  dem  peloponnesischen  Kriege  bis  zur  Zeit  Philipps  thätig 
war^).  Isaios  war  also  vielleicht  etwas  jünger  als  Isokrates, 
gewiss  aber  nicht  dessen  Schüler,  wenn  er  auch  in  seinen 
letzten  Reden  den  Hiatusgesetzen  des  Isokrates  massig  Rech- 
nung trug  *).  Wahrscheinlich  war  Isaios  ein  in  Chalkis  ^) 
geborener  Metöke;  er  gab  sich  nicht  wie  Lysias  mit  der  Kunst- 
rede ab,  sondern  verfasste  ausschliesslich  Gerichtsreden ,  wobei 
er  wegen  seiner  Kniffe  gefürchtet  und  verrufen  war^).  Isaios 
gab  auch  Unterricht,  wenn  anders  er  ein  Handbuch  veröffent- 
üchte'');  aber  bei  Demosthenes  werden  wir  sehen,  dass  die  Er- 
zählung, er  habe  Isaios  zum  Lehrer  gehabt,  ein  unbeglaubigtes 
Gerücht  ist. 

Es  gab  unter  dem  Namen  des  Isaios  64  Reden ,  von 
welchen  die  Kritiker  14  ausschieden;  wir  kennen  noch 56  TiteP). 
Von    den    bestimmbaren   Reden    betreffen  37  Civilsachen    und 


1)  Kurz  behandelt  von  Hermippos  (unter  den  Schülern  des  Isokrates) 
den  Dionysios  ausschreibt,  auch  von  Demetrios  Magnes  (Harpocr.  v.  'loaloc) 
und  anderen  ttveg,  exspoi  Dionys.,  ttve?  Ps.  Plut.).  Ausser  den  Bemerkungen 
des  Dionysios,  welcher  hauptsächlich  über  den  rhetorischen  Charakter  des 
Isaios  handelt,  ist  die  pseudoplutarchische  Biographie  erhalten.  Das  anonyme 
Y^vos  'loaioü  der  Handschriften  (in  das  sich  Z.  6 — 14  eine  Interpolation  ein- 
gedrängt hat)  ist  aus  Harpokration  und  Dionysios  zusammengestellt.  Suidas 
schreibt  Philostratos  und  Harpokration  ab ;  ein  Zusatz  ist  wertlos.  Vgl.  J.  A. 
Liebmann  de  Isaei  vita  et  scriptis,  Halle  1831;  Blass  II  452  ff. 

2)  revoc  'loatou. 

3)  Dien.  1.  Im  Anonymus  steht  xata  töv  IleXoTiovvfjataxöv  rtoXspiov. 

4)  Ueber  die  Schülerschaft  Hermippos,  modificiert  Benseier  de  hiatu 
p.  192  f.;  8.  dagegen  Blass  II  455.  liioXaGaz  Aoaia  Ps.  Plut.  ist  aus  der 
Aehnlicbkeit  ihrer  Beschältigung  zu  erklären.  Ueber  seinen  anfreblichon  Ver- 
kehr mit  Philosophen  (Dionys.)  Sadee  Dissertatt,  Argentorat.  II  279  f. 

6)  So  Demetrios  nach  Harpocr.  (Suid.)  und  anderen  (Dion.  Anou.),  vgl. 
Ps.  Plut.  844  b;  ungenauere  nannten  ihn  von  seinem  Aufenthaltsorte  Athener 
(Dion.  Harp.  Anon.).  Liebniann  vermittelt. 

6)  Vgl.  Dion.  Isae.  4. 

7)  Plut.   glor.  Athen.  8  p.  860  c.  Ps.  I'lut.  Dem.  839 e;    Ps.  Plut.  Isjh 
839  f.  ISiai;  xiyya(i. 

8)  Verzeichnet  bei  Blass  U  459  ff.  Ill  2,  355. 


Lysiaa  unä  Isaios^.  161 

nur  eine  (xata  AtoxXsooc  ußpEw?)  einen  Kriminalprozess  ^).  Da 
Isaios  wegen  seiner  Behandlung  der  meist  sehr  verwickelten 
Erbschaftsstreitigkeiten  berühmt  war,  bildeten  die  darauf  bezüg- 
lichen Reden  (xX'^ptxot')  ^)  die  Plauptabteilung  und  diese  ist  allein 
noch  erhalten,  wie  bei  Antiphon  die  ^ovtxoi;  der  Schluss  der 
Sammlung  ging  jedoch  verloren,  so  dass  von  dreizehn  Reden 
nur  zehn  vollständig  und  der  grössere  Teil  der  elften  vorliegen. 
Ausserdem  hat  Dionysios  mehrere  Stücke  bewahrt,  deren  grösstes 
man  als  zwölfte  Rede  zu  zählen  pflegt.  Sonst  werden  43  Reden 
angeführt,  wovon  zwei  angezweifelt  wurden  ^)  und  zwei  zwischen 
Isaios  und  Lysias  streitig  waren  ^). 

Die  erhaltenen  Reden  nun  sind  in  chronologischer  Ordnung 
folgende : 

V.  Tcepi  Toö  AixaioYsvooc  xXTjpoo,  um  389  verfasst^); 

X.  TTpö?   Esvat'vsTov  TTspt  Toö 'Apiatdp^oo  xXyjpoo,  nach  378*^); 
IX.  Tuspl  Toö  'AoToiptXoü  xXvjpoo,  nach  371'); 

VI.  ;cspl  TOÖ  4>rXoxT'if][j.ovos  xXT^poo,  aus  dem  Jahre  364/3  (§  14) ; 
XI.  irspl  TOD  'Ayviou  xXTJpoo,  nach  361/0,  wenn  das  Akten- 
stück bei  Demosthenes  43,  61  Glauben  verdient^); 

IL  xepl  TOÖ  MevsxXsooc  xXvjpoo,  um  354  oder  bald  nachher^). 

VII.  TTspl  TOÖ  'ATioXXoScüpou  xXTjpoo,  uicht  vor  353  ^"). 


1)  Der  Titel  ntfi  xwv  iv  MaxeSovia  pfj^-svituv  ist  unklar;  xaxa  M^'^apimv 
wird  angezweifelt. 

2)  Harpocr.  v.  xajj.iat:  'laaloc  £v  tivI  tojv  xXTjptxöiv. 

3)  Kat'  'ApioToxXsouc  und  xaxa  Mt-^apiüiV, 

4)  Kaxa   ^IxpatcuXeoü«;  e4öüX7]c  und  irpo?  'AvSoxiofjv  ftTtooxaaiou. 
6)  Scheibe  in  der  Ausgabe  p.  XXV  und  Blass  II  610,  ähnlich  Schömaun 

in  der  Ausgabe  p,  V;  372  nach  Dobree  adversaria  I  297  und  Benseier 
de  hiatu  p.  186  (auf  derselben  Grundlage  Krüger  ad  Clinton  fast.  Hell. 
p.  113). 

6)  §  22,  vgl.  gegen  Schömann  (p.  431),  nach  dem  die  Kede  spätestens 
884  gehalten  sein  soU,  Blass  II  528,  5. 

7)  Vgl.  §  14  (Weissenborn  in  der  hall.  Encyclop.  S.  300  und  Blass  11 
526) ;  nach  Schömann  p.  406  kurz  nach  390,  nach  Dobree  (advers.  crit.  I  805. 
874—71. 

8)  Nach  Clinton,  Böhnecke  und  Schömann  (p.  452)  360/59,  nach  Scheibe 
p.  XLIII  860,  nach  Blass  (II  581)  359  oder  358;  A.  Schäfer  Demosthenes 
in  B  234  f.  hält  die  Eede  für  älter. 

9)  Vgl.  §  6   (Blass  II  498);  nach  Schömann  p.  198  f.  um  360. 

10)  Scheibe  p.  XXXII;    Blass  II  517,  vgl.  Schömann  p.  354;  Ol.  105,  4 
oder  106  Böckh  Staatshaush.  11  101. 
Slttl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur,  n.  11 


I 


jg2  Sechstes  Kapitel, 

Auch  die  Zeit  von  VIII.  :c£pl  toö  Ktfpwvoc  xXT^poo  wäre 
zu  bestimmen,  wenn  die  Rede  wirklich  von  Demosthenes  im 
Vormundschaftsprozess  benützt  wurde  ^);  da  es  sich  hier  aber 
um  Gemeinplätze  handeln  dürfte,  steht  nur  der  terminus  post 
quem  383  fest  ^). 

Gar  keine  chronologische  Bestimmung  ist  bei  den  drei 
folgenden  Reden  möglich : 

I.  Tiepl  TOÖ  KXs(ovö[JLOo  xXTjpoo  ^) ; 

III.  Ttspl  TOÖ  IIoppoD  xXijpoo,  eine  Rede,  die  wohl  zu  den 
spätesten  gehört,  da  Diophantos  und  Dorotheos  (§  22)  noch 
343  und  349  in  Prozessen  vorkommen '^). 

IV.  TceplTOö  NtxoaTpaToo  xXYjpoo. 
Wie    man  sieht,    sind    etwa    die  Jahre    390    und    350    die 

Grenzen,  innerhalb  welcher  die  erhaltenen  Reden  verfasst  sind; 
die  Zeitfolge  derselben  noch  genauer  zu  bestimmen,  ermöghcht  _^ 
vielleicht  die  Untersuchung  einiger  Gewohnheiten  des  Isaios,  bei  ^M 
denen  stufenweise  Entwicklung  hervortritt.     Betrachten  wir  die 
Anrede  an  die  Richter,  so  finden  wir,  dass  sie  Isaios  in  der  2. 
5. — 8.  und  11.  Rede  konsequent  mit  w  avSpsg  bezeichnet.    Auch 
in  der  1.  4.  9.  und  10,  Rede  ist  diese  Ansprache  gewöhnlich, 
doch  gebraucht  der  Redner  im  Epilog  w  'Ad-qvoLloi  (1,  47)  oder 
die   volle  Form   w  avSpsc  ocxaatat'').     Die  dritte  Rede   schliesst 
sich  der  Mehrzahl  an,  bietet  aber,  wie  die  zwölfte,  unmittelbar       , 
am  Anfange  das  ungewöhnliche  "AvSps«:  StxaoTai.     Die  übrigen  «Bj 
durch  Dionysios  bekannten  Reden  enthalten  w  avSpsc  Sixaatai. 
Wichtiger  ist  die  Vermeidung  des  Hiatus  ^) ;  denn  als  Isaios 
seine  Thätigkeit  begann,  kümmerte  sich  kein  Redner  der  Praxis 
um  den  Zusammenstoss  der  Vokale.     Daher  achtete  er  in  den 
ersten  Reden  4. — 6.  9.  10.   gar   nicht   darauf;    aber    seit    etwa 
360,    als  Isokrates'   Lehren    durch    zahlreiche    Schüler   in    die 
Oeffenthchkeit  drangen,  musste  er  auf  die  Mode  Rücksicht  nehmen. 


1)  Blass  II  621. 

2)  Scheibe  p.  XXXIV. 

3)  Zur    Sache    E.   Alhrecht   Jahrbb.   f.  Phil.    127,  167;    J.  Lunak 
Philol.  42,  275  ff. 

4)  Dem.  19,  198.  59,  39  (A.  Seh  Ufer  Df  nioMhf  nes  I  182  f.  Blass  H  603 
6)  So  4,  80.  9,  37,  10,  25,  ausserdem  9,  16. 
6)  Benseier  de  hiatu  apud  oratores  Atticos  p.  186  flf. 


Lysias  und  Isaios.  163 

um  die  Ohren  der  gebildeteren  Richter  nicht  unangenehm  zu 
l)erühren.  Die  Anfänge  dieser  Wandlung  liegen  in  der  7.  8. 
und  11.  Rede,  von  denen  die  letzte  noch  drei  Hiate  unmittelbar 
hinter  einander  (§  8)  enthält,  deutlich  vor  und  in  der  ersten 
fehlt  der  Hiatus  beinahe  ganz.  Die  zweite  Rede  zeigt  keinerlei 
Rücksicht  auf  den  Zusammenstoss  der  Vokale,  doch  ergibt  sich 
daraus  allein  nicht,  dass  sie  unecht  sei;  vielmehr  mag  Isaios 
die  Sprache  dem  Stande  und  Charakter  des  Sprechers,  der 
ein  gewöhnlicher  Bürger  war  und  mit  Schroffheit  auftrat, 
angepasst  haben. 

Dass  die  fünfte  Rede  die  älteste  ist,  verrät  ihre  kunstlose 
Form,  weil  ihr  sowohl  ein  rhetorisches  Proömium  als  auch  der 
Appell  an  die  Richter  ^)  fehlt.  Wie  es  scheint,  lernte  Isaios  die 
rhetorische  Technik  erst  durch  die  Uebung  und  das  Beispiel 
des  Lysias.  Noch  in  der  neunten  Rede  sind  Proömium  und 
Epilog  nur  schwach  entwickelt ;  der  zehnten,  welche  wenigstens 
ein  kurzes  nicht  rein  sachliches  Proömium  enthält,  fehlt  der 
Epilog  überhaupt.  Mit  diesen  Reden  bildet  die  vierte  eine 
Gruppe;  denn  obgleich  sie  als  Deuterologie  im  Bau  nicht  mit 
ihnen  verglichen  werden  kann,  zeigen  doch  sowohl  die  oben 
besprochene  Anrede  an  die  Richter  als  eine  gemeinsame  Eigen- 
tümlichkeit der  Sprache  ihre  Zusammengehörigkeit^). 

Isaios  steht  nach  dem  treffenden  Urteile  des  Dionysios^) 
zwischen  Lysias  und  Demosthenes.  Er  hat  verschiedene  Vor- 
züge des  Lysias  aufgegeben  und  dafür  eine  Richtung  einge- 
schlagen, w^elche  bei  den  engbegrenzten  Stoffen,  die  er  bearbeitete, 
nicht  zur  vollen  Geltung  kommen  konnte.  Isaios  steht  in  der 
Sprache  hinter  Lysias  kaum  zurück;  sein  Ausdruck  ist  rein, 
sorgfältig,  deutlich  und  bezeichnend,  der  Redner  entfaltet  aber,  ob- 
gleich er  dieselben  Wendungen  zu  häufig  bringt,  mehr  Kunst  und 
bedient  sich  öfter  rhetorischer  Figuren  {a-/y]\i.a.xia]LoC).     Aeusserst 


1)  Scheibe  p.  XXVIII:  Videtur  deesse  epilogus. 

2)  Das  schwerfällige  8}j.u>i;  [xevtot  hat  Isaios  bloss  4,  18.  9,  18.  10,  18. 

3)  Dionys.  Isae,  20,  vgl.  Hermog.  ir.  18.  2,  11  «uc  ö^oXEiueotJ-ai  p-sv  xoö 
AY)}j.oG^£vtxo5  ^la-ra  xaüta  ohv.  hXl'ffü,  oiiEpßctXXetv  8s  itoXXil)  töv  Aooiav.  Vgl. 
Leon  Moy  etude  sur  les  plaidoyers  d'Isee,  Paris  1876;  Konrad  See  liger  zur 
Charakteristik   des   Isaios,    Jahrbb.   f.  Phil.   113,  673  ff.;  W.  Eöder  Beiträge 

zur  Erklärung   und  Kritik  des   Isaios,   Jena  1880   (c.    6   Enthymeme);   E.  M. 
Liucke  de  elocutione  Isaei,  Leipzig  1885. 

11* 


Jß4  Sechstes  Kapitel. 

wirkungsvoll  wendet  er  z.  B,  Gruppen  rhetorischer  Fragen  an. 
Noch  mehr  konnte  Isaios  seine  Advokatenkunst  (Sstvorif]«;)  in  der 
Komposition  entfalten.  Er  behandelte  die  Argumente  mannig- 
faltiger als  Lysias  und  verknüpfte  sie  geschickter,  besonders 
aber  band  sich  Isaios  durchaus  nicht  an  die  nächstliegende 
Ordnung,  sondern  er  wusste  die  Punkte  geschickt  so  zu  ordnen, 
wie  sie  sich  am  vorteilhaftesten  für  den  Sprecher  darstellten ; 
um  die  Richter  aber  über  diese  Kunstgriffe  hinwegzutäuschen, 
bedurfte  es  einer  Darstellungsweise,  welche  ihre  Sinne  blendete ; 
die  Sprache  durfte  nicht  so  einfach  und  schlicht  wie  bei  Lysias 
sein,  sondern  musste  mehr  Schwung  haben  *).  Vor  allem  aber 
war  der  Ton  mehr  anzuspannen ;  daher  geht  ein  schneidiger 
etwas  pathetischer  Zug  durch  die  Reden  des  Isaios.  Weil 
jedoch  die  Geringfügigkeit  des  Stoffes  mit  der  Fülle  der  auf- 
gebotenen Mittel  nicht  recht  harmoniert,  fühlt  man  hier  viel 
mehr  als  bei  Demosthenes  die  Absicht;  Isaios  kann  zwar  dialek- 
tische Meisterstücke  schaffen,  aber  er  vermag,  eben  wegen  seiner 
allzu  grossen  Findigkeit ,  sich  nicht  gleich  Lysias  in  die  Lage 
eines  athenischen  Bürgers  von  schlichtem  Verstände  zu  versetzen. 
Der  grosse  Abstand,  welcher  Isaios  hierin  von  Lysias  trennte, 
ist  besonders  bei  den  Erzählungen  fühlbar;  wiewohl  Lysias 
gewiss  nicht  mehr  Glauben  als  Isaios  verdient,  argwöhnten  die 
Richter  bei  den  von  ihm  aufgesetzten  Reden  schwerlich,  dass 
etwas  angelerntes  vorgetragen  werde,  während  in  den  Reden 
des  Isaios  der  Erfahrene  überall  den  Advokaten  vernahm.  Der 
Biograph  sagt  daher  mit  Recht:  ,,Der  Unterschied  zwischen 
Lysias  und  Isaios  bestand  darin,  dass  Lysias  auch  in  ungerechter 
Sache  glaubwürdig  schien,  Isaios  dagegen,  selbst  wenn  er  im 
Rechte 'war,  Misstrauen  erregte". 

So  gross  die  historische  Bedeutung  von  Isaios  war,  so 
wenig  wurde  er  von  den  Späteren  gewürdigt.  Denn  entweder 
las  man  lieber  Demosthenes  oder,  wer  sich  für  grössere  Ein- 
fachheit begeisterte,  suchte  Lysias  auf.  Seine  Werke  blieben 
aber  erhalten,  weil  ihn  die  Rhetoren  in  die  Zehnzahl  aufnahmen ; 
Dionysios  schwankte  bei  seinem  Kanon  von  sechs  Rednern 
zwischen  ihm  und  Lykurgos.  Teils  als  einer  der  Zehn  also 
teüs  als  Specialist   für  Erbschaftssachen,    vielleicht  auch,   weil 


1)  Isidor.  Peius,  epist.  4,  91  t><^yik6xe pov  hk  Auacoo. 


Lysias  und  Isaios.  165 

man  in  ihm  den  vermeintlichen  Lehrer  des  Demosthenes  achtete, 
genoss  Isaios  ein  gewisses  Ansehen,  doch  wurde  er  sehr  wenig 
gelesen.  Kein  Rhetor  schrieb  über  ihn  ^)  und  selbst  Citate  sind 
äusserst  selten^).  Doch  erleichterte  man  das  Verständnis  der 
erhaltenen  Reden  durch  Inhaltsangaben,  Die  Handschriften 
sind  dieselben  wie  bei  Antiphon  (S.  70  f.),  ausser  dass  ein  nicht 
sonderlich  guter  Codex  eine  unabhängige  Tradition  bietet. 

Die  älteren  Ausgaben  gehören  zu  den  Sammlungen  von 
Aldus,  Stephanus  und  Reiske  (vol.  VII.);  sie  enthalten  nur 
zehn  Reden.  Die  elfte  „über  die  Erbschaft  des  Kleonymos" 
wurde  zuerst  von  Angelo  Mai  aus  einer  Mailänder  Handschrift 
(Mailand  1815  und  Auetores  classici  IV.  1831)  herausgegeben. 
Nächst  der  grundlegenden  Recension  Bekkers  verdient  Dobsons 
Ausgabe  (Oratores  Attici  IV.)  wegen  der  Kollation  englischer 
Handschriften  Beachtung.  Durch  die  Bearbeitung  von  Baiter- 
Sauppe  (orat.  Att.  fasc.  Hl.)  und  Scheibe  (Leipzig  1860.  n874) 
wurde  die  Emendation  gefördert;  die  neueste  auf  sorgfältige 
Vergleichung  der  Handschriften  gestützte  Ausgabe  verdankt 
man  H.  Bürmann  (Berlin  1883)^).  Die  Sacherklärung  wurde 
durch  die  Ausgabe  von  G.  Fr.  Schömann  (Greifswaid  1831) 
begründet  *). 

Gleichzeitig  gab  es  noch  verschiedene  Redenschreiber, 
welche  wohl  meist  zur  Klasse  der  Schutzverwandten  gehörten; 
aber  keiner  hat  sich  so  ausgezeichnet,  dass  er  die  gelungenen 
Reden  mit  seinem  Namen  veröffentlichen  durfte^). 


1)  Didymos  (Harpocr.  v.  YaiA"^^^«)  behandelte  ihn  unter  den  Zehn. 

2)  In  Spengels  rhetores  nur  Theon  TcpoYU|j,v.  p.  63,  29. 

3)  Vgl.  dazu  Hermes  19,  325  flf.  Die  zahlreichen  Konjekturen  Cobets 
(iMnemos.  9,  396  flf.  438  flf.  11,  113  flf.  und  variae  lect.  ed.  IL  wiederholt)  haben 
einen  beachtenswerten  Gegner  an  W.  Röder  über  C.  G.  Cobets  Emendationen 
der  attischen  Redner,  insbesonders  des  Isaios,  Gnesen  1882,  gefunden. 

4)  Vgl.  Schömann  de  causa  hereditaria  in  Isaei  oratione  de  Philocte- 
monis  hereditate,  Opusc.  acad.  I  (1856)  p.  272  flf. 

5)  Isocrat.  15,  41,  vgl.  12,  1.  Ps.  Demosth.  in  Theocrin.  19  nennt 
(nexouov  KtTjoixXsa  Xo'^o^pä^ov. 


Siebentes   Kapitel. 
Demosthenes. 

Biographien;  Leben  und  Wirken  (mit  Einschluss  der  Staiitsreden) ;  Charakt 
und  Politik ;  die  unechten  Staatsreden ;  die  für  öffentliche  Processe  verfassten 
Reden;  Privatreden;   die  Kunst   des  Demosthenes;   äussere   Geschichte  seiner 
Schriften  vom  Altertum  bis  auf  unsere  Zeit. 

Die  Quellen  der  Geschichte  des  Demosthenes  sind  vor  allem  seine  eigen« 
Reden  sowie  die  seiner  Gegner,  ferner  Urteile  von  Zeitgenossen,  die  aus  ve 
schiedenen  Quellen  stammten  :  Geschichtswerken,  Memoiren  (Demetrios  voi 
Phaleron)  oder  Lobreden  (von  Demochares,  dem  Neffen  des  Redners),  zu  deren 
Nachrichten  Komikerwitze  und  gelegentliche  Bemerkungen  (wie  des  Ktesibios 
und  Ariston)  treten.  Die  Notizen  aus  Eratosthenes  (Plut.  Dem.  9.  30),  Pappos 
(Hennippos  bei  Plut.  30)  oder  gar  die  anonymen  Aufzeichnungen,  auf  die  sich 
Hermippos  berief,  sind  nicht  zu  classificieren.  Diese  Ueberlieferungen  wurden 
in  den  biographischen  Sammelwerken  des  Hermippos  (wiederholt  bei  Plutarch, 
dann  Suidas  I.)  und  Satyros  (Ps.  Plut.  848  a)  verarbeitet.  Ausserdem  gab 
es  zahlreiche  Einzelbiographien  des  berühmten  Redners  (Plut.  30,  vgl.  Dionys. 
ad  Ammae.  I  3.  Dem.  53),  weil  alle  Jünger  der  Beredsamkeit  sein  Leben 
studierten,  um  ihm  nachzustreben  (Anon.  vit.  am  Anfang,  Lucian.  encom.  17). 
Erhalten  sind  noch  eine  Biographie  des  P  luta  r  chos  in  den  ßioi  TiapäXXvjXot 
(nicht  viel  mehr  als  eine  Kompilation,  wie  besonders  die  verworrenen  c.  7 — 11. 
13.  14  zeigen;  am  besten  von  Ch.  Graux,  Paris  1881  herausgegeben;  über  die 
Quellen  Wilh.  Sturm  de  fontibus  Demosthenicae  historiae,  Halle  1881  p. 
39  ff.  und  Gebha  rd  de  Pltitarchi  in Demosthenis  vita  fontibus  ac  fide,  München 
1880),  der  betreflfende  Abschnitt  in  „Plutarchs"  Biographien  der  zehn 
Redner  (woZ.  1—13.20—30.43—52.  81—86.  93—175.  183— 203.  241— 43  W. 
den  alten  Kern  bilden;  über  die  Quellen  A.  Schöne  Jahrbb.  f.  Phil.  103, 
761  ff.),  sehr  übereinstimmend  mit  Photios'  bibliotheca  cod.  265  (dessen  Ab- 
hängigkeit A.  Schäfer  comm.  de  libro  vitarum  decem  oratorum,  Dresden 
1844  uudBlass  Bursians  Jahresber.  1882  I  S.  240  behaupten,  während  Rud. 
Ballheim  erde  Photi  vitis  decem  oratorum,  Bonn  1877  und  Wilh.  Sturm 
a.  O.  p.  29  if.  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  eine  gemeinsame  Quelle  an- 
nehmen), sodann  der  erste  und  zweite  Artikel  im  Lexikon  des  Suidas  (von 
denen  jener  nach  Arn.  Schäfer  Philol.  6,  427  f  gauzaus  Hermippos  stammt), 
endlich  eine  wertlose  Gruppe  gebildet  aus  der  Biographie  eines  Anonymus,  der 
des  Rhelors  Zosi  mos  und  dem  dritten  Artikel  des  Suidas.    Ich  eitlere  Zosimoa 


I 


Demosthenes.  167 

und  den  Anonymus  nach  Westermanns  Bio^päfoi.  Vgl.  im  allgemeinen 
A.  Westermann  quaestionum  Demosthenicarum  p.  IV.  Leipzig  1837; 
S  türm  a.  O. 

In  den  letzten  zwei  Jahrhunderten  war  mau  auf  das  Buch  „vitae 
comparatae  Aristo telis  et  Demosthenis"  des  vlämischen  Jesuiten  Andreas 
Schott  angewiesen  ( Augsburgl 603  vgl.  R  e  i  s k e Demosthenis  und  Aeschinis  Reden 
1764,  in  der  Vorrede  zum  ersten  Bande).  Das  eingehendere  Studium  wurde 
von  Alb.  Gerh.  Becker  (Demosthenes  als  Staatsmann  und  Redner,  Halle 
1815 — 16,  2  Bde.,  Demosthenes  als  Staatsbürger,  Redner  und  Schriftsteller, 
Quedlinburg  1830,  wozu  1834  noch  eine  Fortsetzung  kam,  ein  Ver- 
zeichnis der  bis  1833  erschienenen  Schriften,  welche  sich  auf  Demosthenes 
beziehen)  begründet.  Der  Staatsmann  Demosthenes  ist  am  besten  bei  Arn. 
Schäfer  Demosthenes  und  seine  Zeit,  Leipzig  1856 — 58,  3  Bde.,  freilich  in 
sehr  günstigem  Lichte  dargestellt ;  in  des  Redners  Kunst  führt  uns  B 1  a  s  s 
die  attische  Beredsamkeit  Bd.  III.  Th.  1.  Leipzig  1877  am  besten  ein.  Nach 
diesen  zwei  grundlegenden  Werken  verdienen  die  geschmackvollen  Apergus 
von  Girard  (S.  33)  und  L.  Bredif  eloquence  politique  en  Gr^ce-Demosthene, 
Paris  1879  Erwähnung. 

Die  politische  Beredsamkeit  blieb,  wie  wir  gesehen  haben, 
in  der  Glanzzeit  Athens  der  Literatur  fremd,  wenn  man  von 
den  Flugschriften  der  Reaktionäre  absieht.  Aber  die  Publikation 
zahlloser  gerichtlicher  Reden  bereitete  das  Volk  auf  den  Schritt 
vor,  den  zuerst  Demosthenes  gewagt  hat.  Er  war  durch  seine 
Advokatenpraxis  daran  gewöhnt.  Reden  zu  veröffentlichen,  und 
sah  gewiss  auch,  welchen  Erfolg  die  Broschüren  des  alten 
Isokrates  hatten.  Warum  sollte  er  mit  seinen  politischen  Reden 
nicht  dasselbe  wagen?  Demosthenes  wollte  jedoch  wahrscheinlich 
w^eniger  für  seinen  Ruhm  sorgen ,  als  zunächst  in  Athen  eine 
ihm  treu  ergebene  Partei  gründen  und  sodann,  weil  er  einen 
hellenischen  Bund,  der  seine  Spitze  gegen  Philipp  richtete 
plante,  auch  in  anderen  Städten  Parteigänger  seiner  Politik 
gewinnen.  Um  also  die  Reden,  welche  die  ersten  und  wohl 
auch  die  einzigen  literarischen  Denkmäler  der  Staatsrede  aus 
der  klassischen  Zeit  sind,  recht  zu  würdigen,  ist  es  notwendig, 
nicht  bloss  das  Privatleben,  sondern  auch  die  Politik  des  grossen 
Redners  in  den  Hauptzügen  zu  zeichnen. 

Ueber  das  Privatleben  des  Demosthenes  ist  wenig  genug 
überliefert.  Sein  Vater,  der  den  gleichen  Namen  führte  und  zum 
Demos  Paiania  gehörte,  besass  eine  Waffenfabrik ^)  und  war,  wenn 
gleich  er  weder  durch  vornehme  Herkunft  noch  persönlich  hervor- 


1)  Demosth.  27,  9. 


168  Siebentes  Kapitel. 

ragte,  ein  trefflicher  Bürger,  dem  seine  Feinde  nichts  nachsagen 
konnten  ^);  von  mütterlicher  Seite  mochte  nordisches  Blut  in 
den  Adern  des  Demosthenes  fliessen,  denn  Kleobule  war:  in  der 
Krim  geboren  ^).  Ueber  das  Geburtsjahr  des  Redners  geben 
seine  eigenen  Schriften  Auskunft.  Danach  war  er  unter  dem 
Archen  Kephisodoros  Ol.  103,  3  (366/5)  nicht  ganz  siebzehn 
Jahre  alt,  also  etwa  im  Jahre  383  (Ol.  99,  1  oder  2)  geboren-'^). 
Schon  im  Alter  von  sieben  Jahren  traf  ihn  das  Unglück,  seinen 
Vater  zu  verlieren.  Dies  that  natürlich  der  regelrechten  Aus- 
bildung, wie  sie  damals  der  Sohn  eines  guten  Hauses  zu 
empfangen    pflegte,    keinen   Eintragt);    aber    als  Demosthenes 


I 


1)  Theopomp,  bei  Plut.  4  xäv  xaXüiy  xal  afcad-M'^  avSpoiv,  vgl.  Aeschin, 
3,  171;  irpoYovot  sind  nicht  da  2,  171. 

2)  Aeschin.  2,  78.  3,  171  f.  vgl.  2,  22.  87.  93.  180.  183.  Dinarch.  1,  15. 
95.  Den  Namen  der  Mutter  geben  die  Biographen  (Ps.  Plut.  844  a.  Liban, 
Z.  25.  u.  Argum.  Dem.  or.  27).  Zosim.  Z.  17.  Suidas  I. 

3)  Demosth.  30,  17,  wodurch  §  16  erläutert  wird;  fietä  toui;  Yajxooc  ist, 
wenn  auch  nicht  sicher  echt,  so  doch  richtig.  Die  Vormundschaft  dauerte 
eher  neun  als  zehn  Jahre  (27,  69  eist  Ssxattu,  vgl.  §  19.  23).  Vgl.  Seebeck 
Ztsch.  ,f.  Alterthumsw.  1838  Nr.  39—42;  Droysen  Rhein.  Mus.  4,  406  ff.; 
Schäfer  Demosthenes  III  B  38  ff.  und  Jahrbb.  f.  Phil.  81,  864  (er  errechnet 
gleich  Weil  les  harangues  de  Demosth^ne  p.  XXXIV  ff.  irrtümlich  das  Jahr 
384);  Blass  7  ff.  Schon  die  Quelle  des  Suidas,  welcher  Demosthenes  62  Lebens- 
jahre zuteilt,  ging  von  Ol.  99,  1  aus.  In  der  Midiana  §  154  nennt  sich  der 
Redner  32  Jahre  alt  (Schäfer  korrigiert:  Tpidxovxa  xal  8');  da  Dionysios  jene 
Rede  Ol.  107,  4  setzte,  musste  er  das  Geburtsjahr  auf  Ol.  99,  4  verlegen  (ad 
Ammae.  I  4),  wozu  Plut.  15  und  Gell.  16,  28,  6  passen;  diese  Ansicht  wird 
von  Böhnecke  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  attischen  Redner  I  S.  Iff. 
verteidigt  (bekämpft  von  Bakius  scholica  hypomn.  III  340  ff.).  Ol.  99,  3 
erschliessen  aus  derselben  Quelle  Clinton  ftxsti  hell.  II  exe.  20,  Brückner 
König  Philipp  und  die  hellenischen  Staaten  S.  326  ff.  u.  K.  F.  Hermann 
de  Midia  Anagyrasio  p.  13  ff.  epicrisis  quaestiouis  de  Demosthenis  anno  natali 
ind.  lect.  hib.  Göttingen  1845.  Pseudoplutarch  gibt  Ol.  98,  4  an  (womit 
Zosimos'  Altersangabe  Z.  142  stimmt),  weil  seine  Quelle  bloss  Dem.  30,  16 
berücksichtigte  und  falsch  verstand  (verteidigt  von  Böckh  Abhandl.  der 
Berliner  Akad.  1818/9  S.  60  ff.  und  Vömel  Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1846 
Nr.  9  f.  16  ff.).  Hyperid.  Demosth.  col.  20  (19),  4,  der  mit  touc  ^i^^p  ^^^iv-ovra 
et  Y)  Demosthenes  meint,  ist  für  eine  genaue  Rechnung  natürlich  unbrauchbar, 
Pseudoplutarch  gibt  Demosthenes  70  oder  (105  S'  ol  xa  eXaTXü))  67  Lebens- 
jahre (847  b). 

4)  Demosth.  18,  257;  27,  46    xoug  StSaoxiXoo«;  xobz  jxiO'S'Oix:  antazipt]-».* 
wird  bei  Plut.  4  übertrieben. 


Demosthenes.  169 

mündig  wurde  und  mit  seinen  Vormündern  Abrechnung  hielt, 
war  durch  ihre  Untreue  das  grosse  Vermögen  des  Vaters  auf 
einen  geringen  Rest  zusammengeschmolzen ;  diese  neue  Prüfung 
war  für  das  Leben  des  Demosthenes  bedeutungsvoll.  Der 
Jüngling  sah  sich  gezwungen  die  Vormünder  anzuklagen  und 
mit  neunzehn  Jahren  Ol.  104,  1  (364/3)  vor  Gericht  aufzu- 
treten. Die  zweijährige  Frist,  welche  das  Verschleppungswesen 
der  attischen  Justiz  ihm  Hess,  hatte  er  so  wohl  benützt,  dass 
er  zur  allgemeinen  Ueberraschung  die  Verurteilung  des  Aphobos 
durchsetzte ;  was  aber  noch  merkwürdiger  war,  niemand  wusste 
einen  Lehrer,  dessen  Schule  er  besucht  hätte,  namhaft  zu 
machen.  Der  Stadtklatsch  behauptete  deswegen,  Demosthenes 
liabe  durch  indiskrete  Schüler  die  Regeln  der  damals  berühmten 
Lehrer  zu  ihren  öffentlich  verbreiteten  Reden  bekommen  ^),  In 
der  That  ist  es  in  gleicher  Weise  selbstverständlich  und  nach- 
weisbar, dass  er  die  Reden  des  Isokrates  und  Isaios  fleissig 
studierte^),  aber  erst  Spätere  behaupteten,  dass  er  Unterricht 
von  ihnen  erhalten  wollte  oder  wirklich  erhielt  ^).  Das  Studium  der 
Philosophie  zog  ihn  nie  an,  obgleich  die  Philosophen  nachmals  den 
berühmten  Redner  gerne  zu  den  ihrigen  gezählt  hätten*);  selbst 


1)  Ktesibios  irspl  ^tXooo^iaq  nach  Hermippos  bei  Plut.  5  und  Ps.  Plut. 
844  c,  vgl.  Suid.  I. 

2)  lieber  Isokrates  s.  S.  134  A.,  Isaios  Arn.  Laudahn  welchen  Einfluss 
liat  Isaeus  auf  die  demosthenischen  Vormundschaftsreden  ausgeübt?  I.  Hildes- 
heim 1872,  skeptisch  Paul  Hoffmann  de  Demosthene  Isaei  discipulo,  Berlin 
1872;  über  beide  W.  Herforth  über  die  Nachahmungen  des  isaeischen  und 
isokrateischen  Stils  bei  Demosthenes,  Grünberg  i.  Schi.  1880. 

3)  Isokrates  S.  133  A.  8;  die  von  Dionys.  Isae.  4  angeführte  Stelle  des 
l'3^theas  schreibt  Demosthenes  die  Abgefeimtheit  des  Isaios  zu.  Hermippos 
(Dionys.  Isae.  1)  machte  daraus  ein  Schülerverhältnis,  das  später  ausgeschmückt 
wurde.  Demosthenes  nahm  Isaios  angeblich  auf  vier  Jahre  (d.  h.  entweder 
nach  Blass  S.  15  von  der  Dokimasie  bis  zum  Ende  des  Processes  oder  nach 
dem  Beispiele  der  isokrateischen  Schule)  in  sein  Haus  (Ps.  Plut.  844  b  c) ;  nach 
Ps.  Plut.  839  e  widmete  er  für  10000  Drachmen  sich  ihm  ausschliesslich, 
während  er  nach  Suidas  v.  'laaloc  nichts  annahm. 

4)  Ueber  Plato  Hermippos  aus  aSeairoxa  ÖTtojxvYjjjLaxa  bei  Plut.  5  und 
Gell.  3^  13,  Ps.  Dem.  epist.  5,  Mnesistratos  bei  Diogen.  3,  47  u.  A.  s.  Funk- 
hänel  Acta  societ.  Graec.  I  287  flf.  Schäfer  I  280 flf.;  die  Rhctoren  wollten 
Nachahmungen  platonischer  Stellen  finden  (Cic.  Brut.  31,  121,  Dionys.  rhet. 
8,  8.  10,  6.  Quintüian.  12,  10,  24).  Schol.  Aristot.  rhet.  3,  1  p.  1404  a  1 
verwechselt  Plato  und  Aristoteles.  Gegen  einen  Peripatetiker,  welcher  Aristo- 
teles den  Ruhm  der  Lehrerschaft  zuteilte  (vgl.  Lucian.  12),  schrieb  Dionysios 


170  Sieljentes  Kapitel. 

in  Bezug  auf  Geschichtskenntnis  unterschied  er  sich  von  seine 
Genossen  nicht  ^). 

Da  nun  Demosthenes  durch  den  Prozess  den  früheren" 
Reichtum  nicht  zurückerhielt,  sondern  ein  Vergleich  ihm  nur 
einen  Teil  seines  Vermögens  wiedergab  ^),  entschloss  er  sich, 
sein  eben  erprobtes  Talent  wie  Isokrates  und  Lysias  zur  Er- 
setzung der  Verluste  auszunützen;  er  schrieb  also  für  andere 
Leute  Reden ^)  und  versammelte  junge  Athener  zum  Unterrichte 
um  sich*).  Auch  trat  er  als  Fürsprecher  vor  Gericht  auf.  Aber 
wiewohl  Demosthenes  durch  diese  Thätigkeit  Ansehen  und  Besitz 
gewann,  begnügte  sich  sein  Ehrgeiz  mit  einem  derartigen 
ruhigen  Berufe  nicht.  Als  Republikaner  wollte  er  in  seiner 
Vaterstadt  eine  politische  Rolle  spielen.  Während  jedoch  Iso- 
krates aus  seinem  stillen  Zimmer  Sendschreiben  ergehen  Hess, 
scheute  sich  der  junge  Mann  nicht  vor  die  Volksversammlung 
selbst  zu  treten.  Wann  er  den  ersten  Versuch  machte,  wissen 
wir  nicht;  der  Weg  zur  Berühmtheit  wurde  ihm  nicht  leicht 
gemacht.     Die  Nachrichten  über  seine  Misserfolge  sind  schlecht 


den  ersten  Brief  an  Ammaeus.  Den  Dialektiker  Eubulides,  welcher  ein  Zeit- 
genosse des  Redners,  wenn  nicht  gar  jünger  war  (Diogen.  2,  109  ff.  mit  der- 
Anmerkung  des  Menagius),  machte  man  aus  Missverständuis  einer  Komiker- 
stelle (Diogen.  2,  108)  zum  Lehrer  (Ps.  Plut.  845  b.  Luciau.  12.  Apul.  apol. 
15.  Suid.  I.),  An  den  Besuch  der  Akademie  wird  eine  Anekdote  geknüpft: 
Demosthenes  soll  nämlich  durch  eine  Rede  des  berühmten  Politikers  Kalli- 
stratos  für  den  Rednerberuf  begeistert  worden  sein,  entweder  als  dieser  im 
Jahre  365  sich  glänzend  verteidigte  (Hermippos  fr.  61  bei  Gell.  3,  13.  Suid.  I) 
oder  früher,  als  er  noch  Knabe  war  ('HY^^jatac  6  Md^vfii;  bei  Ps.  Plut.  844  b). 
Beides  vermengen  Plut.  5  (tpast)  und  Liban.  Z.  38  ff.  ('ftxai);  kurz  Lucian. 
12.  Zosim.  29  f. 

1)  Die  Fabel,  dass  er  mit  Begeisterung  Thukydides  studierte  (Dionys. 
rhet.  8,  7.  9,  10.  Ps.  Plut.  844b.  Zosim.  S.  45),  ist  ein  Anachronismus;  die 
Scholisvsteu  l)einühteu  sich  Ireilich,  Aehulicbkeiten  aufzufinden  (s.  Dindorfs 
Index  IX  p.  838).  „Demosthenische"  Abschriften  des  Thukydidestextes  (man 
zählte  deren  acht)  waren  in  der  Kaiserzeit  eine  gesuchte  Bibliothekenrarität 
(Lucian.  npbq  xöv  ai:al8.  4);  er  soll  das  Werk  auswendig  gewusst  und  als  alle 
Exemplare  verbrannt  waren,  aus  dem  Gedächtnisse  hergestellt  haben  (Zosim. 
Z.  48  ff.). 

2)  Demosth.  21,80;  Aeschin.  3,  173  ta  naTp(})a  xata-feXotOTax;  7tpoe|A6voc, 
8)  Aeschines  3,  173. 

4)  Aeschines  1,  117.  170.  173  ff.  2,  156.  Daher  nennt  er  ihn  1,  125. 
176  ootptoffjc.  Ein  Procesa  gegen  seinen  Schüler  Aristurchos  bereitete  ihm 
argen  Verdrusa  (Aeschin.  1,  171  f.  vgl.  Susemihl  Jahrbb.  f.  Phil.  91,366ff.). 


I 


Demosthenes.  171 

bezeugt  uad  ignorieren  alle,  dass  Demosthenes  nicht  ein  un- 
kundiger Anfänger  war,  als  er  zum  ersten  Male  die  Eedner- 
bühne  der  Pnyx  bestieg  ^).  Aber  der  Redner  erzählte  selbst  im 
Alter,  welcher  Anstrengung  und  Energie  es  bedurft  habe,  damit 
er  sein  Ziel  erreichte '"*).  Um  seine  Stimme  für  den  weiten 
Versammlungsraum  zu  stärken,  trug  er  lange  Reden  aus  den 
Tragödien,  gehend  oder  gar  aufwärts  schreitend,  in  einem  Athem 
vor^).  Weil  er  nicht  wollte,  dass  man  ihn  wie  Alkibiades  wegen 
der  lallenden  Aussprache  des  Buchstaben  R  verspotte,  nahm 
er  beim  Reden  Steinchen  in  den  Mund  *).  Nichtsdestoweniger 
blieb  das  Organ  unschön  und  ohne  natürliche  Kraft  ^).  Selbst 
das  Geberdenspiel  studierte  Demosthenes  vor  einem  hohen 
Spiegel  ein  ^).  Nach  glaubwürdiger  Erzählung  übte  er  sich 
besonders  dadurch,  dass  er  die  Reden,  welche  er  Tags  über 
in  der  Volksversammlung  oder  im  Gerichtssaale  gehört  hatte, 
zu  Hause  durchging  und  sowohl  Gedanken  als  Ausdrücke 
|)rüfte  und  besserte^).  Demosthenes  liebte  überhaupt,  im  Zimmer 
/AI  studieren  ^)  statt  an   den  Turnübungen  seiner  Altersgenossen 


1)  Plutarch.  Dem.  G.  7.  an  seni  ger.  23.  Ps.  Flut.  845  a  (tcoxe)  ;  Aischines 
weiss  nichts  davon  (Schäfer  I  301  f.).  Eunomos  von  Thria  tröstete  ihn  durch 
den  Vergleich  mit  Perikles  (Plut.  6.  an  seni  ger.  23.  Ps.  Plut.  845  a,  aber 
s.  Isoer.  15,  93.).  Der  Schauspieler  Satyros,  den  Demosthenes  19,  193  erwähnt, 
(Plut.  7)  oder  Andronikos  (Ps.  Plut.  845  a)  machten  ihn  auf  die  Wichtigkeit 
des  Vortrags  aufmerksam;  letzterer  (a.  O.  Anon.  S.  82.  Suid.  III.)  oder  Neop- 
tolemos  (Ps.  Plut.  844  e;  hier  erscheinen  wieder  die  10000  Drachmen)  unter- 
richtete ihn  dnrin. 

2)  Demetr.  Phal.  bei  Plut.  11.  Die  späteren  Anekdoten  sind  in  den 
folgenden  Anmerkungen  bei  den  Nachrichten  untergebracht,  welche  den  An- 
stoss  dazu  gaben. 

3)  Nach  Cic.  fin.  5,  2,  5  (ajunt).  Ps.  Plut.  844  e  (vgl.  Liban.  70  ff. 
Zosim  76.  Anon.  78.  Vul,  Max.  8,  7  ext.  1,  wo  caninam  litteram  zu 
lesen  ist,  Quintiliau.  10,  3,  30.  Mart.  Cap.  5,  430)  ging  er  an  der  Braudung 
des  Hafens  von  Phaleron,  wohin  die  Gelehrten  der  Kaiserzeit  spazieren  zu 
gehen  pflegten  (Philostr.  vit.  Apoll,  p.  72  K),  deklamierend  auf  und  ab. 

4)  Nach  Zosim.  Z.  69  f.  übte  er  sich  an  einem  homerischen  Verse  (e  402). 

5)  Demosth.   19,  216  (tpaüXov).  208  (o^Ssvoc). 

6)  Er  soll  einen  Dolch  oder  einen  Bratspiess  über  der  Schulter  aufge- 
hängt haben,  um  sich  das  Zucken  abzugewöhnen  (Ps.  Plut.  844  d.  Luciau. 
14.  Liban.  Z.  85.  Zosim.  Z.  80;  Lanze  Anon.  74). 

7)  Plutarch.  8. 

8)  Zu  Athen  sah  Plutarch  ein  unterirdisches  Gemach,  in  dem  er  sich 
nach  der  Sage  übte  (Plut.  7.  Liban.  76.  Anon.  46);  von  einer  Höhle  sprechen 


j  72  Siebentes  Kapitel. 

Teil  zu  nehmen^);  man  warf  ihm  daher,  zumal  er  elegante 
Kleidung  liebte,  Weichlichkeit  vor^),  wie  ihm  auch  der  Durch- 
schnittsbürger seine  Nüchternheit  verargte.  Wasser  zu  trinken  ^) 
und  beim  Lichte  der  qualmenden  Oellampe  zu  studieren  ^),  kam 
den  Athenern  höchst  läclierlich  vor;  aber  der  Menschenkenner 
konnte  aus  den  zusammengepressten  Lippen,  der  straffen  fast 
steifen  Haltung  und  den  durchfurchten  Zügen  ^)  die  ungemeine 
Ausdauer  und  Energie,  zugleich  aber  die  rücksichtslose  Leiden- 
schaft des  Mannes  ahnen. 

Wann  Demosthenes  den  ersten  Schritt  auf  der  politischen 
Laufbahn  wagte,  wissen  wir,  wie  gesagt,  nicht*');  die  erste  Rede 
aber  (über  die  Symmorien  XIV.)  ^),  die  er  veröffentlichte, 
stammt  aus  dem  Jahre  354  (Ol.  106,  3),  als  er  29  Jahre  alt 
war.  Rüstungen  des  Perserkönigs  hatten  damals  in  Athen,  wo 
man  sich  verschiedener  Uebergriffe  schuldig  wusste,  teils  Furcht 
vor  einem  neuen  Perserkriege,  teils  unüberlegte  Kriegslust, 
welche  gewissenlose  Redner  durch  Reminiscenzen  an  Marathon 
und  Salamis  anfachten,  hervorgerufen.  Inmitten  dieser  allgemeinen 
Verwirrung    trat    der    jugendliche    Redner    mit    merkwürdiger 


Ps.  Plut.  844  d  und  Luciau.  14.  Er  soll  sich  gar  halb  geschoren  haben,  um 
nicht  ausgehen  zu  können  (Plnt.  7.  Ps.  Plut.  844  d.  Liban.  76.  Anon.  48  ff. 
Aphthon.  prog.  3  p.  24,  28  Sp.  Lucian.  14.  Suid.  III.,  vom  Bart  Zosim.  86  ff.). 

1)  Aeschin.  3,  265.  Man  begründete  dies  mit  Kränklichkeit  (Plut.  4. 
Liban.  Z.  29.  vgl.  Zosim.  Z.  61)  oder  schob  die  Schuld  auf  die  mütterliche 
Zärtlichkeit  (Plut,  4), 

2)  Aeschin.  1,  131,  vgl.  2,  179. 

3)  Demosth.  6,  30.  19,  46.  Pytheas  bei  Athen.  2,  41  f. 

4)  Plut.  8  (vgl.  11).  Liban.  78  ff.  Lucian.  15;  Ps.  Plut.  844  d  behauptet 
sogar,  er  habe  ein  zu  kleines  Bett  gehabt,  um  wenig  zu  schlafen. 

6)  So  zeigen  ihn  die  Bilder  (H.  Schröder  über  die  Abbildungen  des 
Demosthenes,  Braunschweig  1842;  G.  Scharff  transactions  of  the  royal 
Society  of  literature  n.  s.  IV.;  vgl.  Baumeisters  Denkmäler  des  klassischen 
Alterthums  s.  v.).     Ueber  seine  Körpergrösse  Aeschin.  3,  77. 

6)  Wenn  Dem.  18,  18  streng  zu  nehmen  ist,  trat  er  erst  nach  Beginn 
des  heiligen  Krieges  (355)  auf.  Eusebios  setzt  Demosthenes  Ol.  105,  1  (so 
llieron.,  104,  2  oder  3  A,  104,  4P,  105,  2  arm.)  als  Zeitgenossen  Philipps  an; 
die  zweite  Zeitbestimmung  (Ol.  108,  2  Hieron.,  110,  1  Synk.)  bezieht  sich 
auf  den  philokrateischen  Frieden. 

7)  Demosthenes  selbst  citiert  16,  6  ihren  Inhalt  mit  den  Worten  mkp 
t<Bv  ßaat/.txüiv.  Ueber  sämmtliche  Staatsreden  handelt  L.  Spengel  die 
Sfip.'/jYoptat  des  Demosthenes,  Abhandl.  der  bayer.  Akad.  9,  51  ff.  277  ff. 


Demosthenes.  173 

P>esonnenheit  auf,  indem  er  sowohl  vor  übereilter  Offensive 
(;J — 13)  wie  vor  unwürdigem  Kleinmut  warnte  ^) ;  er  empfahl 
jodoeh  Vorkehrungen  za  treffen  und  legte,  wahrscheinlich  durch 
den  Personenwechsel  in  der  Finanzleitung  dazu  veranlasst,  ein 
detailliertes  Programm  zur  Reform  des  Flottenwesens,  dessen 
Schäden  der  Bundesgenossenkrieg  aufgedeckt  hatte,  dem  Volke 
vor.  Doch  fand  dasselbe  keinen  Anklang,  während  der  politische 
Teil  wohlgefällig  aufgenommen  wurde  ^).  Der  Redner  spricht 
mit  grossem  Selbstbewusstsein  (z,  ß.  §  24)  und  mit  Recht, 
aber  vom  rhetorischen  Standpunkte  ist  er  noch  ein  Anfänger. 
Der  Satzbau  ist  ebenso  schlicht  wie  der  Ausdruck,  den  er  bloss 
durch  einige  volkstümliche  witzige  Redensarten  belebt  ^). 

Ein  nicht  weniger  klares  Urteil  und  zugleich  eine  kunst- 
vollere Sprache  weist  die  bereits  im  folgenden  Jahre*)  gehaltene 
Hede  „für  die  Megalopoliten"  (XVI.)^)  auf,  welche,  von  den 
Spartanern  bedrängt,  in  Athen  um  Hilfe  nachsuchten.  Demosthenes 
stellt  sich  ungleich  den  anderen  Rednern  auf  den  rein  athenischen 
Standpunkt  und  verwirft  die  Gefühlspolitik;  um  die  Politik  des 
Nutzens,  welche  er  predigt,  nicht  in  ihrem  nackten  Egoismus 
liinzustellen ,  verhüllt  er  sie  mit  dem  charakteristischen  Aus- 
spruche (§  11):  ,,Man  soll  zwar  immer  das  Rechte  denken  und 
handeln,  aber  doch  zugleich  dafür  sorgen,  dass  es  auch  nützhch 
sei".  Ebenso  weiss  Demosthenes  die  Punkte,  welche  für  seine 
Gegner  sprachen,  mit  dem  Geschicke,  das  ihm  die  Advokaten- 
praxis verschafft  habe,  so  zu  gruppieren,  dass  sie  nicht  in 
helles  Licht  zu  stehen  kommen  (§  11 — 13.  16 — 18  und  14 — 15. 
27 — 29).  Der  Stil  der  Rede,  welcher  den  der  vorigen  bedeutend 
überholt    hat,    hält    ungefähr   die  Mitte   zwischen  den  grossen 


1)  Von  Philipp,  mit  dem  der  wirkliche  Krieg  erst  im  folgenden  Jahre 
ausbrach,  ist  noch  nicht  die  Rede,  mag  ihn  auch  Dionys.  rhet.  9,  10  hinein- 
iuterpretiren  (ebenso  Phil.  Ditges  Beziehungen  der  Keden  über  die  Sym- 
niorieu,  für  Megalop.  und  lihodus  und  gegen  Aiistokrates  auf  die  nationale 
und  antiphüippische  Politik  des  Demosthenes,  Pr.  des  kath.  Gymn,  Köln  1878). 

2)  Demosth.  15,  6. 

V;:  'S)  Taij/(i)8Ticouat    12,   sie    68ov   xaTaat^,    xov   Kpä'^\i.a    eauxö)  sup-fjast  23, 
)(pv)0[i.ij)8ot£V  25,  TtXeiüJV  eatl  f  eXcmi;  xo5  |ayj3£v6(;  27. 

4)  Dionys.  c.  Ammae.  I  4;  er  nennt  die  Eede  irspl  ttj?  Mz-foXonoXizuiv 

6)  J.  Dreher  Beiträge  zur  Erklärung  von  Demosthenes'  Rede  für  die 
Megalopoliten,  Ehingen  1882. 


174  Siebentes  Kapitel. 

Gerichtsreden  und  den  Civilreden.     Doch  ist  Demosthenes  vc 
der  Meisterschaft  noch  erhebHch  entfernt;  es  gehngt  ihm  nicht 
immer,  die  Sätze  klar  und  einfach  zu  bauen  ^). 

Demosthenes  hatte  mit  seiner  VerstandespoHtik  damals 
nicht  mehr  Glück  als  351^),  mit  welchem  Jahre  er  ,,für  die 
Freiheit  der  Rhodier"  (XV.)  sprach.  Die  Demokraten 
von  Rhodos,  welche  den  Oligarchen  unterlegen  waren,  baten 
die  Athener,  die  oligarchische  Herrschaft  zu  stürzen  ;  der  Redner 
hatte  dabei  die  Aufgabe,  den  Groll,  welchen  seine  Mitbürger 
vom  Bundesgenossen  kriege  her  gegen  die  ungetreuen  Rhodier 
empfanden,  durch  politische  Gegengründe  zu  besänftigen  und 
die  Vertragswidrigkeit  seines  Vorschlages  zu  eskamotieren. 
Uebrigens  hatte  das  Volk  schon  die  Intervention  beschlossen, 
so  dass  dieses  Meisterstück  der  Sophistik  nur  die  Ausführung 
jenes  Beschlusses  sichern  sollte  (§  30 — 35).  Aber,  was  der 
Redner  selbst  befürchtete,  trat  ein;  der  Beschluss  wurde  nicht 
ins  Werk  gesetzt^)  und  dies  war  gut  für  Athen,  denn  ihm 
drohte  ein  gefahrlicher  Feind. 

Demosthenes  und  seine  Mitbürger  erinnerten  sich  bei  diesen 
Verhandlungen  gar  nicht  daran,  dass  Athen  mit  Pliilipp  im 
Kriegszustand  war.  Ausser  der  Expedition,  welche  die  Thermo- 
pylen  schützte,  bemerkte  man  kaum  etwas  davon,  weil  Kaper- 
schiffe und  räuberische  Söldnerschaaren  Athens  Flagge  vertraten. 
Da  wandte  sich  im  Jahre  352  Olynth  vod  König  Philipp  ab 
und  knüpfte  mit  Athen  Verbindungen  an  *),  worauf  der  König 
sowohl  diese  Stadt  als  die  athenischen  Besitzungen  bedrohte. 
Da  das  Volk  durch  seine  Züge  in  Besorgnis  versetzt  wurde-''), 
hielt  Demosthenes  um  die  Wende  des  Jahres  352  oder  Anfang 
351  die  erste  philippischeRede  (IV.)*').  Aber  ist  sie  wirkhch 


1)  Z.  B.  ist  §  8  sehr  verwickelt,  dann  liebt  er  Infinitive,  besonders  enl)- 
stantivierte,  zn  häufen  und  mit  näheren  Bestimmungen  zu  erweitern  (z.  B. 
am  Schlnss  von  §  24). 

2;  Nach  Dionys.  ad  Amniae.  I  4  (irepl  'PoSltov),  wobei  wir  uns  beruhigen 
massen,  obgleich  Diodor  andere  Angaben  macht,  vgl.  Schäfer  I  486  ff. 

3)  Dies  zeigt  der  Schluss  der  Friedensrede. 

4)  Demoath.  23,  109. 
6)  Demosth.  4,  17. 

6)   §  11,  vgl.  Schäfer  II  66  ff.  u.  Jahrbb.  f.  PhiL  79  (1859)  S.  667  ff.; 
O.Haupt  demosthenische  Studien  I  S.  16  ff.;  Fuchs  über  die  Zeitbestimmung 


Demosthenes.  175 

eine  einheitliche  Rede?  Dionysios  von  Halikarnass  leugnete  es 
und  betrachtete  die  ersten  neunundzwanzig  Paragraplien  als 
eine  besondere  Rede  ^).  In  der  That  wird  es  der  Apologetik 
nicht  gelingen,  einerseits  das  bei  Demosthenes  unerhörte  „wir" 
(§  30),  andererseits  den  ungewöhnlichen  Umfang  der  Rede, 
welche,  zumal  wenn  man  die  Aktenstücke  einrechnet,  unter  den 
älteren  Reden ^)  nicht  ihres  Gleichen  hat,  genügend  zu  recht- 
fertigen ;  ebenso  ist  es  jedenfalls  sonderbar,  wenn  Demosthenes 
zuerst  einen  für  Expeditionen  geeigneten  Plan  ausführlich  ent- 
wickelt und  dann  plötzlich  (§  31  f.)  dieses  System  zu  Gunsten 
eines  ständigen  Postens  verwirft.  Wie  dem  auch  sein  mag, 
ohne  Zweifel  ist  zwischen  §  29  und  30  nicht  bloss  ein  Akten- 
stück oder  ein  Finanzplan  ausgefallen ,  denn  Demosthenes 
würde  dies,  abgesehen  davon,  dass  er  in  seine  frühste  Rede 
das  Finanzexposö  klar  einflocht,  dem  Leser  deutlich  gemacht 
haben.  Wenn  aber,  wie  es  scheinen  möchte,  zwei  Reden  anzu- 
nehmen sind,  waren  sie  gewiss  durch  keinen  grossen  Zwischen- 
raum getrennt.  Hier  trat  Demosthenes  bereits  als  fertiger 
Redner  auf;  beide  Stücke  sind  mit  reifer  Technik  ausgearbeitet 
und  zeichnen  sich  nicht  sowohl  durch  die  Regelmässigkeit  der 
Disposition  als  durch  Schärfe  der  Gedanken,  treffenden  Ausdruck 
und  melodischen  Rhythmus  aus.  Unter  das  Pathos  mischen 
sich  anschauliche  Vergleiche  und  witzige  Wendungen  ^);  der 
Wohllaut  des  Tonfalls  ist  so  sehr  angestrebt,  dass  Demosthenes 


der  ersten  Philippischen  Eede  des  Demosthenes,  Urach  1875;  W.  Hartel 
Commentatt.  in  honorem  Mommseni  p.  524  ff.  und  Sitzungsber.  der  Wiener 
Akad.  87,  54  ff.;  Ol.  107,  2  nach  E.  Kurz  über  die  Zeitbestimmung  der 
ersten  Rede  des  Demosthenes  gegen  Philippos,  Pr.  des  Ludwigsgymn.  München 
1857,  Ol.  107,  2  oder  3  nach  H.  Hädicke  de  prima  Demosthenis  Philippica, 
Berlin  1858.  Böhnecke  wollte  die  handschriftliche  Ordnung  rechtfertigen 
(vgl.  L.  Spengel  Münchener  gel.  Auz,  1845  S.  324  ff'.  Kurz  a.  O.). 

1)  Dionys.  ad.  Ammae.  I  4.  10  (wo  er  die  zweite  Eede  irrtümlich  Ol. 
108,  2  setzt),  vgl.  Schol.  in  Dem.  p.  155,  3  D.  (W.  Christ  die  Atticusaus- 
gabe  des  Demosthenes  S.  173  leitet  dessen  Ansicht  von  der  Beschaffenheit 
seines  Handexemplares  ab).  Vgl.  J.  H.  Bremi  Philol.  Beitr.  aus  der  Schweiz 
I  21  ff.  M.  Seebeck  Ztsch.  f. '  Alterthumswiss.  5,  737  ff.  Edm.  Eichler 
Demosthenes'  I.  Philippica  doch  eine  Doppelrede?  Pr.  des  II.  Gymn.  in  Wien 
1884;  A.  Bar  an  Wiener  Studien  6,  173  ff. 

2)  Die  dritte  Philippica  und  die  Rede  über  den  Chersones  sind  für  die 
Hellenen  bestimmte  Flugschriften. 

3)  §  40,  vgl.  26;  43.  45.  49. 


176  Siebentes  Kapitel. 

nicht  einmal  Verse  scheut  ^).  Man  möchte  jetzt  bei  der  blossen 
Lektüre  glauben,  das  athenische  Volk  sei  hingerissen  worden 
und  jeder  Widerspruch  hätte  verstummen  müssen ;  aber  es 
handelte  sich  um  Geld,  um  viel  Geld,  und,  was  noch  schwerer 
wog,  um  persönlichen  Kriegsdienst,  während  keine  dringende 
Notwendigkeit  solche  Opfer  zu  fordern  schien ;  Eubulos  und 
die  übrigen  Finanzautoritäten  werden  den  Plan  missbilligt 
haben,  vielleicht  missfiel  auch  das  schroffe  Auftreten  des 
Demosthenes,  der,  wie  später  niemals  wieder,  dem  Volke 
Wahrheiten  sagte.  Kurz,  man  hört  nicht,  dass  die  Expedition 
ausgeführt  wurde. 

Philipp  war  jedoch  gewarnt  und  ging  gegen  Olynth  erst 
wieder  vor,  als  er  hoffen  konnte,  dass  Euböas  Aufstand  die 
Athener  beschäftigen  werde  ^).  Ol.  107,  4  (349)  erschien  eine 
olynthische  Gesandtschaft  in  Athen,  um  dringend  rasche  Hilfe 
zu  fordern.  Diese  wollen  die  drei  olynthischen  Reden 
befürworten ,  welche  rasch  nach  einander  gehalten  wurden  ^) ; 
denn  alle  beziehen  sich  auf  einen  und  denselben  Stand  der 
Dinge,  auf  den  Anfang  des  Krieges.  Zur  Zeit  der  ersten 
Rede  handelte  es  sich  noch  darum,  ob  und  in  welcher  Weise 
das  Volk  Hilfe  leisten  solle  (§  2).  Wälirend  der  Redner  letztere 
Frage  nur  flüchtig  berührt  (§  17 — 20),  dabei  aber  die  kriegerische 
Verwendung  der  Festgelder  für  wünschenswert  erklärt,  besteht 
seine  Hauptabsicht  darin,  das  Volk  zur  Unterstützung  zu  be- 
wegen. Als  er  die  zweite  Rede  hielt,  scheint  bereits  eine 
Söldnerabteilung  abgegangen  zu  sein;  wenn  der  Redner  also 
auch  seine  Mitbürger  zum  kräftigen  Plandeln  ermahnt,  will  er 
diesmal  vielmehr  den  Mut  der  Athener  heben,  indem  er  die 
augebliche  Schwäche  Makedoniens  auseinander  setzt.     Beiläufig 


1)  Hexa  meter  §  3.  6 ;  Daktylen,  Choriamben  nnd  Anapäste  sind 
nicht  selten. 

2)  Nach  der  bestimmten  Angabe  des  Dionysios,  welcher  die  Chronik  des 
Philochoros  benützte,  zogen  die  Athener  Ol.  107,  4  gegen  Euboia;  dazu  passt 
auch  Ps.  Demosth.  69,  4.  Hartel  Sitznngsber.  der  Wiener  Akad.  87,  21  fl'. 
setzt  dagegen  den  Zug  in  das  Jahr  360;  doch  fällt  nur  der  Einwand,  dass 
Dem.  3,  28  und  Aeschin.  2,  71  dieselbe  Summe  der  Kriegskosten  angegeben 
wird,  recht  ins  Gewicht.  S.  37  streicht  Harl«l  Ol.  3,  4  yj  xstaptov  und  setzt 
demgemüsN  die  Reden  360/49. 

3)  Ueber  die  Ordnung  der  Keden  s.  die  Literatur  in  der  Ausgabe  von  Rehdautz 
S.  40   A.  1 :     die    gewöhnliche    Ordnung   der   Reden    verteidigen    besonders 


Demostbenes.  177 

empfiehlt  er  mit  den  Thessaliern  zu  verhandeln  ^),  Zum  Schlüsse 
greift  er  die  Staatsverwaltung  des  Eubulos  an  und  wirft  dem  Volke 
vor,  dass  es  sich  von  den  Professionsrednern  und  ihren  Coterien 
willenlos  lenken  lasse  (§  27 — 31).  Das  Eintreffen  guter  Nach- 
richten (3,  25)  drohte  die  Opferwilligkeit  des  Volkes  zu  mindern ; 
Demosthenes  wandte  sich  daher,  weil  der  Grund  der  schleppenden 
Kriegführung  in  den  inneren  Verhältnissen  lag,  noch  energischer 
gegen  die  damaligen  Zustände  des  athenischen  Finanzwesens. 
Diesen  ist  mit  Ausnahme  der  Einleitung  die  dritte  Rede  ge- 
widmet; denn,  mochte  man  auch  mit  dem  grössten  Eifer 
kriegerische  Beschlüsse  fassen ,  die  Ausführung  scheiterte  an 
dem  beständigen  Geldmangel,  da  der  attische  Staatsschatz  durch 
den  Bundesgenossenkrieg  und  die  Besetzung  Thermopylais  völlig 
erschöpft  war.  Demosthenes  forderte  daher  jetzt  offen  auf,  das 
Verwendungsgesetz  bezüglich  der  Verwaltungsüberschüsse  auf- 
zuheben. Diesem  verständigen  Vorschlage  folgt  das  traurige 
Geständnis  auf  dem  Fusse,  der  Redner  wage  es  nicht  einen 
Antrag  zu  stellen.  Natürlich,  er  war  in  jenem  Jahre  zum 
ersten  Male  Ratsherr  und  wollte  durch  einen  unpopulären 
Schritt  seine   politische  Carriere    nicht  verderben.     Aus    dieser 


A.West  ermann  quaestionesDemosthenicae  I.  Leipzig  1830  und  ausgewählte 
Reden  desDemosthenesI^  165ff.,Ziemann  de  hello  Olynthico  1832,A.  S  chäfer 
11  148  ff.,  L.  Spengel  ^i]\).'i]-(opia'.  S.  67  ff.,  Weil  harangues  de  Demosthfene 
p.  163  ff.  Blass  277  ff.  Dionysios  ordnete  dagegen  aus  historischen  Gründen 
und  wegen  des  Charakters  des  zweiten  Proömiums  11.  III.  I.  (wogegen  Caecilius 
von  Kaiakte  Einsprache  erhob,  Schol.  Dem.  p.  70,  1  ff.  D.);  ihm  stimmen  zn 
Rauchen  st  ein  de  orationum  Olynth,  ordine,  Leipzig  1821  und  Dem.  oratt. 

selectae,  Bonn  1829,  Thirlwall  history  of  Greece  V  AnhangS,  Holzinger 
Beiträge  zur  Erklärung  des  Demosthenes  I.  Prag  1856,  Vömel  Ztsch.  für 
Alterthumswiss.  1857  Nr.  21 — 23.  Dagegen  zeigt  Hartel  Sitzungsber.  der 
Wiener  Akad.  87,  8  f.,  dass  Dionysios  die  von  Philochoros  erwähnten  Hilfs- 
sendungen nur  vermutungsweise  an  die  drei  Reden  knüpft.  Eine  dritte 
Ordnung  II.  I.  III.  stellte  C.  G.  A.  Stüve  quaestiones  de  ordine  trium 
Olynth,  orationum  I.  Osnabrück  1830,  n.  1833  auf,  nach  welchem  Grote 
history  of  Greece  XI  (VI)  Exkurs  zu  eh.  88,  Jak.  Purgaj  die  Reihenfolge 
der  Olynthischen  Reden  des  Demosthenes,  Marburg  i.  St.  1874  und  F.  G. 
Unger  Sitzungsber.  der  bayer.  Akad.  1880  S.  273  ff.  (nach  ihm  ist  Ol.  11. 
vor  Sommer  352,  Ol.  I.  Februar  35],  Phil.  I.  Anfang  Oktober  351,  Ol.  IH. 
Anfang  August  349  verfasst)  übereinstimmen. 

1)  §  11—13   sind  die  Ausführung   von  I  24..    In  der  dritten  Rede  hat 

er  das  Projekt,  wie  überhaupt  die  Offensive  aufgegeben. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  H.  12 


17g  Siebentes  Kapitel. 

bedenklichen  Situation  zog  er  sich  durch  eine  witzige  Schilderung 
der  Friedenspolitiker  und  endete  mit  allgemeinen  Phrasen. 

Alle  drei  Reden  sollten  Stimmung  machen,  ohne  von  be- 
stimmten Anträgen  begleitet  zu  sein  ^) ;  die  darin  ausgesprochenen 
Ansichten  waren  dem  Sprecher  keineswegs  eigentümlich,  aber 
die  Schwierigkeiten  der  Ausführung  beruhten  auf  der  Finanznot  ^). 
Da  trat  ein  verhängnisvolles  Ereignis  ein,  welches  den  Unter- 
gang Olynths  beschleunigte:  Der  Abfall  von  Euböa  beschäftigte 
den  grössten  Teil  der  attischen  Streitkräfte;  ApoUodoros  (nicht 
Demosthenes  I)  unternahm  in  dieser  gefährlichen  Lage  den  Angriff 
auf  das  Theorikengesetz ,  der  Antrag  drang  anfänglich  durch, 
um  dann  doch  an  der  Vergnügungssucht  der  Massen  zu  scheitern. 
Ol.  108,  2  (347)  kam  Demosthenes  abermals  in  den  Rat  und 
gehörte  hier  bereits  zu  den  Führern.  Er  Hess  Verstärkungen 
nach  dem  Chersones  senden^),  war  jedoch  gleich  den  übrigen 
Staatsmännern  über  die  Notwendigkeit  des  Friedens  einver- 
standen^). Als  Philokrates  die  Abschaffung  des  unvernünftigen 
Beschlusses,  der  jede  Unterhandlung  mit  Philipp  verbot,  bean- 
tragte, verteidigte  ihn  Demosthenes  gegen  Lykinos,  welcher 
gerichtlichen  Einspruch  erhob  ^) ,  und  beantragte  für  den 
diplomatischen  Agenten  Aristodemos  eine  Dekoration^).  Philo- 
krates bewog  daher  das  Volk,  unter  die  Gesandten  ,  welche  es 
346  im  Frühjahre  an  den  König  abordnete,  auch  Demosthenes 
zu  wählen'^).  Nach  der  Erzählung  des  Aischines  zeichnete  er 
sich  dabei  keineswegs  aus,  sondern  blieb  vor  dem  Könige 
stecken,  was  bei  seiner  geringen  Schlagfertigkeit  in  ungewohnter, 
Umgebung   wohl   glaublich  ist^).     Immerhin   änderte   er    seine 


1)  W.  Hartel  Commeotatt.  in  honorem  Th.  Mommseni  p    529  flf. 

2)  Vgl.  z.  B.  1,  20.  3,  10  ff.  4,  23. 

3)  Diony«.  ad  Ammae,  I  10  (aus  Philochoros). 

4)  Ueber  die  Vorgeschichte  des  philokrateischen  Friedens  handelt  Weidner 
Philol.  37,  228  ff.,  doch  unbillig  gegen  Demosthenes;  unparteiisch  legtW.Hartel 
demosthenische  Stud.  n.,  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  88,  365  —  498  die 
Lage  dar. 

5)  Aeschin.  2,   14,   109.  3,  62. 

6)  Aeschin.  2,  17,  vgl.  19. 

7)  Aeschin.  2,   18  (vgl.  19  jj-aptupiai), 

8)  Aeschin.  2,  34  ff.,  vgl.  62  ;  die  Alten  zweifelten  nicht  daran,  z.  B. 
Gell.  8,  9  lemm.  Ael.  var.  h.  8,  12. 


Demosthenes.  179 

Ansichten  nicht,  sondern  stellte  nach  der  Rückkehr  die  zum 
Friedensschlüsse  nötigen  Anträge^).  Auch  dem  seltsamen  An- 
trage, man  solle  Kersobleptes ,  welcher  nicht  einmal  Athens 
Bundesgenosse  war,  in  den  Frieden  einschliessen ,  stimmte 
Demosthenes  nicht  bei  2),  weil  er,  scharfblickend  wie  er  war, 
erkennen  musste,  dass  Philipp  darauf  hin  die  Verhandlungen 
abbrechen  werde.  Als  aber  die  Gesandten  Philipps,  die  bei  der 
Lage  der  Dinge  selbstverständliche  Forderung  stellten,  dass  die 
Garantie  des  status  quo  die  Grundlage  des  Friedens  bilden  und 
der  Vortrag  sich  nicht  auf  die  geächteten  Phoker  beziehen 
solle,  sagte  sich  Demosthenes  plötzlich  von  Eubulos  und  Philo- 
krates  los.  Wiewohl  er  der  richtigen  Ansicht  war,  dass  Philipp 
nicht  nach  Mittelgriechenland  gelassen  werden  dürfe,  hatten 
doch  die  Athener  damals  nur  die  Wahl  zwischen  Philipps  Be- 
dingungen und  einem  Kriege,  zu  dem  Geld,  Truppen  und 
Bundesgenossen  fehlten,  während  Philipp  in  der  Nähe  des 
attischen  Chersones  stand  und  die  Phoker  ihre  Festungen  den 
Athenern  nicht  anvertrauen  wollten.  Wir  stehen  hier  vor  dem 
Dilemma,  dass  eine  ausserordentliche  Verblendung,  welche  bei 
einem  sonst  so  klar  und  nüchtern  denkenden  Staatsmanne  be- 
fremden müsste,  Demosthenes  damals  erfasst  hatte  oder  dass  er 
einen  grossen  Scharfblick  hinsichtlich  der  Stimmungswechsel 
seines  Volkes  entwickelte.  Aus  den  folgenden  Ereignissen  dürfte  das 
letztere  die  grössere  Wahrscheinlichkeit  für  sich  haben.  Auf  der 
anderen  Seite  waren  Eubulos  und  Aischines  keineswegs  Verräter, 
wenn  sie  den  notwendigen  Frieden  erstrebten  und  Philipp  von  den 
verhassten  Thebanern  abziehen  wollten;  damals  war  ja  Demo- 
sthenes' Idee  ^),  die  Thebaner  gegen  Philipp  auszuspielen,  noch 
aussichtslos.  Es  gelang  jenen,  die  Empfindlichkeit  der  Athener 
durch  eine  diplomatische  Fassung  des  Vertrages  zu  beruhigen ; 
über  Phihpps  Interpretation  durfte  nach,  den  ausdrücklichen 
Erklärungen  seiner  Gesandten  bei  einem  Einsichtigen  kein 
Zweifel  bestehen.  Der  kluge  Advokat  konnte  dies  ebenso  wenig 
verkennen  wie  dass  die  Athener,  wenn  sie  vor  der  vollendeten 
Thatsache   ständen,   ausser   sich   geraten  und  nach  Schuldigen 


1)  Aeschin.  2,  46.  63  ff.  61.  65. 

2)  Aeschin.  2,  84  (durch  Zeugnisse  belegt). 

3)  Aeschin.  2,  106,  vgl.  Demosth.  19,  138  ff. 

12' 


IgO  Siebentes  Kapitel. 

suchen  würden.  Die  Ereignisse,  welche  der  Arginusenschlacht 
folgten,  zeigten  den  bequemsten  Ausweg.  Obgleich  Kersobleptes 
vom  Frieden  ausgeschlossen  war  und  es  sich  nur  um  seine  Städte, 
nicht  um  athenische  Besitzungen  handelte,  setzte  Demosthenes 
beim  Rate  durch,  dass  die  mit  der  Ratifikation  betrauten  Ge- 
sandten die  Weisung  erhielten,  so  rasch  als  möghch  Philipp 
aufzusuchen.  Auf  der  Reise  nach  Pella  hielten  sich  alle  Kollegen 
von  Demosthenes  ferne,  der  sie  für  Verräter  erklärte  und  darauf 
drang,  man  solle  Philipp  nachreisen  um  Kersobleptes  zu  retten. 
Er  hatte  demonstrativ  ein  Talent  zum  Loskauf  von  Gefangenen 
mitgenommen,  indem  er  ignorierte,  dass  deren  Freilassung  ver- 
sprochen war,  und  lehnte  alle  Gastgeschenke  ab.  Wie  voraus- 
zusehen war,  verweigerte  Philipp  jede  prinzipielle  Abänderung 
des  Friedensvertrages,  deutete  aber  an,  dass  er  ihn  mit  Wohl- 
wollen ausführen  werde.  Nach  der  Heimkehr,  während  Philipp 
gegen  die  Thermopylen  anrückte,  trat  Demosthenes  sofort  im 
Rate  gegen  die  übrigen  Gesandten  auf.  In  der  Volksversamm- 
lung beruhigte  jedoch  Aischines  die  Athener  durch  die  Aus- 
sichten, welche  Phihpp  und  seine  Günstlinge  eröffnet  hatten. 
Gleichzeitig  erkannte  man  aber  wohl,  dass  Athen  seine  Sache 
von  der  der  Phoker  trennen  müsse,  um  nicht  ebenfalls  dem 
Bannflüche  der  Amphiktyonen  zu  verfallen;  zu  diesem  Zwecke 
erging  eine  von  Philokrates  formulierte  Erklärung^).  Als  jedoch 
die  Amphiktyonen  zusammentreten  sollten,  lehnte  das  Volk 
(jedenfalls  von  Demosthenes  überredet)  die  Teilnahme  an  der 
Exekution  ab  und  verzichtete  damit  zugleich  auf  das  Recht, 
das  Schicksal  der  Phoker  zu  bestimmen;  aber  die  Friedens- 
partei setzte  durch,  dass  eine  Gesandtschaft  an  die  Amphiktyonen 
abging,  wobei  Demosthenes  die  ihn  treffende  Wahl  in  auffallender 
Weise  ablehnte.  Als  nun  der  Bundesrat  zu  Gerichte  sass, 
wusste  Philipp  zugleich  seine  Rolle  als  Bundesfeldherr  auszu- 
nützen, also  seine  Verbündeten  zu  befriedigen  und  das  harte 
Urteil  der  Amphiktyonen  zu  mildern.  Während  die  Spartaner 
aus  der  Liga  ausgeschlossen  wurden,  bewahrte  er  die  Athener, 
welche  in  derselben  Schuld  waren,  vor  dem  gleichen  Lose. 
Diese  ergriffen  aber,  ohne  das  Wohlwollen  des  Königs  zu 
würdigen,  überstürzte  Massregeln;   erst  wurde  der  Belagerungs- 


I 


1)  Demosthenes  19,  ßO. 


Demosthenes.  IgJ 

zustand  erklärt,  dann  nahm  man  die  geächteten  Phoker  auf 
und  beschloss,  obgleich  Philipp  alle  Gefangenen  freigelassen 
hatte,  die  Feier  der  Pythien  nicht  zu  beschicken.  Hätte  Philipp 
wirklich,  wie  Demosthenes  stets  behauptete,  das  Verderben 
Athens  geplant,  wann  hätte  er  eine  günstigere  Gelegenheit  dazu 
gefunden  als  jetzt,  da  er  als  Feldherr  der  Amphiktyonen  mit 
den  ihm  verpflichteten  Mittelgriechen  und  Thessaliern  der 
isolierten  Stadt  gegenüber  stand?  So  aber  wahrte  er  nur  die 
Form,  wenn  eine  Gesandtschaft  Ol.  108,  3  (Ende  346)  die  Athener 
zur  Rede  stellte. 

Demosthenes  hielt  bei  dieser  Gelegenheit  die  Rede  vom 
Frieden  (V.),  welche  manche  Bedenken  erregt  hat,  einmal  in 
formaler  Beziehung,  weil  das  Proömium  (1 — 3)  ^)  und  die  Rück- 
blicke auf  seine  Thätigkeit  (9  — 12)  nicht  recht  zu  passen 
scheinen.  Der  Kern  der  Rede  §  13 — 23  ist  sorgsam  ausgear- 
beitet; er  entwickelt  den  richtigen  Gedanken:  „Einen  Krieg  mit 
Allen  müssen  wir  vermeiden,  hingegen  eine  Auseinandersetzung 
mit  Philipp  oder  den  Thebanern  allein  im  Auge  behalten".  Ueber 
die  Frage,  welche  Antwort  die  Gesandten  empfangen  sollen,  eilt 
der  Redner  mit  einer  geheimnisvollen  Phrase  weg ;  ein  Epilog 
fehlt.  Manche  der  Alten  zweifelten  den  demosthenischen  Ursprung 
der  Rede  ^)  an  oder  meinten,  sie  sei  nicht  wirklich  gehalten  % 
weil  sie  Demosthenes  unaufhörlich  den  Krieg  predigend  dachten. 
Aber  die  Rede  ist  ein  Meisterstück  der  Diplomatie,  das  der 
augenblicklichen  Zwangslage  gerecht  wird  und  doch  die 
bisherige  Politik  des  Demosthenes  nicht  verleugnet.  Ein 
solches  Lavieren  thut  der  Rhetorik  notwendig  Eintrag;  über- 
dies liegt  uns,  da  Demosthenes  die  Rede  ihres  Inhalts  wegen 
gewiss  nicht  selbst  heraus  gab,  bloss  eine  Skizze  derselben 
vor  *).     . 


1)  L.  Spengel  SfjfXfiYOptac  "Abhandl.  der  bayr.  Akad.  9,  79  ff. 

2)  Schol.  Dem.  p,  158,  14;  unter  Spengels  rhetores  führt  sie  nur 
Alexandros  Tcspl  a)cr]}j.äx(«v  (III  p.  10,  26)  an.  Hieronymus  Wolf  (in  orat.  de 
falsa  legatione  p.  375)  dachte  an  Aischines;  Dem.  19,  111  ff.  ist  allerdings 
höchst  auffallend,  aber  s.  Schäfer  II  278  ff. 

3)  Liban.  zur  Eede  (wegen  jener  Stelle  des  Demosthenes)  und  Photios 
bibl.  p.  492  a  14  ff.,  vgl.  Joh.  Doxopatris  Anecd.  Oxon.  IV  156  ff. 

4)  Ausser  dem  oben  erwähnten  ist  die  Zweiteilung  §  11  f.  und  1 3  f. 
etwas  formlos. 


182  Siebentes  Kapitel. 

Inzwischen  war  Demosthenes  zu  Hause  nicht  müssig  ge- 
bheben;  kaum  von  der  zweiten  Gesandtschaft  zurückgekehrt 
(7.  Juli),  klagte  er  im  Vereine  mit  Ti marchos  Aischines,  welcher 
gleichfalls  an  beiden  Gesandtschaften  beteiligt  war,  des  Verrates 
an^).  Wenn  man  erwägt,  dass  Aischines  allerdings  eine  be- 
deutende Rolle  bei  den  Verhandlungen  spielte,  aber  Philokrates 
den  Hauptanteil  am  Zustandekommen  des  Friedens  hatte,  so 
kann  man  in  der  Wahl  des  Gegners  nur  eine  persönliche 
Rancüne  erkennen,  und  die  Anklagerede  des  Demosthenes  selbst 
stellte  in  gewissem  Sinne  eher  eine  Verteidigung  seiner  eigenen 
Handlungsweise  dar,  welche  ja  den  Chauvinisten  viele  Angriffs- 
punkte bot^).  Sowie  Aischines  von  seiner  pythischen  Gesandt- 
schaft zurückkam,  erhob  er  gegen  Timarchos  die  Gegenklage; 
Demosthenes  hatte  nämlich  den  schlimmen  Fehler  begangen, 
einen  Mann  des  übelsten  Rufes  zum  Genossen  zu  nehmen, 
Aischines  erlangte  345  leicht  dessen  Verurteilung;  da  das  Volk 
ausserdem  im  gleichen  Jahre  Aischines  sein  Wohlwollen  dadurch 


1)  Schäfer  H  263  f.  316. 

2)  W.  Hartel  demosthenische  Studieu  11.  S.  498.  Die  Alteu  waren 
keineswegs  alle  und  unbedingt  Demosthenes  zugethan ;  für  Aischines  trat  am 
entschiedensten  Joannes  Sikeliota  (Walz  VI  675,  23  ff.)  ein.  Bei  den  modernen 
Philologen  herrschte  früher  gegen  den  weniger  beredten  Politiker  eine  solche  Ge- 
reiztheit, dass  man  selbst  Demosthenes'  Angriffe  hie  und  da  überbot;  eine 
Ausnahme  machte  fast  bloss  Melchiore  Cesarotti  opere  XXI.  (Firenze  1806) 
p.  133  ff.  und  E.  Stechow  de  Aeschinis  oratoris  vita,  Berlin  1841.  Der 
mit  den  Kniffen  der  alten  Beredsamkeit  wohl  vertraute  L.  Spengel  betrachtete 
wie  einst  Reiske ,  das  Pathos  des  Demosthenes  kritischer,  vielleicht  zu  kritisch 
(die  8Y]|j.Y)Yoptai  des  Demosthenes,  Abhandlungen  der  bayerischen  Akademie 
Bd.  IX.  1860;  Demosthenes'  Verteidigung  des  Ktesiphon,  ebend.  1863  Bd.  X 
1.);  A.  Weidner  (Aeschinis  in  Ctesiphontem  oratio,  Lips.  1872;  PhUol.  36, 
246  ff. ;  Aeschines'  Rede  gegen  Ktesiphon,  Berlin  1878)  lässt  sogar  Demosthenes 
dasselbe  Schicksal,  welches  früher  Aischines  traf,  zu  Teil  werden..  Spengel 
hat  den  Erfolg  erzielt,  dass  die  meisten  neueren  Beurteiler  die  Frage  ohne 
Vorurteil  behandelten  (vor  allen  W.  Hartel  demosthenische  Stvidien  II. 
Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  88,  365  ff.,  dann  J.  Rohrmoser  kritische 
Betrachtungen  über  den  Philokrateischen  Frieden,  Ztsch.  f.  österr.  Gymn. 
1874  S.  789  ff.;  Jos.  Bärwinkel  de  lite  Cfesiphontea,  Sondersh.  1878  (Diss. 
V.  Leipzig)  und  W.  Fox  Analyse  und  Würdigung  der  Rede  des  Demosthenes 
für  Ktesiphon,  Feldkirch  I.  1863  11.  1866  und  die  Kranzrede  des  Demosthenes, 
Leipzig  1880).  Weitere  Schriften  verzeichnen  Fox  a.  O.  S.  VII  ff.  und  Reich 
die  BeweisführuBg  des  Aeschines  in  seiner  Rede  gegen  Ktesiphon  I.  Nürn- 
berg 1884. 


Demosthenes.  183 

ZU  erkennen  gab,  dass  es  seinen  Bruder  zum  Strategen  wählte, 
war  Demosthenes  kkig  genug,  den  Austrag  der  Klage  auf  eine 
günstigere  Zeit  zu  verschieben. 

Schon  im  nächsten  Jahre  traten  Ereignisse  ein,  welche  die 
Athener  dem  Drängen  des  Demosthenes  zugänglicher  machten. 
Weil  die  Spartaner  Messene  hart  zusetzten,  rief  dieses  Philipp 
zu  Hilfe;  dadurch  erachteten  die  Athener  das  hellenische 
Gleichgewicht  für  gestört  und  Demosthenes  Hess  sich  mit  einer 
Gesandtschaft  nach  Messene  und  Argos  senden ,  um  diese 
Städte  Philipp  abspenstig  zu  machen.  Als  diese  Absicht  jedoch 
nicht  erreicht  wurde,  unterstützten  sie  die  Spartaner.  Hierauf 
beschwerten  sich  wieder  die  Peloponnesier  in  Athen,  begleitet 
von  Vertretern  Philipps,  welche  über  Demosthenes'  Gesandt- 
schaftsreden Beschwerde  führten  und  eine  Revision  des  Friedens 
anboten^).  Die  zweite  philippische  Rede  (VI.)^),  welche 
sich  auf  dieses  Ereignis  bezieht,  gleicht  durch  den  Mangel 
bestimmer  Vorschläge  der  vorhergehenden,  der  Redner  wagt 
aber  bereits  eine  kühnere  Sprache;  er  warnt  seine  Mitbürger 
vor  Philipp  und  donnert  hierauf  gegen  die  Urheber  des  philo- 
krateischen  Friedens.  Im  Proömium  stellt  Demosthenes  sogar 
schon  den  Revanchekrieg  in  Aussicht. 

Die  Ereignisse  des  folgenden  Jahres  mehrten  die  Zahl 
seiner  Anhänger :  Elis  schloss  sich  an  Philipp  an  und  auch  in 
Megara  wäre  ohne  Athens  Hilfe  ein  Staatsstreich  ausgeführt 
worden.  Dadurch  wurde  das  Volk  gereizt  und  nun  war  die 
passende  Gelegenheit  gekommen,  die  Führer  der  Gegenpartei 
zu  beseitigen.  Hypereides  wandte  das  berüchtigte  Gesetz, 
welches  den  Politiker,  der  dem  Volke  zum  Schaden  sprach, 
dem  Tode  überlieferte,  auf  Philokrates  an,  der  mit  richtiger 
Erkenntnis  der  augenblicklichen  Stimmung  die  Flucht  ergrifif; 
stand  doch  sein  Name  in  der  Friedensurkunde.  Das  Volk  war 
mit  diesem  Opfer  zufrieden  und  wählte  Aischines  zu  seinem 
Anwalt,  als  das  Anrecht  Athens  auf  Delos  vor  den  Amphiktyonen 
verteidigt  werden  musste;  der  Areopag  jedoch,  der  längst  nicht 
mehr  die  Hochburg  des  Konservativismus  war,  kassierte  die  Wahl 


1)  So   berichtet  Libauios  aus  Tlieopomp;    Dionysios    erwähnt  die    Ge- 
sandtschaft Philipps  nicht. 

2)  Vömel  integram   esse  Deraosthenis  Philippicam  II.  apparet  ex  dis- 
positione,  Frankfurt  1828. 


184  Siebentes  Kapitel. 

und  übertrug  das  Amt  gleichsam  zum  Lohne  Hypereides.  Gleich^ 
zeitig  erhielt  Demosthenes  das  Ehrenamt  eines  Pylagoren.  Die' 
Stimmung  Athens  musste  Philipps  Aufmerksamkeit  auf  sich 
ziehen;  da  er  einen  Krieg  vermeiden  wollte,  bot  er  durch  eine 
Gesandtschaft  den  Athenern  abermals  eine  Revision  des  Ver- 
trages an.  Demosthenes  wusste  das  Volk  wiederum  mit  Miss- 
trauen zu  erfüllen,  so  dass  es  den  plumpen  Demagogen  Hege- 
sippos  an  den  König  abordnete  und  Forderungen,  wie  nach 
einem  glücklichen  Feldzuge  stellte.  Dadurch  waren  die  Unter- 
handlungen aussichtslos ,  ehe  noch  die  Gesandten  abreisten. 
Von  jetzt  an  (Sommer  343)  beginnt  der  stille  Krieg  zwischen 
Philipp  und  Athen.  Als  die  Bürgerschaft  durch  Gerüchte,  dass 
ein  makedonisches  Heer  auf  Euböa  stehe,  in  beständiger  Unruhe 
schwebte ,  schienen  die  Aussichten  auf  die  Vernichtung  der 
Friedenspartei  so  vortrefflich  wie  nie  zuvor.  Die  Verhandlung 
über  Demosthenes'  Klage  fand  daher  endlich  Ol.  109,  2  (343) 
statt;  giltige  Beweise  für  den  Verrat  Hessen  sich  natürlich  nicht 
beibringen  und  der  ruhige  Betrachter  musste  die  Frage  auf- 
werfen, zu  welchem  Zwecke  eigentlich  PhiHpp  sein  Gold  hätte 
verschwenden  sollen;  aber  die  Wellen  des  Chauvinismus  gingen 
damals  so  hoch,  dass  Aischines  vielleicht  nur  der  Unterstützung 
der  angesehensten  Bürger  Athens,  des  Phokion  und  Eubulos, 
seine  Freisprechung,  die  bloss  mit  dreissig  Stimmen  Majorität 
erfolgte,  verdankte.  Aber  die  günstige  Stellung  des  Demo- 
sthenes wurde  durch  diesen  unerwarteten  Ausgang  nicht  ge- 
ändert. Er  ging  von  neuem  in  den  Peloponnes  und,  als 
Philipp  in  Epirus  stand,  besetzten  athenische  Truppen  Akar- 
nanien.  Im  folgenden  Jahre  (342)  versuchte  der  langmütige 
König  abermals  die  Versöhnung  anzubahnen.  Er  machte  sofort 
einige  Zugeständnisse  und  wollte  einige  Streitpunkte  vor  ein 
Schiedsgericht  bringen  lassen.  Aber  die  Athener  widerstrebten 
einem  friedlichen  Ausgleiche  so  sehr,  dass  sie  auf  des  Demo- 
sthenes' Antrag  nicht  einmal  die  Felsenkhppe  Hälonnesos  als 
Geschenk  annehmen  wollten,  wenn  sie  nicht  Philipp,  der  sie 
den  Piraten  abgenommen  hatte,  ,, zurückgäbe".  Als  bald  darauf 
der  Thrakerkönig  Kersobleptes  sich  abermals  empörte  (vielleicht 
im  Einverständnisse  mit  den  Athenern),  sandten  die  Athener 
Verstärkungen  unter  Diopeithes  nach  dem  Chersones ;  dieser 
fing  341  mit  Kardia,    welches    die  Athener  seit   langem   bean- 


I 


Demosthenea.  1 85 

spruchten,  Streit  an  und  verletzte  die  makedonische  Grenze. 
Dieser  offene  Friedensbruch  zog  begreiflicherweise  eine  Be- 
schwerde Philipps  nach  sich  und  nun  hatte  Demosthenes  die 
Athener  von  friedlicher  Nachgiebigkeit  zurückzuhalten  und 
seinen  Schützling  Diopeithes  zu  verteidigen^). 

In  der  Rede  ,,über  die  Lage  im  Chersones"  (VIII.) 
stellte  er  mit  mächtigstem  Pathos  die  Sache  geschickt  so  hin, 
als  ob  Phihpp  eigentlich  der  Friedensbrecher  sei;  denn  dies 
war  der  sicherste  Weg,  um  die  Athener  zur  Verweigerung  der 
(lenugthuung  zu  bewegen.  Im  ßewusstsein,  welche  Bedeutung 
der  Augenblick  für  seine  Politik  hatte,  riss  er  die  Zuhörer 
durch  die  berechnete  Lebhaftigkeit  der  Rede  —  er  flicht  förm- 
liche Dialoge  ein  —  fort  und  bezauberte  sie  durch  die  Kunst 
der  Sprache.  Der  bedeutende  Umfang  der  Rede  (77  §)  zeigt 
jedoch,  dass  er  die  Rede  nicht  so  herausgab  wie  er  sie  hielt, 
sondern  sie  als  Flugschrift,  welche  auch  die  übrigen  Hellenen 
zum  Kampfe  aufreizen  sollte,   verbreitete. 

In  der  That  berief  das  Volk  Diopeithes  nicht  ab,  was 
Demosthenes  sofort  ausnützte.  Auch  die  dritte  Philippische 
Rede  (IX.) ^)  stellte  den  König  als  Friedensbrecher  dar,  aber 
Demosthenes  brauchte  seinen  General  nicht  mehr  zu  recht- 
fertigen, es  handelte  sich  vielmehr  darum,  dass  die  Athener 
auf  der  betretenen  Bahn  fortschritten  und  offensiv  auftraten 
51.  52).  Damit  sie  sich  zu  Rüstungen  entschlössen,  schreckte 
er  seine  Mitbürger  durch  den  Hinweis  auf  andere  Städte,  deren 
l'\ahrlässigkeit  den  Untergang  verschuldete  (§  56 — 69).  Auch 
diese  Rede  wurde  für  die  schriftUche  Verbreitung  erweitert; 
denn  es  ist  ganz  deutlich,  dass  Demosthenes  den  Ausfall  gegen 
die  verräterischen  Redner  (§  36 — 46),  bei  welchem  er  der  grösseren 
Feierlichkeit  halber  die  ßlutgesetze  und  sogar  eine  verschollene 
Achtserklärung  hervorsucht,  erst  später  einfügte.     §  47  schKesst 


1)  Der  Titel  lautet  daher  iu  den  Scholien  Ttepl  tcüv  sv  X^ppov-fjoü)  cxpa- 
Timxöiv  p.  217,  22.  247,  13  oder  ordp  ^•.o^z£i^•ooz  p.  196,  27.  206,  22.  vgl. 
200,  12.  S.  auch  Spengel  Abhandl.  der  bayer.  Akad.  9,  279  A.  1. 

2)  Gegen  Vömel  Demostheuis  Phil.  III.  habitam  esse  ante  Chersone- 
siticam,  Frankfurt  1837  und  Droyseu,  welche  diese  Rede  vor  die  über  den 
Chersones  setzten,  Schäfer  11  438  und  Spengel  die  8Y]|X7]Yoptai  S.  78.  — . 
Ludw.  Drewes  über  die  Kunst  und  den  Charakter  der  III.  philippischen 
Rede  des  Demosthenes,  Braunschweig  1866. 


Igß  Siebentes  Kapitel. 


«I 


sich  ja  genau  an  §  35  an  und  in  der  einen  Ueberlieferung  be- 
findet sieh  hinter  §  46  eine  Lücke,  welche  ein  findiger  Rhetor 
mit  der  Bemerkung  ,,Er  liest  aus  seinem  Notizbuche  vor" 
verdeckte.  Diese  Rede  ist  nämlich  nicht  bloss,  wie  die  übrigen 
von  kleinen  Interpolationen,  wie  sie  in  den  Rhetorsclmlen  ein- 
gefügt wurden,  durchzogen,  sondern  die  beste  Handschrift  ent- 
hält ganze  Sätze  nicht,  welche  in  den  übrigen  Handschriften 
stehen^).  Mehrere  dieser  Zusätze  (32.  58.  VI)  bringen  merk- 
würdige Angaben,  welche  einem  Interpolator  nicht  zuzutrauen 
sind;  §  6.  7.  sind  eine  andere  Redaktion  für  4.  5.  und  ver- 
dienen sogar  vor  ihr  den  Vorzug,  weil  bei  dieser  eine  frühere 
Stelle  des  Demosthenes  (IV  2)  benützt  ist;  §  46  endUch  wird 
der  Uebergang  zwischen  dem  oben  erwähnten  Einschiebsel  und 
der  eigentlichen  Rede  hergestellt.  Da  überdies  die  angeblichen  Inter- 
polationen durchaus  demosthenisches  Gepräge  tragen,  können  sie 
doch  wohl  nur  von  dem  Redner  selbst  herrühren.  Am  wahr- 
scheinlichsten dürfte  die  Annahme  sein,  dass  im  Nachlasse  des 
Demosthenes  zwei  Fassungen  der  Rede  sich  vorfanden  ^),  von 
denen  der  vollständigere  Entwurf  zur  Veröffentlichung  bestimmt 
war;  wahrscheinlich  liess  jedoch  der  Redner  die  Arbeit  liegen; 
denn  er  verzichtete,  sobald  ihm  der  erste  Platz  im  Staate  ge- 
sichert war,  fernerhin  auf  dieses  Agitationsmittel. 

Zum  Unglücke  Athens  setzte  Demosthenes  seine  Ansicht 
durch;  er  selbst  ging  nach  Byzanz  und  zu  den  Thrakern, 
während  Hypereides  Chios  und  Rhodos  zum  Bunde  aufforderte ; 
schmachvoll  war,  dass  eine  dritte  Gesandtschaft  die  Perser  um 
Unterstützung  anging,  wiewohl  man  Philipp  für  den  künftigen 


1)  In  S,  mit  -welchem  L  übereinstimmt,  fehlen  §  6.  7,  ausserdem  grössere 
Stücke  §  2.  20.  25.  32.  41.  44.  46,  58.  65  am  Ende.  71.  Nur  in  einigen 
Handschriften  steht  ein  Satz  von  §  65  und  75,  ein  Glied  48  und  73.  Dionys. 
Thuc.  54  £v  r-jj  \Le'f'i<3  ig  t&v  xaxa  <E>tXiTCiroo  8Y)[jLYjYoptü)v  scheint  die  längere 
Fassung  als  üblich  vorauszusetzen  (anders  Weil  harangues  307,  2). 

2)  Die  erste  Recension  wurde  aus  der  zweiten  vermehrt  nach  L.  Spengel 
Abhandl.  der  bayer.  Akad.  3,  157  ff.  9,  112  flf.  und  H.  Weil  Jahrbb.  f.  Phil. 
1870  S.  635  ff.  harangues  de  Demosth^ne  p.  310  ff.  Die  meisten,  darunter 
Blas 8  S.  331  ff.,  ziehen  die  kürzere  Fassung  von  S  vor,  während  W.  Din- 
dorf  Oxf  Ausg.  V  178  diese  für  verkürzt  hält.  Die  Stichometrie  ist  nach 
der  Recension  von  S  gemacht  (W.  Christ  die  Atticusan ssjabe  des  Demosthenes 
S.  205  ff.;  er  schreibt  die  zweite  Recension  einem  Freunde  oder  Schüler  zu). 
Vgl.  noch  Joh.  Dräseke  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  7,  97  ff. 


Demosthenes.  187 

ßekämpfer  des  Nationalfeindes  ansah,  und  nur  die  Kurzsichtig- 
keit des  Ochos  verhinderte  einen  Bund  Athens  und  Persiens. 
In  Griechenland  dagegen  erreichte  Demosthenes  seinen  Zweck  ; 
es  gelang,  auf  Euböa  den  Demokraten  zum  Siege  zu  verhelfen, 
er  gewann  auch  Korinth ,  Achaia  und  die  Kleinstaaten  des 
jonischen  Meeres,  dazu,  was  noch  wichtiger  war,  Byzanz  und 
Perinthos,  die  bisher  mit  Philipp  verbündet  waren.  Der  König 
wandte  sich  daher  gegen  diese  Städte,  welche  den  Bosporus  und 
damit  Athens  Getreidezufuhr  beherrschten,  und  stellte  in  Athen 
ein  Ultimatum ;  Demosthenes  liess  nun  offen  den  Krieg  erklären 
(340)  und  reformierte,  mit  der  Leitung  der  Flotte  betraut,  das 
Seewesen.  Da  PhiHpp  340  und  339  vergebHch  sich  abmühte, 
Perinth  und  Byzanz,  welchen  der  hellenische  Bund  und  persische 
Gouverneure  beistanden,  zu  erobern,  waren  die  Athener  frohen 
Mutes  und  verliehen  an  den  Dionysien  339  Demosthenes  einen 
Ehrenkranz.  Nichtsdestoweniger  war  nicht  viel  gewonnen, 
weil  sie  des  Beistandes  der  Thebaner  noch  nicht  völlig  sicher 
waren.  Philipp  marschierte  vorläufig  nicht  nach  Griechenland, 
sondern  schlug  sich  jenseits  des  Balkan  mit  Skythen  und 
Triballern  herum. 

Inzwischen  (März  339)  ^)  war  Aischines  als  Pylagore  nach 
Delphi  abgegangen;  da  ein  Teil  der  Amphiktyonen  den  Athenern 
vom  phokischen  Kriege  her  nicht  hold  waren,  suchten  die 
Lokrer  von  Amphissa,  vielleicht  weil  sie  Philipp  einen  Gefallen 
zu  erweisen  glaubten,  einen  passenden  Vorwand,  um  Athen 
eine  Verurteilung  durch  die  Amphiktyonen  zuzuziehen.  Aischines 
lenkte  aber  die  Klage  auf  sie  selbst  zurück;  als  sich  die 
Amphissäer  an  der  Synode  vergriffen,  war  ein  neuer  heiliger 
Krieg  unvermeidUch.  PhiHpp  war  im  Skythenlande  verschollen 
und  so  wäre  es  den  Griechen  möglich  gewesen,  den  Streit 
unter  sich  auszumachen.  Aber  bei  Demosthenes  überwog  die 
persönliche  Feindschaft  die  unbefangene  Ueberlegung;  er  hielt 
nicht  nur  die  Athener  von  der  Beschickung  der  ausserordent- 
lichen Sitzung  zurück,  sondern  setzte  auch  bei  den  Thebanern 
dasselbe  durch.     Für  ihn  selbst  war  dies  ein  grosser  Triumph, 


1)  Vgl.  über  diese  Ereignisse  Beloch  die  attische  Politik  seit  Perikles 
S.  224  fl. 


18g  Siebentes  Kapitel. 

weil  die  Thebaner,  von  welchen  der  Erfolg  des  Krieges  abzu- 
hängen schien,  auf  diese  Weise  zum  ersten  Male  mit  Philipps 
Feinden  gemeinsame  Sache  machten,  aber  er  überschätzte  den 
Wert  ihres  Bündnisses  und  so  Hess  er  Philipp  wiederum  nach 
Hellas  herein.  Nachdem  nämlich  die  anderen  kleinen  Staaten 
gegen  Amphissa  nichts  ausgerichtet  hatten,  übertrugen  sie  dem 
Könige,  sobald  er  vom  Norden  zurückgekehrt  war,  die  Bundes- 
exekution. So  überliess  ihm  Demosthenes  den  grossen  mora- 
hschen  Vorteil,  dass  der  Makedonier  im  Namen  des  heihgen 
Amphiktyonenbundes  Mittelgriechenland  betrat.  Trotz  der 
Söldner,  welche  Theben  und  Athen  sandten,  war  der  Wider- 
stand Amphissas  schnell  gebrochen  und  nun  wollte  Philipp  ein 
Ende  machen.  Da  er  die  Stimmung  der  Thebaner  wohl  kannte, 
forderte  er  nur  den  freien  Durchmarsch  nach  Attika;  doch 
nicht  einmal  dieses  Zugeständnis  wollten  die  von  Demosthenes' 
Beredsamkeit  aufgereizten  Thebaner  machen.  Der  Redner  hatte 
nun  endlich  sein  Ziel  erreicht:  Athen  und  Theben  standen  vereint 
und  von  dem  grösseren  Teil  der  übrigen  Hellenen  unterstützt 
Philipp  gegenüber ;  tüchtigere  Feldherrfi  und  ein  disciplinierteres 
Heer  hätten  in  der  That  den  Sieg  erringen  können.  Nach 
zwei  günstigen  Gefechten,  wofür  man  Demosthenes  voreilig 
dekorierte,  machte  eine  einzige  Schlacht  allen  Hoffnungen  ein 
Ende.  Theben  war  dem  Sieger  preisgegeben ;  auch  Athen  würde 
den  provocierten  Krieg  schwer  gebüsst  haben,  hätte  nicht  der 
König  seine  Milde  walten  lassen^). 

Der  Redner,  welcher  persönlich  an  der  Schlacht  teilge- 
nommen hatte,  gebrauchte  zunächst  die  Vorsicht,  Athen  in 
diplomatischer  Sendung  zu  verlassen^,  während  Hypereides 
die  zur  Fortführung  des  Krieges  notwendigen  Anträge  stellte. 
Die  Athener  bereiteten  sich  auf  eine  Belagerung  vor  und  erteilten 
Demosthenes  zum  Zeichen  ihres  unerschütterten  Vertrauens  den 
ehrenvollen  Auftrag,  die  Leichenrede  auf  die  bei  Chaironeia 
gefallenen  Bürger  zu  halten.  Indes  dachte  man  bei  diesen 
Demonstrationen  nur  daran,  bessere  Friedensbedingungen  zu 
bekommen;  die  Thebaner  wurden  ihrem  Schicksale  überlassen, 
weil  Athen  aus  der  Beute  Oropos  erhielt.     PhiUpp  ward  hierauf 


1)  Polyb.  18  (17),  14,  14. 

2)  Aeachin.  3,  169.  Dinarch.  1,  80  f. 


Dem  osthenes.  189 

zum  Leiter  des  Perserkrieges,  den  er  seit  dem  phokischen 
Feldzuge  im  Auge  hatte,  ernannt  und  nur  der  Dolch  des 
Mörders  hielt  ihn  von  der  Ausführung  dieses  Planes  ab.  Demo- 
sthenes  hatte  nach  der  Schlacht  von  Chaironeia  eine  kluge 
Zurückhaltung  beobachtet  ^);  als  Philipp  abgezogen  war,  bean- 
tragte er,  wie  um  auf  einen  neuen  glücklichen  Krieg  hoffen 
/AI  lassen,  die  Ausbesserung  der  Mauern  und  wurde  in  die 
damit  betraute  Kommission  gewählt.  Sein  Freund  Ktesiphon 
wollte  bei  dieser  Gelegenheit  Demosthenes  ein  öffentliches  Ver- 
trauensvotum erwirken,  indem  er  Ol.  110,  4  (Anfang  336)^) 
dem  Redner  einen  Ehrenkranz  sowohl  für  jene  besondere  Mühe- 
waltung als  wegen  seiner  Verdienste  überhaupt  zu  gewähren 
beantragte;  Aischines  erhob  sofort  dagegen  Einspruch.  Kurz 
darauf  erfolgte  PhiHpps  Tod.  Demosthenes  verbarg  seinen 
Hass  gegen  den  Makedonier  so  wenig,  dass  er,  obgleich  ihm 
sechs  Tage  zuvor  sein  einziges  Kind  gestorben  war,  die  Bot- 
schaft, welche  ihm  seine  Spione  rasch  zugetragen  hatten,  dem 
Rate  und  der  Volksversammlung  im  Festgewande  verkündete^). 
Der  rasche  Anmarsch  Alexanders  schreckte  indes  die  Athener 
von  der  geplanten  Erhebung  ab;  nichtsdestoweniger  unter- 
handelte Demosthenes  mit  Alexanders  Nebenbuhler  Attalos  ^) 
und  den  Persern,  welche  ihm  grosse  Geldsummen  zur  Ver- 
fügung stellten  ^).  Er  unterstützte  damit  den  Aufstand  der 
Thebaner  und  bcwog  Athen  zum  Versprechen  der  Hilfe  ^) ;  aber 
als  Alexander  abermals  unerwartet  heranrückte,  hielt  er  es  für 
das  geratenste,  den  König  zu  besänftigen,  indem  er  die  Pelo- 
ponnesier  von  der  Beteihgung  am  Aufstande  abhielt ')    und  so 


1)  Er  schob  seinen  Freund  Nausikles  bei  Stellung  von  Anträgen  vor 
(Aeschin.  3,  159,  vgl.  Plut.  21). 

2)  Plutareh  (c.  24)  setzt  die  Klage  unrichtig  Ol.  110.  3  (338)  an;  noch 
fehlerhafter  Cicero  orator  7,  22. 

3)  Aeschin.  3,  77. 

4)  Diodor.  17,  5,  1. 

5)  Aischines  erzählt,  dass  Demosthenes  300  Talente  erhielt  und  davon 
70  unterschlug  (3,  239  f.  vgl.  Dinarch.  1,  15.  18  ff.  Hyperid.  in  Demosth.  col 
15,  12  ff.  23,  19);  ausgesponnen  Plut.  20.  Sopatros  Walz  rhet.  5,  123,  22  ff. 
vgl.  Polemon  bei  Philostrat.  vit.  soph.  1,  25,  7.  Ueber  eine  athenische  Ge- 
sandtschaft Arrian.  2,  15.  Curt.  3,  13,  15. 

6)  Diodor  17,  8,  5.  Plut.   23,  vgl.  Ps.  Plut.  847  b.  Justin.  11,  2,  7  f. 

7)  Ehrendekret  Ps.  Plut.  85 1  b,  wozu  Aeschin.  3,  240  und  Dinarch.  1 . 
20  passen. 


190  Siebentes  Kapitel. 

ging  Theben  hilflos  zu  Grunde.  Alexander  forderte  von  Athen 
als  Bürgschaft  des  Friedens  die  Auslieferung  des  Demosthenes 
und  der  übrigen,  welche  die  antimakedonische  PoUtik  leiteten, 
damit  sie  vor  das  Amphiktyonengericht  gestellt  würden  ^).  Das 
Volk  wurde  von  Demosthenes  und  Hypereides  bewogen,  diese 
Forderung  abzulehnen,  und  verdankte  der  Vermittlung  des 
Ehokion  und  Demades  ^),  dass  Alexander  nicht  weiter  darauf 
beharrte.  Als  die  Schlacht  von  Issos  (333)  die  letzten  Hofif- 
nungen  des  Demosthenes  zerstörte,  machte  er  privatim  seineu 
Frieden  mit  Alexander^),  wenn  er  auch  noch  332  in  Olympia 
den  Sophisten  Lamachos,  welcher  die  makedonischen  Könige 
auf  Kosten  von  Olynth  und  Theben  pries,  niederdeklamierte  ^). 
Er  war  ja,  nachdem  nicht  einmal  die  Katastrophe  von  Chaironeia 
sein  Ansehen  erschüttert  hatte,  der  unbestrittene  Leiter  des 
athenischen  Staates,  was  dadurch  zum  Ausdrucke  kam,  dass 
er  337  die  Aufsicht  über  die  Budgetüberschüsse  erhielt  und  — 
in  welchem  Jahre,  werden  wir  später  untersuchen  —  Aischines 
die  Stadt  verlassen  musste.  Demosthenes  durfte  also  das  Glück 
nicht  zum  zweiten  Male  auf  die  Probe  stellen,  denn  er  hatte  jetzt 
nur  mehr  zu  verlieren.  Daher  enthielt  er  sich  bei  jenem  Streite 
mit  Aischines  jeder  chauvinistischen  Aeusserung  und  schwieg, 
als  Sparta  sich  gegen  Alexander  erhob;  sein  Freund  Ktesiphon 
ging  sogar  im  Namen  des  Staates  zu  Alexanders  Schwester, 
um  ihr  das  Beileid  über  den  Tod  ihres  Gemahls  auszusprechen 
und  er  selbst  wendete  gegen  das  Verlangen,  dass  Alexander 
göttliche  Ehren  erwiesen  werden  sollten,  nichts  ein  ^).  Dadurch 
entfremdete  er  sich  jedoch  die  Eevanchepartei,  an  deren  Spitze 
Hypereides,    sein  früherer  Anhänger,    stand  ^).     Im   Jahre   324 


1)  Aeschin.  3,  161.     Demosth,  18,  322. 

2)  Nach  Diodor  17,  16,  3  wurde  er  von  Demosthenes  bestochen. 

3)  Aeschin.  3,  162  wird  durch  Marsyas  bei  Harpocr.  v.  'Ap'.otitov  be- 
stätigt; vgl.  Hyperid,  col.  18,  1  ff.  Demosthenes  schickte  Aristion  an  Alexanders 
Freund  Hephaistion. 

4)  Plut.  9.  Ps.  Plut.  845  bc.  Ol.  114  (Schäfer  HI  289)  kann  er  dies 
aus  politischen  Gründen  nicht  jjewagt  haben. 

6)  Hyperid.  c.  Demosth.  30,  14  ff.  Dinarch.  1,  94. 

6)  Hermann  Haupt  zur  Vorgeschichte  des  harpalischen  Processes, 
Rhein.  Mus.  34  (1879)  S.  377  ff.  Seltsam  ist  die  Bemerkung  des  Theon 
(itpoY.  p.  70, 6  Sp.),  das»  Demosthenes  Konkurrenzredeu  gegen  Hypereides  schrieb. 


Demosthenes.  191 

trat  diese  Gegnerschaft  an  das  Licht:  Harpalos,  der  ungetreue 
Verwalter  Alexanders,  floh  mit  den  unterschlagenen  Schätzen, 
von  einem  Söldnercorps  beschützt,  nach  Griechenland.  Demo- 
sthenes, damals  wieder  der  höchste  Beamte  Athens,  Hess  ihn 
von  der  Strandwache  bei  Sunion  aufhalten.  Nachdem  jedoch 
Harpalos  seine  Schaaren  nach  dem  grossen  Söldnermarkte 
Tainaron  gebracht  hatte,  erlangte  er  durch  das  Ungeschick  eines 
Beamten  Einlass.  Demosthenes  Hess  ihn  verhaften  und  die 
Wertsachen  auf  der  AkropoHs  deponieren  ^).  Harpalos  entkam 
und  bei  der  Berechnung  des  Geldes  war  nur  ungefähr  die 
Hälfte  von  dem,  was  Harpalos  zu  Protokoll  gegeben  hatte, 
vorhanden  ^).  Als  das  Volk  behauptete ,  Demosthenes  und 
andere  Politiker  hätten  sich  das  Geld  angeeignet  und  Harpalos 
entfliehen  lassen,  forderte  er  eine  Untersuchung,  welche  dem 
Areopag  übertragen  wurde  ^).  Während  dessen  langwierigen 
Nachforschungen  erhielt  er  noch  den  ehrenvollen  Auftrag,  den 
athenischen  Staat  bei  den  olympischen  Spielen  zu  vertreten,  wobei 
er  mit  Nikanor,  dem  Kommissär  Alexanders,  verhandelt  haben 
soll  ^).  Endlich  veröffentlichte  der  Areopag  eine  Liste  der  vor- 
gekommenen Bestechungen,  auf  der  Demosthenes  mit  einer 
grossen  Summe  stand.  Er  leugnete  nicht,  Geld  genommen  zu 
haben,  behauptete  aber,  dass  Vorschüsse  in  der  Verwaltung 
damit  gedeckt  worden  seien  ^).  Da  Athen  dem  Könige  natürlich 
für  die  Summe  haftbar  war,  wurde  Demosthenes  verurteilt, 
wozu  ausser  Deinarchos '^)  besonders  Hypereides,  der  eine  zweite 
Gelegenheit  zum  Kriege  versäumt  sah,  beitrug.  Der  gefeierte 
Staatsmann  sollte  eine  hohe  Geldstrafe^)  bezahlen   und   wurde 


1)  Dabei  soll  ihn  Harpalos  bestochen  haben  (vgl.  Ps.  Plut.  846  a. 
Lynkeus  bei  Athen.  6,  245  f) ;  Anekdote  von  ftpYupaYX'*!'  ^^i^  auch  von 
Demades  erzählt  wird  (Kritolaos  bei  Gell.   11,  9.  Plut.  25.  Pollux  7,   104). 

2)  Philochor.  bei  Ps.  l'lut.  846  b. 

3)  Hyperid.  c.  Dem.  col.  2,  12flf. 

4)  Dinarch.  1,  81  f.  103. 

5)  Hyperid.  col.  13,  Iff.;  50  Talente  nach  Timokles  bei  Athen.  8,  341  f. 

6)  Dass  die  erhaltene  Rede  (I.)  unecht  sei  (Westermann  quaestiones 
Demosth.  HI  85  ff.  vgl.  Reinh.  Finke  quaestiones  Dinarcheae,  Greifswald 
1873),  ist  nicht  bewiesen. 

7)  Die  bestimmten  Angaben  über  die  Strafsumme  sind  kombiniert  (50 
Talente  Plut.  27.  Zosim.  Z.  112  aus  jener  Stelle  des  Timokles;  150  Talente 
l's.  Piut.  846  cd  aus  Dinarch.  1,  70), 


192  Siebentes  Kapitel. 

sofort    verhaftet  ^),   entfloh    aber  nach   Trotzen ').     Nach    dem 
Tode    Alexanders    bewog    Hypereides    Athen    zum    Aufstand; 
Demosthenes  unterstützte  die  Gesandten  seiner  Heimat,  welche       i 
den    Peloponnes    aufriefen,    durch    seine   Beredsamkeit^);    zum  aH 
Danke   rief   ihn    die  Bürgerschaft   in    der    ehrenvollsten  Weise      ~ 
zurück,  aber  —  das  Urteil  wurde   nicht    aufgehoben !     So  fest 
war  man   von   der  Gerechtigkeit    desselben   überzeugt.     Demo- 
sthenes musste  vielmehr  statt  der  fehlenden  Summe  den  Altar 
des  Zeus  Soter  schmücken^).     Auch  gewann  er  das  alte  Ansehen 
nicht   wieder,    die  Leichenrede    für   die    im    lamischen    Kriege      ^ 
gefallenen  hielt  Hypereides.     Wie  gross   die  Schuld  des  Demo-  IH 
sthenes  in  dieser  traurigen  Angelegenheit  war,   steht  uns  nicht       ' 
zu  zu   beurteilen;   aber    nach  Erwägung   aller  Umstände  kann 
man  Demosthenes  auf  keinen  Fall  gänzlich  freisprechen  ^).     Er 
soll  die  Hoffnungslosigkeit  des  Aufstandes  durchschaut  haben^) 
und  bald  verwirklichten  sich   seine  Befürchtungen.     Wiederum 
mussten    Demades    und    Phokion    intervenieren,     aber    Athen 
hatte  dieses  Mal  härter   zu  büssen.     Die  Führer   der  Freiheits- 
bewegung   wurden    geächtet;    Demosthenes    floh    erst   in   das 
Aiakosheiligtum  auf  Aigina,  dann  in  den  ehrwürdigen  Bundes- 
tempel  des  Poseidon  von  Kalaureia ') ,    doch  nicht  einmal   die 


1)  Vgl.  Böckli  Staatshaush.  I^  512;  nach  einigen  (Appian.  b.  civ. 
2,  16  cpaot,  Ps.  Plnt.  846  c)  floh  er  schon  vor  der  Verurteilung,  wogegen  die 
erhaltenen  Reden  sprechen.    Anekdote  Hellad.  bei  Phot.  bibl.  279  p.  534b4ff. 

2)  Ps.  Demosth.  epist.  2,  18  (die  weitere  Flucht  nach  Kalaureia  ist  von 
der  zweiten  Flucht  entlehnt),  ausführlicher  Plut.  26.  Anon.  Z.  151.  Max. 
Planud.  Walz  rhet.  V  496,  6  if.  (nach  Troizen  und  Argos);  Megara  nennt 
Justin.   13,  5,  9. 

3)  Plut.  27  (aus  Phylarchos).  Ps.  Plut.  846  c.  Justin,  a,  O. 

4)  Ps.  Plut.  840  d.  vgl.  Plut.  27.  Ju.stin.  a.  O.  Ps.  Luciau,  31.  Appian. 
b.  civ.  2,  16.  Anekdote  Zosim.  Z.  115  ff. 

6)  Die  zahlreichen  Gelehrten,  welche  sich  mit  dieser  dunklen  Geschichte 
beschäftigt  haben,  stellten  meistens  Demosthenes  als  vollkommen  unschuldig 
hin.  Vgl.  Gg.  Eys eil  Demosthenes  a  suspicione  acceptae  ab  Harpalo  pecuniae 
liberatus,  Marburg  1836;  Leop.  Schmidt  Rhein.  Mus.  16,  211.;  Schäfer 
III  291  ff.;  J.  Girard  etudes  sur  l'eloquence  attique  p.  235  ff.;  E.  v.  Duhn 
Jahrbb.  f.  Phil.  111  (1875)  S.  33  ff. ;  V.  Tröbst  quaestiones  Hyperideae  et 
Dinarcheae,  I.  Progr,  v.  Hameln  1881;  A.  Cartault  de  causa  Harpalica, 
Petersburg  1881. 

6)  Ps.  Plut.  846  d. 

7)  Ps.  Plut.  846  e,  vgl.  R.  Stichle  Phil.  4,  391.  Bis  Aigina  flohen 
mehrere  Leidenpgeföhrten    (Ps.   Plut.  Hyperid.  849  b  und  Arrian.  bei  Phot. 

bibL  92  p.  69  b  37). 


Demosthenes.  193 

heilige  Stätte  sicherte  ihn  vor  den  Schergen  Antipaters.  Als 
ilm  dei"  Schauspieler  Archias  vom  Altare  riss,  beschützten  ihn 
die  Bewohner  der  Insel  für  den  Augenblicke^;  da  rettete  ihn 
ein  plötzlicher  Tod,  während  er  etwas  in  sein  Notizbuch  schrieb  % 
sei  es  dass  er  zu  Gift  seine  Zuflucht  nahm  ^)  oder  dass  „die 
Götter  ihn  beschirmten"*).  Demosthenes  starb  am  16.  Pyanep- 
siou  (12.  Oktober)  322;  die  Kalaurier  bestatteten  die  Leiche 
auf  ihrer  Insel  •^).  Zweiundvierzig  Jahre  später  errichteten  die 
Athener  ihrem  berühmten  Mitbürger  auf  Antrag  seines  Neffen 
Demochares *'),  welcher  zugleich,  weil  Kinder  nicht  vorhanden 
waren,  dem  Oheim  zu  Ehren  Privilegien  erhielt,  eine  Statue, 
welche  die  Inschrift  trug: 

odttot'  av  'EXXtjvcöv  -^p^sv  ^ApTj?  MaxeSwv  '^). 
So  urteilten  seine  Mitbürger  unerschütterlich  über  Demo- 
sthenes, obgleich  seine  Politik  zum  Verderben  des  Staates  aus- 
geschlagen war ;  in  Wahrheit  hat  der  Redner  altes,  was  in  seinen 
Kräften  stand ,  gethan ,  um  den  Sieg  Athens  zu  ermöghchen. 
Er  durfte  mit  Recht  sagen  (18,  246):  'AXXa  [jlyjv  wv  y'  av  6 
pTJTwp  uTcsu^uvo«:  £17],  Tcdcav  l^staoiv  Xd[jLßave  •  od  ;capan;oö{iat.  ttva 
ODV  loTi  taöTa;  ISstv  xa  7rpdY{j,aTa  6Lpy^6\Leza.  xal  Tcpoaia^sa^ai  xal 
TiposiTTslv  TOI?  aXXoi?  .  xaözcf.  TisTrpaxTai  [lot  .  xal  stt  tac  ev.a.Gza.'/ob 
ßpaSoT^Tac  oxvoüc  a.'^wlac,  (pcXovtxtac ,  a  TcoXiTixa  xal?  TcöXeat 
TipdoeaTiv  ocTcdaat?  xal  avaYxala  a.^a.pzri^axa.,  taö^'  oac,  ei<:  IXd)(iaTa 

1)  Ps.  Plut.  846  f. 

2)  Man  wusste  aber  später  nicht  was :  nach  Pappos  (Hermippos  bei  Plut. 
30,  vgl.  Satyros  bei  Ps.  Plut.  847  a)  „Demosthenes  grüsst  Antipatros",  nach 
Demetrios  Magnes  (Ps.  Plut.  a.  O.)  das  Epigramm,  das  später  auf  seiner 
Statue  stand. 

3)  Philochor.  bei  Ps.  Plut.  a.  O.  vgl.  Strab.  8,  374.  Pausan.  1,  8,  3 
(4).  Lucian.  49  u.  A.  Er  hatte  Gift  in  einem  ftTCoSsoji-oc  (Hermippos  Plut.  30 
aus  Pappos,  der  sich  auf  die  Aussagen  der  Häscher  und  einer  Magd  des 
Demosthenes  berief)  oder  in  einem  xpixoc  am  Arme  (Eratostheues  bei  Plut. 
30  u.  Ps.  Plut.  847  b),  im  Siegelringe  (einige  bei  Ps.  Plut.  a.  O.  vgl.  Zosim. 
140.  Anon.  173.  Suidas  I.  HI.)  oder  im  Schreibrohre  (Satyros  bei  Ps.  Plut. 
847  a  und  Ariston  bei  Plut,  30).  Plutarch  (c.  30)  kannte  viele  Varianten. 

4)  Demochares  bei  Plut.  30.  Einige  erzählten,  er  habe  den  Athem 
angehalten  (Ps,  Plut.  847  b), 

5)  Zeit  Plut.  30.  Zosim.  149;  Denkmal  Pausan.  2,  33,  3.  5. 

6)  Ps.  Plut.  850f,  vgl.  A.  Schäfer  Philol,  9,  166, 

7)  V,  1,  ^tojjLYjv  Yvt"lJLTff,  Demetr.  Magn.  bei  Ps.  Plut.  847  a.  Plut,  30. 
Pausan.  1,  8,  2  (4).  Aristides  II  517.  Zosim.  Z.  146.  Anon.  Z.  178.  Suid.  H. 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur. U  1^ 


J94  Siebentes  Kapitel. 

aoateiXat  xal  Toovavrtov  el?  6[AÖvoiav  xal  cpiXCav  xal  toö  toc  Seovta 
TTOtsiv  6p(iY]V  Tupoxpstjjai  ,  xal  taöToc  {aoi  7:dvTa  ;re7toi7]Tai  xal  odSsI? 
jiTf^Tto^'  £upi{j  TÖ  xat'  s|X£  ooSsv  iXXsi(pO-£v.  Jedenfalls  wollte  er  das 
Beste  seiner  Vaterstadt  und  drängte  es  dem  Volke  auch  wider 
dessen  Willen  auf^).  Mit  dem  guten  Willen  paarte  sich  ein 
durchdringender  Scharfsinn,  der  die  Erfordernisse  jeder  Lage 
sofort  erfasste.  Aber  Demosthenes  war  durch  und  durch  ein 
Athener;  daher  hatte  er  für  panhellenische  Interesse  keinen 
Sinn,  sondern  gedachte  nur  die  anderen  Griechen  dem  Interesse 
Athens  auszunützen.  Die  Thebaner,  welche  er  eigentlich  nicht 
leiden  konnte^),  dienten  bloss  als  Werkzeug,  das  man  nach 
dem  Gebrauche  wegwarf.  Während  ein  Politiker  ihn  darob 
nicht  tadeln  kann,  stürzte  ihn  sein  Lokalpatriotismus  anderseits 
in  verhängnisvolle  Verblendung  über  die  Machtverhältnisse  der 
Kriegführenden;  der  athenische  Staat  hat  für  ihn,  sobald  die 
Bürger  nur  ihre  Pflicht  thun  wollen,  noch  immer  nicht  seines- 
gleichen. So  sehr  der  Redner  hingegen  die  Rührigkeit  Phihpps 
anerkennen  muss,  so  ist  ihm  doch  Makedonien  noch  immer 
der  barbarische  halb  von  Athens  Gnaden  lebende  Kleinstaat 
des  Perdikkas  und  Philipps  Errungenschaften  wie  ein  Karten- 
haus; solche  Urteile  hörte  das  Volk  gerne  und  Hess  sich  von 
dem  beredten  Verkünder  der  athenischen  Herrlichkeit  dafür 
manches  gefallen.  Die  organisatorische  Bedeutung  Philipps  hat 
Demosthenes  nie  begriffen ;  dazu  fehlte  ihm  vor  allem  die  Er- 
fahrung im  Militärwesen,  was  dem  Vertreter  einer  Kriegspartei 
freilich  schlecht  anstand.  Ueberhaupt  war  Demosthenes  weit 
mehr  ein  Agitator  als  ein  Staatsmann;  seine  Reden  machten 
in  ausgezeichneter  Weise  Stimmung ,  dagegen  waren  sie  an 
positiven  Vorschlägen  auffallend  arm.  Nicht  bloss  seine  Gegner 
warfen  ihm  daher  vor,  er  spreche  zwar  recht  schön,  stelle  aber 
keine  Anträge  ^).  Die  Moralität  seiner  Politik  zu  prüfen  würde 
mir  nicht  einfallen,    wenn  man  nicht  gerne  vergässe,    dass  die 


1)  Theopomp,  bei  Plut.  14.  Ueber  die  politische  Theorie  des  Demosthenes 
Arn.  Hug  Studien  aus  dem  klassischeu  Alterthum  I.  Freiburg  und  Tübingen, 
1881  S.  61—102. 

2)  Leptin.  109 ;  wie  das  Lustspiel  4>iXo9"rjßato?  des  Antiphaues  zeigt, 
gab  es  damals  schon  Freunde  Thebens  in  Athen. 

3)  Demoeth.  8,  78,  vgL  9,  70.  76.  18,  179.  302. 


Demosthenes.  195 

Geschicke  der  Völker  mehr  nach  den  Regehi  Macchiavellis  als 
gemäss  der  christlichen  Sittenlehre  bei  Heiden  und  Christen  zu 
allen  Zeiten  gelenkt  wurden.  Wiewohl  also  Demosthenes  mit 
Vorliebe  moralische  Sentenzen  in  seine  Reden  einflocht  ^), 
handelte  er  durchaus  nach  den  Gesetzen  des  Nutzens  und  es 
wird  nicht  zu  leugnen  sein,  dass,  während  Philipp  ein  (wenig- 
stens nach  aussen)  korrektes  Verfahren  gegen  die  Athener  be- 
hauptete, Demosthenes,  als  er  sich  der  Thebaner  sicher  wusste, 
den  Krieg  absichtHch  provocierte  ^).  "Während  er  aber  Rach- 
sucht und  Groll  dem  Gesichtspunkte  des  Nutzens  untergeordnet 
wissen  wollte,  wurde  er  dadurch  nicht  abgehalten,  seine  pohtischen 
Gegner  wie  persönliche  Feinde  mit  Schmähungen  zu  überhäufen 
und  sie  mit  Ausnahme  des  Phokion  alle  als  bestochene  Ver- 
räter zu  brandmarken  ^).  Selbst  den  Staatsmännern  anderer 
Städte ,  die  seiner  Politik  nicht  gefügig  waren ,  warf  Demo- 
sthenes Unehrlichkeit  vor.  In  seinem  Hasse  gegen  PhiHpp 
vergass  er  sich  so  weit,  dessen  sittlichen  Charakter  wie  auch 
den  seines  Sohnes  anzutasten^).  Der  Redner  sprach  eben  selten 
sachlich,  sondern  benahm  sich  in  der  Volksversammlung  gerade 
so,  wie  wenn  er  im  Gerichtssaale  stände  und  die  Feinde  Athens 
anzuklagen  hätte. 

Dem  Privatcharakter  eines  athenischen  Staatsmannes 
gerecht  zu  beurteilen  ist  schwer,  weil  in  Athen,  wie  in  Amerika, 
eine  öffentliche  Stellung  die  gehässigsten  Angriff e  nach  sich  zog,  und 
Demosthenes  war  diesen  um  so  mehr  ausgesetzt,  als  ihm  Liebens- 
würdigkeit versagt  war  und  er  selbst  seine  Gegner  nicht  schonte. 
In  Bezug  auf  sein  sittliches  Verhalten  hat  ihm  der  athenische 
Stadtklatsch  nichts  bestimmtes  nachzusagen  gewusst;  den  Bei- 
namen BdraXo?  trug  ihm  vielleicht  seine  weichliche  Kleidung  ein  ^). 


1)  Vgl.  Maur.  Croiset  des  idees  morales  dans  Töloquence  politiqne  de 
Demosthene,  Montpellier  1874. 

2)  L,  Spengel  SvifjLfjYopiai  S.  85,  1.  97  f. 

3)  Polyb.  17,  14. 

4)  Demosth.  2,  17  ff.  Aeschin.  1,  167  ff. 

5)  Aeschin.  1,  131  (über  die  Bedeutung  des  Namens  Schäfer  11  307; 
Antiphanes  schrieb  gegen  ihn  eine  Komödie  mit  diesem  Titel,  Plut.  4) ; 
Aischines  nennt  ihn  xivatSo?  (1,  181.  2,  88)  vgl.  Duris  bei  Suid.  v.  u)  xö 
lepov.     Jener  Name  BüxcaKoc;  gab  Veranlassung  zu  den  Urteilen  des  Hermippoa 

13* 


196  Siebentes   Kapitel. 

Was  Demostlienes'  Uneigennützigkeit  und  Integrität  betrifft,  so 
wollen  wir  von  dem  Harpalosprozesse  hier  absehen;  die  Be- 
teiligung an  der  Regierung  war,  auch  ohne  dass  man  mit  den 
Gesetzen  in  Konflikt  kam,  sehr  einträgUeh,  So  hatte  Demo- 
sthenes  z.  B,  als  thebanischer  Konsul  Einkünfte^)  und  nützte, 
wie  die  anderen ,  seinen  Einfluss  zur  Bereicherung  aus  *) ;  er 
war  dabei  so  praktisch,  sein  Vermögen  nicht  in  Grundbesitz, 
welcher  im  Kriege  entwertet  war,  anzulegen  ^),  sondern  damit 
zu  spekulieren*).  Daran  nahm  niemand  Anstoss,  im  Gegenteil 
betrachtete  man  Aristeides  und  Phokion,  die  dem  allgemeinen 
Beispiele  nicht  folgten,  wie  Merkwürdigkeiten.  Hingegen  erregte 
seine  gerichtliche  Thätigkeit  schweren  Anstoss:  Demosthenes 
war  bei  seinen  Zeitgenossen  als  der  raffinierteste  Advokat  ge- 
fürchtet und  die  erhaltenen  Reden  rechtfertigen  dieses  Urteil; 
davon  hatte  er  wahrscheinlich  den  Spitznamen  'Ap^äq  ,, Natter". 
Im  besonderen  verübelte  man  ihm,  dass  er  eine  Anklage  gegen 
seinen  Freund  Kephisodotos  unterstützte  ^)  und,  nachdem  er 
für  Phormions  Geld  eine  wahre  Karrikatur  von  Apollodoros 
entworfen  hatte,  in  derselben  Sache  letzterem  eine  Rede  (die 
noch  erhaltene  gegen  Stephanos)  schrieb.  In  Angelegenheiten, 
die  ihn  selbst  betrafen,  entwickelte  der  Redner  wenig  Mut: 
Die  Klagen  gegen  seinen  Vetter  Demomeles,  der  ihn  am  Kopf 
verwundete  %  und  gegen  Meidias,  von  welchem  er  als  Chorege 
öffentlich  eine  Ohrfeige  erhalten  hatte,  nahm  er  zurück  und 
begnügte  sich  bei  letzterem  mit  einem  Schmerzensgeld  ''), 
während  er  in  dem  unwissentlich  erhaltenen  Koncept  der  beab- 
sichtigten   Anklage    "gegen    eine    solche    Zumutung    entrüstet 


(npic  tic  "fj^ovotc  äxoXaoToi;  Suid.  I.)  und  Idomeneus  (Athen.  13,  692  f).  Die 
Anekdote  Pb.  Plut.  847  e  wird  Apostol.  prov.  3,  19  a  und  Arsen.  8,  93  allge- 
mein erzählt;  Bonmot  Gell.  1,  8,  8. 

1)  Aeschines  2,  141.  143. 

2)  Hyperid.  in  Demosth.  col.  22,  26  flf.;  Aeschin.  3,  103  ff.  erzählt  einen 
bestimmten  Fall.     Anderes  Gell.  11,  9. 

8)  Dinarch.  1,  70. 

4)  Plutarch.  comp.  Cic.  et  Dem.  3 ;  daher  besass  er  in  Athens  Hafenstadt 
ein  Haus  (Dinarch.  1,  69). 

6)  Aeschin.  3,  62,  vgl.  1,  131. 

6)  Aeschin.  2,  93.  3,  41. 

7)  Aeschin.  8,  52. 


Demosthenes.  1 97 

protestierte;  mit  Theokrines  fand  sich  unser  Redner  bei  einer 
Paranomenklage  gütlich  ab  ^).  Persönlicher  Mut  war  überhaupt 
nie  eine  starke  Seite  des  Redners  '^).  Wenn  er  musste  ^),  nahm 
er  an  den  Feldzügen  Teil,  aber  ohne  ßicli  hervorzuthun ;  seine 
Gegner  warfen  ihm  Feigheit  vor^).  Nicht  einmal  in  der  Volks- 
versammlung war  Demosthenes  schlagfertigen  Rednern  ge- 
wachsen, sondern  der  Improvisation  abgeneigt^);  auch  bei  seinen 
Augriffen  beobachtete  er  eine  gewisse  Vorsicht,  daher  kommt 
die  TupoStöp^-waif:  ^)  bei  keinem  Redner  häufiger  vor.  Dem  Volke 
gegenüber  versüsste  er  seine  Anklagen  durch  Schmeicheleien  ^). 

Wir  werden  am  besten  thun,  nicht  ein  idealistisches  Bild 
des  Demosthenes  in  usum  delphini  aufzustellen ,  sondern  dem 
Urteile  der  Alten  zu  folgen;  Demosthenes  wurde  mit  den  ge- 
feiertsten Staatsmännern  Athens,  besonders  in  Bezug  auf  Inte- 
grität, nicht  zusammengestellt  und  als  Redner  bewunderte  man 
ihn,  ohne  seinen  Behauptungen  zu  vertrauen^). 

Dem  klugen  Gedanken  des  Demosthenes,  durch  schriftliche 
Ausgabe  seiner  Reden  sich  in  weiteren  Kreisen  bekannt  zu 
machen,  verdanken  wir  es,  dass  sowohl  Staats-  und  Gerichts- 
reden erhalten  sind.  Wie  oben  hervorgehoben  ist,  war  Demo- 
sthenes der  erste,  welcher  pohtische  Reden  veröffentlichte  und 
auch  er  bediente  sich  dieses  Agitationsmittels  nur  in  der  ersten 
Periode  seines  Wirkens  (von  354  bis  341),  so  lange  er  Athens 
Politik  nicht  unumschränkt  beherrschte.  Doch  stellen  die  elf 
vorhandenen  Schriftstücke  natürlich  nicht  die  Gesammtsumme 
der  von  Demosthenes  in  jenem  Zeitabschnitte  gehaltenen  Reden 
dar,  er  schritt  ja  gewiss  nur  zur  Veröffentlichung,  wenn  ein 
besonderer  Zweck  zu  erreichen  war. 


1)  Ps.  Demosth.  58,  43.     Ueber  eine  von  Arist.  rhet.  2,  23    p.  1397  b  7 
erwähnte  Anklage  vgl.  Spengels  Note. 
•2)  Demetr.  Phaler.  bei  Flut.  14. 

3)  Er  hatte  einen  Prozess  XetTCoxalioo  (21,  103). 

4)  Aeschin.    1,    131.    3,    152.   Dinarch.    1,    12.   36.   71.  81.    Pytheas  bei 
Plut.  20;  Anekdoten  bei  Gell.  17,  21,  31.     Ps.  Plut.  845  e.  847  f. 

5)  Plutarch.  lib.  educ.  9. 

6)  Beispiele  im  I.  Index  der  Ausgabe  von  Rehdantz  s.  v. 

7)  Dionys.  rhet.   10,  2  tö  toü  xoXaxsuovto^  (yj^-oi;). 

8)  Vgl.  z.  B.  die  Einleitung  zur  35.  Rede. 


J98  Siebentes  Kapitel. 

Die  Sammlung  dieser  echten  elf  Reden  wurde  später 
durch  einige  vermehrt,  welche  in  demosthenischer  Sprache  ge- 
schrieben und  eher  Uebungen  als  Fälschungen  sind.  Drei 
davon  hängen  mit  den  letzten  echten  Reden  zusammen;  eine 
erlangte  sogar  die  Ehre,  als  vierte  philippische  Rede  (X.) 
gezählt  zu  werden,  obgleich  sie  nichts  als  ein  kaum  zusammen- 
hängendes Gemengsei  von  demosthenischen  Stellen,  die  haupt- 
sächlich aus  der  Rede  über  den  Chersones  und  der  zweiten 
Philippika  stammen ,  und  manierierten  Imitationen  demo- 
sthenischer Ausdrucksweisen  darstellt  ^)  ;  der  Verfasser  hat 
historische  Studien,  wahrscheinlich  in  dem  Werke  des  Theo- 
pompos,  gemacht.  Dionysios  von  Halikarnass,  Hermogenes  und 
andere  Rhetoren  sahen  dieses  üebungsstück  für  ein  demo- 
sthenisches  Original  an,  während  einige  andere  die  ünechtheit 
erkannten  ^). 

Anders  geartet  und  nur  eine  schwache  Studie  von  Schüler - 
hand  ist  die  folgende  Rede  ,,gegen  Philipps  Brief"  (XL), 
deren  Verfasser  die  demosthenischen  Reden,  einschliesslich 
der  über  den  Halonnes,  mit  Fleiss  aber  ohne  Talent  benutzte^); 
geschichtliche   Kenntnisse   fehlen    ihm.      Als    Anhang    zu    der 


i 


1)  Z.  B.  §  6.  16.  41. 

2)  Joannes  Sicel.  Walz  rhet.  VI  253  aus  dem  Ephesier  Anasinsios 
(dieser  scheint  sich  auf  uvkz  tcJüv  xejyo'fpix^fiuy  berufen  zu  haben);  die  Rhetoren 
Alexandros,  Dioskoros  und  Zenon  beanstandeten  wenigstens  einzelnes  (Scbol. 
Dem.  TCV  p.  190,  2.  191,  7.  192,  14.  193,  28.  195,  22.  203,  18).  Verworfen 
wurde  die  Rede  zuerst  von  Valckenaer  orat.  de  Philippi  indole  p.  251  n.; 
die  Ünechtheit  weisen  nach  Hub.  Veersteeg  oratio  Philipp.  IV.  Demostheni 
abjudicatur,  Groningen  1818,  Brückner  König  Philipp  S.  353  fif.,  West  er- 
mann quaestt.  Demosth.  III  147  fif.,  A.  Schäfer  III  B  94  ff.,  vgl.  Cobe 
Mnemosyn.  IV  7.  13.  Die  Echtheit  einiger  Stücke  behaupteten  ausser  Grote 
Winiewski  comment,  chron.  in  Demosth.  or,  de  corona  p.  169.  190  n., 
Benseier  dehiatup.  76ff.  und  de  hiatu  in  Demosthenis  orationibus,  Freiberg 
1848  p.  19  ff..  Weil  harangues  p.  356  ff.  (zweifelnd)  und  Blass  S.  339  ff.; 
letzterer  hält  §  1—10,  28—34  und  70  ff.  für  echt,  aber  §  8  f.  ist  die  Folge 
der  Ereignisse  falsch  angegeben  und  die  persönliche  Apostrophe  am  Schlüsse 
ist  gegea  Demosthenes'  Brauch.  Bö h necke  und  Spengel  ÖTjjjLYjYoptat 
Abhandl.  der  bayer.  Akad.  9,  286  ft.  (nach  dem  sie  vielleicht  im  Nachlasse 
sich  vorfand)  treten    für  die  Echtheit  ein. 

8)  Verworfen  von  Taylor  in  Reiske's  praef.  ad  anuot.  p.  118  und  den 
übrige«,  z.  B.  Larger  Memoires  de  l'acad.  des  ins  er.  II  (1816)  p.  243  ff., 
Schäfer  lU  ß  103  ff.   Blass  S.  316  ff.;   verteidigt  wird  die  Rede    nur   von 


Demosthenes.  199 

Rede,  aber  ohne  dass  diese  darauf  Bezug  nähme,  da  der 
Fälscher  den  Brief  in  seinem  Demosthenesexemplar  offenbar 
nicht  hatte,  bieten  verschiedene  Demostheneshandschriften  den 
angeblichen  Brief  des  Philipp,  welcher,  wenn  er  auch  gute 
Kenntnis  der  Ereignisse,  also  wohl  das  Studium  Theopomps 
zeigt,  in  dieser  Form  doch  nicht  an  die  Athener  abgegangen 
sein  kann  ^) ;  um  von  den  Bedenken  gegen  den  Inhalt  zu 
schweigen,  ist  es  kaum  wahrscheinlich,  dass  Philipp  einem 
Isokrateer  die  Abfassung  dieses  Ultimatums  übertrug.  Hingegen 
könnte  man  daran  denken,  dass  der  Isokrateer  Theopomp  den 
Brief  mitgeteilt  habe,  wenn  nicht  ein  Paar  historische  Versehen  ^ 
diese  Annahme  bedenklich  machten. 

Die  Unechtheit  der  Rede  rspl  oovTd^swf;  (XIIl.)  wird, 
seitdem  F.  A.  Wolf  sie  kurz  konstatierte  %  von  fast  niemand 
bestritten;  Dionysios  kannte  sie  ebenso  wenig  wie  die  Rede 
gegen  Philipps  Brief  ^).  Es  hegt  auf  der  Hand,  dass  diese 
Deklamation  zu  Gunsten  der  Aufhebung  der  Spielkasse,  in  der 
man  nicht  bloss  jegliche  Spur  einer  bestimmten  Zeit,  sondern 
sogar  PhiHpps  Namen  vermisst  ^),  nicht  von  Demosthenes  her- 


Jiöhnecke  Untersuchungen  S.  462  ff.  und  Demosthenes,  Lykurgos  u.  s.  w. 
S.  586  ff.;  Winiewski  comm.  in  erat,  de  corona  p.  142.  191  und  Weil 
harangues  p.  419  ff.  halten  das  Proöraium  für  echt. 

1)  Verworfen  von  Taylor  a.  O.,  Benseier  de  hiatu  p.  83  ff.  und  im 
Programm  p.  16  ff.,  Funkhänel  quaestt.  Demosth.  p.  34  f.,  Schäfer  III 
B  11  Off,  verteidigt  von  Böhnecke  Untersuchungen  S.  461  f.  und  Demosth. 
S.  482f.,  Spengel  8Y]|JLYiYoptat  9,  313  f..  Weil  a.  O.  p.  402  ff.,  W.Nitsche 
König  Philipps  Brief  an  die  Athener  und  Hieronymus  von  Kardia,  Progr.  des 
Sophiengymn.  Berlin  1876;  Blass  S.  348  ff.  Dionysios  kannte  den  Brief  (ad 
Amm.  I  11  8ta  zr^q  snto'coX'fjt:),  eben.so  vielleicht  die  Quelle  Diodors  18,  10, 
1;  wenn  dieser  den  Passus  aus  Hieronymos  von  Kardia  entnommen  hätte, 
wie  Nitsche  a.  O.  meint,  wäre  die  Echtheit  bekundet.  Der  Brief  fehlt  in  den 
Handschriften  S  und  A. 

2)  §  9.  22. 

3)  Proleg.  in  Dem.  Leptin.  p.  LXXIV,  51;  Schäfer  HIB  89  ff.  Blass 
S.  352  ff.  Nur  Böhnecke  Forschungen  I  230  f.  macht  eine  Ausnahme,  auch 
O.  Haupt  demosthenische  Studien  I  28  ff.  (vgl.  über  die  Midiana,  Posen  1857 
S.  18  ff.)  hält  einen  Teil  für  echt. 

4)  Erst  Harpokration  (an  sechs  Stellen)  und  Aristeides  (rhet.  1,  3,  2  p. 
362  W.),  dann  Libanios  und  den  Byzantinern  gilt  sie  als  demosthenisch. 

5)  Die  Scholien  p,  217,  2  ff.  D.  setzen  deshalb  die  Rede  hinter  die 
Verteidigung  der  Rhodier  (§  8),  aber  vor  alle  philippischen  Reden. 


200  Siebentes  Kapitel. 

rühren  kann.  Der  Verfasser  ist  auch  in  den  Worten  so 
unselbständig,  dass  er  mehrere  demosthenische  Stücke  plündert^) ; 
von  athenischer  Geschichte  und  Verfassung  versteht  er  nichts, 
weshalb  man  diese  Rede  und  die  gegen  Philipps  Brief  nicht 
demselben  Autor  zuteilen  darf. 

Von  dem  Verdammungsurteile  nimmt  man  gewöhnlich 
zwei  Reden  aus,  indem  man  sie  zwar  Demosthenes  selbst  ab- 
spricht, jedoch  Zeitgenossen  desselben  imputiert.  Von  der  Rede 
über  Halonnesos  (VII.)^)  glaubt  man  sogar  einen  bestimmten 
Verfasser  nennen  zu  können.  Die  Sache  verhält  sich  folgender- 
massen:  343/2  schickte  PhiHpp  eine  Gesandtschaft,  welche 
unter  anderem  den  Athenern  die  Abtretung  der  kleinen  Insel 
Halonnesos ,  welche  sie  beanspruchten ,  anbot ;  Demosthenes 
aber  bewog  die  Athener,  weil  Philipp  die  Felsklippe  ,, geben", 
aber  nicht  „zurückgeben"  wollte ,  das  Anerbieten  zurückzu- 
weisen. Seine  Gegner  nützten  diese  Wortspalterei ,  welche 
Demosthenes  freilich  nur  vorbrachte,  damit  das  athenische  Volk 
Philipp  für  nichts  verpflichtet  sei,  weidlich  aus  *).  Es  Hegt  nun 
eine  Rede  über  diese  Angelegenheit  vor,  welche  Dionysios,  der 
obendrein  die  bibhographischen  Register  des  Kallimachos  und 
der  Pergamener  kannte,  unbedenklich  Demosthenes  beilegte. 
Aber  dagegen  sprechen  viele  Momente.  Der  Stil  weicht  voll- 
kommen von  dem  demosthenischen  ab  und  nähert  sich  mehr 
dem  Charakter  des  Lysias  ^) ;  man  vermisst  überall  die  sorgsame 
Ausarbeitung.  Den  derben  Schluss  hätte  Demosthenes  nicht 
zugelassen,  am  wenigsten  hätte  er,  wie  es  der  Redner  thut,  den 
Brief  des  Königs  Punkt  für  Punkt  durchgenommen.  Diese 
Umstände    bewogen   spätere   Rhetoren,    die   Rede    dem    Demo- 


I 


1)  Schäfer  a,  O.  S.  92  A.  2;  Weil  les  harangues  p.  437  and  im 
Kommentare.     Günstiger  beurteilt  die  Rede  Spengel   8Y)|i7)Yopiat  S.  307  flf. 

2)  Weidner  Philol.  37,  246  flf.  Blass  attische  Beredsamkeit  III  2, 
113  flf.  Der  Titel  uitip  'AXovvfjoou  fand  Dionys  schon  bei  Kallimachos  (de  vi 
Dem.  13). 

3)  So  Dionys.  ad  Ammae.  I  10;  Anfang  342  Schäfer  II  404,  1. 

4)  Aeschin.  3,  83.  Antiphanes  bei  Athen.  6,  223  e,  vgl.  Plut.  9. 

6)  Dionys.  Dem.  9.  13.  Auch  der  Hiatus  ist  vernachlässigt  (Benseier 
de  hiatu  p.  68  f.). 


Demosthenes.  201 

stheaes  abzusprechen  ^).  Da  man  aber  irgendwo  ^)  gefunden  zu 
haben  scheint,  dass  Hegesippos  den  Kallippos  einmal  ange- 
klagt habe,  und  darauf  §  43  bezog,  nannten  einige^)  den  Ver- 
fasser der  Rede  Hegesippos.  Gegen  diese  Vermutung  —  denn 
das  Zeugnis  des  Kalliraachos  und  Dionysios  zeigt  das  Fehlen 
einer  derartigen  Tradition  —  spricht  aber  viel.  Der  Redner 
tritt  als  Haupt  der  antimakedonischen  Partei,  mit  einem  Worte 
als  Demosthenes  auf*),  während  Hegesippos^)  nie  besonders  her- 
vorragte ^).  Es  ist  sodann  wenig  glaublieh ,  dass  Hegesippos,  ein 
Demades  ähnlicher  Redner,  von  dem  den  Späteren  nur  geflügelte 
Worte  bekannt  waren  ^),  eine  Staatsrede  herausgab,  obendrein 
in  einer  Angelegenheit,  wo  das  Wort  des  Demosthenes  das 
Yo\k  bestimmte.  Der  Verfasser  dürfte  daher  ein  Rhetor  des 
dritten  Jahrhunderts  sein,  welcher  bei  Theopomp  den  Brief  des 
Philipp  vorfand.  Darum  nimmt  er  nirgends  auf  mündliche 
Aeusserungen  der  Gesandten  Bezug  '^). 

Nicht  besser  kann  ich  die  Rede  ,,über  die  Verträge 
mit  Alexander"  (XVH.)^)  zu  beurteilen.  Wir  haben  nicht 
die  Rede  eines  Politikers,  sondern  eine  aus  historischen  Studien 


1)  Libanios  zur  Rede;  Schol.  Dem.  p.  254,  7.  Harpokration  bezeichnet 
sie  V.  'AXI^avopoi;  und  'EXateta  nur  als  unecht,  v.  '^li'f-i](siKT:o(:  gibt  er  an, 
fl;iss  „einige"  Hegesippos  für  den  Verfasser  hielten,  ebenso  Phot.  biblioth. 
'265  p.  491  a  2ff. 

2)  Etwa  in  Deinarchs  Rede  xaxa  KaXXiTtxcoo  (Sauppe  orat.  Att.  II  p. 
338  b  35flf.). 

3)  Nach  Vömel  proleg.  in  or.  de  Halonn.  p.  23  und  Blass  III  2,  113f. 
wahrscheinlich  Caecilius;  alle  Neueren  teilen  seit  Vömel  ostenditurHege-sippi 
esse  orationem  de  Halonneso,  Frankfurt  1830  diese  Vermutung,  ausser 
C.  Matthiä  Ztsch.  für  Alterthumswiss.  1834  S.  147  ff.,  der  die  Echtheit 
verteidigt. 

4)  §  19.  25.  33. 

5)  Ueber  ihn  s.  Demosth.  19,  331;  Schäfer  I  456,  2. 

6)  Sauppe  orat.  Att.  II  258. 

7)  Die  Stelle  über  Kassopia  §  32  und  das  Epigramm  §  40  schmecken 
nach  Büchergelehrsamkeit;  die  Behauptung  (§  12),  Makedonien  sei  Athen 
einst  tributpflichtig  gewesen,  ist  offenbar  aus  der  Uebertreibung  einer  an  sich 
schon  übertriebenen  Stelle  des  Demosthenes  (3,  24)  entsprungen  (auch  die 
Rede  über  Philipps  Brief  §  16  hat  dieselbe  Anschauung).  Etwas  manieriertes 
hat  der  übertriebene  Gebrauch  der  figura  etymologica. 

8)  Ilepl  xä)V  npöc  -'AXe^avSpov  covö'fjxcüv. 


202  Siebentes  Kapitel. 

gezogene  Deklamation  vor  uns.  Der  Redner  ruft  zum  Kämpft 
gegen  iVlexander  von  Makedonien  auf  und  wie  motiviert  er' 
dies?  Durch  die  Aussicht,  Bundesgenossen  zu  bekommen? 
Theben  existiert  für  ihn  nicht,  ebenso  wenig  aber,  wenn  die 
Rede  in  das  Jahr  330  zu  verlegen  sein  sollte  ^),  der  Spartaner- 
könig Agis.  Es  herrscht  ebenso  Stillschweigen  darüber,  ob 
Alexander  zam  Perserkriege  rüstet  oder  ferne  von  Griechenland 
steht.  Der  Redner  hat,  ohne  ein  bestimmtes  Jahr  der  Regierung 
Alexanders  ins  Auge  zu  fassen,  aus  einem  Historiker  einige 
Funkte  excerpiert,  über  welche  sich  die  Athener  oder  auch 
andere  Griechen  im  Stillen  hätten  beschweren  können;  dabei 
schwebte  anscheinend  die  Rede  über  den  Halonnes  als  Vorbild 
vor  ^),  mit  der  die  vorliegende  auch  die  schulgerechten  £;rty£'.p7j[iata 
gemeinsam  hat.  Die  Unechtheit  haben  bereits  die  Alten  er- 
kannt^). 

Mit  der  politischen  Beredsamkeit  des  Demosthenes  hängen 
die  grossen  Reden  welche  er  für  bedeutende  öffentliche  Prozesse 
schrieb,  innig  zusammen ;  denn  hier  bildete  er  sich  zum  Volks- 
redner heran.  Es  ist  gewiss  kein  Zufall,  dass  er  gerade  in  dem 
Jahre  (355),  bevor  er  seine  erste  politische  Rede  veröifentlichte, 
in  zwei  bedeutsamen  Prozessen  thätig  war.  Mit  der  ersten  Rede 
gegen  Androtion   (XXII.) '^)   stellte    er   seine   Feder  in   den 


1)  So  nach  A.  Schäfer  III  191  f.;  zwischen  333  und  330  Droysen 
Alexander  I '^  242,  2.  II  277,  1;  332  nach  Kornitzer  Ztsch.  f.  österr.  Gymn. 
83,  251  (weil  Tenedos  makedonisch  ist),  Oktober  333  nach  G.  Leue  Philol. 
43,  608  A.  3;  335  nach  den  Scholiasteu,  Reiske,  Böh necke  Forschungen  I 
628  f.,  Grote  history  of  Greece  XII  21,  1,  Spengel  8f]fjL-f)Yopiai  S.  110  f., 
Weil  harangues  p.  464  f.,  Blass  III  2,  122  f.;  334  A.  G.  Becker  Demo- 
sthenes S.  264. 

2)  Ausser  der  Disposition  vgl,  noch  Blass  III  2,  123  f.  Einige  Alten 
dachten  deshalb  an  llegesippos  (Schol.  Dem.  p.  254  D.),  wie  auch  A.  Kor- 
nitzer  Ztsch.  f.  österr.  Gymn.  33,  249  ff. 

3)  Dionys.  Dem.  57.  Harpocr.  v.  TrpoßoXdi;.  Liban.  arg.  (nach  ihm  ist 
die  Rede  mehr  im  Stil  des  Hypereides)  Schol.  a.  O.;  dass  die  Rede  ein  jüngeres 
Ehiborat  sei,  nimmt  auch  Job.  "NV  indel  de  oratione  quae  est  inter  Dcmosthe- 
nicaH  XVII.  et  inscribitur  itepl  t<»v  Kpot;  'AXe^avSpov  ouvO-fjxdiv,  Leipzig  1881.  4. 
Dagegen  halten  sie  Schäfer  III  186  ft.  und  Blass  III  2,  121  ft'.  für  eine 
wirklich  gehaltene  Rede;  Dobree  advei-saria  I  366  glaubte,  sie  sei  ein  Excerpt. 

4)  Diouys.  ad  Ammae.  I  4,  Schäfer  I  316  ff.  Blass  226 ff. 


Demosthenes.  203 

Dienst  eines  persönlichen  Feindes  des  Angeklagten,  welcher 
von  Eaktemon  und  Diodoros  wegen  eines  gesetzwidrigen  An- 
trages belangt  warde;  es  handelte  sich  jedoch  keineswegs  um 
ein  Gesetz  von  grosser  Tragweite,  sondern  Androtion  hatte  bloss 
den  abtretenden  Ratsherrn  die  übliche  Anerkennung  beantragt. 
Dagegen  ♦behauptete  Diodoros,  welcher  die  von  Demosthenes 
verfasste  Rede  an  zweiter  Stelle  (nach  Euktemon)  hielt,  der  Rat 
habe  nicht  für  die  gesetzlich  geforderte  Vermehrung  der  Flotte 
;Tesorgt,  und  stritt  Androtion  wogen  der  Immorahtät  seines  Vor- 
lebens überhaupt  die  Berechtigung,  Anträge  zu  stellen,  ab. 
Die  geringe  Bedeutung  der  Frage  und  die  unverholden  einge- 
standene Rachsucht  des  Anklägers  beeinträchtigen  die  Wirkung 
der  gewaltigen  Rhetorik,  die  Demosthenes  hier  zum  ersten 
Male  entfaltet.  Weil  er  mit  dem  Isokrateer  Androtion  zu 
kämpfen  hat,  bedient  er  sich  der  sorgsamen  Disposition,  die 
man  bei  Isokrates  lernte,  und  bringt  sogar  in  der  Einleitung 
manche  ihm  sonst  ungewohnte  Gleichklänge  an  ^). 

Wiewohl  dieser  Prozess  nicht  glücklich  verlief,  schrieb  man 
die  Schuld  dieses  Ausganges  offenbar  nicht  Demosthenes  zu; 
schon  im  nämlichen  Jahre  '^)  wurde  er  mit  einer  bedeutenderen 
Sache  betraut,  bei  welcher  er  als  Fürsprecher  des  Ktesippos, 
der  den  berühmten  Chabrias  zum  Vater  hatte,  persönlich  das 
Wort  führte.  Leptines^)  hatte  nämlich  beantragt,  alle  ße- 
IVeiungen  von  Leiturgien  (atlXstai)*)  aufzuheben;  das  Gesetz 
wurde  zunächst  von  Apsephion ,  welcher  gleichzeitig  einen 
( fegenvorschlag    einbrachte ,    bekämpft.     Nachdem    für    diesen 


1)  Walz  rhet.  Gr.  5,  613  (Max.  Planud.).  6,  329.  7,  1038. 

2)  Es  ist  offenbar  schon  Frieden,  aber  Chabrias'  Tod  noch  nicht  lange 
vergangen  (§  80  ff.  vgl.  Schäfer  I  375  ff.).  Dionysios'  Ansatz  ist  also  richtig 
(ad  Ammae.  I  4). 

3)  Schäfer  I  353  ff.  Blass  231ff.,  speziell  Schömann  opuscula 
academica  I  237  ff.  H.  Weil  Annnaire  pour  l'encour.  des  etudes  grecques  1882 
p.  150  ff. ;  W.  Nitsche  de  traiciendis  partibus  in  Demosthenis  orationibus, 
Berlin  1863  p.  92—95  will  §  8—10  hinter  §  17  stellen. 

4)  Daher  heisst  die  Rede  (XX.)  bei  Dionys.  ad  Ammae.  I  4,  Plnt.  Dem. 
13.  16,  Athen.  4,  166  b,  Harpocr.  (dreimal),  Phot.  bibl.  266  p.  492  a  28  i^spl 
Tüiv  äteXs'.üJv;  auch  Aelius  Aristeides  setzt  mp\  (äsTeXstac  zum  Titel  seiner 
Gegenrede.  Der  volle  Titel  lautet  in  den  Handschriften  nzfi  xf^z  ateXetac 
ivpö?   Asntivrjv ;  xata  Asrctivou  irepl  ttjc  atiXsia?  Dionys.  Dem.  45. 


204  Siebentes  Kapitel. 

Phormiou  gesprochen  hatte,  trat  Deinosthenes  im  Namen  des] 
Ktesippos  auf  ^).  Der  junge  Redner  verzichtete  diesmal  auf 
Pathos  und  Fülle  des  Ausdrucks  und  schloss  sich  mehr  dei 
Richtung  des  Lysias  an  ^).  Demosthenes  sprach  ja  zugleicl 
persönlich  und  in  einer  fremden  Sache ;  jenes  gebot  ihm  Voi 
sieht,  dieses  hielt  von  heftiger  Erregung  ab,  ausserdem  war  der' 
Augeklagte  ein  unbescholtener  Mann  mit  den  besten  Absichten, 
dem  die  angesehensten  Staatsmänner  zur  Seite  standen,  und 
der  Antrag  dem  Volke  erwünscht,  weil  er  die  Steuerpflichtigen 
erleichterte.  Demosthenes  durfte  mithin  den  Antragsteller  nicht 
so  derb  wie  einen  Androtion  angreifen  •'^),  sondern  wenigstens 
die  anständige  Form  wahren.  Um  bei  seinem  ersten  politischen 
Debüt  einen  günstigen  Eindruck  zu  erwecken ,  zeigte  sich 
Demosthenes,  wie  die  Griechen  von  einem  jüngeren  Manne 
wünschten,  massvoll  und  trug  in  reichhchen  Sentenzen  die 
edelsten  Gesinnungen  zur  Schau,  während  er  dem  gehässigen 
Verdacht  sykophantischer  Fertigkeit  auswich.  Der  Redner  ver- 
sagte sich  daher  eine  kunstvolle  Anlage  der  Punkte  und  reihte 
sie  mit  absichtlicher  Nachlässigkeit  an  einander.  Aus  dem- 
selben Grunde  fehlt  der  rhetorische  Schmuck,  während  Wieder- 
holungen nicht  selten  sind.  Schon  die  blosse  Anrede,  welche 
an  der  Spitze  steht,  soll  den  Schein  der  Kunstlosigkeit  hervor- 
bringen; denn  Demosthenes  beginnt  sonst  nie  sofort  mit  der 
Anrede,  sondern  schiebt  sie  kunstvoll  ein. 

Obgleich    die    Klage    allem    Anschein    nach    abgewiesen 
wurde*),  war  der  Prozess  für  Demosthenes'  Carriere  förderlich^), 


1)  Der  Klatsch  sagte  (Schol.  Dem,  p.  477,  12):  t^  P-"')^?^  T^  ahzoö,  vaq 
yaot,  oovfjv;  angeblich  heiratete  er  sie  (Aristid.  pro  Leptiue  2  p.  611.  Suidas 
III.)  oder  er  bewarb  sich  wenigstens  um  ihre  Hand  (Plut.  15). 

2)  Cicero  orator  111  rechnet  die  Rede  zu  den  ,,orationes  subtiles"; 
nach  Dionys.  ad  Ammae.  I  4  ist  sie  yaptEOTaxoc  tÄv  Xo^cuv  xal  •^pa.tfi.v.vDZo.zoq. 
Die  Rede  bereitete  den  klassificierendeu  Rhetoren  Schwierigkeiten  (Phot.  bibl. 
266  p.  492  a  27  flf.).  Die  Authenticität  der  Rede  wird  übrigens  gegen  eine 
etwaige  Hyperkritik  durch  Dinarch.  1,  111  gestützt. 

8)  Maxim.  Planud.  (aus  Dionys?)  in  Herinog.  V  617,  23  ff. 

4)  Blass  8.  239.  Dion  Chrysostomos  (31,  128)  nimmt  aus  Bewunderung 
für  Demosthenes  das  Gegenteil  an. 

5)  Die  Rede  wird  mit  den  gegen  Aischines  gerichteten  von  Hermogenes 
p.  400,  24  f.  Sp.  besonders  hervorgehoben. 


Demosthenes.  205 

SO  dass  er  schon  im  nächsten  Jahre  eine  politische  Rede  zu  ver- 
öffentlichen wagte.  Diodoros  vertraute  ihm  im  Jahre  353  aber- 
mals die  Bearbeitung  einer  Parauomenklage  an,  in  welcher  er  dies- 
mal zuerst  zu  sprechen  gedachte  ^) ;  wiederum  galt  sie  Androtion, 
dem  zu  Liebe  Tim ok rate s  die  Prolongierung  der  den  Staats- 
schuldnern gesetzten  Termine  beantragt  hatte.  Als  jedoch 
Androtion,  um  den  Angriff  zu  parieren,  seine  Schuld  zahlte, 
Hessen  Diodoros  und  Euktemon,  wie  es  scheint,  die  Klage 
fallen.  Demosthenes  hatte,  als  die  Partei  jenen  geschickten 
Gegenzug  machte,  die  Anklagerede  bereits  entworfen,  worauf 
er  die  Rede  der  neuen  Sachlage  anzupassen  begann.  Da  aber 
die  Kläger  zurücktraten,  vollendete  er  diese  Arbeit  nicht,  so  dass 
von  dem  zweiten  Teile  der  Anklage  (§  110 — 187)  bloss  der 
Entwurf  erhalten  ist^).'  In  den  ausgearbeiteten  Abschnitten 
zeigt  sich  Demosthenes  in  seiner  wahren  Gestalt,  ähnhch  wie 
in  der  Rede  gegen  Androtion,  doch  hat  er  die  isokrateische 
Sorgfalt  der  letzteren  natürlich  aufgegeben. 

Weil  Demosthenes  in  jener  Zeit,  so  viel  wir  wissen,  der 
einzig  gewandte  Redner  war,  welcher  mit  der  Gewandtheit  |des 
Advokaten  politischen  Scharfblick  verband,  erhielt  er  schon 
im  nächsten  Jahre  wieder  einen  wichtigen  Fall,  welcher  auf 
die  auswärtige  Politik  des  athenischen  Staates  Bezug  hatte. 
Als  der  mit  Olynth  im  Jahre  352  geschlossene  Friede  ^),  dessen 
die  Rede  (§  109)  gedenkt,  die  Aufmerksamkeit  der  sanguinischen 
Bürgerschaft  wieder  auf  die  tlirakischen  Küsten  zu  lenken  be- 
gonnen hatte,  glaubte  man,  Charidemos,  den  Condottiere  des 
thrakischen  Häuptlings  Kersobleptes ,  durch  ungewöhnliche 
Privilegien  an  Athens  Interesse  ketten  zu  müssen.  Nach  dem 
Antrage  des  Aristokrates   sollte   sein  Leben    unter    den  Schutz 


1)  Ueber  die  XXIV.  Rede  Schäfer  I  328  ff.  Blass  S.  244  ff.  Zur 
Sache  Car.  L.  Blume  prolegomena  ad  Demosthenis  orationem  Timocrateam 
tria  capita  priora,  Berlin  1823. 

2)  Benseier  de  hiatu  p.  123  ff.  und  im  Programm  p.  21  ff.,  Schäfer 
m  B  63  ff.  Blass  a.O.,  bestritten  von  L.  Spengel  Ehilol.  17,  613.  Nitsche 
de  traiciendis  partibus  in  Demosthenis  orationibus,  Berlin  1863  thesis  5  hält 
§  157 — 187,  wo  Androt.  47 — 78  benützt  ist,  für  unecht. 

3)  Dieses  Jahr  nennt  Dionys.  ad  Ammae.  I  4.  Nach  Kumpf  de 
Charidemo  Orita  p.  22  ff',  fällt  die  Rede  vor  Ol.  106,  4  wahrscheinlich  Ol.  106,  4, 


206  Siebentes  Kapitel. 

des  athenischen  Staates   gestellt   und   etwaige  Mörder    mit    der 
Aechtung  bedroht  werden. 

Ehe  noch  dieser  Antrag  an  das  Volk  ging,  erhob  ein 
Bürger  *)  Einsprache  und  Hess  diese  Protestrede  von  Denio- 
sthenes  ausarbeiten.  Die  Rede  gegen  Aristokrates 
(XXIII.)  '^)  zeigt  die  Kunst  des  Demosthenes  auf  ihrer  vollen 
Höhe;  trotz  des  bedeutenden  Umfanges  weiss  er  die  Einheit 
durch  symmetrische  Wiederholungen  und  Wechselbeziehungen 
fortwährend  festzuhalten.  Da  der  Ankläger  nicht,  wie  Diodoros 
zum  Prozesse  durch  Rachsucht  getrieben  wurde ,  fehlen  die 
herben  persönlichen  Angriffe ;  nur  gelegentlich  (§  146  f.)  zieht 
er  gegen  die  feilen  Politiker  im  allgemeinen  los.  Wie  jenes 
einen  erfreulichen  Eindruck  macht,  so  muss  jeden  der  Abschnitt, 
welcher  nach  dem  übhchen  Schema  die  Nützlichkeit  des  An- 
trages leugnet,  in  hohem  Grade  anziehen;  handelt  es  sich  doch 
diethrakischen  Angelegenheiten,  welche  später  den  Mittelpunkt 
der  demosthenischen  PoHtik  abgaben.  Hier  ist  nun  die  merk- 
würdige Beobachtung  zu  machen,  dass  Demosthenes,  wenn 
anders  er  nach  seiner  Ueberzeugung  sprach,  gleich  den 
übrigen  Athenern  die  von  Philipp  drohende  Gefahr  noch  nicht 
vollständig  erkannt  hatte;  man  hoffte  damals  im  Gegenteil 
(§  13  f.)  durch  Kersobleptes  Amphipohs  zu  gewinnen.  Einige 
Monate  später  war  Kersobleptes  ein  Vasall  Philipps  und  dann 
erst  folgte  die  erste  Philippica. 

Seit  Demosthenes  in  der  Ekklesia  eine  angesehene  Stellung 
errungen  hatte,  befasste  er  sich  mit  derartigen  Prozessen  nicht 
mehr.  Die  drei  späteren  öffentlichen  Reden,  die  von  ihm  vor- 
handen sind,  wurden  in  eigenen  Angelegenheiten  geschrieben  ^). 

Die  früheste  derselben ,  gegen  Meidias  (xata  MetSioo  xspl 
toö   xovSöXot)   XXI.)  ■*)   liegt   uns   unvollendet   vor.     Der    reiche 


1)  Euthykles  nach  Dionys.  Amm.  1,  4  und  Argnm.  or,  2. 

2)  Schäfer  I  379  fl".  Bluss  254  flf.  Walter  Herz  de  Demosthenis 
Aristocrateae  prima  parte,  Halle  1878. 

3)  Anton  Westermann  de  litibus  qiia.s  Demosthenes  oravit  ipse, 
Leipzig  1834. 

4)  Bückh  die  Zeitverhältnisse  der  demosthenischen  Rede  gegen  Midias, 
Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1820  S.  69  fl'.  =  Ges.  kleine  Schritten 
ß,  163  ff.  Schäfer  H  102  ff.  HI  B  58  ff.  El  ans  287  ff. 


Demostbenes.  207 

angesehene  Meidias  war  mit  Demosthenes  verfeindet  und  ging 
so  weit,  ihn,  als  er  Choreg  war,  zu  ohrfeigen  ^) ;  es  geschah  dies 
bald  nach  dem  euböischeu  Feldzuge  Ol.  107,  4  (348).  Demo- 
sthenes erwirkte  sofort  beim  Volke  ein  Vorurteil  (TcpoßoXTj),  aber 
erst  346^)  sollte,  wie  die  vorhandene  Rede  zeigt,  die  eigentliche 
V^erhandlung  stattfinden  —  da  Hess  er  sich  von  Meidias  mit 
einem  Schmerzensgelde  beschwichtigen  ^) ,  ein  Verfahren ,  das 
zwar  in  Athen  nicht  selten  war,  aber  gerade  auf  Demosthenes 
ein  seltsames  Licht  wirft,  weil  er  in  dem  Entwürfe  der  Anklage 
gegen  eine  solche  Zumutung  pathetisch  protestiert.  An  der 
erhaltenen  Rede,  welche  Demosthenes  nach  dem  eben  Gesagten 
nicht  selbst  herausgab,  treten  zahlreiche  Spuren  der  Unfertigkeit 
hervor"*),  Wiederholungen,  Lücken  (z.  B.  nach  §  21  oder  22)  und 
mangelhafte  Anordnung-'').  Hätte  sie  aber  der  Redner  ausge- 
arbeitet, dann  wäre  sie  vielleicht  das  gewaltigste  Denkmal  seiner 
Beredsamkeit  geworden;  doch  auch  so  ist  besonders  die  Schil- 
derung von  Meidias'  Uebermut  mit  wuchtiger  Kraft  geschrieben. 


1)  Eine  ähnliche  Geschichte  erzählt  Diogenes  6,  42  von  Meidias. 

2)  §  13  TpiTov  EToc  toüxt,  was  der  Scholiast  und  wohl  auch  Dionysios, 
der  diese  Worte  nicht  in  Anschlag  bringt,  falsch  verstehen;  Dionysios  ad 
Ammae.  I  4  setzt  daher  die  ßede  schon  Ol.  107,  4.  Demosthenes  nennt  sich 
§  154  32  Jahre  alt  (86o  v.a.\  xpiäxovxa  stf]  '(z-(ov6xa.,  was  schon  Plutarch  c.  12 
las);  dies  ist  notwendig  falsch.  Vgl.  ausser  Schäfer,  dessen  Ansatz  Droysen 
Hermes  14,  10  verteidigt,  Hartel  Commentatt.  in  hon.  Tb.  Momms.  p.  533. 
Die  Klage  ist  auf  Grund  der  tz^o'^oK-'i]  gestellt,  während  Meidias  behauptet, 
Demostbenes  hätte  ußpeiui;  klagen  sollen  (§  25),  s.  B 1  a  s  s  S.  290,  2  und 
Lipsius  der  attische  Process  S.  339. 

3)  S.  S.  196. 

4)  Vgl.  Phot.  bibl.  cod.  265  p.  491  a  40  ff. 

5)  Mit  der  Annahme  von  Böckb,  Schäfer  und  Blass,  da-ss  Demostbenes 
die  Rede  unvollendet  liess,  gibt  sich  L.  Spengel  Pbilol.  17,  606  ff.  nicht 
zufrieden.  O.  Haupt  über  die  Midiana  des  Demosthenes,  Posen  1857  und 
Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1867  Sp.  661  ff.,  gemäss  dessen  Ansicht  die  Rede 
nach  Meidias'  Tode  erschien,  fand  Interpolationen  und  W.  Nitsche  de 
traiciendis  partibus  in  Demosthenis  orationibus,  Berlin  1863  p.  67 — 92  ver- 
Kuchte  durch  Umstellungen  Ordnung  zu  schaffen.  Nach  Wachendorf  de 
Demosthenis  Midiana,  Neuss  1879  ist  die  Rede  aus  zweien  kompiliert.  Van 
den  E  s  comm.  de  Demosthenis  Midiana,  Utrecht  1874  macht  einen  späteren 
Ordner  für  die  Unordnung  verantwortlich.  Petrus  Bastgen  de  Demosthenis 
Midiana,  Münster  1884  koustruirt  eine  Disposition,  zu  welcher  Demosthenes 
vielleicht  gelangt  wäre,   wenn  er  die  letzte  Hand   an  das  Werk  gelegt  hätte. 


208  Siebentes  Kapitel. 

Gemäss  der  Bedeutung  der  Sache  —  Demosthenes  betont  die 
geheiligte  Rolle  eines  Choregen  —  wählt  er  einen  würdevollen 
Stil,  der  in  mächtigen  Perioden  dahinrauscht  und  von  allem 
möglichen  rhetorischen  Schmucke  schillert  und  glänzt;  wie  ein 
alter  Rhetor  bemerkt,  wirkt  ja  die  Verbindung  von  mehreren 
Figuren  pathetisch. 

Es  folgten  nun  die  zwei  um  die  ganze  Politik  des  Demo- 
sthenes sich  bewegenden  Prozesse,  welche  wir  oben  im  Leben 
des  Demosthenes  berührt  haben.  Im  Jahre  344  ist  die  Rede 
über  die  Truggesandtschaft  (xat'  Aloxtvoo  TrapaTrpso- 
ßsiai:  XIX.)  ^)  geschrieben ;  ich  gebrauche  dieses  Wort  mit 
Dionysios,  weil  die  Alten  glaubten,  die  Rede  sei  nie  gehalten 
worden.  Zu  dieser  Annahme  bewog  sie  teils  der  offenbar  un- 
fertige Zustand  der  Rede  teils  das  Schweigen,  welches  beide 
Gegner  beim  Kranzprozesse  über  diesen  ersten  Kampf  beob- 
achteten ^).  Freilich  berichtete  Idomeneus  bestimmt,  Aischines 
sei  bloss  mit  dreissig  Stimmen  freigesprochen  worden ,  aber 
sein  Zeugnis  galt  nicht  viel  ^).  Wenn  auch  in  der  That  die 
Anspielungen ,  welche  bei  dem  zweiten  Prozesse  fielen  ^),  so 
schwach  sind,  dass  sie  nichts  beweisen,  thut  doch  die  Rede  des 
Aischines,  welche  nicht  auf  die  erhaltene  Form  der  Anklage 
erwidert,  dagegen  auf  das  Benehmen  der  Richter  Bezug  ninmit, 
unwiderleglich  dar,  dass  der  Prozess  wirklich  stattfand  ^).  Jene 
zeigt  nämlich  ^),  dass  Demosthenes  vor  Gericht  nicht  so  sprach, 


1)  flepl  ^oo<:  c.  20. 

2)  So  Plut.  Schol.  Thucyd,  6,  91  wie  Cic.  orat.  IJl  contra  Aescliinem 
falsae  legationis ;  abgekürzt  nspl  ttjc  irapartpeoßeiac  Handschr.,  Harpocr.  meistens 
xat'  Ala)(^ivoü  (so  oder  Aloyivoo  xaxYjYopia  Dionys.),  daneben  erst  ev  tu)  Ttapa- 
npeaßetac,  dann  von  v.  SiexwScövioe  an  sv  tcb  icepl  tyj«;  Ttpeoßeiac  (xaxa  xyjc 
itpeoßetac  Philostrat.  vit.  soph.  1,  7);  xax'  AI.  Max.  Plan.  Walz  V  616.  580. 
681.  682.  686. 

3)  Dionys. *ad  Ammae.  1,  10  (aüvetd^ato  vgl.  Weil  les  plaidoyers  polit. 
p.  234  A.  2).  Plut.  16.  Phot.  bibl.  491  a  40  flf.  b  22  ö".  Ps.  Plut.  840  c  (slol 
8'  oT  ^aot)  Argum.  Aesch.  or.  2  (evioi).  ' 

4)  Plut.  a.  O.  (Ps.  Plut.  Aeschin.  840  c.  Argum.  a.  O.). 

5)  Aeschin.  3,  64.  79  fl.  Dem.  18,  142. 

6)  Fr.  Franke  prolegg.  in  Dem.  orat.  de  falsa  leg.,  Meissen  1846 
S.  1  ff.;  Mich.  Schmidt  quaestt.  de  Dem.  et  Aeschin.  orat.  de  falsa  leg. 
Bonn  1861  S.  1  ff.,  Schäfer  III  B  68  ff.  Blass  S.  308  ff. 

7)  Aeschin.  §.  6  10.  124.  (160  f.)  166  f. 


I 


Demosthenes.  209 

wie  die  Rede  vorliegt;  die  schriftliche  Fassung  war  vielmehr 
kürzer.  Wir  können  aber  nicht  annehmen,  dass  Demosthenes 
bei  der  Herausgabe  etwas  weggelassen  habe,  weil  die  Anklage 
augenscheinlich  geraume  Zeit  vor  dem  Tage  der  Entscheidung 
entworfen  wurde.  Philokrates  war  damals  zwar  bereits  ange- 
klagt, aber  noch  nicht  verurteilt^).  Auch  diese  Rede  gab  also 
Demosthenes  nicht  selbst  heraus  und  so  ist  das  erhaltene  nicht 
das  endgiltige  Koncept  der  Rede,  welche  er  wirklich  vortrug. 
Während  die  eigentliche  Anklage  (§  1 — 200)  sorgfältig  ausge- 
arbeitet ist,  hat  Demosthenes  im  zweiten  Teile  vielleicht  manches 
geändert.  Freilich  verhinderte  ihn  hier  der  Stoff,  eine  strenge 
Disposition  durchzuführen.  Nachdem  er  nämlich  die  ihm 
[fassenden  Einwände  des  Gegners  im  ersten  Teile  schon  abge- 
fertigt und  sogar  geschickt  zu  seinen  Gunsten  gedreht  hatte, 
stand  er  nun  vor  der  Notwendigkeit,  die  gewichtigen  Bedenken, 
welche  jeder  Unbefangene  hegen  musste,  zu  entkräften.  Nach 
seiner  Gewohnheit  half  er  sich  aus  der  Verlegenheit,  indem  er 
die  Punkte  nach  seinem  Beheben  gruppierte  und  sie  init 
sentimentalen  und  leidenschaftlichen  Reflexionen  verflocht^). 
Weil  das  Hauptgewicht  auf  der  tendenziösen  Erzählung  der 
Vorgänge  ruht,  erreicht  die  Rede  an  Pathos  die  Midiäna  nicht, 
sondern  gehört  der  gemischten  Stilgattung  an ;  sie  genoss  eines 
bedeutenden  Rufes  ^). 


1)  Weil  liest  §  119  mit  T6ji.oXoYec. 

2)  Seit  Taylor  nehmen  die  meisten  an,  dass  Demosthenes  die  Rede 
nicht  vollendet  habe;  Interpolationen  glauben  O.  Haupt  Jahrbb.  f.  Phil. 
83,  600  flf.  und  Fr.  Franke  prolegomena  in  Demosthenis  orationem  de  fiüsa 
legatione,  Meissen  1846  zu  finden,  Umstellungen  versuchen  Dahms  Jahrbb. 
f.  Phil.  91,  129  fi".  und  Kömheld  Jahrbb.  f.  PhU.  107,  729  flf.  Beide  Mittel 
verwenden  L.  Spengel  Rhein.  Mus.  16,  552  ff.,  Vömel,  W.  Nitsche  de 
traiciendis  partibus  in  Demosthenis  oratt.  Berlin  1863  p.  1 — 66;  Rud.  Busse 
de  duplici  recensione  orationis  Demosthenicae  quae  est  de  falsa  legatione 
Berlin  1880  nimmt  die  Kompilation  von  zwei  Entwürfen  an,  zu  deren  zweitem 
§  1.  134—49.  182—91.  332—40  gehören  soll.  Für  die  überlieferte  Ordnung 
sprechen  Schäfer  III  B  66ff.,  Blass  S.  318f.,  Paul  Sander  zur  XIX. 
Rede  des  Demosthenes,  Stralsund  1884,  C.  Kromayer  de  dispositione  qua 
Demosthenes  in  oratione  Tiepl  napaiipeoßeiat:  usus  sit,  Stralsund  1863.  §  201 
hat  S  eine  Notiz  des  Korrektors  am  Rande,  dass  dort  in  der  verglichenen 
Handschrift  etwas  fehlte. 

3)  Cicero  orator  31,  111.  Philostr.  vit.  soph.  1,  7, 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur,  n.  14 


210  Siebentes  Kapitel. 

Die  letzte  wirklich  demosthenische  Rede,  die  wir  überhaupt 
besitzen,  ist  zugleich  sein  berühmtestes  Werk,  weil  er  darin 
seine  ganze  Beredsamkeit  auf  die  imposante  Schilderung  seiner 
politischen  Thätigkeit  koncentriert.  Es  handelte  sich  ja  nicht 
um  einen  einfachen  Kranz,  sondern  um  die  führende  Stellung 
des  Demosthenes;  denn  Aischines  benützte  den  Antrag  des 
Ktesiphon,  um  ein  Misstrauensvotum  gegen  den  mächtigen 
Staatsmann  zu  erwirken.  Die  sachliche  Bedeutung  der  Kranz- 
rede (XVIII.)  ^)  liegt  in  dem  poHtischen  Teile,  weil  die  juri- 
stische Verteidigung  so  schwach  ist,  dass  ihr  Demosthenes  eine 
geschützte  Stellung  in  der  Mitte  angewiesen  hat^).  Vielleicht 
fiel  dieser  Teil  bei  der  wirklichen  Verhandlung  Ktesiphon  zu  % 
was  Demosthenes  um  der  künstlerischen  Einheit  willen  bei  der 
Herausgabe  ignorierte.  Es  ist  Demosthenes  in  der  That  ge- 
lungen, ein  glänzendes,  doch  freilich  sehr  idealisiertes  Bild  seiner 
Politik  zu  entwerfen ;  aber  einen  unerfreulichen  Eindruck  machen 
die  gehässigen  Schmähungen  gegen  Aischines,  dessen  Eltern 
der  Redner  so  misshandelte,  dass  der  Obelos  der  Grammatiker 
eingreifen  musste*).  Diese  Polemik  erscheint  noch  unschöner, 
wenn  man  denkt,  dass  Demosthenes  solches  wagte,  weil  er  das 
letzte  Wort  hatte  und  dem  Gegner  die  Widerlegung  nicht 
möglich  war.  Wie  es  ohnehin  selbstverständlich  ist,  berück- 
sichtigte Demosthenes  die  vor  Gericht  gehaltene  Anklagerede 
des  Aischines,    bevor  er  seine  Verteidigung  herausgab^).     Den 


1)  Der  alte  Titel,  den  Harpokration  mit  anderen  ausschliesslich  hat, 
ist  bnip  Kx7)0t(pü)VT0<; ;  weniger  häufig  ist  nepl  (6ir^p)  toü  ctstpdtvou,  das  auch 
in  S  steht.     Die  meisten  Handschriften  enthalten  beides  zusammen. 

2)  Das  bemerkten  die  Alten  wohl  (Spengel  rhet.  I  462,  11.  Walz  rhet. 
VI  36.  Argum.  or.  I.  II.  und  Schollen  zu  §  110.  113.  126.  Quintilian.  7,  1,2). 
Strenge  Kritik  übt  L.  Spengel  Demosthenes'  Verteidigung  des  Ktesiphon, 
Abhandl.  der  bayer.  Akad.  X  27  flF. 

3)  Die  Widerlegung  eines  juristischen  Einwandes  Aeschin.  3,  13  flf.  hat 
bei  Demosthenes  kein  Gegenstück;  vgl.  auch  §  16. 

4)  Hermog.  n.  18.  2,  3  p.  353. 

6)  Schäfer  IH  B  72  ff.  Kirchhoff  Abhandlungen  der  Berliner  Akad. 
1876  S.  69  flf.  (vgl.  R.  Nadrowski  de  genuina  Demosthenis  pro  corona 
orationis  forma,  Thorn  1880)  denkt  die  Rede  aus  zwei  Entwürfen  kompiliert, 
was  schon  Taylor  in  seinen  Noten  p.  78  ff.  ed.  Harles  und  G.  Fr.  Seiler 
Demosthenes  für   die  Krone,  Coburg  1768  S.  161  annahmen;   die  Hyjwthese 


I 


Demosthenes.  211 

Scharfsinn  und  die  Beweglichkeit  des  nie  verlegenen  Redners 
rauss  jeder  bewundern,  auch  wer  ihm  nicht  Glauben  schenkt; 
weiss  er  doch  sogar  das  Selbstlob,  welches  die  Sache  notwendig 
macht,  so  zu  wenden,  dass  sich  das  Volk  dabei  geschmeichelt 
fühlte.  Die  Rede  ist  trotz  ihres  grossen  Umfanges  lichtvoll  und 
symmetrisch  angelegt,  die  Gedanken,  wenn  sie  wiederkehren, 
immer  neu  gewendet  und  der  Redner  hält  durch  den  häufigen 
Wechsel  des  Tones  die  Ermüdung  fern.  Das  Ganze  aber 
wird  durch  das  stolze  Gefühl,  das  Beste  des  Vaterlandes  gewollt 
7A1  haben  und  nur  der  Gewalt  unterlegen  zu  sein,  verklärt;  die 
Alten  haben  deshalb  dieses  Werk  mit  Recht  für  das  gewaltigste 
des|  Demosthenes  erachtet '')  und  der  Anklage  des  Aischines 
weitaus  vorgezogen  ^).  Eine  bekannte  Anekdote  entspricht  diesem 
Verhältnisse:  Aischines  las  den  Rhodiern  jene  vor  und  sagte,  als 
sie  ihn  bewunderten :  „Wenn  ihr  erst  Demosthenes  gehört 
hättet  1"  % 

Von  diesem  Kunstwerke  müssen  wir  zu  Parasiten  herab- 
steigen, welche  auch  von  dieser  Klasse  der  demosthenischen 
Reden  nicht  ganz  fern  blieben.  Dass  Lykurgos  den  Demagogen 
Aristogeiton  belangte,  steht  durch  die  erhaltenen  Fragmente 
der  Rede  fest;  nun  finden  sich  unter  den  öffentlichen  Reden 
des  Demosthenes  zwei  gegen  Aristogeiton  (XXV.  XXVI.), 
welche  beide  Deuterologien  zu  der  Anklage  sein  wollen.  Die 
erste  Rede  deutet  zwar  durch  nichts  an,  dass  sie  von  Demo- 
sthenes sei,  im  Gegenteil  spricht  der  ganze  Stil  und  ein  eigen- 
tümlicher theologischer  Beigeschmack,  gegen  die  gewöhnliche 
Ueberlieferung  ^),    andererseits  ist  sie  schwerlich  gefälscht,   weil 


ist  -widerlegt  durch   Blass   S.  375  f.  und   H.  Weil  Annuaire  pour  l'encour. 
des  etudes  gr.  10,  170  flf. 

1)  Dionys.  compos.  25.  Cic.  orator  8,  26.  28,  133.  Die  Rhetorik  der 
Kranzrede  ist  vortrefflich  gewürdigt  von  W.  Fox  die  Kranzrede  des  Demo- 
sthenes, Leipzig  1880. 

2)  Ps.  Plut.  Aeschin.  840  d.  Philostr.  vit.  soph.  1,  18,  4.  Schol.  Aeschin. 
2,  1,  verallgemeinert  Phot.  bibl.  61  p.  20  a  26  flf.;  Cicero  de  or.  3,  56,  213 
fügte  de  suo  bei,  er  habe  ihnen  auch  die  demosthenische  Eede  vorgetragen 
und  mehrere  Römer  schrieben  ihm  dies  nach. 

3)  Unter  den  Alten  verwarfen  sie  einige  (Schol.  Hermog.  VIT  1045,  29), 
darunter  Dionysios  (c.  57),  bekämpft  bei  Photios  bibl.  265  p.  491  a  29  ff.  Man 
erklärte  die  Abweichungen  des  Stiles  dadurch,  dass  Demosthenes  seinen  Vor- 
gänger Lykurgos  nachgeahmt  haben  soll  (Schol.  Hermog.  Walz  VIl  1044,  16). 

14* 


212  Siebentes  Kapitel, 

wir  keineswegs  eine  inhaltsleere  Deklamation,  sondern  bestimmte 
individuelle  Angaben  lesen*);  dass  deren  nicht  mehr  sind, 
bringt  der  Charakter  der  Deuterologien  mit  sich.  Wie  Deinarchos 
und  wohl  die  meisten  Redner  der  Zeit  Alexanders,  in  welche 
die  Rede  fällt  ^,  schhesst  sich  der  Verfasser  an  Demosthenes  an, 
von  dem  er  ausser  manchen  Stellen  das  Prinzip  des  Rhythmus 
und  der  Hiatusbehandlung  entlehnt^).  Jenen  Epigonen  weist 
ihn  auch    das  Poetische   und  Manierierte   seiner  Spräche  zu*). 

Dieser  Rede  läuft  eine  zweite  parallel,  welche  alle  Kritiker 
des  Altertums  verwarfen ;  denn  sie  ist  nichts  weiter  als  eine 
denselben  Gegenstand  behandelnde  Deklamation ,  die  weder 
nach  Inhalt  noch  nach  Form  Wert  hat.  Da  der  Stil  des 
Demosthenes  nicht  nachgeahmt  ist,  hat  der  Verfasser  an  eine 
Fälschung  nicht  gedacht^). 

Neben  jenen  grossen  prunkvollen  Reden  stehen  die  unschein- 
baren Arbeiten,  durch  welche  Demosthenes  seinen  Ruf  zuerst 
gründete  und  sein  Talent  ausbildete ;  ich  meine  die  Privat- 
r  e  d  e  n  **). 


Es  werden  Dike,  Orpheus  u.  dgl.  erwähnt  (§  10  f.  35.  37.  52  f.  77—79).  Vgl. 
Westermann  quaest.  Demosthen.  III  94  ff.  u.  de  litibus  qua.s  Demosthenes 
oravit  ipse  p.  61  ff.,  Schäfer  III  B  113  ff.,  Blass  S.  360ff.,  Reinh.  Braun 
de  duabus  adversus  Aristogitonem  orationibus  quas  Demosthenes  scripsisse 
fertur,  Greifswald  1873.  Gegen  H.  Weil  Revue  de  philol,  n.  s.  6,  1  ff.  s,  J.  Herrn. 
Lipsius  Leipziger  Studien  6,  317  ff.  Hugo  Stier  de  scriptore  prioris  adversus 
Aristogitonem  oratiouis  quae  Demosthenis  esse  fertur,  Halle  1884. 

1)  Möglich  wäre  es  freilich,  dass  ein  Fälscher  die  lykurgische  Rede 
benützte. 

2)  Dinarch.  2,  13. 

3)  Schäfer  S.  122,  2.  Blass  S.  362,  6. 

4)  Der  Umstand,  dass  der  Eingang  dem  der  Rede  für  Exixenippos  gleicht, 
beweist  nicht  die  Autorschaft  des  Hypereides,  an  den  Reiske  und  Co  bat 
miscell.  crit.  1876  p.  669  ff.  dachten. 

6)  Eine  vermeintliche  dritte  Deklamation  entfernt  U.  v,  Wilamowitz 
Index  sohol.  Gryphisw.  hib.  1879  p.  10. 

6)  Albert  Desj ardin 8  les  phiidoyers  de  Demosthene,  Paris  1862;  Victor 
Cucheval  6tude  sur  les  tribunaux  atheniens  et  les  plaidoyers  civils  de 
Demosthene,  Paris  1803;  Les  plaidoyers  civils  traduits  en  fran9ais  avec  arguments 
et  notcs,  par  Rod.  Dareste,  Paris  1876  2  Bde.;  R.  Duncker  inter  privatarum 
causarum  orationes  Demosthenicas  quae  pro  genuinls  habendae  sint  quaeque 
pro  falsis  I.  Berlin  1877  (Pr.  v.  Greiffenberg) ;  Imm.  Herrmann  einleitende 
Bemerkungen  zu  Demosthenes'  paragraphischen  Reden,  Erfurt  1863. 


Demosthenes.  213 

Wir  haben  gesehen,  dass  Demosthenes  gegen  seine  Vor- 
münder gerichtheh  einschreiten  musste ;  derartige  Fälle  dürften 
in  Athen  sehr  oft  vorgekommen  sein,  ohne  dass  sich  der  Kläger 
bemüssigt  fülilte,  die  gehaltene  Rede  herauszugeben.  Da  jedoch 
Demosthenes,  wie  es  scheint,  von  Anfang  an  über  sein  Ziel 
und  die  dahin  führenden  Wege  im'  klaren  war,  können  wir 
seine  rednerische  Laufbahn  von  Anfang  an  verfolgen.  Es  sind 
im  ganzen  fünf  Vorm  undschafts reden  (XXVII. — XXX I) 
überliefert,  von  denen  die  beiden  ersten  die  Schuld  des  Vor- 
munds Aphobos  nachweisen;  die  dritte  verteidigt  gegen  ihn  die 
Glaubwürdigkeit  des  Zeugen  Phanos  und  die  beiden  übrigen 
sind  gegen  Onetor  gerichtet,  welchen  Demosthenes  beschuldigt, 
er  habe  sich  ein  Gut  des  Aphobos  zum  Schein  abtreten  lassen, 
um  den  Kläger  zu  schädigen.  Da  die  Reden  einen  hohen 
Grad  von  Fertigkeit  aufweisen,  hielten  es  viele  der  Alten  für 
unmöglich,  dass  ein  neunzehnjähriger  Jüngling  die  Reden  selb- 
ständig verfasst  habe;  nach  den  einen  rührten  sie  gänzHch 
von  Isaios  her^),  nach  den  anderen  unterzog  sie  dieser  wenig- 
stens einer  Ueberarbeitung  ^). 

Die  zwei  Reden  gegen  Aphobos  fallen  Ol.  104,  1  (364/3)^) 
Sie  zeigen  noch  den  Anfänger,  freilich  einen  Demosthenes  als 
Anfänger;  er  bekundet  bereits  eine  seltene  Begabung  für 
gerichtliche  Dialektik^)  und  eine  grosse  Belesenheit  in  den  Ge- 
meinplätzen der  Gerichtsreden.  Letztere  drängen  sich  vielleicht 
etwas  zu  stark  vor  und  beeinträchtigen  die  Freiheit  der  Be- 
wegung.    Der  Stil  im  allgemeinen  hat  etwas  gebundenes,    wie 


1)  T'.vec  bei  Ps.  Plut.  Isae.  839  f.  Libaa.  Z.  48  ff,  Argum.  or.  II  inOnet. 
Zosim.  Z.  43. 

2)  Liban.  a.  O. 

3)  Die  Flottenrüstung,  bei  welcher  Demosthenes  zur  Uebernahme  einer 
Trierarchie  genötigt  wurde  (Ditte  nberger  über  den  Vermögenstausch  und 
die  Trierarchie  des  Demosthenes,  Rudolstadt  1872),  fand  wohl  wegen  des 
Auslaufens  einer  thebanischen  Flotte  (364)  statt. 

4)  Ueber  den  heikein  Punkt,  dass  er  trotz  seiner  angeblichen  Mittel- 
losigkeit die  Trierarchie . bestreiten  konnte,  gleitet  er  geschickt  hinüber;  der 
Kedner  übersieht  ferner  nicht,  bei  den  Eechnungen  zehn  volle  Jahre  in  An- 
schlag zu  bringen.  Ueber  die  Eechnung  Vömel  Rhein.  Mus.  3,  434  ff. 
Bürmann  Jahrbb.  f.  Phil.  111,  801  ff.  Zu  beiden  Reden  Rieh.  Förster 
Jahrbb.  f.  Phil.  109,  345  ff.  706;  auch  A.  Westermann  quaestt.  Demosth,3,  5ff, 


214  Siebentes  Kapitel. 

der  einzolne  Ausdruck;  dieser  ist  jedoch  treffend  und  verrät 
bereits  Vorliebe  für  Kraftausdrücke.  Aber  Volkstümliches  fehlt 
fast  ganz  ^),  ebenso  Beschwörungen  der  Götter. 

Aphobos  wurde  wirküch  verurteilt;  aber  es  gelang  Demo- 
sthenes  nicht,  das  ganze  Vermögen  des  untreuen  Vormunds 
mit  Beschlag  zu  belegen,  denn  Onetor,  der  seine  Schwester  an 
Aphobos  verheiratet  hatte,  forderte,  als  sie  sich  von  ihm  trennte, 
den  Ersatz  der  Mitgift.  Demosthenes  hielt  daher  Ol.  104,  3 
(362)^)  die  beiden  Reden  gegen  Onetor^).  In  der  Hauptrede 
will  er  beweisen,  dass  weder  die  Mitgift  ausbezahlt  wurde  noch 
die  Scheidung  wirklich  stattfand.  Die  Deuterologie  erweckt 
keinen  guten  Eindruck,  weil  der  Redner  jetzt  plötzlich  ein 
wichtiges  Moment,  das  er  zu  Anfang  anführen  musste,  vor- 
bringt; im  Uebrigen  kommt  er  über  Allgemeinheiten  nicht 
hinaus,  so  dass  Onetor  offenbar  mit  der  Behauptung,  die 
Scheidung  sei  vor  dem  Prozesse  des  Aphobos  vollzogen  worden, 
Recht  hatte.  Schon  in  der  ersten  Rede  hatte  ja  Demosthenes 
(30,  17)  keine  genaueren  Angaben  über  die  Zeit  gemacht,  ob- 
gleich alles  darauf  ankommt.  Diese  beiden  Reden  gleichen  in 
vielem  den  früheren;  vielleicht  ist  eine  geringere  Knappheit  des 
Ausdrucks  zu  konstatieren.  Auch  darin  ähneln  sich  die  Jugend- 
reden, dass  der  Redner  überall  sorgsam  und  schulgerecht  die 
Uebergänge  markiert,  indem  er  das  vorhergehende  rekapituliert 
und  die   neuen  Punkte  ausdrücklich  ankündigt. 

Wie  besonders  die  bedeutungsvollste  Epoche  in  Demosthenes' 
politischem  Leben  zu  Deklamationen  anregte,  so  hat  auch  sein 
wichtigster  Prozess  die  Rhetoren  am  meisten  angezogen,  i  Aus 
diesem  Grunde  entstand  eine  fünfte  Rede  bzep  $ävoo  izpbz 
"A'foßov  «|)eoSo|iapTopiü)v  (XXIX.)  ^),  welche  von  folgenden 
Annahmen  ausgeht:  Aphobos  verlangte  bei  jenem  Prozesse  von 
Demosthenes    Milyas   zur   Folterung,    dieser   verweigerte   aber, 


1)  27,  66  xfiv  eirc8pa|j.eiv. 

2)  XXX.  15.  38. 

3)  Böckh  Staatshaush.  II'  417  hielt  sie  für  unecht,  wohl  weil  sie  der 
Rede  für  Pbanos  widersprechen. 

4)  Kich.  Förster  Jahrbh.  f.  Phil.  109,  357 ff.;  Sigfr.  Schaffuer  de 
tertia  adversus  Aphobum  oraliore  vulgo  Demosthenis  nomini  addicta,  Leipzig 
1876,  Bürmann  Jahrbb.  f.  Fhüol.  115,  585  flf. 


Demostbene«.  215 

weil  sein  sterbender  Vater  jenen  Sklaven  freigelassen  habe,  die 
Auslieferung,  wobei  er  sich  auf  das  Zeugnis  des  Phanos  stützte. 
Nach  der  Verurteilung  soll  nun  Aphobos  den  letzten  wegen 
falschen  Zeugnisses  angekliagt  haben.  Von  dieser  Frage  wissen 
aber  die  Reden  gegen  Aphobos  nichts,  im  Gegenteil  scheint 
die  Freiheit  des  Milyas  nicht  angefochten  (27,  19).  Ueber- 
haupt  harmoniert  die  Rede  mit  der  echten  Anklage  des  Aphobos 
nicht  ^)  und  die  Reden  gegen  Onetor  wissen  nichts  davon,  dass 
Aphobos  nach  Megara  verzog  (§  3);  ist  übrigens  Aphobos  bei 
der  Verhandlung  anwesend  oder  nicht  ?  Man  vermisst  sehr  die 
klare  Disposition  der  echten  Reden  und  hört  zwar  viel  von 
dem  früheren  Prozess,  aber  sehr  wenig  von  der  eigentlichen 
Sache,  um  die  es  sich  angeblich  handelt.  Der  Verfasser  hat 
jedoch  den  demosthenischen  Stil  gründlich  studiert,  freilich 
mehr  in  den  Staatsreden,  deren  Pathos  er  etwas  manieriert 
wiedergibt;  natürlich  ruft  er  mehrmals  die  Götter  an  und  ge- 
braucht übertrieben  vulgäre  Ausdrücke  ^).  Es  dürfte  daher 
kaum  einem  Zweifel  unterliegen  ,  dass  die  Rede  unecht  ^) 
und  etwa  derselben  Richtung  wie  die  vierte  Philippika  ent- 
sprungen ist. 

Der  glückliche  Erfolg  des  Vormundschaftsprozesses  bahnte 
Demosthenesden  Weg  zur  Advokatur,  welche  ihn  wieder  bereicherte ; 
er  gab  nach  dem  Vorgange  der  Aelteren  die  von  ihm  verfassten 
Reden  heraus,  indes  ist  es  klar,  dass  die  vorhandene  Sammlung 
viel  fremdes  Gut  enthält.  Die  Vormundschaftsreden  und  die 
oben  besprochenen  Reden  für  Staatsprozesse  abgerechnet,  ent- 
hält unsere  Sammlung  achtundzwanzig  Reden,  die  wir  für 
Werke  des  Demosthenes  ansehen  sollen.  Von  jenen  Reden 
trägt  aber  ohne  Zweifel  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl  den 
Namen  des  berühmten  Redners  mit  Unrecht.  Bei  der  Beur- 
teilung der  Echtheit  soll  wieder  dasselbe  Verfahren  wie  bei 
Lysias  eingeschlagen  werden. 


1)  §  16.  18.  34  ff.  58.  Der  Verfasser  bezeiclinet  §  56  Demon  als 
oovenitpoTCO«;. 

2)  Kav  lTcc8pa|j.eIv  48  ist  aus  27,  56. 

3)  Westermann  quaestiones  Demosth.  III  10  f.,  Schäfer  III  B 
82  ff.  mit  Zustimmung,  von  Sauppe  und  anderen,  verteidigt  von  D  a  r  e  s  t  e 
plaidoyers  civils  I  44  f.  66  ff.  Blass  S.  205  ff.  S.  Eei  chenbe  rge  r  Demo- 
sthenis  tertiam    contra  Aphobum   orationem  esse  genuinam,    Würzburg  1881. 


216  Siebentes  Kapitel. 

Da  es  sich  doch  wohl  von  selbst  versteht,  dass  Demosthenes 
vor  der  Abwicklung  seines  Prozesses  keine  Reden  schrieb, 
können  drei  im  Namen  des  bekannten  Apollodoros  verfasste 
Anklagen  ^)  nicht  von  ihm  herrühren  :  Die  Rede  gegen  Kallippos 
(LH.)  ^)  gehört  zu  den  Prozessen,  welche  Apollodoros  bald  nach 
dem  Tode  seines  Ol.  102,  3  (370)  gestorbenen  Vaters,  also  369 
oder  368  ^),  gegen  dessen  Schuldner  anhängig  machte.  Nicht 
viel  später  föllt  die  Rede  gegen  Nik  OS  trat  OS  (LUX.  ;rspi  avSpa- 
^dSwv  a7roYpa<p'^c:  'A  ps^oDatou)  *),  welche  in  den  Jahren  nach  368 
gehalten  wurde  ^).  Einige  Zeit  nachher,  wahrscheinlich  im 
Sommer  362  (Anfang  Ol.  104,  3),  sprach  Apollodoros  gegen 
den  Feldherrn  Timotheos  (XLIX.   oTcsp  )(ps(o?)  ^), 


1)  Vgl.  über  die  für  Apollodoros  geschriebenen  Eeden  im  allgemeinen: 
Imm.  Herr  mann  de  tempore  quo  oratioues  quae  feruntur  Demosthenis  pro 
Apollodoro  et  Phormione  scriptae  sint,  Erfurt  1842;  W.  Hornbostel  über 
die  von  Demosthenes  in  Sachen  des  Apollodor  verfassteu  Gerichtsreden,  Ratzeburg 
1851;  Fr.  Lortzing  de  orationibus  quas  Demosthenes  pro  Apollodoro 
scripsisse  fertur,  Berlin  1863;  Job.  Sigg  der  Verfasser  neun  augeblich  von 
Demosthenes  für  Apollodor  geschriebener  Reden,  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl. 
6,  397  ff. 

2)  Schäfer  III  B  134  flf.,  B  1  a  s  s  455  ff.,  D  a  r  e  s  t  e  Annuaire  pour 
l'eucour.  des  etud.  gr.  8,  75  ff. 

3)  So  Schäfer,  Sigg  (S.  402  f.)  und  Blass  gegen  Lortzing  p.  7,  weil  §  15 
und  32  "fjjjLä?,  4]|jl(I>v,  4][xIv  und  §  29  •fjjj.sTepoo  steht.  Also  war  die  Erbteilung 
noch  nicht  erfolgt  (§  17  beweist  nichts).  Clinton  fasti  Hell.  II  app.  20 
und  J.  Herr  mann  S.  16  f.  nehmen,  um  die  Echtheit  nicht  preisgeben  zu 
müssen,  Ol.  104,  1  resp.  105,  1—106,  2  (355—50)  an. 

4)  Schäfer  HI  B  143  ff.  Blass  S,  459  ö.;  bei  Harpokration  lautet 
der  Tit«l  itepl  x&v  'ApeO-oooiou  av8pan68(uv  (v.  ajtoYpacp-J]  und  nepiatotj^oi).  An 
der  ersten  Stelle  bezweifelt  er  die  Echtheit. 

5)  Der  Prozess  fand  nach  der  sicilischen  Trierarchie  des  Apollodoros, 
welche  er  einer  Inschrift  zufolge  (Kirch  ho  ff  Philol.  12,  671  ff.,  vgl.  dazu 
Sigg  a.  O.  S.  404)  368  leisten  musste.  Sigg  S.  403  f.  denkt  an  866,  Blass 
S.  461  an  365,  Unhaltbar  sind  die  Ansätze  von  Droysen  Ztsch.  f.  Alter- 
thumswiss.  1839  Sp.  939  f.  (Ol.  107,  1)  und  Böhnecke  Forschungen  I  675 
(Ol.  107,  2). 

6)  Schäferin  B  137  ff.  Blass  S.  463  ff.;  Rehdantz  vita  Iphicratis 
p.  196  f.  nahm  Ol.  105  an.  Harpokration  v.  eveirtaxY]|i.fjia  citiert  xaia  TtjioO-eou; 
V.  xaxoxexviÄv  erklärt  er  sie  für  zweifelhaft,  ebenso  vielleicht  Plutarch  c.  15. 
Vgl.  F.  C.  Rumpf  de  oratione  adv.  Timotheura  imp.  quae  a  Demosthene 
scripta  esse  fertur,  Giessen  1821.  Ueber  das  Juristische  Philip  pi  Jahrbb. 
f.  PhU.  93,  611  ff. 


Demosthenes.  217 

Sind  diese  Reden  vor  Demosthenes'  Auftreten  entstanden, 
so  gehören  andererseits  mehrere  einer  so  späten  Zeit  an,  dass 
sie  von  dem  Redner  nicht  mehr  verfasst  sein  können;  denn 
als  er  unbestritten  an  der  Spitze  des  Staates  stand,  hütete  er 
sich  ohne  Zweifel,  durch  Fortfülu'ung  der  Praxis  seinem  Rufe 
zu  schaden.  So  ist  denn  der  demosthenische  Ursprung  bei 
drei  Reden,  welche  in  die  Jahre  des  latenten  Krieges  fallen, 
zweifelhaft:  Die  eine  (XL VIII.)  hielt  Kallistratos  gegen  Olympi- 
odoros  wegen  Schädigung  (ßXdßyjc)  etwa  Ol.  109,  3  (341)^);  die 
Sache,  welche  er  führt,  ist  so  schlecht,  dass  der  Verfasser  sich 
geschämt  haben  mag,  seinen  Namen  der  Rede  vorzusetzen,  aber 
die  Alten  trauten  sie  Demostlienes  zu.  Sie  hätten  übrigens 
auch  an  dem  Stil  die  Unechtheit  erkennen  können,  weil  Demo- 
sthenes nie  so  breit  und  schleppend  schrieb,  noch  sich  so  oft 
wiederholte  ^). 

Viele  müssen  auch,  wenn  sie  nicht  ganz  gedankenlos  waren, 
geglaubt  haben ,  dass  Demosthenes  für  Geld  nicht  einmal  sich 
selbst  schone;  denn  die  Anklage  des  Theokrines  (svSsi^tc 
xaxa  öcoxptvooc  LVIIl.)^)  enthält  einen  bitteren  Ausfall  gegen 
den  Staatsmann  (§  42).  Das  Jahr  der  Abfassung  liegt  jeden- 
falls Ol.  109,  1  (344/3)  näher  als  der  Schlacht  bei  Chaironeia*). 
Zwischen  343  und  339  hielt  Apollodoros  die  Rede  gegen 
Neaira  (Ypafpvj,  LIX.),  welche  die  Eigentümlichkeit  hat,  dass 
der  nominelle  Kläger  Theomnestos  bloss  die  Einleitung  spricht 
und  sodann  seinem  Schwager  das  Wort  übergibt  ^). 


1)  Schäfer  III  B  236  flf.  Blass  S.  497  ff.,  vgl.  §  28. 

2)  Schäfer  S.  240.  Er  vermutet  wegen  der  Aehulichkeit  mancher  Wen- 
dungen, dass  derselbe  Advokat  die  Keden  gegen  Makartatos  verfasste. 

3)  Schäfer  III  B  266  flf.  Blass  S,  439  flt.  Wilh.  Rohdewald  über 
die  psendodemostheuische  Rede  gegen  Theokrines,  Burgsteinfurt  1878.  Die 
Rede  gehört  wie  die  Anklage  Neairas  nicht  zu  den  eigentlichen  Privatreden. 
Dionysios  und  Andere  (Harpocr.  v.  a-(pa^[oo,  wo  A7]p.oo^£v*f)C  eTte  xal  Ast- 
vap^o?  zu  schreiben  ist,  und  Gsoxpivf]?,  Liban.  argum.)  bestritten  die  Echtheit. 

4)  Vgl.  §  28.  Schäfer  bezieht  §  35  ff.  auf  342.  W.  Rohdewald  über 
die  pseudodemosthenische  Rede  gegen  Theokrines,  Burgsteiufurt  1878  S.  29  ff. 
entscheidet  sich  für  das  Jahr  343 ;  S.  33  ff.  v?eist  er  aus  der  Sprache  nach, 
dass  Dionysios  die  Rede  ohne  Grund  Deinarchos  beilegte.  Die  Veranlassung 
zu  dieser  Hypothese  lag  offenbar  in  jenem  Ausfalle  gegen  Demosthenes. 

4)  Schäfer  III  B  179  ff.  Blass  S.  476  ff.  W.  Fittbogen  orationis 
contra   Neaeram  Demosthenes  non  est  auctor,  AUg.  Schulzeitang  1831  II  S. 


218  Siebentes  Kapitel. 

Eitle  Gruppe  von  fünf  Reden  fällt  sogar  in  die  Zeit 
Alexanders:  die  Rede  gegen  Zeuothemis  (TrapaYpatpYj  XXXII.)^) 
bot  einen  äusseren  Anlass,  um  mit  dem  Namen  des  berühmten 
Mannes  geehrt  zu  werden.  Der  Sprecher  ist  nämlich  Demon, 
ein  Verwandter  des  Demosthenes,  welcher  den  Verdacht,  dass 
ihm  der  gefürchtete  Redner  heimlich  beistehe,  abzuwehren  hat; 
er  erzählt  daher  (§  31  f.),  als  er  seinen  Vetter  um  Fürsprache 
ersuchte,  habe  dieser  erwidert,  dass  er  seit  dem  Beginne  seiner 
politischen  Thätigkeit  sich  nicht  mehr  mit  Privatprozessen 
abgäbe.  Wenn  es  auch  möglich  wäre,  dass  Demosthenes  einen 
Verwandten  ausnahmsweise  unterstützte,  so  zeigt  doch  sowohl 
die  Beschaffenheit  der  Rede,  dass,  mag  auch  Demosthenes  seinen 
Rat  jenem  nicht  vorenthalten  haben,  Demon  die  Wahrheit 
sprach,  als  auch  konnte  dieser,  der  selbst  zu  den  Volksrednern 
gehörte,  einer  fremden  Beihilfe  entraten.  Die  Zeit  der  Anklage 
kann  ungefa,hr  bestimmt  werden,  weil  der  Name  Demons  vor 
Alexanders  Regierung  nicht  vorkommt.  Der  Schluss  der  Rede 
ist  verloren  gegangen. 

Nach  der  Schlacht  von  Chaironeia  entstand  auch  die  Rede 
gegen  Apaturios  (XXXIH.  zapoL^pafri)'^),  welche  die  Friedens- 
jahre voraussetzte.  Durch  die  grosse  Teuerung,  welche  zwischen 
330  und  326  eintrat  ^),    werden  drei  Reden   mit  Sicherheit   be- 


273  ff.  Im  Jahre  343  kehrte  wahrscheinlich  Xenokleides  nach  Athen  zurück 
§  26),  dagegen  waren  die  Festgelder  noch  nicht  für  den  Krieg  verwendet, 
was  Ende  339  geschah.  Unecht  ist  die  Rede  nach  Dionys.  Dem.  13,  Athen. 
13,  573  b  (vgl.  586  e).  Harpocr.  v.  "^ippa  p.  49,  8,  SYipioTTotYjTo«;,  StE^T"''!'^'^» 
'luKap-^oi;,  Phrynich.  p.  255  L,  Liban.  arg.  (otovtai),  Phot.  bibl.  cod.  265  p. 
492  a  23  (xiviz),  Schol.  Dem.  p.  815,  22  (Trotzdem  hielt  Eeiske  an  der  Echt- 
heit fest). 

5)  Schäfer  IH  B  292  fi.,  Blass  S.  433  flf.  A.  Philipp!  Jahrbb.  f. 
Phil.  95,  577  flf.  Arn.  H  u  g  de  pseudodemosthenica  oratione  adversus  Zeno- 
tbemin,  Pr.  der  Univ.  Zürich  1871. 

1)  §  6,  vgl.  §  9  flf.  mit  Olympiod.  12.  Verworfen  von  Benseier 
de  biatu  p.  126  f.  151  (wegen  der  Nichtachtung  des  Hiatus),  Schäfer  III 
B  297  flf.,  Blass  S.  511  ff.  und  Ernst  Rieh.  Schulze  prolegomena  in  De- 
mosthenis  quae  fertur  oratio  adversus  Apaturium,  Leipzig  1878  (die  Zeit  be- 
stimmt er  auf  339),  verteidigt  von  I.  Herrmann  einleitende  Bem.  zu  Dem. 
paragraphischen  Reden  S.  7  flf. 

2)  Schäfer  III  (A)  268  flf.  U.  Köhler  Mitteil,  des  deutschen  arcbäol. 
Institutes  VIII  211  ff. 


Demosthenes,  219 

stimmt,  gegen  Phormion  (XXXIV.  ;cept  Savsioo)  ^),  von 
dem  Metöken  Chrysippos  gesprochen ,  gegen  Phainippos 
(XLII.  Tuepl  avTtSöaEü)?)^),  in  schwulstigem  Stile  geschrieben,  und 
vvahrscheinUch  auch  die  Anklage  des  Dionysodoros  (LVI. 
xaia  AiovoooSwpoo  ßXaßy]?)^).  Am  Schlüsse  derselben  fordert  der 
Metöke  Dareios  Demosthenes  zur  Synegorie  auf;  da  dies  nach 
dem  obengesagten  für  den  Redner  nicht  passt,  muss  man  es 
auf  einen  anderen  dieses  Namens  beziehen  oder  den  Zusatz  als 
unecht  verwerfen.  An  eine  Uebungsrede  späterer  Zeit  zu  denken, 
hält  die  Beschaffenheit  des  Inhalts  ab*). 

Es  wird  geraten  sein,  die  Zeitgrenze  trotz  jener  Erklärung 
des  Demosthenes  nicht  bis  zu  seinem  ersten  Auftreten  hinauf- 
zuschieben, weil  Aischines  ihm  noch  beim  Gesandtschaftsprozesse 
die  Abfassung  von  Reden  vorwarft).  Es  bleiben  somit  siebzehn 
Reden  übrig,  bei  denen  wenigstens  die  Chronologie  gegen  den 
demosthenischen  Ursprung  nicht  spricht.  Der  Zeit  nach  sind 
sie  folgendermassen  zu  ordnen : 

LI.  über  den  trierarchischen  Kranz  (Trepltoö  crrs^avoo 
ffl<;  TpiTjpap/ta?) *^),  bald  nach  361  vor  dem  Rate  gehalten''); 
L.  gegen  Polykles  (;rspi  toö  £jrtrptY]pap)(if]{AaTog) ^)    sprach 


1)  Schäfer  III  B  300  flf.  ßlass  S.  515  ff.  §'38  wird  der  Angriff  auf 
Theben  erwähnt. 

2)  Schäfer  III  B  280  flf.    Blass  S.  446  ff.      Schon  im  Altertume    ver- 
warfen sie  einige,  wie  Libanios  berichtet.    Seit  Markland  ad  Eurip.  suppl . 
V.  380    und  B  ö  ck  h  Staatshansh.  I  60  A.    gibt   man    allgemein   die  Unecht 
heit  zu. 

3)  Schäfer  III  B  307  ff.  (welcher  den  gleichen  Verfasser  für  die  Reden 
gegen  Apaturios  und  Phormion  annimmt),  Blass  S.  520  ff. ;  Sauppe  orat. 
Att.  II  p.  XIV;  Benseier  de  hiatu  p.  143  f.  160  f. 

4)  G.  A.  S  c  h  w  a  r  z  e  de  oratione  xaxa  AtovuooScupoo  inscripta  quae 
inter  Demosthenicas  est  LVI.  Göttingen  1870. 

6)  Z.  B.  in  Timarch.  1,  94. 

6)  Schäfer  III  B  152  ff.  Blass  S.  214  ff.  Libanios  nennt  den  Sprecher 
ohne  Grund  Apollodoros. 

7)  Vgl.  §  8  und  17  (nach  Schäfer  360  oder  359,  nach  Blass  S.  216  359, 
Rehdantz  Jahrbb.  f.  Phil.  70,  505  357;  Kirchoff  Abhandl.  der  Berliner 
Akad.  1865  S.  86  f.  setzt,  weil  der  Redner  meistens  zwei  Gegner  hat,  die 
Rede  nach  der  Einführung  der  Symmorien  an,  ebenso  Sigg  S.  405). 

8)  Schäfer  III  B  147  ff.  Blass  S.  468  ff.  Vgl.  §  3.  61.  Schäfer  und 
Lortzing  p.  11  erklären  §  8  (xoxs  ouxo)  TtoXuxsX-ri  ovxa)  aus  der  Einführung 
der  Symmorien.  Sigg  S.  404  f.  und  ßlass  S.  469  stimmen  für  359  oder  358. 


220  Siebentes  Kapitel. 

Apollodoros  geraume  Zeit,  nachdem  er  Ol.  104,  4  (Februar  360) 
von  seiner  Trierarchie  befreit  war. 

Es  folgt  die  Rede  gegen  Euergos  und  Mnesibulos 
(XLVII.  xaxa  Eds'pyoü  xat  MvTjatßouXou  (j^eoSoixapxDpiwv)^),  wegen 
§  44  nach  Ol.  105,  4  (356)  abgefasst.  Die  Schwäche  der  Aus- 
führung und  die  Dürftigkeit  des  Wortvorrates  gestatten  keinen 
Zweifel  an  der  Unechtheit,  beweist  aber  nicht  zugleich,  dass 
Apollodoros  der  Verfasser  sei  ^). 

Gegen  Apollodoros  trug  Phormion  die  vortreffliche 
XXXVI.  Rede  (xapaYpa^yj)  ^)  Ende  Ol.  107,  3  (349)  vor  ^).  Der 
Prozess  hatte  ein  Nachspiel,  weil  Apollodoros  gegen  Stephan os 
(XLV.  XL  VI.)  Klage  wegen  falschen  Zeugnisses  erhob ;  nach  unseren 
Begriffen  ist  es  allerdings,  gelinde  gesagt,  auffallend,  dass  Demo- 
sthenes  denselben  Mann,  von  welchem  er  ein  abschreckendes 
Bild  entworfen  hatte,  kurz  darauf  unterstützte.  Da  er  jedoch 
jene  karrikierende  Schilderung  gewiss  eben  nur  als  Geschäfts- 
sache behandelte,  so  steht  der  Identität  des  Verfassers  nichts 
im  Wege,  falls  nicht  Apollodoros,  statt  ilass  er  die  Geschickhch- 
keit  des  Advokaten  bewunderte,  die  Sache  persönlich  nahm. 
Ueberdies  scheint  eine  Anspielung  des  Aischines  die  Authenticität 
zu  unterstützen^);  vor  allem  aber  wird  berichtet,  dass  Demo- 
sthenes  von  einem  Zeitgenossen  den  Vorwurf  zu  hören  bekam, 
er  handle  wie  ein  Kaufmann  mit  Freund  und  Feind '^). 


1)  Schäfer  ni  B  193  fif.  (wahrscheinlich  vor  353).  Blass  S.  484  ff. 

2)  Daran  dachten  Reiske,  heide  Schäfer  und  Fittbogen.  Harpokration 
bemerkt  v.  exaXtaxpouv:  'laxöv  8'  soxl  xal  ■zäyj'  äv  stv)  Astvapj^oi;.  xal  outo? 
Yotp  ^Evtxoit;  ovojxaot  •/^pr^za.i,  vgl.  v.  T^tY)|JL£V*rjv, 

3)  Schäfer  III  B  161  ff.  Blass  S.  404  ff.;  W.  Nitsche  de  truiciendis 
partibus  in  Dem.  oratt.  Berlin  1863  p.  95—98  stellt  §  28—32  hinter  62, 

4)  Ueber  20  Jahre  (§  38)  nach  Pasions  Tode,  der  Ol.  102,  3  (370)  er- 
folgte; gegen  Schäfer,  der  §  19  und  37  unrichtig  erklärt,  vgl.  ausser  Bliisa 
Lortziug  p.  15  ff.  Sigg  S.  406  (s.  auch  Beels  diatribe  in  Demosth.  oratt.  I. 
et  II.  in  Steph.,  Lugd.  B.  1825  p.  22).  Es  ist  leicht  möglich,  dass  der  Sprecher 
nicht  wusste  (§63),  dass  Kallippos  Sicilien  bereits  verlassen  habe;  Sigg  S.  408 
athetiert  die  Worte. 

6)  Aesehin.  2,  165.  3,  173,  ebenso  Dinarch.  1,  111. 
6)  Plutarch.  16. 


Demosthenes.  221 

Die  erste  Rede  gegen  Boiotos  (Trspi  toö  ovöfiatoc XXXIX.)*) 
setzt  den  euböischen  Feldzug  von  349/8  (§  16  f.)  voraus ;  gegen 
denselben  Maim ,  welchen  jedoch  der  Kläger  Mantitheos  nach 
dem  unglücklichen  Ausgang  jenes  Prozesses  Mantitheos  nennen 
musste,  ist  einige  Zeit  später  die  Rede  über  die  Mitgift 
(XL.)')  gerichtet. 

Ungefähr  in  dieselbe  Zeit  (nach  §  6  frühestens  346/5)  fällt 
die  Einrede  gegen  Pantainetos  (XXXVI.)  ^),  für  deren  Echt- 
heit der  demosthenische  Rhythmus  spricht. 

Die  Reihe  schliesst  mit  der  Appellation  des  Euxitheos 
gegen  Eubulides  (Ifpsaic  7cpö(-  EußooXiSTjv  LVII.)^),  welche 
Ol.  108,  3  (345),  als  man  die  Bürgerliste  revidierte,  gehalten 
wurde. 

Bei  sieben  Reden  ist  leider  kein  Anhalt  für  die  Zeitbe- 
stimmung aufzufinden.  Die  Rede  gegen  Kono  n  (alxtac  LIV.)^) 
gehörte  nicht  hierher,  wenn  der  Ausmarsch  nach  Panakton  (§  3) 
wirklich  derselbe  wäre^  den  Demosthenes  in  der  Rede  über  die 
Truppengesandtschaft  (§  326)  erwähnt.  In  diesem  Falle  müsste 
die  Anklage  etwa  343  ^)  geschrieben  sein,  wodurch  die  Echtheit 
bedenklich  würde.  Weil  aber  gerade  bei  dieser  Rede  der 
demosthenische  Charakter  unverkennbar  ist,  möchte  man  lieber 
jene  Stelle  auf  einen  früheren  zufällig  nicht  überlieferten  Aus- 
marsch beziehen  '^). 


1)  Schäfer  III  B  211  ff.  Blass  S.  415  ff.  Einige  legten  diese  Rede 
Deinarchos  bei  (Dionys.  Dinarch.  13) ;  Dionysios  setzt  sie  mit  grobem  Irrtum 
Ol,  107,  2  oder  3  (Dinarch.  11.  13)  an. 

2)  Man  nennt  sie  aber  gewöhnlich  ebenfalls  TzpoQ  ßoitotov  (auch  Harpocr. 
V.  AeXcpivtov).     Schäferin  B  211  ff.  Blass  S.  450  ff.  (er  verwirft  die  Rede). 

3)  Schäfer  III  B  200  ff.  Blass  S.  419  ff.;  Gotth.  Krüger  de  oratione 
exceptoria  quam  ferunt  contra  Pantaenetum  scripsisse  Demosthenem,  Halle 
1876  bestreitet  die  Echtheit,  besonders  weil  man  manches  in  den  Reden  gegen 
Nausimachos  und  Phormioii  wieder  findet;  die  Verteidigung  hat  Ad.  Hock 
de  Demosthenis  adversus  Pantaenetum  oratione,  Berlin  1878  übernommen. 

4)  Schäfer  III  B  257  ff.  er  zweifelt  namentlich  wegen  der  Häufigkeit 
der  Sentenzen  die  Echtheit  der  Rede  an);  Blass  427  ff. 

6)  Schäfer  IH  B  247  ff.  Blass  S.  399  fl.  C.Zink  Acta  semin.  Erlang. 
III  p.  75  ff. 

6)  Clinton  fasti  Hell.  II  360  adn.;  Ol.  109,  3  (341)  nach  Wester- 
mann ausgew.  Reden  des  Demosthenes  III. 

7)  Schäfer  a.  O.  S.  261  schlägt  Ol.  106,  1  (356/5)  vor. 


222  Siebentes  Kapitel. 

Die  übrigen  zähle  ich  nach  der  Ordnung  der  Ausgaben  auf: 

XXXV.  Tcpöc  TTjV  AaxpiTOo  TuapaYpafpTjv  ^) ; 
XXXVIII.  jrapaYpatpYj     Tcpöc    Naüot[ia)^ov     xai    Ssvottsi^tjv  ,     im 
Interesse   der  Söhne   des   Aristaichmos   gehalten  ^) ; 
XLI.  TTpöc  XxooSiav  TTspi  Trpotxöc  ^) ; 

XLIII.  jrpöc  MaxdpraTOV  Trspi  toö  'Ayviou  xXTjpou*); 

XLIV.  Tcpöc  As(ö)(dpY]  ^) ; 

XLV.  Tipöc  KaXXtxXsa  ;c£pi  yMpioo  ^). 

Auf  diese  siebzehn  Reden  hat  sich  also  die  Untersuchung 
der  Frage,  wie  viele  Privatreden  von  dem  grossen  Redner  selbst 
herrühfen,  zu  beschränken'');  um  dem  subjektiven  Geschmacke 
mögHchst  wenig  Spielraum  zu  lassen,  seien  hier  einige  allge- 
meine Gesichtspunkte  angedeutet.  Durch  äussere  Zeugnisse 
steht  nichts  weiteres  fest,  als  dass  Demosthenes  sowohl  für 
Phormion  als  für  Apollodoros  schrieb  ^).  Dies  geht  ohne  Zweifel 
auf  die  Reden  für  Phormion  und  gegen  Stephanos  (I.) 

Bei  einer  unabhängigen  Untersuchung  verdient  zunächst 
Demosthenes'  Verhältnis  zum  Hiatus  herangezogen  zu  werden^). 
Da  er  als  praktischer  Redner  nie  Isokrateer  sein  durfte,  sind 
ihm  alle  diejenigen  Reden  abzusprechen,   in  denen  der  Hiatus 


1)  Schäfer  III  B  286  ff.  (welcher  die  Rede  etwa  341,  vor  Ausbrach 
des  Krieges  setzt),  B 1  a  s  s  S.  502  ff.,  v.azä  Aaxpitoy  Harpocr.  v.  8ioire6(uv 
und  MevSf], 

2)  Schäfer  III  B  207  ff.  Blass  S.  423  ff. 

3)  Schäfer  III  B  227  f.  Blass  S.  219  ff.;  xata   SnooSioo  Harpocr.  v. 

4)  Von  A.  Schäfer  III  B  229  ff.,  dem  Blass  S.  489ff.  beistimmt, 
verworfen;  vgl.  W.  Rohrmann  oratio  quae  est  contra  Macartatum  num 
Demosthenis  esse  judicanda  sit,  Göttiugen  1876,  juristisch  Carl  de  B  o  o  r  über 

das  attische  Intestaterbrecht,  Hamburg  1838. 

6)  Von  Sauppe  orat.  Att.  H  p.  XIII,  Schäfer  HI  B  241  ff.,  Blass 
S.  607  ff.  verworfen,  vgl.  Herm.  Schwebsch  de  oratione  quae  oontra  Leo- 
charem  a  Demosthene  scripta  fertur,  Berlin  1878;  L.  Spengel  ist  die  demo- 
sthenische  Rede  n.  A.  vollständig  ?  Rhein.  ,  Mus.  16,  476  ff.  Harpokration 
und  die  Rhetoren  erwähnen  die  Rede  nie. 

6)  Schäfer  IH  B  262  ff. 

7)  Sigg  Jahrbb.  Suppl.  6,  401  A.  3  erkennt  ausser  den  vier  Vormund- 
schaftsreden allein  die  Reden  für  Phormion,  gegen  Konon  und  Eubulides  an. 

8)  S.  S.    186. 

9)  Beuseler  de  hiatu  apud  oratores  Atticos  p.  131  ff.  und  de  hiatu  in 
Demosthenis  oratiouibus,  Freiberg  1848;  vgl.  Schäiers  Urteil  III  B  317. 


Bemosthenes.  223 

ängstlich  vermieden  wird ;  so  beobachtete  der  Fälscher  der  Rede 
gegen  Philipps  Brief  die  Regel  des  Isokrates,  aber  auch  der 
Verfasser  der  Rede  vom  trierarchischen  Kranze  zeigt  sich  in 
diesem  Punkte  als  Schüler  desselben.  Demosthenes  selbst  übte 
in  den  Vormundschaftsreden  den  Grundsatz,  dass  er  in  seinem 
ersten  Versuche  den  Hiatus  zwar  nicht  überwuchern  Hess,  ihn 
jedoch  nur  in  der  mehr  rhetorischen  Deuterologie  erheblich  ein- 
schränkte, sodann  aber  beim  Prozess  gegen  Onetor  auch  in 
der  eigentlichen  Anklage  den  Hiatus  nur  in  geringem  Masse 
zuHess.  Wenn  er  demnach  schon  als  Anfänger  eine  so  feine 
und  doch  nicht  pedantisch  übertriebene  Empfindung  für  den 
Wohlklang  besass,  darf  man  annehmen,  dass  die  Reden,  hi 
welchen  der  Hiatus  ungeregelt  herrscht,  nicht  Demosthenes 
zuzuschreiben  sind,  nämlich  die  Rede  gegen  Apaturios,  ßoiotos 
über  die  Mitgift,  Dionysodoros,  Euergos  und  Mnesibulos,  Kallippos, 
Lakritos,  Leochares,  Makartatos,  Mnesibulos,  Nikostratos, 
Ülympiodoros,  Phainippos,  Phormion,  Polykles,  die  H.  gegen 
Stephanos  und  Timotheos.  Die  übrigen  Reden  dagegen  zeigen 
den  Hiatus  möglichst  eingeschränkt. 

Die  demosthenischen  Reden  bieten  aber  noch  andere 
Anhaltspunkte.  Da  Demosthenes  durch  seine  Exklamationen^) 
ein  gewisses  Aufsehen  erregte,  dürfte  es  geraten  sein,  auch 
diese  beizuziehen.  Demosthenes  selbst  nun  bedient  sich  in  den 
Erivatreden  neben  den  üblichen  Formeln  vyj  ((id)  Ata  oder  [la 
toüc  '6-£0DC,  ^pöc  Atdi:  oder  Trpöc  ■O-swv,  die  er  auch  zu  einem 
Doppelgliede  verbindet,  der  etwas  überschwänglichen  w  y'^  xal 
■ö-Eot  '^)  oder  w  Zsö  xal  d-soi  ^)  und  vtj  töv  Aia  %cd  ■9-soo?  aTiavcac  *), 
Feierliche  Formeln  gebraucht  er  dagegen  nur  in  öffentlichen 
Reden,  wo  der  Ton  höher  gespannt  ist^).     Diese    wohl   durcli- 


1)  Rehdantz  Index  s.  v.  Schwurformeln  (s.  auch  Sigg  Jahrbb.  Suppl 
6,  421),  unvollständig. 

2)  39,  21.  45,  73;  nachgeahmt  34,  29.  40,  5.  55,  28. 

3)  36,  61;  nachgeahmt  32,  23.  43,  68. 

4)  36,  61. 

5)  Ny]  -cov  Ata  xbv  'OX6|X7tiov  24,  121,  o»  npbz  toö  Aioc  9,  15.  14,  12; 
VY]  (fjiä)  X7]v  A-f]|j.YjTpa  3,  32.  19,  262;  fJiä  xvjv  'A^-rjväv  24,  199;  {xä  xouc  Iv 
Mapa^cüvi  npoxtvSüvsüoavxa?  u.  s.  w.  18,  208;  u)  Ttavcec  ■8'eot  6,  37.  9,  76,  a» 
Zeö  19,113,  'HpdxXstc  9,31.  21,66,  u>  Zsö  nal  Ttdvtet;  •8^01  19,  15.  zusammen- 
gesetzt: jid  zobg  ö'EOüs  xal  tag  •ö-edc  19,  67;  vtj  tov  Aia  xal  tov  'AhoXXcu  xal 


224  Siebentes  Kapitel. 

dachte  Abstufung  zerst()reii  die  Zeitgenossen  und  Nachahmer 
des  Demosthenes,  indem  sie  allerlei  pathetische  Varianten  ein- 
führen: [IOC  TÖv  Aia  Tov  [i^YiaTov  (48,  2),  \La.  töv  Ata  xal  töv 
'ATTöXXwva  (50.  13  wie  Isae.  6,  61),  [la  töv  Aia  xal  röv  'AuöXXwva 
xal  TTjv  A7]{j.7]Tpa  52,  9,  [la  töv  Ata  töv  avaxTa  xal  tooc  ^sooc 
aTiavTac-Sö,  40,  v/j  too?  0-souc  xal  Tac  ■O-eag  42,  6  und  Trpöc  xwv 
■ö-swv  xal  8ai[i.öV(ov  42,  17.  Alle  diese  Ausrufe  haben  ein  fast 
pietistisches  Gepräge,  das  für  Demosthenes  nicht  passt*). 

Während  sich  diese  Eigentümlichkeit  auf  den  pathetischen 
Charakter  bezieht,  äussert  sich  in  einer  Aeusserlichkeit  die  unend- 
liche Mannigfaltigkeit  des  Redners.  Beider  Verlesung  von  Urkun- 
den gab  es  zur  Einleitung  gewisse  stereotype  Formeln,  indes  nahm 
sie  Demosthenes  nicht  ohne  weiteres  in  seine  Reden  auf,  sondern 
verlieh  auch  ihnen  eine  mit  dem  Texte  übereinstimmende 
Nuance,  so  dass  sie  die  künstlerische  Einheit  des  Stiles  nicht 
störten.  Nicht  einmal  hierin  ist  ihm  also  die  Wahl  des  Ausdrucks 
gleichgiltig ,  sondern  er  variiert  mit  merkwürdiger  Gewandtheit 
die  trivialen  Formeln,  weshalb  die  Einförmigkeit,  zumal  wenn 
sie  bei  Formeln ,  deren  sich  Demosthenes  selten  bedient, 
auftritt,  ein  unverkennbares  Zeichen  der  Unechtheit  abgibt. 
So  hätte  Demosthenes  in  einer  Rede  nicht  fünfmal  (XXXIJI. 
8.  12.  15.  18.  19)  den  ihm  überhaupt  fremden  Ausdruck  ge- 
braucht „Vernehmt  die  Zeugnisse",  er  hätte  nicht  einmal  an 
drei  Stellen  desselben  Vortrages  gesagt:  ,,ihr  werdet  es  von 
den  Zeugen  erfahren"  (eioeo^e  XL.  15.  44.  52).  Mehrere  schlechte 
Redner  ermüden  in  ähnlicher  Weise  den  Zuhörer  mit  der  An- 
kündigung: „der  Schreiber  wird  vorlesen",  wie  es  in  der  42. 
(10.  32.  51.  61.  66.  67),  50.  (10.  13.  28.  37.  68),  52.  (16.  21.  31), 
53.  (18.  19.  20  zweimal.  21)  und  ähnHch  in  der  48.  (3.  47. 
49.  56.)  Rede  geschieht. 

Diese  Argumente  stimmen  zu  dem  Ergebnisse  überein,  dass 
Demosthenes  ausser  den  vier   Vormundschaftsplaidoyers   keine 


T-zjv  'Aö-Tjväv    21,  198;    vq  tov  Aia  xal  rbv  'AiroXXtu    9,  06;    v-}]  xiv  'HpaxX4o 
xal  itävtai;  O'souc  18,  294. 

1)  Nicht  nndemosthenisch  sind  dagegen  u»  irpic  Aiö?    29,32    und  jxa  tbv 
Aia  TOV  p.i'(iazov  48,2. 


Demosthenes.  225 

anderen  Privatreden  zustehen  als  die  für  Phormion  XXXVI., 
gegen  Pantainetos  XXXVII.,  die  erste  gegen  Stephanos  XLV. 
und  Boiotos  XXXIX.,  gegen  Eubulides  LVII.,  Konon  LIV. 
und  Nausimachos  XXXVIII.  Was  aber  die  übrigen  Reden 
anlangt,  sind  in  neuerer  Zeit  mehrere  Versuche  gemacht 
worden,  einige  derselben  einem  einzigen  Verfasser  zuzu- 
teilen. So  hat  Schäfer  alle  für  Apollodoros  verfertigten  Reden 
diesem  selbst  zugeschrieben^),  weil  ersämmtliche  als  nicht  demo- 
sthenisch  betrachtete  und  annahm ,  dass  Apollodoros  einer 
fremden  Beihilfe  überhaupt  niclit  bedurft  habe'^).  Das  letztere 
wollen  wir  dahingestellt  sein  lassen,  das  erstere  aber  wird  durch 
die  oben  angeführten  Zeugnisse  von  Zeitgenossen  widerlegt. 
Ausserdem  weichen  auch  die  dem  Demosthenes  abgesprochenen 
Reden  des  Apollodoros  abgesehen  von  einigen  übereinstimmenden 
Ausdrücken,  wenn  man  bestimmte  Punkte  durchgeht,  so  sehr 
von  einander  ab,  dass  die  Einheit  des  Verfassers  nichts  weniger 
als  gesichert  ist.  Alle  übrigen  Kombinationen  sind,  nur  Ver- 
mutungen ^). 

Demosthenes,  der  praktische  Redner,  würde  uns  eine  neue 
Seite  seines  Wesens  zeigen ,  wären  die  ihm  zugeschriebenen 
epideiktischen  Reden  echt.  Dass  er  auf  die  Toten  von 
Chaironeia  den  öffentlichen  Nachruf  hielt,  ist  bekannt;  aber 
schon  die  Alten*)  fühlten,  dass  der  vorliegende  Epitaphios 
(LX.)  des  grossen  Redners  unwürdig  sei.     Das  Beste,  was  hier 


1)  III  B  184  ff.;  Blass  S,  527  gesteht  die  Verfassereinheit  zu,  nimmt 
aber  statt  Apollodoros  einen  unbekannten  Logographen  an. 

2)  Wenn  die  Alten  einfach  Apollodoros  citierten  (Tiberius  ir.  o^^yjja.  14  p 
543,  9  W.  vgl.  Schol.  Aeschin.  2,  165)  kürzten  sie  damit  breitspurige  Citate 
wie  AYjfxoG'9'£VTjC  o  p-rjTtop  iv  tü)  xaxa  Nsaipac  XoY'i^'  ^^^  Yv-fjaioc,  3v  'AtcoXXo- 
oüjpo?  sTffjxe  (Athen.  13,  573  b)  ab. 

3)  Blass  S.  526  f.  äussert  sich  mit  Recht  vorsichtig;  bestimmter  be- 
hauptet P.  Uhle  quaestiones  de  orationum  Demostheni  falso  addictarum 
scriptoribus  I.  Hagen  i.  W.  1883  (Diss.  v.  Leipzig),  dass  die  38.  43.  48.  Rede 
einem  Verfasser,  der  von  dem  der  apoUodorischen  verschieden  ist,  zukommen, 

4)  Dionys.  Dem.  44  (anders  in  der  zweifelhaften  Rhetorik  6,  1),  Harpocr. 
V.  AiY£t8at  und  Ktv-poniz,  Liban.,  Phot.  bibl.  p.  492  a  25  (xtvec),  Bekk.  Anecd. 
354,  10,  Syrian.  Walz  IV  44  adn.  (t'.vec),  Codex  Laur.  bei  Bandini,  catal.  codd. 
Graec.  I  p.  555,  3  AfjfjLocS-Evoui:  <x>q  iiviz  (paat  Xö^oc,  vgl.  Theon  iipo-f.  2  p. 
GS,  25  Sp.,  bestätigt  von  Taylor  lection.  Lysiac.  p.  234  sqq.  R.  und  Wester- 
mann quaest.  Demosthen.  IL  p,  49  ff.;  vgl.  H.  Lentz  der  Epitaphios  pseud- 
epigraphos  des  Demosthenes,  Pr,  von  Wolfenbüttel  I,  1880,  II.  1881. 

S  i  1 1 1  ,  Geschichte  der  griechischen  Litteratur.  II.  15 


226  *  Siebentes  Kapitel. 

geboten  wird,  entstammt  älteren  Leichenreden  und  sonst  noch 
mancher  berühmten  Schrift^).  An  eine  eigenthche  Fälschung 
ist  nicht  zu  denken,  da  der  Redner,  wenn  auch  bezüglich  des 
Rhythmus  und  Hiatus  die  demosthenischen  Grundsätze  gewahrt 
sind,  von  einer  wirklichen  Nachahmung  des  Stiles  sich  ferne 
hielt;  der  Epitaphios  führt  uns  die  sinkende  Beredsamkeit  des 
dritten  Jahrhunderts^)  vor  Augen.  Mit  der  Nachlässigkeit  des 
Stiles  ^)  stimmt  die  Vernachlässigung  der  geschichtlichen  Ver- 
hältnisse überein. 

Noch  viel  weniger  zeigt  der  Erotikos  (LXL),  die  Ver- 
herrlichung des  schönen  Knaben  Epikrates,  eine  Spur  von 
Fälschungsabsicht,  weshalb  man  nicht  begreifen  kann,  wie  er 
unter  Demosthenes'  Werke  geriet,  wenn  er  nicht  etwa  mit  dem 
Epitaphios  zufällig  vereinigt  war*);  augenscheinlich  rührt  der 
Aufsatz  von  einem  Isokrateer,  vielleicht  Androtion^),  her.  Die 
Rede  ist  nach  den  Regeln  des  Isokrates  geschrieben,  nur  dass 
der  Schüler  hinter  jenem  weit  zurückbleibt  und  gerne  zu  Ge- 
danken des  Meisters  seine  Zuflucht  nimmt  ^);  ausserdem  hat 
ihm  der  platonische  Phaidros  manches,  selbst  den  Namen  des 
Gepriesenen  geliefert'). 

Während  die  epideiktische  Gattung  Demosthenes'  Natur 
ganz  ferne  lag,  wäre  es  an  sich  möglich,  dass  er  für  Schüler 
und  jüngere  Freunde  Musterstücke  zusammenschrieb.  Nun  folgt 
auf  die  Reden  in  unseren  Handschriften  ein  Anhang,  welcher 
eine  Sammlung  von  mindestens  56  Proömien  (Tipooifjua  S7](j,Trj- 
Yoptxd)*^)  enthält.     Von  diesen  sind  einige  aus  erhaltenen  Reden 


1)  §  27—31;    vgl.   ausser  Westermann  Blass   S.  356  f.    E.    Albrecht 
Berl.  philol.  Wochenschrift  1882  Sp.  841  flf. 

2)  Er  entstand  nach  U.  v.  Wilamowitz   phil.   Untersuch.  1,  84  vor 
dem  chremonideischen  Kriege,  jedenfalls  vor  Kallimachos. 

3)  Anon.  Walz  rhet.  VI  37  tadelt  das  ä}xeXeT7]xov. 

4)  Die  Unechtheit  wird  bemerkt  von  Diouys.  Dem.  44.  Liban,  PoUux  3, 
144.  Phot.  a.  O.  vgl.  Wester  mann  quaestt.  Demosthen.  II  74  flf.  L.Spengel 

Philol.  17,  621  flf.  Blass  S.  368  flf. 

6)  Aristides  or.  48  II  p.  311  Jebb;  vgl.  §60.  Ueber  die  Zeit  §  46, 

6)  Blass  S.  368  A.  6. 

7)  Epikrates  Phaedr.  227  b.    Von  dort  rührt  auch  die  Fiktion  her,  dass 
eine  fremde  Rede  vorgelesen  wird. 

8)  In  den  Handschriften   sind    manche  Proömien  fälschlich  zusammen- 
gefasst  (Blass  8.  282,  2). 


Demosthenes.  227 

entnommen,  die  übrigen  bloss  Variationen  über  die  Themata 
der  demostbenischen  Staatsreden.  Es  scheint  daher,  dass  von 
den  Lehrern  der  Beredsamkeit  demosthenische  Proömien  mit 
Variationen  zum  Schulgebrau-ch  zusammengestellt  wurden  ^). 
Genauere  Untersuchungen  können  zeigen,  wie  sehr  die  Proömien 
von  den  strengen  Gesetzen  des  Demosthenes  abweichen  ^). 

Wirkliche  Fälschungen  dagegen  sind  die  sechs  Briefe, 
welche  Demosthenes  geschrieben  haben  soll,  abgesehen  von  dem 
fünften  an  Herakleodoros  gerichteten,  in  dessen  Ueberschrift 
Demosthenes'  Name  von  den  Abschreibern  willkürlich  gesetzt 
wurde  ^).  Die  übrigen  wollen  wirklich  von  Demosthenes  und 
zwar  in  der  Verbannung  geschrieben  sein.  Wie  denn  aber  die 
Fälscher  von  Briefen  überhaupt  mit  der  Geschichte  nicht 
sehr  vertraut  zu  sein  pflegten,  so  stiess  dem  Verfasser  des 
sechsten  Briefes  das  Missgeschick  zu,  dass  er  die  Schlacht  von 
Krannon  hereinzog,  obgleich  Demosthenes  damals  schon  zurück- 
gekehrt war.  Die  übrigen  sind  Deklamationen  ohne  praktischen 
Zweck ;  denn  wie  konnte  Demosthenes  hoffen,  durch  einen 
Brief  seine  Zurückberufuug  zu  erwirken  (II.)*)  oder  als  Ver- 
bannter den  Kindern  des  Lykurgos  (III.)  •'')  förderlich  zu  sein? 
Noch  überflüssiger  ist  die  Verteidigung  gegen  einen  unbekannten 
Theramenes  (IV.)  *^)  und  den  Sophisten  verrät  unverkennbar  das 


1  )  Schon  Photios  (epist.  207)  urteilte  ungünstig  darüber.  Für  die  Un- 
eclitheit  stimmten  Dobree,  Westermann,  Schäfer  u.  A.;  Kiessling  hallische 
Literaturztg.  1832  S.  364  f.  nahm  eine  Sammlung  von  Proömien  verschiedener 
Staatsmänner  an.  Unter  den  Neueren  verteidigte  die  Echtheit  Blass  S.  283  if 
(Vgl.  jetzt  P.  Uhle  de  prooemiorum  coUectionis  quae  Demosthenis  nomine 
tertur  origine,  Chemnitz  1885.) 

2)  Nehmen  wir  z.  B.  den  beliebten  Eingang  —  [aev,  so  sind  die  Anfänge 
von  5.  14.  30.  83.  35.  36.  46.  ans  Demosthenes  entlehnt,  während  sich  dieser 
nie  wiederholt.  Ferner  gestattet  sich  Demosthenes  vor  {Jiev  nie  eine  oder 
zwei  Kürzen,  dagegen  stimmen  33.  39.  56.  mit  den  unechten  Reden  XI.  und 
XII.  Eine  Rede  mit  xat  zu  beginnen  (wie  20.  54)  wagte  bloss  der  Verfasser 
der  vierten  Philippika. 

3)  Hermippos  kannte  ihn  noch  nicht  (Plut.  5),  dagegen  benützte  ihn 
Cicero  Brut.  31,  121  (in  quadam  epistola)  und  orator  4,  15  (ex  epistolis). 

4)  Er  befindet  sich  auf  Kalauria  (§  20)  I  Vgl.  S.  192  A.  2. 

5)  Erwähnt  Aeschin.  epist.  12,  14.  Ps.  Plut.  842  d  schreibt  diesem  Briefe 
einen  glücklichen  Erfolg  zu. 

6)  Dieser  Brief  schliesst  sich  an  das  Ende  des  zweiten  an. 

15* 


^2g  Siebentes  Kapitel. 

hohle  Gerede  des  ersten  Briefes  ,,über  die  Eintracht."^).  Jeden- 
falls sind  die  Briefe  vor  Cicero  entstanden  und  gehören  nicht 
zu  den  schlechtesten  ihrer  Gattung^). 

Dies  ist,  was  unsere  Handschriften  als  Werke  des  Demosthenes 
bieten,  im  Verhältnis  zu  den  zahlreichen  Reden,  die  er  hielt, 
nicht  viel.  Dennoch  dürfen  wir  versichert  sein,  dass  die  Alten 
an  echten  Reden  nie  mehr  als  wir  besassen  ^).  Was  zunächst 
die  Staatsreden  anlaugt,  so  ist  nicht  sicher  bezeugt,  dass  die  be- 
rühmte Rede  gegen  die  Auslieferung  der  antimakedonischeu 
Volksführer  im  Original  überhefert  war*),  und  über  die  Unecht- 
heit  der  Rede  Trspl  xoü  [ay]  IxSoövai  "ApTcaXov  bestand  kein 
ZweifeP),  wie  auch  bezügUch  der  Verteidigungsrede,  die  Demo- 
sthenes im  harpalischen  Prozess  gehalten  haben  soll  ^).  Ausser- 
dem gingen  mindestens  drei  Gerichtsreden  unter '),  doch  keine 
sicher  echten.  Endlich  gab  Demosthenes'  Jubel  über  Phihpps 
Ermordung    zu    einer    Lobrede    auf   Pausanias^),    seinen 


1)  Vorausgesetzt  von  Aeschin.  epist.  11,  2. 

2)  Den  2.  nnd  3.  Brief  eitleren  Harpokration  v.  KaXaopia,  epaviCovtec» 
tp^oTjv  und  Hermogenes  p.  385,  9  ff.  Sp.  Photios  äussert  sich  epist.  46  un- 
günstig über  die  Briefe.  Über  die  Unechtheit  A.  Schäfer  Jahrbb.  f.  Phil. 
116,  161  ff.,  für  die  Echtheit  Fr.  Blass  über  die  Echtheit  der  Demosthenes' 
Namen  tragenden  Briefe,  Pr.  v.  Königsberg  1875  u.  Jahrbb.  f.  Phil.  116,  641  flf. 

3)  Ps.  Plut.  847  e  tpepoviat    S'aütoö  kö-^oi    '(vr\Qioi  i^'^xovxa   izivxt  ist  nicht ' 
näher  zu  bestimmen. 

4)  Livius  9,  18  ist  zu  unbestimmt. 

6)  Dionys.  Dem.  57,  wahrscheinlich  mit  der  Deinarchos  beigelegten 
identisch  (Dionys.  Dinarch.  11).  Die  deinarchische  Rede  AtcpiXü)  SYjjifjYopixöc 
altoövTi  Scupeocc  schreibt  Dionysios  (Dinarch.  11)  nur  vermutungsweise  Demo- 
sthenes zu. 

6)  Dionys.  Dem.  67  auoXoYta  ocuptuv,  Athen.  13,  592  e  uspl  j^puaioo; 
weniger  bestimmte  Citate  sind  Pausan.  2,  33,  4  und  Isidor.  Pelusiot.  epist.  4, 
206  (Migue  78,  1297  b). 

7)  ilpö?  IlciXu2üv.Tov  iiapaYpacpY]  Bekk.  Anecd.  90,  28;  itpö?  Kpttiav  nepl 
Tou  tv87tC'3x-fj|i|j.aTCii;>  von  Dionysios  verworfen  (Harpocr.  v.  evE7rbxf)(j.]xa) ;  xatd 
MjSovTor  PoUux  8,  53.  Harpocr.  v.  OExaxEOEtv ;  wahnscheinlieh  irpöi;  Ktyioctttcov 
Bekk.  [Anecd.  p.  165,  20,  weil  dieser  Grammatiker  sonst  nur  Demosthonr>s 
citiert  (Sanppe  erat.  Att.  II  346).  Fragmente  des  Demosthenes  Saup  j" 
orat.  Att.  II  p.  260  ff.  und  Th.  Vömel  Didotausgabe  p.  787  ff.  Nur  ver- 
mutungsweise wird  die  Rede  Satüptu  irpöc  Xapt8Tj|j.ov  iTrttponTj«;  ontoXoYta 
Demosthenes  zugeteilt,  während  sie  Kallimachos  dem  Deinarchos  gab  (Phot. 
bibl.  p.  491  b  29  ff.,  vgl.  Dionys.  Din.  13). 

8)  Dionys.  Dem.  44. 


« 


Demosthenes.  229 

j 

'  Mörder  Anlass.     Das   Urteil    der    massgebenden  Kreise    veran- 

i  lasste  den  Untergang  aller  dieser  Reden  ;  wir  ersehen  übrigens 
dabei,  dass  unser  demosthenisches  Corpus  nicht  direkt  auf 
Kallimachos  zurückgeht  ^);  denn  der  gelehrte  Bibliothekar  be- 
züichnete  die  zweite  der  verlorenen  Gerichtsreden  als  echt. 

Um  die  Beredsamkeit  des  Demosthenes  zu  verstehen,  ge- 
nügt es  nicht,  an  seine  Vorgänger,  besonders  Isaios,  welcher  zuerst 
die  §£ivÖT7]c  in  die  Beredsamkeit  einführte,  zu  erinnern.  Demo- 
sthenes ist  ein  Kind  seines  Zeitalters;  ruhige  Würde  zog  damals 
nicht  mehr  an,  die  verwöhnten  Athener  wollten  Aufregung 
ihrer  Sinne,  was  auf  alle  Gebiete  des  geistigen  Lebens  ein- 
wirkte. Daher  strebten  die  Bildhauer  entweder  nach  sinnlichem 
Reiz,  wie  Praxiteles,  oder  nach  aufregendem  Pathos,  wie  Skopas, 
der  Bildner  dionysischer  Aufregung.  Den  Malern  genügten 
die  wenigen  Farben  und  das  gleichmässige  Kolorit  ihrer  Vor- 
gänger nicht  mehr.  Die  Musik  begann  schon  in  den  letzten 
Jahren  der  berühmten  Tragiker  der  Sentimentalität  zu  dienen. 
Weder  der  Inhalt  noch  die  Sprache  der  Tragödien  vermochte 
mehr  die  Zuschauer  zu  begeistern,  wenn  nicht  ein  Virtuose  der 
Schauspielkunst  ilu'e  Nerven  erregte.  Das  Virtuosentum  ver- 
schonte auch  die  Rednerbühne  nicht:  Die  scheinbar  naiven 
(ienrescenen  des  Lysias  hatten  ihren  Reiz  verloren,  Isaios  neigte 
sich  bewusst  oder  im  Gefolge  des  allgemeinen  Geschmackes 
zum  Pathos,  doch  sind  bei  ihm  nur  die  Anfänge  vorhanden, 
während  Demosthenes  die  pathetische  Richtung  der  Rhetorik 
auf  ihrem  Höhepunkte  darstellt.  Von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  ist  die  Analyse  seiner  Beredsamkeit  vorzunehmen . 

In  der  Sprache  schränkt  sich  Demosthenes  nicht  auf 
den  begrenzten  Wortvorrat  eines  epideiktischen  Redners  oder 
eines  Advokaten  ein ;  denn  seine  Reden  repräsentieren  nicht 
eine  einzige  bestimmte  Stilgattung,  sondern  Demosthenes  schlägt 
l)ald  diesen  bald  jenen  Ton  an.  Selbst  der  Wortschatz  ist  nach  dem 
Orte,  wo  die  Rede  vorzutragen  war,  und  der  Bedeutung  der 
Sache  geregelt;  daher  steht  er  in  den  Privatprozessen  der  ge- 
wöhnHchen  Umgangssprache  nahe  ^).  Gemeinsam  ist  aber  allen 
Gattungen    die     (freilich    verschieden     abgestufte)    Kraft    und 


1)  H.  Sauppe  epist.  crit.  ad  God.  Hermannum  p.  49  und  alle  Neuereu. 

2)  Dionys.  Dem.  56. 


230  Siebentes  Kapitel. 

Wucht  des  Ausdrucks^).  Demosthenes  liebt  kühne  Metaphern, 
die  nicht  selten  aus  dem  Tierleben  genommen  sind  ^),  und 
Personifikationen  unbelebter  Dinge.  Namentlich  hat  er  an  den 
derben  Wörtern  und  Bildern  der  Volkssprache  Vergnügen,  über 
welche  der  etwas  zimperhche  Aischines  die  Nase  rümpfte^); 
auch  Schimpfwörter  wie  dr]piov  oder  MapYitT]?,  sind  nicht  aus- 
geschlossen. Superlative  pflegt  Demosthenes  durch  Beifügung 
eines  allgemeinen  Genitivs  (wie  av^pwTrwv),  Negationen  durch 
Umschreibungen  (z.  B.  ooS'  oxiow  für  ooSsv)'^)  zu  verstärken ; 
knappen  Ausdruck  lässt  er  hauptsächlich  dann  zu,  wenn  die 
Kürze  schroff  kHngt^).  Gewöhnlich  dagegen  erhöht  er  das  Ge- 
wicht der  Worte  durch  mannigfache  Mittel,  zu  denen  auch  die 
Litotes  gehört^).  Ebenso  achtet  der  Redner,  wenn  er  zwei  oder 
gar  drei  Synonyma  verbindet,  mehr  auf  den  sonoren  Klang 
und  die  aus  der  Häufung  entspringende  Energie  als  auf  die 
subtilen  Unterscheidungen  der  Sprach meister'').  Durch  seine 
pathetischen  Schwüre  zog  er  den  Spott  der  Komiker  auf  sich  ^). 
Trotz  seines  hochgespannten  Patlios  vermochte  Demosthenes 
fast  immer  klar  und  verständHch  za  bleiben.  Dies  verdient 
um    so    mehr  Bewunderung,    als  Demosthenes  mit  der  Wort- 


1)  Ein  Rhetor  sagt  richtig,  Demosthenes  strebe  nach  za  irXYjxtixa  tdiv 
Övojj.äTU)V  (Max.  Plan.  Walz  V  516,  16  ff.). 

2)  Z.  B.  II  9  &ve/aixias,  III  31  Ti^aoeuouoi  )(£tpo-fjfl'Eic  autoi?  notoövtec 
oder  aus  anderer  Sphäre  III  31  Ixveveop  ia[x.evot  (vom  Bogen  entlehnt).  Ueber 
die  demosthenischen  Bilder  Joh.  LuJiäk  observationes  rhetoricae  in  Derao- 
sthenem,  Petersburg  1878  p.  22  ff.  und  besonders  J.  Straub  de  tropis  et 
figuris  quae  inveniuntur  in  orationibus  Deraosthenis  et  Ciceronis,  Aschaffen- 
burg 1883. 

3)  Dieser  führt  aus  den  nicht  herausgegebenen  Reden  an:  II  21  nrifaz 
\6fiuv,  äiroppä(J(Etv  to  4>tXt7tirou  aT6|j.a  6Xoa)(^o[v(}>  ccßpo^ü),  40  v.ipv.iu'^,  Tiaiitd- 
Xy)}!.«,  iiaXi}j,ßoXov,  41  am  Ende  tcBv  bizb  töv  y|Xiov  ftviJpwTtiov  icävTtuv  Seivötatov, 
112  anoffiäq  xöv  enatvov;  III  72  ftTcopp-fj^at  ttjc  elp'fjvrjc  t-fjv  oofxfjia^^iav,  73 
xaxanxüecv,  160  MapYixvjc  (von  Alexander),  164  xptXJOXEpcuc,  noch  mehr  166. 
Dinarch.  1,  82  e^^^-^^'v  ohZk  xöv  exepov  noSa. 

4)  Ueber  ähnliche  Ausdrücke  Lieberkühn  Jahns  Archiv  19,  140  ff. 
6)  Dann  tritt  oft  ein  schneidendes  Asyndeton  ein  (H.  B  o  s  s  e  de  asyndeto 

Demosthenico,  Sondershausen  1875,  Diss.  v.  Leipzig). 

6)  Schol.  Dem.  604,  19  D  z.  B.  21,  lll  oüx  Jiv  ooxe  xuiv  epYjfjioxixcuv 
ooxe  xcüv  (anöpiuv  v.o\ii^-q. 

7)  Getadelt  wurde  z.  B.  2,  1  8at|xovia  xtvl  xal  dsia  Ttavxdnaoiv  eoixev 
tbtp^toia.  Vgl.  Sigg  Jahrbb.  Suppl.   6,  418  f. 

8)  Antiphanes  und  Timoklcs  bei  Ps.  Plut.  846  b;  vgl.  auch  Aeschiu.  8,99. 


Demosthenes.  231 

Stellung  sehr  frei  schaltet!  Denn  er  benutzt  sie  zuvörderst 
zur  Hervorhebung  bedeutungsvoller  Worte,  indem  er  sie  ent- 
weder gegen  den  Anfang  oder  das  Ende  des  Satzes  verschiebt 
oder  wenigstens  durch  Einschiebsel  hervorhebt.  Auch  liebt  der 
Redner  die  kraftvolle  Inversion  der  Relativsätze,  welche  das 
nachgestellte  Demonstrativ  noch  energischer  macht;  natürlich 
kommt  die  Anaphora  ausserordentlich  oft  vor,  während  der  ge- 
messene Isokrates  sie  selten  anwendet. 

Obgleich  Demosthenes  also  die  Wortstellung  dem  pathetischen 
Grundton  dienstbar  machte,  wurde  dabei  der  Wohlklang  nicht 
vernachlässigt.  Er  vermied  den  durch  Isokrates'  Autorität  ver- 
pönten Zusammenstoss  der  Vokale  so  sehr  als  es  einem  prak- 
tischen Redner  möglich  ist,  damit  das  Ohr  der  Gebildeteren 
nicht  durch  allzuhäufige  Hiate  verletzt  würde  ').  Isokrates  lehrte 
ihn  auch  auf  den  Rhythmus  achten:  Weil  er  leicht  erkannte, 
dass  das  häufige  Vorkommen  langer  Silben  und  die  Einschrän- 
kung der  kurzen  die  Wucht  des  Ausdrucks  unterstützen  musste, 
vermied  er  die  Aufeinanderfolge  von  mehr  als  zwei  kurzen 
Silben,  wenn  auch  nicht  mit  der  Peinlichkeit,  wie  etwa  Iso- 
krates diese  Regel  ausgeführt  hätte  ^).  Von  diesem  Redner 
unterschied  sich  Demosthenes  auch  darin,  dass  er  die  Satzkola  ^) 
nicht  mit  der  genauen  Entsprechung,  welche  dem  epideiktischen 
Satzbau  seinen  eigentümlichen  Charakter  verleiht,  baute,  sondern 
an  die  Stelle  des  äusseren  Gleichgewichtes  das  innere  des 
Sinnesund  des  Ausdruckes  setzte;  ebenso  unterscheidet  sich  ein 
dekoratives  Relief  von  einem  mit  selbständiger  Darstellung  ausge- 
statteten. Dagegen  achtete  Demosthenes  nicht  weniger  als  Iso- 
krates auf  den  musikalischen  Rhythmus,  von  dem  er  wohl 
wusste,  wie  sehr  er  die  für  Musik  so  empfänglichen  Zuhörer 
bezauberte;  wie  die  italienischen  Redner  den  Schluss  der  Satz- 
teile gerne  volltönend  sprechen,  so  liess  Demosthenes  besonders 
das  Ende  der  Periode  rhythmisch  auskfingen ;  er  hebte  nament- 


1)  S.  222  f. 

2)  Das  Verdienst  dieser  bedeutenden  Entdeckung  gehört  Blass  S.  99  flf.; 
gegen  eine  apodiktische  Formulierung  erhob  Fr.  Rühl  Rhein.  Mus.  34,  593  ff. 
Einsprache,  s.  jetzt  M.  Bodendorff  das  rhythmische  Gesetz  des  Demosthenes, 
Königsberg  1880. 

3)  S.  die  genauen  Untersuchungen  von  Blass  S.  105  ff.  und  Verhandl. 
der  Philologenvers.  v.  Trier  1879  S.  170  ff. 


232  Siebentes  Boipitel, 

lieh  die  Klauseln  -ü und  -  u  - -*).  Doch  auch  sonst  ver- 
nahm das  geübte  Ohr  der  Alten  in  den  demosthenischen  Sätzen 
musikalischen  Klang  ^). 

Das  leidenschaftUche  Pathos  vertrug  sich  natürlich  nicht 
mit  der  alten  Sitte,  welche  den  öffentlichen  Rednern  die 
Gestikulation  verbot^);  zugleich  hörte  der  Vortrag  not- 
wendig auf,  natürlich  und  ungezwungen  zu  sein  und  wurde 
einstudiert  und  theatralisch.  Die  Erzählungen ,  dass  Demo- 
stheues  bei  Schauspielern  in  die  Lehre  ging  *),  sind  nicht  ohne 
Grund;  denn  auf  das  Zeitalter  des  grossen  Tragiker  war  die 
Periode  der  grossen  Tragöden  gefolgt.  Die  Manier  dieser 
Virtuosen  übertrug  nun  Deraosthenes  in  die  Volksversammlung. 
Dass  er  Aischines,  einem  Mann  aus  der  alten  Schule,  missfiel ''), 
ist  selbstverständlich;  indes  meinte  auch  Demetrios  von  Phaleron, 
sein  Vortrag  sei  etwas  weichlich  und  entbehre  der  Würde  **), 
heisst  es  doch,  dass  Demosthenes  manchmal  Thränen  vergoss. '') 
Eine  Anekdote  kennzeichnet  die  hohe  Schätzung,  welche  der 
Redner  dem  Vortrag  erwies ;  er  soll  nämlich  die  oTröxpiot? 
(Deklamation  und  Gestikulation)  als  den  ersten,  zweiten  und 
dritten  Teil  der  Beredsamkeit  bezeichnet  haben. ^) 

Air  das  bisher  erwähnte  wirkte  zusammen,  um  die  S  s  t  v  ö  t  y]  ?, 
das  unwiderstehliche  Pathos,  hervorzubringen,  das  die  Alten, 
wenn  sie  von  Demosthenes  sprechen,  gewöhnlich  im  Munde 
führen.  Es  war  vorzüglich  geeignet,  um  im  Gerichtssaal  den 
Gegner  nicht  bloss  zu  widerlegen,  sondern  zu  vernichten,  und 
in  der  Volksversammlung  hätte  keine  andere  Stilart  für  die 
Kriegsrufe   und   Anklagen    eines   Chauvinisten    besser   gepasst. 


1)  Quintilian.  9,  4,  73. 

2)  Gell.  10,  19,  2  quasi  quaedara  cantilena  rhetorica.  Vgl.  Maxim. 
Plaaud.  Walz  V  445,   14.  471,  14. 

3)  S.  78. 

4)  S.  171  A.   1. 

5)  2,  49  TEpateuadfjLEvoc  tooTiep  siuifl-eiTcb  o/Y)|xatt  xal  tptt|/ai;  zy\v  xE(faX"f)v. 

3,    97     i3E|J.V0iC    TCÖtVU    TZpOtKO-ÜiV. 

6)  Philodem.  rhet.  4,  16  f.  notxLXov  (isv  aütöv  6icoxp'.X7]V  xal  irEp'.xxöv, 
ot)X  6inXobv  8i  o68i  xaxä  xiv  Ysvvalov  xpoirov,  aXk'  hq  xb  jiaXaxiuxspov  xal  xa- 
netvöxepov  oiroxptvovxa.  Theophrast  erzählt,  dass  za  seiner  Zeit  die  Epiloge 
fast  singend  vorgetragen  wurden  (bei  Plut.  quaest.  conv.  1,  5,  2). 

7)  Aeschin,  2,  85.  3,  207. 

8)  Zuerst  Philodera.  rhet.  4,  16  (anderes  bei  Gros  zu  dieser  Stelle  p.  121), 
vgl.  auch  4,  12  fl. 


Demosthenes.  233 

Doch  selbst  das  Feuer  eines  Demosthenes  würde  auf  die  Dauer 
seine  Wirkung  verfehlen,  hcätte  der  Redner  nicht  zugleich  die 
Gabe  einer  wunderbaren  Mannigfaltigkeit  besessen^).  Bald  er- 
zählt er  anscheinend  gelassen,  bald  stürmt  er  zu  den  äussersten 
G-renzen  der  Leidenschaft  empor,  jetzt  reizt  er  das  Volk  durch 
einschneidende  Worte  zur  Erbitterung  gegen  seine  Gegner, 
dann  erweckt  er  mit  unwiderstehlichen  Bitten  Rührung  und 
Mitleid,  er  erschüttert  das  Selbstgefühl  des  Volkes  durch  herbe 
Vorwürfe  und  plötzlich  besänftigt  er  es  mit  Schmeicheleien  und 
sanguinischen  Hoffnungen.  Der  Rhetor  Dionysios,  der  Demo- 
sthenes vergeblich  in  eine  seiner  Schulkategorien  einschachteln 
will,  muss  am  Ende  ausrufen,  Demosthenes  sei  ein  wahrer 
Proteus.  Die  Bezeichnung  ist  ungemein  treffend  und  gerade 
diese  Eigenschaft  erschwert  eine  Charakteristik  des  Demosthenes 
ausserordentlich.  Denn  man  mag  von  wichtigen  Dingen,  wie 
der  Disposition  des  Ganzen,  absehend  irgend  eine  Nebensache  heraus- 
greifen, z.  B.  die  oben  besprochenen  Formeln,  welche  die  Zeug- 
nisse einleiten,  nirgends  kann  eine  bestimmte  Schablone,  nach 
welcher  Demosthenes  arbeitete,  festgestellt  werden.  Selbst  das 
Kleinste  passt  er  dem  Zusammenhang  so  an,  dass  ein  harmo- 
nisches Ganze  entsteht.  Die  Gemeinplätze,  welche  Demosthenes 
von  älteren  Rednern  entlehnt  ^),  weiss  er  stets  durch  eine  feine 
Wendung  individuell  und  demosthenisch  zu  gestalten.  Wenn 
er  manche  Gedanken  in  den  Gerichtsreden  wiederholt  ^),  so  er- 
scheinen sie  so  umgebildet,  dass  dem  Redner  kein  Vorwurf 
daraus  erwächst.  In  den  grösseren  Reden  bringt  er  häufig 
denselben  Gesichtspunkt  humer  wieder  vor  *),  z.  B.  in  der 
Kranzrede  den  Grundgedanken  seiner  PoHtik,  in  der  Gesandt- 
<chaftsrede  die  Lösung  der  Gefangenen,  doch  stets  mannigfaltig 
und  mit  bewusster  Absicht,  sei  es  auch  nur  um  den  Zuhörern 
etwas  tief  einzuprägen.    Aus  Detailuntersuchungen  wird  hervor- 


1)  Scholia  in  Demosth.  p.  5(58,  14.  614,  9.     Lucian.  encom.   6. 

2)  Vgl.  Theon     icpoY.  p.  63,  27  Sp. 

3)  Theon  Tzpo-^.  p.  63,  31  ff.  Sp.  Cli.  G.  Gersdorf  Synopsis  repetitoium 
Demosthenis  locorum,  Altenburg  1833;  H.  Brougham  Edinburgh  Keview 
1821  XXXVI.  Octob. ;  Westermaun  quaestion.  Demosthen.  III.  de  litlbns 
(|uas  Demosthenes  oravit  ipse,  Leipzig  1834  p.  97 — 136. 

4)  Nach  den  Scholiasten  zu  18,  14.  196  erhob  Demosthenes  nicht  weniger 
als  72  Mal  den  Einwand  der  Verjährung. 


234  Siebentes  Kapitel. 

gehen,  wie  Demostheues  auch  das  Kleinste  nicht  vernachlässigte 
und  keine  Mühe  scheute.  Man  sollte  beispielsweise  denken, 
die  Anrede  könne  nicht  der  Gegenstand  des  Aufwandes  be- 
sonderer Kunst  sein,  nichtsdestoweniger  hat  sie  Demosthenes 
nicht  gespart.  Während  er  vor  dem  philokrateischen  Frieden 
die  Anrede  nach  längerem  Zwischenraum  (5 — 12  Silben)  setzte 
und  in  der  ersten  Philippika  sogar  den  Fehler  beging,  das 
letzte  Wort  des  Satzes  durch  sie  zu  isolieren,  stellte  er  die 
Formel  später  immer  schon  nach  der  zweiten  oder  dritten  Silbe ; 
dadurch  bestätigt  sich  wieder,  dass  die  7.  17.  und  namentlich 
die  13.  Rede  unecht  sind^).  Von  der  Rede  über  den  Halonnes 
welche  sofort  mit  der  Anrede  beginnt,  ist  es  noch  klarer.  Genau 
dasselbe  Gesetz  gilt  von  den  übrigen  öffentlichen  Reden  ^);  die 
Ausnahme,  welche  die  Leptinea  macht,  ist  oben  gerechtfertigt  wor- 
den. Die  beiden  Reden  gegen  Äristogeiton  zeigen  sich  als  unecht, 
die  eine,  weil  sie  gegen  Demosthenes'  Brauch  mit  zwei  Jamben 
beginnt,  die  andere,  weil  der  Fälscher  einen  langen  Satz 
vorausschickt. 

Trotzdem  dass  also  Demosthenes  seine  Reden  mit  unglaub- 
Hcher  Sorgfalt  feilte,  ist  kaum  eine  äusserlich  sichtbare  Spur 
der  emsigen  Arbeit  zu  finden ;  im  vollen  Gegensatze  zu  Isokrates, 
der  ausdrückhch  auf  seine  mühsamen  Studien  hinweist,  strebt 
unser  Redner  alles,  was  den  Eindruck  des  Künstlichen  erwecken 
könnte,  aus  den  Reden  zu  entfernen;  eine  Probe  seines  Be- 
lebungstalentes finden  wir  an  den  Sentenzen,  welche  trotz  ihrer 
Häufigkeit^)  so  frisch  und  natürlich  vorgetragen  werden,  dass 
sie  von  jeder  Pedanterie  frei  sind.  Demosthenes  geht  aber 
noch  weiter;  er  will  bei  den  Zuhörern  den  Glauben  hervor- 
rufen, dass  er  improvisiere.  P]in  signifikantes  Beispiel  mag 
genügen :  Die  Redner  fordern  häufig  den  Gerichtsschreiber  zur 
Verlesung  einer  Urkunde  auf  und  haben  ihm  vorher  die  Doku- 
mente in  der  gehörigen  Ordnung  bereit  gelegt.  Weil  dies  nun 
Demosthenes   zu    sehr   an   Vorbereitung   zu    erinnern    scheint, 


I 


1)  An  XL  ist  dies  auszusetzen,  dass  sie  mit  drei  kurzen  Silben  beginnt, 
während  Demosthenes  höchstens  zwei  (VI.)  zulässt. 

2)  XXIII.  hat  zwar  nur  vier  Silben  Einleitung,  aber  dicise  sind sämmtlich lang. 

3)  Job.    Lundk    observationes  rhetoricae  in   Demosthenem,    Petersburg 
1878  p.  9  ff. 


Demosthenes.  235 

bringt  er  ein  paar  Mal  die  Fiktion  vor,  der  Schreiber  müsse 
erst  in  dem  Aktenbündel  suchen  ^). 

Durch  solche  Züge  verliert  sein  Pathos  den  Schein  des 
Gemachten  und  die  Reden  wirken  wie  ein  unmittelbarer  Erguss 
der  Gefühle.  Selbst  jetzt  noch,  wo  die  Stimme  des  Redners 
verstummt  ist  und  wir  in  der  Lage  der  Rhodier  sind,  zu  denen 
Aischines  angebhch  ^)  sagte:  ,,Wenn  ihr  den  Kerl  erst  gehört 
hättet!",  haben  die  Reden  ihre  gewaltige  Wirkung  auf  die 
Gemüter  nicht  verloren.  Wie  wäre  es  sonst  möglich,  dass  sie 
in  der  neueren  Zeit  noch  als  politische  Flugschriften  dienten? 
Als  die  Türken  Europa  bedrohten,  veröffentlichte  der  Kardinal 
ßessarion  die  erste  olynthische  Rede  mit  zeitgemässen  Glossen 
luid  als  die  Pleere  Napoleons  Oesterreich  überschwemmten,  gab 
Niebuhr  eine  Bearbeitung  der  ersten  Philippika  heraus  (Ham- 
burg 1805). 

Freilich  wäre  es  ungerecht  gegen  die  älteren  Redner,  wenn 
man  nicht  hervorheben  wollte,  dass  diese  Vorzüge,  wie  reiche 
natürliche  Anlage,  unerkünstelte  Naivität  oder  majestätische 
Würde,  besassen,  welche  Demosthenes  mangelten;  in  seiner  Art 
berührte  er  selbst  schon  die  äusserste  Grenze  des  Erlaubten 
und  es  war  überhaupt  nur  einem  solchen  Talente  möglich, 
ungestraft  so  weit  zu  gehen. 

Demosthenes  kann  unbedenlkich  als  der  griechische  Prosaiker 
bezeichnet  werden,  der  zu  allen  Zeiten  nicht  bloss  am  meisten 
bewundert,  sondern  auch  am  fleissigsten  gelesen  und  studiert 
wurde.  Wenn  er  öffentlich  auftrat,  strömten  Zuhörer  aus  ganz 
Griechenland  /Aisammen,  um  den  hinreissendsten  Redner  der 
Zeit  zu  hören.  Während  er  noch  lebte,  galten  seine  Reden 
bereits  Advokaten  und  Staatsmännern  für  Vorbilder;  Deinarchos 
ahmte  ihn  trotz  der  Verschiedenheit  seiner  Parteistellung  in 
so  hohem  Grade  nach^;,  dass  er  davon  einen  Spottnamen 
(Arj[Aoa^£vr](:  6  xf^lö-tvoc)  erhielt  und  gar  manche  Gerichtsrede, 
die  unter  die  echten  Werke  geriet,  weist  auf  dasselbe  Muster. 
Andere  unechte  Reden  lehren,  welche  Bedeutung  das  Demosthenes- 


1)  Fox  die  Kranzrede  des  Demosthenes  S.  335.     In  dieselbe  Rubrik  ge- 
hört  Tooxl  Y^P  «"  fitxpoü  TiapYjX'O'S  jxot  tlntlv  21,   110. 

2)  Plin.  epist.  2,  3,   10  xt  oe,  eI  auxoö  xoö  •6"f)pioi)  Yjxoüaaxe; 

3)  Westermanu  CLuaestiones  Demosthenicae  III,  80  n.  118  ff. 


236  Siebentes  Kapitel. 

Studium  in  den  Rhetorenschulen  der  folgenden  Generationen 
hatte ;  denn  schon  damals  war  es  wie  später  ^)  üblich  Dekla- 
mationen entweder  über  demosthenische  Themata  oder  ungefähr 
in  der  Manier  des  Redners  zu  schmieden,  ohne  dass  man  dabei 
an  Fälschung  dachte.  Wenn  er  auch  bei  den  Asianern  in  den 
Hintergrund  trat,  empfahlen  doch  die  Pliilosophen  (wie  Panaitios) 
die  Reden  wegen  ihrer  Gesinnungstüchtigkeit  ^)  und  die  Vater- 
stadt blieb  ihrem  berühmten  Bürger  treu  ^).  Als  Cicero  nach 
Athen  kam,  fand  er  unter  den  dortigen  Professoren  begeisterte 
Verehrer  des  Demosthenes ;  der  römische  Redner  selbst  bekehrte 
sich  von  den  Asianern  zu  ihm  und  übersetzte  die  Kranzrede. 
Bald  darauf  verlieh  die  gemässigte  Richtung  der  griechischen 
Renaissance  Demosthenes  den  ersten  Platz  unter  den  klassischen 
Rednern  und  diesen  hat  er  von  nun  an  bei  dem  grossen 
Publikum  behauptet.  Wie  Homer  7roiY]T7j?  hiess,  so  genügte 
6  pyjTwp  um  Demosthenes  zu  meinen  *)  Schwülstigeren  hiess 
er  ,, Abbild  des  Golles  der  Beredsamkeit"  ^).  Mit  Plato  war 
der  Redner  die  Quelle  der  gebildeten  Sprache  ^).  Kein  anderer 
Schriftsteller  wurde  daher  so  oft  citiert,  so  oft  nachgeahmt;"). 
Unter  Lucians  Schriften  steht  ein  Enkomion;  Libanios  ver- 
fasste  eine  Apologie  und  schrieb  mehrere  Deklamationen  in 
sehiem  Namen  ^).  Die  Begeisterung  stieg  so  hoch,  dass  Antonius 
Polemon  unter  Hadrian  im  pergamenischen  Asklepiosterai)el 
ein    ehernes  Bild    des  Demosthenes    aufstellte^)    und  Salustius, 

1)  Eine  Probe  bei  Sopatros  Walz  rhet.  8,  19  ff. 

2)  Plut.  Dem.  13.  Aristoteles  hingegen  hatte  seine  Reden  ignoriert  und 
Theophrast  den  merkwürdigen  Ausspruch  gethan,  Demosthenes  und  Athen 
seien  einander  wert,  aber  einen  Demades  verdiene  die  Stadt  nicht  (er  sei  als 
^•f]Tüjp  6j:ep  TY]v  iroXtv  Plut.  10). 

3)  Cicero  de  orat.  1,  19,  88,  vgl.  orator  30,  105. 

4)  'Epftoö  Kofloo  xoTCoc  (itapa8EiY|J.a),  vgl.  Graux  Revue  de  philologie 
n.  8.  T  65  A.  19. 

6)  Vgl.  Phrynichos  p.  166. 

6)  Auf  diesem  Gebiete  ist  bisher  wenig  geleistet,  vgl.  z.  B.  verschiedenes 
bei  Dobree  adversaria  I  347  ff.,  Beruhardy  zu  Suidas  v.  'lYYP<>u<3^a  und 
OiXittavo?,  Gebet  Mnemosyn.  1877  p.  1  ff.,  Silv.  Dolega  de  Sallustio  imi- 
tatore  ThucydidiH  Demostheuis  aliorumque,  Breslau  1871,  Karl  Teuber 
quaestiones  Himeriauae,  Berlin  1882  cap.  2.  Über  die  Benützung  der  Pro- 
ömien  s.  Lucian.  Iui)it.  tragoe<l.  14  extr. 

7)  Er  scheint  zur  Ehre  Demosthenes  genannt  worden  zu  sein,  vgl.  Suidas 
V.  8i({jd>  cod.  A. 

8)  PhüoBtr.  Vit.  soph.  1,  22. 


Demostbenes.  237 

ein  Zeitgenosse  des  Proklos,  alle  öffentlichen  Reden  auswendig 
lernte  ^). 

Was  die  gelehrte  Literatur  anlangt,  welche  sich  an  Demo- 
sthenes  knüpft,  so  gilt  der  allgemeine  Satz,  dass  sich  die  älteren 
Philologen  mit  den  Prosaikern  überhaupt  wenig  abgaben.  Kalli- 
machos  registrierte  die  Reden  des  Demosthenes,  weil  er  eben 
musste,  so  dass  seine  Arbeit  kritisch  wertlos  war  ^).  Der  einzige 
Grammatiker,  der  einen  Kommentar  zu  den  zehn  Rednern 
schrieb,  dürfte  der  unermüdliche  Didymos  sein^).  Desto  emsiger 
waren  die  Rhetoren  um  ihren  Heros  bemüht.  Die  ältesten 
Arbeiten  waren  wohl  zugleich  die  bedeutendsten:  Der  Rhetor 
Dionysios  von  Halikarnass,  welcher  Demosthenes  in  den  Reden 
seines  Geschichtswerkes  nacheiferte,  machte  sich  mit  grösserem 
Glücke  in  mehreren  Schriften  ^)  um  die  Analyse  des  Stiles,  die 
Ausscheidung  der  unechten  Reden  und  die  Festsetzung  der 
Zeit  verdient;  doch  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  er  ausser 
der  Chronik  des  Philochoros  keine  alten  Quellen  von  Wert  be- 
nützte, sondern  meist  auf  die  eigene  Kombinationsgabe  ange- 
wiesen war.  Seine  Annahmen  bestritt  in  verschiedenen  Punkten 
Gaecilius  von  Kaiakte,  welcher  neben  mehreren  rhetorischen 
Abhandlungen  eine  Untersuchung  über  die  Echtheit  der  Reden 
und  das  älteste  rhetorische  Wörterbuch,  jedenfalls  aus  den  zehn 
Rednern  geschöpft,  verfasste.  Diese  beiden  bedeutenden  Kritiker 
eröffnen  eine  lan,G,e  Reihe  von  Gelehrten,  welche  während  der 
Kaiserzeit  über  Demosthenes  schrieben.  In  loserem  Zusammen- 
hange stehen  Lexika,  wie  das  Harpokrations ;  der  Atticist  Vestinos 
fertigte  zugleich  aus  Demosthenes  Excerpte  an^).  Dagegen  gab 
es  von  Tiberios  eine  Monographie  über  die  demosthenischen 
Figuren  ^) ;    durch    ein  Büchlein    des  Sopatros  ^)    erfahren    wir, 

1)  Damasc.  vit.  Isidori  250. 

2)  Eehdantz  bei  Schäfer  III  B  317  ff.  Schon  deshalb  ist  es  bedenklich, 
wegen  Harpocr.  v.  ax-fj  (Ygl.  Blass  die  griech.  Bereds.  in  dem  Zeiträume 
von  Alexander  bis  auf  Aug.  S.  205  A.  5)  ihm    einen  Kommentar  beizulegen. 

3)  Bei  Harpokration  benützt. 

4)  Fr.  Blass  de  Dionysii  Halic.  scriptis  rhetoricis  p.   13  ff. 

5)  'ExXoY*»]  Iv.  Ta>v  Ay)[j.og^Ivou?  ßtßXituv  Suidas. 

6)  Ilspi  T(Juv  Ttapa  ATj[jioaö'sv£t  ajcrjfxdtTtuv  (hrsg.  von  Boissonade,  London 
1815;  Walz  rhetores  Graeci  VIII  520  ff.;  Spengel  rhet.  III  p.  59  ff.),  zum 
Teil  aus  Apsines  geschöpft;  da  er  öfter  Caecilius  anführt,  hält  Spengel  p.  VII 
diesen  für  die  Quelle. 

7)  MstaßoXal  yal  jj-ETanoiTjaeic  lüJv  AYjjxoG'&evtxwv  ^topttuv  Walz  rhet.  VII 
1294,  7.  Vm  622,  8. 


238  Siebentes  Kapitel. 

dass  man  in  den  Schulen  ausgewählte  Stellen  des  Demosthenes 
variierte.  Alles  übrige  fällt  unter  den  dehnbaren  Begriff  u;ropY]- 
{jLata  „Studien",  welcher  in  der  Regel  exegetische  Kommentare 
bezeichnet.  Höheren  Wert  darf  man  den  Monographien  über 
einzelne  Reden  beimessen;  so  schrieb  Apollonides  von  Nikaia 
unterTiberius  über  die  Rede  von  derTruggesandtschaft,Hermogenes 
über  die  Anklage  des  Androtion,  Longinos  behandelte  die  Reden 
gegen  Leptines  und  Meidias  ^).  Auf  Ueberreste  ähnlicher  Unter- 
suchungen werden  wir  bei  den  Schollen  zurückkommen.  Die 
im  übrigen  von  den  Soholien  citierten^)  oder  sonst  erwähnten 
Erklärer  des  Demosthenes  ^)  machen  eine  grosse  Zahl  aus,  aber 
schon  Hermogenes  klagt  über  die  ,,Jamraermenschen"  (IdXsjtoi), 
welche  sich  für  Erklärer  ausgeben  und  sogar  Bücher,  die  in 
den  Rhetorenschulen  nur  Unheil  anrichten,  zu  schreiben  wagen. 
Aus  den  allerdings  nicht  immer  Gutes  enthaltenden  Arbeiten 
dieser  Erklärer,  unter  denen  man  die  meisten  der  bekannteren 
Rhetoren  findet,  erwuchsen  die  in  zahlreichen  Handschriften 
überlieferten  Scholien*),  deren  Hauptbestand  nach  der  Ueber- 
lieferung  durch  Zosimos  von  Askalon  zusammengestellt  wurde  ^). 

1)  Ammon.  v.  o(pX(uv ;  Hermogen.  n.  18.  1,  12  p.  333,  3;  Phot.  cod.  265 
p,  492  a  29 ;  Suidas  irspl  xoü  xata  «I>£:8[oü  codd.), 

2)  Dindorf  Scholia  in  Dem.  VIII.  p.  XVI  ff.  Allgemeine  Verweisuugen 
auf  die  Erklärer  verzeichnet  er  IX.  p,  834. 

3)  Aspasios  von  Byblos  (Phot.  cod.  265,  Schol.  und  Schol.  Aeschiu.), 
Basileios  (Joh.  Sicel.  in  Hermog.  Walz  VI  435,  18),  =  Basilikos  (Schol.  Her. 
mog.  Walz  YII  878,  16)  Diodoros  (Suidas),  Dionysios  (Joh.  Sicel.  a.  O.),  Gym- 
nasios  (Suidas  unter  Konstantin),  Heron  (Suidas),  Menandros  v.  Laodikeia 
(Bursian  der  Rhetor  Menander  S.  16  f.),  Miuukianos  (Joh.  Sicel.  a.  O.), 
Nnmenios  (Suidas,  Schol.).  PoUion  (Suidas),  Salustios  (Suidas),  Aelius  Theou 
(Suidas),  Zeuou  (Schol.  Hermog.  VII  a.  O.  Der  konfuse  Suidas  verwechselte 
ihn  mit  dem  Philosophen  von  Kition)  Polyainos  (Excerpta  Florent.  ex  Stob.  45) 
urteilte  wohl  nur  gelegentlich  über  Demosthenes. 

4)  Schollen  wurden  zuerst  in  der  Aldina  von  1503 (zu  18  Reden),  dann  Inder 
Pariser  Ausgabe  von  1570  bekannt  gemacht.  Die  Scholieu  von  zwei  Münchner 
Handschriften  veröffentlichte  Reiske  (revidiert  in  Sauppes  Oratores  Attiei  II 
p.  48  ff.  und  Müller  II.)  Die  vollständigste  Ausgabe  ist  von  W.  Dindorf  im  8. 
nnd  9.  Bande  der  Oxforder  Ausgabe  veranstaltet.  Eine  Handschrift  von  Patmos 
brachte  neue  Schollen  (hrsg.  von  J.  Sakellion  Bulletin  de  correspond.  hellen.  I 
1877  p.  1  —  16.  137—155,  vgl.  C.  Contos  ib.  177—81,  Riemauu  182—92,  Th. 
Oomperz  Rhein.  Mus.  32  477  f,  Blass  Bursiaus  .Jahresber.  1878  1  117  ff. 
Die  lexikalisch-antiquarischen  Bemerkungen  behandeln  W.  Schunck  de  scholi- 
orum  in  Demosthenisoratione  18.  19.  21.  fontibus  disputatio  critica,  Coburg  1879 
und  Emil  Wan  gri  n  quaestt.  de  scholiorum  Demosthenic.  fontibus  I.  Halle  1883. 
5)  Er  wird  im  l'arisiuus  Y  und  einer  vatikanischen  Handschrift  (Dindorf 


I 


Demosthenes.  239 

Sie  beziehen  sich  meistens  auf  das  Rhetorische  und  Sprachliche, 
daneben  kommen  manche  historische  Notizen  und  sehr  wenige 
kritische  Bemerkungen  vor.  Die  Privatreden  wurden  kaum 
beachtet.  Was  die  Schohen  an  gelehrten  Notizen  bieten  — 
und  diese  sind  leider  sehr  dünn  gesät  — ,  scheint  auf  Mono- 
graphien zurückzugehen.  Diese  Klasse  von  Erklärungsschriften 
ist  neuerdings  durch  ein  die  Aristokratea  betreffendes  Fragment, 
welches  lexikalisch  angelegt  ist,  bekannt  geworden  ^). 

Eine  Erwähnung  verdienen  die  das  Verständnis  erleich- 
ternden Inhaltsangaben  der  einzelnen  Reden.  Schon 
Alexander  Numeniu  (unter  Hadrian)  und  Poseidonios  verfertigten 
solche.  Die  erhaltenen,  welche  meist  von  Libanios  herrühren,  sind 
mit  Vorsicht  zu  benützen,  da  er  wie  wir  bei  seiner  Arbeit  auf 
den  demosthenischen  Text  und  Schollen  angewiesen  war.  Eine 
allgemeine  Einleitung  trägt  den  Namen  eines  Ulpianos,  dessen 
Zeit  nicht  sicher  bestimmbar  ist  ^).  In  Handschriften  mögen 
noch  manches  Glossar  und  ähnliche  Produkte  byzantinischer 
Schulen  liegen  ^). 

Ich  glaube  diesen  verschiedenen  Hilfsmitteln  auch  eine 
eigentümUche  Art  von  Interpolation  beifügen  zu  dürfen.  Während. 

p.  XXI)  als  Verfasser  genannt,  womit  die  Citate  p.  30,  22.  33.  23.  676,  28. 
742,  23  übereinstimmen.  Zu  beachten  ist  auch,  dass  Schol.  Aeschin  p.  28, 
3  S.  (Aspasios?)  und  Schol.  Aristid.  p.  44,  25  (Sopatros?)  auf  ihre  Demosthenes- 
scholien  verweisen.  W.  Nitsche  der  Rhetor  Menandros  und  die  Schollen  zu 
Demostbenes,  Berlin  1883  schreibt  einen  grossen  Teil  der  Schollen  Menandros 
zu  d.  h.  dem  Verfasser  der  zweiten  Schrift  ^cpl  STCtSeixxtx&v,  welchem  Doxo- 
patris  jenen  Namen  gibt;  ein  eingehenderer  Beweis  ist  abzuwarten.  Jedenfalls 
sind  die  Scholien  nach  den  Handschriften  zu  scheiden  und  spätgriechische 
Ausdrücke,  die  in  unseren  mangelhaften  Wörterbüchern  fehlen,  nicht  als  in- 
dividuelle Eigentümlichkeiten  zu  bezeichnen,  z.  B.  ist  oi  xpeiTTovei;  eine 
Wendung,  die  ich  zufällig  bei  Plut.  Cimon  am  Ende  und  Michael  Psellos 
(Sathas  |jLEaaitov.  ßtßX.  IV.  p.  190  Z.  8  v.  u.  p.  232  Z.  14)    im  Singular   finde. 

1)  In  eioem  Fayümer  Papyrusstücke  der  Berliner  Bibliothek  (B 1  a  s  s 
Hermes  17,  148  ff.).  Ebenso  sind  offenbar  die  Bemerkungen  über  die  vierte 
Philippika  in  TCV  aus  der  Monographie  eines  sehr  hochmütigen  Verfassers 
(vgl.  p.  192,  14.  193,  28.  195,  22.  203,  18)  excerpiert,  wie  auch  die  text- 
kritischen Bemerkungen  der  Midiana. 

2)  Ulpianos  von  Antiochia  könnte  dieser  nicht  sein,  wenn  Zenon,  den  er 
erwähnt,  wirklich  im  vierten  Jahrhundert  lebte  (Dindorf  p.  XI),  aber  letzterer 
ist  vielleicht  der  unter  Commodus  lebende  Rhetor  (Philostr.  vit.  soph.  2,  24, 
vgl.  Bernhardy  Suidas  II  1826).  Seiner  Einleitung  gleichen  die  Vor- 
bemerkungen zur  10.<  11.,  13.— 17.  Rede. 

3)  Bandini,  catal.  codd.  Graec.  Laur.  II 419;  Fabricius-Harlesbibl,  Graec.VI  245, 


240  Siebentes  Kapitel. 

nämlich  die  Redner  bei  Herausgabe  ihrer  Werke,  die  von  ihnen 
verlesenen  Urkunden,   welche  ein  unorganisches  Element  in 
dem    Kunstwerke   gewesen    wären,    wegliessen    und    den  Leser 
durch  ihre  eigenen  Worte  über  den  Zusammenhang  aufklärten, 
finden  sich  in  den  viel  gelesenen  Reden  nicht  bloss    die  Lem- 
mata wie  Maptopta,  sondern  zahlreiche  Dekrete,  Zeugnisse,  Ge- 
setze   und    ähnliche    Urkunden    überhefert.      Nachdem    zuerst 
Contarini  ^),  dann  Brückner  ^)  gegen  die  Echtheit  derselben  Ver-       [ 
dacht    ausgesprochen    hatten ,     verwarf   Droysen  ^)    sämmtliche 
Dokumente    der  Kranzrede.     Aus    der  noch    immer    sich    fort- 
spinnenden Polemik,    welche   dieser    weittragenden  Aufstellung  ■■ 
folgte,    ist  nur   dieses  Resultat  mit  voller  Sicherheit  zu  ziehen,       ^ 
dass  die  Dekrete  der  Kranzrede  unecht  und  wahrscheinlich  von 
einem  kleinasiatischen  Rhetor  angefertigt  sind^);  ebenso  ist  das 
Epigramm  derselben  Rede  (§  289)  eingeschoben  und  zwar  irrtüm 
lich^).     Hingegen  haben  die  epigraphischen  Studien  das  abfällige 
Urteil,    welches  man    früher    über    die    gerichtlichen  Urkunden 
fällte^),    sehr  verändert');    ein   allgemeines  Urteil    kann    nicht 

1)  Variae  lectiones,  Venedig  1604. 

2)  König  Philipp  und  die  hellenisclien  Staaten ,  Göttingen  1807,  Anhang 
V  S.  364  ff. 

3)  Die  Urkunden  in  Demosthenes'  Rede  vom  Kranz,  Ztsch.  f.  Alterthiimsw. 
1839  Nr.  68—75.  88—90.  100—103.  114—120  (auch  separat),  mit  Nachtrag 
1845  Nr.  2—4. 

4)  Fr.  Franke  de  decretis  Amphictyonum  quae  apud  Demosthenem 
reperiuntur,  Lfdpz.  1844;  Joh.  Jak.  Wortmann  de  decretis  in  Demosthenis 
Aeschinea  exstantibus  Atticis  libelloque  Aeschinis,  Marburg  1877  (wo  der 
kleinasiatische  Ursprung  nachzuweisen  versucht  wird)  ;  Max  Schweitzer  d 
decretis  in  Demosthenis  de  corona  orat.  §  115.  116,  Halle  1877;  vgl.  auch 
Ahrens  de  dialecto  Dorica  p.  21  und  Hultsch  griechische  und  römische 
Metrologie  S.  *  130  A.  1.  Gegen  Droysen  traten  Böhuecke  und  Vömel  Rhein. 
Mus.  1,  636  flf.,  die  Aechtheit  der  Urkunden  in  des  Demosthenes  Rede  vom 
Kranze  vertheidigt  gegen  Herrn  Prof.  Droysen,  Frankfurt  1841,  42,  44;  Nach- 
trag zu  der  Abhandlung  über  die  Aechth.  der  Urk.  bei  Dem.,  Frankfurt  1845  auf. 

6)  Literatur  bei  Bergk  poetae  lyr.  Gr.  II''  332  ff.,  dazu  Clenim  Jahrbb. 
f.  Phil.  127,  15  ff.  Saueressig  de  epigrammate  sepulcrali  in  Atheni<'ns<'s 
apud  Chaeroneam  interfectos,  Oberehnheim  1882. 

6)  A.  Westermann  de  litis  iustrumentis  quae  exstant  in  Demosthenis 
oratione  in  Midium,  Leipz,  1844,  Untersuchungen  über  die  in  die  attischen 
Redner  eingelegten  Urkunden,  Abhaudl.  der  sächs.  Ges.  der  Wiss.  I  1  ff., 
comm.  de  jurisjurandi  judicum  Athen,  formula  quae  exstat  in  Demosthenis 
orat.  in  Timocratem  p.  L— III.  Leipzig  1858 — 59. 

7)  U.    Köhler    Hermes   2,  27    f.     Carl    Curtius    Philol.    26,    190    11., 


Demosthenes.  241 

ausgesprochen  werden,  vielmehr  müssen  die  Urkunden  jeder 
einzehien  Rede  für  sich  untersucht  und  geprüft  werden  und 
vielleiclit  wird  sicli  ein  Unterschied  zwischen  Demosthenes  und 
seinen  anonymen  Zeitgenossen  ergeben,  insofern  die  letzteren 
weniger  delikat  in  der  Aufnahme  fremder  Worte  gewesen  sein 
dürften.  Ferner  müssen  die  äusseren  Zeugnisse,  vornehmlich 
die  Schollen  und  die  stichometrischen  Angaben,  herbeigezogen 
werden  ^). 

Da  der  Text  der  Reden  nach  dem  oben  gesagten  den 
Rhetoren  anvertraut  war  und  von  den  zünftigen  Kritikern  ver- 
nachlässigt wurde,  ist  die  Ueberlieferung  nicht  sehr  gesichert. 
Schon  der  Umstand,  das  Demosthenes  manche  Reden  nicht 
selbst  herausgab^),  kann  der  Zuverlässigkeit  des  Textes  nur 
schädlich  gewesen  sein;  in  den  Rhetorenschulen  vollends,  wo 
man  die  Theorie  an  Demosthenes  einübte,  indem  z.  B.  demo- 
sthenische  Sätze  variiert  wurden  (S.  237  f.),  drangen  Interpol a- 


Philippi  Jahrbb.  f.  Phil.  105,  577  flf.  uiid  adnotatiunculae  ad  legum 
formulas  quae  in  Demosthenis  Midiaiia  exstant  nonnullae,  Pr.  der  Univ. 
Giessen  1878,  Konrad  Seeliger  das  Erbschaftsgesetz  in  Demosthenes' 
Makartatea  §51,  Rhein.  Mus.  31,  176  ff.  und  PhUol.  43,  417  ff.,  H.  Bür- 
luann  die  attische  Intestaterbfolge  (über  dieselbe  Urkunde),  Rhein.  Mus.  32, 
354  ff.,  Paul  Foucart  snr  Tauthenticite  de  la  loi  d'Evegoros  cit^e  dans  la 
Midienne,  Revue  de  philol.  n.  s.  1  (1877)  p.  168  fl.,  Wachholtz  de 
litis  instrumentis  in  Dem.  quae  fertur  oratione  in  Macartatum,  Kiel  1878 ; 
Joh.  Ernst  Kirchner  de  litis  instrumentis  quae  exstant  in  Demosthenis  quae 
fertur  in  Lacritum  et  priore  ad  versus  Stephanum  oratione,  Halle  1883,  dazu 
Rhein.  Mus.  40,  377  ff.  und  (über  die  Zeugenaussagen  der  Neairarede)  Rhein. 
MuR.  40,  377  ff.  geht  in  der  Verteidigung  von  einem  falschen  Prinzipe  aus; 
C.  Wachsmuth  Rhein.  Mus.  40,  301  ff",  zeigt  im  Gegenteil,  dass  XXXV  10  ff. 
unecht  sind.  O.  Stak  er  de  litis  instrumentis  quae  exstant  in  Demosthenis 
quae  feruntur  posteriore  adversus  Stephanum  et  adversus  Neaeram  orationibus, 
Halle  1885;  Ditten berger  Hermes  20,  5  A.  1. 

1)  Auf  das  Epigramm  Hai.  40  und  die  Gesetze  der  Timokratea  beziehen 
sich  gute  Schollen,  während  die  Urkunden  der  Midiana  übergangen  werden 
(Christ  die  Atticusausgabe  des  Demosthenes  S.  196  ff.).  Auch  bei  der 
Stichometrie  sind  diese,  sowie  die  der  beiden  Reden  gegen  Aischines  nicht 
mitgerechnet  (Christ  a.  O.  S.  192  ff.).  Das  Gesetz  in  der  Aristokratea 
citiert  Harpokration  v.  •na^E/.tuv.  Plutarch  Dem.  24  benützte  die  Urkunde  in 
§  54  der  Kranzrede;  ob  sie  in  Ciceros  Handschrift  (orat.  19)  nicht  stand,  ist 
bei  seiner  Flüchtigkeit  nicht  zu  entscheiden. 

2)  U.  V.  Wilamowitz  homerische  Untersuchungen  S.  309  schreibt  die 
Herausgabe  überhaupt  dem  Neffen  Demochares  zu. 

Sittl,  Geschichte  der  griecliischen  Literatur. U.  1^ 


2^2  Siebentes  Slapitel. 

ionen  verschiedenen  Ursprunges  und  Umfanges  ein^),  hie  und 
da  passte  man  vielleicht  auch  den  Text  den  jeweihg  geltenden 
Regeln  an.  Leider  schweigen  die  Schollen  gewöhnlich  über  die 
kritisch  unsicheren  Stellen ;  nur  zur  Midiaua  erwähnen  sie  einen 
alten  Text  und  eine  Vulgata  ^).  Man  schätzte  besonders 
Exemplare  des  sorgfältigen  Kalligraphen  Attikos,  auf  welche 
zu  Lukians  Zeit,  ob  sie  auch  von  Motten  zerfressen  waren, 
von  den  Bibliophilen  gefahndet  wurde  ^). 

Die  erhaltenen  Handschriften  scheinen  zum  Teil  auf  einen 
gemeinsamen  Archetypus  zurückzugehen,  weil  das  Ende  der 
Rede  gegen  Zenothemis  in  allen  fehlt^) ;  die  Rücksicht  auf  den 
Schulgebrauch  bewirkte,  dass  zwei  durch  Hermogenes  bekannte 
obscöne  Stellen  fehlen^).  Unter  unseren  Codices  ragt  die  mit 
S  bezeichnete  Pariser  Handschrift  aus  dem  zehnten  Jahrhundert 
hervor,  welche  auch  für  die  Erkenntnis  der  Interpolationen 
gute  Dienste  leistet");  Reiske  hatte,  weil  er  diese  Handschrift 
nicht  kannte,  in  erster  Linie  eine  Münchner  Handschrift,  den 
Augustanus    A,     benützt'').      Unter     den     übrigen     Codices*) 


4 


i 


1)  Carl  Meutzner  de  interpolationis  apnd Demosthenem  obviae  vestigiis, 
Plauen  1871.  Mehrere  Interpolationen  unserer  Handschriflen  werden  durch 
die  testinionia  veterum  aufgedeckt  (H.  Usener  Rhein.  Mns.  25,  597  ff. 
Fr.  Blass  Khein.  Mus.  38,  612  ff.). 

2)  'H  ap-^aia  p.  f>25,  13;  4)  87]}j.a)8fjc  p.  618,2.  Eine  Variante  wird  noch 
p.  149,  15  angeführt. 

3)  Lucian.  adv.  indoct.  2,  vgl.  24.  Aus  dieser  Stelle  ergibt  sich,  dass 
Attikos  nicht  ein  Buchhändler  (wie  Ciceros  Freund)  war.  Harpokration  citiert 

die  'Axttxiavdc   v.    exnoXe}i.ü)aai   und    votuxpapix« ;    v.  dveXoüoa    führt    er    eine 
doppelte  Lesart  an. 

4)  Vgl.  liehdantz   Jahrbb.  f.  Phil.  1868  S.  464  f. 

5)  II.  i3.  2,  3  p.  353  (vgl.  Z.  23). 

6)  Den  Wert  erkannte  zuerst  Dobree  ;  Bekker  benützte  sie  in  der  Oxforder 
Ausgabe  von  1823  und  der  Leipziger  von  1854  (vgl.  Monatsberichte  der 
preuss.  Akad.  1864  S.  252  ff.).  Eine  Kollation  Dübners  verwertete  W.  Diu- 
dorf  Oxford  1846  (revidiert  in  der  Vorrede  der  Leipziger  Ausgabe  1865).  Die 
beste  Kollation  liegt  für  die  ersten  zwanzig  Reden  in  Vöniels  contiones,  Halle 
1856,  Leipz.  1862,  1866  vor.  Dieser  Handschrift  steht  eine  Florentiner  A 
nahe,  s.  Ferd.  Schultz  de  codicibus  quibusdam  Demosthenicis  ad  or.  Philip- 
picam  IIL  nondum  adhibitis ,  Berlin  1860  (bei  Vöniel  zur  0.,  8.,  18.— 20. 
kollationiert). 

7;  A.  Spengel  über  die  Handschrift  codex  Augustanus  L  Monac.  des 
Demosthenes,  München  1872  (Kollation  der  Staatsreden). 

8)  AoBser  Yömelfl  contiones,  dessen  Kollationen  ungenau  sind,  vgl.  Reh' 


Demostlienes.  243 

verdienen  die  Handschrift  F  und  der  angeblich  daraus  ab- 
schriebene  Bavaricus  ß  besondere  Beachtung,  weil  ihr  Arche- 
typus nach  der  Subscription  aus  zwei  Attikosexemplaren 
korrigiert  wurde  ^);  ebenso  enthalten  sie  gemeinsam  mit  E  An- 
gaben über  "die  Zeilenzahl^).  Hie  und  da  geben  kritische 
Zeichen  von  der  Thätigkeit  der  Kritiker  Kunde  ^).  Für  die 
Privatreden  ist  noch  fast  alles  zu  thun  und  selbst  für  die  übrigen 
Reden  ist  der  Apparat  recht  mangelhaft. 

Ein  gewisses  Interesse  gebührt  auch  der  Reihenfolge 
der  Reden,  welche  in  den  Handschriften  wechselt*).  Als  fest- 
stehende Gruppen  existierten  die  oofi-ßooXsoxtxoi,  die  dri\L6oioi  und 
die  iStwTtxoi,  sodann  die  imdeixTi-Koi  und  endlich  die  Proömien 
sammt  den  Briefen.  Bei  der  ersten  Gruppe  schied  man  wieder 
die  ^iki'KTziv.oi  aus  und  stellte  sie  chronologisch  geordnet  und 
mit  fortlaufenden  Nummern  versehen  an  die  Spitze^);  hierauf 
folgten  die  übrigen  *').  Die  zweite  Abteilung  wird  regelmässig 
mit  den  unechten  Reden  XXV.  XXVI.  beschlossen,  während 
die  Ordnung  der  übrigen  schwankt.     In  S   gehört   zu   ihr  mit 


dantz  Jahrbb.  f.  Phil.  1857  S.  813  ff.  1858  S.  456  ff.  559  ff.;  Th.  H|eyse 
Beschreibung  der  griech.  Codices  des  Demosthenes  in  Rom,  Frankfurt  a.  M. 
1838;  F.  A.  Faley  on  a  uncollationed  Ms.  of  Demosthenes  of  saec.  XIV., 
Journal  of  philology  V  (1874)  p.  28  ff.;  Geron.  Vitelli  Pubblicazioni  del  r. 
istituto  degli  studi  superiori,  sez.  di  filos.  e  filol.  II.  disp.  IIa.  Florenz  1876 
(Kollation  von  10  Handschriften  der  Laurentiana  für  die  Halonnesrede). 

1)  Atwp'&cu'cai  öcjrö  Süo  'Axxtxiavoiv. 

2)  W.  Christ  die  Atticusausgabe  des  Demosthenes,  Abh.  der  bayer. 
Akad.  1882  (S.  172  ff.  führt  er  sie  auf  die  Attikosexemplare  zurück);  Vitelli 
Museo  Italiano  I  p.  172  ff. 

3)  Christ  a.  O.  S.  177  ff.  (besonders  in  der  Midiana) ;  H.  Weil  Melanges 
Graux  p.  13  ff.  Die  Schollen  erwähnen  ausserhalb  der  Midiana  (p.  587,  25. 
590,  29)  bloss  p.  126,  3  7iapdaYj[j.a. 

4)  Weil  harangues  p.  XXXVIH  ff. ;  Blass  S.  48ff.;  Christ  a.  O. 
S.  213  ff. 

5)  Über  die  Zählung  vgl.  die  Subskription  in  S  unter  der  Halonnesrede, 
Walz  rhet.  V  448,  18.  VI  38,  Excerpt.  Flor,  ex  Stob.  69,  die  Citate  beiSuidasu.  a. 
Die  Ordnung  unserer  Ausgaben  ist  aus  B,  womit  Harpokration  und  andere 
übereinstimmen  (BÖhnecke  Forschungen  I  232);  S  ordnet  5. — 8.:  8,  7,  5,  6 ; 
A  stellt  4  an  den  Anfang  und  vertauscht  die  beiden  letzten.  Die  übrigen 
ordnen  die  Eeden  ganz  äusserlich  1. — 4.,  6.,  9. — 11.,  8,  7.,  5. 

6)  Daher  steht  argum.  XIII.  6  Xo-^oi;  ooxoc  oüxett  ^tXtuTrixo?  eaxt.  In  S 
gerieten  sie  an  das  Ende  der  ganzen  Handschrift,  wobei  der  Schluss  von  XVII. 
verloren  ging.  Aehnlich  stehen  in  den  Schollen  der  Aldina  13. — 17. hinter  18.—  24. 

16* 


244  Siebentes  Kapitel. 

vollem  Rechte  LIX.  und  Libanios  fügt  ebenso  richtig  LVII. 
und  LVIII.  bei.  Hinsichtlich  der  Privatreden  befolgt  S  ein 
verständiges  Prinzip,  indem  die  Tzapa.'^pcf.^iv.oi  (in  welche  die 
Reden  gegen  Stephanos  eingeschoben  sind)  und  die  sTrtTpoTctxoi 
gesonderte  Gruppen  bilden  ^). 

An  Gesammtau sgaben  sind  aus  dem  sechzehnten  Jahr- 
hunderte die  Aldina  von  1504  (editio  princeps  fol,  verbessert 
1527)  und  die  Venediger  Ausgabe  des  Jo.  Bern.  Felicianus 
1543  (3  Bde.  Oktav)  zu  nennen;  grundlegend  aber  wurde  für 
die  folgenden  Jahrhunderte  die  mit  variae  lectiones  und  einigen 
Noten  ausgestattete  Recension  des  Hieronymus  Wolf,  die  zu- 
erst wahrscheinlich  1549,  verbessert  1553,  zuletzt  1572  (in  sechs 
Foliofascikeln)  zu  Basel  erschien.  Von  den  folgenden  verdient 
vor  Reiske  nur  die  Ausgabe  von  Guill.  Morel,  welche  Dion. 
Lambin  1570  zu  Paris  abschloss,  Erwähnung.  Das  Studium 
des  Demosthenes  war  lange  Zeit  durch  den  Ciceronianismus 
unterdrückt;  erst  die  Blüte  der  französischen  Kanzelberedsamkeit 
führte  Demosthenes  begeisterte  Freunde,  unter  denen  F^nelon 
hervorragt,  zu,  ohne  die  wissenschaftliche  Bearbeitung  zu  fördern. 
Eine  imposante  Leistung  ist  die  Ausgabe  Job.  Jak.  Reiskes, 
welche  den  ersten  Teil  seiner  oratores  Graeci  (Leipzig 
1770)  bildete  und  von  Gottfr,  Heinr.  Schäfer  (London 
1823 — 26,  4  Bde.)  revidiert  und  erweitert  wurde.  Auger  brachte 
Paris  1790  einen  noch  umfänglicheren  Apparat  zusammen. 
Den  Wust  der  alten  Variantensammlungen  entfernte  die  Aus- 
gabe L  Bekkers  (Oratores  Attici  IV.  V.),  wo  der  Codex  S  zum 
Führer  erwählt  wurde  ^).  Auf  dieser  Bearbeitung  ruhen  alle 
neueren  Ausgaben^).  Für  die  Staatsreden  hat  J.  Th.  Vömel 
(Demosthenis  contiones,    Halle  1856)*),   den   reichsten  Apparat 


1)  Mit  dieser  Ordnung  stimmt  so  ziemlich  ein  von  Rud.  Scholl  Henues  3, 
276  f.  publiziertes  Verzeichnis,  welches  am  Anfange  59.  und  am  Ende  13, 
14,  16,  16  beifügt;  die  17.  Rede,  von  veelcher  S  bloss  ein  Stück  hat,  fehlt. 
Über  die  Ordnung  des  Libanios  belehren  BF  und  ein  Parisinus  (Weil  haran- 
gues  p.  XXXVIII,  3),  wo  die  Argumente  zusammengestellt  sind. 

2)  Noch  konsequenter  führte  er  dies  in  seiner  letzten  Ausgabe  Leipzig 
1864  f.  durch. 

3)  Ich  nenne  bloss  Baiter-Sanppe  (Oratores  Attici  1841),  Job.  Vömel 
Paris  1843—46,  2  Bde.  und  1868,  Wilh,  Dindorf  Oxford  1846—51,  9  Bde. 
(1.— 4.  Text,  8.  9.  Schollen)  und  Leipzig  »  1865  3  Bde. 

4)  Ferner  de  Corona  et  de  falsa  legatione  Leipzig  1862,adversus  Leptinem  1866. 


Demosthenes.  245 

nach  neuen  aber  ungenügenden  Kollationen  zusammengebracht ; 
zu  den  Privatreden  fehlt  eine  kritische  Ausgabe. 

Die  Erklärung  der  demosthenischeu  Reden  beginnt  mit  der 
Ausgabe  Wolfs ;  auch  Job.  Taylor  (in  der  Ausgabe  von  Canter- 
bury  III.  1748)  und  Cesarotti  (in  seiner  Uebersetzung,  Bergamo 
1781 — 82)  verdienen  genannt  zu  werden.  Jacques  de  Tourreil 
(preface  historique  seiner  Uebersetzung,  Paris  1691 — 1721, 
und  Lucchesini,  welcher  Rom  1712  dreizehn  Staatsreden  heraus- 
gab, bahnten  die  historische  Erläuterung  an.  Die  ältere  Periode 
schliesst  mit  Reiskes  Kommentar  ab  ^);  Dindorf  fasste  im  5. — 7. 
Bande  der  Oxford  er  Ausgabe  die  früheren  Erklärer  zusammen. 
Eine  kommentierte  Ausgabe  des  Demosthenes  fehlt  in  Deutsch- 
land noch;  dagegen  weiss  Henri  Weil  in  ArjiJioaO-svooc:  al  Stj^xt]- 
Yopiau  Les  harangues  (Paris  1873.  ^1881)  und  Les  plaidoyers 
politiques  (I.  Paris  1877.  ^1883:  Leptiue,  Midias,  Ambassade, 
Couronne)  Kritik  und  exakte,  geschmackvolle  Erklärung  glück- 
lich zu  verbinden  ^).  Desto  mehr  ist  für  die  Erklärung  einzelner 
Reden  geschehen;  ich  erwähne:  Orationes  selectae  comment. 
iiistr.  ab  J.  H.  Bremi,  2  Hefte,  Gotha  1829—34,  2.  A.  von 
Sauppe  I.  1845;  Ausgewählte  Reden,  erklärt  von  Ant.  Wester- 
mann (neu  von  Emil  Müller  und  Rosenberg),  Berlin  I  ^1883 
1.— 6.  8.  9.  Rede,  II.  ^874  18.  20.,  UI.  ^865  23.  54.  57;  Ausge- 
wählte Reden,  erklärt  von  C.  Rehdantz  I.  ^  (von  Fr.  Blass)  1. — 4. 
IL*  5. — 9.  und  Indices  (für  das  Verständnis  der  rhetorischen 
Kunst  sehr  wichtig),  auch  select  private  orations  by  F.  A. 
Paley  and  J.  E.  Sandys,  I.  II.  London  1875,  dann  die 
Aristokratea  von  Ernst  W.  Weber,  Jena  1845,  Leptinea  von  F. 
A.  Wolf,  Halle  1789,  hrsg.  von  Bremi,  Zürich  1831,  Midiana 
von  Phil.  Buttmann,  Beriin  ^  1864  und  E.  Fennell,  Lond.  1883 
und  against  Androtion  and  against  Timocrates,  by  W.  Whayte, 
Cambridge  1882. 


1)  Am  bequemsten  in  Gottfr.  Heinr.  Schäfer  apparatus  criticus  et  exe- 
geticus  ad  Demosthenem,  Leipzig  1824—33,  6  Bde.  Dobree  adversaria  I 
627  ff.  gibt  Nachträge  zu  Reiskes  wertvollem  index  Graecitatis. 

2)  Separat  erschienen  Les  quatre  Philippiques  1880  und  Discours  de  la 
couronne  1884. 


Achtes  Kapitel. 
Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes. 

Aischines ;  Hypereides ;  Lykurgos ;  Polyeuktos  ;  Aristogeiton ;  Pytheas ; 
Philinos  und  Kallikrates. 


Demosthenes  kam  dem  Geschmacke  seiner  Zeit  mehr  als^ 
alle  übrigen  entgegen,  welche  gleichzeitig  mit  ihm  das  athenisch( 
Volk  zu  leiten  strebten.     Gerade  derjenige  unter  seinen  Gegnern,] 
welchen   er    am    erbittertsten    verfolgte,   hatte   statt   der  Med« 
der    eigenen    Zeit    die   Redner    der    Glanzperiode    Athens    voi 
Augen. 

Atrometos,  der  Vater  des  Aischines,^)  hatte  im  dekeleischei 
Kriege  sein  Vermögen  verloren  und  während  der  Herrschaf 
der  Dreissig  als  Söldner  gedient^);  die  Familie  musste  siel 
schlecht  und  recht  durchschlagen  und  jedes  Glied  derselbe! 
eine  lohnende  Beschäftigung  suchen  ^).  Der  390  oder  389  geborene*]| 

1)  Die  Hauptquellen  seiner  Biographie  sind  seine  und  des  Demosthene 
Reden;  auch  Demetrios  von  Phaleron  (Schol.  Aeschin.  2,  1)  und  Demochare 
(Ps.  Plut.  840  e.  Harpocr.  v.  "lo/avSpoc  =  Auon.  Z.  26  fi.)  sprachen  von  ihr 
Die  Biographie  des  Dionysios  ging  verloren;  die  erhaltenen  rühren  von  der 
Rhetor  ApoUonios  und  einem  Anonymus  her,  ausserdem  besprechen  Pseudc 
plutarch  im  Leben  der  zehn  Redner  (ähnlieh  Photios  bibl.  264  p.  490),  Philo 
Stratos  (vit.  soph.  1,  18),  Photios  (bibl.  cod.  61  p.  20)  und  Suidas  (in  zwe| 
Artikeln)  Aischines'  Leben.  Vgl.  Ewald  Stechow  de  vita  Aeschinis  oratoris 
Berlin  1841 ;  A.  Schäfer  Demosthenes  1 191  flf. ;  Blass  att.  Bereds.  III  2,  129  flEiJ 

2)  Aeschin.  2,  147  f.;  weitere  Verwandtschaft  2,  78;  er  wurde  95  Jahr 
alt  3,  191. 

3)  Der  Vater  war  nach  Demosthenes  19,  281  (vgl.  19,  249.  18,  258.  266,J 
lügenhaft  18,  129  ff.)  Schulmeister,  die  Mutter  Glaukothea  (Glaukis  evioi  be 
Apoll.  8)  übte  das  Amt  einer  Priesterin  aus  (19,  199.  249.  281.  18,  259.  284,| 
unwahr  18,  129  f.  265).    Dom  Demos  nach  ist  Aischines  KoO-toxiSTj?  Demosth.. 
18,  180. 

4)  So  gibt  er  1,  49  selbst  au   (daraus  ist  epist.  12,  1  errechnet,   indem! 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  247 

Aischines  konnte  daher  den  kostspieligen  Unterricht  der  Sophisten 
und  Rhetoren  nicht  geniessen  ^),  sondern  sah  sich  hinsichtlich 
seiner  Bildung  auf  den  Vater,  welcher  eine  Elementarschule 
hielt,  und  den  eigenen  Fleiss  angewiesen.  Herangewachsen 
nahm  er  die  Stelle  eines  Sekretärs  an^),  ein  Amt,  das,  wenn 
es  auch  bei  den  vermögenden  Athenern  wegen  der  damit  ver- 
bundenen Besoldung  wenig  geachtet  war,  ohne  Zweifel  dem 
Inhaber  eine  genauere  Kenntnis  der  Verwaltung  verschaffte  als 
die  eigentlichen  Beamten  sich  in  der  Regel  aneignen  konnten. 
Doch  befriedigte  diese  Stellung  Aischines  nicht,  seine  eigent- 
liche Liebe  war  den  schönen  Künsten  zugewandt.  Wie  sein 
Bruder  Philochares,  der  zur  Zeit  des  Gesandtschaftsprozesses 
schon  das  dritte  Jahr  Stratege  war^),  nebenbei  die  Malerei  be- 
trieb*), so  machte  Aischines  selbst  Liebesgedichte  (1, 135  f.)  und 
spielte  auf  kleinen  Bühnen  Rollen  dritten  Ranges,  bis  ihm  ein 
entschiedener  Misserfolg  dieses  Vergnügen  verleidete^).  Glück- 
licher war  er  in  seinem  eigentlichen  Amte,  wo  er  das  Vertrauen 
der  angesehensten  Staatsmänner  errang;  schon  Aristophon  zog 
ihn  an  sich,  als  er  sein  rhetorisches  Talent  erkannte,  und  Hess  sich 
in  einem  Prozesse  von  ihm  unterstützen  *').  Auch  Eubulos  wusste 
den  geschickten  Mann  zu  schätzen ;  unter  seinem  Schutze  erhielt 
er  348  den  Auftrag,  im  Pelopoimes  nach  Bundesgenossen  zu 
suchen '').     In  demselben  Jahre  vielleicht  wurde  er  zum  Staats- 

cler  Ausbruch  des  Krieges  als  seine  axfXYj  galt,  wie  auch  ApoUon.  Z.  63,  wonach 
er  75  Jahre  alt  starb). 

1)  2,  41  xY]v  cpüGtv.  3,  228  ebenso  u.  tyjv  xuiv  Xoywv  £[j,TC£tplav.  Trotzdem 
dichtete  man  ihm  Lehrer  an :  Leodamas  (Caecilius  bei  Ps.  Plut.  840  b  wegen 
Aeschin.  3,  138),  Plato  (Ps.  Plut.  840  b  und  Apoll.  Z.  33  ttvlc,  Philostr.  §  3, 
Phot.  p.  20  a  40;  er  benützte  das  Symposion  nach  A.  Hug  ßhein.  Mus.  29,  440), 
Isokrates  (S.  133  A.  5)  oder  Alkidamas  (Suid.  I.,  verderbt  Phot.  p.  20  a  40). 
Aus  der  häufigen  Verwechslung  von  Isokrates  und  Sokrates  entstand  die  Lesart 
Apollon.  Z.  34,  die  ausgedeutet  wurde  in  einem  übrigens  gelehrten  Scholion 
zu  2,  1  (vgl.  Westermann  zu  Apoll.  1.  c.) ;  dadurch  erfahren  wir,  dass  Kaikilios, 
llermippos  und  Idomeneus  (ol  oe'  Ps.  Plut.  840  f)  die  Lehrerschaft  des  Plato 
und  Isokrates  bestritten;  an  Siuupcctoü?  ist  Demetrios  gewiss  unschuldig. 

2)  Demosth.  18,  261.  19,  200.  237,  249. 

3)  Aeschin.  2,  149. 

4)  Demosth.  19,  237. 

5)  Demosth.  19,  246  flf.  337  (scheinbar  bestimmter  18,  180  und  Demo- 
chares  s.  S.  246  A,  1). 

6)  Demosth.  19,  291,  vgL  18,  162. 

7)  Demosth.  19,  10  f.  291.  302  ff.  310  f. 


248  Achtes  Kapitel. 

Sekretär  gewählt^)  und  durfte  nach  Ablauf  seines  Amtes  dasselbe 
seinem  Bruder  Aphobetos  übergeben.  Im  Jahre  347  nahm 
Aischines  an  der  Gesandtschaft,  welche  mit  Philipp  unterhandeln 
sollte,  Teil  und  spielte  dabei  eine  hervorragende  Rolle;  trotz 
der  Anklage,  welche  Demosthenes  mit  Timarchos  gegen  ihn 
erhob,  wählten  ihn  die  Athener  bald  darauf  zum  Pylagoren; 
in  dieser  Stellung  wirkte  Aischines  zu  Gunsten  der  Fhoker^). 
Timarchos  machte  er  durch  eine  geschickte  Gegenklage  rasch 
unschädlich  und  auch  Demosthenes  konnte  seine  Verurteilung 
nicht  durchsetzen ;  denn  Eubulos  und  Phokion,  die  geachtetsten 
Männer  Athens,  traten  als  Bürgen  seiner  Unschuld  auf;  immerhin 
setzte  es  die  Partei  des  Demosthenes  durch,  dass  der  Areopag 
sein  Veto  einlegte,  als  Aischines  das  Volk  vor  dem  Gerichtshofe 
der  Amphiktyonen  vertreten  sollte^).  In  den  nächsten  Jahren 
hielt  er  sich,  durch  eine  bedeutende  Erbschaft  in  angenehme 
Lage  versetzt*),  vollkommen  ruhig  ;^)  339  v^urde  er  wieder  zum 
Pylagoren  ernannt  und  spielte  die  bekannte  Rolle  (S.  187  f.).  Dass 
Aischines  kein  bestochener  Verräter  war,  beweist  sein  ferneres 
Leben.  Nach  dem  Siege  der  Makedonier  nahm  er  an  dem 
öffentlichen  Leben  nicht  mehr  Anteil  als  in  den  vorhergehenden 
Jahren,  ausser  dass  ihn  das  Volk  nach  der  Niederlage  zu 
Philipp,  seinem  Gastfreunde,  als  Friedensvermittler  schickte''). 
Seine  letzte  That  war,  gegen  das  Dekret  des  Ktesiphon,  welches 
Demosthenes'  Pohtik  glorificierte,  Einspruch  zu  erheben ;  aber 
sein  Gegner  war  damals  zu  mächtig.  Als  Aischines  nicht 
einmal  den  fünften  Teil  der  Richter  für  sich  hatte  und  somit 
der  teilweisen  Atimie  verfiel,  wollte  er  in  Athen  nicht  länger 
bleiben ').     Ging  er  nun  etwa  zu  Antipatros?  Keineswegs !  Die 


1)  Demosth.  19,  249. 

2)  Aesehin.  2,  142  f.  (mit  Zeugnis  belegt;  Demosth.  schweigt). 

3)  Demosth.  18,  134. 

4)  Demosth.  18,  312;  die  Beschuldigung,  er  habe  ev  t^  xwv  anoXwXötcuv 
oo(i|i.a}(tuv  X"»P?  (19,  145  ähnlich  18,  41)  ist  so  oberflächlich,  dass  sie  keinen 
Glauben  verdient;  Schol.  Aesehin.  1,  3  spricht  daher  von  Pydna. 

6)  Demosth.  18,  139. 

6)  Aesehin,  3,  227.     Demosth.  18,  282  flf. 

7)  Von  Demosthenesenthusiasten  stammt  die  rührende  Geschichte,  dass 
Aischines  von  seinem  Gegner  Trost  und  Keisegeld  auf  den  Weg  bekam  (Ps. 
Plut.  845  e.  ol  8e  nach  Hellad,  bei  Phot.  bibl.  279  p.  534  b  13  ff.)  Nach  einigen 
(Ps.  Plut.  840c)  wurde  er  zur  Abreise  genötigt. 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  249 

Ueberlieferung  ist  doppelt :  Nach  den  einen  ging  er  direkt  nach 
der  Insel  Rhodos  ^);  die  anderen  lassen  ihn  nach  Ephesos  gehen 
nnd  auf  Alexander  warten !  Als  dieser  nach  mindestens  sieben 
Jahren  starb,  soll  sich  Aischines  eine  Zeitlang  in  Rhodos  auf- 
gehalten haben  und  endlich  auf  Samos  gestorben  sein  ^). 

Aischines^)  war,  wie  aus  den  eben  berichteten  Lebens- 
verhältnissen hervorgeht,  weder  ein  Advokat  noch  ein  Politiker 
von  Profession,  sondern  ein  geschickter  Verwaltungsbeamter, 
dem  seine  Gönner  hie  und  da  auch  politische  Aufträge  zu- 
wandten; von  seiner  Mutter  mag  das  Interesse  für  religiöse 
Dinge  stammen.  Auch  im  Felde  erfüllte  Aischines  vortrefflich 
seine  Pflicht  und  wurde  sogar  öffentlich  ausgezeichnet  (2, 170). 
Vom  Staatsmann  forderte  er  persönliche  Unbescholtenheit 
(3,  78)  und  bethätigte,  selbst  nie  von  jemand  ausser  von  Demo- 
sthenes angeklagt  (1, 1),  diesen  Grundsatz,  indem  er  an  Timar- 
chos  ein  Exempel  statuierte.  Das  Ideal  des  Redners  waren  die 
Männer  aus  der  alten  Schule,  deren  Gemessenheit  und  Anstand 
ihn  anzogen;  schon  diese  Neigung  musste  Aischines  für  die 
Politik  der  gebildeten  und  reichen  Bürger  einnehmen,  während 
ihm  Demosthenes  mit  seinen  theatralischen  Geberden,  der 
wenig  wohlklingenden  überanstrengten  Stimme,  seinem  Pathos 
und  den  Kraftausdrücken  von  vornherein  widerwärtig  war. 
Aischines  war  weder  ein  bedeutender  Politiker  noch  ein  impo- 
nierender Charakter,  im  Gegenteil  ein  etwas  zimperlicher  und  selbst- 
gefälliger Mensch,  der  das  Wort  Bildung  allzu  oft  im  Munde 
führte^)  und  gerne  mit  seiner  Kenntnis  der  Dichter  prunkte^), 
zum  Verräter  jedoch  konnte  ihn  nur  ein  beklagenswerter  Partei- 
hass  stempeln. 

So    sehr  Aischines   die  Handlungsweise    des  Demosthenes, 


1)  Ps.  Plut.  840  c.  Ps.  Aeschin.  epist.  I.  V.  VI.  XI.  3;  Besitzung  auf 
dem  rhodischen  Festland  XII  IJ.  Er  gründete  auf  der  Insel  angeblieh  eine 
rhetorische  Schule  (Ps.  Plut.  840  d.  Philostr.  §  2.  Phot.  p.  20  a  26.  Suid.  I.  n. 
entstellt  Anon.  Z.  24  f.),  was  Anon.  Z.  20  ff.  leugnet. 

2)  Ol  U  bei  Ps.  Plut.  840d,  Phot.  61  p.  20a  22  ff,  vgl.  Plut.  Dem.  24. 
Anon.  Z.  17  ff. 

3)  Georg  Marchand  Charakteristik  des  Redners  Aeschines,  Kassel  1876 
(Dias.  V.  Jena). 

4)  'AxcaiSsoToc  (z.  B.  1,  166.  3,  130),  ttTtaiSeuoia  (2,  113.  153.  3,  241  u.  ö.) 
und  rtai^sia  kommen  häufiger  als  bei  einem  anderen  Schriftsteller  vor. 

6)  A.  H  ug  Rhein.  Mus.  29,  438, 


250  Achtes  Kapitel. 

darunter  auch  das  Redenschreiben  missbilligte,  musste  er  sich 
doch  entschliesseii,  die  drei  Reden,  welche  er  bei  seineu  Kämpfen 
gegen  Demosthenes  vor  Gericht  gehalten  hatte,  zu  veröffent- 
lichen, damit  die  Nachwelt  ihn  nicht  nach  den  Reden  seines 
Gegners  allein  beurteilte. 

Wie  wir  sahen,  nahm  Demosthenes,  als  er,  von  der  Ge- 
sandtschaftsreise zurückgekehrt ,  Aischines  anklagte ,  unvor- 
sichtiger Weise  Timarchos  zum  Genossen ;  Aischines  benützte 
diesen  Fehler  sofort,  indem  er  nachwies,  dass  Timarchos  nach  ^ 
den  Gesetzen  wegen  seines  wüsten  Jugendlebens  die  bürger-^l 
heben  Rechte  verwirkt  habe.  Die  Verhandlung,  welcher  die 
erste  Rede  gegen  Timarchos^)  gilt,  fand  Anfang  345  unter 
grossem  Zulauf  von  Menschen  statt  ^)  und  hatte  die  Verurteilung 
des  Angeklagten  zur  Folge  ^).  Aischines  hat  den  bedenklichen 
Stoff  in  zugleich  decenter  und  moralischer  Weise  behandelt 
und  sich  gewiss  bei  allen,  die  auf  Integrität  eines  Politikers 
hielten,  Dank  verdient.  Wir  sehen  aus  Demosthenes'  Gesandt- 
schaftsrede, dass  Aischines  die  Rede  vor  der  Herausgabe  lunar- 
beitete  *),  offenbar  damit  auch  die  Einwürfe  des  Demosthenes 
nicht  unwiderlegt  blieben.  Denn  letzterer  hat  gewiss ,  wie 
Aischines  in  Aussicht  stellt,  Timarchos  verteidigt;  es  war  ja 
eine  Ehrenpflicht  für  ihn.  Statt  jedoch  diese  für  ihn  nicht 
gerade  ehrenvolle  Verteidigungsrede  herauszugeben ,  nahm  er 
lieber  bei  der  Redaktion  seiner  Rede  „über  die  Truggesandt- 
schaft" auf  diesen  ersten  Prozess  Bezug  ^). 

Erst  im  Jahre  343,  als  die  Verhältnisse  für  Demosthenes 
sehr  günstig  lagen,  kam  der  zweite  Prozess  zur  Verhandlung; 
dieser    veranlasste    die    zweite  Rede   jrspi    TcapaTcpeoßelac^). 


1)  Kaxä  Ti|i.ap)(OD,  argum.  II.  nspl  StaipYjostoc. 

2)  Vgl.  §  80  6t'  sßouXeos  nepoai  und  §  167  rtptpvjv  ev  zolz  xax'  ttypo^C 
Aiovoaioi-;.  You  der  grossen  Zuhörerschaft  spricht  Aischines  §  117  selbstgefällig. 

3)  Aus  Demosth.  19,  2  schlössen  Ps.  Plut.  841a  und  Tzetz.  Chil.  6,  59, 
dass  er  sich  erhängte  (ebenso  zv.oi  im  Argum.  I  mit  dem  Zusätze  tY]v  xpiaiv 
o6x  ^Ttofieivac). 

1)  Blass  S.  176,2. 

2)  Schäfer  U  321  (er  zieht  daraus  den  Schluss,  Demosthenes  sei  nicht 
aufgetreten). 

3)  Bei  Harpokration  ev  tcb  «apartpsoßeiac,  wepl  tyji;  npeaßsiac,  ev  t-jj 
KEpl  xxfi  (napa)7tpsaßstac  aitoXo-ftot  (auch  v.  ©epjiav  herzustellen) ;  anoXo-fia 
Harpocr.  v.  Ixet-rjpia  und  Apsines  p.  403,  6  Sj). 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  251 

Auch  diese,  das  Hauptwerk  des  Aischines,  ist,  wie  das  Pro- 
ömium  zeigt,  erst  nach  der  Verhandlung  ausgearbeitet.  An 
rhetorischer  Gewalt  kann  sie  sich  mit  der  demosthenischen 
Anklage  nicht  messen;  freilich  ruht  bei  Demosthenes  das  Ge- 
wicht auf  der  Ueberredung  der  Richter,  während  Aischines  sie 
durch  Dokumente  oder  Schlüsse  zu  überzeugen  sucht. 

Auch  die  dritte  Rede  „gegen  Ktesiphon"  (scheinbar  330 
gehalten)^)  wäre  an  sich  ein  vortreffliches  Werk,  aber  von  Demo- 
sthenes' Kranzrede  wird  sie  tief  in  den  Schatten  gestellt;  Aischines 
wendet  sich  ja  wiederum  mehr  an  die  Rechtskenntnis  und  den  Ver- 
stand als  an  das  Gefühl  und  die  Phantasie  der  Richter.  Er 
folgt  eben  dem  Schema  der  Paranomenklagen,  wie  wenn  er  mit 
einem  weniger  gefährlichen  Gegner  zu  thun  hätte,  und  so  greift 
er  zuerst  die  Ungesetzlichkeit  des  Antrages  und  dann  erst  die 
Motivierung  an.  Wenn  wir  aber  volle  Gerechtigkeit  walten 
lassen  wollen,  ist  auch  in  Anschlag  zu  bringen,  dass  des  Demo- 
sthenes Rede  in  harmonischer  Abrund ung,  so  wie  der  Ver- 
fasser sie  gelesen  wissen  wollte,  erhalten  ist,  wogegen  Aischines, 
wie  es  scheint,  die  Rede  nicht  mehr  selbst  herausgab,  obwohl 
er  dazu  Vorbereitungen  getroffen  hatte.  Man  kann  die  älteste 
Schicht  der  Rede  noch  in  den  Hauptzügen  herstellen ;  sie  stammt 
aus  dem  Jahre  336,  als  Demosthenes  über  sein  Amt,  das 
Ktesiphon  zum  Vorwande  des  Antrages  nahm,  noch  nicht 
Rechenschaft  abgelegt  hatte.  Anderes  setzt  aber  diese  voraus, 
manches  ist  nach  der  wirklichen  Verhandlung  gegen  Demo- 
sthenes Verteidigungsgründe  eingefügt  und  die  historischen  An- 
spielungen reichen  bis  zum  Jahre  330  ^).  Ob  aber  der  Prozess 
erst  in  diesem  Jahre  stattfand,  ist  nicht  sicher  zu  entscheiden. 


1)  Römheldt  quaestiones  de  Aeschinis  oratione  contra  Ctesiphontem, 
Marburg  1869  ;  N.  J.  Nils  o  n  de  rerum  dispositione  apud  Äeschinem  oratorem 
Atticum  I.  Upsala  1877. 

2)  Vgl.  §  189.  225  f.  Ant.  West  ermann  quaestt.  Demosth.  III  78,  de 
Aeschinis  oratione  adversus  Ctesiphontem,  Leipzig  1833  (nach  p.  23  f.  ist 
dieses  historische  Beiwerk  erst  nachträglich  eingefügt),  Schäfer  Demosthenes 
HIB.  75  f..  Kirchhoff  Abhandl.  der  Berlin.  Akad.  1875  S.  64  ff.,  Blass  III 
2,  183  ff.  Bruno  Cämmerer  de  duplici  recensione  orationis  Aeschineae 
contra  Ctesiphontem  habitae,  Arnstadt  1876  (Diss.  v.  Jena);  Georg  Gutt- 
m  a n  n  de  ratione  quae  Aeschinis  Ctesiphonteae  cum  ejus  commentariis  intercedit, 
Breslau  1883  (er  nimmt  drei  Schichten  an). 


252  Achtes  Kapitel. 

aber  weder  die  Rede  des  Demosthenes  noch  überhaupt  die 
Wahrscheinlichkeit  sprechen  dafür. 

Zu  diesen  drei  echten  Reden  kamen  einige  Fälschungen ; 
der  delischen  Rede  des  Hypereides  stellte  ein  Rhetor  einen 
ATjXiaxög  mit  dem  Namen  des  Aischines,  welchem  das  Volk 
jenen  Auftrag  zugedacht  hatte,  entgegen,  indes  war  die  Fälsch- 
ung so  plump,  dass  die  Alten  sie  merkten  ^),  Hingegen  zweifelten 
sie  nicht  an  der  Echtheit  der  Briefe,  deren  man  neun  (Musen 
betitelt)  kannte  ''') ;  unsere  Handschriften  enthalten  ausser  diesen 
neun,  welche  in  sechs  an  Philokrates  und  drei  an  die  Athener 
gerichtete  zerfallen  und  in  der  Verbannung  geschrieben  sein 
sollen  ^),  noch  drei,  von  denen  der  X.  mit  Aischines  überhaupt 
nichts  zu  thun  hat  und  der  IL  und  IH.  gar  an  Ktesiphon 
gerichtet  sind  *). 

Wenn  wir  Aischines  mit  Demosthenes  vergleichen,  muss 
jener  weit  hinter  seinem  Gegner  zurückstehen ;  während  Demo- 
sthenes seine  Talente  durch  unermüdhches  Studium  der  Theorie 
und  beständige  praktische  Uebung  zur  Virtuosität  ausbildete, 
fehlten  Aischines  diese  beiden  Förderungen.  Er  schrieb  weder 
Reden  für  andere  Leute,  wiewohl  seine  Vermögens  Verhältnisse 
dies  ihm  vielleicht  mehr  als  Demosthenes  wünschenswert  machten, 
noch  empfing  er  einen  anderen  Unterricht  als  den  seines  Vaters, 
sondern  gleich  den  Staatsmännern  des  alten  Athens  beruhte 
seine  Redekunst  auf  natürlicher  Anlage.  Demosthenes  selbst 
erkannte  an  dem  Feind  ein  bedeutendes  Redetalent  an  ^)  und 
verglich  ihn  sogar  mit  den  Sirenen  %  während  er  ihm  die 
spitzen  Bemerkungen,    welche  Aischines   gegen  die  manierierte 


1)  Ps.  Plut.  840  e.  ApoUoD.  Z.  64.  Philostr.  §  4.  Maxim.  Plan.  Walz  V 
48  2,  2.  Phot.  bibl.  264  p.  490a  34.  Caecilius  dachte  an  einen  Namensvetter 
(Phot.  61  p.  20  a  10). 

2)  Philostr.  §  4.  Phot.  bibl.  264  p.  490  a  34.  61  p.  20  a  8. 

3)  An  Philokrates  scheinen  gerichtet  I.,  V.  und  VT.,  IV.,  IX.  und  VIII., 
an  die  Athener  (mit  Bezug  auf  die  demosthenischen  Briefe)  VII.  XI.  XII. ;  §  11 
des  letzten  bezieht  sich  auf  Vin.  und  IX.,  mit  IV.  2  hängen  Vn.  und  XII. 
16  zusammen. 

4)  Über  die  Echtheit  Taylor  in  der  Vorrede,  S  am  met  Aeschinis  rhetoris 
epistolae,  Leipzig  1771  und  Fuhr  Rhein.  Mus.  33,680.     Blass  S.  160  nimmt ^ 
für  alle  einen  Verfasser  an. 

6)  Demosth.  19,  339  f.  (cütpwvia),  vgl.  18,  242.  Aeschin.  2,  41. 
6)  Demosthenes  bei  Aeschin.  3,  228, 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  253 

Gestikulation  und  Deklamation,  die  gesuchten  Wörter  und  die 
Rabulisterei  seines  Widersachers  eiuflicht,  nicht  zurückgeben 
konnte ;  er  spottete  bloss  über  die  Feierlichkeit  der  Worte  ^)  und 
den  Wohllaut  der  Stimme  ^).  Auch  die  unparteiischen  Kritiker 
heben  gerade  die  Naturanlage,  besonders  die  Geschicklichkeit 
im  Extemporieren  hervor  ^).  Aus  diesem  Grunde  dürften  die 
Reden  des  Aischines  uns  am  besten  die  Weise  vorführen,  wie 
gebildete  Leute  der  demosthenischen  Zeit  zum  Volke  sprachen. 
Der  Ausdruck  ist  klar  und  natürlich,  nicht  so  gepflegt,  dass 
nicht  Formeln  und  Wiederholungen  vorkämen  ^)  doch  wenn  es 
die  Sache  erfordert,  erhebt  sich  der  Redner  zu  grossartigen  und 
feierlichen  Worten.  Der  Periodenbau  ist  nicht  kunstreich,  sondern 
ungezwungen  und  eher  lässig.  Die  rhetorischen  Figuren  werden 
nicht  aufgesucht,  sondern  der  Redner  nimmt  sie,  wie  sie  der 
Augenblick  bietet.  Das  wuchtige  Pathos  und  das  raffinierte 
Arrangement  liegen  ihm  ferne;  der  Cbarakterzug  seiner  Reden 
ist  die  gefällige  Glätte,  die  jedoch  weder  Würde  noch  Spott  ^) 
und  Bitterkeit  ausschliesst.  Wenn  er  auch  seine  Reden  sorg- 
fältig ausgearbeitet  hat,  vermeidet  er  doch,  den  Ansichten  des 
vorhergehenden  Zeitalters  getreu,  den  Schein  der  Künstlichkeit. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  Aischines,  welcher  den 
Beruf  eines  Lehrers  nie  ausübte,  keine  Schule  machte  ''),  zugleich 
aber  auch  dass  er  später,  zu  jenen  Zeiten,  wo  die  gekünstelte 
Beredsamkeit  blülite,  in  geringem  Ansehen  stand;  ebenso  that 
die  Verehrung  des  Demosthenes,  die  man  auf  dessen  Charakter 
übertrug,  dem  Ruhme  des  von  diesem  verfolgten  Mannes  Ein- 
trag, z.  B.  veranlasste  sie  Caecihus  zu  einer  ungerechten  Be- 
urteilung '),  während  Dionysios  sich  günstig  über  ihn  aussprach. 

1)  Demosth.  19,  255  'ZB\i.voXo^(tl.  18,  133  oejxvoXoyoc,  vgl.  Dionys.  vet.  cens. 
5,  5  ev  §£  rjj  xdiv  Xelscuv  Iv-Xo-^-^  tcofiTtixo?,  Philostr.  3  dßpa  oefivoXoYia. 

2)  Demosth.  19,  255  tpouvaax-fjaa?. 

3)  Dionys.  Dem.  35.  vet.  cens.  5,  5.  Caecil.  bei  Schol.  2,  1.  Phot.  cod.  61 
p.  20  b  8  ff.  Daher  kam  Philostratos  auf  den  Einfall,  Aischines  habe  das  Im- 
provisieren aufgebracht;  Passow  Hall.  Encykl.  II  77  meinte,  Aischines  habe 
auch  die  erhaltenen  Reden  erst  extemporiert  und  nachher  niedergeschrieben. 

4)  z.  B.  cv'  et?!YjTe  und  ähnliches  (Phil.  Weber  Entwicklungsgeschichte 
der  Absichtssätze  II  S.  40). 

6)  z.  B.  3, 159  über  Demosthenes  sIpTjvocpüXaxa  ufiät;  ahzbv  hv-sltot  ysipozovelv. 

6)  Deinarchos  nützte  bei  der  Anklage  des  Demosthenes  seine  Reden 
sachlich  aus  (West  ermann  quaestiones  Demosthen.  III  88  adn.  120  ff.). 

7)  Bei  Schol.  Aeschin.  2,  1. 


264  Achtes  Kapitel. 

Das  Studium  des  Aischines  wurde  andererseits  durch  die  rhodische 
Rhetorenschule  befördert,  die  unter  anderem  für  Philostratos 
Veranlassung  war,  dass  er  mit  ihm  die  zweite  Periode  der 
Sophistik  begann  ^).  Verehrer  nannten  sogar  die  drei  Reden 
des  Aischines  Chariten  ^). 

Die  gelehrte  Bearbeitung  war  jedoch  sehr  beschränkt; 
ausser  Didymos  wird  ein  Kommentar  des  Aspasios  von  Byblos 
genannt  und  von  der  kirfcqGic,  des  Apollonios  existiert  noch  ein 
Fragment  ^).  Dank  der  geringen  Zahl  der  Reden  jedoch  wurden 
die  Scholien  fleissig  abgeschrieben  und  sie  sind  jetzt  die 
besten,  welche  wir  zu  einem  Redner  besitzen  *).  Was  die  Do- 
kumente  betrifft,  wurden  nur  wenige  eingelegt  ^).  Die  Hand- 
schriften zerfallen  in  drei  Klassen,  über  deren  Wert  die 
Urteile  auseinander  gehen  ^) ;  auch  streitet  man  über  den  Um- 
fang der  Interpolation  ^),  weil  der  Stil  des  Aischines  zu  wenigj 
erforscht  ist. 

Eine  anerkannte  Textesrecension  gibt  es  daher  noch  nichtj 
Vor  Reiske  war  der  Redner,  den  zuerst  die  Aldiner  Sammluni 


1)  Vgl.  Phot.  p.  20  a  30  ff.  Suid.  I.  Auch  Cicero  verband  einmal  (oratorj 
9,  29,  vgl.  Tacit.  dial.  16)  Aischines  mit  Damosthenes. 

2)  Phot.  bibl.  61  p,  20  a  6.  Nach  Gellius  18,  3,  1  war  er  vel  acerrimusl 
prudentissimusque  oratornm  qui  apud  conciones  Atheniensium  floruerunt.! 
Phrynichos  stellte  ihn  den  hervorragendsten  Mustern  zunächst  (Phot.  p.  20  b  24).j 

3)  Suidas,  Schol.  1,83;  Schol.  1,  56.     Über  die  in  den  Scholien  erwähnten! 
Rhetoren   F.   Schultz   Jahrbb.   f.   Phil.  93,  289  ff.;    über  die  Benützung  der] 
Atticisten  Theod.  Freyer  quaestiones  de  scholiorum  Aeschineorum   fontibus, 
Leipziger  Studien  1882  S.  238 — 392.    Das  Historische  excerpierte  A.  Schäfer^ 
Jahrbb.  f.  Phil.  93,  26  ff. 

4)  Am  besten  in  der  Ausgabe  von  Schnitz  veröffentlicht. 
6)  West  ermann   Abhandlungen    der    sächs.  Ges.  der  Wiss.  1,  129  ff.,j 

Bemh.  Schmidt  Rhein.  Mus.  36,4  f. 

6)  Die  Recension  A,  welche  etwas  kürzer  ist,  wurde  von  Bekker,  Weidner,! 
Cobet  (dov.  lect.  239.  864)  und  W.  Hardt  de  Aeschinis  emendatione,  Halle  1882] 
vorgezogen,  hingegen  B  von  Franke  und  Schultz.  Die  zwischen  beideaj 
stehende  Klasse  M,  welche  mit  A  in  der  grossen  Lücke  3,  20  harmoniert,  hält] 
Weidner  für  kontaminiert;  dem  widerspricht  Rieh.  Büttner  quaestiones] 
Aeschineae  I.  de  codicum  Aeschinis  auctoritate  et  generibus,  Berlin  1878  (Diss.) 
v.  Göttingen,  Progr.  v.  Gera).  Nach  Joh.  Adam  de  codicibus  Aeschineis,] 
Berlin  1882  harmonieren  BM  oft  zum  Schlechten. 

7)  Weidner  de  Aeschinis  emendatione  atl  Cobetum  epistola,  Pr.J 
V.  Giessen  1874;  Ferd.  Baker  de  interpolationibus  orationis  Aeschineae| 
contra  Timarchnm  habitae,  Berlin  1876. 


t)ie  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  255 

Venedig  1513  bekannt  machte,  sehr  vernachlässigt,  ausser  dass 
die  zwei  Reden  gegen  Demosthenes  unter  den  Werken  dieses 
Redners  oft  gedruckt  wurden.  Nach  Reiske  (orat.  IV.  1771) 
begründete  Bekker  (oratores  Attici  III.)  den  Apparat.  Aus  der 
neuesten  Zeit  sind  neben  der  Textausgabe  von  Franke  (Leipzig 
^3873)  die  kritischen  Recensionen  von  Ferd,  Schultz,  der  einen 
reichen  Apparat  zusammenbrachte  (Leipzig  1865)  und  Andr. 
Weidner  (Berlin  1872)  zu  nennen.  Der  Erklärung  dienen  die 
Ausgaben  von  Bremi  (Zürich  1823 — 24,  2  Bde.)  und  Benseier 
(Leipzig  1855—60,  3  Teile). 

Von  der  Beredsamkeit  des  Eubulos,  Phokion  und  der 
übrigen  Wortführer  der  Friedenspartei  gilt  gleichfalls,  dass  sie 
von  den  Grundsätzen  der  älteren  Zeit  nicht  abwichen;  die 
Fraktion  des  Demosthenes  könnte  hingegen  als  Advokatenfraktion 
gekennzeichnet  werden.  Nächst  ihrem  Haupte  war  der  beredteste 
Hypereides  ^),  ein  Sohn  des  Glaukippos,  der,  so  viel  wir 
vermuten  können,  etwa  gleichalterig  mit  Demosthenes  war.  Schon 
bald  nach  dem  Bundesgenossenkriege  wagte  er  sich  an  den 
mächtigen  Staatsmann  Aristophon,  den  nur  zwei  Stimmen  Mehr- 
heit vor  der  Verurteilung  retteten  ^).  Eine  Reihe  von  Jahren 
verschwindet  er  dann  unseren  Augen.  Bei  dem  Zuge  nach 
Euboia  und  Byzanz  machte  er  durch  patriotische  Freigebigkeit 
Aufsehen  ^) ;  wahrscheinHch  ging  er  damals  als  Gesandter  nach 
Rhodus  ^).  Von  nun  an  ist  Hypereides  der  Sprecher  der  un- 
versöhnHchen  Kriegspartei,  welche  zunächst  mit  Demosthenes 
Hand  in  Hand  ging.  Er  beantragte  für  diesen  ein  demonstratives 
Ehrendekret   und   setzte   es   trotz   der  Einsprache    des  Diondas 


1)  'TirepEiSY)«;,  nicht  Tirspt^Yic  ist  durch  die  Inschriften  (s.  Blass  in  seiner 
Ausgabe  S.  XXX)  gesichert.  Den  Namen  des  Vaters  und  das  Demotikon 
KoXXuTEu«;  geben  die  Seeurkuuden  XIII  c  102.  XIV d  246  (nach  Suidas  nannten 
andere  den  Vater  Pythokles ;  der  Grossvater  hiess  Dionysios  Ps.  Plut.  848  a). 
Über  sein  Leben  s.  F.  G.  Kiessli  n  g  de  Hyperide  oratore  Attico,  2  Progr.  v. 
Hildburghausen  1837,  III.  Posen  1846;  Kabe  comm.  de  vita  Hyperidis, 
Öls  1854;  Blass  III  2,  1  fl.  und  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe. 
Pseudoplutarch  (vgl.  Bücheier  Jahrbb.  f.  Phil.  111,  307  ff.)  ist  ausser  Suidas 
der  einzige  bekannte  Biograph. 

2)  Schäfer  Demosthenes  I  159  f. 

3)  Ps.  Plut.  848e.  849f  (vgl.  Schäfer  a.  O.  II  463,  1)  bestätigt  durch 
die  Seeurkunden  von  Ol.  110,  1  XlIIc  98.  XIV  d  240  Tpi-fjpapxo«;  e^tSoatjAoc, 
dazu  Böckh  S.  189  ff. 

4)  Ps.  Plut.  850  a. 


256  Achtes  Kapitel. 

durch  *).  Die  Unterwerfung  unter  Philipps  Bedingungen  sollte 
durch  die  äussersten  Massregeln  verhindert  werden;  als  man 
gegen  solche  Vorschläge  den  Einwand  der  Gesetzwidrigkeit 
erhob,  fertigte  er  die  Gegner  mit  den  Bonmots  ab:  ,, Die  Waffen 
der  Makedonier  beschatteten  mir  die  Gesetze",  ,, nicht  ich  habe 
den  Antrag  gestellt,  sondern  die  Schlacht  bei  Chaironeia".^)  Selbst- 
verständlich verlangte  Alexander  auch  seine  Auslieferung  und 
Hypereides  widerstrebte  mit  Demosthenes  der  Forderung  des 
Königs  ^).  Während  aber  nun  letzterer  mit  den  Makedoniern 
Fühlung  zu  suchen  begann,  setzte  Hypereides  seine  chauvinistische 
Politik  unentwegt  fort  und  verstieg  sich  so  weit,  für  den  Leib- 
arzt Alexanders,  der  den  König  vergiften  wollte,  eine  Dekoration 
vorzuschlagen  *).  Der  Aufstand  des  Agis  verschärfte  die  Span- 
nung, die  zwischen  ihm,  der  den  Krieg  wollte,  und  Demosthenes 
bestand.  Als  dieser  auch  in  der  Sache  des  Harpalos  nicht 
nach  dem  Sinne  der  Kriegspartei  handelte,  hielt  er  selbst  gegen 
ihn  die  Anklagerede  ^) ;  von  nun  an  war  Hypereides  der  ein- 
flussreichste Politiker.  Er  war  es,  der  nach  Alexanders  Tode 
die  Griechen  zum  letzten  Freiheitskampfe  aufrief;  dafür  erteilte 
das  Volk  ihm  die  Ehre,  den  siegreich  gefallenen  Athenern  die 
Leichenrede  zu  halten.  Aber  der  unglückliche  Ausgang  des 
Krieges  nötigte  die  Patrioten  zur  Flucht;  Archias  ereilte] 
Hypereides  auf  Aigina  ^)  und  er  erlitt  am  neunten  Pyanepsion 
322  einen  qualvollen  Tod  ^).  Der  Treue  seiner  Verwandten 
dankte  er  ein  ehrliches  Grab  in  der  FamiHengruft  *). 


1)  Demosth.  18,  222  f. 

2)  Fr.  31,  32  Blass  (32  Sauppe).     Lycurg.  c.  Leoer.  3G  f. 

3)  Ärrian.  anab.  1,  10,  4.  Plut.  Phoc.  17. 

4)  Ps.  Plut.  849  e,  nach  Schäfer  III  322,  1  erdichtet. 
6)  S.  191;  böswillige  Anekdote  Ps.  Plut.  849  e. 

6)  Den  Poseidontempel  erwähnt  Ps.  Plut.  849  b,  das  Aiakeion  Plut. 
Dem.  28 ;  nach  Suidas  floh  er  in  den  Demetertempel  von  Hermione. 

7)  Ps  Plut.  849  b;  nach  Ps.  Plut.  849  b  c  (schon  bei  llermippos,  vgl. 
Plut.  Dem.  28.  Luciau.  Demosth.  31.  Suidas.  Sopatros  Walz  V  p.  8)  wurde 
ihm  die  Zunge  ausgeschnitten.  Der  Ort  der  Hinrichtung  ist  nicht  zu  be- 
stimmen (Kleonai  Plut.  Dem.  28.  Phoc.  29,  ol  81  bei  Ps.  Plut.  849  c,  ungenau 
Korinth  Ps.  Plut.  849  b,  Makedonien  Hermipp.  bei  Ps.  Plut.  a.  O.,  Athen? 
Anon.  bei  Suid.  v.  ujiepoptov). 

8)  HeUodoros  (?  Diodoros)  bei  Pa.  Plut.  849  c. 


Die  Zeitgenossen  des  DemostLenes.  257 

Das  Privatleben  deä"  Hypereides  bot  den  Komikern  reich- 
lichen Stoff  zu  Angriffen.  An  allem,  was  die  athenischen  Lebe- 
männer liebten,  an  Hetären  ^),  leckeren  Fischen  ^)  und  Würfel- 
spiel^) fand  Hypereides  Gefallen.  Jeden  Morgen  war  er  auf  dem 
Fischmarkte,  welcher  der  Versammlungsplatz  der  Gastronomen 
Athens  war,  zu  sehen  ^)  und  wiederholt  trat  er  in  Hetären- 
prozessen auf  So  verteidigte  Hypereides  bekanntlich  die  Hetäre 
Phryne,  mit  welcher  er  auf  vertrautem  Fusse  stand,  gegen 
Euthias  ^),  aber  die  bekannte  Anekdote,  dass  er  sie  vor  den 
Richtern  entblösste,  ist  eine  Erfindung  ^).  Als  Staatsmann  hin- 
gegen blieb  Hypereides  frei  von  Angriffen,  soweit  dies  in  Athen 
raöghch  war;  erst  spätere  behaupteten,  er  habe  Demosthenes 
deshalb  angeklagt,  weil  er  die  Schuld  von  sich  ablenken  wollte  ') ; 
davon  kann  aber  keine  Rede  sein.  ^)  Warum  er  seinen  ehemahgen 
Bundesgenossen  so  schroff  verfolgte,  hat  er  in  der  Anklagerede 
mit  genügender  Deutlichkeit  ausgesprochen. 

Wiewohl  Hypereides  ungeachtet  Demosthenes'  Vorgang 
seine  politischen  Reden  nicht  veröffentlichte  —  der  Epitaphios 
nimmt  ja  eine  Ausnahmestellung  ein  und  die  Rede  für  Harpalos 
ist  gewiss  unecht  ^),  —  wurde  er  doch  von  Demosthenes  dazu 
ernmtigt,  die  Gerichtsreden,  welche  andere  bei  ihm  bestellt 
hatten,  zu  veröffentlichen;  er  ging  sogar  noch  einen  Schritt 
weiter  und  übte  das  Amt  eines  Advokaten  in  unserem  Sinne 
aus  ^°).  Hypereides  wurden  zahlreiche  Reden  zugeschrieben, 
doch  erkannten  die  Kritiker  unter  77  überlieferten   nur  52  für 


1)  Idomeneus  bei  Athen.  13,  590  cd,  vgl.  Ps.  Plut.  849  d. 

2)  Timokles  bei  Athen.  8,  341  e  ff. 

3)  Philetairos  bei  Athen.  8,  342  a. 

4)  Hermippos  bei  Athen.  8,  342  c. 

5)  Ps.  Plut.  849  d  e.  Aiciphr.  epist.  30.  32. 

6)  Wie  Poseidippos  bei  Athen.   13,  591  f.   Stellen  bei  Bloss  S.  XXXV 
(zur  2.  Gruppe  gehört  noch  Aiciphr.  epist.  31). 

7)  Lucian.   encom.   Dem.   31.      In    gleichem    Geiste  ist  Ps.   Plut.  849  e 
gedacht. 

8)  Ps.  Plut.  848  f.  Timokles  bei  Athen.  8,  342  a  beweist  nichts.  Hypereides' 
Integrität  setzt  die  Anekdote  bei  Plut.  Phoc.  10  voraus. 

9)  PoUux   10,  159    £i  {XYj    ^''"§"'1*^  ^  Xo-^oz.      Darum  kann  ich  auch  die 
ansprechende    Vermutung,   dass  der   'PoStaxoc  und  Xtaxoc   Xo^oi;   mit   seiner 
Gesandtschaftsreise  von    340  zusammenhängen  (Böhnecke  Forschungen 
461,  3.  657  f.  Schäfer  Demosthenes  II  452)  nicht  annehmen. 

10)  S.  8  A.  4. 
S  i  1 1 1 ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  *■' 


258  Achtes  Kapitel. 

echt  an^).  Durch  Citate  wenigstens  sind  64  Reden  bekannt, 
von  denen  fünf  angezweifelt  wurden''').  Eine  wichtige  Gruppe 
bilden  unter  ihnen  die  Reden,  welche  er  vor  heiligen  Gerichts- 
höfen oder  in  anderen  internationalen  Angelegenheiten  hielt. 
So  vertrat  Hypereides'  durch  den  ATjXiaxö?  die  athenischen 
Rechte  auf  Delos  glücklich ;  keinen  Erfolg  erzielte  er,  als  er  im 
Jahre  332  vor  den  Eleern  für  den  athenischen  Athleten  Kal- 
lippos  sprach^).  Andere  Titel  (Ko^viaxö?  *) ,  nXataixö?  ^), 
ToScaxdc,  ?  Xtaxöc^),  Tipöc  ©aotoDc''))  verraten  nichts  über  den 
Inhalt.  Vielleicht  gehört  auch  die  Rede  ,,über  die  gegen  die 
tyrrhenischen  Piraten  zu  treffenden  Vorbereitungen"  hieher  ^). 
Während  man  früher  die  Eigenart  des  Hypereides  nur  aus 
den  Urteilen  der  Alten  kannte^  kamen  in  unserem  Jahrhunderte 
wenigstens  einige  grössere  Reste  seiner  Werke  aus  Gräbern  des 
ägyptischen  Theben  zu  Tage.  Ein  Papyrus,  welchen  Harris M 
und  Arden  in  zwei  Teile  zerlegt  1847  nach  England  brachten, 
enthielt  grosse  Stücke  von  xata  ATrj[j.oa^svoo<;  bzhp  twv 
'ApTraXsicov  und  ocTroXoYta  onkp  Aoxöfppovo?^),  sowie  die  voll- 
ständige Rede  hnkp  Eo^svithtoo  a.'KoXofioL  Tupö?  ÜoXdsoxtov ^°). 
Später  fand  man  noch  kleine  Fragmente  derselben  Rolle.  Im 
Jahre  1856  kam  eine  zertrümmerte  Rolle,  welche  den  Ittitoc- 
(pioc,  zum  grossen  Teil  enthält,    gleichfalls   aus   Theben   nach 


1)  Ps.  Plut.  849  d ;  59  Reden  zählt  Suidas.  Die  Rede  gegen  Demades 
ist  nach  der  Schlacht  von  Chaironeia  und  vor  Philipps  Ermordung  verfasst; 
die  Anklage  des  Pasikles  fällt  nach  der  Reform  der  Trierarchien  340/39  (fr. 
137),  vor  dieselbe  jedoch  die  Rede  gegen  Polyenktos  (fr.  162).  Ans  der  Zeit 
der  grossen  Teuerung  stammt  die  Verteidigung  des  Chairephilos  (Schäfer  III 
270  A.  ]). 

2)  Kaxa  IloXueiixtoi)  fr.  149  fF.  und  rzpbt;  rioXoeuxTov  fr.  161  f.  dürften, 
wie  Schäfer  annimmt,  identisch  sein. 

3)  Schäfer  Demosthenes  III  267  f. 

4)  Vielleicht  338  gehalten  (vgl.  Böhnecke  Forschungen  I  664; 
Schäfer  Demosthenes  III  16  A.  1). 

6)  Nach  einer  Bemerkung  des  Plutarch  (glor.  Ath.  7)  scheint  Hypereides 
die  Schlacht  von  Plataiai  darin  verherrlicht  zu  haben. 

6)  So  Böckh;  vgl.  Fabricius-Harles,  bibl.  Gr.  II  859. 

7)  Vgl.  Kiessling  Lycurgi  fragm.  p.  216  ff. 

8)  Im  Jahre  324  gehalten  (Schäfer  Demosthenes  III  272  f.). 

9)  F.  W.  W  i  1 1  i  c  h  de  persona  Lycophronis  ab  Hyperide  defensi, 
Aschersleben  1864;  Schäfer  Jahrbb.  f.  Phü.  68,  27  flf. 

10)  Schäfer  a.  O.  S.  30 flf. 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  259 

London.  Die  glücklichen  Entdecker  veröffentlichten  sofort  ihre 
Funde  ^)  und  gaben  damit  der  Konjekturalkritik  viel  zu  thun; 
die  Ausgabe  von  Blass  (2.  Aufl.  Leipzig  1881)  bietet  alles 
wissenswürdige,  so  dass  von  den  älteren  Ausgaben  nur  die 
Facsirailes  heranzuziehen  sind.  Blass  veröffentlichte  nachträg- 
lich ein  kürzlich  gefundenes  Fragment  der  Rede  gegen  Demo- 
sthenes  ^). 

Da  die  erste  und  zweite  Rede  zu  sehr  zerstört  sind,  als 
dass  der  Leser  eine  deutliche  Vorstellung  ihres  Ganges  gewinnen 
könnte,  die  dritte  für  Euxenippos  ^)  aber  als  Deuterologie  kein 
treues  Bild  der  Gerichtsreden  des  Hypereides  bietet,  will  ich 
nur  den  Epitaphios  kurz  besprechen.  Wenn  wir  auch  noch 
unter  den  Schriften  des  Thukydides,  Lysias  und  Plato  Reden 
dieser  Gattung  besitzen,  ist  doch  keine  derselben  wirkhch  ge- 
halten worden.  Hingegen  zeigt  gerade  der  Epitaphios  des 
Hypereides,  wie  der  von  Staatswegen  bestellte  Redner  zum 
Volke  sprach.  Freilich  war  die  Kraft  des  athenischen  Staates 
damals  längst  gebrochen  und  Hypereides  feierte,  wie  Girard  ^) 
fein  bemerkt,  mehr  als  der  republikanische  Sinn  der  Athener 
früher  zugelassen  hätte,  die  Person  des  Feldherrn;  in  dieser 
Beziehung  sprachen  die  Trauerredner  des  fünften  Jahrhunderts 
gewiss  anders,  sie  waren  aber  auch  nicht  so  sehr  von  der 
Sophistik,  zumal  dem  Gorgianismus  beeinfiusst ;  der  Epitaphios 
des  Hypereides  unterscheidet  sich  kaum  von  jenen  sophistischen 


1)  Hyperides,  fragments  of  au  oration  against  Demosthenes  respecting 
the  nioney  of  Harpalus,  published  by  A.  C.  Harris,  London  1848  fol.  mit 
11  Tafeln  (die  weit  bessere  Ausgabe  von  Churchill  Babington,  H.  vcaxa  Ayj}j.o- 
oö-evoüc,  London  1840,  4.  bietet  nur  einen  Teil  facsimiliert),  'TirepeiSou  Xo^oi 

B',   the  orations  of  H.  for  Lycophron   and  for  Euxenippus by  Jos. 

Arden and  Ch.  Babington,    Cambridge  1853  fol.   mit   16  Tafeln  (vgl. 

Discorso  in  favore  d'  Euxenippo  .  .  .  riprodotto  ....  da  Dom.  Comparetti, 
Pisa  1861,  4.  mit  11  Tafeln);  TuEpsiSoo  Xa-^oc,  lutxatpio?  .  ,  .  .  by  Ch.  Ba- 
bington, Cambridge  1858.  ^1859  fol.  mit  7  Tafeln;  Photographien  in  Catalogue 
of  ancient  manuscripts  in  the  British  Museum,  I.  Greek,  London  1S81  pl. 
4.  5.     Die  früher  bekannten  Fragmente  stehen  bei  Sauppe,  orat.  Att.  11275ff. 

2)  Revue  de  philologie  VIII.  (1884)  p.  167  flf. 

3)  Sie  setzt  die  "Wiedergewinnung  von  Oropos  338  voraus  (A.Schäfer 
Jahrbb.  f.  Philol.  68,  30). 

4)  Er  handelt  über  den  Epitaphios  sehr  schön  in  den  ^tudes  sur  l'elo- 
quence  attique  p.  181 — 233;  vgl.  auch  L.  Spengel  Münchener  gel.  Anz. 
1858  S.  385  0". 

17* 


260  Acttes  Kapitel. 

Uebungsreden    und    ist,    als   eine    solche    betrachtet,    unüber- 
trefflich ^). 

Die  Ueberreste  der  hyperideischen  Beredsamkeit  sind  so 
gering,  dass  man  bei  der  Beurteilung  derselben  die  Aussprüche 
der  alten  Rhetoren  nicht  entbehren  kann.  Die  Sprache  des 
Hypereides^)  erregte  bei  den  strengen  Atticisten  der  Kaiserzeit 
grossen  Anstoss,  weil  er  die  Wörter  nicht  sorgsam  auswählte, 
sondern  alles,  was  die  Komiker  seiner  Zeit  gebrauchten,  für 
erlaubt  hielt;  denn  jene  engherzigen  Grammatiker  werfen  ihm 
selbstverständlich  mit  Unrecht  vor,  dass  er  „unattisch"  schreibe. 
Von  der  attischen  Schriftsprache  wich  er  freilich  ab  ;  doch  trugen 
die  bildlichen  und  sprichwörtÜchen  Redensarten,  die  Hypereides 
dem  Volksmunde  zu  entnehmen  liebte,  (z.  ß.  sjro^ö-aXfitäv  „be-, 
äugeln"  statt  ,, wünschen",  oßoXoaraTTjc  „Pfennigwäger"  statt! 
„Geizhals)  ^)  ohne  Zweifel  zur  Lebendigkeit  und  Frische  des 
Tones  viel  bei.  Um  so  auffallender  stachen  die  poetischen 
Floskeln,  welche  Hypereides  gelegentlich  einfloclit,  wie  IttI  Yvjpwc 
ouS^  *),  von  ihrer  plebejischen  Umgebung  ab.  Der  Satzbau 
erinnert  durch  seine  Kunstlosigkeit  und  die  Anakoluthe  an  den 
des  Aischines,  ist  aber  doch  wohl  mit  grösserer  Kunst  ange- 
legt. Auf  den  Hiatus  achtete  Hypereides  nur  im  Epitaphios 
etwas;  auch  die  rhetorischen  Figuren  wendete  er  vielleicht 
nicht  häufig  mit  Bewusstsein  an.  Von  den  bedeutendsten  der 
älteren  Zeitgenossen  hat  er  etwas  gelernt,  von  Isokrates  manche 
sophistische  Regel  ^)  und  ein  wenig  Rücksicht  auf  den  Rhyth- 


1)  üepl  ßtj^oüi;  34:  töv  eirixacptov  eitiSetxxixÄi;  ütz  oüx  ol8'  ei  xig 
SXkoi  8ied>eT0.  Schüler  des  Isokrates  (S.  133A.  6,  nach  Hemiippos  bei  Athen. 
8,  242  c,  vgl.  Philostr.  Vit.  soph.  1,  17,  4);  wie  alle  Zeitgenossen,  soll  er  auch 
Platouiker  gewesen  sein  (Chamaileon  und  Poleraon  bei  Diog.  3,  46,  beides 
Ps.  Plut.  848  a.  Suidas). 

2)  H.  Hager  de  graecitate  Hyperidea,  Curtius'  Studien  III.  S.  99  flf.; 
zu  Grunde  liegt  Ant.  Westermann  Index  graecitatis  Hyperideae,  Leipzig 
1860 — 63,  8  Teile.  Dionysios  Diu.  6  äussert  sich  noch  massvoll;  vgl.  z.  B. 
Uermog.  p.  411,  23  fl". 

3)  Tfia'fuyZirxz  -(ftäi^ai  pro  Lycophr.  10,  20,  6jj.6oe  eX^slv  fr.  5,  e4^8sipev 
fr.  202,  C^-foiiaytl  fr.  245;  sprichwörtlich  fr.  3.  34.  60  (aus  Hesiod).  262. 
Deminntiva  wie  ecv8pa7t68ia  227. 

4)  I  20,  13;  auch  it(/ü  xa  xtöv  xe^vvjxoxcuv  öoxä  fr.  52,  xov  önoXomov 
ßiov  önö  864vji;  X.P'^l^'^^i^  JiapajtEjj.tfO-fjvai  I  19,   16. 

6)  Auch  in  den  Gerich tareden  kommen  Gleichklänge  vor  wie  aSix-Jjoavtac  j 
%u\  diupoSoxY^oavxac  in  Dem.  33,  9. 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes,  261 

mus,  von  Lysias  vielleicht  die  Feinheit  der  .Erzählung  und  die 
geschickte  Vorbereitung  derselben,  worin  er  nach  dem  Urteile 
des  Dionysios  ^)  seinen  Meister  teilweise  übertraf;  manches 
wiederholte  er  fast  wörtlich  aus  fremden  Reden,  welche  Freiheit 
er  nicht  minder  sich  selbst  gegenüber  nahm^).  Was  ist  aber 
nun  der  Grundzug  seiner  Beredsamkeit?  Hypereides  war  nicht 
leidenschaftlich  erregt  wie  Demosthenes;  er  zeigte  sich  als 
Mann  von  A¥elt,  der  nicht  alles  tragisch  nimmt,  sondern  es 
lieber  mit  feinem  Spott  und  Witz  abfertigt,  der  den  Gegner 
nicht  zerschmettert,  sondern  dem  Gelächter  preisgibt  und  durch 
ein  wahres  Kreuzfeuer  wehrlos  macht  ^).  Meisterhaft  ist  z.  B. 
die  Persiflage  eines  Antrages  von  Demade^  (fr.  79),  als  dieser 
die  Belohnung  eines  Anhängers  Philipps  verlangte.  Hypereides 
wusste  sich  in  jede  Lage  mit  Grazie  zu  schicken  und  jeden 
Ton  anzuschlagen,  bHeb  jedoch  stets  etwas  blasiert  und  der 
Gründlichkeit  abgeneigt'^);  auch  sein  Vortrag  war  unstudiert 
und  natürlich'^).  Nicht  das  Pathos  (SstvoTT]«:)  also,  sondern  die 
Grazie  C/api?)^)  machte  den  Grundzug  seines  Wesens  aus. 

Das  Altertum  hat  Hypereides  ausserordentlich  hoch  gestellt; 
manche  zogen  ihn  sogar  dem  Demosthenes  vor '')  und  selbst 
der  Verfasser  der  Schrift  über  das  Erhabene  (34,  1)  urteilte, 
dass  er  durch  die  Mannigfaltigkeit  seiner  Vorzüge  dem  be- 
rühmten Redner  in  gewissem  Sinne  überlegen  sei.  Besonders 
ahmten  ihn  die  rhodischen  Redner  nach  %  von  denen  Cicero 
ilm  schätzen  lernte  ^) ;  Hypereides  besass  in  Rom  einen  Kreis 
von  Verehrern  ^"),  z.  B.  übersetzte  Messalla  Corvinus  die  be- 
rühmte Verteidigung  der  Phryne^^).  Dionysios  und  der  Anonymus 
,,über  das  Erhabene"  (34)  beurteilten  ihn  recht  günstig.     Bald 


1)  De  Diuarch.  5,  vgl.  vet.  ceus.  5,  6. 

2)  Blass  S.  53.  Fr.  98  (Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  10,  3). 

3)  Ilepl  3(|;oo(:  34  am  Ende. 

4)  Hermogen.  p.  411,  12  x6  (j.£V  eTttusX^c  y\y-ioxo.  e)(£t. 

5)  Ps.  Plutarcli.  850  a. 

6)  Demetrius  Magnes  bei  Dion.  Dinarch.  1. 
',)  Ps.  Plut.  849  d. 

8)  Dionys.  Dinarch.  8. 

9)  De    orat.    1,  13,  58    und  Brut.  36,   138  ist  er  mit  Demosthenes  ver- 
bunden, vgl,  auch  Brut.  82,  285. 

10)  Cic.  Brut.  17,  67.  Äcadem.  1,  3,  11.  Petron.  sat.  2, 

11)  Quintil.  10,  6,  2. 


262  Achtes  Kapitel. 

glaubte  man  indes  zu  finden,  dass  Hypereides'  Stärke  in  kleinen 
Stoffen  hervortrete  und  seine  Reden  demgemäss  mehr  für  An- 
fänger passten  ^).  Dazu  kam  der  Vorwurf  der  sprachlichen 
Unkorrektheit.  Die  Rhetoren  eitleren  daher  Hypereides  ver- 
hältnissmässig  selten  und  nur  Gajus  Harpokration  verfasste 
Einleitungen  zu  den  Reden,  während  Aelius  Harpokration  Hype- 
reides mit  Lysias  verglich^).  Noch  Photios  las  Reden  des 
Hypereides  (cod.  266),  ja  selbst  Matthias  Corvinus  soll  in  seiner 
berühmten  Bibliothek  eine  Handschrift  besessen  haben  ^) ; 
man  darf  bei  diesem  Schriftsteller  am  ehesten  weitere  Funde 
hoffen. 

Von  Hypereides  unterscheidet  sich  L  y  k  u  r  g  o  s  *)  als  Redner 
wie  als  Mensch  in  jeder  Beziehung.  Er  musste  der  radikalen 
Partei  schon  desshalb  hoch  willkommen  sein,  weil  er  aus  dem 
uralten  Geschlechte  der  Eteobutaden  stammte;  seine  Ahnen 
vererbten  ihm  Reichtum  und  das  Amt  eines  Poseidonpriesters  ^). 
In  den  auswärtigen  Angelegenheit  Athens  erscheint  Lykurgos' 
Name  nicht  ^),  wiewohl  er  ein  thätiges  Mitglied  der  Kriegspartei 
gewesen  sein  muss,   weil  Alexander   der  Grosse  auch  ihn  aus- 


1)  Quintil.  10,  1,  77.  Dio  Chrysost.  18,  11,  vgl.  Hermog.  n.  \h.  p.  411, 
11  ff.  Longinos  schloss  ihn  von  seinem  Kanon  aus  (Spengels  rhetor.  I  p.  324, 12). 

2)  'Trcoö'eostc  tAv  X6y<«v  'TTreptSoo  Suid.,  nspl  täv  'T^spiSoü  xal  Aooiou 
Xo-fuiv  Suid.;  nach  Kiessling  Lycurgi  fragm.  p.  144  sind  beide  Schriften 
identisch. 

3)  „Integrum  Hyperidem  cum  locupletissimis  scholiis",  vgl.  Ch.  Ba- 
bington  Journal  of  philol.  I  (1854)  p.  407  f.  II  (1855)  p.  199;  Herrn.  Hager 
qnaestionum  Hyperidearum  capita  duo,  Leipzig  1870  p.  1.  76. 

4)  Die  Hauptquelle  der  Kenntnis  seiner  öffentlichen  Thätigkeit  ist  das 
Ol.  118,  2  (307)  abgefasste  Ehrendekret,  welches  im  „Leben  der  zehn  Redner" 
steht;  ein  Teil  desselben  ist  vollständiger  auf  Stein  erhalten  (CIA.  II  1,240). 
Der  Isokrateer  Philiskos  scheint  ein  Eukomiou  verfasst  zu  haben  (Olympiod. 
in  Gorg.  Jahns  Archiv  14,  395).  Sonst  geben  Pseudoplutarch,  Photios  und 
Suidas  biographische  Notizen.  Vgl.  A.  F.  Nissen  de  Lycurgi  oratoris  vita 
et  rebus  gestis,  Kiel  1833 ;  Ed.  Meier  in  Kiesslings  Lycurgi  fragmenta, 
Halle  1847;  Andreas  Ol.  Heurlin  de  Lycurgi  oratoris  Attici  vita  et  rebus 
gestis,  Lund  1859;  A.  Schäfer  Demosthenes  II  298  ff. ;  Blass  attische 
Beredsamkeit  III  2,  72  ff.;  C.  Droge  de  Lycurgo  Atheniensi  pecuniarum 
publicarum  admiuistratore,  Minden  1880  (Diss.  v.  Bonn). 

5)  Ps.  Plnt.  843  cef;  er  gehörte  daher  zum  Demos  Butadai.  Der 
Vater  hies.s  Lykophron. 

6)  Demostb.  9,  72  (vgL  Ps.  Plut.  841  e)  ist  sein  Name  interpoliert. 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  263 

geliefert  haben  wollte  ^).  Dagegen  machte  er  sich  durch  die 
Leitung  der  attischen  Finanzen  um  die  Stadt  hoch  verdient  ^). 
Lykurgos  erhielt  dieses  neugeschaffene  Amt  mit  dem  Titel  6  £;tl 
i^i  SioiXTjost  im  Jahre  der  Schlacht  von  Chaironeia  ^)  nominell 
auf  vier  Jahre  und  führte  es  faktisch  unter  dem  Namen  zweier 
Freunde  bis  326.  Als  er  zurücktrat,  war  der  durch  den  Krieg 
erschöpfte  Staatsschatz  gefüllt  und  die  Tempelschätze  vermehrt ; 
trotzdem  hatte  er  nicht  bloss  wie  seine  Vorgänger  Arsenale  und 
Schiffhäuser  erbaut  und  gefüllt,  Lykurgos  war  es,  der  endlich 
das  dionysische  Theater,  das  Stadion  und  das  Lykeion  zum 
herrlichen  Schmucke  der  Stadt  vollendete.  Unmittelbar  nach 
seinem  Rücktritt  scheint  er  gestorben  zu  sein  *),  Der  dankbare 
Staat  gewährte  ihm  ein  öffentliches  Begräbnis  im  Kerameikos; 
seine  Feinde  fochten  jedoch  die  Bilanz  des  Lykurg  an  und 
prozessierten  gegen  die  Söhne,  welche  Hypereides  mit  Erfolg 
verteidigte  ^);  denn  Habron,  ein  Sohn  des  Lykurgos,  bekleidete 
wahrscheinhch  später  ein  hohes  Amt  ^).  Ueber  die  Lebenszeit 
des  Lykurgos  ist  nicht  das  mindeste  bekannt ''). 

Er  war  also  kein  bedeutender  Politiker;  sein  Fach  waren 
die  Finanzen,  wefche  er  mit  einer  den  Athenern  ungewohnten 
Ehrlichkeit  verwaltete.  Da  er  weder  wenig  bemittelt  war,  wie 
Demosthenes  noch  so  viel  Geld  brauchte  als  der  Rone  Hypereides, 
war  kein  Anlass  vorhanden,  den  Rechtsbeistand  anderer  Leute 
zu  machen.  So  gäbe  es  denn  kein  Denkmal  seiner  Beredsamkeit, 
wenn  nicht  Lykurgos  eine  eigentümliche  Neigung  gehabt  hätte. 
Streng  gegen  sich  selbst,  was  sich  schon  in  der  fast  gesuchten 
Einfachheit   seines    Aeusseren   kundgab  ^),    verfolgte    Lykurgos 


1)  CIA.  II  1,  240. 

2)  Böckh  Staatshaush.  I^  569  flP.  II  114  ff.  U.  Köhler  Hermes  1, 
312  ff.  2,  24  ff.  5,  223  ff.  Karl  Cur  t  iusPhilol.  24,  83  ff.  261  ff.  Droge  a.O. 

3)  Ueber  die  verschiedenen  Ansichten  vgl.  S  a  u  p  p  e  erat.  Att.  11  262  ff. 
O.  Gilbert  Handbuch  der  griechischen  Staatsalterthümer  I  232  A.  1. 

4)  Ps.  Plut.  Lycurg.  842  e  f.  Hyper.  848  f.  Dem  würde  Dinarch.  2,  13 
nicht  widersprechen.  Der  Fälscher  von  Demosth.  epist.  IH.  nahm  wahr- 
scheinlich an,  dass  er  den  harpalischen  Prozess  noch  erlebte. 

5)  Nach  anderen  Demokies  Ps.  Plut.  842  d. 

6)  CIA.  II  167  ;  die  Inschrift  ist  334  oder  330  oder  nach  307  gesetzt 
s.  Fellner  zur  Geschichte  der  attischen  Finanzverwaltung  S.  54. 

7)  Dass  er  älter  als  Demosthenes  war  (oi  os  im  argum.  Demosth.  orat.  • 
XXV.),  ist  ein  irriger  Schluss  aus  einer  falschen  Voraussetzung. 

8)  Ps.  Plut.  842  c. 


264  Achtes  Kapitel. 

die  Vergehen  anderer  unnachsiclitlich,  besonders  wenn  sie  sich 
gegen  den  Staat  oder  die  Religion  ^)  verfehlt  hatten,  und  ver- 
schärfte seine  Strenge  obendrein  dadurch,  dass  er  seine  Reden 
veröffentlichte  und  so  die  Angeklagten  auch  für  die  Folge- 
zeit brandmarkte.  Von  solchen  Anklagen  sind  dreizehn  be- 
kannt '''),  wozu  zwei  in  eigener  Sache  gehaltene  Reden  Trspl  t'^c 
Stotx'/^astoc  (im  Jahre  334  geschrieben)  ^)  und  aTroXoYtajAÖc  wv 
TcsTToXiTSDTat  (iTpöc  A7j{xaS7]V  bzkp  Twv  so^ovÄv,  326  gehalten)  ^) 
kommen.  Die  fünfzehn  Reden,  unter  denen  eine  von  manchen 
Philinos  beigelegt  wurde  ^),  sind  mit  Ausnahme  einer  einzigen 
untergegangen;  es  ist  dies  xata  Aswxpdtooc  slaaYYsXta, 
welche  Lykurgos  3  31/0  (§45)  sprach,  als  er  einen  angesehenen 
Bürger,  der  nach  der  Schlacht  von  Chaironeia  die  Stadt  feige 
verlassen  und  lügnerische  Gerüchte  ausgesprengt  hatte,  zur 
Rechenschaft  zog^).  Obgleich  er  kein  bestimmtes  Gesetz  auf 
diesen  Fall  anwenden  konnte  und  das  Privatleben  des  Gegners 
in  rühmlicher  Weise  schonte,  rettete  den  Angeklagten  nur  die 
Gleichheit  der  Richterstimmen  '^). 

Dieses  Resultat  kam  abgesehen  von  der  damaligen  Herr- 
schaft des  Chauvinismus  daher,  weil  Lykurgos  sowohl  wegen 
seiner  Integrität  hochangesehen  und  als  Ankläger  gefürchtet 
war ,  als  auch  nach  dem  Urteile  eines  Zeitgenossen  ^)  an 
rednerischer  Begabung  hinter  keinem  Athener  zurückstand.    In 


1)  Ps.  Plut.  843  c. 

2)  Kax'  'AptoTOYsttovoc  svSsi^t?,'  nat'  A5toXüxoo  (bald  uach  338),  xata 
Av)[JL(i8oo,  Ttepl  TTjt;  lepsta?,  TTspl  x-rjq  lepcuoüv/jc,  npö«:  'la^^opiav  (xax'  'I.),  Kpo- 
xioviSüJv  BiaStxaoia  itpö«;  Koip(uvi8a<;,  -/.axä  Aeto-^&pooz,  xati  Aoxocppovoc  eloaY- 
^eXia  aß'  (nur  dieser  Prozess  fällt  sicher  vor  die  Schlacht  von  Chaironeia), 
xaxa  AüGtx).eooc  (bald  nach  338),  'Kpbz  xac  p.avxEia(:  (Trspl  xwv  [xavxsiojv),  xax« 
MEveaaiy|J.ou  elaa-cfEXia  =  AYjXtaxoi;;  die  Citate  xaxa  Ae^i^itou  und  xax' 
A?)Xox>.£Oü?  sind  verderbt.  Die  Zahl  15  bestätigen  Ps.  Plut.  843  c  und  Suidas, 
der  die  Titel  aufzählt;  er  fugt  bei:  „Briefe  und  einiges  andere".  Ueber  den 
Titel  xaxä  KYj'ffsoSoxoo  (Harpocr.)  Sauppe  p.  266. 

3)  Sauppe  orat.  Att.  II  262  f.  Schäfer  Demosth.  III  175. 

4)  Böckh  Staatshaush.  I  570  f.  II  116;  Schäfer  Demosthenes  III 
276  A.  2. 

6)  Die  Rede  gegen  die  Koironiden  nach  Harpocr.  (fünfmal),  als  Werk  des 
Philinos  Athen.  10,  425  b  und  evtoi  bei  Harpocr.  v.  KotpioviSat. 

6)  A.  Schäfer  Demosthenes  HI  199  ff. 

7)  Aeschin.  3,  252. 

8)  Ilyperid.  pro  Euxenipp.  26,  18  fl. 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  265 

günstigeren  Verhältnissen  als  Demosthenes  und  Aischines  auf- 
gewachsen, konnte  der  Sohn  des  reichen  und  vornehmen  Lyko- 
phron  seine  massigen  Anlagen  ^)  durch  den  Unterricht  der  besten 
Lehrer  ausbilden;  er  hörte  Plato^)  und,  wie  es  heisst,  auch  Iso- 
krates^).  In  der  That  finden  sich  nicht  bloss  Anklänge  an  den 
letzteren  in  der  erhaltenen  Rede^),  sondern  der  ganze  Charakter 
derselben,  eingeschlossen  das  hie  und  da  mehr  anempfundene 
als  ursprüngliche  Pathos,  erinnert  eher  an  die  Kunstrede  als 
an  die  Beredsamkeit  des  praktischen  Lebens.  Lykurgos  spricht 
in  der  Leokratea  eigentlich  wenig  von  dem,  Avas  direkt  zur 
Anklage  gehört,  er  ergeht  sich  lieber  in  ethischen  Gemein- 
plätzen und  in  moralischen  Episoden  (wie  von  den  Helden 
Chaironeias  §  46  ff.  oder  vom  frommen  Sohn  §  94  ff.), 
die  mit  der  Kede  in  sehr  losem  Zusammenhange  stehen ; 
der  Redner  rechtfertigt  sie  mit  ihrem  moralischen  Nutzen 
(§  95),  Er  flicht  überhaupt  gerne  mythologisches  und  ge- 
schichtliches ein  und  citiert  umfangreiche  Stellen  aus  Dich- 
tern, obgleich  sie  mit  der  Sache  nichts  zu  thun  haben  und  sie 
in  keiner  Weise  fördern.  Die  sogenannten  Steigerungen  zielen 
weniger  auf  Pathos  als  auf  rhetorischen  Prunk  ab.  Endlich 
hat  der  Redner  nicht  einmal  die  falschen  und  unnatürlichen 
Antithesen  der  Epideiktiker  vermieden,  z.  B.  soll  die  Schuld 
der  dekeleischen  Ueberläufer  geringer  sein,  weil  sie  —  im  Vater- 
lande blieben  (121).  Trotz  dieser  zahlreichen  Einzelheiten  fehlt 
die  Gleichmässigkeit  der  epideiktischen  Rede  in  der  Kompo- 
sition, weil  er  keinem  detailHerten  Plane  folgt,  wodurch  die  Beweis- 
führung beeinträchtigt  wird  ^),  gerade  wie  im  Stile.  Für  eine 
Gerichtsrede  passen  die  kühnen  und  nicht  immer  geschmack- 
vollen Uebertragungen,  welche  sich  die  Isokrateer  schwerlich 
erlaubt  hätten,  schlecht  %  und  die  Einschränkung  des  Hiatus 
harmoniert    nicht     mit     der    Seltenheit    rhetorischer    Figuren. 


1)  Ps.  Phit.  842  c. 

2)  Philiskos    bei   Olympiod.    iu    Gorg.     Jahns    Archiv    14,    395;    daher 
Bchätzte  er  Xenokrates  (Ps.  Plut.  842  b). 

3)  Ps.  Plut.  841b.  843  e.      Anon.  vit.  Isoer.  p.  256,  93  W. 

4)  Samuel  Elias  quaestiones  Lycurgeae,  Halle  1870  S.   18  ff. 

5)  Über  die  Beweisführung  iu  der  Leokratea  Samuel  Elias  quaestiones 
Lycurgeae  p.  21 — 58. 

6)  Blass  S.  99  ff.      Samuel  Elias  a.  O.  p.  7—21    (de  genere  dicendi). 
Für  einen  griechischen  Prosaiker  ist  z.  B.  sehr  kühn  hizl  zolq  bpioiq  toö  ßiou  109. 


266  Achtes  Kapitel. 

Darum  kann  Lykurgos  den  besten  Rednern  nicht  beigezählt 
werden,  weil  er  durch  die  Mischung  ungleichartiger  Elemente 
die  Grundlage  der  Klassicität,  die  Harmonie,  verliert. 

Die  Alten  haben  ihn  daher  mit  Recht  unter  die  Geringeren 
der  zehn  Redner  gesetzt;  man  lobte  ihn  mehr  wegen  seiner 
Moralität  als  wegen  seiner  Beredsamkeit^),  Doch  fand  er  hie 
und  da  einen  Verehrer,  wie  den  jüngeren  Gorgias  ^).  Schriften 
wurden  über  seine  Reden  nicht  verfasst,  den  Kommentar  des 
Didymos  ausgenommen. 

In  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  geht  Lykurgos  mit 
Andokides  zusammen,  weshalb  hier  die  Kritiker  gleichfalls  nicht 
übereinstimmen  ^).     Auch   seine  Rede   wurde    zuerst    1513  von 
Aldus    herausgegeben.     Melanchthon ,    dessen    Ausgabe    zuerst 
1545    in    Wittenberg    erschien,    reihte    ihn    unter    die    Schul- 
klassiker ein.     Die  Kritik  des  Textes  förderten  Taylor  (Cantei 
bury  1743  mit  der  Midiana)  und  Reiske  (orat.  Graec.  IV.  p.  103  fF.).'' 
Die  neueren  Reccnsionen  beginnen  mit  Osanns  Ausgabe  (Jena 
1821),  der  zuerst  die  Handschrift  A  beizog;  es  folgen  die  Aus- 
gaben   von    Bekker    (orat.    Att.    III.),    Pinzger    (Leipzig    1824, 
grössere  Ausgabe),    ßaiter  und  Sauppe    (zuerst    separat   Zürich 
1834,  dann  in  den  Orat.  Att.  fasc.  III.  und  Fragmente  Bd.  IL 
258fif.),  Mätzner  (Berlin  1836)  und  Scheibe  (Leipzig  1853);  einj 
neue   Recension   hat    Thalheim    (BerHn    1880)    gegeben.      Dei 
Fragmenten  ist  Lycurgi  deperditarum  orationum  fragmenta  colli 
disp.   ill.  Fr.  Gust.  Kiesshng,    Halle  1847    gewidmet.     Zur  Er- 
klärung  liegen    zahlreiche    Kommentare    vor ;    ich    nenne    die 
erklärenden  Ausgaben    von  Job.    Hauptmann    (Leipzig    1753) 
Alb.    Gerh.   Becker    (Magdeburg   1821),    Gust.    Pinzger   (s.    o.)J 
Wilh.  Blume  (Sund  1828),  Mätzner  (s.  o.),  Ed.  Jenicke  (Leipzig 
1856)  und  C.  Rehdantz  (Leipzig  1876). 


1)  Dionys.  vet.  cens.  5,  3.  Dio  Chrys.  18,  11 ;  vgl.  das  Urteil  bei  Hermog. 
18.  p.  416. 

2)  Blass  die  griech.  Bereds.  von  Alex,  bis  auf  Augiistus  S.  98,  1;  Phot 
cod.  268  p.  496  b  38    ist  aus    der  oben  erwähnten  Stelle   des  Hypereides  enM 
lehnt ;  er  selbst  las  nicht  einmal  die  Leokratea. 

8)  Emil  Rosenberg  de  Lycurgi  orationis  Leocratoae  interpolationibi 
Leipzig  1869  (Diss.  v.  Greifswald ;   p.  39  ff.  liefert  er  den  Nachweis,  dass  de 
§81    angeführte  Eid  unecht  ist);   zur  äusseren  und  inneren  Kritik  der  Rede! 
des  L.  g.  L.  Batibor  1876. 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  267 

Die  übrigen  Redner  der  demosthenischen  Zeit  sind  nur 
durch  dürftige  Bruchstücke  bekannt.  Polyeuktos  von 
Sphettos^)  war  ein  intimer  Freund  des  Demosthenes,  den  er 
;)43  in  den  Peloponnes  begleitete'^);  er  sprach  leidenschaftUch 
für  den  Krieg  mit  Philipp^)  und  beteiUgte  sicli  im  iamischen 
Kriege  an  der  Gesandtschaft,  welche  den  Peloponnes  zu  den 
Waffen  rief*).  Die  Alten  eitleren  eine  einzige  Rede,  mit 
welcher  Polyeuktos  Lykurgos  beistand,  als  dieser  gegen  einen 
Antrag,  dass  Demades  eine  eherne  Bildsäule  erhalten  sollte, 
Einsprache  erhob.  Aus  dieser  Rede  hebt  ein  Rhetor  eine  Stelle 
hervor,  in  welcher  Polyeuktos  mit  erheiterndem  Sarkasmus  die 
Frage  aufwirft,  in  welcher  Stellung  Demades  abzubilden  sei  ^). 
Schon  Aristoteles  hatte  einen  Witz  des  geistreichen  Redners 
angeführt  ^). 

Keiner  bestimmten  Partei  gehörte  der  verrufene  Aristo- 
g  ei  ton'')  an,  welcher  nur  im  harpalischen  Prozess  vorkommt, 
wo  Deinarchos,  welcher  ihn  für  den  schlechtesten  Menschen 
der  Welt  erklärte,  die  Anklage  führte  ^).  Diese  und  des  Lykurgos 
Anklagerede,  welche  die  zwei  pseudodemosthenischen  Stücke 
nach  sich  zog  (S.  211)  haben  seinen  Ruf  für  immer  vernichtet. 
Als  Redner  wird  er  von  Quintilian  beiläufig  genannt  und  von 
Ilermogenes  nur  getadelt;  dieser  wirft  ihm  ungewöhnliche 
Plumpheit  und  unprovocierte  Schmähungen  vor  ^).  Von  den 
Reden,  welche  Aristogeiton  hinterliess,  sind  bloss  die  gegen 
Timarchos  und  Phryne  durch  verhältnismässig  alte  Citate  belegt^"), 


1)  Sauppe  orat.  Att.  II  273  f. 

2)  Demosth.  Phil.  3,  72  llo)>6soxxoc  6  ßeXttoto?  sxstvoai. 

3)  Plut.  Pboc.  9.  Phokion  verspottete  ihn,  weil  der  dicke  Kedner  dabei 
reichlichen  Schweiss  vergoss. 

4)  Ps.  Plut.  846  c. 

5)  Apsines  12  (Spengel,  rhet,  I  387). 

e)  Arist.  rhet.  3,  10  p.  Ulla  21.  Auch  Diog.  6,  23  dürfte  aus  einem 
Bonmot  entlehnt  sein. 

7)  Sauppe  orat.  Att.  11  309  f. 

8)  Nach  dem  III.  demosthenischen  Briefe  (37.  42)  wurde  er  freigesprochen, 
nach  Suidas  hingerichtet. 

9)  Quintilian.  12,  10,  22;  Hermog.  tt.  IS.  p.  299,  17.  395,  30  Sp. 

10)  Harpocr.  v.  AkoxXsiäf)?  und  SspaavSpoc;  xaxa  ^pöv-rjc  Athen.  13, 
591  e  (dort  ist  auch  eine  andere  von  Euthias  oder  Anaximenes  verfasste  Kede 
gegen  Phryne  erwähnt). 


268  Achtes  Kapitel. 

wiewohl  diese  die  Echtheit  niclit  sichern  ^).  Dagegen  steht 
die  Unechtheit  von  zwei  Reden  fest,  nämUch  der  Vertei 
digüng  gegen  Lykurgos,  welche  die  25.  deniosthenische  Rede 
voraussetzte''^),  und  der  Anklage  des  Hypereides,  die  unglaub- 
liche Behauptungen  enthielt^).  Gleichfalls  durch  Byzantiner 
allein  bekannt  sind  die  Reden  gegen  Timotheos,  Thrasyllos, 
Leosthenes  und  'Optpavtxö?  ^). 

Pytheas^),    ein  jüngerer    Zeitgenosse    des    Demosthenes, 
war  ein  Anhänger   des  Hypereides    und    beantragte  Alexandeij 
die  göttlichen  Ehren  zu  verweigern ;  er  rechtfertigte  sich  dab« 
mit  den  Worten:    ,,Und    doch    ist  Alexander,    den      ihr    zui 
Gotte   machen   wollt,   jünger  als   ich."     Daraus    geht   zugleic 
die  Lebenszeit  des  Pytheas  hervor.     Beim  harpalischen  Proxes 
war  er  mit  Hypereides   gegen  Demosthenes    verbunden  ^).     AI 
Pytheas  kurz  darauf  aus  uns   unbekannten  Gründen  "zu    ein( 
hohen  Geldbusse  verurteilt   wurde,    verliess  er  Athen   und  in 
in   den  Dienst    der  Makedonier ''),    bis    ihn   Antipatros    zurücl 
führte^).     An  Reden  werden  Anklagen  gegen  Adeimantos  un^ 
Demosthenes  ^)  und  eine  Verteidigung  gegen  eine  Endeixis  gc 
nannt;    ob  er  Advokat  war,    ist  nicht  sicher  zu  sagen.     Ueb( 
den  Charakter  seiner  Beredsamkeit    wird   einzig  dies   erwähni 
dass  sie  schroff  und   zerfahren   war^*').     Von  den  Rhetoren  hi 
achtete  ihn  allein  der  jüngere  Gorgias. 

Philin  OS  ist  uns  durch  nichts  anderes  bekannt,  als  we^ 
er  gegen  den  Antrag  Lykurgs,  die  Bildsäulen  der  drei  Tragike 
im  Theater  aufzustellen,  eine  Rede  hielt^^).     SchwerUch  gab 


1)  U.  V.  Wilainowitz  ind.  lect.  hib.  Greifswald  1879  p.  11  verwirf 
alle  Reden. 

2)  Phot.  bibl.  p.  491a  33  ff.  (Dionysios  scheint  die  Rede  noch  nicht  ge- 
kannt za  haben),  vgl.  Snidas. 

3)  Tzetz.  Chil.  6,  93,  vgl.  Greg.  Cor.  Walz  VII  1272,  19  ff.  und  Snidas. 

4)  Bei  Snidas  steht  anoXo-flix  npoc  Af^fj.ooO-evtjv  xöv  otpaxTjYÖv,  das 
Kiessling  quaestt.  Attic.  spec.  p.  4  richtig  emendiert  (ebenso  Auou.  ad 
Herniog.  Walz  VII  1021,  17  ev  t(|)  xaxa  Ar^fAGaö-evou?). 

6)  Sauppe  orat.  Att.  II  311  f. 

6)  Ps.  Plut.  846  c;  dahin  gehört  wohl  die  Anekdote  Liban.  vit.  Dem.  379  ff. 

7)  Phylarchos  bei  Plut.  Dem.  27. 

8)  Snidas. 

9)  Doch  war  die  Autorschaft  nicht  sicher  (Dionys.  Lsae.  4  (oc  ^jaoI  Scinst). 
10)  Bpaoic  ical  Bieoicaofifcvo?  Snidas  v.  IloO-^a?. 

.11)  Harpocr.  v.  ö-etupixÄ:    ev  fg   itpög  So'^oxXeoui;    xal   E6piiii8oo    elxövac- 


Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes.  269 

gerade  diese  eine  Rede  allein  heraus;  Kritiker  teilten  ihm  je 
eine  Rede  des  Hypereides  ^)  und  Lykurgos  (S.  264,5)  zu.  Phili- 
nos  vermeidet,  wenigstens  nach  den  spärlichen  Fragmenten  zu 
schliessen,  den  Hiatus  '''). 

Einen    Kallikrates  verzeichneten   die  Bibliothekare  von 
Pergamon   als  Verfasser    der  deinarchischen  Rede    xaxd  Ar^[j.o- 

Dagegen  vermutet  bloss  Dionysios  *),  dass  eine  recht  matte 
deinarchische  Rede  von  Menesaichmos  oder  Demokleides  her- 
rühre. Es  scheint  allerdings ,  dass  der  Name  des  Deinarchos 
allen  Produkten  zweiten  Ranges,  welche  der  demosthenischen 
Zeit  und  den  unmittelbar  folgenden  Jahrzehnten  entstammen, 
kritiklos  vorgesetzt  wurde.  Deinarchos  selbst  ist  zu  wenig 
originell,  als  dass  er  der  klassischen  Zeit  noch  zuzurechnen 
wäre;  er  wird  seinen  Platz  in  der  Periode  der  Nachahmer 
finden.  Demosthenes  ist  der  letzte  klassische  Redner;  seine 
Zeitgenossen,  selbst  Hypereides,  wenn  man  sehr  streng  urteilen 
will,  nicht  ausgenommen,  zeigen  Spuren  des  Verfalls,  zumal 
Mangel  an  Stilgefühl  und  Unselbständigkeit  und  so  wird  die 
kraftlose  zerfahrene  Beredsamkeit  der  alexandrinischen  Zeit  vor- 
bereitet. 


1)  Harpocr.  v.  ItcI  v.6ppY]c:    'l'r,£^ti^f\z  ^  ^iXlvoc  ev  tü)   xaxa  Acupod-sou. 

2)  Porphyrios  (Clem.  Alex,  ström.  6,626)  führt  eine  aus  Demosthenes  ent- 
lehnte Stelle  an. 

3)  Dionys.  Dinarch.  11  am  Ende;  er  selbst  kannte  von  ihm  nichts. 

4)  Dinarch.  11. 


Neuntes  Kapitel. 
Der  Dialog  (Plato). 

Die   Eristiker:   Zenon   und  Melissos,    die  •JjO'txal  ouAi^siz ;   Sokratischer  Dia 
log;    die  Dialoge  von  zweifelhafter  Echtheit,    Kebes,  Antisthenes,    AischinesI 
Plato:    Leben,    Charakter  und    "Wissen,    unechte   Schriften,    chronologisch« 
Ordnung,  Abfassungszeit,  die  echten  Werke  geordnet  nach  der  äusseren  For 
Charakteristik  des  Dialoges,    Stil,   Nachahmer,  Kritik  und  Erklärung    bis  a« 

unsere  Zeit. 


Bei  einem  schlagfertigen  und  heissblütigen  Volke  kam 
dem  monologischen  Vortrage  die  Alleinherrschaft  welche 
ihm  in  dem  bedächtigeren  kühleren  Norden  zufällt,  nichl 
gehören.  Mochten  auch  die  Sophisten  durch  ihre  blendender 
Vorträge  Bewunderung  hervorrufen,  volle  Anerkennung  nötigtei 
sie  ihren  Landsleuten  erst  dann  ab,  wenn  sie  jedem  Kede 
standen  und  im  Wechselgespräch  durch  Geistesgegenwart  unc 
Versatilität  das  letzte  Wort  behielten.  Wir  haben  gehört,  wie 
hartnäckig  ein  Perikles  mit  Erotagoras  disputierte;  diesei 
Philosoph  wird  sogar  als  Vorläufer  des  sokratischen  Dialog« 
bezeichnet  ^).  Seine  Nachfolger  mussten  sich  nicht  minder  ii 
spitzfindigen  Diskussionen  öffentlich  erproben  ^. 

Nachdem  seit  Gorgias  die  Rhetorik  ein  besonderer  Bildungs^ 
zweig  geworden  war,  schied  sich  von  den  Sophisten  eine  be 
sondere  Klasse  von  Ipcatixot^)  oder  ävnXoYtxot  aus,  welche  de? 
griechischen  Jugend  die  Kunst  des  Disputierens  beizubringei 
verhiessen.  Da  dieselbe  im  Zwiegespräche  zur  Geltung  kai 
hiess  sie  vorzugsweise  StaXsxTcxT],  die  Meister  StaXexrtxot.  Obgleicl 
die  Rhetoren    und    Philosophen    die    Dialektiker    mit   grösstei 


1)  Diogen.  9,  63. 

2)  Über  die  Eristik  der  Sophisten  Schanz  die  Sophisten  S.  80  flf. 

3)  Vgl.  H.  Sidgwick  Journal  of  philology  4,  288  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  271 

Erbitterung  bekämpften  ^)  und  ihr  theoretischer  Unterricht  darin 
allein  bestand,  dass  sie  wichtige  Formeln  auswendig  lernen 
Hessen^),  hielten  die  Laien  diese  Fertigkeit  für  praktisch  ver- 
wertbar und  fanden  an  den  seltsamen  Trugschlüssen  und  Wort- 
spaltereien  Gefallen ;  die  Eristik  war  daher  in  der  klassischen  Zeit 
eine  besondere  Wissenschaft-''). 

Die  Anfänge  des  Dialoges  lagen  indes  viel  weiter  zurück. 
Die  Philosophen,  welche  man  nach  der  unteritalischen  Stadt  Elea 
zu  benennen  pflegt,  waren  durch  den  Widerspruch,  in  welchem 
ihre  Lehren  zu  den  Sinneswahrnehmungen  standen,  genötigt, 
sie  durch  blendende  Trugschlüsse  zu  stützen.  Bei  Parraenides 
war  diese  Methode  noch  nicht  so  scharf  hervorgetreten,  weil 
er  seine  Philosophie  in  Versen  darlegte ;  aber  bereits  sein  Nach- 
folger, Zenon  von  Elea^),  brachte  die  Schlüsse  in  ein  ge- 
wisses System  und  begann  darin  Unterricht  zu  erteilen  ^).  Ueber 
den  Palamedes  von  Elea  —  so  nennt  ihn  Plato  ^)  —  stehen 
keine  anderen  Nachrichten  zu  Gebote,  als  dass  er  ein  Schüler 
des  Parmenides  war  ^)  und  bei  einer  Verschwörung ,  welche 
den  Tyrannen  seiner  Vaterstadt  stürzen  sollte ,  unter 
Martern  den  Tod  fand  ^)-  Die  philosophische  Schrift,  welche 
er  hinterliess  ^),   bereitete   dem    literarischen  Dialoge  den  Weg; 

1)  z.  B.  Plato  im  Euthydemos,  Isoer.  10,  6  u.  ö.  * 

2)  Aristot.  soph.  elench.  am  Ende. 

3)  Plat.  soph.  222c  tvjv  8s  y^  Stxavix'JjV  xal  S-rjjXYjYopixrjV  xal  Tcpooo- 
fi. '.  X7)tix*fjv,  ev  üb  xb  4uvoXov,  ut'ö'avoupYtx'fjv  xiva  (j.tav  zsyyqv  upooetiroviei;; 
diese  kommt  dem  Philosophen  gleich  hinter  der  Gruppe  Raub,  Sklavenjagd, 
Tyrannis,  Krieg.  Eine  ähnliche  Scheidung  finden  wir  bei  Aristokles  (Euseb. 
praep.  evang.   15,  2,  5):  Ttävxsc  oo'-pioxal  xal  Iptaxixol  xal  ^■fjxopsc- 

4)  Sohn  des  Teleutagoras  (ApoUod.  bei  Diog.  9,  25). 

5)  Für  100  (!)  Minen  Ps.  Plat.  Alcib.  I  119  a.  Angeblich  Lehrer  des 
Perikles  Plut.  Pericl.  4.  5  am  Ende.     Nach  Diog.  9,  28  verliess  er  Elea  nicht. 

6)  Rieh.  Förster  Rhein.  Mus.  30,  331  ff. 

7)  Plat.  Parmen.  127  b  (angeblich  etwa  26  Jahre  jünger  als  Parmenides, 
älter  als  Sokrates  und  in  der  Jugend  iraiSixd  des  Parmenides;  beschönigend 
nennt  ihn  ApoUodor  bei  Diog.  9,  25  Adoptivsohn  des  Parmenides).  ApoUodor 
setzte  ihn  daher  gerade  40  Jahre  nach  Parmenides  (Diog.  9,  29,  vgl.  Di  eis 
Rhein.  Mus.  31,  34  ff.);  Eusebios  fügt  ihn  Empedokles  (Ol.  81,  l)  bei,  weil  sie 
angeblich  Mitschüler  waren  (Porphyr,  bei  Suid.  v.  'Ejj.7r£8oxX-?](;).  Suidas  setzt 
die  Blüte  Ol.  78.     Mit  Protagoras  ist  Zenon  in  fr.  1  Mull,  zusammen. 

8)  Hermippos  bei  Diog.  9,  26  u.  A.  (Zeller  Philosophie  1*536). 

9)  Eine  Schrift  in  mehreren  Abschnitten,  die  auf  einmal  vorgelesen 
werden  konnte,  erwähnt  Plato   Parmen.  127  c  ff.,   vgl.  Arjstot.  soph.  el.  c.  10 


272 


Neuntes  Kapitel. 


Zenon  warf  nämlich  Fragen  auf  und  gab  selbst  darauf  di^ 
Antwort  ^).  In  dieser  Hinsicht  schreibt  ihm  Aristoteles  di< 
Begründung  der  Dialektik  zu. 

Einen  ähnlichen  Charakter  scheint  das  Buch  des  Samiei 
Melissos^)  gehabt  zu  haben,  eines  Philosophen,  der  seinei 
Vaterstadt  treu  diente  und  440  die  samische  Flotte  gegen  di« 
Athener  befehligte  ^).  Da  er  bereits  mit  Themistokles  bekann|j 
war  %  dürfte  er  damals  schon  in  vorgerücktem  Alter  gestandet 
sein.  Sein  Werk  war  nicht  dogmatisch,  sondern  dialektiscl 
geschrieben  ^). 

Diese  Schriften   waren   jedenfalls  nicht   die   einzigen   Prc 
dukte    der   Eristik ;    aber    die  Vertreter  dieser  Kichtung,    wi|j 
Bryson,  Polyxenos,    Euthydemos   und  Dionysodoros,    waren  s^ 
unbedeutend,    dass    ausser    ihren  Namen    fast    nur    ein    pa£ 
Trugschlüsse,  die  nicht  notwendig  aus  Büchern  geschöpft  sine 
erhalten  wurden  ^).     Ein  glücklicher  Zufall  hat  es  gefügt,  dasij 
ein  literarisches  Denkmal  des  alten  Skepticismus  uns  gewahrt  ist 

Einen  Anhang   zu    den   skeptischen    Büchern    des   Sext 
Empirikos  bilden  einige  dorisch  geschriebene iid-ixal  diaX^ieiz'' 

p.  170b  22.      Simplic.  in  phys.  30a    (Mull  ach   fragni.  philos.  Gr.  I  269  f.) 
Später  gab  es  mehrere  Schriften  (Diog.  9,  26 ;  Suidas  führt  folgende  Titel  ai 
die    vielleicht  zum   Teil   dieselbe  Schrift    bezeichnen;    spiSe«:,    h^-fiftiaiq    tä 
'E}j.jre8oxXloü(;>  itpöc  touc  cptXooocpouc,  irepl  cpoascuc. 

1)  Aristot.  a.  O.  v.a\  6  ä7:oxpiv6[j.evoc  xal  6  epcuiöjv  Z*fjvtuv,  s.  frg.  3. 

2)  Sohn  des  Ithagenes  Plut.  Pericl.  26.  Diog.  9,  24.  Epiphan.  p.  690,  2^ 
Diels.  Theodoret.  4,  8  (nach  diesem  aus  Milet);  Ol.  84  nach  ApoUodor  (Die II 
Khein.  Mus.  31,  40). 

3)  Aristoteles  bei  Plut.  Pericl.  26. 

4)  Stesimbrotos  bei  Plut.  Themist.  2. 
6)  Mullach    fragm.   philos.    Graec.  I  259  ff.      Die  Späteren   fähren 

wohnlich  den  Titel  nspl  (püoeiuc  an,  Suidas  uepl  xoü  ovxo<; ;  Simplic.  in  Aristot. 
caelo  Schol.  249  b  42  u.  phys.  fol.  15  v  25  vereinigt  beides. 

6)  Auch  Theopompos  (Athen.  11,  608  d)  beschuldigt  Plato  nur,  di(j 
Xtatpißat  des  Bryson  benützt  zu  haben. 

7)  Zuerst  herausgegeben  von   H.  Stephanus  hinter    Diogenes    Laertii 
Paris  1670  p.  470  fl'.,  dann  Gale,  opuscula  mythologica  p,  704  ff.,    Fabricit 
bibl.  Graeca  XII  617  ff.,  C.  Orelli  opuscula  Graeca  vet.  sententiosa  II  209 
u.  Mullach,  fragm.  philos.    Graec.  I  644  ff.     Über  die  Handschriften  teilte  er 
M.  Schanz  Ilermes  19,  369  ff.  etwas   mit.     Über   die  Zeit  Blass   Jahrb. 
Phil.  123,  739  ff.,  Bergk   fünf  Abhandl.  zur  Gesch.   der  griech.    Philosophl 
S.  119  ff.;    E.  Roh  de    Gott.  gel.    Anz.    1884  S,  24  ff.    (wo   auch    die    älter 
Literatur  nachgewiesen  ist);  Teich  müller  literarische  Fehden  2,  97  ff.  der 
an  den  Schuster  Simon. 


Der  Dialog  (Plato).  273 

(leren  Kern  aus  vier  Abhandlungen  besteht,  welche  abstrakte 
einander  entgegengesetzte  Begriffe  (Gut  und  Schlecht,  Schön  und 
Hässlich,  Gerecht  und  Ungerecht,  Wahrheit  und  Lüge)  so  er- 
(irtern,  dass  kein  Gegensatz  vorhanden  zu  sein  scheint.  Der 
Verfasser,  welcher  in  den  durch  Aristoteles  bekannten  Fang- 
schlüssen der  jüngeren  Eristik  noch  nicht  bewandert  ist,  be- 
zeichnet sich  selbst  gelegenthch  mit  dem  Namen  Mimas  oder 
Mystas  ^)  und  liat  offenbar  auf  Kypros  geschrieben.  Als  neuestes 
Ereignis  erwähnt  er  den  Sieg,  welchen  die  Spartaner  und  ihre 
Bundesgenossen  über  die  Athener  errungen  haben  ^.  Von 
demselben  Verfasser  rührt  auch  wahrscheinlich  die  fünfte  Ab- 
liandlung,  welche  gleichsam  ein  Nachwort  darstellt,  her ;  sie 
behandelt  die  für  alle  Philosophen  und  Sophisten  gleichwichtige 
Präliminarfrage,  ob  ,, Weisheit  und  Tugend"  lehrbar  sei  ^). 
Dazu  kommen  zwei  kleinere  Stücke,  von  denen  das  erste  für 
das  monarchisch  regierte  Kypros  nicht  passt ;  es  erörtert  nämlich 
die  ,,von  einigen  Politikern  aufgeworfene"  Frage,  ob  man  die 
Verlosung  der  Staatsämter  einführen  solle.  Unvermittelt  folgt 
dann  ein  Fragment,  in  welchem  die  Redefertigkeit  und  das 
Gedächtnis  gefeiert  werden.  AlUe  diese  Stücke  haben  mit 
einander  die  Vernachlässigung  der  äusseren  Form  gemein ;  die 
Sprache  ist  ein  blosses  Werkzeug  um  die  Gedanken  auszu- 
drücken. 

Die  literarischen  Leistungen  der  Eleaten  und  Eristiker 
waren  noch  nicht  Dialoge,  sondern  gleichsam  Resumes  von 
Disputationen.  Erst  die  Schüler  des  Sokrates  haben  den  wahren 
Dialog  entwickelt,  zu  dessen  Entstehung  zweiMomente  zusammen- 
wirkten. Das  eine  hing  mit  dem  Lihalt  des  Dialoges  zusammen ; 
Sokrates*)  betrachtete  das  Zwiegespräch  nicht  als  ein  Mittel, 
einen  zweiten  von  einer  vorgefassten  Meinung  zu  überzeugen 
oder  zum  Schweigen  zu  bringen ,  vielmehr  hielt  er  einen 
wirklichen  Austausch  von  Gedanken  für  die  sicherste  Methode 


1)  Cap.  4  p.  649  a;  die  Handschriften  schwankten.  Bergk  Philol.  29, 
325  schlägt  MiXtac,  Blass  a.  O.  St|X}j.ia(;  (von  Theben)  vor. 

2)  Cap.  4.  1. 

3)  Für  Kypros  passt  die  ausdrückliche  Bestimmung  ev  rg  'EXXaSt  und 
die  Nennung  der  Perser,  zur  Zeit  'Ava^aYopeiot  v.cd  Uod-a'^öpsioi  und  die 
Nennung  Polyklets. 

4)  Bakius  de  ortu  dialogi  Socratici  deque  ejus  imitatione,  scholica 
hypomnemata  II  1  ff. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  18 


274  Neuntes  Kapitel, 

der  Wahrheit  näher  zu  kommen,  sei  es  auch  nur,  indem  der 
falsche  Schein  des  Wissens  zerstört  würde.  Die  ganze  sokra- 
tische  Philosophie  war  ja  nicht  dogmatisch,  sondern  im 
Verkehr  mit  anderen  entstanden  und  durch  fortwährende  Dis- 
kussion vor  Erstarrung  gesichert.  Sokrates  selbst,  ohne  rheto- 
rische Bildung,  wie  er  war,  dachte  nicht  daran,  solche  Dispu- 
tationen durch  die  Schrift  festzuhalten,  aber  seine  Schüler,  die 
zum  grossen  Teil  von  anderen  Seiten  Anregung  empfangen 
hatten,  nahmen  auch  auf  dem  literarischen  Gebiete  den  Kampf 
mit  den  Gegnern  auf  und  hiebei  dürften  zwei  verschiedene 
Strömungen  zu  Tage  getreten  sein.  Die  einen  Sokratiker 
wahrten  den  Zusammenhang  mit  der  älteren  Dialektik,  indem 
sie  alle  Probleme  in  Frage  und  Antwort  erörterten.  Diesen  Weg 
schlugen  die  sogenannten  Megariker  ein  ^),  womit  sie  auf 
literarische  Bedeutung  verzichteten.  Kleinomachos  von 
Thurioi  verfasste  freilich  eine  Anleitung  zu  dialektischen 
Schlüssen^)  und  Eubulides  von  Milet  schrieb  ein  gehässiges 
Pamphlet  gegen  Aristoteles  %  für  den  Dialog  jedoch  wurde 
nichts  gethan;  denn  sechs  Dialoge,  die  man  Euk  1  eides  selbst | 
zuschrieb,  gaben  dem  Philosophen  Panaitios  Grund  zu  Zweifeln  *). 
Nicht  einmal  bei  Stilpon ,  der  bereits  dem  alexandrinischen 
Zeitalter  angehört  und  Piatos  Einwirkung  erfahren  haben  kann,  [ 
war  der  Dialog  in  formaler  Hinsicht  recht  entwickelt  •^). 

Die  Schöpfung  eines  wirklichen  Dialoges  wurde  erst  durch 
die  Verbindung  der  Philosophie  mit  der  Rhetorik  möglich,  und 
wir  werden  sehen,  dass  im  besonderen  der  Gorgianismus 
gleichsam  den  Anstoss  dazu  gab.  Swxpattxol  Xö^ot,  wie  sie 
Aristoteles  als  eine  besondere  Literaturgattung  aufstellt,  sind 
nicht  bloss  Disputationen  über  philosophische  Fragen,  sondern, 
zugleich   als   Literaturprodukte    Dramen    in  Prosa.      Aristoteles 


1)  Diogen.  2,  106.  107.  Chrysipp.  bei  Plut.  Stoic.  repugn.  10,  9.  Sext. 
Emp.  10,  87. 

2)  Ilepl  a4tü>[j.axü)v  xal  xaTY)Yop-r)}AdTtov  xal  twv  toiouTtov  Diogen.  2,  112. 

3)  Aristokles  bei  Enseb.  praep,  ev.  15,2,3.  Athen.  8,364  c.  Diogen. 
2,  108.     Themist.  or.  23,  285  c;  vgl.  über  ihn  S.  169  A.  4. 

4)  Die  Titel  stehen  bei  Diogen.  2,  108  ,  das  Urteil  des  Panaitios  2,  64. 
lieber  den  epcuTixoc  Meiueke  fragm.  comic.  IV  171  und  anall.  crit.  in 
Athen,  p.  259  f.  (auch  Stilpou  lehrte  epujxixa  ootpiojxaxa  Satyros  bei  Athen.  13, 
684 a),  ein  Fragment  bei  Hermeias  ad  Fiat.  Phaed.  p.  812. 

6)  Diogen.  2,  120. 


Der  Dialog  (Plato).  275 

stellt  sie  mit  den  Mimen  des  Epicharmos  zusammen  ^)  und 
vielleicht  haben  die  Lebensbilder  und  Charaktertypen,  die  der 
sicilische  Dichter  zeichnete,  in  gewissem  Sinne  das  Vorbild  ab- 
gegeben. Es  ist  merkwürdig,  dass  von  dem  Erfinder  dieser 
prosaischen  Dramen,  Alexamenos  von  Teos,  nichts  weiter 
als  der  blosse  Name  bekannt  ist  ^).  Etwas  näheres  wissen  wir 
überhaupt  nur  über  die  Dialoge  des  Aischines,  Antisthenes  und 
Plato;  von  den  übrigen  Sokratikern  gab  es  in  den  Bibliotheken 
des  alexandrinischen  Zeitalters  mehr  als  hundert  Dialoge,  welchen 
die  Namen  des  Fhaidon  von  Elis  ^)  von  Piatos  Bruder  G 1  a  u- 
k  o  n  *),  des  K  r  i t  o  n  ^),  der  Thebaner  S  i  m m  i  a  s  '')  und  K  e  b  e s '), 
des  Ari  stippos  ^)  oder  gar  des  Schusters  Simon  ^),  mit  dem 
Sokrates   sich   gerne   unterhalten  haben  soll,   vorgesetzt  waren. 


1)  Foet.  1  p.  1447b  9;  ähnlich  bei  Atheu.  11,505c;  sie  haben  r^d-ti 
rhet.  'S,  16  p.  1417  a  20. 

2)  Aristot.  bei  Ath.  11,505  c,  Diog.  9,  25  f.  (wo  neben  Teos  Stura  ge- 
nannt ist),  vgl.  O.  Jahn  Hermes  2,  238. 

3)  L.  Prell  er  Rhein.  Mus.  4,  391  ff.  =  ausgewählte  Aufsätze  S.  363  ff.; 
Diog.  2,  105  ZtuTtupo«:  (handelte  über  Physiognomik,  womit  Antisthenes'  Schrift 
Ttspl  Tcüv  ao^^toxtüv  !pua'.OYV(w[j.ovivc6<;  zu  vergleichen  ist)  und  Sijjlcuv,  zweifelhaft 
Nixtai;,  M-fjO£'.oc  und  'AvT[[j.a)(^o?  Yj|7ip£aß6xat.  Gellius  2,  18,  1  ff.  (aus  Her- 
mippos?)  rühmt  die  Dialoge  als  admodum  elegantes.   Vgl.  Senec.  epist.  94,41. 

4)  Diogen.  2,  124 :  9  augeblich  echte  und  32  verdächtige  Dialoge. 

5)  Diogen.  2, 121:   17  Dialoge;  eine  Apologie  des  Sokrates  nach  Suidas. 

6)  Diogen.  2,  124:  23  Dialoge;  Suidas. 

7)  Diogen.  2,  125   lltva^,  'EßoofjLYj,  ^pövi^o?. 

8)  Diogenes  hat  zwei  Verzeichnisse  seiner  Schriften  2,  84.  85,  von  denen 
das  zweite  aus  Sotion  und  Panaitios  stammt :  7  Stücke  (darunter  )(p£iä)V  -(') 
sind  gemeinsam,  ausserdem  verzeichnet  die  erste  Quelle  16,  die  andere  10 
Dialoge  (worunter  6  Siaxptßai).  Sie  waren  teils  in  attischer  teils  in  dorischer 
Mundart  abgefasst.  Das  Werk  über  die  Geschichte  Kyrenes  war,  wie  schon 
die  Widmung  an  den  Tyrannen  Dionysios  zeigt,  eine  Fälschung.  Die  Pseudo- 
nyme Skandalchrouik  ^epl  Tiakaiäq  Tpucf-rjc  rührte  von  einem  Späteren  her, 
der  frühestens  im  dritten  Jahrhundert  lebte. 

9)  In  den  33  Schustergesprächen  (oxuxtxol  löyot),  welche  Phaidon  oder 
Aischines  (Diog.  2,  105.  vgl.  Prell  er  ausgew.  Aufsätze  S.  370)  oder  auch 
ihm  .selbst  beigelegt  wurden  (Diog.  2,  123,  vgl.  Epist.  Socrat,  XIIL),  scheint 
er  einer  der  ünterredner  gewesen  zu  seiu.  lieber  augeblich  erhaltenen  Schriften 
Simons  Böckh  in  Minoem  p.  42  ff.  und  Simonis  Socratici  dialogi  qualuor 
de  lege,  de  lucri  cupidine,  de  justo  ac  de  virtute,  Heidelberg  1810  (bestritten 
von  Stall  bäum  de  dialogis  nuper  Simoni  Socratico  adscriptis,  Leipzig  1841); 
Teichmüller  literarische  Fehdeu  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  II.  Breslau  1884 
S.  97  flf. 

18* 


276  Neuntes  Kapitel. 

Panaitios  verwarf  diese  ganze  Literatur,  nur  bei  den  Dialogen 
des  Phaidon  drückte  er  sich  nicht  bestimmt  aus  ^),  Mehrere 
Fälschungen  sollen  den  Philosophen  Polyainos  und  Pasiphon 
zur  Last  fallen  ^). 

Die  grosse  Schaar  dieser  Schriften  ist  dem  verdienten 
Untergang  nicht  entronnen,  der  7rtva6  des  Kebes  allein 
ausgenommen.  Der  Verfasser  dieser  Schrift,  welche  die  Be- 
schreibung eines  allegorischen  Gemäldes  sein  will,  dachte  gewiss 
nicht  an  Fälschung,  sonst  hätte  er  nicht  die  Peripatetiker  er- 
wähnt (13,  2)  und  Piatos  Gesetze  citiert  (33,  3).  Jene  Stelle^ 
sowie  die  Moral  des  Ganzen  zeigt,  dass  er  ein  Stoiker  dei 
jüngeren  Schule  oder  ein  Kyniker  ist,  warum  sollte  demnacl 
der  Kyniker  Kebes,  der  wahrscheinlich  im  ersten  Jahrhundert^ 
n.Chr.  lebte,  nicht  der  Verfasser  sein?  ^)  Zuerst  erwähnt  Lukianos 
die  Schrift,  genauer  aber  kann  die  Zeit  nicht  bestimmt  werden*)^ 
Die  Allegorie  sagte  dem  Geschmacke  der  Kaiserzeit  und  der^ 
folgenden  Perioden  so  zu,  dass  das  Büchlein  einen  Platz  in  der 
Geschichte  der  Weltliteratur  verdient.  Ein  Verwandter  des 
TertuUian  übertrug  es  den  Römern  in  vergilianische  Verse  ^) 
und  die  Araber  eigneten  es  sich  in  der  Uebersetzung  des  Ibni 
Muskweih  an ,  welche  den  in  den  griechischen  Handschriften 
verlorenen  Schluss  bewahrt  hat  ^).  In  der  Renaissance  wurde 
Kebes'  ,, Gemälde"  ein  beliebtes  Schulbuch,  das  seit  der  ersten 
Ausgabe,  welche  Beroaldus  1494  veranstaltete,  ausserordentlich 
oftgedruckt  und  übersetzt  (z.  B,  von  Hans  Sachs)  wurde ;  in  Italien 
hängte    man    es    gerne    an   die  Grammatik   des   Laskaris   statt 


1)  Diog.  2,  64 ;  bezüglich  Aristippos  stimmten  ihm  mehrere  bei  (Diog.  2, 84). 

2)  Diog.  2,  105;  vgl.  Favorinus  bei  Diog.  2,  73. 

3)  Athen.  4,  156d  (für  die  Zeit  vgl.  167  b). 

4)  Lucian.  rhetor.  praec.  6.  merc.  cond.  42.  Ueber  die  Philosophie 
Zeller  Philosophie  der  Griechen  II  1,  172.  Die  Echtheit  wurde  zuerst  von 
Hieronymus  Wolf  (1660)  bezweifelt.  Vgl.  Mein  ers  Comraeutatt.  soc.  Gotting.  V 
(1783)  3,  46fl'.  G.  Klopfer  de  Cebetis  tabula,  drei  Progr.  v.  Zwickau  1818, 
1820  und  1822;  Drosihn  die  Zeit  des  itiva^  KeßfjToi;,  Neustettin  1873  (er 
setzt  die  Schrift  zwischen  Dion  Chrysostomos  und  Lukianos);  K.  Frachter 
Cebetis  tabula  qnanam  aetate  conscripta  esse  videatur,  Karlsruhe  1885  (Diss. 
V.  Marburg)  (nach  diesem  ein  Werk  des  ersten  Jahrhunderts  v.  Chr.) 

5)  Tertullian.  praescr.  haeret.  39. 

6)  Herausgeg.  von  Suavi  Eflendi ,  Paris  1873 ,  zuletzt  von  Friedrich 
Müller  (bei  der  Uebersetzung  von  Fr.  S.  Krauss,  Wien  1882)  in  das  Deutsche 
übertragen.     Der  Araber  lebte  im  vierten  Jahrhundert  der  Uedschra. 


Der  Dialog  (Plato).  277 

eines  Lesestückes  an.  Beachtung  können  jedoch  nur  die  Aus- 
gabe von  Salmasius  (Leiden  1640),  der  die  arabische  Ueber- 
setzung  beigab,  von  Jakob  Gronov  (Amsterdam  1689)  und 
Schweighäuser  (liinter  Epicteti  manuale,  Leipzig  1798,  kürzer 
1806)  beanspruchen;  die  neueren  Ausgaben  (vonFr.Dübner,  Paris 
1840  mit  M.  Antoninus  und  Fr.  Drosihn,  Leipzig  1871)^)  sind 
nur  Revisionen  der  letztgenannten.  Kebes  ist  jetzt  ebenso 
vergessen  wie  er  noch  vor  hundert  Jahren  berühmt  war. 

Panaitios  erkannte  nur  die  Echtheit  der  Dialoge  von  drei 
Sokratikern  an,  welche  durch  ihre  rhetorische  Vorbildung  zu 
anziehender  und  geschmackvoller  Fassung  der  Gedanken  ange- 
regt wurden;  alle  drei  hatten  sich  in  der  Schule  von  Gorgianern 
gebildet,  was  vor  Isokrates'  Auftreten  für  jeden  nach  höherer 
Bildung  strebenden  Athener  ziemlich  war.  Der  Zusammenhang 
des  sokratischen  Dialoges  mit  der  epideiktischen  Beredsamkeit 
tritt  besonders  bei  Antisthenes^)  hervor,  dem  Sohne  des 
Atheners  Antisthenes  und  einer  Thrakerin  ^),  welcher  Lehrer  der 
Rhetorik  war,  bevor  er  sich  ganz  der  sokratischen  Philosophie 
hingab^).  Er  verkehrte  anfangs  mit  den  Sophisten  und  führte 
Prodikos  und  Hippias  dem  reichen  Kallias  zu^);  zur  Zeit  der 
Wolken  des  Aristophanes  scheint  er  mit  Sokrates  noch  nicht 
vertraut  gewesen  zu  sein*^).  Das  Gastmahl  Xenophons  zeigt 
ihn  aber  bei  Sokrates,  selbstbewusst  und  schroff  im  Gespräche ; 
über  seine  seltsamen  Lebensgewohnheiten,  welche  mit  seiner  grossen 
Dürftigkeit  zusammenhängen,  wird  viel  erzählt.  Theopomp 
rühmte  das  Anziehende  seines  Umgangs;  er  unterrichtete  im 
Kynosarges,    dem  Gymnasium  der  Halbbürtigen,   zu  denen  er 


1)  Vgl.  Sauppe  Gott.  gel.  Anz.  1872  S.  769  ff.  K.  K.  Müller  de 
arte  critlca  Cebetis  tabulae  adhibenda,  Würzburg  1877. 

2)  Chappuls  Antisthene,  Paris  1854;  Ad,  Müller  de  Antisthenis 
Cyuici  vita  et  scriptis,  Pr.  des  Vitzth.  Gymn.  in  Dresden  1860;  Usener 
quaestiones  Anaxiraeneae  p.  12  ff.;  Blass  attische  Beredsamkeit  II  304  ff. 
Fragmente  bei  Mull  ach  fragm.  philos.  Graec.  II  261  ff. 

3)  Diog.  2,  31.  6,  1.  Seneca  coust.  18,  5.  Epiphan.  haeres.  3,  2,  9  p.  591 
35  Diels.  Suidas.  Wegen  des  Bonmot  bei  Plut.  exil.  17  wird  sie  ebendort  zu 
Phrygierin  (entstellt  Clem.  Alex,  ström.  1,  302  c). 

4)  Diog.  6,  2.  Hieron.  c.  Jovin.  2,  14;  hierauf  bezieht  sich  die  bei 
Diogenes  aus  Hermippos  entlehnte  Anekdote. 

5)  Xenoph.  sympos.  4,  62. 

6)  Nach  der  Anekdote  Plut.  Lycurg.  30  extr.  erlebte  er  die  Schlach 
von  Leuktra;  Eudokia  gibt  ihm  70  Jahre. 


278  Neuntes  Kapitel, 

ja  selbst  gehörte^).  Daneben  war  Antisthenes  ein  fruchtbarer 
Schriftsteller;  Diogenes  (6,  15  ff.)  teilt  ein  umfangreiches  Ver- 
zeichnis seiner  Schriften  mit,  doch  existieren  nur  wenige  Frag- 
mente ^).  Mit  der  rhetorischen  Wirksamkeit  des  Antisthenes 
hiengen  die  rhetorische  Schrift  Tiepl  Xs^swc  t]  /apaxTTjpwv  (über 
die  Stilarten)  und  die  Reden  ,,Aias"  und  ,,Odysseus"  (den  Helden 
in  den  Mund  gelegt)  und  „Verteidigung  des  Orestes",  sowie 
eine  polemische  Schrift  gegen  die  Gerichtsredner')  zusammen. 
Wenn  jene  rhetorische  Lehrschrift  echt  war,  kann  sie  erst  nach 
dem  Auftreten  des  Thrasjanachos  geschrieben  sein,  denn  erst 
seitdem  gab  es  drei  Stilarten.  Die  einander  entsprechenden 
Reden  ,,Aias"  und  ,,Odysseus" ,  welche  angeblich  bei  dem 
Streite  um  die  Waffen  dos  Achilleus  gehalten  sind,  besitzen 
wir  noch.  Obgleich  die  Umgebung,  in  welcher  die  Handschriften 
sie  bieten ,  Gorgias'  und  Alkidamas'  Reden ,  kein  güustigea 
Vorurteil  erweckt,  liegt  kein  stichhaltiger  Grund  vor,  die  Echt- 
heit der  Reden  anzufechten'').  Im  Gegenteil  passt  nicht  alleii 
der  Gedankengang,  welcher  mehr  einen  Philosophen  als  einei 
praktischen  Redner  verrät,  für  Antisthenes  vortrefflich,  sonderi 
auch  die  äussere  Form  stimmt  zu  seiner  Zeit:  Hinsichtlich  des 
Satzbaus  steht  er  mit  den  aus  wenigen  kurzen  Gliedern  zu- 
sammengesetzten Perioden  gewissermassen  zwischen  Gorgias 
und  Isokrates,  ebenso  sind  die  Figuren  des  Gorgias  mit  Mass 
augewendet;  der  Ausdruck  schwankt  manchmal  zwischen  gor- 
gianischer  Kühnheit^)  und  kynischer  Nachlässigkeit.  Wiewohl 
Antisthenes  gegen  den  Hiatus  nicht  mehr  ganz  unempfindlich  ist, 
vermeidet  er  ihn  doch  nicht  so  sorgsam,  dass  die  Echtheit 
dadurch'  verdächtig  würde.  Endlich  harmoniert  der  Stoff  mit 
seiner  Richtung. 


1)  Diogen.  6,  13. 

2)  Die  Fragmente  gab  Aug.  Wilh.  Winckelmann  Zürich  1842  heraus, 
auch  M  u  1 1  a ch  fragni.  phil. Gr.  II 261  ff.  Nachtrag M  ü  n ze  1  Khein.  Mus.  40,  148. 
Tiuion  sagt  von  Antisthenes  wegen  seiner  Fruchtbarkeit  itavxotpuT]  tpXsSöva 
(Diog.  6,  18). 

3)  Die  Stelle  ist  korrupt:  'Opsatou  01110X0^101  vj  jrspl  StxoYpdtpcuv  laoYpafp*»] 
^  Jeotac  (conj.  Aooiac)  xal  'looxpdtYjs  itpö?  töv  looxpdxooc  ftfJ.'ap'copov  (s.  S.  102). 

4)  BlaSs  S.  311  ff.  gegen  Fos-s,  Sauppe,  Benseier  de  hiatu  p.  169  und 
Ad.  Müller  a.  ü.  p.  30  IV. ;  die  Reden  sind  sculet;ct  von  Blass  beim  Antiphon 
p.  176  ff.  heraxisgegeben. 

6)  i.  B.  Inxaßöeiov  xtlfu^i  vom  Schilde  des  Aias  II  7. 


Der  Dialog  (Plato).  279 

Unter  den  Schriften  des  Antisthenes  bilden  nämlich  die 
Abhandlungen  eine  besondere  Gruppe,  welche  sich  auf  die 
homerischen  Gedichte  beziehen  ^),  wie :  über  Homer,  Kalchas, 
die  Odyssee,  den  Stab  (des  Hermes),  ,,Odysseus,  Fenelope  und 
der  Hund"  u.  s.  w.  Offenbar  beschäftigte  er  sich  mit  der 
allegorischen  Erklärung  der  Ihas  und  Odyssee^).  Demnächst 
beanspruchen  die  Schriften,  welche  sich  durch  den  Titel  als 
Dialoge  kundgeben ,  das  grösste  Interesse  und  hier  bemerkt 
man,  dass  Antisthenes  nicht  bloss  ,,sokratische"  Dialoge  ver- 
fasste.  Drei  führen  nämlich  den  Namen  des  Herakles^)  und  vier 
sind  nach  dem  weisen  Kyros  benannt*);  auch  der  Dialog 
„Archelaos  oder  über  die  Monarchie"  ^)  war  schwerlich  sokratisch. 
In  Athen  spielten,  wie  es  scheint,  bloss  vier  Dialoge:  ,,Aspasia", 
„Sathou  oder  über  den  Widerspruch"  in  drei  Teilen,  ,,Menexenos 
oder  über  das  Befehlen"  und  ,,Alkibiades".  Die  beiden  ersten 
waren  Pamphlete  in  kynischem  Geschmacke:  ,,Aspasia"  gab 
Veranlassung,  dass  Perikles'  Gattin  bei  der  Nachwelt  zur  Hetäre 
herabsank,  und  ,, Sathon"  soll  gegen  Plato,  dessen  Namen  Anti- 
sthenes mit  unfeinem  Spotte  verdrehte,  gerichtet  gewesen  sein  ^). 
Es  wird  ferner  erzählt,  dass  der  Kyniker  Piatos  Ideenlehre  ver- 
spottete, doch  nennen  andere  Quellen  statt  seiner  Diogenes  '') 
die  Polemik,  welche  Plato  und  Isokrates  angeblich  gegen  ihn 
führten^),  beruht  nur  auf  Ausdeutung  verschiedener  Stellen 
welche  die  Eristiker  im  allgemeinen  treffen  können  oder,  wie 
der  Vorwurf  der  6cjii[ia^Eta  richtiger  auf  Euthydemos  und  seinen 


1)  Schrader  Porphyrii  quaestt.  Horaeric.  reliqu.  p.  386  ff. 

2)  Dio  Chrysost.  63,  5.  Vielleicht  hielt  Antisthenes  auch  die  Thebais 
für  echt,  weil  er  irspl  'A)X(ptapaou  schrieb. 

3)  'HpaxX-?]c  6  fieiCcuv  (vom  äusseren  Umfang)  yj  uspl  laxooc,  'H.  r\ 
MiSaf;,  "^H.  y]  itepl  (ppov-fjascuc  y)  (?  xal)  layßoz;  vgl.  Epist.  Socrat.  8,4. 

4)  Köpoi;,  Köpor  Y)  Ktpl  ßaaiXsiac,  K.  y]  epü)[j.EVoc:,  K.  yj  v.axä'Sii.onoi 
(Athen.  5,  220  c  kennt  nur  zwei). 

6)  Nach  Dümmler  Antistheuica  p.  9  f.  von  Dion  Chrysostomos  in  der 
13.  Rede  benützt. 

6)  Diog.  3,  35.  6,  16.  Athen.  5,  220  d.  11,  507  a. 

7)  Diog.  3,  35.  6,  7.  Simplic.  Schol.  Arist.  66  b  45.  67  b  18.  David  68  b  26. 

8)  K.  Barlen  Antisthenes  und  Plato,  Neuwied  1881;  K.  Urban  über 
die  Erwähnungen  der  Philosophie  des  Antisthenes  in  den  platonischen  Schriften, 
Königsberg  1882;  Ferd.  Dümmler  Antisthenica,  Berlin  1882  (besonders 
p.  40  ff.);  skeptisch  Welcker  kleine  Schriften  n  439  ff.  K.  Fr.  Hermann 
Gesch.  d.  piaton.  Philosophie  S.  499;  Steinhart  Platous  Werke  III  81.  556. 


280  Neuntes  Kapitel. 

Bruder  bezogen  werden.     Hingegen  sprach  Aristoteles  seine  Ver- 
achtung des  Antisthenes  unverholen  aus '). 

Weitere  Schlüsse  aus  dem  Verzeichnis  der  Schriften  zu 
ziehen,  scheint  deshalb  gefährlich,  weil  es  nicht  allein  echte 
Werke  enthält.  Die  Abhandlung  über  Theognis  wurde  wahr- 
scheinlich von  anderen  Xenophon  zugesprochen ;  manches  soll 
Pasiphon  von  Eretria  gefälscht  haben  ^).  Dem  Atticisten  Phry- 
nichos  schienen  sogar  nur  zwei  Schriften  „Kyros"  und  ,,über 
die  Odyssee"  echt^).  Wir  sind  nicht  in  der  Lage,  ein  Urteil 
darüber  zu  fällen,  weil  die  Schriften  mit  Ausnahme  jener  zwei 
Reden  untergingen.  Die  Schuld  daran  lag  gewiss  nicht  an 
Formlosigkeit;  denn  Antisthenes  war  in  der  rhetorischen  Technik 
erfahren.  Man  fand  besonders  in  der  aX-zj^sta  und  dem  TcpotpsTr- 
Ttxöc  die  Manier  des  Gorgias^).  Die  Kritiker  rechneten  Anti- 
sthenes zu  den  vorzüglichsten  philosophischen  Schriftstellern^), 
doch  wurde  er  von  Plato  aus  der  allgemeinen  Lektüre  verdrängt 
und  nach  dem  Kaiser  Julian  findet  sich  niemand,  welcher  ihn 
gelesen  hätte. 

Das  gleiche  Schicksal  widerfuhr  den  Dialogen  dos  A  i  s  c  h  i  n  es  ^) 
den  man  zum  Unterschiede  von  seinem  Namensgenossen  bald 
von  dem  Gau  Sphettos  bald  nach  seinem  Vater  Lysanias  be- 
nannte ').  Seine  Lebensgeschichte  entzieht  sich  unserer  Kenntnis, 
abgesehen  von  der  Nachricht,  dass  er  eine  Zeit  lang  am  Hofe 
des  jüngeren  Dionys  weilte*);  in  der  Heimat  erwarb  Aischiues, 
da  er   kein  Vermögen  besass  ^),   seinen   Lebensunterhalt  durch 


1)  Aristot.  raet.  4,  29  p.  1024  b  32.  8,  3  p.  1043  b  24. 

2)  Diogen.  2,  61. 

3)  Bei  Phot.  bibl.  158  p.  101  b  10  f. 

4)  Diogeu,  6,  1. 

6)  Mit  Plato  Gell.  14,1,29.  Lncian.  adv.  indoct.  27,  mit  Plato  luul  Xeno- 
phon Arrian.  diss.  Epictet.  2,17.35.  Fronto  p.  14(5  N.;  dazu  fügen  Fronto 
p.  116  N  und  Longinos  rhet.  p.  305,  19  Sp.  noch  Aischiues,  Dionysios  (jud. 
de  Thucyd.  61)  Aiachines  und  Kritias.  Von  den  Rhetoreu  citiert  einzig 
Demetr.  n.  fep}J.v)y.  249  Antisthenes. 

6)  Zeller  Philosophie  der  Griechen  IP  1,  204  ff. 

7)  Sphettier  Diodor.  16,  7(j,  4;  Lysanias  Plat.  apol.  p.  33  e  (also  nicht  der 
Wurethändler  Charinos  Diogen,  2,  60.) 

8)  Polykritos  bei  Diog.  2,  63.  Diog.  2,  61  Plnt.  de  cohib.  ira  14.  de 
adnl.  et  am.  26  extr.  Lucian.  paras.  32.  Philostr.  vit.  soph.  1,  35.  Epist. 
Socrat.  28.  Suid. 

9)  Hegesandros  bei  Athen.  11,507  c.  Diog.  2,  34.  62.  Seneca  benef.  1,  8. 


Der  Dialog  (Plato),  281 

liGzahlte  Vorträge  und  Abfassung  von  Prozessreden  ^).  Einmal 
Avurde  er  von  einem  Bürger,  dem  Lysias  die  Anklage  aufsetzte, 
der  Sykophautie  angeklagt  und  mit  Schmähungen  überhäuft^). 
Sein  schriftstellerischer  Ruf  gründete  sich  auf  sieben  Dia- 
loge^) (Miltiades,  Kallias  ^),  Axiochos^),  Aspasia,  Alkibiades, 
Telauges  und  Rhinon),  welche  freihch  nicht  allen  in  gleicher 
Weise  gefielen.  Während  die  einen  die  sokratische  Art  mit 
solcher  Treue  darin  wiedergegeben  fanden,  dass  der  Vorwarf 
laut  wurde,  Aischines  habe  sie  nicht  selbst  verfasst,  sondern 
an  seinem  Lehrer  ein  Plagiat  begangen^),  urteilte  Timon,  dass 
Aischines  nicht  zu  überzeugen  vermöge  und  Persaios  schrieb 
sogar  den  grössten  Teil  dem  oben  bereits  genannten  Fälscher 
Pasiphon  von  Eretria  zu  ^).  Man  rühmte  an  den  Dialogen 
Witz  und  sokratische  Ironie,  diese  ging  im  ,,Tela  u  ges"  soweit 
dass  der  Leser  nicht  klug  daraus  wurde,  ob  der  Dialog  im 
lernst  oder  im  Scherze  gemeint  sei  ^).  Der  Stil  war  bei  aller 
Einlachbeit  rein,  sorgfältig  und  zierlich;  an  Gedankentiefe  stand 
Aischines  über  Xenophon  ^).  Die  axsipaXot  SidXoYot,  welche 
ihren  Namen  davon  trugen,  dass  ein  Eingang  fehlte,  sprachen 
ihm  bereits  die  Alten  ab  ^") ;  einige  derselben  sind  jetzt  den 
platonischen  Dialogen  angehängt.  Von  mehreren  in  gorgianischer 
Art  geschriebenen  Reden  ist  es  uns  nicht  mehr  vergönnt  zu 
sagen,  ob  sie  echt  waren  ^^). 

1)  Diogen.  2,  62.  Schüler  werden  daher  uicht  genannt  ausser  Aristoteles 
'>  [iöO-oc  Diog.  2,63  (lügenhaft  Athen.  11,  507  c). 

2)  Diog.  2,  63.  Athen.  13,  611d  —  f.  Welcker  Rhein.  Mus.  2,391  ff. 
=  kleine  Schriften  I  412  ff.  verwirft  diese  Rede  ohne  Grund. 

3)  Fragmente  bei  K.  Fr.  Hermann  disput.  de  Aeschinis  Socratici  reli- 
(|uiis,  Göttiugen   1850. 

4)  Darin  verspottete  er  Anaxagoras  Athen.  5,  220  b. 

5)  Verschieden  von  dem  pseudoplatonischen  Axiochos,  vgl.  O sann  Rhein. 
Mus.  2,  504. 

6)  Menedemos  bei  Diog.  2,  60,  vgl.  62.  Idomeneus  bei  Athen.  13,  611  d, 
vt^l.  Aristid.  or.  45  II  p.  24  f.  und  Phot.  bibl.  cod.  158  p.  101  b  21.  Echt 
sokratisch  nach  Demetr.  u.  ep|j.Y]v.  297  und  Aristid.  a.  O. 

7)  Diogen.  2,  61.  62. 

8)  Lucian.  paras.  32.  Demetr.  ep|j,7jv.  291. 

9)  Henuog.  tc.  18.  2,  3  p.  356,  22  ff.  Sp. 

10)  Peisistratos  bei  Diogen.  2,  60,  weil  die  suxovia  fehlte. 

11)  Diog.  2,  63  erwähnt  öciioXoYta  xoö  itaxpöc  ^aiaxo?  atpax-rjYoö  "^^^ 
Atcuvoc;  Philostratos  citiert  epist.  73,  3  H.  ev  xw  Tcepl  x-f]c  0apY*riXiac  (eine 
Hetäre)  \b'\ia. 


] 


282  Neuntes  Kapitel. 

Von  den  Atiicisten  der  Kaiserzeit  wurde  Aisehines  hoch- 
geschätzt und  zu  den  Musterschriftstellern  gezählt  ^) ;  doch 
scheint  er  mindestens  nach  dem  dritten  Jahrhunderte  ver- 
schollen zu  sein  ^). 

Antisthenes  und  Aisehines  mussten  weit  zurückstehen  hinter 
ihrem  jüngeren  Genossen  Pluto.  Während  er  selbst  in  seinen 
Dialogen  beharrlich  über  sich  geschwiegen  hat,  waren  später 
Freunde  und  Feinde  bis  in  das  Mittelalter  hinein  thätig,  die 
dürftige  Ueberlieferung  auszuschmücken  und  beinahe  eine: 
Sagenkreis  um  den  „göttlichen"  Philosophen  zu  weben. 

Schon  die  unmittelbaren  Schüler  Piatos  teilten  Nachrichten  über  ih 
verehrten  Meister  mit,  sei  es  dass  sie,  wie  Speusippos  (Diog.  4,  5.  Api 
dogm.  Plat.  1,  1,  in  der  Form  eines  aept^etTCvov  Diog.  3,  1,  «wie  Timon  ein 
'ApxeoiXäou  schrieb),  Klearchos  von  Soloi  (Diog.  3,  2.  Suidas)  und  angeblich 
auch  Aristoteles  (Rose  Aristoteles  pseudepigraphus  p.  680)  Lobreden  verfassten 
oder,  wie  Ilermodoros  von  Syrakus  (Philodem.  rhet.  6,  6  f.  Derkyllides  bei 
Simplic.  phys.  54  v  14.  56  v  7  vgl.  Ed.  Zell  er  de  Hermodoro  Ephesio 
Platonico,  Marburg  1860  p.  18  fif.),  vielleicht  auch  Xenokrates  (Simplic.  Seh 
Arist.  p.  427  a  16.  470  a  27.  474  a  12)  und  Philippos  von  Opus  (Suidas 
<piX6oo(f)oc)  in  die  Darstellung  der  platonischen  Philosophie  biographiscl 
Notizen  einflochten.  Dazu  kamen  dann  bald  Invektiven,  deren  früheste  vi 
Zoilos  (S.  75)  und  Aristoxenos  (Diog.  5,  35.  Aristokles  bei  Euseb.  praep.  e 
16,  2,  2)  herrührten;  aus  solchen  Streitschriften  stammt  der  Kehricht  bei 
Athenaios  V  c.  56 — 63.  XIV  c,  112 — 120.  Diese  verschiedenartigen  Notizen 
wurden  später  in  Biographien  zusammengefasst,  von  denen  viele  zu  Sammel^ 
werken,  welche  die  Geschichte  der  Sokratiker  (z.  B.  Phauias  Diog.  6 
Idomeneus  Diog.  2,  19,  Favorinus  Steph.  Byz.  'AXe^avSpsta)  oder  der  Phi 
sophen  überhaupt  (z.  B.  Porphyrios  im  vierten  Buche  der  tpiXoootpoc  laxopii 
beschrieben,  gehörten ;  erhalten  ist  bloss  die  Biographie  in  dem  konfusen 
Werke  des  Diogenes,  wo  sie  das  dritte  Buch  einnimmt  (vgl.  über  ihre 
Quellen  Maass  de  biographis  GraecisPhilol.  Untersuch.  III  p.  69  flf.,  U.  v.  Wi- 
lamowitz  a.  O.  p.  143  flf.  und  Freudeuthai  hellenistische  Studien  III 
304  f.).  Sonst  standen,  abgesehen  von  einem  Enkomion  des  Dion  Chrysostomos 
und  einer  Biographie  des  Zosimos  von  Alexandrien,  die  beide  aus  Suidas 
allein  bekannt  sind,  die  Biographien  im  Dienste  der  Exegese,  z.  B.  eröft'uete 
Olymp  iodoros  seine  exegetischen  Vorlesungen  mit  einer  Einleitung  über 
Piatos  Leben  und  Schriften  ,  welche  anb  (pouv-rj«;  'OXofiirtoSwpou  in  doppelter 
Fassung  (teils  vor  dem  Kommentar  zu  Alkibiades  I.  teils  vor  einer  allgemeinen 


lel- 

i 


2)  Lucian,  imag.  17.  paras.  32.  Phrynich.  bei  Phot.  bibl.  61  p.  20  b 
23  ff.,  wahrhaft  begeistert  158  p.  101  b  20.  Hermogones  n.  18.  II  p.  419, 
27  ff.  8p.  Longin.  rhet.  p.  306,  19.  324,  9  Sp.  Aristid.  or.  n  p.  296.  S.  auch 
S.  280  A.  5. 

3)  Vgl.  einen  Bibliothekskatalog  (Zündel  Bhein.  Mos.  21,  482). 


Der  Dialog  (Plato).  283 

Einleitung)  vorliegt,  vgl.  Freud enthal  Hermes  16,207  ff.,  über  die  Quellen 
Maass  a.  O.  Auch  Apulejus  schickte  seinem  Werke  de  dogmate  Piatonis 
eine  Biographie  voraus ;  eine  zu  einer  arabischen  Eiuleitungsschrift  gehörige 
Biographie  teilt  Casiri  in  der  bibliotheca  Arabico-Hispana  I  301  mit.  üeber 
eine  Platobiographie  des  Arabers  Honain  vgl.  Gottl.  Köper  quaestiones  Abul- 
pharagianae  II.  Danzig  1867. 

Aus  der  überreichen  neueren  Literatur  hebe  ich  nur  das  wichtigste 
hervor,  indem  ich  zugleich  auf  Wilh.  Teuf  fei  Uebersicht  der  platonischen 
Literatur,  Festschrift  von  Tiibingeu  1874  verweise:  Die  wissenschaftliche 
Forschung  beginnt  mit  Corsinis  Abhandlung  de  natali  die  Piatonis,  ejus  aetate 
et  in  Italiam  itineribus  (Gori  synibol.  literar.  VI  97  ff.) ;  W.  G.  T  e  n  n  e  m  a  u  n 
System  der  platonischen  Philosophie,  Leipzig  1792 — 95,  4  Bde.;  Friedrich  Ast 
Piatons  Leben  und  Schriften,  Leipzig  1816;  K,  Fr.  Hermann  Geschichte 
und  System  der  platonischen  Philosophie  I.  Heidelberg  1839  (S.  1 — 126  über 
das  Leben) ;  über  B  ö  c  k  h  s  Ansichten  E.  Bratuschek  in  Bergmanns  philosoph. 
Monatsheften  I  (1868)  S.  257  ff. ;  Ed.  Z  e  1 1  e  r  Philosophie  der  Griechen  Bd. 
II  1,  286  ff.;  Fr.  Ueberweg  Untersuchungen  über  die  Echtheit  und  Zeit- 
folge platonischer  Schriften  und  über  die  llauptmomente  aus  Plato's 
Leben,  Wien  1861  (über  das  Leben  S.  112  ff.);  George  Grote  Plato  and  the 
other  companions  ofSocrates,  London  1865.  ^  1875,  Index  1870  (vgl.  Peipers 
Gott.  gel.  Anz.  1869  S.  81  ff.  1870  S.  561  ff.).  Die  Glaubwürdigkeit  der 
Ueberlieferung  wird  von  Heinrich  von  Stein  sieben  Bücher  zur  Geschichte 
des  Piatonismus,  II.  (Göttingen  1864)  S.  158  ff.  und  Schaarschmidt  die 
Sammlung  der  platonischen  Schriften,  Bonn  1866  S.  61  ff.  scharf  angefochten. 
K.  Steinhart  Piatons  Leben,  Leipzig  1873  und  Ueberweg  Grundriss  der 
Geschichte  der  Philosophie  I  ^  S.  120  If.  sind  von  dieser  Kritik  vorteilhaft 
beeinflusst.  Wir  werden  im  folgenden  die  verschiedenen  Grade  der  Zuver- 
lässigkeit zu  sondern  haben. 

Plato  war  von  edler  Abkunft;  über  seinen  Vater  Ariston 
ist-  zwar  nichts  bestimmtes  bekannt  ^),  dagegen  gehörte  Perik- 
tione,  die  Mutter,  zur  Familie  des  Solou^).  Als  den  Geburts- 
tag des  Philosophen  feierte  die  Schule  den  siebenten  Thar- 
gelion^);   da  jedoch  auf  diesen  Tag   auch    die  Geburtsfeier  des 


1)  Der  Name  apol.  34  a.  rep.  1,  327  a  u.  ö.  Abstammung  von  Kodros 
Diog.  3,   1  ((paai).  Apul.   1.  Suidas. 

2)  Der  Name  Speusipp.  u.  Clearch.  bei  Diog.  2  (Der  Name  IIotcovyj, 
welchen  Suidas  und  Diogenes  noch  erwähnen,  ist  von  der  Schwester  Piatos 
entlehnt  Diog.  3,  4.  4,  1.  Suid.  v.  riXätcuv  und  Xiceuotitico?).  Abkunft  Diog. 
1.  Procl.  in  Tim.  p.  25  f.  und  Cousin  IV  67.  Apul.  1.  Liban.  decl.  6  p. 
587  a.  Said.,  irrig  Olympiod.  p.  1,  6  ff.  5,  16.  Casiri.  Die  Bedenken  Ast's 
(S.  16  f)  sind  allerdings  nicht  ganz  ungerechtfertigt.  Das  Demotikon  Piatos 
war  KoXXuteui;  (Antileon  bei  Diog.  3).  Aigiua  gibt  ihm  Favorinus  (Diogen.  3, 
vgl.  Olymp,  p.  6,  19.  Suidas)  wegen  einer  später  zu  erwähnenden  Fabel  zum 
Vaterlande, 

3)  Diog.  2  (aus  Apollodor?).  Plut.  quaest.  conv.  8,  1,  1  (nach  §  2  wurde 


284  Neuntes  Kapitel.  . 

delischen  Apollo  fiel,  könnten  die  späteren  Platoniker  ihn  ab- 
sichtlich gewählt  haben,  gaben  sie  doch  ihrem  Schulhaupte  den 
Lichtgott  Apollo  zum  Vater ^).  Immerhin  ist  es  möglich,  dass 
man  eben  wegen  des  Datums  auf  die  göttliche  Vaterschaft  verfiel. 
Was  das  Geburtsjahr  anlangt,  so  kam  Plato  im  Jahre  427  zur 
Welt^).  Der  frühe  Tod  des  Vaters^)  beeinträchtigte  die  Er- 
ziehung der  Söhne  nicht,  im  Gegenteil  wurden  sie  dadurch 
frühzeitig  gereift.  Piatos  Bruder  Glaukon  wollte,  noch  ein  halber 
Knabe,  bereits  in  der  Volksversammlung  auftreten^)  und  er 
selbst  beschäftigte  sich  früher  als  es  üblich  war  mit  der  Philo 
Sophie,  in  welche  ihn  der  Herakleiteer  Kratylos  einführte^).  ln\ 
der  Musik  unterrichteten  ihn  Drakon,  ein  Schüler  des  berühmten 
Dämon,  und  Metellos  von  Agrigent'');  der  Athlet  Ariston  aus 
Argos'^)  schulte  Plato  in  der  Ringkunst  so  trefflich,  dass  er  bei 


i 


auch  Karneades  an  diesem  Tage  geboren).  Apul.  1.  Olymp,  p.  6,  6 ;  jedenfalls 
wurde  der  Geburtstag  des  Sokrates  erst  nachträglich  auf  den  vorhergehende! 
Tag  gesetzt. 

1)  Angeblich  (Diog.  2)  behaupteten  dies  schon  Speusippos  und  Klearchos, 
was  Steinhart  S.  36  bezweifelt,  vgl.  Olymp,  p.  1,  10  flf.  (tpaoi),  die  angebliche 
Grabschrift  ib.  p.  4,  42  (vgl.  Freudenthal  heilenist.  Studien  III  S.  304  f.)»^| 
Aristandros  y.o.i  ol  aXXot  ^Xetove?  bei  Origen.  c.  Gels.  6,  8,  Suidas,  auch  Plutt^f 
qu.  symp.  8,  1,  2.  3;  die  Mutter  eine  ältliche  Jungfrau  aus  dem  Apollolande 
Lykien  Valerius  bei  Hieronym.  ed.  Erasm.  IV  p.  262  d.  Von  Pindar  entlehnte 
man  die  Hymettosbienen  (Cic.  divin.  1,  36,  78  in  cunis,  2,  31,  66.  Val 
Max.  1,  6  ext.  3.  Aelian.  v.  h.  10,  21.  Olymp,  p.  1,  14  ff.  6,  29  ff.) 

2)  Diese  Zahl  steht  fest,  wenn  anders  sie  wirklich  von  Hermodoros  -in- 
direkt bezeugt  ist  (Diogen.  6);  dem  entsprechend  nahm  ApoUodoros  Ol.  88 
an  (Diog.  2,  wahrscheinlich  auch  Hermippos  ibid.).  Verschiebungen  in  den 
Chroniken  bewirkten,  dass  spätere  Ansätze  zwischen  Ol.  87,  3  und  89,  3 
schwanken.  Dass  Plato  schon  die  drei  Feldzüge  von  426,  425  und  424  mit- 
gemacht haben  soll,  ist  ein  zu  arges  Versehen,  als  dass  man  es  dem  alten 
Aristoxeuos  (Diog.  8)  zutrauen  dürfte;  etwa  Aristokles? 

3)  Die  Mutter  heiratete  wieder  (Parmenid.  126b). 

4)  Xenoph.  memor.  3,  6,  7. 

6)  Aristot.  metaph.  1,  6  p.  987  a  32,  vgl,  Speusipp.  bei  Apul.  2.  Un- 
richtig setzen  daher  Diog.  6,  Olymp,  p.  2,  47  und  7,  36  ft.  dessen  Unter- 
richt nach  dem  Tode  des  Sokrates  an ;  aus  dem  Parmenides  und  Kratylos  erschloss 
man,  Plato  habe  auch  bei  Hermogenes  (Diog.  6.  Anon.  p.  7,  41),  Zenon  und  Par- 
menides (Phot,  bibl.  249  p,  439  b  35  (paoi)  Unterricht  genommen. 

6)  Beide  Ps.  Plnt.  mus.  17,  1.  Olymp,  p.  1,  38.  6,  43;  Met«llos  bei  Plut. 
(zu  dem  Namen  s.  Hermann  S.  99,  49).  Der  Schullelircr  Dionysios  (Diog.  4, 
Apul.  2,  Olymp,  p.  1,23.  6,  38.  Suid.)  ist  aus  erast.  132  a  entlehnt. 

7)  Diog.  4.  Apul.  2.  Olymp,  p.  1,  27.  6,  41.  Suid. 


Der  Dialog  (Plato).  285 

den  Isthmien  sich  am  Wettkampfe  beteiligte^).  Ausgezeichnet 
und  vielseitig  vorgebildet,  wurde  er  zwanzigjährig  mit  Sokrates 
bekannt  2).  Ein  schöner  Mythus  erzählt,  dass  der  alte  Philosoph 
in  der  Nacht,  welche  ihrer  ersten  Zusammenkunft  vorherging, 
träumte,  ein  junger  Schwan  lasse  sich  auf  seine  Kniee  nieder 
und  fliege,  nachdem  ihm  die  Fittige  gewachsen,  unter  Gesang 
zum  Himmel  empor  ^).  Acht  Jahre  lang  verkehrte  der  Jüngling 
mit  dem  Philosophen,  der  seine  Begabung  erkannte  und  ihm 
warme  Liebe  entgegenbrachte^) ;  bei  dem  verhängnisvollen  Prozesse 
verliess  er  ihn  nicht,  sondern  wollte,  im  Falle  dass  eine  Geld- 
strafe verhängt  würde,  Bürgschaft  leisten.  Doch  verhinderte 
ihn  Krankheit,  die  let<^ten  Tage  mit  den  anderen  Sokratikern 
dem  geliebten  Lehrer  zu  widmen^);  soin  Schmerz  war  so  gross, 
dass  er  mit  anderen  Genossen  Athen  auf  einige  Zeit  verhess 
und  sich  zu  Eukleides  nach  Megara  begab*').  Nach  der  guten 
alten  Sitte  ging  Plato  später  zur  Vertiefung  seiner  Kenntnisse 
auf  Reisen;  sicherlich  besuchte  er  die  Pythagoreer,  um  ihre 
mathematische  Philosophie  kennen  zu  lernen '').  Es  ist  auch  höchst 
wahrscheinlich,  dass  das  merkwürdige  Nilland,  für  dessen  Ein- 
richtungen er  begeistert  war,  Plato  zu  einem  längeren  Aufent- 


1)  Dikaiarchos  bei  Diog.  4 ;  er  soll  an  den  Isthmien  undPythien  (Apul.  2, 
irrtümlich  Olympien  und  Nemeen  Olymp,  p.  6,  42)  oder  Pythien  (Porphyr, 
bei  CyriU.  contra  Jul.  6,  208 d)  einen  Sieg  errungen  haben. 

2)  Hermodoros  bei  Diog.  6;  Olymp,  p.  7,  17,  der  von  10  Jahren  Unter- 
richt spricht,  rechnet  von  Ol.  87,  '6  an.  Suidas  verwechselt  „20  Jahre  alt" 
mit  „20  Jahre  lang". 

3)  Pausan.  1,  30,  3.  Apul.  1.  Tertull.  anim.  46.  Diog,  5,  Olymp. 
p.  2,  43  {(paoi).  5,  28  ff.  Suidas. 

4)  Xenoph.  memor.  3,  6,  1. 

5)  Plat.  apol.  34  a.  38  b.  Phaed.  59  b.  Späte  behaupteten,  dass  er  eine 
Verteidigungsrede  halten  wollte  (Justos  bei  Diog.  2,  41.  Olymp.  7,  24  ff.  und 
in  Gorg.  p.  392). 

6)  Hermodoros  bei  Diog.  6  (entstellt  2,  106) ;  vgl.  Epist.  Socrat.  XXI., 
auch  29,  4,  Nach  Susemihl  geuet.  Entwicklung  I  477  ff.  war  das  Motiv  der 
Reise  ein  rein  wissenschaftliohea 

7)  Dikaiarchos  bei  Plut.  quaest.  conv.  8,  2,  2  (vgl.  Thediuga  de 
Numenio  philosopho,  Bonn  1875  p.  2  f.),  vgl.  auch  Aristot.  metaph.  1,  6. 
Von  einer  Keise  spricht  zuerst  epist.  VII  326  b.  Aus  dem  „Theaitetos"  schloss 
man,  dass  er  den  Mathematiker  Theodoros  von  Kyrene  aufsuchte  (Apul.  3. 
Diog.  6.  Olymp,  in  Gorg,  p.  393) ;  aber  dieser  lehrte  ja,  wie  der  „Theaitetos" 
zeigt,  auch  in  Athen, 


286  Neuntes  Kapitel. 

halte  anlockte;    sonst  würde  er   schwerlich   eine  so  detaillierte 
Kenntnis  ägyptischer  Verhältnisse  besitzen '). 

Von  diesen  Reisen  zurückgekehrt,  dachte  Plato  daran,  die 
sokratische  Philosophie,  wie  sie  durch  die  neuen  Eindrücke  in 
seinem  Geiste  umgebildet  war,  anderen  mitzuteilen  ^).  Aber 
der  stolze  Athener  Hess  sich  weder  nach  der  Art  der  Sophisten 
mit  reichen  jungen  Leuten  bekannt  machen  noch  fand  er  Ge- 
fallen daran,  wie  sein  Lehrer  Markt  und  Strassen  und  Gymna- 
sien auf  und  abzuwandern  und  die  Leute,  mochten  sie  wollen 
oder  nicht,  in  eine  Disputation  zu  verwickeln,  Plato  erwarb 
vielmehr ,  durch  die  Fieberluft  nicht  abgeschreckt  ^),  einen 
Garten  an  einem  der  schönsten-  Punkte  in  der  Umgebung 
Athens,  dem  Akademiebezirke,  der  durch  reiche  Vegetation  ge- 
schmückt war  und  einen  herrlichen  Ausblick  auf  die  Stadt 
gewährte^).  Dort  errichtete  er  ein  Heihgtum  der  Musen,  welches 
der  Mittelpunkt  einer  religiösen  Genossenschaft  werden  sollte  ^) ; 
wer  Belehrung  wünschte,  konnte  den  Philosophen  in  dem 
Haine  aufsuchen.  Ferne  von  dem  Lärmen  und  Treiben  der 
grossen  Stadt   disputierte   er  auf-   und  abwandelnd   mit   seinen 


1)  Paul  Schmidt  de  locis  Aegyptiacis  iu  operibus  Platonicis,  Breslau 
1874  (besonders  leg.  II  656  c  —  657  a.  Tim.  20  d  ff.  polit.  264  c).  Die  Reise 
erwähnen  Strabo  17,806  {uic,  sTpTjTai  '^'ot),  Cicero  und  viele  andere  (das  meiste 
hei  Parthey  zu  Plutarch,  Isis  und  Osiris  S.  183  und  v.  Stein  II  §  17); 
nach  Plutarch  (bei  Theodoret.  vol.  IV  1032)  verband  er  seine  Reise  mit  einem 
Oelhandel.  Schaarschmidt  S.  61  ff.  leugnet  die  Reise;  v.  Stein  und  Karsten 
de  epistulis  Plat.  p.  163  ff.  zvpeifeln.  Plato  wollte  angeblich  auch  die  Magier 
besuchen,  wurde  jedoch  durch  Kriege  davon  abgehalten,  worauf  ihm  diese 
nach  Phönikien  entgegenkamen  (Apul.  3.  Diog.  7.  Clemens  protr.  p.  46  a. 
Lactant.  inst.  4,  2,  4.  Olymp,  p.  4,  7  fi.  7,  48  ff.)  Nach  einigen  christlichen 
Autoren  wurde  er  in  Aegypteu  durch  den  Propheten  Jeremias  mit  der  Offen- 
barung bekannt  gemacht  (August,  doctr.  Christ,  2,  28,  skeptischer  civ.  d.  8,  1 1 
und  besonders  retract,  2,  4,  vgl.  Job,  Philop.  de  mundi  aetern.  6,  28). 

2)  Usener  Preussische  Jahrbücher  1884  S.  4  ff. 

3)  Porphyr,  abstin.  1,  36  ((paot),  Hieron.  c.  .Tovin.  2,  9.  Simeon  Logoth. 
serm.  19,  2  (faai). 

4)  Diog,  20,  neben  dem  Kolonos  Herakleitos  (?)  bei  Diog.  6,  vgl.  Paus. 
1,  30,  4;  dazu  stimmt  das  Testament  Piatos  (Diog.  41),  sowie  was  Pausanias 
über  sein  Grab  sagt  (1,  30,  3),  Weil  Timons  Turm  nahe  dabei  lag  (Paus. 
1,  30,  4.  Olymp,  p.  8,  1),  erzählte  man  von  ihrer  Freundschaft  (Olymp, 
p.  4,  17), 

5)  Diog.  4,  3.  U,  V,  W  i  1  a  m  o  w  itz  Antigonos  von  Karystos  S.  263  ft. 
(besonders  279  ff.). 


Der  Dialog  (Plato).  287 

Genossen,  z,  B.  über  Definitionen^);  doch  hielt  er  auch  zu- 
sammenhängende Vorträge ,  was  Sokrates  nie  gethan  hatte  ^). 
Mehrere  der  Alten  knüpfen  die  Gründung  der  sogenannten 
Akademie  an  ein  dunkles  Ereignis,  über  welche  die  Nachrichten 
so  verschieden  lauten,  dass  es  jetzt  unmöglich  ist,  die  Wahrheit 
zu  erkunden.  Nachdem  nämlich  Plato  die  Weisheit  der  Pytha- 
goreer  kennen  gelernt  hatte,  wollte  er,  heisst  es,  die  Gelegenheit 
benützen  und  den  Aetna,  den  griechischen  Wunderberg,  aus 
eigener  Anschauung  kennen  lernen  ^) ;  dabei  lag  es  nahe ,  dass 
er  auch  mit  dem  Herrscher  von  Syrakus  bekannt  wurde  und 
Dion  für  die  Folgezeit  an  sich  fesselte.  Darauf  beschränkt  sich 
der  siebente  platonische  Brief ^),  der  zugleich  meldet,  Plato 
habe  damals  vierzig  Jahre  gezählt,  mit  anderen  Worten,  er  sei 
bereits  ein  berühmter  Mann  gewesen.  Von  einem  gewaltsamen 
Ende  weiss  dieser  alte  Platoniker  nichts.  Aber  weil  die  gegnerischen 
Philosophen  Plato  solch'  friedlichen  Verkehr  mit  den  Tj^annen 
verargten,  wurde  in  der  Folge  dazu  gesetzt,  dass  ein  kühnes 
Wort  Piatos  den  alten  Dionysios  gereizt  ■'"')  und  den  Philosophen 
in  grosse  Gefahr  gebracht  habe^).  Worin  dieselbe  aber  bestand, 
das  erzählt  beinahe  jede  Quelle  verschieden.  Dionysios  hess 
Plato,  wieDiodor  behauptet''),  in  Syrakus  verkaufen,  worauf  ihn 
seine  dortigen  Freunde  befreiten,  oder  er  übergab  ihn  dem 
spartanischen  Gesandten  Pollis.  Von  diesem  löste  ihn  Archytas 
oder  Pollis  verkaufte  ihn  auf  Aigiua  in  die  Sklaverei^)  oder 
er  setzte  Plato  bloss  auf  Aigina  aus  und  dann  kommt  ein  neues 
Moment  in  die  Legende.    Die  Aigineten  sollen  ihn  nämhcli  als 


1)  Alexis  bei  Diog.  27.  Epicur.  bei  Atb.  8,  354  b  6  FlXaTojvoc  ueptTraxoc 
vgl.  Favorin.  bei  Diog.  24. 

2)  Aristoteles  bei  Aristoxenos  elem.  rhythm.  30 ;  vgl.  Alexand.  bei 
Simpl.  phys.  104  v  38  ff.  Themist.  or.  21,  245  c. 

3)  Hegesandros  bei  Ath.  11,507  b.  Apal.  4.  Diog.  18.  Olymp,  p.  3,6. 
7,  60  ff.  und  in  Gorg.  p.  393. 

4)  Epist.  VII.  324  a.  326  b  ff.  Nach  Com.  Nep.  X  2,  2  veranlasste  Dion 
die  Einladung    des  Philosophen,    was   von    der    späteren  Reise    entlehnt    ist. 

5)  Plut.  Dion.  5.  Olymp,  p.  9,  3  ff.  vgl.  7,  52.  Tzetz.  10,  862  ff.  Casiri. 

6)  Hegesandros  bei  Ath.  11,  607  b  sxivSüvsuoe  ;  Cic.  pro  Rabirio  Post.  9,  23 
in  maximis  periculis  insidiisque  esse  versatum. 

7)  15,  7,  1,  vgl.  Com.  NeposX  2,  3,  Suidas. 

8)  Ersteres  Tzetz.  chil.  10,  996  (Nach  den  Aelteren  greift  Archytas  bei 
der  dritten  Reise  ein),  letzteres  Diog.  3,  19  f.  Casiri  (fehlerhaft  Olymp,  p.  3, 
89  ff.),  variiert  Aristid.  orat.  46  p.  381  ff.  Cant. 


288  Neuntes  Kapitel. 

Athener  auf  Grund  eines  Gesetzes  vor  Gericht  gezogen  haben, 
worauf  der  Philosoph  freigesprochen  oder  verkauft  wurde  ^). 
zur  Erzählung  von  PoUis  gehört  sonst  der  Schluss,  dass  Annikeris 
von  Kyrene  den  Philosophen  freikaufte  und,  weil  er  sich  das 
Lösegeld  nicht  ersetzen  Hess,  diese  Summe  zum  Ankauf  des 
Gartens  verwendet  wurde'''). 

Wir  lassen  es  dahingestellt,  was  an  diesem  Anekdotenkram 
wahr  ist;    sicher  steht  aber,    dass  Plato  auf  die  Einladung  des 
Dion  den  jüngeren  Dionysios  bald  nach  seiner  Thronbesteigung 
(Ol.  103,  2  =  367/6)  besuchte,  weil  jener  glaubte,  Plato  werde 
nach    und    nach    den     jungen    Fürsten     zu     einer     Art    von 
aufgeklärtem    Despotismus    bewegen    können  ^).     Als    die  Aus- 
sichtslosigkeit dieses  Versuches  klar  \^urde,  kehrte  der  Philosoph 
nach    Athen    zurück    und    nur   die  Hoffnung,    Dion    mit    den 
Tyrannen   wieder  zu  versöhnen,    bewog  ihn   zu  einer   zweiter 
Reise ;  auch  diese  verfehlte  ihren  Zweck  *),     Es  war  gut  für  dil 
Akademie,  dass  der  Meister  nicht  lange  ferne  blieb  ;  denn  schol 
waren,  während  Herakleides  die  Schule  leitete,   Intriken  gegei 
dieselbe  gesponnen    worden  ^).      Plato  lebte   nun  still  für  siel 
vom  öffentlichen  Leben  zurückgezogen,  aber  von  Wissbegierigel 
aller  hellenischen  Gaue  aufgesucht ;  selbst  einzelne  emanzipiert 
Frauen   schlössen   sich    seiner    Schule  an  '^).      Erst    in    hohei 


1)  Diog.   19   (ersteres  ans  Favorinus),  vgl.   Tzetz.  Cbil.  10,  946  ff.  970] 
ohne  jene  Gerichtsverhandlung  Plut.   Dion  6    (die    Uebergabe    an  PoUis    ifi 
korapliciert  dargestellt).     Eine  Vermutung  bei  Bergk  fünf  Abhandl.  S.  12 

2)  Diog.  20.  Olymp,  in  Gorg.  p.  394.  Tzetz.  Cbil.  5,  139  f.  10,  866 
874.  Es  scheint,  dass  bereits  im  Index  academic.  pbilos.  III  11  (p.  4  BücheU 
diese  Erzählung  gemeint  ist. 

3)  Epist.  7,  327  b— d,    vgl.    329  c.   Plut.  Dio    12.  Nepos  10,    3.    Späte« 
fabelten,  dass  er  von  dem  Tyrannen  ein  Land  zur  Errichtung  eines  Must 
Staates  wollte  (Diog.  21.  Themist.  orat.  17,  216  b,  entstellt  Casiri). 

4)  Plut.  Dio  18  ff.  Epist.  7,  338  b.  Nach  Neanthes  bei  Diog.  25  tra 
er  auf  der  Kückreise  Dion  in  Olympia,  woraus  man  schliesst,  dass  die  Reis 
361  stattgefunden  habe.  Angeblich  kam  er  auch  dieses  Mal  in  Lebensgefal 
(evtot  bei  Diog.  21),  aber  Archytas  rettete  ihn;  der  gefälschte  Brief  desselbe 
nimmt  darauf  Bezug,  dass  die  Pytbagoreer  Plato  zur  licise  bewogen  (Pla| 
Dio  11). 

6)  Aristoxenos    bei  Euseb.  praep.  ev.   16,  2,  2.    Aristid.  orat.  III  p.  4l( 
Said.  V.  'HpaxXet^Yjc  Etj^ücppovoi;,  vgl.  Ammon.  vit.  Ai-istot.  p.  10,  31  ff.  We 
6)  Dicaearch.  bei  Diog.  40. 


Der  Dialog  (Plato).  289 

Alter,  über  achtzig  Jahre  alt,  starb  Plato  Ol.  108,  1  (346)  ^); 
bis  zum  Tode  soll  er  sich  unermüdlich  mit  literarischen  Arbeiten 
beschäftigt  haben  ^).  Sein  Grab  war  an  der  Stätte,  wo  er  ge- 
wirkt hatte  ^). 

Plato  war  keineswegs,  wie  viele  der  Alten  seinen  Namen  aus- 
deutend meinten*),  breitschulterig,  sondern  etwas  bucklig  ^) ; 
seine  Stimme  klang  schwach  •').  Die  Miene  war  ernst  und 
würdig  '^).  Ueber  Piatos  Charakter  sind  eine  Menge  Anekdoten 
überliefert,  welche  teils  müssiger  Kombinationslust  teils  der 
Gehässigkeit  anderer  Philosophenschulen  entsprangen.  Jene 
waltet  bei  dem  Gerede  vor,  welches  das  Verhältnis  Piatos  zu 
den  übrigen  Sokratikern  betrifft  ^).  Es  ist  begreiflich,  dass  die 
Späteren  unter  den  bei  Plato  auftretenden  Personen  seine  be- 
rühmten Mitschüler  vermissten,  sie  hätten  jedoch  erwägen  sollen, 
wie   sehr  Sokrates   bei  Plato   im  Vordergrunde   steht,    so    dass 


1)  Dionys.  epist.  ad  Amm,  I  5,  Diog.  3,  2.  34.  6,  25.  Suid.  v.  Sitso- 
QiTZKoz  (unrichtig  Casiri);  im  81  Jahre  nach  Hermippos  bei  Diog.  2  (vgl.  4). 
Cic.  sen.  5,  13,  81  Jahre  (wegen  des  mystischen  Charakters  dieser  Zahl)  Sen. 
ep.  58,  31  (nach  diesem  starb  er  gerade  am  Geburtstage).  Ps.  Lucian.  macrob. 
21.  August,  civ.  d.  8,  11.  Censorin.  die  nat.  15,  1.  Olymp,  p.  9,  20.  Casiri, 
im  82.  Jahre  Val.  Max,  8,  7  ext.  3,  volle  82  Athen.  5,  217  d,  84  nach  Neanthes 
bei  Diog.  3  (irrtümlich  nach  Di  eis  Ehein.  Mus.  31,  41  f.). 

2)  Nach  Dionys.  comp.  verb.  p.  208  arbeitete  er  noch  mit  80  Jahren; 
Cicero  a.  O.  erzählt,  dass  er  schreibend  starb.  Nach  Hermippos  (Diog.  2) 
trat  der  Tod  bei  einem  Hochzeitsmahle  ein,  anders  Suidas.  Philon  sprach 
von  tpO'Eipiaaii;,  der  Krankheit  der  berühmten  Männer  (Diog.  40).  Eine  von 
Homer  entlehnte  Fabel  bei  Joh.  Sarisb.  polier.  2,  26  aus  Nicom.  Flav.;  über 
einen  prophetischen  Traum  Olymp,  p.  4,  27  S.  5,  37  ff. 

3)  Diog.  41.  Pausan.  1,  30,  3. 

4)  Man  hielt  HXaxouv  für  einen  Ehrentitel  wie  Theophrastos  und 
Stesichoros;  darum  glaubte  man,  Plato  habe  früher  einen  anderen  Namen 
geführt,  etwa,  wie  es  üblich  war,  den  seines  Grossvaters  Aristokles.  IlXatcov 
wurde  bald  auf  die  breite  Brust  bald  auf  den  Geist  bezogen.  Vgl.  Epigramm 
bei  Diog,  43.  Seneca  ep.  58,  30.  Plin.  ep.  1,  10.  Apul.  1.  Sext.  Emp.  1,  258. 
Diog.  4.  5.  Olymp,  p.  1,  28  ff.  5,  18  fl.  Suidas  vgl.  Simplic,  in  Arist.  phys. 
183  r  49. 

5)  Plut.  de  adul,  et  amic.  discr.  12.  Körperschönheit  Arrian.  diss.  Epict. 
1,  8,  13,  vgl.  Apul.  1. 

6)  Timotheos  bei  Diog.  5. 

7)  Amphis  bei  Diog.  28;  zu  den  \t.s\a'^-^o'kt.v.oi  gerechnet  Aristot.  probl. 
30,  1  p.  953  a  27. 

8)  Allgemein  Dionys,  ad  Pomp,  und  Athen.  1 1 ,  506  a  ff.;  handgreifliche 
Lügen  bei  Hegesandros  (Athen.  11,  507  cd).  Vgl.  v.  Stein  II  39  ff. 

Si  t  tl ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  19 


290  Neuntes  Kapitel. 


I 


alle  übrigen,  wenn  nicht  eine  lächerliche,  doch  mindestens  eine 
bescheidene  Rolle  neben  ihm  spielen.    Wie  taktlos  wäre  es  nui 
gewesen,    wenn  Plato  anerkannte  Schulhäupter,   mit  denen  ihi 
die  Anhänglichkeit  an  Sokrates  verband,  in  diese  Lage  versetz 
hätte.      Er  konnte  mit  wenigen  Ausnahmen   zu  Unterrednerij 
nur  Dilettanten   oder  Afterphilosophen   gebrauchen,    vor  allei 
weil  er  Sokrates  seine  eigenen  Ansichten  unterlegte.     Wer  di( 
nicht  einsah,  erblickte  darin  eine  böswillige  Absicht  und  sucht 
nach  weiteren   Spuren   von   Feindseligkeiten;    natürlich   fände* 
sich  Stellen  vor,  welche  bei  entsprechender  Interpretation  einei 
polemischen  Sinn   in    sich   zu   bergen  schienen.     Wie  Plato  z< 
Xenophon  stand,    interessiert  uns  jetzt  am  meisten.     Währen^ 
Plato    dessen  Namen   nie  genannt  hat  ^),   erwähnt  dieser,   das 
Sokrates  Plato  hochschätzte,    und  citiert,  wenn  auch  ohne  dell 
Namen,  seine  Schriften  ^).    Den  Literarhistorikern  dagegen  schiel 
in   der  Wahl  gleichartiger  Stoffe    ein  Akt  der  Feindschaft   zl 
liegen  ^).    Was  Aristippos  anlangt,  sollte  die  bekannte  Aeusserun^ 
Piatos  (Phaidon  59  c),    dass   sich  jener  bei  Sokrates'  Tode   ai 
Aigina   befand,    ironisch   gemeint   sein;    die  Nachrichten    über 
die  Art,  wie  sie  am  syrakusanischen  Hofe  neben  einander  lebtei 
sind  rein  anekdotenhaft  ^).    Aristoteles  ^)  beschränkt  sich  auf  dij 
Erzählung,   dass    sich   Aristippos    gegen    Plato     einen    kleine! 
Ausfall  erlaubte.      Ueber  Aischines   ist  die  Tradition  ganz   ui 
zuverlässig  ^).      Hingegen  spricht  die  Wahrscheinlichkeit  dafüpj 
dass  die  derben  Kyniker  die  Sokratiker  anderer  Richtung  und 
am    meisten     gerade    Plato  ^)    nicht    verschonten.       Wie     es 
um    die   angebliche  Feindschaft  zwischen   Plato  und  Isokrates 
steht,  haben  wir  S.  129  dargelegt.     Es  ist  schwer  zu  glauben, 
dass  der  stolze  Philosoph  verdeckte  Angriffe  auf  seine  Genossen 


1)  Nach  den  Scholieu  meinte  er  ihn  Alcib.  123  b  mit  avSpic  i^tonisToo. 

2)  Xenoph.  mem.  3,  6,  1.  sympos.  8,  32  fif.  (s.  n.). 

3)  Diog.  34;  Böckh   de  simnltate  quam  Plato  cum  Xenophonte  exer- 
caisse  fertur,  ind.  lect.  hib.  Berlin  1811  =  gesammelte  Schriften  IV  1  S. 

4)  Zeller  S.  291  A.  2;  v.  Stein  S.  67  flf. 
6)  Rhetor.  2,  23  p.  1398  b  29. 

6)  Dass  Plato  bei  dem  Plane,  Sokrates  fliehen  zu  lassen,  den  reiche 
Kriton  statt  des  armen  Aischines  setzte,  ist  eine  Insinuation  des  Epikureer 
Idomeneus  (Diog.  2,  GO.  vgl.  36.  3,  36);  Rivalität  bei  Dionys  Diog.  6. 

7)  lieber!  Antisthenes  s.  8.  279;  über  Diogenes  Diog.  6,   26  f.  40  f.  63 
68.  Aelian.  v.  h.  14,  33.  Theon  itpo-f.  6  p.  98,  14  ff.  Sp.  Stob.  flor.  13,  37. 


Der  Dialog  (Plato).  291 

machte,  die  Sophisten  bekämpfte  er  sicherlich  immer  offen  ^) ; 
gewiss  hat  ihn  Leidenschaft  und  Eifersucht^)  zu  diesem  Kampfe 
ebensowenig  aufgestachelt,  wie  zu  der  scharfen  Kritik  der  Dichter.^} 
Was  ihm  vollkommen  unsympathisch  war,  wie  die  Atomistik, 
das  ignorierte  Plato  völlig*). 

Die  sicilischen  Reisen  wurden  Plato  unaufhörlich  vorge- 
worfen und  zogen  ihm  den  Vorwurf  des  Schmarotzens  und  der 
Schmeichelei  zu  ^),  weil  er  die  Freigebigkeit  des  Dionysios  und 
Dion  stark  ausgenützt  haben  soll  ^).  Etwas  mehr  Recht  hatten 
diejenigen,  welche  den  Philosophen  einer  Schwäche  für  Hetären 
und  schöne  Knaben  beschuldigten,  insofern  als  wirklich  erotische 
Epigramme  von  Plato  vorhanden  waren  ^);  doch  warum 
wollen  wir  sie  nicht  lieber  dem  Komiker  dieses  Namens  zu- 
schreiben, da  doch  einige  derselben  voralexandrinisch  scheinen^)? 

Wie  man  den  persönlichen  Charakter  Piatos  verdächtigte, 
so  griff  man  seine  Schriftstellerehre  an.  Bald  warfen  ihm  die 
Gegner   vor,  er  habe  im  Timaios  pythagoreische  Bücher  abge- 


1)  Hypothesen,  wie  dass  er  im  Symposion  Hippias  treffen  wollte  (Stall- 
baum proleg.  p.  28),  sind  Piatos  nicht  würdig. 

2)  Walz  rhet.  IV  15,  14. 

3)  Diouys.  ad  Pomp,  de  Plat.  1. 

4)  Aristoxenos  bei  Diog.  9,  40  (vgl.  3,  25)  beutete  vermutlich  eine 
Aeusserung  Piatos  aus. 

5)  Epist.  Plat.  7,  326  b  ff.  Epikuros  bei  Diog.  10,  8.  Molon  bei  Diog. 
3    34  u.  s.  w.  Piatos  Verdienste  um  die  Kochkunst  Tzetz.  Chil.  10,  814  ff. 

6)  Dionysios  schenkte  ihm  über  achtzig  Talente  (Onetor  bei  Diog.  9). 
Dion  bezahlte  ihm  eine  Choregie  Athenod.  bei  Diog.  3.  Plut.  Aristid.  1.  Dio 
17;  Geiz  im  Alter  Floril.  Monac.  Nr.  227  p.  285  Mein.  Arsen,  viol.  p.  508 
Walz.  Piatos  Armut:  Gell.  v.  h.  3,  17,  1.  Aelian,  v.  h.  3,  27,  1.  Damasc. 
bei  Phot.  cod.  242  p.  346  a  34,  anders  Hieron.  contra  Jovin.  2,  9. 

7)  B  e  r  g  k  poetae  lyrici  Graeci  II''  295  ff.;  der  Verfassername  ist  übrigens 
bei  zehn  unsicher.  Vgl.  J.  A.  W  ernicke  de  epigrammatis  quae  vulgo 
Piatoni  philosopho  adscribuntur,  Thorn  1824. 

8)  Die  Echtheit  einzelner  wird  schon  von  Aristippos  nepl  TptxpYjc  (Diog. 
29)  und  der  Quelle  von  Athen.  13,  589  c  angenommen,  vgl.  noch  Aelian.  v. 
h.  4,  21  (Alciphron.  epist.  1,  34  irrtümlich).  Epigr.  6  (Anthol.  Palat.  7,  35) 
kann  nach  einer  inschriftlicheu  Imitation  (Mordtmann  Mittheil,  des  arch. 
Instit.  in  Athen  IV.  S.  18,  vgl.  V  S.  82)  spätestens  aus  dem  zweiten  Jahr- 
hundert stammen.  Nach  Epist.  Socrat.  15,  3  leugnete  Plato,  dass  er  solche 
Gedichte  verfasst  habe;  sie  seien  von  Sokrates.  Socher  S.  431  ff.,  K.  Fr.  Her^ 
mann  S.  100  f.  und  Steinhart  S.  76  f.  295  verwerfen  alle  Epigramme;  Bergk 
verteidigt  einige. 

19* 


292  Neuntes  Kapitel. 

schrieben*)  und  im  Staate  sowie,  als  er  gegen  die  Eleaten 
polemisierte,  an  Protagoras  ein  Plagiat  begangen  ^),  oder  er 
plünderte  nach  ihrer  Behauptung  Epicharmos  ^),  oder  er  ent- 
lehnte den  grössten  Teil  seines  Systems  aus  den  Vorträgen 
von  Aristippos,  Antisthenes  und  Bryson^).  Andere  spotteten, 
dass  der  Philosoph  seinen  Staat  von  den  Aegyptern  geholt 
habe  ^).  Spätere  Angriffe  galten  der  Glaubwürdigkeit  Piatos, 
weil  man  an  seine  Dialoge  den  Massstab  historischer  Erzähl- 
ungen anlegte,  z.  B.  wussten  sie  zu  erzählen,  dass  Sokrates  dei 
platonischen  Lysis  dementierte  ^). 

Doch  wenden  wir  uns  von  diesem  widerwärtigen  Klatscl 
sogenannter  Philosophen  zu  den  Schriften  Piatos,  damit  er  sie 
selbst  in  seiner  wahren  Natur  zeige.  Hier  tritt  uns  ein  voii 
nehm  er  Mann  entgegen,  der  sich  am  liebsten  in  vornehme 
Gesellschaft  bewegt  ^)  und  das  planlose  Treiben  des  unbeständige 
Demos  verabscheut.  Wie  es^  bei  seiner  Abkunft  nicht  andei 
sein  konnte,  spricht  er  vom  Volke  und  dessen  Führern  ra^ 
grosser  Herbigkeit  ^).  Jedoch  stellte  er  keine  der  bestehend« 
Regierungsformen  als  alleinberechtigt  hin,  sondern  konstruiert 
seinen  Idealstaat,  obgleich  er  die  wirklich  bestehenden  Gesetz 
gebungen  berücksichtigte,  nach  philosophischen  Prinzipien. 
Vor  den  Alleinherrschern  empfand  Plato  keineswegs  den  Abscheu 
eines  echten  Republikaners,  sondern  sprach  sogar  die  Hoffnungei 
die  er  von  einem  jungen,  unverdorbenen  Tyrannen  hegte,   ui 


1)  Er    kaufte  Philolaos    oder  dessen  Erben  pythagoreische  Schriften 
(Timon    bei  Gell.  3,  17,  1    u.   a.  s.   das  letzte  Kapitel).      Dion    soll    ihm 
Geld  dazu  gegeben  (Tzetz.  Chil.  10,  797  ff.   11,  2  ff.  Casiri)   oder  den  Anka< 
besorgt  haben  (Satyros  bei  Diog.  9 ;  es  gab  offenbar  einen  darauf  bezüglichen" 
Brief  Piatos  Diog.  8,  15.  84). 

2)  Arlstoxenos  bei  Diog.  37.  57.  Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  10,8,24: 
S)  Alkimos  bei  Diog.  9. 

4)  Theopomp,  bei  Athen.   11,  608  c. 

5)  Krantor  bei  Prokl.  in  Tim.  24  a.  Später  reklamierten  Juden  und 
Christen  die  Priorität  für  die  Offenbarung  (Fabricius-Harles  III  62.  148  ff.). 

6)  Diog.  35. 

7)  Z.  B.  im  Laches.  Er  macht  Charmid.  154  e.  155  a.  167  e.  Lysis 
206  c  vornehmen  Familien  Komplimente. 

8)  Besonders  im  Gorgias  515  c  ff . ;  Nie  b  uh  r  kleine  historische  Schriften 
S.  467  wirft  ihm  sein  angeblich  unpatriotisches  Benehmen  mit  grosser  Schärfe 
vor,  wogegen  F.  Delbrück  Vertheidigung  Piatons  gegen  einen  Angriff  Nie- 
buhrs  auf  seine  Bürgertugend,  Bonn  1828  gerichtet  ist. 


Der  Dialog  (Plato).  293 

verhohlen  aus  und  bewies  es  durch  die  That,  als  er  nach  Syrakus 
ging;  auch  mit  dem  makedonischen  König  Archelaos  soll  er  in 
Verbindung  gestanden  sein,  hingegen  scheint  zwischen  ihm  und 
Philipp  von  Makedonien  kein  gutes  Verhältniss  bestanden  zu 
haben  *) ;  es  ist  begreiflich,  dass  Plato's  aristokratische  Neig- 
ungen ihn  zur  Monarchie  hinzogen.  Die  Gespräche  bewegen 
sich  stets  in  den  feinsten  Umgangsformen.  Dabei  besitzt  Plato 
freihch  ein  hohes  Selbstgefühl  und  geht  mit  den  gegnerischen 
Philosophen  unbarmherzig  ins  Gericht  %  er  referiert  und  kritisiert 
die  Lehren  seiner  Vorgänger  nicht  wie  der  kühle  Aristoteles, 
sondern  greift  sie  mit  grösstem  Eifer  an,  ohne  jedoch  die 
Grenzen  der  Schicklichkeit  zu  verletzen  \  Man  kann  Piatos 
Verhältniss  zu  seinen  Gegnern  nicht  günstiger  beleuchten  als 
durch  den  Hinweis,  dass  er  der  erste  und  beinahe  der  einzige 
Heide  war,  welcher  in  der  vorchristlichen  Zeit  dem  Grundsatze 
seiner  Landsleute  widersprach,  dem  Feinde  zu  schaden  sei  sogar 
Pflicht  *).  Sein  religiöses  Gefühl  Hess  ihn  auch  den  Volks- 
glauben nicht  verachten  ^).  Er  trat  dem  Glauben  an  persönliche 
Götter  nicht  entgegen  und  missbilligte  die  kahle  rationalistische 
Erklärung^);  selbst  Anaxagoras'  Aeusserung  über  die  Sonne 
gefiel  ihm  nicht  und  an  dem  Alter  der  orphischen  Gedichte 
hat  er  nicht  gezweifelt  ^).  Plato  war  eben  nicht  ein  blosser 
Verstandesmensch,  welcher  dem  Geiste  unbeschränkte  Macht 
beilegt ;  er  besass  soviel  Selbstkritik  um  zu  erkennen,  dass 
jede  Philosophie,  seine  eigene  nicht  ausgenommen,  nur  einen 
Teil  der  Dinge  überzeugend  erklären  kann,  während  sie  für 
das  übrige,  wie  die  Religion  an  den  Glauben  appelliert ;  der 
Philosoph  zog  daher  seinem  System  eine  Grenze,   über  welche 


1)  Das  kaum  verständliche  utp'oü  (^tXiTnrou)  xal  STCiTiixYiO-vjva'.  Theopomp. 
bei  Diog.  40  ist  aus  Athen.  11,  506  ef  (vgl.  Greg.  Nazianz.  poem.  mor.  9. 
325>  ff.)  zu  erklären.  Gegen  Jakob  Bernays  Phokion  und  seine  neueren  Be- 
urteiler, Berlin  1881  richtig  Gomperz  Wiener  Studien  4,   11 0  ff. 

2)  Anekdoten  über  seine  personliche  Mässigung  Diog.  3,  38.  Val.  Max 
4,  1  ext.  2. 

3)  Welcker  kleine  Schriften  II  S.  432  f.  Jak.  Bernays  gesammelte 
Abhandlungen  I  S.  214  A.  1. 

4)  Theodoret.  IV  p.  769.  780;  v.  Stein  II  S.  4  ff. 

5)  Phaedr.  229  c. 

6)  Vgl.  Heine  de  ratione  quae  Platoui  cum  poetis  Graecorum  inter- 
cedit  qui  ante  eum  floruerunt,  Breslau  1880  S.  28  ff. 


294  Neuntes  Kapitel, 

nach  seiner  Ansicht  die  Dogmatik  des  Verstandes  nicht  drang, 
sondern  allein  die  Phantasie  gelangte,  und  stellte  das  transscen- 
dentale  in  poetischen  ,, Mythen"  dar  ^). 

Man   darf  darum   die  „Wissenschaftlichkeit"  Piatos  nicht 
herabsetzen ,   denn    er   stand    weder   an  Vielseitigkeit   noch   an 
Gründlichkeit  der  Kenntnisse  hinter  Aristoteles  zurück,  wiewohl 
diesem  ein  grösseres  Forschungsmaterial  zu  Gebote  stand.    Die 
mathematischen  Wissenschaften  waren  ihm  so  vertraut,  dass  er 
sie  durch  eigene  Forschungen  förderte  und ,   indem   er  Schüler 
und  Freunde  anregte,  einen  grossen  Aufschwung  dieses  Wissens-^ 
Zweiges  hervorrieft);   ebenso  studierte  er  die  Physiologie.    Voi 
der  Heilkunde   hätte  der  Philosoph   nicht  so  häufig  Beispiel« 
entlehnt,  wäre  sie  ihm  nur  oberflächlich  bekannt  gewesen ;    ii 
die   Sprachwissenschaft   trug    der    ,,Kratylos"    neue    Gedankei 
hinein,  an  die  freilich  der  bescheidene  Massstab  jener  Zeit  ai 
gelegt  werden  muss  ^).     Die  auf  Konstruktion  eines  Idealstaatc 
gerichteten  Studien  führten  P lato  auch  auf  die  älteste  Geschichte! 
die  Art,  wie  er  im  dritten  Buche  der  Gesetze  die  Zustände  d( 
prähistorischen  Athens  aus  den  Sagen  und  Homer  komponierte 
erinnert  an  die  freilich   nüchternere  Einleitung   des  thukydide-^ 
ischen  Geschichtswerkes.  Der  Schöpfer  jenes  Phantasiegebildes  be-^ 
trachtete  die  ganze  ältere  Geschichte  einschliesslich  der  dorischer 
Wanderung,    die   er    in    eigentümlicher  Weise    auifasste  *),    al 
Sagen,    deren    historischer    Kern    durch    Speculation     heraus 
geschält  werden  müsse. 

So  verbindet  Plato  in  allem  mit  der  Gelehrsamkeit  poetisch« 
Frische ,  wie  er  im  Leben  Massigkeit  und  Frohsinn  einte, 
war  er  doch  ein  Freund  der  frohen  Geselligkeit,  der  gerne  beim 


1)  Literatur  bei  K.  Fr.  Hermann  S.  556  f.,  Teuffei  7,  11,  Ueberweg 
(Geschichte  der  Thilosophie I.  6.  A.)  S.  143;  Jul.  Deuschle  die  platonischen 
Mythen  insbesondere  der  Mythos  im  Phaedrus,  Hanau  1854;  Volquardseu 
über  den  Mythus  bei  Plato,  Schleswig  1871  (hier  sind  die  früheren  An- 
sichten besprochen). 

2)  U'sener  Preussische  Jahrbücher  1884  S.  11  ff.;  über  Piatos  Mathe- 
matik Literatur  bei  Ueberweg  S.  143,  besonders  Carl  Blass  de  Piatone 
mathematico,  Bonn  1861. 

3)  Ueberweg  S.  148  (besonders  Jul.  Deuschle  die  platonische  Sprach- 
philosophie, Marburg  1862)  und  die  Schriften  über  den  „Kratyloa". 

4)  Leg.  3,  682  e  ((iuö-oXoYeixe),  683  d  (xö  xoü  jaüO-oo). 


Der  Dialog  (Plato).  295 

Weine  geistreich  plauderte*).  Mit  einem  durchdringenden  Ver- 
stände und  einer  haarscharfen  Dialektik  verband  sich 
künstlerischer  Enthusiasmus.  Wir  brauchen  die  Anekdote, 
nach  welcher  Flato,  als  er  zu  Sokrates  kam,  seine  Gedichte 
verbrannte^),  nicht,  um  zu  erkennen,  welch'  grosser  Dichter  in 
Plato  der  Poesie  verloren  gegangen  sei.  Sein  Interesse  und  Ver- 
ständnis aller  schönen  Künste^)  beweist  ja  jede  Seite  seiner 
Werke.  Den  Phaidros  erfüllt  eine  zu  jener  Zeit  seltene 
Schwärmerei  für  Naturschönheit  und  keiner  hat  eine  reinere  Be- 
geisterung für  das  Ebenmass  der  mensclüichen  Gestalt  aus- 
gesprochen. 

Plato  war  also  ausserordentlich  vielseitig,  was  in  seinem 
Wesen  merkwürdige  Gegensätze  hervorrief.  Er  hat  das  feinste 
Gefühl  für  Poesie  und  Kunst  und  doch  bezieht  er  sie  rein  auf 
den  Staat;  die  Poesie  soll  eine  Lehrerin  der  Moral  sein  und 
bei  der  Kunst  wird  das  ägyptische  Kastenwesen  gepriesen  ^). 
Plato  verdammt  die  Rhetorik  und  bedient  sich  ihrer  mit 
Meisterschaft;  er  schätzt  die  Schriftstellerei  gering  und  gibt  so 
viele  und  mit  grösstem  Fleiss  ausgefeilte  Werke  heraus.  Freilich 
ist  der  letztgenannte  Widerspruch  nicht  so  gross  als  man  meinen 
sollte.  Plato  hat  sich  über  die  philosophische  Literatur  im 
Phaidros  (274  b  ff.)  deutlich  ausgesprochen  ^).  Er  sieht  als 
Schüler  des  Sokrates  einen  wahren  Fortschritt  der  Philosophie 
nicht  in  der  Abfassung  von  Büchern,  sondern  glaubt  der  Wahr- 
heit erst  dann  wirklich  nahe  gekommen  zu  sein,  wenn  sie  durch 
den  Gedankenaustausch  von  Zweien  gesucht  worden  ist.  Lehr- 
bücher, wie  sie  Aristoteles  zu  verfassen  liebte,   hat  demgemäss 


1)  Dafür  bürgen  das  Symposion  und  das  erste  Buch  der  Gesetze.  Die 
asketischen  Neaplatoniker  oktroierten  Plato  Vegetarianismus  (Olymp,  p.  6,  36  f.) 
und  Cölibat  (Suidas). 

2)  Diog.  5.  Aelian.  v.  h.  2,  30.  Olymp,  p.  2,  35.  7,  18  ff.  vgl.  Casiri; 
Gell.  19,  11,  2  weiss  bloss,  das?  er  Tragödien  verfertigte,  vgl.  Apul.  2. 
Suidas.  Ursprünglich  hiess  es,  er  sei  in  Dithyramben,  auf  die  der  Phaidros 
zu  weisen  schien  (Apul.  2.  Olymp,  p.  2,  10  ff.  6,  52  ff.),  Tragödien  (Olymp. 
p.  2,  7)  und  Lustspielen  (Olymp,  p.  2,  21  ff.  7,  3  f.)  unterwiesen  worden. 

3)  Darum  behauptete  man,  dass  er  in  seiner  Jugend  in  Malerei  dilettierte 
(Diog.  5.  Apul.  2.  Olymp,  p.  2,  5.  7,  12  ff.). 

4)  Leg.  2,  656  e. 

5)  Vgl.  K.  Fr.  Hermann  über  Piatos  schriftstellerische  Motive,  ge- 
sammelte Abhandlungen  S.  281  ff.;  Zeller  Hermes  11,  84  ff. 


296  Neuntes  Kapitel. 

Plato  niegeschrieben  sondern  seine  Fachkenntnisse  lieber  mündlich  j 
zum  Nutzen  der  Schule  verwertet,  er  wollte,  wie  Fr.  A.  Wolf 
von  sich  sagte,  niemals  Schriftsteller,  sondern  Lehrer  sein.  Wenn 
er  sich  dennoch  zur  Herausgabe  philosophischer  Schriften  ent- 
schloss,  so  waren  diese  nach  seiner  Anschauung  ein  Erinnerungs- 
mittel für  die  Schüler,  das  ihnen  die  wissenschaftliche  Dis- 
putation in  das  Gedächtnis  zurückrief,  während  die  Laien 
durch  die  Dialoge  zur  Erforschung  der  Wahrheit  angeregt  und 
von  den  falschen  Philosophen  abgezogen  werden  sollten.  In 
der  That  gewannen  sie  ihm  aus  allen  griechischen  Ländern 
begeisterte  Schüler  *).  Wer  diese  Absicht  Piatos  in  Betracht 
zieht,  wird  sich  nicht  wundern,  dass  so  viele  schöne  Dialoge 
ohne  ein  positives  Resultat,  das  der  Leser  bequem  im  Kopfe 
behalten  könnte,  enden;  trotzdem  lassen  alle  einen  Stachel  in 
der  Seele  zurück. 

Immerhin   legte    Plato   auf  diese  Propädeutik    ein   grosses' 
Gewicht,  denn  er  hat   zahlreiche  Schriften  hinterlassen.     Doch 
gab  es  hier  für  die  alten  Kritiker  zu  thun,    weil  auch  unechte- 
Dialoge  den  berühmten  Namen  sich  anmassten.  Wie  Aristophanes " 
von  Byzanz,    welcher   die    Schriften  Piatos    zuerst   registrierte, 
über  die  Echtheitsfragen  dachte,  wissen  wir  leider  nicht,    denn  J 
Diogenes   (62)   führt   nur   einige  Trilogien   des   Registers   an^. 
Thrasyllos  aber,  der  bekannte  Astrolog  des  Kaisers  Tiberius  % 
erkannte  nur  sechsunddreissig  Schriften  und  die  Briefe  für  echt' 
an ;  übereinstimmend  wurden  zwölf  Dialoge  verworfen  ^).     Von 
diesen    gingen    fünf,    MiSwv   7)   tTCTrotpöipoc,    4>ataxe<;,   XeXiSwv  •''), 


1)  Themist,  orat.  23  p'.  295  cd  (zum  Teil  aus  Aristoteles). 

2)  Ueber  die  Ordnung  Nusser  Platous  Politeia,  Amberg  1883  S.  3  ff. 
Christ  Abhandl.  der  bayer.  Akad.  17,  461  ff. 

3)  Siivin  M^nioires  de  l'Acad.  des  Inscr.  X.  (1736)  S.  89  ff.;  K.  Fr. 
Hermann  de  Thrasyllo  grammatico  et  mathematico,  ind.  1.  Göttingen  1862; 
Suckow  S.  168  ff.;  Ueberweg  S.  190  ff.  195  ff.;  H.  v.  Stein  II  S.  182  ff.; 
Christ  a.  O.  S,  470  ff.  Die  Identität  der  beiden  Thrasyllos  ist  bloss  Schol. 
Juven.  6,  676  (wozu  Longinos  \)ei  Porphyr,  vit.  Plotin.  p.  114,  24  W.  passt) 
ausdrücklich  ausgesprochen  und  wird  durch  Varro  1.1.7,37  (vgl.  Victorius 
variae  lect.  XVIII  2),  der  angeblich  den  Phaidon  mit  „Plato  in  quarto" 
citiert,  nicht  widerlegt,  denn  eine  solche  Citierweise  wäre  unerhört. 

4)  Diog.  63. 

6)  Wohl  dem  Ualkyou  ähnlich ;  vgl.  zum  Titel  Themist.  or.  26  p.  329  d. 


Der  Dialog  (Plato).  297 

'Eß56{jnrj  *),  'E;ri[i£vtSYjc '),  gänzlich  verloren ;  sieben  dagegen  bilden 
mit  dem  Prädikate  vöd-oi  oder  vo^£Dd[A£Voi  in  den  Handschriften 
einen  Anhang.  Bei  zweien  derselben  ist  es  ganz  unbegreiflich, 
wie  sie  in  Piatos  Naehlass  kamen;  denn  der  „Sisyphos"  ist 
kein  sokratischer  Dialog,  sondern  spielt  in  Pharsalos.  Der 
„De  modo  kos''  besteht  aus  einem  an  Demodokos  gerichteten 
Sendschreiben  und  drei  moralischen  Erzählungen.  Die  übrigen 
fünf  sind  allerdings  sokratisch,  zwei  davon  aber  (axeipaXoo)  Trspl 
Stxatoo  und  Trspl  apet'^c  ^)  dürre  Examinationen.  Somit  bleiben 
drei  Dialoge,  bei  denen  es  notwendig  ist  das  Urteil  der  Alten 
zu  begründen.  Von  dem  Halkyon  (Eisvogel),  der  auch  unter 
Lucians  Werken  sich  umtreibt,  wusste  man  später  noch,  dass 
ein  Leon  der  Verfasser  war*) ;  c.  8  erscheint  bereits  die  Fabel, 
Sokrates  habe  zwei  Frauen  gehabt. 

Der  ,,Eryxias"  oder  ,,Erasistratos"  ^)  verrät  sich  durch 
seine  ethnographische  Gelehrsamkeit  als  Werk  deralexandrinischen 
Periode  und  zwar  dürfte  er  in  Aeg3'pten,  jedenfalls  ausserhalb 
Attikas  geschrieben  sein  ^).  In  der  attischen  Geschichte  und 
Geographie  ist  der  Autor  wenig  bewandert '').  Karthago  war  zu 
seiner  Zeit  noch  eine  bedeutende  Handelsstadt  (400 e);  auf 
Syrakus  ist  er  nicht  gut  zu  sprechen  (392  bc). 


1)  Der  Titel  dürfte  aus  Lucian.  philops.  16  zu  erklären  sein. 

2)  Doch  stammt  der  letzte  Name  wahrscheiulich  nicht  von  Thrasyllos 
her,  sondern  von  einem  Grammatiker,  welcher  sich  erinnerte,  Plato  £v  'Eiti- 
}ievt8-jj  citiert  gefunden  zu  haben;  diese  Verderbnis  von  euivojjit?:  ist  noch 
nachweisbar,  s.  Heinichen  zu  Euseb.  praep.  ev.  11,  15  A.  7.  Einen  Dialog 
„Ki|j.(üv"  citiert  Athen.  11,  506  d;  die  Erklärer  nehmen  willkürlich  eine  Ver- 
wechslung mit  FopY^a?  an.  Ein  Platofragment  ohne  näheres  Citat  bei  Menand. 
Im^.  c.  6  p.  339,  25  Sp.  =  Walz  IX  148. 

3)  Aus  dem  Meuon  gezogen  (B  ö  c  k  h  comm.  in  Piatonis  qui  vulgo 
fertur  Minoem  p.  40) ;  beide  hält  Böckh  (s.  S.  275  A.  9)  für  Schriften  des  Simon. 

4)  Athen.  11,  506  c  (aus  Nixiai;  6  Nixaeuc).  Favorinus  bei  Diog.  62, 
vgl.  Olymp,  proleg.  c.  26. 

5)  So  nennt  ihn  Diog.  62,  vgl.  Schanz  Studien  zur  Geschichte  des 
Platotextes  S.  10.  Er  gehört  zu  den  axscpaXot  (Suid.  v.  Aia)([vf)c).  C.  H.  Ha  ge  n 
observ.  oeconomicopolit.  in  Aeschinis  dialogum  qui  E.  inscribitur,  Königs- 
berg 1822. 

6)  P.  394 e  gilt  peutelischer  Marmor  als  Kostbarkeit;  vgl.  die  Nachricht 
über  Aethiopien  400  b. 

7)  Das  Haus  des  Pulytion  (394  c.  400  b)  kennt  er  aus  den  Rednern,  die 
übrigens  von  dessen  Pracht  nichts  sagen ;  die  Stoa  des  Zeus  Eleutherios  stammt 


298  Neuntes  Kapitel. 

Diesen  Dialog  erzählt  angeblich  Sokrates,  wie  auch  de; 
„Ax iochos",  gleichfalls  das  Werk  eines  Nichtatheners.  Denni 
wir  finden  bekannte  Namen  der  athenischen  Topographie  ohne 
Verständnis  zusammengestellt;  wem  der  Kynosarges  bestimmt 
war,  scheint  dem  Verfasser  gleichfalls  unbekannt^).  Die  über- 
flüssige und  unverdaute  Gelehrsamkeit  ^)  erinnert  an  den 
,,Eryxias",  den  vielleicht  derselbe  Schriftsteller  verfasst  hat. 
Die  Entstehungszeit  lag  übrigens  von  der  platonischen  ohne 
Zweifel  weit  ab :  Man  wählte  Sokrates  zum  Tröster  eines 
Sterbenden  gewiss  erst  dann,  nachdem  der  „Phaidon"  allbekannt 
war;  der  grammatische  Unterricht  gehörte  damals  bereits  zur; 
höheren  Bildung  (366  e).  Der  Dialog  ist  so  erzählt,  dass  de: 
Wechsel  der  Personen  nur  dem  Leser  deutlich  ist  ^). 

Einige   unechte  Sachen   scheinen   erst    nach    der  Zeit   de 
Thrasyllos   entstanden    oder   von  ihm   unbedenklich   verworfea 
worden   zu   sein,    weil   sie  dieser    nicht  einmal  erwähnte.     S 
wird  im  fünften  Jahrhundert  ein  Buch   Trspi  (poaixr^c;  genannt*)] 
und  ein  in  arabischer  Uebersetzung  erhaltenes  Verzeichnis  dei 
Alexandriners   Theon    zählt    sechs  sonst  unbekannte  Schriften; 
auf  ^).     Endlich    besassen    die    Syrer    ,, Piatos   Rat    an    seineu 
Schüler"*'),  die  Araber  ein  astrologisches  Werk'')   und,   wie  eil 


I 


aus  „Theages".  Seltsame  Vorstellungen  scheint  der  Verfasser  von  den  Ur- 
sachen der  sicilischen  Expedition  (392  c)  und  dem  Lykabettos  (400  b)  zu| 
haben.     Anderes  bei  K.  Fr.  Hermann  S.  581,  157. 

1)  Ein  bistorischer  Fehler  ist  368  d  ol  Ssxa  OTpaxYjYot.  Eine  Versammlunj 
von  30000  Bürgern  369  a !  Ueber  das  Stp-otpov  (366  c)  ist  meines  Wissena 
nichts  bekannt. 

2)  Die  Geschichte  von  Gobryes  371  a  ist,  wie  die  Form  des  Namens  zeigt,] 
aus  jonischer  Quelle  abgeschrieben;  sie  setzt  bereits  die  S.  286  A.  1  erwähnte, 
Verbindung  von  Plato  und  den  Magiern  voraus, 

3)  Auch  das  Imperfekt  uixet  365  a  gilt  dem  Leser.  Marsilius  setzte  demj 
Dialog  ,,Xenocrati8  Platonici  de  morle"  vor,  weil  dieser  itepl  ö-avdxou  schrieb. 

4)  Claudianus  Mamertus  de  statu  animae  2,  7  p.  124,  17  Engelbr. 

6)  Casiri,  bibliothecu  Arabico-Hispana  I  p.  302  (die  Titel  lauten  in ; 
lateinischer  Uebersetzung:  de  comparationibus ;  de  unitate;  de  inteUectu,  de] 
aninia,  de  substantia  et  accidentia;  de  sensu  et  delectatione ;  de  juvenum 
moribus ;  de  geometriae  elementis). 

6)  Hrsg.  von  S  ach  au  inedita  Syriaca,  Wien  1870  (vgl.  S.  IV),  übersetzt 
bei  B.  H.  Co w per  Syriac  miscellanies,  London  1861. 

7)  LIrwähnt  in  der  Encyklopädie  des  Uadschi  Klialfa  V  109  (de  speciebus 
Septem,  eariim  arcauis  et  de  speciebus  quadraginta  octo). 


Der  Dialog  (Plato).  299 

aristotelisches ,  so  auch  ein  platonisches  Traumbuch ,  das  viel- 
leicht in  lateinischer  Uebersetzung  dem  Abendlande  bekannt 
wurde  ^)  und  das  Mittelalter  las  alchy mistische  Schriften  unter 
Flatos  Namen  ^). 

Nur  durch  Ungenauigkeit  hiessen  zwei  Schriften,  welche 
andere  Speusippos  zuteilten,  platonisch,  nämlich  der  verlorene 
Dialog  „Mandrobulos"  ^)  und  die  erhaltenen  Definitionen  (opot), 
eine  sachlich  geordnete  Sammlung  von  Definitionen,  die  sich 
zum  Teil  auf  die  Worterklärung  beschränken  ;  manches  erinnert 
an  die  pointierten  Sprüche  der  Neupythagoreer  ^). 

Mit  der  Ausscheidung  dieser  Schriften,  über  deren  Unecht- 
heit  kein  Zweifel  besteht,  ist  der  ursprüngliche  Bestand  noch 
nicht  hergestellt,  denn  Thrasyllos  übte  das  Amt  des  Kritikers 
mit  grosser  Vorsicht  aus  und  schloss  die  allgemein  ver- 
worfenen Schriften  allein  aus. 

Briefe  Piatos  ^)  kannte  bereits  der  Grammatiker  Aristo- 
phanes;  wie  viele  jedoch,  wird  nicht  berichtet.  Thrasyllos 
nahm  dreizehn  (wahrscheinlich  I. — XIII.)  in  seine  Sammlung 
auf,  ausser  welchen  fünf  von  sehr  geringem  Umfange  und 
dürftigem  Inhalt*^)  unter  anderen  Philosophenbriefen  überliefert 
sind.  Von  jenen  wurden  der  XII.  und  XIII.  Brief,  wie  ihre 
Stellung     und     handschriftliche     Bemerkungen     zeigen '') ,     im 


1)  Hadschi  Khalfa  II 311.  Passavanti  meint  wahrscheinlich  beide  Schriften, 
wenn  er  gegen  Ende  seines  specchio  sagt:  si  mettono  a  interpretare  i  sogni. 
che  non  farehbe  Socrate  ed  Aristotele. 

2)  H.  Kopp  Beiträge  zur  Geschichte  der  Chemie  I  S.  358  A.  44. 

3)  Anon.  in  sophist.  elench.  Comm.  in  Aristot.  XXIII  4  p.  40,  14;  vgl. 
Philolog.  Jahresberichte  34  (1883)  S.  17f.  Bywater  Journal  of  philol.  12,  17  flf. 

4)  Manche  legten  sie  nach  Diogenes  4,  25  und  Olymp,  proleg.  c.  26 
Sx>eusippos  bei;  Plato  wurdep  sie  offenbar  wegen  Aristot.  de  gen.  et  corr.  2, 
3  zugeteilt.  Eine  teilweise  verschiedene  Sammlung  ist  in  syrischer  Ueber- 
setzung erhalten  (Hrsg.  v.  Sachau  inedita  Syriaca,  Wien  1870,  vgl.  S.  IV.); 
die  opoc  sind  zu  unterscheiden  von  den  Staipsosic,  v?elche  Diog.  3,  80  ff.  zu- 
sammengestellt und  auf  Aristoteles  (de  gen.  et  corr.  2,  3  p.  330  b  16)  zurück- 
geführt sind.  —  Das  Citat  von  Fulgeutius  myth.  2,  7  (vgl.  Virg.  cont.  p. 
747)  „in  moralibus"  bezeichnet,  wenn  nicht  erfunden,  eine  Sentenzensammlung. 

6)  Am  besten  in  Herchers  epistolographi  Graeci  p.  492  ff.  heiausgegeben. 

6)  'Etpsaxtaocüv  XIV.  stammt  aus  Piatos  Testament. 

1)  Unter  dem  XIII.  steht  in  Handschriften  vo^suEtai;  er  gehörte  zu 
I.— III.  Zwei  Handschriften  haben  folgende  Unterschrift  unter  XII.,  welcher 
mit  IX.  verbunden  sein  sollte  :  vodsüexat  tue  oh  llXdiwvoc. 


300  Neuntes  Kapitel. 

Altertum  angefochten  ;  Proklos  verwarf  alle  Briefe  ^)  und  Photios 
sprach  wenigstens  ein  ungünstiges  Urteil  über  sie  aus  ^).  Ob- 
gleich sich  schon  im  siebzehnten  Jahrhundert  die  Kritik  an  die 
Briefe  wagte^),  schonte  Bentley  merkwüi-digerweise  diese  Samm- 
lung allein'^).  Seit  Meiners ^)  wurde  jedoch  höchstens  die  Echt- 
heit des  IL  Vll.  und  VIII.  Briefes  in  Schutz  genommen  **) ; 
indes  können  nicht  einmal  diese  vor  einer  Prüfung  bestehen'^). 
Gerade  der  achte  Brief  enthält  eine  chronologische  Anspielung 
(353 e)  von  der  Art,  dass  er  zwischen  284  oder  270  und  241 
verfasst  sein  muss.  Die  Briefe  stammen  nicht  aus  einer  Fabrik ; 
dies  erhellt  vor  allem  aus  den  an  Dionysios  gerichteten  Schreiben, 
die  bald  den  Philosophen  dem  Tyrannen  schroff  gegenüber- 
stellen (P).  III.)  bald  beide  im  freundlichsten  Verkehr  zeigen 
(II.  XIII.);  der  dreizehnte  Brief,  worin  Plato  dem  Dionysios 
förmlich  Rechnung  über  seine  Ansprüche  ablegt,  sieht  gerade^ 
wie  die  boshafte  Intrigue   eines  Antiplatonikers   aus^).     Wie  es^ 


1)  Olympiod.  c.  26. 

2)  Epist.  207. 

3)  Menagius  verwarf  den  6.  und  13.  Brief,    Olearius  ad  L.  Allatii  do^ 
Script.  Socrut.  dialogum  exerc.  (Leipzig  1696)  §.  X,  „nonnuUas";  Cudworth 
systema    intellect.    IV  §    23   hielt    den    XIII.   Brief  (neuerdings  von   Christ 
Abhandl.  der  bayer.  Akad.  17,  477  ff.  verteidigt)  für  christlich. 

4)  Remarks  upon  a  late  discours  of  free  thinking  II.  38  ff.  (auch  Acta 
erudit.  Lips.   1715  Jan.  p.  7  f.). 

5)  Commentatt.  societ.  Gotting.  V(1783)  p.  51  ff.,  bekämpft  von  Tenne- 
mann Lehren  und  Meinungen  der  Sokratiker  S.  17  ff.  System  der  platonischen 
Philosophie  S.  106  ff. 

6)  So  Böckh  Graec.  tragoed.  princip.  p.  163  f.  und  J.  A.  Grimm 
deepistolis  Platonicis  utrura  genuinae  sint,  Berlin  1815;  Niebuhr  Vorlesungen 
über  alt€  Geschichte  III.  140  lässt  höchstens  VII.  und  VIII.  gelten,  Morgen- 
stern de  Piatonis  republica  I  p.  79  nur  VII. 

7)  Ast  S.  504  ff.  Socher  S.  376  ff.  K.  Fr.  Hermann  S.  423  ff.  690  ff.; 
E.  A.  Salomon  de  Piatonis  quae  vulgo  feruntur  epistolis,  Pr.  des  Friedr.- 
Wilh.  Gymn.  Berlin  1835  (er  betrachtet  jene  drei  Briefe  als  die  ältesten); 
H.  Karsten  comm.  crit.  de  Piatonis  quae  feruntur  epistolis  praecipue  III. 
VII.  et  VIIL  Utrecht  1864;  Sauppe  Götting.  gel.  Anz.  1866  S.  881  ff.;  Gust. 
liohrer  de  soptima  quae  fertur  Piatonis  epistola,  I.  Jena  1874  II.  Insterburg 
1874;  Steinhart  Piatons  Werke  VKI  S.  279  ff.  und  Piatons  Leben 
S.  9  ff.  273  f. 

8)  Marisilius  Ficinus  hat  das  Glück  gehabt,  mit  seiner  Behauptung, 
dieser  Brief  sei  von  Dion  geschrieben,  Glauben  zu  findcu ;  gleich  die  ersten 
Worte  widerlegen  ihn. 

9)  P.  363  a  wird  der  Phaidou  citiert  I 


Der  Dialog  (Plato).  301 

nm  den  achten  Brief  steht,  haben  wir  vorliin  gesehen;  der 
Inhalt  des  zweiten  und  des  dritten  ist  offenbar  aus  dem  siebenten 
geschöpft  ^).  Dieser  darf  für  den  ältesten  gelten ,  trotzdem  ist 
er  ebenso  wenig  von  dem  Philosophen  selbst  gesehrieben,  son- 
dern von  einem  Platoniker,  welcher  die  Sicilien fahrten  des 
Schulhauptes  gegen  den  Spott  der  Gegner  zu  rechtfertigen  beab- 
sichtigte. So  kam  es,  dass  der  Brief,  welcher  an  die  Partei- 
genossen Dions  adressiert  ist,  nicht,  wie  er  ankündigt,  ihnen 
nützliche  Ratschläge  erteilt,  sondern  Plato  wegen  seines  Ver- 
hältnisses zu  dem  Tyrannen  verteidigt;  diesen  Fehler  suchte 
ein  Zweiter  durch  Erfindung  des  achten  Briefes  wettzumachen  ^). 
Das  siebente  Schreiben  zeugt  von  sorgfältigem  Studium  des 
Plato,  aber  gewisse  Spuren  beweisen,  dass  das  platonische  Ge- 
wand erborgt  sei  ^).  Wie  es  scheint,  gingen  andere  gefälschte 
Briefe  verloren^). 

Das  Interesse  an  der  Echtheitsfrage  nimmt  zu,  sobald 
man  an  die  eigentlichen  Quellen  der  platonischen  Philosophie, 
die  Dialoge  herantritt;  leider  weichen  aber  die  Meinungen  der 
Forscher  ausserordenthch  von  einander  ab^).  Zuerst  unterzog 
Schleiermacher  die  Dialoge  einer  scharfen  Prüfung  und  erkannte 
nur  zwanzig  Schriften  für  unverdächtig  an;    Ast   überbot  ihn. 


1)  Karsten  a.  O.  p.  16.  17  ff.;  auch  VIII,  schliesst  sich  an  VII. 
336  b— 337  e. 

2)  In  welchem  Verhältnis  diese  Briefe  zu  Plutarchs  Biographie  des  Dion 
stehen,  darüber  wird  gestritten:  Bachof  de  Dionis  Plutarchei  fontibus, 
Göttingen  1874;  Herin.  Stössell  epistolae  Platonicae  et  Dionis  vita  Plu- 
tarchea  quomodo  cohaereant,  Cöslin  1876  (Diss.  v.  Greifswald);  H.  Müller 
de  fontibus  Plutarchi  vitam  Dionis  enarrantis,  Greifswald  1876. 

3)  So  das  unpassende  tttw  Zeuc,cp7]olv  b  ^Tjßalo?  345  a  (aus  dem 
Phaidon). 

4)  Diog.  8,  84. 

5)  Ausser  den  S.  283  erwähnten  Schriften  vgl.  im  besonderen  Friedrich 
Ueberweg  Untersuchungen  über  die  Echtheit  und  Zeitfolge  platonischer 
Schriften  und  über  die  Hauptmomente  aus  Piatos  Leben,  Wien  1861 ;  K. 
Schaar Schmidt  die  Sammlung  der  platonischen  Schriften  zur  Scheidung 
der  echten  von  den  unechten  untersucht,  Bonn  1866;  gegen  beide  Stein- 
hart Zeitschrift  für  Philosophie  N.  F.  Bd.  51  (1867)  S.  224  ff.  58  (1871) 
S.  32  ff.  193  ft'.;  Ed.  Alberti  Gesichtspunkte  für  angezweifelte  platonische 
Gespräche,  Philol.  Suppl.  HL  (1867)  S.  107  ff.,  neu  abgedruckt  1878;  Suckow 
S.  181—422  will  eine  bestimmte  Anordnung  der  Gedanken  zum  Massstabe 
der  Echtheit  macheu. 


802 


Neuntes  Kapitel. 


indem  er  nur  vierzehn  zuliess.  Besonnener  ging  K,  F.  Hermann] 
vor,  der  aehtundzwanzig  Dialoge  niclit  beanstandete,  wie  aucl 
Stallbaum  und  Steinhart  siebenundzwanzig  verteidigten.  Ein! 
neuer  Ansturm  erfolgte  durch  Suckow,  welcher  bis  auf  neun 
Dialoge  alles  verwarf;  üeberweg  beliess  Plato  vierzehn  Dialogej 
unbedenklich  und  fünf  mit  Reserve.  Von  ihm  ist  Zeller,  wenn 
er  die  platonische  Philosophie  aus  neunzehn  Dialogen  darstellt," 
beeinflusst;  die  Behauptung  Schaarschmidts,  nur  neun  Dialogej 
seien  echt  platonisch,  fand  mit  Recht  ebenso  w^enig  Zustimmung! 
wie  auf  der  anderen  Seite  Grotes  Festhalten  an  Thrasyllos. 

Die  Untersuchung  der  Echtheit  muss  von  den  Zeugnissen j 
des    Aristoteles    ausgehen  ^);    da    dieser   Philosoph  jedoch    die 
platonischen  Dialoge  nicht  wie  ein  Grammatiker  citiert,  schliessenl 
seine  Citate  nicht  alle  Bedenken  aus ;    sie  zerfallen  nach   ihrer j 
Fassung  in  mehrere  Gruppen.     Die   Authenticität  einer  Schriftj 
ist  natürlich    dann    am   besten   bezeugt,    wenn  Aristoteles   den 
Titel  derselben  ausdrücklich  anführt;    man  bedarf  dabei  nicht 
einmal  der  Beifügung    von  Piatos  oder  Sokrates'  Namen.     Auf! 
diese    Weise    sind    Gastmahl ,    Gesetze ,    Gorgias ,    der    kleinere  j 
Hippias,    Menexenos,    Menon,    Phaidon,    Phaidros,    Staat    und 
Timaios    gesichert.     Ein  Zweifel  ist    nur  dann  möglich,    wenn 
Aristoteles  Sokrates    oder  Plato  —  beides    gilt   ihm   gleich    — j 
ohne  den  Titel  einer  Schrift  anführt;    dabei  macht   es  keinen] 
Unterschied,  welches  Tempus  er  gebraucht^).     In   diese  Klasse] 
gehören  Apologie,  Philebos^),  Theaitetos,  Sophistes  und  Politikos. 
Aristoteles   setzte    aber    auch  Piatos  Schriften    als    so   bekannt 
voraus,    dass    er    ohne   irgend    welches  Citat    darauf   anspielte. 
Hier   kann    man   hinsichtlich   des  ,,Protagoras"   allein   zur  Ge- 
wissheit gelangen*),  dass  ihn  Aristoteles  kannte;  dagegen  gehen 


1)  Vgl.  den  index  Aristotelicus  von  Bonitss  (dazu  Hermes  HI  448); 
Trend elenburg  Platouis  de  ideis  et  numeria  doctrina  ex  Aiistotele  illu- 
strata,  Leipzig  1826  p.  8  ff.;  Zeller  platou'sche  Studien,  Tübingen  1889 
8.  201  ff.  und  Philosophie  der  Griechen  11  1,397  ff.;  Suckow  Form  der 
plat.  Schriften  S.  49  ff.;  Uoberweg  a.  O.  S.   131  ff. 

2)  Zeller  Philosophie  S.  896  A.  2  gegen  Üeberweg  UntersuchnngeD 
8.  140  ff.,  welcher  dadurch  mündliche  und  schriftliche  Aussprüche  sondern  wollte. 

3)  liestritten  von  Schaarschmidt  a.  O.  S.  278  ff.;  gegen  ihn 
Georgii  Jahrbb.  f.  Phil,  97,  300  ff. 

4)  Bonitz  Hermes  3,  447  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  303 

die  Ansichten  über  die  Benützung  von  Charmides,  Euthydemos, 
dem  grösseren  Hippias,  Kratylos,  Ladies,  Lysis  und  Parme- 
nides  auseinander.  Wie  auch  das  Urteil  in  den  einzehien 
Fällen  lauten  raag,  soviel  steht  fest,  dass  das  blosse  Schweigen 
des  Aristoteles  kein  Recht  gibt,  eine  Schrift  deswegen  zu  ver- 
werfen ;  denn  unzweifelhaft  echte  Dialoge  werden  von  ihm  rein 
zufällig  einmal  angeführt^). 

Die  zweite  Stelle  kommt  den  Urteilen  der  alten  Kritiker 
zu;  ich  meine  nicht  die  willkürliche  Kritik  der  Philosophen, 
welche  die  wertvollsten  Werke  irgend  einer  Theorie  zu  Liebe 
verwarfen,  wie  dies  Panaitios  bei  dem  „Phaidon"*)  und  Proklos 
gar  bezüglich  des  Staates  und  der  Gesetze  thaten  ^) ;  vielmehr 
haben  die  zünftigen  Kritiker  manche  Schriften  des  thrasyllischen 
Kanon  angezweifelt,  unter  ihnen  Thrasyllos  selbst,  der  z.  B. 
den  kleinen  mit  Benutzung  des  ,, Charmides"  verfassten  Dialog 
'AvTspaaxac  beanstandete^).  Von  dem  zweiten  Alkibiades 
über  das  Gebet  erkannten  die  Alten,  dass  der  Lihalt  von 
der  platonischen  Philosophie  weit  abliege ,  und  rieten  auf 
Xenophon^).  Proklos  wies  sodann  nicht  ungeschickt  die  Un- 
echtheit  der  Epinomis,  eines  Anhangs  zu  den  Gesetzen, 
nach  ^),  während  Aristophanes  von  Byzanz  die  Echtheit  nicht 
bezweifelt  hatte;  später  vermuteten  manche,  dass  Philippos  von 
Opus,  weil  er  nach  der  Ueberlieferung  die  Ausgabe  der  „Ge- 
setze"   besorgte,    diesen    Anhang   beigefügt   habe');    aber    des 

1)  Zeller  a.  O.  S.  408  f.;  über  den  grösseren  Hippias  s.  u. 

2)  Asklepios  Schol.  Aristot.  576  a  39.  Anthol.  Palat.  9,  358,  vgl. 
Socher  über  Platous  Schriften  S.  24  ff.,  Zell  er  Phil,  der  Gr.  II*  384,  1 
und  Commeut.  in  hon.  Momms.  p.  407  f.;  auf  solche  nicht  zur  Akademie 
gehörige  Kritiker  bezieht   sich  Hierokles   bei  Phot.  bibl.  214    p.  173a  27  B. 

3)  Olympiod.  proleg.  25,  vgl.  Freudenthal  Hermes  16,  201  ff.  gegen 
Zell  er  Hermes  15,248. 

4)  Diog.  9,  37;  die  Handschriften  haben  den  Titel  'Epaoxat  ('AvTepaotat 
Thrasyllos  a.  O.  und  Diog.  3,  59,  Procl.  ad  Euclid.  p.  19). 

5)  Athen.  11,  5C6c  (ki-fsxrxi).  Nach  Steinhart  Piatons  Werke  I  519 
von  einem  Kyniker ;  Böckh  in  Buttmanns  Kommentar  S.  139  bezog 
eine  Stelle  auf  die  Stoiker. 

6)  Olymp,  prol.  25,  vgl.  Freudenthal  Hermes  16,  202  A.  1;  ebenso 
urteilte  schon  Fr.  Patricius  discuss.  peripat.  t.  I  IIb.   III.  p.  27. 

7)  Diog.  37.  Suid.  (fikozofoq,  ebenso  Böckh  in  Minoem  p.  73  ff.  und 
die  vierjährigen  Sonnenkreise  der  Alten  S.  34  ff.,  Zell  er  Philosophie  II*  1, 
694  A.  1,  Susemihl  vor  der  Uebersetzung  S.  1875  ff.  Vgl.  Stallbaum 
de  epinomidis  vulgo  Piatoni  adscriptae  fide  et  auctoritate,  Leipzig  1855, 


304  Neuntes  Kapitel. 

unplatonischen  findet  sich   dort  so  viel,   dass  diese  Vermutunj 
wenig  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat. 

Erst  die   neueren  Gelehrten   sind    in    der  Verwerfung  voi 
drei  Dialogen  übereingekommen,  die  teils  im  Inhalt  teils  in  der 
Form  gänzlich  unplatonisch  sind.     Durch  einen   wahrhaft   selt- 
samen Zufall  geriet  Kleitop hon^)  unter  die  Schriften  Piatos, 
obgleich  er  nicht  nur  nicht  platonisch  ist,  sondern  sogar  einen 
Angriff  auf  die  Schule    des  Sokrates   im   allgemeinen'  enthält. 
Sokrates    stellt  nämlich    Kleitophon  zur  Rede,   weil   er  im  Ge- 
spräche mit  Lysias  ihn  getadelt  und  den  Unterricht  des  Thrasy- 
machos  gelobt  habe.     Kleitophon   gibt  jenes   teilweise   zu   unc 
legt    ihm    seine    Ansicht    auseinander ,     welche     dahin   geht 
Sokrates  -  Plato    verstehe    das    Gute    mit    schönen    begeisterter 
Worten  zu  loben   und   die  Menschen   dazu   anzueifern,   aber 
selbst  sei  nicht  weiser  als  die  anderen.     Da  die  Namen  Kielt 
phon,  Lysias  und  Thrasymachos  unverkennbar  aus  dem  erster 
Buche    des    ,, Staates"    entlehnt    sind,    wie    noch   manches   au^ 
anderen  Schriften,  und  die  Polemik  individueller  Züge  ermangelt 
dürfte  das  Gespräch  erst  nach  dem  Tode  Piatos  verfasst  sein^j 

Zwei  andere  Dialoge  sind  äusserlich  so  harmlos,    dass   si« 
von    einem   Künstler   wie  Plato   nicht   herrühren    können;   deij 
Hipparchos^)  und  M,inos*)    sind   ja   gleich    den    oben  b« 
sprocheneu  axd^aXot  rein  katechetisch  abgefasst ;  jenen  verwarfei 
übrigens  schon   alte  Kritiker^).     Eine  deutliche  Spur   der  Eni 
stehungszeit   fehlt   hier,   doch    kannte  Aristophanes  bereits  dei 
Minos.     Bei  anderen  Dialogen   schwanken   die  Ansichten,   wes-j 
halb    wir    unser    Urteil    auf    die    Besprechung    der     einzelnen] 
platonischen  Werke  verschieben. 

Nächst  der  Echtheit   beschäftigte  die  Reihenfolge  del 


1)  Zuerst  von  Schleiermacher  11*3,  469  flf.  verworfen.  Bertini  Rivist 
di  fllologia  I  467  ff.;  Rud.  Kunert  quae  inter  Clitophontem  dialognni  ef 
Piatonis  rempnblicam  intercedat  necessitudo,  Greil'swald  1881  (p.  18  ff.  meint] 
er,  es  sei  eine  Streitschrift  gegen  das  erste  Buch  der  Republik  und  Platoj 
habe  dieses  Werk  deswegen  fortgesetzt;  p.  13  f.  stimmt  er  Grote  bei,  nach] 
welchem  Xenophons   „Erinnerungen"  gegen  den  Kleitophon  gerichtet  waren) 

2)  So  K.  Fr.  Hermann  S.  42(5;  Susemihl  in  der  Uebersetzung  6,  607  fTJ 
8)  Schleiermacher I  2,328ff.;BückhinMinoem  p.31  ff.,  Ast  S.498ff.  u.  s.wj 
4)  Böckh  comm.  in  Platouisqui  vulgo  fertur  Minocm,  Halle  1806. 
6)  Aelian.  var.  bist.  8,  2. 


Der  Dialog  (Plato).  305 

Schriften  den  Scharfsinn  /ahlreicher  Gelehrten^);  jetzt  liaben 
sprachliche  uild  philosophische  Einzelforschungen  zu  einem  im 
allgemeinen  gewiss  richtigen  Resultate  geführt,  noch  vor  wenigen 
Jahren  dagegen  wäre  bloss  eine  kritische  Darstellung  der 
Hypothesen  möglich  gewesen,  da  äussere  Zeugnisse  über  die  Reihen- 
folge beinahe  gänzlich  fehlen.  Aristoteles  berichtet  nur,  dass  die 
Gesetze  nach  dem  Staate  geschrieben  waren  ^),  und  Krantor, 
dass  der  Staat  dem  Timaios  vorhergingt).  Das  übrige  ist  durch- 
sichtige Kombination:  Warum  blieb  der  Kritias  Fragment? 
Weil  Plato  darüber  starb*).  „Phaidros"  wurde  als  Programm 
seiner  Lehrthätigkeit  aufgefasst  und  galt  demnach  für  die  erste 
Schrift^).  Plato  scheint  manchmal  auf  seine  früheren  Werke 
zu  verweisen ;  da  jedoch  ausdrückhche  Rückbeziehungen  nicht 
stattfinden  durften,  damit  die  Abgeschlossenheit  eines  Dialoges 
nicht  zerstört  würde,  waren  etwaige  Anspielungen  nur  den 
unmittelbaren  Schülern  des  Philosophen  vollkommen  verständ- 
lich und  Versuche,  solche  aufzufinden,  müssen  problematisch  sein^). 

Den  Griechen  und  den  älteren  Philologen  war  die  Zeitfolge 
der  platonischen  Schriften  vollkommen  gleichgiltig ;  ihre  An- 
sichten gingen  nur  darüber  auseinander,  in  welcher  Ordnung 
dieselben  studiert  werden  sollten^).  Erst  Tennemann  (System 
der  platonischen  Philosophie  I  llöfif.)  fasste  die  Frage  historisch 
auf.     Aber  die  Philosophen  wollten  auf  die  Theorie  nicht   ver- 


1)  Ausser  den  S.  283  erwähnten  Schriften  vgl.  Ueberweg  Fichtes  Zeit- 
schrift für  Philosophie  N.  F.  57  (Halle  1870)  S.  55  ff. 

2)  Aristot.  polit.  2,  6  p.  1264  b  26. 

3)  Procl.  in  Tim.  p.  24  a,  vgl.  Suckow  S.  158  f. 

4)  Plutarch.  Sol.  32.  Schol.  in  der  Biblioth.  Coislin.  p.  228;  ebenso 
wertlos  sind  die  Anekdoten  Diog.  35.  37.   Athen.  11,  505  de. 

5)  Diog.  38  (vgl.  62).  Olymp,  proleg.  3  (aber  nicht  schon  Dikaiarchos, 
wie  Suckow  S.  160  flf.  meinte,  den  Susemihl  Jahrbb.  f.  Phil.  71,  703 
widerlegt) ;  anders  Cicero  orator  13,  42. 

6j  Zeller  platon'sche  Studien  S.  194;  Schaarschmidt  Sammluug 
der  platonischen  Schriften  S.  231  ff.;  H.  Siebeck  Jahrbücher  f.  Philol. 
131,  225  ff. 

7)  Ueber  die  Ordnung  des  Albinos  Suckow  S.  8  ff. ;  die  Ordnung  des 
Aristophanes  ist  natürlich  nicht  chronologisch,  wie  Munk  die  natürliche 
Ordnung  der  plat.  Schriften  S.  3  f.  vermutet.  Ueber  die  Ordnungen  von 
Ficinus,  Serranus.  u.  A.  Ast  S.  49  fif.  K.  Fr.  Hermann  S.  561  ff.  Vgl. 
Diogen.  3,  49.     Albin.  4.  Olympiod.  in  Gorg.  p.  111,   auch  Taurus    bei  Gell. 

noct.  Att.  1,  9,  9  s.  Freudenthal  hellenistische  Studien  IH  S.  316  f. 

S  i  1 1 1 ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  20 


306  Neuntes  Kapitel. 

ziehten:  Schleiermacher ^)    stellte   sich  vor,    Plato^habe  beinahe 
sämmtliche  Werke  nach  einem  bestimmten   vorgefassten  Plane 
ausgearbeitet,  eine  Annahme,  welche,  bei  Aristoteles  nicht  unmög- 
hch,  für  Plato,  zumal  bei  der  eigentümlichen  Anschauung,  die 
er   von   der   Schriftstellerei   hatte,    nicht   im    mindesten   passt; 
überhaupt  hätte  sie  nur  bei   einem   gealterten  Manne,   der  vor 
dem  Tode  die  Summe  seiner  Studien   systematisch   zusammen- 
fassen will,  einige  psychologische  Wahrscheinlichkeit.    Berechtigt 
dagegen,    wenn    auch    einseitig,    war    die    Hypothese   von    Ast 
(Piatons  Leben  und  Schriften,  Leipzig  1816)^),  welcher  die  Dialoge 
einteilte,  je  nachdem  sie  mehr  dramatisch,  oder  dialektisch  oder 
rein    wissenschaftlich  sind.     K.  Fr.  Hermann   (Geschichte   und 
System  der  platonischen  Philosophie  I.)  wies  zuerst  der  Forschung 
den  richtigen  Weg;  indem  er  von  der  natürlichen  Ansicht  aus- 
ging, dass  Plato,  als  er  zu  schreiben  begaim,  seine  Philosophie] 
nicht   fertig  im  Kopfe    trug,    sondern    gleich  jedem   Menschen' 
sich    allmälig    entwickelte,    suchte    er    diesen    Stufengang    desj 
platonischen  Genius  in  den  Werken  nachzuweisen.     Nach  seiner 
Ansicht   begann   der  Philosoph   mit    polemischen  Schriften,   inj 
denen  er  die  Gebrechen  des   täglichen  Lebens   (Hippias  minor,. 
Ion,  Alkibiades  L,  Lysis,  Charmides,  Laches)  und  die  Sophisten 
(Protagoras  und  Euthydemos)  bekämpfte;    den  getreuen  Schüler 
des  Sokrates  zeigen  noch  Apologie,  Kriton,  Gorgias,  Euthyphron,  | 
Menon  und  Hippias  major.     Der  dialektischen  Periode,  welche 
mit  Piatos  Uebersiedelung  nach  Megara  zusammenhängt,  gehören! 
Kratylos,  Theaitetos,   Sophistes,   Politikos    und  Parmenides   an. 
Von  seinen  Reisen   zurückgekehrt,    begann  Plato    in   konstruk- 
tiven   Dialogen    (Phaidros,    Menexenos,  Symposion,    Phaidon,, 
Philebos,  Staat,  Timaios,    Kritias    und   Gesetzen)    eine    positive! 
Philosophie  zu  entwickeln.     Diese  Annahmen  Hermanns  liegen 
auch  den  neueren  Theorien  von  Susemihl,  Michelis  (die  Philo- 
sophie Piatons  in  ihren  Beziehungen  zur  geoffenbarten  Wahrheit! 


1)  In  seiner  Uebersetzung  I*  17  ff.  (vgl.  Suckow  8.  1  ff.);  er  unterschied 

I.  elementare  Dialoge:  Phaidros,  Protagoras,  Parmenides  —  dazu  Lysis, 
Laches,  Charmides,  Euthyphron;  Gelegenheitsschriften.-  Apologie  und  Kriton; 

II.  indirekt  dialektische  :  Theaitetos,  Sophiste.s,  Politikos,  Phaedon,  Philebos, 
—  dazu  Gorgias,  Menon,  Euthydemos,  Kratylos  und  Symposion;  III.  kon- 
struktive: Staat,  Timaios,  Kritias;  dazu  Gesetze. 

2}  Vgl,  Zeitschrift  für  Wissenschaft  und  Kunst  I.  H,  1.  Landshut  1808. 


Der  Dialog  (Plato).  307 

kritisch  aus  den  Quellen  dargestellt,  Münster  1859 — 60,  2  Bde.), 
Ueberweg  ^)  und  Steinhart  (in  den  Einleitungen  zu  Hieron. 
Müllers  Uebersetzung)  zu  Grunde  ^).  Freilich  stellte  sich 
allmälig  heraus,  wie  sehr  vor  allem  eine  unbefangene  und 
detaillierte  Bearbeitung  der  platonischen  Philosophie  notthue. 
Hermann  Bonitz  zeigte  in  seinen  bekannten  ,, platonischen 
Studien"  (I.  U.  über  Gorgias,  Theaitetos,  Euthydemos  und 
Sophistes,  aus  den  Schriften  der  Wiener  Akademie  1858  S.  241  ff. 
1860  S.  247  ff.,  2.  Aufl.  Berlin  1875),  dass  jeder  Dialog  für 
sich  nach  seinem  Gedankengang  liebevoll  und  ohne  Vorurteil 
erforscht  werden  muss ;  daraus  kann  erst  ein  getreues  Bild  der 
platonischen  Philosophie  und  ihrer  allmäligen  Entfaltung  ge- 
wonnen werden.  Der  Gedanke  von  Bonitz  trug  Früchte  in  den 
Arbeiten  von  Juhus  Deuschle  (Dispositionen  der  Apologie  und 
des  Gorgias  von  Piaton  und  logische  Analyse  des  Gorgias, 
Ztsch.  f.  Gymnasialwesen  14,  353  ff.  15,  1  ff.,  neu  als  Anhang 
zur  Gorgiasausgabe  von  Cron,  Leipzig  1867)  %  Fritz  Schultess 
(Platonische  Forschungen,  Bonn  1875)  und  J.  Nusser  (Piatons 
PoHteia  nach  Inhalt  und  Form  betrachtet,  Amberg  1882;  Inhalt 
und  Reihenfolge  von  sieben  platonischen  Dialogen,  Amberg  1883*). 
In  den  letzten  Jahren  gingen  mehrere  Platoforscher  zur 
monographischen  Lösung  der  Zeitfrage  über.  Schon  früher  war 
die  stufenweise  Entwicklung  einer  eigenartigen  Ansicht  Piatos, 
l)esonders  der  Ideenlehre  gelegentlich  verwendet  worden,  ^)  doch 
ohne  Konsequenz.  Zuerst  forderte  Schultess  (platonische  Forsch- 
ungen, Bonn  1875  S.  53  ff.)  auf,  einzelne  Dogmen  durch  alle 
Schriften  hindurch  zu  verfolgen;  aus  der  Frage,  wie  Plato  die 
Seele  auffasste,    ergab   sich  unter  anderem  die  Bestätigung  der 


1)  Vgl.  auch  ztsch.  f.  Philosophie  57  (1870)  S.  55  ff. 

2)  Ed.  Munk  die  natürliche  Ordnung  der  platonischen  Schriften, 
Berlin  1857  ordnet  die  Dialoge  nach  den  verschiedenen  Lebensaltern,  wie 
Sokrates  auftritt;  Teichmüller  die  Reihenfolge  der  platonischen  Dialoge, 
Leipzig  1879  und  literarische  Fehden  IL  zu  Piatons   Schriften,  Breslau  1884 

verwertet  Theaet.  143  c  und  augeblich  polemische  Stellen. 

3)  Vgl.  Deuschle  über  den  inneren  Gedaukenzusammenhang  im 
Platonischen  Phaedrus,  Ztsch.  f.  Alterthum-sw.  1854  S.  25  ff. 

4)  Vgl.  auch  F.  Sehe  die  die  Reihenfolge  der  platonischen  Dialoge 
Phaedros  Phaedon  Staat  Timaeos,  Pr.  v.  Bozen,  Innsbruck  1876. 

5)  z.  B.  Sigurd  Ribbiug  genetische  Entwicklung  der  platonischen 
Ideenlehre,  Leipzig  18^3—64,  2  Bde. 

20* 


308 


iTeuntes  Kapitel. 


Ansicht,  dass  der  Phaidou  vor  dem  Phaidros  entstand.    D.  Peipei 
erforschte    hierauf    in    dem    Buche    ,,ontologia    Platonica,    ac 
notionum    terminorumque   historiam    symbola"   (Leipzig    1883| 
einen   wichtigen   Punkt    der    platonischen  Lehre   und   gelangt 
(p.   466  ff.)   zu   folgenden   Gruppen:    1.   eigentliche   sokratischi 
Dialoge  (über  ethische  Fragen):   der    kleinere  Hippias,  Lachest 
Charmides, Eütyphron, Protagoras/)  Lysis;  entwickelter:  Apologie 
und  Kritou;  II.  ideologische  Dialoge  (über  Fragen  derhöheren  Phile 
Sophie,  wobei  die  Anfänge  der  Ideenlehre  erscheinen)  in  folgende^ 
Ordnung:  Gorgias,  Menon,  Phuidon,  Phaidros,  Symposion,  Staat 
Timaios   und  Kritias,    Euthydemos,    Kratylos   und  Theaitetosj 
III.  dialektische  Schriften :  Parmenides,  Sophistes  und  Politikos 
Philebos;  IV.  Gesetze.     Nicht   lange    vorher  hatte  Dittenberge^ 
mehrere  platonische  Partikeln,  besonders  [atjv  untersucht  (Herme 
16,  321  ff.)  und  merkwürdiger  Weise  stimmen  beide  Gelehrter 
in  den  Hauptresultaten  überein;    Dittenberger    scheidet  I.  (w< 
bloss  xal  jJLTjv  und  aXXa  (it^v  vorkommen):  Kriton,  Euthyphroi:^ 
Protagoras,   Charmides,  Ladies,    Hippias  minor,  EuthydemosJ 
Menon,  Gorgias,  Kratylos,  Phaidon;    II.  (mit    zi  (itjv,    ys  jatjvJ 
aXXd  [i'/]v)  a.  Symposion,    Lysis,    Phaidros,    Staat,    Theaitetos; 
b.    Parmenides,    Philebos,    Sophistes    und    Politikos,    Gesetze] 
Hoffentlich   findet   das  Beispiel    von   Dittenberger   und   Peiper 
zahlreiche  Nachahmer,  welche  die  Resultate  genauer  präcisieren  ^)^ 
Mit  diesen  Problemen   verbindet    sich    die   unumgängliche 
Frage,  zu  welcher  Zeit  die  einzelnen  Schriften  abgefasst  seien. 
Wer   auf  schlecht   erfundene  Anekdoten    (S.  305  A.  4)  keiner 
Wert  legt,   findet   höchstens   in  einer  merkwürdigen  Nachrich^ 
des    Theophrastos    ein    äusseres    Zeugnis ;  ^)    da    dieser    glaul 
würdige  Mann   berichtet,   es  habe  Plato  im  höheren  Alter  leidj 
gethan,   dass   er  der  Erde  früher  die  Mitte  des  Weltalls  ange-| 
wiesen  habe,  muss  der  Timaios  geraume  Zeit  vor  Piatos  Tode] 
geschrieben   sein.     Ob    Aristophanes    wirklich   Piatos   Staat   inj 

1)  Diese  drei  Dialoge  (Cb.  Eu.  P.)  euthalten  einige  Spuren  der  Ontologiej 
(P.  471). 

2)  Vgl.  zur  Stilentvvicklung  Rieh.  Je  cht  de  nsu  particulae  vjSiij  ial 
Piatonis  dialogis  qui  fernntur,  Halle  1881  ^  Herrn.  Höfer  de  partieulia^ 
Platonicis  capita  selecta,  Bonn  1882,  aucblvoBruns  de  legum  Platonicarum] 
compositione,  Bonn  1877  thesisHI;  gegen  Dittenberger  F  r  e  d  e  r  k  i  u  g  Jahrbb.| 
f.  Pbilol.  126,  634  ff. 

8)  Plutarcb.  Pluton.  quaest.  8,  1.     Nuina  11. 


Der  Dialog  (Plato).  309 

den  Ekklesiazuseii  verspottete,  davon  soll  unten  die  Rede  sein. 
Im  übrigen  sind  wir  auf  die  Anachronismen  der  Dialoge  ange- 
wiesen; wiewohl  nämlich  Plato  in  allen  Dialogen  (höchstens  die 
Gesetze  ausgenommen)  Sokrates  auftreten  Hess,  entschlüpfte  ihm 
manchmal  eine  Anspielung  auf  Zeitverhältnisse.  In  den  älteren 
Dialogen  fehlen  derartige  Stellen  leider  ganz;  darf  man  ihnen 
den  Menexenos  zurechnen,  dann  entschloss  sich  Plato  nicht 
früh  zum  Schreiben,  setzt  doch  jene  Schrift  bereits  den  Frieden 
vom  Jahre  387  voraus.  Es  ist  ohnehin  so  gut  wie  gewiss,  dass 
Plato  seinen  Lehrer  erst  nach  dessen  Tode  zum  Dolmetsch  der 
eigenen  Meinungen  stempelte.  Am  besten  sind  wir  über  die 
Zeit  der  ideologischen  Schriften  unterrichtet;  Bekanntlich  zieht 
im  Symposion  Aristophanes  den  385  verübten  Gewaltstreich 
der  Lakedämonier  zu  einem  kecken  Vergleiche  (193  a)  heran. 
Der  Theaitetos  nimmt  auf  ein  bei  Korinth  vorgefallenes 
Gefecht  Bezug,  mit  welchem  kein  Ereignis  des  korinthischen 
Krieges  gemeint  sein  kann ;  dies  geht  zur  Evidenz  nicht  nur 
daraus  hervor,  dass  Theaitetos,  obgleich  er  bei  Sokrates'  Tode 
noch  ein  junger  Mann  war,  ^)  trotzdem  wegen  seiner  bedeutenden 
wissenschaftlichen  Leistungen  gefeiert  wird ,  sondern  ganz  be- 
sonders weil  Plato  den  eingehenden  Exkurs  172  c — 177  c  (speziell 
175  d  ff.,  wo  auf  ein  Enkomion  des  Agesilaos  Bezug  genommen 
wird),  erst  nach  dem  ,,Euagoras''  des  Isokrates  geschrieben  haben 
kann;  er  meint  also  das  Gefecht,  welches  Chabrias  Ol.  102,  4 
(369)  den  Thebanern  bei  Korinth  lieferte.^)  Bezüglich  des 
Menon  und  des  Staates  ist  nur  so  viel  zu  ermitteln,  dass  sie 
nach  395  (nachdem  der  Thebaner  Ismenias  sich  bereicheret  hatte) 
verfasst  wurden  ;  ^)derProtagoras  setzt  wahrscheinlich  die  Peltasten- 


1)  143  e.  144  c  }j.cipäx'.ov  (aber  p.  144  d  xöv  av5pa), 

2)  So  urteilten  schon  Munk  S,  394  und  Ueberweg  S.  227  ff. ;  eingehend 
E.  Rohde  Jahrbb.  f.  Philol.  123,  421  ff.  125,  81  ff.;  Bergk  fünf  Abhand- 
lungen zur  Geschichte  der  Philosophie  S.  3  ff.  (er  vermengt  jenes  Enkomion 
mit  dem  erhaltenen) ;  Schulte ss  die  Abfassungszeit  des  platonischen  Theaetet 
S.  26  ff.;  für  die  ältere  Ansicht  J.  Horowitz  über  Plato's  Theätet,  seine 
Bedeutung  und  Stellung  innerhalb  der  platonischen  Lehre  und  seine  Ab- 
fassungszeit, Thorn  1884. 

3)  Meno  p.  90a  (Ueberweg  S.  226  f.,  bestritten  von  Susemihl  Jahrbb. 
f.  Phil.  77,  854);  rep.  1,  336  a  (Ueberweg  S.  221;  nach  der  sicilischen  Reise 
B  ö  c  k  h  de  aiöiultate  p.  26). 


310 


Neuntes  Kapitel. 


that  von  392  voraus ;  ^)  der  Ph  a  i  d  r  o  s  scheint  nach  der  Sophisten- 
rede des  Isokrates  (S,  129)  verfasst.  Im  Euthydemos  endlich 
deutet  eine  Wendung  vielleicht  auf  das  Bestehen  des  neuen 
Seehundes.^)  Mit  diesen  kärglichen  Andeutungen  wird  man 
sich  begnügen  müssen;  alles  übrige  beruht  auf  blosser  Ver- 
mutung. ^) 

Den  Inhalt  der  platonischen  Dialoge  zu  erörtern,  muss  ich 
den  Philosophen  überlassen.  Der  Literarhistoriker  hat  nur  die 
Form  und  Echtheit  der  Schriften  darzulegen.  Plato  behandelt 
den  Dialog  nicht  wie  eine  zufällig  gewählte  Form,  sondern  als  eine 
Kunstform  in  mannigfaltigen  Gestalten,  die  er  abwechselnd 
angewendet  zu  haben  scheint,  bis  er  sich  später  dazu  neigte, 
zwischen  der  kontinuierlichen  Schreibart  der  Naturphilosophen 
und  dem  sokratischen  Dialoge  zu  vermitteln. 

Eine  Sonderstellung  nimmt  unter  Piatos  Werken  die 
Apologie^)  ein,  das  einzige,  welches  kein  Dialog  ist.  Obgleich 
diese  Verteidigung  seines  Lehrers,  welche  diesem  selbst  in  den 
Mund  gelegt  ist,  weder  die  Manier  der  Advokaten  noch  die  der 
Epideiktiker  rein  zeigt,  nimmt  man  in  allem  die  rhetorische 
Bildung  des  Philosophen  wahr;  Xenophons  paralleler  Versuch 
gereicht  dagegen  diesem  Dilettanten  wenig  zur  Ehre.  Plato 
vereinigt  in  der  glücklichsten  Weise  eine  glaubwürdige  Ver- 
teidigung des  edlen  Weisen  und  eine  vortreffliche  Schilderung 
seiner  Eigentümlichkeiten,  indem  er  zugleich  eine  vernichtende 
Anklage  gegen  das  athenische  Volk  erhebt^). 


1)  Kroschel  Ztsch.  f.  Gymnasial wesen  11,  561  flf.  und  in  seiner  Aus- 
gabe (nach  ihm  wahrscheinlich  um  388  entstanden). 

2)  Bergk  a.  O.  S.  27  urgiert  svteöO-Iv  izod-h  Etatv  Ix  Xiou. 

8)  Gorgias  bald  nach  dem  Tode  des  Sokrates  wegen  des  bitteren  Tadels 
der  Athener  (Ueberweg  S.  249;  s.  auch  U.  v.  Wilamowitz  philol.  Unter- 
such. 1,218  ff.;  anders  Schleier m acher  II  1,20  ff.);  Gesetzte:  1,638  b  bezieht 
Böckh  in  Piatonis  qui  fertur  Minoem  p.  73  auf  den  Sieg  der  Syrakusaner 
von  Ol.  106,  1  ;  4,  709  e  fi.  zielen  auf  den  jüngeren  Dionysios  nach  Suse- 
mi h  1  genet.  Entw.  2,  693  ff. 

4)  J.  Deuschle  (S.  307);  H.  Bau  mann  Versuch  einer  Kritik  über  Piatos 
Apologie,  Znaim  1868 ;  G.  A.  Kahler  über  den  Gedankengang  der  plato- 
nischen apologia  Socratis,  Tilsit  1871. 

6)  Dies  bemerkt  Dionys.  rhet.  8,  8 ;  vgl.  auch  Dionys.  Dem.  23.  Ab- 
sprecheud  urteilt  Cii«sius  Sev.  bei  Seneca  controv.  111.  praef.  §  8  p.  361, 
16  B.  Die  Echtheit  wird  bestritten  von  Ast  S.  474  ff,  C.  G.  König  de  apo- 
logia Socratis   num  geuuiuum    sit  Piatonis  opus,  Meissen  1822   und  Scbaar 


Der  Dialog  (Plato).  311 

Noch  mehr  gibt  der  Menexenos  von  den  rhetorischen 
Studien  Pia  tos  Kunde,  denn  das  Zeugnis  des  Aristoteles 
scliützt  die  Echtheit  dieses  Dialoges  gegen  jeden  Zweifel^). 
Dialog  kann  man  diese  Schrift  deswegen  nennen,  weil  der 
Epitaphios,  welcher  ihren  Kern  ausmacht,  von  einem  kurzen 
ironievollen  Zwiegespräch  des  Sokrates  und  Menexenos  gleich- 
sam umrahmt  ist;  letzterer  hat  hier  keine  Gelegenheit, 
seine  anderwärts  (Lysis  211  b)  gerühmte  Dialektik  anzu- 
wenden. Sokrates  hat  nach  seinem  Vorgeben  den  Epitaphios 
von  Aspasia  gehört,  aber  der  Schluss  enthüllt  deutlich  die 
Mystifikation^).  Das  Schema  ist  das  übliche:  Abkunft,  Er- 
ziehung, edle  Thaten  der  Vorfahren;  ob  Plato  die  uns  erhaltenen 
Leichenreden  vor  sich  gehabt  hat,  ist  nicht  auszumachen^). 
Selbständig,  wie  es  scheint,  tritt  er  zum  Schlüsse  auf,  wo  er 
den  Kindern  und  Eltern  der  Gefallenen  deren  Aufträge  zu  über- 
mitteln fingiert.  Eine  bestimmte  Gelegenheit,  welcher  diese  Rede, 
die  weder  dem  Philosophen  zu  besonderer  Ehre  gereicht  noch 
auch  seiner  unwürdig  ist,  gewidmet  sein  könnte,  wird  nicht 
angedeutet  '^). 

Die  Dialoge  selbst  zerfallen  in  zwei  Gruppen,  die  wirklichen 
Zwiegespräche,  wobei  Sokrates  und  seine  Genossen  wie  auf 
einer  Bühne  auftreten  und  gleich  dramatischen  Personen 
sprechen,  und  die  von  Sokrates  oder  Sokratikern  erzählte  Unter- 
redungen. Jene  haben  zum  grössten  Teil  einen  geringen 
Umfang,  was  damit  zusammenhängt,  dass  Sokrates  häufig  mit 
einem  einzigen  sich  unterhält. 


Schmidt;  s.  dagegen  Ernst  Sojek  Einiges  zur  Echtheit  platonischer  Dialoge, 
Linz  1876. 

1)  Rhet.  l,  9  p.  1367  b  8.  3,  14  p.  1415  b  30  ff.  Fr.  Schlegel  attisches 
Museum  I  2,  262  ff.  beurteilt  den  Menexenos  sehr  strenge;  seit  Schleiermacher 
verwerfen  ihn  fast  alle  Platoniker  (Literatur  verzeichnet  bei  Th.  Berndt  de 
ironia  Menexeni  Platonici,  Münster  1881  p.  1  A.  3.  2  A.  1).  Blas s  att. 
Beredsamkeit  I  430  ff.  würdigt  den  „Menexenos''  objektiv;  vgl.  auch  Fr.  Roch 
die  Tendenz  des  plat.  Menexenos,  Görz  1883. 

2)  236  c  eTt£  'ÄQuaGiac,  siiz  oxoooöv,  249  e  exsivif  ^  Ixeivcü  ;  nach  Th.  Berndt 
(a.  O.)  ist  das  ganze  ironisch. 

3)  Bezüglich  des  Thukydides  vgl.  Berndt  p.  3  f.;  über  das  Verhältnis 
zu  Lysias  s.  o.  S.  145  A.  3. 

4)  Nach  Schol.  Hermog.  Walz  VII  976  adn.  ist  sie  für  die  bei  Lechaion 
Gefallenen  geschrieben;  Hermogenes  p.  4Ü3,  5  ff.  405,  3  ff.  Sp.  schätzt 
die  Rede  hoch. 


312  Neuntes  Kapitel. 

Im  Kriton^)  ist  das  Zwiegespräch  wenig  entwickelt,  Plato 
lässt  wiederholt  lange  Reden  lialten  und  räumt  die  zweite 
Hälfte  einer  von  Sokrates  vorgetragenen  Rede  der  personificierten 
Gesetze  ein,  welche  Kriton  kaum  zu  unterbrechen  wagt.  Die 
Exposition  zeigt,  dass  Sokrates  sich  im  Gefängnisse  befindet; 
wir  erfahren  die  Namen  der  auftretenden  Personen  und  in 
welcher  Stimmung  der  greise  Philosoph  dem  Tode  entgegen- 
sieht. Kriton  bringt  die  Botschaft,  das  heilige  Schiff  komme 
demnächst  zurück  und  die  Hinrichtung  sei  unvermeidlich,  wenn 
Sokrates  sich  nicht  zu  fliehen  entschliesse.  Der  Schluss  zeigt 
Kriton  resigniert. 

Der  Euthyphron^)  spielt  zu  einer  nicht  lange  vorher- 
gegangenen Zeit,  als  nämlich  Sokrates  die  verhängnisvolle  An- 
klage zugestellt  erhielt.  Als  ihn  Euthyphron  am  Gerichtshause 
des  Archon  Basileus  trifft,  erkunden  sie  von  einander  den  Grund 
ihrer  Anwesenheit.  So  entwickelt  sich  ein  Gespräch  über  das 
"Wort  ooiQ"^,  eine  bittere  Satire  gegen  die  Athener,  welche  dieses 
Wort,  ohne  dass  ihnen  seine  Bedeutung  klar  war,  gerne  im 
Munde  führten  und  kraft  desselben  Sokrates  hinrichteten.  Der 
Philosoph  treibt  Euthyphron  so  arg  in  die  Enge,  dass  dieser 
zuletzt  Geschäfte  vorschützt;  die  Frage  bleibt  ungelöst. 

Der  lon^)  behandelt  ein  Problem,  welches  Plato  persönUch 
sehr  nahe  lag,  nämlich  den  Enthusiasmus.  Wiewohl  Plato  mit 
Sokrates^)  den  Rhapsoden  das  tiefere  Verständnis  der  von  ihnen 
vorgetragenen  Dichtungen  abspricht,  gesteht  er  ihnen  doch  in 
schönen  Worten  soviel  zu,  dass  sie,  wie  Dichter  und  Künstler, 
von  göttlicher  Begeisterung  getrieben  seien  und,  selbst  im 
innersten  erregt,  auch  andere  dadurch   fortzureissen  vermögen. 


1)  J.  H.  Bremi  Philol.  Beitr.  aus  der  Schweiz,  Zürich  1819  S.  131  ff.; 
H.  Schmidt  Beitr.  zur  Erklärung  platonischer  Dialoge,  Wittenberg  1874 
S.  166  ff. 

2)  Verworfen  u.  a.  von  Ueberweg  S.  250  f.;  Literatur  bei  Teuffei  S.  30, 
W.  MüuHcher  Inhalt  und  Erläuterung  des  piaton.  Dialoges  Eu.,  Hersfeld 
1869;  Bonitz  platonische  Studien  S.  216  ff.;  O.  Rieser  de  Platoois  E., 
Frauenfeld  1881;  J.  Wagner  zur  Athetese  des  Dialoges  Eu.,  Brunn  1883 
(vgl.  philol.  Rundschau  1884  S.   126  f.). 

3)  Seit  Schleierinacher  I  *  2,  267  gewöhnlich  verworfen.  Vgl.  E.  Zeller 
Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1851  Sp.  251  ff.;  J.  Daum  prolegomena  et  adnot. 
ad  lonem,  Innsbruck  1861. 

4)  Xenoph.  memor.  4,  2,  10. 


Der  Dialog  (Plato).  313 

Soviel  Feinheit  hätte  Plato  nicht  aufgewendet  noch  auch  so 
viele  scharfsiiniige  Bemerkungen  eingestreut,  wäre  der  ganze 
.Jon"  ironisch  geineint.  Im  Stil  zeigt  er  sich  noch  nicht  als 
den  vollendeten  Meister.  Auch  die  Einleitung  verrät  in  einer 
Kleinigkeit  die  Befangenheit  des  Anfängers ;  Plato  beginnt 
nämlich,  um  uns  den  Gefährten  des  Sokrates  gleich  vorzustellen, 
mit  den  Worten :  Töv  "Icova  /atpstv ! 

In  ähnlicher  Weise  fängt  der  sogenannte  grössere  Hippias 

^IrrTriac  6  [xsiCwv)  an:  'iTTTiia?  ö  xaXoc  ts  xai  ao'föc.     Dem  Euthy- 

[)hron  gleicht  der  Dialog  darin,  dass  Sokrates  mit  einem  eitlen 

hochmütigen  Gegner  wahrhaft  spielt;  seine  Ironie  wird  hier  zur 

übermütigen  Laune.  Weil  der  Philosoph  diesmal  einem  berühmten 

Gelehrten  gegenübersteht,  deckt  er  sich  mit  einem  angeblichen 

Anonymus,    von    welchem    er  Hippias    widerlegt   werden    lässt, 

während  sich  dieser  eifrig  nach  diesem   unangenehmen  Dritten 

erkundigt.     Der  Schluss  ist  negativ;  Sokrates  endigt  mit  einem 

«Scherze,  nun  wisse  er,  was  das  Sprichwort  bedeute:   /aXsTid  xa 

i  xaXd.     Ein   stichhaltiger  Grund,   diesen  Dialog  zu   verwerfen^), 

Üiegt  nicht  vor;  von  dem  ,, kleineren  Hippias"  ist  er  vollkommen 

unabhängig,  denn  der  286  ab  angekündigte  Vortrag  kann  nicht 

I'  der  sein,  an  welchen  sich  jene  Schrift  knüpft. 

In  diesen  Gesprächen  stimmt  die  geringe  Bedeutung  der 
i  Resultate  und  die  kleine  Personenzahl  mit  dem  massigen  Umfang 
j;  Überein,  Ein  anderer  Dialog  bringt  Sokrates  ebenfalls  nur  mit 
|i  einem  einzigen  schwachen  Gegner  zusammen,  aber  wie  erhebt 
tjl  er  sich  hier  über  jene  Versuche!  Keine  platonische  Schrift 
entwickelt  eine  solche  Pracht  der  Scenerie  wie  der  Phaidros'''). 


1)  Ast  S.  457  ff.  Zeller  Ztsch.  f.  Altertimmsw.  1851  Sp.  256  &.; 
Suckow  S.  53  f.  und  Ueberweg  fusseu  darauf,  dass  Aristoteles  (met.  5,29 
p.  1025  a  6)  bloss  £v  tq) 'iTricta  citievt,  s.  dagegen  Suse  mihi  Jahrbb.  f.  Phil. 
71,  640  und  Freuden  thal  heilenist.  Studien  HI  262  *. 

2)  Literatur  bei  Teuöel  S.  12  fl",  Ueberweg  S.  130,  besonders  mehrere 
Schriften  von  Gottfr.  Stallbaum  de  primordiis  Phaedri  Piatonis,  Leipzig 
1848;  examen  testimouiorum  de  Ph.  Platonici  tempore  natali  antiquitus  pro- 
ditorum,  1849;  Isocratca  ad  illustrandas  Ph.  PI.  origines  ISöO^  Lysiaca  ad 
111.  Ph.  PI.  or.  1851;  artis  rhetoricae  in  Ph.  Piatonis  exproraptae  Judicium 
1852;  de  artis  dialecticae  in  Pb.  Piatonis  doctrina  et  usu  1853;  Aug.  Bernh. 
K'rische  über  Piatons  Phaedros,  Göttingeu  1847  (aus  Götting.  Studien  II 
2  S.  930  ff.);  Fr.  Susemi  hl  Prodroraus  platonischer  Forschungen  S.  68  ff". 
Jul.  Deuschle  Zeitschr.  f.  Alterthumsw.  1854  Sp.  25  ff.;  H.  Bonitz 
Studien  S.  252  ff.     A.  Hosek    Wie  hängen   die  Unterredungen  des  zweiten 


314  Neuntes  Kapitel. 

Jeder  kennt  ja  die  herrliche  Schilderung  der  Ilissosgegend,    wo] 
Sokrates  und  Phaidros  vorder  Sonnenglut  Schutz  suchen.    Sokratesj 
istwievon  dichterischem  Enthusiasmus  ergriffen;  Plato  spricht  esj 
selbst  aus,  dass  der  Ton  an  den  Dithyrambus  streift.  Im  Phaidroaj 
zeigt  sich  nicht  mehr  der  unfertige  unsichere  Anfänger,  souderi 
der  gereifte  Mann,  welcher  in  begeisterter  Stimmung  mit  seinen] 
Talenten  verschwenderisch  und  doch  zielbewusst  schaltet.     Der' 
Phaidros  sticht  von  [allen    übrigen  Dialogen    ab,   weil    es    sich 
nicht    um    ein    Problem,     welches     in     haarscharfem    Dialoge 
gelöst  oder  zerpflückt   werden  soll,    handelt.     Der  Phaidros   ist 
ja  von  Einheitlichkeit  weit  entfernt.     Der   erste  Teil   legt   dar, 
wie    die    angeblich    philosophischen    Reden    des    Lysias    ohne 
tieferes    Verständnis    gefertigt   seien,    wobei    Plato    das    kühne j 
Wagstück  unternimmt,  eine  fremde  Rede  in  den  Dialog  aufzu-j 
nehmen  (S.  143);  der  zweite  Teil  hingegen  führt  eine  Idee  des 
Sokrates  aus,    nach    welcher   es  verkehrt    ist,    aus  Büchern    zi 
lernen^);  diese  sollten  nichts  weiter  als  eine  Stütze  des  Gedächt 
nisses  sein.     Diese  Ausführung  soll  für  den  höheren  Unterricht 
und  im  besonderen  für  Piatos  Schule  gewissermassen  Propaganda 
machen;    denn,    seit   eine  umfassende  Literatur  vorlag,    gab  ea 
gewiss  viele,    welche   durch   eigenes  Studium  den  Schülern  dei 
Philosophen  und  Rhetoren  es  gleichzuthun  hofften.     Aber  des^ 
halb   ist   der  Phaidros   sowenig    ein  Lehrprogramm    als    irgenc 
ein  anderer  polemischer  Dialog  Piatos  ^).     Die  neueren  Gelehrten,^ 
welche  für  die  frühe  Abfassung  des  Phaidros  eintraten,    hobeni 
das   Lob    des  Isokrates    hervor,    weil    dieser    die    ErwartungeQ| 
Piatos  nicht  gerechtfertigt  haben  soll;  darüber  ist  S.  129 ff.  daal 
nötige  bemerkt  worden.     Da  die  Ansichten  über  den  Charakterj 


Teiles    dos     plat.    Dialoges    Ph.    mit   jenem    des    ersten    Teiles   zusamment 
Chradim    1875;    C.    Wenzig    die    Conception    der   Ideeulehre   im   Phaedrua 
n.  8.  w.,    Breslau  1883;    über    die  Zeit    s.  bes.    L.    Spengel  Isokrates    und] 
Plato     (s.  o.  S.  131  A.  1);    Volquardsen    Piatons   Phaedros   erste  Schrif 
Platous,      Kiel    1862      (bekämpft    von    Fr.    Susemihl    Jahrbb.    f.  Phil.  87J 
242  fl*.  89,  8(51  fl'.) ;  Uscner  Rhein.  Mus.  36,  131  ff.  (seine  Ansicht,  dass  derj 
Dialog  noch  bei  Lebzeiten  des  Sokrates  verfasst  worden  sei,  teilt  U.  v.  Wi  1  a  m  o  ■ 
Witz  Phil.  Untersuch.  I  213    II.)- 

1)  Xenoph.   memor.  4,  2. 

2)  Zeller   Philosophie   der    Griechen    11^456  flf.   gegen   K.  Fr.  Her- 
mann   (ie.sc:h.  der  plat.  Phil.  S.  614  f. 


Der  Dialog  (Flato).  315 

des  Stiles  sehr  verschieden  lauten,  müssen  die  oben  erwähnten 
Einzelforschungen  den  Ausschlag  geben  ^).  Sie  lehren,  dass 
Plato  den  Phaidros  in  der  Blüte  seiner  Schaffenskraft  schrieb; 
or  entfaltet  hier  ja  wirklich  sein  höchstes  Können.  Die  pole- 
mischen Grundzüge  der  Abhandlung  sind  von  glänzenden 
Dichtungen  umwoben.  Alle  Tonarten  schlägt  Plato  mit  wunder- 
barer Leichtigkeit  an,  mögen  sie  aucji  so  weit  auseinander- 
liegen wie  die  begeisterte  Stimmung  des  Dithyrambos,  die  kon- 
ventionelle Manier  der  Sophistik  und  sokratische  Ironie,  und 
(loch  durchzieht  etwas  gemeinsames  das  Ganze,  welches  schroffe 
Uebergänge  ferne  hält. 

Stellen  wir  daneben  den  ersten  Alkibiades,  der  hinter 
dem  Phaidros  an  Umfang  nicht  zurückbleibt  und  gleichfalls 
nur  zwei  Personen  hat,  so  wird  niemand  anstehen,  ihn  zu  ver- 
werfen^). Wenn  Plato  der  Verfasser  wäre,  dann  hätte  er  auf 
das  Aeussere  des  Dialogs  wegen  seines  bedeutenden  Umfanges 
grosse  Sorgfalt  gewandt.  In  Wirklichkeit  fehlt  aber  jegliche 
Scenerie.  Nachdem  Sokrates  mit  einer  langen  Rede  begonnen 
hat,  schleppt  sich  der  Dialog  schwerfällig  fort;  der  Verfasser 
stellt  das  Verhältnis  des  Alkibiades  zu  Sokrates  in  ganz  un- 
platonischer Weise  dar.  Wenn  der  Dialog  also  Piatos  unwürdig 
ist,  wann  entstand  er?  Ich  glaube  nicht  zu  irren,  wenn  ich 
antworte:  Lange  nach  Plato.  Zu  seiner  Zeit  waren  so  günstige 
Urteile,  wie  sie  der  Verfasser  über  Xerxes  (105  c)  und  Zenon 
vi  19a)  fällt,  nicht  möglich  und  die  Behauptung,  dass  Zenon 
liundert  Minen  Honorar  empfangen  habe  (119  a),  hätte  damals 
allgemeinen    Spott    hervorgerufen.     Die    historische  Gelehrsam- 


1)  Indem  ich  auf  Peipers  und  Dittenberger  verweise,  füge  ich  bei:  Die 
ftvaStixAtüOK;  (Stellen  bei  Schanz  novae  comraeutationes  p.  29)  komtnt  am 
Anfang  des  Satzes  ausser  im  Staate,  Timaios  und  den  Gesetzen  nur  Phaedr. 
242  d  (sonst  noch  Euthyd.  284  beim  Verbum)  vor;  oh  ^ap  ^"^  nur  im  Phai- 
dros und  Gorgias  H  ö  f  e  r  de  particulis  Platonicis  1882  p.  26. 

2)  Schleiermacher  II  ^  2,  203  fi.  Ast  S.  435  fif.;  E.  Zeller  Ztsch.  für 
Alterthumswiss.    1851    Sp.   259  ff.  Kvicala    Ztsch,    f.    österr.    Gymn.    1863 

S.  1  ff.,  Franz  Hubad  der  1.  Alcibiades,  ein  Versuch  in  der  plat,  Frage, 
Pettau  1876;  verteidigt- von  Socher  S.  111  ff.;  Hermann  S.  439  ff.  Stein- 
hart Piatons  Werke  I  146  ff".  Vgl.  noch  Benj.  Andreatta  sull'  autenticitä 
dell'  Alcibiade  I.,  Rovereto  1876.  H.  Bertram  Piatons  A.  I.,  Charmides, 
Protagoras,  Naumburg  1881, 


316  Nenntos  Kapitel. 

keit  des  Verfassers   skimiiit  aus  Büchern,   z.  B.  aus  Herodot^) 
und  Tlmkydides  ^). 

Während  demnach  Plato  ii\ir  zwei  Pei'sonen  in  grösseren 
Dialogen  mit  Ausnahme  des  Phaidros  nicht  auftreten  Hess,  ge- 
stattete er  umgekehrt  bei  kleineren  Gespräclien  eine  grössere 
Personenzahl.  Doch  hat  im  kleineren  Hippias^)  Eudikos 
keine  selbständige  Rolle,  sondern  vermittelt,  dass  Hippias  sich 
mit  Sokrates  in  ein  Gespräch  einlässt.  Den  Dialog  eröffnen 
kühn  die  Worte  ob  8h,  weil  nach ,  Piatos  Annahme  ein  eben 
beendigter  Vortrag  des  Hippias  den  Ausgangspunkt  des  Ge- 
spräches abgibt.  Wie  in  dem  gleichnamigen  grösseren  Dialoge, 
wird  der  Sophist  mit  unbarmherziger  Ironie  von  Punkt  zu 
Punkt  getrieben  und  zuletzt  das  negative  Resultat  spöttisch^ 
festgestellt. 

Der  Ladies^)   knüpft   gleichfalls   an   eine  Schaustellung 
an,  deren  Ort  nicht  genannt    ist.     Zwei    betagte  Bürger,  Lysij 
machos  und  Melesias   wollen    nämlich   ihre  Söhne   im  Fechtei 
unterriclitcn   lassen   und   haben   zwei   erfahrene  Kriegsmännei 
Nikias  und  Laches,  zu  jener  Probe  eingeladen,   um  ihr  Urteil 
über  den  Fechtunterricht  zu  hören;    diese  ziehen  Sokrates,  dei 
noch  verhältnismässig  jung  gedacht  ist  (180  e),  in  das  Gespräch] 
Der  „Laches"  ist,  wie  es  scheint,  der  erste  Versuch  einer  reicherei 
Komposition,  weil  Plato  noch  ungewandt  erscheint.     Er  beginn^ 
mit   der    langatmigen   Rede  eines  Mannes,   dessen  Namen  wii 
zu  spät  erfahren.     Die  Einleitung  c.  1 — 11  ist  viel  zu  umfang- 
reich und  es  wechseln  lange  Reden  und  wirkliches  Zwiegespräch 
ab ;  trotz  der  bedeutenden  Ausdehnung  des  Proömiums  beginnt 
ferner  die  eigentliche  Disputation  erst  nach  langen  Vorbemerk- 
ungen (c.  12 — 15).     Sie  wird    anfangs    zwischen  Sokrates    und 
Laches   allein    geführt    (c,    16  —  21),    bis    Nikias    mit    eingreift 
(c.  22 — 30).     Der  Dialog    schhesst    wieder   negativ    ab,    indem 


1)  Wie  z.  B.  "'Aii.ijax^iz  123  c  andeutet. 

2)  Die  zwei  trefflichen  Athener  119  a  kennt  er  aus  Thucyd.  1,  61.  3,  115. 
8)  'lizniaz   eXdTtuiv;    Themist.   or.   29    p.   346  c  ev  tcü  ßpa^utepi}!  'J^nta. 

Die  Echtheit,  welche  .Sehleiermacher  II  ^  3,  405  ff.,  Ast  S.  463  f.  und  Schaar- 
schmidt  H,  382  ff.  anzweifeln,  ist  durch  Aristoteles  verbürgt.  Eudikos  konimt 
auch  im  grösseren  Hippias  286  b  vor.  Vgl.  J.  Klinger  Hippias  minor  und 
Hippias  major,  Wiener  Neustadt  1884. 

4)  Crou  Jahrbb.  Suppl,  6,69  ff.;  Bonitz  Hermes  6,  429  ff.  =  Studien 
S.  199  ff.;  vt-rworfen  von  Ast  S.  451  ff'.  Scbaarscbmidt  S.  406  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  317 

J  jaches  und  Nikias  gegenseitig  ihre  Ignoranz  verspotten. 
Einen  versöhnliclien  Schluss  macht  Sokrates'  Versprechen,  sich 
der  JüngUnge  anzunehmen. 

Die  Mangelhaftigkeit  der  Exposition  teilt  mit  dem  Laches 
der  Theages^),  benannt  nach  dem  Sohne  des  Demodokos, 
welchen  der  Vater,  weil,  er  nach  höherer  Bildung  verlangt,  zu 
Sokrates  bringt;  Demodokos  führt  mit  diesem  das  einleitende 
Gespräch,  wie  er  auch  inmitten  der  Disputation  (125b),  von 
Sokrates  hereingezogen ,  einige  Worte  einfliessen  lässt.  Die 
Schrift  dürfte  unecht  sein,  vor  allem  weil  Sokrates'  Daimonion 
hier  in  seltsamer  Auffassung  erscheint. 

Unter  den  grösseren  Dialogen  nimmt  nächst  dem  Phaidros 
der  Gorgias   die  erste  Stelle  ein'^).     Die  Einleitung  ist  kühn 
entworfen:  Sokrates,  den  sein  Begleiter  Chairephon  aufgehalten, 
hat  den  Vortrag  des  Gorgias  versäumt,   aber  Kallikles  lädt  ilni 
ein,  Gorgias  in  seinem  Hause   aufzusuchen;    plötzlich  sind    sie 
dorthin  versetzt,  worauf  sich  zwischen  Sokrates  und  Chairephon 
einerseits,    Gorgias  und  Polos  andererseits    ein  frisch  geführter 
Dialog  entwickelt,  der  rasch  zur  eigentlichen  Disputation  führt; 
diese  ist    harmonisch    gegliedert,    indem    in    der    ersten  Hälfte 
(c.  3 — 36)  Gorgias  und  Polos,  in  der  zweiten  (c.  37 — 78)  Kallikles 
dem    Philosophen    gegenüberstehen.     Jene    hat   wiederum   eine 
schhchte     und     übersichtliche    Einrichtung :     Anfangs     spricht 
nämhch  Gorgias,  dann  teilt  er  das  Wort  mit  Polos,   bis  dieser 
die  Disputation  allein  übernimmt.     Die  Gleichmässigkeit  erleidet 
nur  scheinbar  eine  kleine  Unterbrechung,  weil  c.  13  ein  kurzer 
Wortwechsel  zwischen  Chairephon  und  Kallikles   eintritt;   aber 
auch  im  zweiten  Teile  sorgt  Plato  durch  eine  vermittelnde  Be- 
merkung    des    Gorgias     für    Abwechslung.      Die    Verbindung 
zwischen  den  beiden  Hälften  stellt  eine  von  Kallikles  an  Chai- 


I 


1)  Stallbaum  Judicium  de  duobus  dialogis  (Theages  und  Erastai)  vulgo 
Piatoni  adscriptis,  Leipzig  1836. 

2)  Stallbaum  probabilia  de  temporibus  quibus  dialogus  in  Gorgia 
Piatonis  habitus  fingatur,  Leipzig  1860;  Chr.  Cron  Beiträge  zur  Erklärung 
des  platonischen  Gorgias,  Leipzig  1870;  E.  Gotschlich  über  die  Veran- 
lassung des  platonischen  Gorgias,  Beuthen  1871;  Bonitz  Studien  S.  1  ff.; 
anderes  bei  Ueberweg  S.  129  und  Teuffei  S.  28,  dazu  Fidel  Mähr  typische 
Zeichnungen  in  Piatons  Dialog  G.,  Triest  1872 ;  J.  M  ä  r  ki  n  g  e  r  die  Rhetorik 
nach  dem  plat.  Dialoge  Gorgias,  Seitenstetten  1877;  K.  Liebhold  die  Be- 
deutung des  platonischen  Gorgias,  Eudolstadt  1885. 


318 


Neuntes  Kapitel. 


rephon  gerichtete  Frage  her.  Ein  begeisterter  „Mythos",  ii 
dem  Sokrates  das  Leben  nach  dem  Tode  im  Spiegel  der  Mora 
schildert,  schliesst  den  Dialog  poetisch  ab. 

Schon  im  „Menon"^)  beginnt  Plato,  der  äusseren  SceneriJ 
geringere  Sorgfalt  zuzuwenden.     Der  junge  Menou    stellt    ohn^ 
weiteres  an  Sokrates  die  philosophisch  formulierte  Frage,  ob  die* 
Tugend  angeboren   sei   oder  durch  Belehrung   und  üebung  er- 
langt werde.     Der  negative  Teil  der  Disputation  spielt  zwischen 
Sokrates  und  Menon  allein,  sodann  zieht  jener,  um  die  Frage 
positiv  zu  lösen,  einen  Sklaven  herein  (c.  14 — 21).     Bald  nachl 
dem  dieser  zurückgetreten,  kommt  Anytos,  ein  nicht  bloss  unge 
bildeter,    sondern    der   Bildung    feindlicher   Politiker,    den    uns 
Plato  etwas  zu  ausführlich  vorstellt  (89  e.  90  a).     Sokrates  sprich! 
mit  diesem,  bis  Anytos  gereizt  wird  (94  e),  weshalb  sich  Sokrate 
wieder   zu  Menon    wendet  und    ihm    am  Ende   den    still    fort 
grollenden  Anytos   zur    Beruhigung   empfiehlt.     ,,Gorgias"  un^ 
„Menon"  haben  in  der  abfälligen  Beurteilung  der   athenischer 
Staatsmänner  einen  gemeinsamen  politischen  Hintergrund. 

Der  Menon  zeichnet  sich  durch  Mannigfaltigkeit  aus,  sobalc 
man  ihn  mit  den  späteren  Dialogen  zusammenhält;  denn  j< 
mehr  Plato  an  die  schriftliche  Darstellung  seiner  spekulativer 
Philosophie  Hand  legte,  desto  mehr  ward  ihm  das  Dramatisch^ 
gleichgiltig.  Deshalb  ist  der  Kratylos  ^)  bereits  bedeutend  einj 
facher  eingerichtet.  Hermogenes  und  Kratylos  haben  über  ein 
Problem  Streit  gehabt  und  legen  es  Sokrates  zur  Begutachtung 
vor.  Dieser  spricht  mit  Hermogenes  (c.  1  —  37),  währenc 
Kratylos  ignoriert  wird,  bis  ihn  Hermogenes  zu  Worte  kommen] 
lässt,  und  nun  disputiert  Kratylos    mit  Sokrates    bis   zu  Ende, 


1)  K,  Fr. He  r  ma  n  n  de  Piatonis M.  disp.  ind.  lect.  hib.  v.  Marburg  1837^ 
=  Jahns  Archiv  6  (1840)  S.  51  fi.  E.  Alberti  Ztsch.  f.  Gymuasialw.  21,j 
177  flf.   817  flF.    (lür  die  Echtheit  gegen  Ast   und  Schaarschniidt) ;    anderes 

TeuflFel  S.  33,  Ueberweg  S.  129. 

2)  E.  M.  Dittrich  de  Cratylo  Platouis,  Berlin  1841;  E.  Alber ti| 
Rhein.  Mus.  21,  180  ff.  22,  477  ff.  (gegen  Schaarschniidt,  der  Kheiu.  Mus^ 
20,  321  ff.  die  Unechtheit  behauptet  hatte);  Ch.  Lenormant  conuuentair 
sur  le  Cratyle  de  Piaton,  Athen  1861;  Th.  Benfey  über  die  Aufgabe  d« 
platonischen  Dial.  Krat.,  Abhandlungen  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  12  (18661 
S.  189  ff.;  Lehrs  Rhein.  Mus.  22,  436  ff. ;  H.  Schmidt  Piatos  Kr.  im  Zu-^ 
sammeuhange  dargestellt,  Halle  18G9;  auderes  bei  Teuffei  S.  32;  Ueberw^J 
ß.  130. 


Der  Dialog  (Plato).  319 

;  Plato  erweist  seinem  ehemaligen  Lehrer  die  Ehre,  dass  er  das  letzte 
IWort  behält;  der  Herakleiteer  empfiehlt  Sokrates  noch  weiter 
lüber  das  Wesen  der  Sprache  nachzudenken. 

Nicht  unähnlich  ist  der  Ph  ileb  os  ^)  angelegt,  zunächst  weil 
er  wie  der  Kratylos  eine  vorhergegangene  Disputation  voraus- 
setzt; doch  ist  es  diesmal  Sokrates,  welcher  Protarchos  über 
seinen  Streit  mit  Philebos  entscheiden  lässt.  Mit  jenem  führt 
er  ein  wirkliches  Zwiegespräch,  denn  Philebos  beschränkt  sich 
auf  gelegentlich  eingestreute  Bemerkungen  ^).  Der  Ausgang  des 
Dialogs  gleicht  dem  des  Kratylos. 

Von  den  grösseren  Werken  gehören  Timaios-Kritias  und 
die  Gesetze  zu  dieser  Klasse  von  Dialogen,  über  sie  wird  später 
zu  handeln  sein. 

In  der    späteren  Zeit    handhabte  Plato    den    dramatischen 

Dialog    nicht    mehr    unbefangen;    wie    der    Gelehrte    in    ihm 

ullmälig  das  Uebergewicht  über  den  Dichter  bekam,  zeigen  die 

zidetzt  behandelten  Dialoge,   weit  deutlicher  aber  der  Theaite- 

ios  ^).     Während  Plato  früher  sofort  mit  dem  Dialoge  begonnen 

hätte,  schickt  er  dieses  Mal  ein  kleines  Vorspiel  voraus,  dessen 

>i  Schauplatz    Megara    ist.     Eukleides    und    Terpsion   besprechen 

I  die  Verwundung,    welche  der  angesehene  Mathematiker  Theai- 

I  tetos  in  einem    korinthischen    Gefechte  (S.  309)   erhalten    hat ; 

jener  lässt  eine  Rolle,    in  welcher    er   ein    zwischen  Theaitetos 

und  Sokrates  vorgefallenes  Gespräch  aufgezeichnet  hat,   herbei- 


1)  A.  Trendelenburg  de  Philebi  consilio,  Berlin  1837;  F.  S  u  s  e- 
milil  Philol.  Suppl.  2,  75  ff.;  R.  Hirzel  de  bonis  in  fine  Philebi  enumeratis, 
Leipzig  1868;  L.  Georg ii  Jabrbb.  97,  297  ff.  (für  die  Echtheit  gegen 
Schaarschmidt);  s.  noch  Teuffei  S.  33,  Ueberweg  S.  131,  dazu  Karl  Rein- 
h  ardt  der  Ph.  des  Plato  und  des  Aristoteles  nikomachische  Ethik,  Bielefeld 
1878;  Gust.  Schneider  Beiträge  zur  Erklärung  des  Ph.,  Gera  1883  und 
die  platonische  Metaphysik  auf  Grund  des  Philebus  dargestellt,  Leipzig  1884. 

2)  18  b  ff.  22  c.  27  e  f. 

3)  L.  Di  ssen  kleine  Schriften  S.  151  ff.  G.  Stallbaum  de  argumento 
et  artificio  Theaeteti,  Leipzig  1838;  E.  Alberti  Jahrbb.  79,  473  ff.;  Bonitz 
platonische  Studien  S.  44  ff. ;  D.  Peipers  Untersuchungen  über  das  System 
Piatos  L  Leipzig  1874;  H.  Schmidt  Beiträge  zur  Erklärung  platonischer 
Dialoge  S.  216  ff.  und  exegetischer  Commentar  zu  Piatos  Theaetet,  Leipzig 
1880  (Jahrbb.  Suppl.  XIL) ;  J.  Horowitz  über  Piatos  Theaetet,  seine  Be- 
deutuug  und  Stellung  innerhalb  der  plat.  Lehre  und  seine  Abfassungszeit, 
Thorn  1884;  vgl.  Teuffei  S.  18,  Ueberweg  S.  129. 


320 


Neuntes  Kapitel. 


bringen    und    von    einem    Sklaven    vorlesen.     Diese   Vorrede 
welche    gleichsam    eine  Widmung    an  Eukleides    vertritt,    fäl 
durch    ihre    peinliche    Genauigkeit    auf.      Eukleides   versichei 
nämlicli    nicht    allein,    dass    er    Sokrates    wiederholt    um    d( 
Korrektheit  der  Details   willen   befragt   habe,    sondern    er    hä| 
auch    eine  Bemerkung    darüber,    dass    die  Einschiebsel    ,,sagt 
Sokrates"  u.  dgl.  weggeblieben  seien,  für  notwendig.     Das  Gj 
sprach  selbst  ermangelt   der  Scenerie  und  doch  fliesst  es  ras< 
und  nicht  einförmig  daliin:  Sokrates  wird  durch  den  berühmte 
Mathematiker     Theodoros     auf    den     Scharfsinn     des    junge 
Theaitetos    aufmerksam    gemacht.      Herbeigerufen    rechtfertig 
dieser  im  Gespräche  mit  Sokrates  dieses  Lob.     Auch  Theodore 
spricht   zur  Abwechslung   mit   dem  Philosophen   (161a — 162 
dann  164e — 165b);    168c  übernimmt   er  das  Gespräch,  bis 
184b  auf  die  Bitte  des  Sokrates  hin  Theaitetos  wieder  zuWoi 
kommen  lässt.     Dieser    behält    es    bis    zum  Schlüsse,    wo    siel 
herausstellt,  dass  die  Maieutik  des  Sokrates  den  falschen  Schei| 
des  Wissens  zu  nichte  gemacht  hat.     Sokrates  entschuldigt  siel 
dass  ihn  die  Anklage  des  Meletos  auf  dem  Gerichte  zu  erscheine 
nötige,    und    scheidet    mit   dem    Wunsche :    „Auf  Wiedersehe 
morgen,  Theodoros!" 

Plato  wendete,  wenn  er  den  reinen  Dialog  aus  irgend 
einem  Grunde  nicht  für  passend  hielt,  eine  Manier  an,  welchj 
für  das  Vorlesen  seiner  Schriften  geeigneter  war;  man  könnl 
sie  die  historische  oder  epische  im  Gegensatz  zur  dramatische^ 
nennen,  weil  nicht  die  Personen  selbst  auftreten,  sondern  ein<j 
der  ünterredner  (und  zwar  regelmässig  Sokrates)  oder  ein  Uni 
teiligter  nach  Sokrates'  Erzählung  das  Gespräch  berichtet. 

Wem  der  Philosoph  dasselbe  erzählt,  wird  in  den  zw^ 
älteren  Dialogen  Charmid es ^)  und  Lysis  nicht  angegeben.  B< 
jenem  erfahren  wir  genau  Ort  und  Zeit  (als  Sokrates  aus  dei 
Lager   von  Potoidaia  eben  zurückgekehrt  war);    Plato  schildei 


1)  r.    154  b    8toht   die  Anrede   (L  italpe.     Vgl.  E.  Zeller  Zeitsch. 
Alterthmnfewiss.  1851    Sp.    252  ff.;    Uouitz    platonische    Studien    S.    228 
E.  Wolff  Plato'ö   Dialog    Ch.   Hildesheim   1876;    verworfen    von    Ast   ni 
Schaarschniidt,    vgl.    J.  Ochmann   Ch.   num    sit  genuinus  queritur,    Bresli 
1827;  Spiel  mann  die  Echtheit  des  platonischen  Dialogs  Ch.,  Innsbruck  1876| 
A.  Pawlitschek   über   die   ctocppocüvr]    in   Platon's  Ch.,    Czernowitz    ISSSf 
Schöuboru  zur  Erklärung  von  Plato's  Ch.,  Plesß  1884. 


Der  Dialog  (Plato).  321 

die  Personen  und  ihr  Benehmen  eingehend  und  entwirft  ein 
drastisches  Bild  davon ,  wie  der  schöne  Charmides  alle  An- 
wesenden bezauberte.  Sein  Vormund  ruft  ihn  mit  einem  Scherze 
herbei ,  der  den  Anstoss  zu  einem  philosophischen  Gespräche 
über  die  awfppoauvTj  gibt.  Charmides  spricht  erst  selbst  mit 
Sokrates  (c.  7.  8),  bis  er,  von  Sokrates  in  die  Enge  getrieben, 
zu  einer  Definition  des  Kritias  seine  Zuflucht  nimmt  (c.  9). 
Als  Sokrates^  den  Urheber  derselben  nicht  kennend  auch  'diese 
verwirft,  nimmt  Kritias  selbst  den  Kampf  auf,  worauf  sich  die 
eigentliche  Disputation  entspinnt;  sie  endigt  ohne  Ergebnis. 
Etwas  lose  ist  die  Aufnahme  des  Charmides  unter  die  Sokratiker 
daran  gereiht. 

Im  Lysis^)  ist  die  Ortlichkeit  ebenfalls  genau  angegeben 
und  handelt  es  sich  wiederum  um  einen  schönen  Knaben 
vornehmen  Geschlechtes;  Plato  macht  dieser  Familie  wie  im 
Charmides  der  des  Kritias  ein  Kompliment.  Sokrates  spricht 
anfangs,  dem  liebenden  Hippothales  zu  gefallen,  mit  dem  Knaben 
um  ihn  bescheiden  zu  machen;  dann  kommt  die  Reihe  an 
Menexenos,  mit  dem  er  über  Freundschaft  und  Liebe  disputiert, 
wobei  auch  Lysis  hereingezogen  wird.  Ein  positives  Ergebnis 
wird  nicht  erzielt;  dafür  entschädigt  Plato  den  Leser  durch 
einen  heiteren  Schluss.  Die  zwei  Pädagogen  erscheinen  plötzlich 
,,wie  Geister"  und  holen  trotz  des  allgemeinen  Protestes  die 
Knaben  ab. 

Gemäss  dem  grösseren  Umfange  ist  der  ungefähr  gleich- 
zeitig  verfasste    Protagoras'-^)    sorgfältiger    ausgeführt.      Ein 


1)  Zeller  Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1851  Sp.  252  ff.  Kvicala  uud 
Bonitz  Ztsch.  f.  österr.  Gynin.  1859  S.  275  ff.  591  f.  K.  Schultze  de  dia- 
logi  XJlatonici  qui  inscribitur  Lysis  argumeuto  et  consilio,  Brandenburg  1860; 
Ad.  Westermayer  der  L.  des  Plato  zur  Einführung  in  das  Verständnis  des 
sokratischeu  Dialoges,  Erlangen  1875;  H.  Backs  über  Inhalt  und  Zweck  des 
plat.  Dialogs  L.,  Burg  1881  ;  verworfen  von  Ast,  Socher,  Schaarschmidt  und 
Steph.  Cholava  Ztsch.  f.  österr.  Gymn.  1858  S.  793  flf.  1859  S.  589  ff. 

2)  Eich.  Schöne  über  Flatus  Pr.,  Leipzig  1862;  Cron  Jahrbb.  103, 
729  ö'. ;  Bonitz  platonische  Studien  S,  237  ff.  und  viele  andere,  s.  Teuftel 
S.  26,  UeberwegS.  129;  E.  Joy  au  Piatonis  Pr.,  Paris  1880;  Fei.  Komarinus 
in  PI.  Pr.  explauationes,  Turin  1880;  A.  Westermayer  der  Pr.  des  Plato, 
Erlangen  1882;  A.  Grossmann  die  philosophischen  Probleme  in  Platon's 
Pr,,  Neumark  1883;  Hartmann  Piatos  Widerlegung  des  protagoreischen 
Sensualismus,  Stargard  1883;  W.  Münscher  Gliederung  des  platonischen 
Pr.,  Jauer  1883;  über  die  fingierte  Zeit  des  Dialogs  s.  S.  330. 

S  i  1 1 1 ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  21 


322  Neuntes  Kapitel. 

besonderes  Proömium    eröffnet  ihn,  das,    wenn    es  auch  nichl 
berichtet,    wem    Sokrates   die  Disputation   erzählt,    ein   scherz-« 
haftes  Gespräch    zwischen    ihm    und   jenem    Zuhörer    mitteilt.] 
Der  bedeutende  Umfang  entspricht  der  Bedeutung  des  Dialogs, 
disputiert  doch  Sokrates  mit  dem  berühmtesten  Sophisten  seiner! 
Zeit.     Hippokrates   kommt   schon   vor  Sonnenaufgang   zu  dem 
Philosophen,  um  ihn  zu  bitten,    er   möge   ihn    zu   dem    eben 
angekommenen  Protagoras  führen.     Sie    treffen    den  Sophisten 
im  Hause  des  reichen  Kallias,  umgeben  von  Prodikos,  Hippiasj 
und  lehrbegierigen  Jünglingen.     Die  von  dem  Herrn  des  Hauses 
eingeleitete  (817  d)  Disputation  zwischen  Sokrates  und  Protagoras,] 
der  anfangs  in  langem  Vortrage  zu  docieren  versucht,  verläuft! 
nicht    ohne    Störungen ;    als  Sokrates   an   seinem  Gegner    eine] 
gereizte  Stimmung  wahrnimmt,  will  er  abbrechen  (335  bc).    Da] 
legen  sich  die  Anwesenden  ins  Mittel  und  geben  nach  einander! 
ihr  Gutachten  ab.     Protagoras  beginnt  nun  von  neuem,  inderal 
er  ein  Gedicht  des  Simonides  von  Keos  spitzfindig  zerghedert  und 
dadurch  Prodikos,    sich   des   landsraännischen    Dichters   anzu-j 
nehmen,  reizt.      Eine   erneute  Stockung  (348  b)   beseitigt   Alki- 
biades.     Die  Disputation    entspinnt  sich  abermals  und  Sokrates] 
wendet   sich  der  Abwechslung  wegen  gelegentlich  an  Prodikos' 
und  Hippias  (c.  38),  ohne  dass  sie  bedeutend  hervortreten.    Ein 
positives  Endresultat  wird  nicht  erreicht;   Protagoras  vertröstet] 
Sokrates,    den  er  gönnermässig  lobt,    auf   später.     Der  Dialog 
„Protagoras"    gehört    zu    den    vorzüglichsten   Werken    Piatos;! 
nirgends  hat  er  die  äussere  Situation,  die  Charaktere  der  einzelnen : 
Personen  (von  dem    alten   mürrischen   Portier    angeftingen   bis 
zu  Sokrates    und    Protagoras    hinauf)    und    den    Wechsel    der 
Stimmungen  mit  solcher  Feinheit  und  Anschaulichkeit  dargestellt. 
Diese  Bilder    sind    zugleich   durch    geistreichen  Witz    amüsant 
gestaltet;    Protagoras'    Schrift    über    die    Unterwelt   gab    Plato 
beispielsweise  den  Anlass,  die  homerische  Schilderung  derselben 
parodierend  auf  die  Sophistengesellschaft  anzuwenden. 

Verwickelter  ist  die  Komposition  des  bedeutend  später  ver- 
fassten  Euthydemos.  ^)  Er  hat  gleichfalls  einen  Dialog  zur 
Einleitung,  noch  mehr,  Plato  flicht    ungefähr  in  der  Mitte  des 

1)  Bonitz  platonische  Studien  S.  88  ff.  Verteidigung  a.  O.  S.  131  fl. 
gegen  Ast  und  Schaarschmidt,  vgl,  Jos.  Wagner  zur  Athetese  des  Dialogs 
Enthyphron,  Brunn  1883. 


Der  Dialog  (Plato).  323 

Gespräches  eine  Fortsetzung  ein,  welche  zugleich  die  Einförmigkeit 
unterbricht    und  den  Verfasser  entschuldigt;    Kleinias   erwidert 
nämlich  Sokrates  so  klug  und  so  sehr  seinen  Wünschen  gemäss, 
dass  Kriton  Sokrates  mit  der  Frage  in  die  Rede  fällt,    ob    es 
wirklich  Kleinias  war,  der  so  antwortete.     Ebenso  schliesst  ein 
Gespräch  zwischen  Sokrates  und  Kriton  den  ganzen  Dialog  ab, 
damit  Sokrates    gerechtfertigt    werde,    dass    er    sich  überhaupt 
mit    den  Eristikern   abgebe;   bei    dieser  Gelegenheit    verschont 
Plato  auch  die  mit  den  Eristikern  zusammenhängenden  Gerichts- 
redner nicht.     Der  eigentliche  Dialog  ist  reich  an  Abwechslung : 
Nach  der  Einleitung  verwirren  die  zwei  Eristiker  Euthydemos 
und    Dionysodoros    den    schönen   Knaben    Kleinias   mit   ihren 
Trugschlüssen  (c.  4.5);  deshalb  nimmt  sich  Sokrates  seiner  an 
und  führt  ihn  zur  Erkenntnis,  dass  die  Philosophie  anzustreben 
sei,   worauf  er  ihn    wieder  den  Eristikern  übergibt.     Als  diese 
das  nämliche  Spiel   treiben  (c.  11 — 14),  mischt  sich  Ktesippos, 
der  für  Kleinias  schwärmt,  ein  und  hierauf  wendet  sich  Sokrates 
selbst  um  einen  Streit  zu  verhüten  gegen  die  Eristiker.     Sowie 
auch  diese  Disputation    durch  Ktesippos    ein   schlimmes  Ende 
zu  nehmen  droht,    spricht  Sokrates   von   neuem   mit  Kleinias, 
woraus  die  erwähnte  geschickt  begründete  Zwischenepisode  ent- 
springt.    Den  zweiten  Teil  nimmt  der  Kampf  des  Sokrates  vind 
der  Eristiker    ein,    welchen    der    gereizte   Ktesippos    mehrmals 
unterbricht.     Der  Dialog   läuft  in  eine  ironische  Belobung  der 
eristischen  Methode  aus. 

Unter  den  grösseren  Werken  gehört  zu  dieser  Gruppe  allein 
der  „Staat". 

Als  Plato  den  „Kriton"  schrieb,  wählte  er  die  Form  des 
wirkUchen  Dialoges ;  wenn  er  aber  Sokrates'  Lebensausgang  zur 
Darstellung  eines  grossen  Problems  ausersah,  war  einerseits  die 
eben  besprochene  Form  der  Wiedererzählung  unzuträglich, 
andererseits  der  dramatische  Dialog,  wie  wir  gesehen  haben, 
für  die  tiefer  gehende  Dialektik  wenig  geeignet;  vielmehr  ergab 
sich  beinahe  mit  Notwendigkeit  die  Forderung,  dass  ein  Schüler, 
der  während  der  letzten  Tage  des  Sokrates  um  den  Meister 
gewesen  war,  das  Gespräch  erzählt.  Phaidon,  nach  dem  der 
Dialog  benannt  ist,  ^)   hat  auf  der  Reise  Echekrates  in  Phleius 

1)  K.  Fr.  Hermann  de  Platonici  Phaedonis  argumento,  index  lect.  hib., 
Marburg    1835;    Fr.   Suse  mihi    Prodromus    S.  1    ff.  Philol.    5,     385    ff.    6, 

21* 


324  Neuntes  Kapitel. 

aufgesucht  —  so  denkt  sich  Plato  die  Situation  —  und  erzähl! 
ihm  auf  seinen  Wunsch,  was  Sokrates  vor  seinem  Tode  sprach 
und  wie  er  starb,  indem  er  mit  dem  Eindrucke,  den  die  Fest- 
setzung  der  Todesstunde   hervorrief,    beginnt.     Sokrates    führt 
anfangs  mitKebes  und  Simmias  ein  langes  Gespräch  (c.  4 — 37); 
als  es  resultatlos  zu  verlaufen  scheint,  werden  die  Zuhörer  ver- 
stimmt,   was   zu  einem  kurzen  Gespräch    zwischen  Echekrates 
und  Phaidon  Anlass  gibt  (c.  28).     Daran  schliesst  sich  glückhch, 
was  Phaidon  und  Sokrates  mit  einander  sprachen,  bis  letzterer^ 
zu  Kebes   und  Simmias  zurückkehrt;    Echekrates    streut   aucl 
in  den  nun  folgenden  Abschnitt  einige  Worte  ein  (102  a),  überdies 
wird  der  Dialog  durch  das  rasche  Eingreifen  eines  ungenannter 
Sokratikers   (103a)  lebhafter   gestaltet.     Sokrates    beendigt  di( 
Disputation,  wie  billig,  nicht  mit  der  Festsetzung  eines  Dogmas,] 
sondern  entwirft  ein  herrliches  trostreiches  Bild  der  Unterwelt; 
die  Hoffnung  auf  ein  besseres  Jenseits  bildet  einen  versöhnendei 
Übergang  zu  der  ergreifenden  Schilderung  von  Sokrates'  Tode.j 
Ein  Schlussdialog  von  der  Art,    wie   der   an  den  Euthydemos 
angehängte,  wäre  hier  nur  vom  Übel. 

Während  im  ,, Phaidon"  die  Form  dem  Inhalte  genau  ent 
spricht,  war  Plato  nicht  genötigt,  dieselbe  beim  Symposion') 
anwenden,  er  trug  aber  vielleicht  Bedenken,  so  viele  Menscheil 
mit  so  langen  Reden  gleichsam  persönlich  auftreten   zu  lassen] 
Trotz  der  Aehnlichkeit  der  äusseren  Anlage  unterscheidet   siel 
das  Symposion  völlig  von  dem  Phaidon  und   nähert  sich   eher 
dem  Phaidros,    weil  das  Thema  nicht  dialektisch,    sondern    inj 
längeren  Reden   erörtert   wird.     Da  diese  Deklamationen   unter] 

112  ff.,  20,  226  ff.;  Fr.  Ueberweg  Philol.  20,  512  f.  21,  20  ff.;  H.  Bou  ts 
piaton.  Studien  S.  273  ff.  =  Hermes  6,  413  ff.;  H.  Schmidt  zur  Erklärung 
plat.  Dialoge  S.  1—155;  vgl.  Tenffel  S.  16  f.  Ueberweg  S.  131,  dazu  Karl 
Jul.  Liebhold  über  die  Bedeutung  des  Dialogs  Phaedou  für  die  plat.  Er- 
kenntni.stheorie  und  Ethik,  liudolstadt  1876  ;  F.  Kamp  e  der  Mendelssohnschej 
Ph.  in  seinem  Verhältniss  zum  i)lat.,  Halle  1880;  A.  Kampe  Erörterung  der! 
künstlerischen  Form  des  Dialoges  l'h.,  Budweis  1880. 

1)  Fr.  A.  Wolf  vermischte  Schriften  S.  288  ft.  Alb.  Schwegler  tibetl 
die  Composition  des  plat.  Sympos.,  Tübingen  1843;  Susemi  hl  Philol.  6,1 
177  ff.  8,  153  ff.  (auch  im  Prodromu.s);  G.  Stall baura  diatr.  in  mythumj 
Plat.  de  divini  amoria  ortu,  Leipzig  1854;  G.  F.  Kettig  in  seiner  Au.sgal)ej 
Halle  1875 — 76,  dazu  kritische  Studien  und  Eechtfertignngen  zu  Piatons  S., 
Ind.  lect.  Bern  1876.  vgl.  Teuffei  S.  15;  Ueberweg  S.  131,  dazu  C.  Rück; 
Symbolae  philol.  in  hon.  Speugelii,  München  1877  p.  14  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  325 

sich  künstlich  angeordnet  sind,  durfte  der  äussere  Rahmen  des 
Dialoges  nicht  hervortreten.  Der  Erzähler,  Apollodoros,  ein  be- 
i;eisterter  Anhänger  des  Sokrates,  tritt  daher  nur  am  Anfange 
auf,  wo  er  sich  an  mehrere  Zuhörer  richtet,  deren  Wortführer 
nicht  genannt  wird.  Wir  erfahren  aus  diesem  Vorspiel,  dass 
Apollodoros,  oder  wenn  man  die  Maske  lüften  will,  Plato  zur 
Zeit  des  Symposions  Ol.  90,  4  (416)  noch  ein  Knabe  war  ^) 
und  über  jenes  nach  den  Mitteilungen  eines  Aristodemos  be- 
richtet. Hierauf  beginnt  sofort  die  Erzählung,  ohne  dass 
Apollodoros  noch  einmal  hervorträte ;  um  die  regelrechte  Kompo- 
sition der  Reden  nicht  zu  verwischen,  hat  Plato  die  Scenerie 
und  überhaupt  alles  Nebensächliche  auf  Einleitung  und  Schluss 
Ijeschränkt.  üarum  lässt  er  den  Arzt  Eryximachos  vorschlagen, 
man  solle  einmal  auf  den  üblichen  Symposiencomment  ver- 
zichten und  statt  dessen  lieber  der  Reihe  nach  den  Eros  mit 
Lobreden  feiern.  Dieser  Vorschlag  ruft  fünf  Reden  hervor, 
welche  sich  gegenseitig  ergänzen  und  genau  entsprechen.  Den 
Reigen  eröffnet  Phaidros,  als  Lysianer  ein  Vertreter  der  äusser- 
lichen  trockenen  Prunkrede,  welcher  Eros  nach  dem  Schul- 
schema abhandelt  und  seine  Macht  mit  mythologischen  Bei- 
spielen beweist  (178  a  —  180  b).  Dieser  Rede  entspricht  die 
letzte  (fünfte) ;  Agathon  in  den  Mund  gelegt,  ist  sie  zwar  gleich- 
l'alls  sophistisch,  jedoch  mehr  in  der  poetischen  Manier  des 
Gorgias  gearbeitet  (194  e — 197  e)  ^).  Nach  Phaidros  zeigt  uns 
Tansanias,  wie  ein  wackerer  Bürger  Athens,  zwischen  der  blossen 
Sinneslust  und  der  reinen  Liebe  wohl  unterscheidend,  die  Selig- 
keit der  letzteren  zu  empfinden  und  auszusprechen  wusste 
(180  c  —  185  c);  Aristophanes  dagegen  fasst  in  der  vierten  Rede 
(189c — 193d)  den  Gegenstand  derb  und  possenhaft  und  feiert 
tlie  sinnHche  Liebe.  In  der  Mitte  steht  der  Arzt  Eryximachos, 
welcher  weder  als  Rhetor  noch  als  Laie  die  irdische  Liebe, 
sondern  als  Naturphilosoph  den  kosmischen  Eros  verherrlicht 
(185  e — 188  e).  So  stellte  Plato  die  verschiedenen  Ansichten, 
welche  seine  Zeitgenossen  je  nach  ihrer  Bildung  oder  Moralität 
über  die  Liebe  hegten,  in  diesen  fünf  Reden  dar.  Damit  aber  die 
^vohldarchdachte  Reihenfolge   der  Reden   dem  Leser   nicht  ge- 


1)  Die  Erzählung    ist   in    eine  Zeit   verlegt,    wo   Agathon    Athen   schon 
lange  verlassen  hatte  (172  c). 

2)  T  e  u  f  f  e  1  Studien  u.  Charakt.  zur  griech.  u.  röm.  Litteratur  S.  144  ft. 


326  Nenntes  Kapitel. 

suolit  scheine,  führt  er  sie  auf  einen  blossen  Zufall  zurück. 
Aristophanes  hätte  nämlich  schon  eher  gesprochen,  würde  er 
nicht  das  Schlucken  bekommen  haben  ^).  Nach  jenen  fünf 
sollte  nun  Sokrates  an  die  Reihe  kommen ;  er  setzt  Agathen 
etwas  zu  (198  a  —  201c),  wie  wenn  er  die  ihm  unangenehme 
Aufgabe  gerne  hinausschöbe ;  endlich  beginnt  er  zu  reden,  aber 
es  würde  seiner  Gewohnheit  nicht  entsprechen,  wenn  er  seine 
Ansicht  in  zusammenhängender  Rede  kategorisch  vortragen 
wollte.  Aus  diesem  Grunde  entledigt  sich  Sokrates  seiner 
Pflicht  in  einer  von  Plato  wiederholt  angewendeten  Weise 
{bizoGzaGiQ  genannt),  indem  er  nämlich  ein  Gespräch,  welches  er  mit 
der  mantineischen  Seherin  Diotima  einst  gepflogen,  und  den  von 
ihr  vorgetragenen  Mythos  mitzuteilen  vorgibt.  Ueber  einen 
,, Mythos"  darf  man  nicht  diskutieren,  darum  wird  Aristophanes 
das  Wort  durch  einen  Zwischenfall  abgeschnitten,  welcher  zeigen 
soll,  dass  Sokrates  seine  edle  Auffassung  der  Liebe  auch  im, 
Leben  bethätigte.  Der  trunkene  Alkibiades,  der  mit  anderen; 
Zechern  in  den  Saal  bricht,  stellt  ihm  dieses  Zeugnis  mitj 
cynischer  Offenheit  aus.  Das  Symposion  endigt  mit  heiterem! 
Scherze  und  man  sieht,  dass  Sokrates  selbst  im  Trinken  keinem 
weicht.  Plato  hat  in  der  Charakteristik  der  Personen  dasj 
höchste  geleistet;  jede  Rede  hat  einen  anderen  Charakter,  im 
allgemeinen  Stilcharakter  aber  unterscheidet  sich  das  heitere 
Symposion  durch  die  bequeme  Lässigkeit  der  Umgangssprache  *) 
von  den  rein  philosophischen  Dialogen.  Es  ist  wahrhaft  ein 
Mimos  im  höchsten  Sinne  des  Wortes. 

Bekanntlich  hat  auch  Xenophon  ein  Symposion  hinter- 
lassen, das  in  verschiedenen  Punkten  dem  platonischen  gleicht, 
so  dass  die  Frage  naheliegt,  welchem  der  zwei  Sokratiker  die 
Priorität  der  Erfindung  gehört.  Sie  stände  Xenophon  unbe- 
stritten zu  ^),  wenn  das  weniger  vollkonnnene  stets  das  ältere 
wäre ;  denn  das  Gelage  ist  bei  ihm  in  das  Treiben  des  gewöhn- 

1)  P.  186  d;  die  zum  Teil  seltsamen  Versuche,  dieses  Schlucken  zu  er- 
klären, sind  bei  Schwegler  a.  O.  S.  26  A.  5  verzeichnet. 

2)  Teuf  fei  Rhein.  Mus.  29,  133  ff.,  über  die  Charakteristik  ders. 
28,  842  ff. 

3)  B  ö  c  k  h  de  simultate  quam  Plato  cum  Xenophonte  exercuisse  fertur, 
Berlin  1811;  Fr.  v.  Raumer  antiquarische  Briefe,  Leipzig  1851;  Arn.  Hug 
Philol.  7,  638  ff. :  G.  R  e  1 1  i  g  dv.  conviv.  Xenoph.  et  IMatonis  ratione  mutua, 
Bern  18ö4;  H.  Sehen  kl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  83,  483  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  327 

liehen  Lebens  herabgezogen.  Auch  wäre  Xenophon,  wie  wir 
sehen  werden,  die  Erfindung  einer  neuen  Varietät  sokratischer 
Schriften  wohl  zuzutrauen ;  allem  Streite  macht  indes  eine 
Stelle,  in  welcher  Xenophon  das  platonische  Symposion  förmlich 
citiert  (8,  32 ff.),  ein  Ende,  weil  man  nicht  absieht,  warum  er 
diese  Stelle  später  nachgetragen  haben  soll  ^).  Wenn  Xenophon 
dort  zusammenfasst,  was  im  Symposion  und  im  Phaidros 
(178e.  179a)  über  die  Liebe  gesagt  ist,  so  schlägt  er  das  gleiche 
Verfahren  wie  in  den  Apomnemoneumata  bezüglich  der  An- 
kläger des  Sokrates  ein ;  er  citiert  eben  nicht  wie  ein  Grammatiker. 
Plato  ist  es  also,  welcher  das  philosophische  Symposion,  welches 
von  nun  an  unendlich  oft  copiert  wurde,  erfunden  hat  ^),  und 
dem  Freunde  des  fröhlichen  Weingenusses  steht  dies  um  so 
mehr  an  als  der  -S-iaaoc  der  Akademie  zuerst  solche  Zusammen- 
künfte abzuhalten  pflegte  ^). 

Neben  ,,Phaidon"  und  „S3''mposion"  gestellt  kann  der 
i  ,,P armen id es"  nicht  als  Piatos  würdig  gelten.  Der  Erzähler 
I  dieses  Dialogs  ist  Kephalos  von  Klazomenai,  der  (wie  ApoUo- 
doros)  das  lange  vor  seiner  Zeit  vorgefallene  Gespräch  in  Athen 
durch  Vermittlung  des  Adeimantos  von  Antiphon  erfahren 
haben  will.  Nachdem  Zenon  von  Elea  zu  Athen  sein  Werk 
vorgelesen  hat,  eröffnet  der  noch  junge  Sokrates  eine  Dispu- 
tation mit  ihm,  an  welcher  auch  Parmenides  teilnimmt.  Sie 
wird  ganz  formlos  ohne  irgend  eine  äussere  Andeutung,  wer 
gerade  spricht,  geführt;  ein  förmlicher  Schluss  fehlt.  Aeusser- 
lich  ist  also  der  ,, Parmenides"  ein  rohes  Machwerk,  das  Plato 
nicht  verfasst  haben  kann,  zumal  da  auch  von  philosophischer 
Seite    Bedenken    laut    geworden     sind.      Vielleicht    kann    der 


1)  Sehen  kl  a.  O.  S.  146  f. 

2)  So  Joseph  Rhacendyt.  Walz  rhet.  III  511,  2;  Cornarius  de  con- 
viviorum  Graecorum  ritibus  moribus  ac  serm.,  de  Piatonis  et  Xeuophontis 
dissensione,  Basel  1541  (im  Auszuge  in  Schneiders  Ausgabe  V  141  f.);  Weiske 
und  Schneider  in  den  Ausgaben ;  K.  Fr.  Hermann,  Geschichte  und  System 
der  plat.  Phil.  S.  398.  681  A.  688,  disp.  de  eo  num  P.  an  Xenophon  con- 
vivium  suum  prius  scripserit,  ind.  lect.  hib.  Marburg  1834,  Vermutung  dass 
Piatons  S.  älter  sei  als  das  Xenophontische  gerechtfertigt,  ind.  lect.  Marburg 
1841  u.  Philol.  8,  329  ff.;  K.  W.  Krüger  historisch-philol.  Studien  I  (1837) 
S.  287  ff.;  Steinhart  Leben  Piatos  S.  300  f.  Vgl.  noch  über  die  Frage 
Susemihl  Frodromus  S.  29  ff. 

3)  Antigon.  bei  Athen.  12,  548  a. 


328  Neuntes  Kapitel. 

Ursprung  dieser  Schrift  ungefähr  bestimmt  werden.  "Wegen 
des  Ueberwiegens  der  Eristik  und  Dialektik  dachte  man  an  die 
megarische  Schule^),  indes  ist  es,  weil  alle  Brüder  Piatos  auf- 
treten, wahrscheinlicher,  dass  ein  Platoniker  den  „Parmenides" 
zum  Schutze  der  Ideenlehre  verfasste  ^).  Die  Schrift  wurde  in 
der  Kaiserzeit  ^)  und  während  der  Renaissance  sehr  hoch  ge- 
schätzt, nicht  selten  auch  überschätzt. 

Plato  wurde  durch  die  positive  Entwickelung  seiner  Philo- 
sophie ,    sobald    er    nicht    nur    Scheinweisheit    zerstören    oder 
Lebensgrundsätze  aufstellen   wollte,    notwendig   darauf  geführt, 
entsprechend  dem  Inhalt  auch   die  Form   zu   erweitern;   da  erj 
den  Dialog  beibehielt,  war  er  genötigt,    ihn   über  die  Grenzen,? 
welche  dieser  Literaturgattung  gesteckt  sind,  auszuspinnen. 

Zuerst  wendete  er  ohne  Rücksicht  auf  die  Wahrscheinlich- 
keit einen  zusammenhängenden  Dialog  an;  dieser  ist  in  den 
umfänglichen  Staate^)  versucht,  welchen  die  Späteren  in  nicht 


1)  Socher  S.  291;  von  Aristoteles  nach  M  eh  ring  Ztsch.  f,  Philosophie 
N.  F.  45,  11  ff.  145  ff. 

2)  Uebei-weg  S.  176  ff.  und  Jahrbb.  f.  Phil.  89,  97  ff.;  gegen  die  Echt 
heit  auch  Schaarschmidt  Sammlung  S.  166  fi  ;  Werner  Luthe  de  Par«? 
menide    qni  Piatoni  tribuitur,    Mün.ster  1867;    C.  Huit  de  Tanthenticite   dal 
Parmenide,  Paris  1873.    Sprachliche  Beweise  bringt  Dittenberger  Hermes] 
16,  323  A.  2  bei;    verteidigt   von  J.  Deuschle   Jahrbb,  f.  Phil.  85,  681  ff.,' 
Neumann    de    Platonico    quem    vocant  Parmenide,    Berlin   1863,    K.  Chr.^ 
Planck  Jahrbb.    f.  Phil.  105,  433  ff.   629  ff.,    O.   Apelt    Untersuchungen 
über  den  Parmenides  des  Plato,  Weimar  1880,  K.  Göbel  über  den  plat.  P.,| 
Gütersloh  1880;  Alb.  Keil  über  den  platonischen  Dialog  Parmenides,  Stolp 
1884.      Anderes  bei  Teuffei    S.  42,  Überweg    S.  130,  zuletzt   C.  Schirlitz] 
de  Piatonis  Parmenide,  Nenstettin  1884. 

3)  z.  B.  Plutarch.  frat.  amor.  12  extr. 

4)  Titel  in  den  Handschriften    TroXtteia  yj  Tvspl  Sixaioo  itoXtttxoc.      Ilsplj 
noXixeiai;   bei    Stobaios  nur  II   p.  15,  14.   16,  9    Wachsm.,    manche  (darunter! 

Aristoteles  polit.  4,  7  p,  1293  b  1)  sagen  noXtxsIai  (bei  Olympiodoros  dieses 
oder  itoX'.Tixa  Freuden  thal  Hermes  16,  201A.  1).  Literatur  s.  Teuffei 
S.  20  f  Ueberweg  S.  131,  besonders  C.  Morgenstern  de  Piatonis  republica, 
Halle  1794;  K.  F.  Hermann  Gesamm.  Abhandl.  S.  132  ff.  E.  Z  e  1 1  e  r 
Vorträge  und  Abhandlungen  S,  62  ff.,  Teuf  fei  Studien  S.  126  ff.  A,  G. 
F.  Kettig  prolegomena  ad  republicam,  Bern  1846  und  Rhein.  Mus.  16, 
161  ff.;  C.  Nohle  die  Staatslehre  Piatos  in  ihrer  geschichtlichen  Ent- 
wicklung, Jena  1880;  Paul  Märker  die  leitenden  Gedanken  der  in  Piatos 
Politcia  entwickelten  Staatsansicht,  Halle  1881;  Guggenheim  Ztsch.  f. 
Völkerpsychol.  16,  136  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  329 

weniger  als  zehn  Bücher  zerlegen  musston  ^).  Trotzdem  scheute 
sich  Plato  nicht,  diesen  Monstredialog  von  Sokrates  erzählen 
zu  lassen  und  so  durchziehen  die  Parenthesen  „sagte  ich,  sagte 
er"  das  ganze  Buch.  Der  äussere  Rahmen  ist  bloss  am  Anfange 
skizziert:  Der  Dialog  findet  im  Hause  von  Lysias'  greisem  Vater 
statt.  Kephalos  spricht  mit  Sokrates  über  die  Gerechtigkeit; 
weil  er  abgerufen  wird,  tritt  Kephalos'  Sohn  Polemarchos  an 
seine  Stelle  (I  6),  bis  der  leidenschaftliche  Sophist  Thrasymachos 
diesen  verdrängt  (I  10)  und  gegen  Sokrates  eine  gereizte  Debatte 
führt.  Als  er  grob  abbricht  2),  hindern  zwei  Brüder  Piatos, 
Glaukon  und  Adeimantos,  das  Ende  der  Disputation  und  bringen 
Sokrates  dahin,  dass  er  zuvörderst  die  Gerechtigkeit  im  allge- 
meinen untersucht  (IT.  1 — 10)  und  sie  hierauf  als  das  Treibende 
im  Staatsleben  erörtert.  In  Rede  und  Gegenrede  konstruiert 
er  den  Staat  aus  dem  Begriffe  der  Gerechtigkeit  und  kehrt  zu 
dem  Ausgangspunkte  durch  den  Nachweis  zurück,  dass  der 
Zweck  des  Lebens  in  der  Ausübung  der  Tugend  besteht;  da 
aber  das  diesseitige  Leben  den  Gerechten  nicht  gebührend  be- 
lohnt, nimmt  er  einen  Ausgleich  im  Jenseits  an.  Aehnlich 
wie  im  ,,Gorgias"  versinnbildlicht  Plato  diesen  Glauben  durch 
einen  Mythos,  welchen  der  aus  der  andern  Welt  zurückgekehrte 
Pamphylier  Er  berichtet  hat  ^).  So  endigt  das  philosophische 
Phantasma,  wie  es  sich  gebührt,  mit  einer  reinen  Dichtung. 
Es  ist  indes  eigentümlich,  dass  Plato  nicht  statt  dessen  ein 
phantastisches  Bild  der  Zeit,  wo  der  Idealstaat  bestehen  würde, 
entwarf,  wie  das  in  der  sociahstischen  Literatur  vorkommt. 
Aber  Plato  war  nicht  einmal  theoretischer  Revolutionär,  denn  er 
glaubte  selbst  nicht  an  die  Verwirklichung  seines  Ideales ; 
darum  konstruierte  er  einen  Staat  nach  rein  philosophischen 
Prinzipien.  Die  Sophistik,  welche  alle  Gesetze  und  Sitten  für 
Menschensatzung  erklärte ,  rief  im  fünften  Jahrhundert 
Schriften  ähnlichen  Inhaltes  hervor  "*),    doch    nur  Piatos  Werk 


1)  Diese  Arbeit    wurde    ganz    mechanisch    gemacht    (N  u  s  s  e  r    Platous 
Politeia  S.  95  f.,  auch  Christ  a.  O.  S.  472  flf.) 

2)  V  450  ab  lässt  er  nochmals  ein  derbes  Wort  einfliessen. 

3)  Der  Philosoph  führt  10,  614  b  nicht  aus,  wie  Sokrates  diesen  Mythos 
vernommen  ha))e;  aber  621c  sagt  er  scherzhaft:   o3tü>c  jj-ö^o?  eocuO-t)  xal  o6x 

ttTTlüXetO. 

4)  Isoer.  Phil.  12,  z.  B.  erwähnt  Aristoteles  (rep.  2,  12  p.  1274  b  9)   einen 
Phaleas  von  Chalkedou. 


330  Neantes  Kapitel. 

überdauerte  sein  Jahrhundert  und  wurde  zu  jeder  Zeit  zugleich 
bewundert^)  und  nachgebildet;  es  seien  nur  die  Namen  von 
Thomas  Morus  (Utopia)  ^)  und  Campanella,  dem  Verfasser  der 
civitas  sohs,  genannt. 

Man  kann  sich  nicht  verhehlen,  dass  der  „Staat"  vom 
literarischen  Standpunkte  aus  betrachtet,  eine  geniale  Ungeheuer- 
lichkeit ist,  und  mancher  möchte  sie  Plato  nicht  zutrauen  oder 
ihn  sozusagen  auf  Umwegen  darauf  verfallen  lassen.  Hiezu 
scheint  nun  eine  Stelle  des  Gellius  (14,  3,  3)  dienlich  zu  sein; 
unter  den  Merkmalen,  dass  Xenophon  und  Plato  verfeindet 
waren,  führt  er  auch  auf,  Xenophon  habe  ,, ungefähr  zwei 
Büchern  des  platonischen  Staates,  welche  zuerst  veröffentlicht 
wurden,"  seine  Kyropädie  entgegengestellt.  Schon  das  Wört- 
chen ,, ungefähr"  beweist,  dass  hier  nicht  eine  alte  Tradition 
vorliegt;  vielmehr  wollte  ein  Grammatiker  erklären,  warum 
Xenophon  scheinbar  gerade  auf  den  Anfang  des  Staates  Bezug 
nahm^).  Doch  man  glaubt  ja  aus  einem  Zeitgenossen  Piatos 
den  indirekten  Beweis  für  die  allmälige  Entstehung  des  plato- 
nischen Staates  erbringen  zu  können.  Der  Komiker  Aristo- 
phanes  verspottet,  wie  manche  behaupten*),  in  den  Ekklesiazusen 
die  vier  ersten  Bücher  des  Staates,  während  er  die  im  fünften 
Buche  geforderte  Frauengymnastik,  welche  ein  dankbarer  Stoff 
gewesen  wäre,  noch  nicht  kannte;  in  derselben  Komödie  soll 
Plato  unter  dem  Namen  Aristyllos  verhöhnt  werden  ^),  wofür 
nicht  der  geringste  Beweis  beizubringen  ist.  Ebensowenig  ist 
bewiesen,  dass  Aristophanes  irgend  ein  philosophisches  Buch 
las  oder  dass  Plato  die  in  der  Komödie  verhöhnten  Vorschläge 


1)  Quintilian  8,  6,  64.  Plutarch.  frat.  am.  12  u.  A.,  getadelt  von  Dio 
Chrys.  or.  7,  130.  Ueber  die  philosophische  Wirkung  Ed.  Zeller  Sybels 
histor.  Zeitsclirift  I  (1869)  S.  108  ff.  =  Vorträge  und  Abhandinngen  I»  S.  68  ff. 

2)  Lina  Morgenstern  die  Utopia  des  Thomas  Morus  und  der  plat. 
Staat,  Berlin  1879;  L.  Beger  Thomas  Morus  und  IM.  Tübingen  1879  (Diss. 
V.  Bern). 

3)  So  urteilt  N  u  s  s  e  r  a.  O.  S.  103;  anders  z.  B.  P.  S  c  h  u  s  t  e  r  Rhein. 
Mus.  29,  617  A.  2. 

4)  Zuerst  C.  M  o  r  g  e  n  s  t  e  r  n  a.  O.  epimetron  p.  73  ff.  (bestritten  von 
Socher  S.  340  ff.,  K.  Fr.  Hermann,  Ueberweg  S.  212  ff.  und  Zeller);  A.  Chia- 
pelli  le  ecclesiazuse  di  Aristofane  e  la  republica  di  Piatone,  Turin  1882. 

6)  V.  647.  994.  Plut.  314,  vgl.  Meineke  fragm.  com.  II  1162;  Bergk 
reliq.  com.  Att.  p.  404  u. 


Der  Dialog  (Pluto).  331 

zuerst  aufgestellt  hat^);  im  Gegenteil  bestreitet  dies  die  Ueber- 
lieferung  (S.  292,2).  Wenn  endlich  Plato  von  dem  Spotte  seiner 
Gegner  spricht,  denkt  er  gewiss  nicht  an  die  Komiker,  welche 
er  verachtete,  sondern  an  Sophisten  und  überhaupt  höher  ge- 
bildete Leute;  übrigens  nimmt  auch  der  erste  Teil  des  Staates 
auf  derartige  Anfeindungen  wiederholt  Bezug.  Berechtigter  sind 
die  auflösenden  Tendenzen,  deren  Vertreter  innere  Gründe  gegen 
die  Einheit  des  Werkes  vorführen  ^) ;  indes  kann  nicht  geleugnet 
werden,  dass  der  Anfang  und  der  Schluss  enge  zusammen- 
liängen^);  was  aber  das  dazwischenliegende  betrifft,  so  konnte 
IMato  bei  der  allmäligen  Ausarbeitung  des  umfänglichen 
spekulativen  Stoffes  leicht  in  Inkonsequenzen  und  Widersprüche 
geraten  ^). 

Der  Philosoph  war  von  der  Form  des  ,, Staates"  offenbar 
nicht  befriedigt,  weshalb  er  nun  philosophische  Fragen  nach  dem 
Beispiele  der  Tragiker  in  je  drei  zusammenhängenden  Dialogen, 
welche  verschiedene  Protagonisten  hatten,  zu  erörtern  versuchte. 
Zwei  solcher  Trilogien  hat  er  begonnen ,  aber  keine  derselben 
zu  Ende  geführt. 

Mit  dem  Staat    hängt  der  Tiraaios^)    in    der  Weise    zu- 


1)  Teichmüller  literarische  Fehden  S.  15  ff. 

2)  Nach  K.  Fr.  Hermann  plat.  Philos.  S.  538  f.  war  der  ursprüngliche 
Kern  das  erste  Buch;  dazu  kamen  II. — IV.  "VIII.  IX.,  später  V.— VII.  und 
endlich  X.,  welches  schon  Schleiermacher  als  entbehrlich  bezeichnet  hatte. 
Diese  Ansicht  wurde  mehrfach  umgebildet  von  Aug.  Krohn  der  platonische 
Staat,  Halle  1876  und  (vielfach  modificiert)  die  platonische  Frage,  Halle  1878. 
H.  Sieb  eck  Jahrbb.  f.  Phil.  131,246  ff.  scheidet  vier  Teile:  LH. -IV.  18, 
IV  19— IX.  X. 

3)  Die  Einheit  des  Staates  ist  nachgewiesen  von  Susemihl  genet. 
Entw.  II  65  ff.  F  e  i  p  6  r  s  ontologia  Platonica  p.  546  ff. ;  Joh.  N  u  s  s  e  r 
Piatons  Politeia  nach  Inhalt  und  Form  betrachtet,  Pr.  v.  Amberg  1882 ; 
K  u  t  z  n  e  r  die  innere  Gliederung  des  platonischen  Dialoges  vom  Staate, 
Bunzlau  1877.  Andere  schlugen  einen  Mittelweg  ein,  indem  sie  annahmen, 
dass  Plato  lange  an  dem  Staate  arbeitete  und  zuletzt  seine  Konzepte  äusser- 
lich  an  einander  reihte  (Steinhart  Piatons  Werke  V  S,  122 ;  Schön  de 
Piatonis  Protagora  p.  94;  Zell  er  Gesch.  der  griech.  Philos.  II '^  1,  347). 

4)  Er  sagt  übrigens  3,  394  d  od  y«P  efwp  ^co  olha.,  akVoKf}  äv  6  Xoyo? 
woTTEp  TCV£5|j.a  tpeffl  xaoT-jj  Ixeov. 

,5)  A.  Böckh  kleine  Schriften  3,  109  ff.  294  ff. ;  Ueberweg  Ehein. 
Mus.  9,37  ff.;  Susemihl  Philol.  Suppl.  2,219  fl.,  anderes  bei  Teuffei 
S.  23;  Ueberweg  S.  131,  zuletzt  Hopf  über  die  Einleitung  zum  Timaeus, 
Erlangen  1884. 


332  Nenutes  Kapitel. 

sammen,  dass  der  pythagoreische  Philosoph  Timaios  und  seine 
Genossen  als  das  Publikum  gedacht  sind ,  welchem  Sokrates 
den  „Staat"  vorerzählte;  am  folgenden  Tage  (17  c.  25 d)  fordert 
Sokrates  seine  Zuhörer  auf,  ihm  zum  Danke  gleichfalls  etwas 
vorzutragen.  Der  Dialog  beschränkt  sich  diesesraal  einzig  auf 
die  Einleitung  und  die  nötigen  Übergänge,  während  den  Haupt- 
teil poetische  Schilderungen  ([iö^ot)  bilden.  Zuerst  erzählt  Kritias 
nach  Mitteilungen  Solons  von  dem  urathenischen  Staate,  der 
vor  der  deukalionischen  Überschwemmung  blühte;  Timaios  geht 
noch  weiter  zurück  und  entwirft  ein  Bild  der  gesammten 
Schöpfung.  Nach  der  Verabredung  übernimmt  Kritias^)  das 
Wort  und  schildert  fortftihrend  Urathen  und  das  Wunderland 
Atlantis.  Der  Schluss  dieses  Dialoges  fehlt  ebenso  wie  der 
ganze  dritte,  in  dem  Hermokrates  sprechen  sollte.  Da  die 
Alten  nicht  mehr  als  wir  besassen,  hat  Plato  selbst  die  Trilogie 
nicht  vollendet,  den  Grund  davon  zu  bestimmen  ist  nicht 
möglich.^) 

Wahrscheinlich  ist  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  die  zweite  Tri- 
logie ein  ähnliches  Schicksal  hatte,  weil  zu  Sophistes  und 
Politik  OS  der  Phil  OSO  p  hos  fehlt.  ^)  Auch  sie  steht  nicht  ganz 
unabhängig  da,  sondern  knüpft  an  den  „Theaitetos"  so  an, 
dass  Theaitetos  und  Theodoros  hier  zum  zweiten  Male  auftreten 
und  ausdrücklich  auf  die  am  vorhergehenden  Tage  getroffene 
Abmachung  Bezug  nehmen;  doch  ist  die  Gesellschaft  jetzt  um 
einen  ungenannten  Eleaten  vermehrt.  Auch  in  dieser  Trilogie  tritt 
Sokrates  zurück  und  gibt  die  führende  Stelle  an  andere  ab, 
während  er  bloss  an  der  Eröffnung  des  Gespräches  beteiligt 
ist.     Statt   seiner   examiniert   der  Eleate  im  Sophistes'^)   den 

1)  Angezweifelt  von  Socher  S.  369  ft'.,  verworfen  von  Suckow  S,  159 
(wegen  Procl.  in  Tim.  24  ab),  verteidigt  von  Theod.  Bach  meletemata 
Platonica,  Breslau   1858  (vgl.  S  u  8  e  m  i  h  1  Jahrbb.  79,  566  ff.) 

2)  Es  war  der  Tod  Plut.  Sol.  96  e,  die  sicilischen  Reisen  nach  Zeller 
8.  467  und  Suse  mihi  genet.  Entw.  II  503. 

:>)  An  seine  Stelle  trat  nach  Zeller  plat.  Studien  S.  194  und  Stall- 
b  a  u  in  proleg.  in  politic.  p.  33  und  diatr.  de  Piatonis  pol.,  Leipzig  1840 
p.  26  der  Parnienide«,  nach  L.  S  p  e  n  g  e  1  Philol.  19,  595  Buch  V.— VII.  der 
Republik.  Apokryph  Mythogr.  Vatic.  III  6,  2  p.  183  in  eo  ipso  libro  qui 
philosophus  inscribitur.  Nach  Zeller  S.  463  waren  auch  hier  die  sicilischen 
Reisen  das  Hindernis. 

4)  Analyse  bei  Bonitz  piaton.  Studien  S,  144  fl'. ;  verworfen  von 
Schaarschniidt  Rhein.  Mus.  18,  1  ff.,  19,  63  flf.,  8.  dagegen  M.  Hayduck 


Der  Dialog  (Plato).  333 

Theaitetos,    im  Politik os^)   den    jüngeren    Sokrates,    welcher 
bereits  im  „Theaitetos"  ein  stummer  Zuhörer  gewesen  ist. 

Von  der  Vernachlässigung  seines  Lehrers  ging  Plato  dazu  vor, 
ihn  in  seinem  grössten  Werke,  den  Gesetzen,  ganz  wegzulassen 
und  durch  einen  ungenannten  Athener^)  zu  ersetzen,  der 
mit  dem  Lakedämonier  Megillos,  von  dem  Kreter  Kleinias  ge- 
leitet, von  Knosos  zur  Zeusgrotte  emporsteigt.  Die  vier  ersten 
Bücher  sind  ein  wirkliclier  Dialog,  welchen  der  Athener  haupt- 
sächlich mit  dem  Kreter  führt.  Der  Spartaner  wird  sehr 
ungleichmässig  herangezogen  ,  je  nachdem  auf  die  lykurgische 
Gesetzgebung  Bezug  genommen  wird.  Dagegen  sind  Buch  IV — X 
der  Hauptsache  nach  dem  Athener  in  den  Mund  gelegt.  Den 
Anlass  des  Gespräches  gibt  die  fingierte  Anlegung  einer  kretischen 
Kolonie  ab  (3,702  c).  Von  der  Symmetrie,  welche  Piatos  Schriften 
sonst  auszeichnet,  findet  sich  keine  Spur.  Ob  Plato  über  der  Arbeit 
starb  und  sein  Schüler  Philippos  von  Opas  das  Werk  herausgab 
und  es  mit  der  ,,Epinomis"  fortsetzte,  ^)  wollen  wir  dahingestellt 
sein  lassen,  oder  richtiger,  Aristoteles'  Zeugnis  spricht  dagegen; 
denn  er  verbürgt  nicht  allein  die  Echtheit,  sondern  auch  offenbar 
die  authentische  Ausgabe  der  Gesetze.  ^)  So  sind  also  alle  Ver- 
suche, die  Echtheit  anzutasten,  unberechtigt'),  zugleich  aber 
alle  Hypothesen  bezüglich  einer  Überarbeitung  des  verwirrten 
Nachlasses    oder    einer    Kompilation    von    zwei    verschiedenen 


über  die  Echtheit  des  Sophistes  und  Politikos  I.  Greifswald  1864;  vgl.  Alber  ti 
Rhein.  Mus.  2),  180  ff.;  P.  Deussen  de  Platouis  sophista,  Marburg  1869; 
Rob.  Pilger  über  die  Athetese  des  Sophisten,  Berlin  1869.  Anderes  bei 
Teuffei  S.  18  f.  Ueberweg  S.  130. 

1)  Verworfen  von  Socher  S.  270  ff.,  überarbeitet  nach  Alberti  Jahrbb. 
Suppl.  I  166  ff.;  verteidigt  bei  Gottfr.  St  all  bäum  diatribe  in  Piatonis 
politicum,  Leipzig  1840. 

2)  Aristoteles  nennt  ihn  zur  Bequemlichkeit  Sokrates,  ebenso  Salvian. 
gub.  7,  101  ff. 

3)  Diog.  3,  37  (eviot),  ohne  Namen  Suid.  v.  (ptXooocpoc.  Vgl.  E.  P r ac- 
te rius  de  legibus  Platonicis  a  Phil.  Op.  retractatis,  Bonn  1884. 

4)  S.  305  A.  2. 

6)  Ast  S.  379  ff..  Zeller  plat.  Studieu,  Urach  1839,  Suckow  S.  104,  ff., 
Olncken  Staatslehre  des  Aristoteles  I  194  ff.;  für  die  Echtheit  treten  ausser 
Zeller  (Phil,  der  Griech.  II  1)  besonders  ein  S  u  s  e  m  i  h  1  genet.  Entw.  II 
669  ff.  und  Herrn.  Henkel  Studien  zur  Geschichte  der  griech.  Lehre  vom 
Staat,  Leipzig  1872  Kap.  1.  Andere  Schriften  sind  verzeichnet  bei  Teuffei 
S.  25,  Ueberweg  S.  131. 


334 


Neuntes  Kapitel. 


Entwürfen  ^)  höchst  bedenklich  teils  wegen  jener  Stelle  des 
Aristoteles^)  teils  weil  die  Schule  unmöglich  eine  solche  Miss- 
handlung des  Nachlasses  ihres  Meisters  geduldet  hätte.  Es  sind 
unstreitig  Widersprüche  und  Wiederholungen  vorhanden  und 
manches  Versprechen  nicht  erfüllt.  Aber  fühlt  Plato  nicht 
selbst  die  Abschweifungen^)  und  die  lästige  Breite'*),  deuten  nicht 
auch  die  zahlreichen  Kückverweisungen  darauf,  dass  der  alte 
Mann  den  Faden  zu  verlieren  fürchtete,  wie  es  denn  auch 
wirklich  oft  eingetreten  ist?  Dass  Plato  in  hohem  Alter  die 
Gesetze  schrieb,  macht  ja  der  ganze  Ton  der  Sprache  klar, 
welcher  etwas  zerfahrenes  und  verworrenes  hat  und  ein  wenig 
an  die  letzten  Arbeiten  des  Isokrates  erinnert;  vielleicht  darf 
man  eine  historische  Anspielung  auf  das  Jahr  354  beziehen.-^) 
Überdies  rechnet  sich  Plato  selbst  im  Dialog  zu  den  Greisen. 
Einen  apokryphen  Anhang  der  Gesetze  bildet  die  „Epinomis", 
von  welcher  bereits  oben  die  Rede  gewesen  ist  (S.  303). 

Wenn  wir  die  unechten  Schriften  des  thrasyllischen  Kanons 
zum  Schlüsse  zusammen  stellen  wollen,  so  steht  die  Unechtheit  der 
beiden  Alkibiades,  Anterastai,  Epinomis,  Hipparchos,  Kleitophon, 
Minos,  Parmenides  und  Theages  fest;  die  Entstehuugszeit 
derselben  dürfte  zwischen  Piatos  Tode  und  Aristophanes  von 
Byzanz  zu  suchen  sein.  Das  stilistische  und  philosophische 
Verhältnis  zu  Plato  verdient  nähere  Erforschung;  sie  wäre 
fruchtbringender  als  die  grundlose  Verdächtigung  vortrefflicher 
Dialoge. 


1)  Ivo  B  r  u  n  s  Piatos  Gesetze  vor  uud  nach  ihrer  Herausgabe  durch 
Philippos  von  Opus,  Berlin  1880;  Bergk  fünf  Abhandl.  zur  griech.  Philo- 
sophie S.  43  ff.  nimmt  wegen  V  739  e  xpixfjv  Se  ixet«  -raüTa,  eav  ö-ec/q  sö-eAtj, 
hict  itepavoonE^a  an,  dass  Plato  einen  mehr  und  einen  weniger  reali.stischen 
Entwurf  hinterliess. 

2)  Ari.stoteles'  Worte,  die  sich  auf  den  Inhalt  der  „Gesetze"  beziehen, 
bewei.sen  nichts  gegen  das  vorhandene  Werk,  weil  v&[j.ot  und  „Gesetze''  sich 
keineswegs  decken. 

3)  3,  683  e,  wo  er  an  den  Schluss  von  II.  anknüpft,  spricht  er  von 
jtXdvT)  Toü  XoYOü.  Man  .sollte  die  Andeutungen,  welche  Plato  seihst  über  die 
Komposition  gibt,  höher  schätzen;  4,  722  cd  ist  aus  Morgen  Mittag  geworden 
und  doch  war  das  ])isherige  nur  irpootjxia. 

4)  Er  entschuldigt  sie  mit  xaXöv  8^  t6  ys  ipö-iv  xal  Sic  ^«l  tplc  12,  95Ge. 
6)  8,  686  c    xadditep  v5v  xciv  ^lifav    ßaotX^a    (poßoüfieö-a  "^(Jiei«;;    3,  GBGh 

pasüte  besonders  nach  der  Wiederherstellung  von  Messene. 


Der  Dialog  (Plato).  335 

Der  Dialog  war  für  Plato  nicht  etwa  eine  in  der  Schule 
des  Sokrates  angelernte  Form;  denn  der  streng  sokratische 
Dialog  entbehrte  der  Frische  und  des  Schmuckes  ^).  Plato  hat 
ihn  zu  einer  wirklichen  Literaturgattung,  die  sich  ebenbürtig 
zwischen  die  Poesie  und  Prosa  stellen  durfte,  erhoben;  denn 
wenngleich  das  Fehlen  des  Versmasses  den  Dialog  der  Prosa 
zuteilte,  konnte  er  wegen  der  freien  Erfindung  des  Inhalts  und 
der  nachahmenden  Darstellung  der  Wirklichkeit  mit  fast  besserem 
Rechte  zur  Dichtung  gezählt  werden,  von  deren  Arten  das 
Drama  und  besonders  der  Charaktermimos  ihm  am  nächsten 
stand  ^).  Trotz  der  künstlerischen  Komposition ,  welche  Plato 
in  den  meisten  Werken  herzustellen  sucht,  -wäre  es  pedantisch, 
seine  Dialoge  in  die  Schablone  der  dramatischen  Akteinteilung 
zu  zwängen  ^).  Darin  beruht  die  Aehnhchkeit  mit  dem  Drama 
nicht.  Sie  liegt  auch  nicht  allein  darin,  dass  zwei  mit  ein- 
ander sprechende  Personen  fingiert  sind,  sondern  Plato  bemüht 
sich,  den  Dialog  wie  einen  wirklichen  Vorgang  dem  Leser  an- 
schaulich darzustellen,  weshalb  er  in  der  Regel  andeutet,  wo 
das  Gespräch  stattgefunden  haben  soll,  wobei  auch  nicht- 
athenische Leser  berücksichtigt  werden*),  und  wie  die  Begegnung 
der  Sprechenden  zu  Stande  kam.  Diese  selbst  sind  keine 
Marionetten,  welche  eingelerntes  deklamieren  ^),  sondern  lebens- 
wahre Menschen,  auf  deren  Charakteristik  Plato  mehr  oder 
weniger  Sorgfalt  verwendet").     Bald  schildert  er  sie  durch  den 

1)  Dionys.  de  Plat.  2  xpacpslc  jxev  ev  zolq  Stoxpatixot«;  ZiaXö-^oiz  loyyo- 
xatoic;  oüg:  v.a\  ftxp'.ßsaxaxotc.  Ueber  den  platonischen  Dialog  Ged  des  essay 
ou  the  composition  and  manner  of  writing  of  tlie  ancients  particularly  of 
Plato,  übers,  in  „Sammlung  vermischter  Schriften  zur  Beförderung  der  schönen 
Wissenschaften  und  der  freien  Künste",  Berlin  1761  IV.  St.  1.;  v.  Stein 
sieben  Bücher  I  S.  10  fl'. 

2)  Aristot.  bei  Diogen.  3,  37. 

3)  Fr.  Thierse h  über  die  dramatische  Natur  der  platonischen  Dialoge, 
Abhandl.  der  bayer.  Akad.  II  (1837)  S.  ff.;  Suckow  S.l  423  ff.;  Th.  Bacher 
dramatische  Composition  und  rhetorische  Disposition  der  plat.  Eepublik, 
3  Progr.  Augsburg  1869,  74,  75. 

4)  Charmid.  153  a. 

5)  Quintilian  5,  7,  28  urteilt:  adeo  scitae  sunt  interrogationes,  ut,  cum 
plerisque  bene  respondeatur,  res  tamen  ad  id  quod  volunt  efficere,  perveniat; 
vgl.  Märten  ins  Ztsch.  f.  Gymnasialw.  1866  S.  97  ff.  497  ff. 

6)  Dionys.  rhetor.  10,  2.  11,  6.  Basil.  epist.  135  (167,  1);  Ambros 
Mayr  Charakterbilder  aus  Protagoras,  Pr.  v.  Komotau  1876.  Eine  Ausnahme 
bilden,  wie  Basilius  bemerkt,  die  aöpiaxa  itpöocu^a  der  Gesetze. 


336  Neuntes  Kapitel. 

Mund  anderer  wie  den  jungen  Theaitetos,  bald  5ceichnet  er  sie 
durch  ihr  Reden  und  Handeln  so  fein,    dass    keine  Figur    mit 
einer  anderen  völlig  übereinstimmt,  ein  Resultat,  das  vor  allemj 
bei    den    zahlreichen    Sophisten    schwierig    zu    erreichen    war. 
Plato  schildert,  um    nur   einige  Charakterköpfe   hervorzuheben,] 
Protagoras  selbstbevvusst  und  empfindlich,   Gorgias  gutmütiger,' 
Hippias    lächerlich    eitel,    Thrasymachos    endlich    plump    und 
unduldsam.     Ebenso  drückt   er    den  Unterschied    von  Bildung 
und  Stand  in   der  Sprache   aus,    z.  ß.  sprechen    die  Sophisten 
bilderreich  und  geziert  ^),    indes    weicht   der  Lysianer  Fhaidros 
wiederum  bedeutend  von    dem  Gorgianer  Agathon  ab.     Neben  j 
den  Grundzügen  der  äusseren  Verhältnisse  und  der  Charaktere] 
fehlt  in  manchen  Dialogen  auch  die  Kleinmalerei  nicht,  indem  i 
Plato  z.  B.  berichtet,    in    welcher  Ordnung   man    sass,    welche] 
Geberden    die  Personen   machten,    wie    sich    ihre   Gefühle   inij 
Gesichte  abspiegelten,  und  anderes  mehr,  was  jetzt  der  Roman- 
dichtung eigen  ist. 

Indem  Plato  den  Dialog  auf  eine  so   hohe  Stufe   hob,    er-j 
warb  er  sich  zu  den  Pflichten  der  Dichter    nicht    minder   ihn 
Rechte.     Was  nämlich  das  Verhältnis,    in  welchem  er  zu    den] 
historischen  Vorgängen  steht,    angeht,    so  hat  Plato,    wenn   erl 
die  Scenerie  seiner  Dialoge    entwarf,    natürlich    nicht    bei    den] 
älteren    Bürgern    herumgefragt    oder    die    Chroniken    studiert,! 
damit  er  mit    der  Zeitrechnung   nicht   in  Konflikt    käme.     Er] 
gruppierte  auf  jeden  Fall  die  Ereignisse,    welche    er    selbst  ge- 
sehen oder  gelegentlich   gehört   hatte,    mit   poetischer  Freiheit] 
und  so  kam  es,  dass  Philologen  der  alten  und  neuen  Zeit  ihi 
arge    Verstösse    vorrücken    konnten  ^)    und   jeder   Dialog,    der| 
mehrere   historische   Anspielungen    enthält,    denen,    die  ein  be- 
stimmtes Datum  feststehen  wollen,  die  grössten  Schwierigkeiten 
bereitet.     So  enthält  eine  Stelle  des  „Gorgias"  eine  Anspielung 
auf   die    Verurteilung    der   Arginusenfeldherrn    (473  e),    obwohl; 
einer    derselben  dem  Gespräche  beiwohnt.     Der  „Protagoras"  ^)j 
scheint  nach  dem,   was   über  Perikles  gesagt  ist,    vor  dem  An- 


1)  Er  parodiert  sie  mit  «oXo-IlaXe  Gorg.  462  d,  Xojoxe  Il&Xe  465  d.  467b. 

2)  Athen.  6,  218  bc.  Ariatid.  orat.  III  474  f.  651.  Macrob.  sat.  1,  ]. 

3)  Speziell  .1.  S.  Kroschcl  Ztsch.  f.  GW.  U,  501  ff.  12,  200  ff.  nnd 
de  temporibus  reruni  quae  in  l'latouis  Protagora  babentur  coastitueodis, j 
Erfurt  1859. 


Der  Dialog  (Plato).  337 

fange  des  peloponnesischen  Krieges  zu  spielen,  nichtsdesto- 
weniger ist  Kallias,  dessen  Vater  Hipponikos  erst  424  starb, 
bereits  im  Besitze  des  Hauses  und  vor  dem  Dialoge  sollen  die 
,, Wilden"  des  Pherekrates  auf  die  Bühne  gekommen  sein,  was 
erst  Ol.  89,  4  (421/0)  geschah.  Bei  dem  „Staate"  vollends  ge- 
nügt es  zu  bemerken,  dass  die  Ansätze  der  Platoniker  zwischen 
Ol.  83  und  91,  3  schwanken^).  Es  wäre  daher  verfehlt,  Piatos 
Dialoge  für  die  Chronologie  zu  benützen  2).  Was  die  ältere 
Zeit  betrifft,  so  nimmt  es  uns  freiüch  Wunder,  wenn  Plato 
den  Epimenides  zehn  Jahre  vor  den  Perserkriegen  nach  Athen 
kommen  und  weissagen  lässt,  aber  er  folgte  ohne  Zweifel  der 
volkstümlichen  Ueberlieferuug,  welche  mit  der  Zeit  eines  solchen 
Wundermannes  frei  schalten  durfte^).  Weniger  leicht  sind  die 
eigentlichen  Anachronismen  zu  verzeihen ,  weil  sie  die 
poetische  Wahrheit  des  Dialoges  stören.  Doch  gestattete  sich 
Plato  solche  nur  in  Reden,  nämlich  im  ,,Menexenos" ,  wo 
Sokrates  vom  antalkidischen  Frieden  spricht,  noch  bekaimter 
ist  der  Anachronismus  in  der  Rede  des  Aristophanes,  deren 
possenhafter  Charakter  ihn  entschuldigt. 

Sowie  Plato  den  sokratischen  Dialog  zu  einer  prosaischen 
Dichtung  erhob,  musste  die  Sprache  dieser  Wandlung  folgen^), 
wiewohl  der  Philosoph  in  dem  eigentlichen  Zwiegespräch  von 
der  Sprache  des  täglichen  Lebens  nicht  zu  weit  abgehen  durfte. 
An  die  Umgangssprache  erinnern  ein  reicher  Schatz  von  Sprich- 
wörtern*) und  zahlreiche  Vergleiche^),  die  den  mannigfaltigen 
Seiten  des  Lebens  abgelauscht  sind  und  von  dem  platonischen 


1)  Speziell  handeln  über  diese  Frage  Böckh  ind.  lect.  hib.  1838,  aest. 
1839  und  1840  =  Gesammelte  kleine  Schriften  4,  437  ff.  450  ff.  474  ff., 
K.  Fr.  Hermann  de  reipublicae Platonicae  temporibus,  Marburg  1839  und 
S  u  s  6  m  i  h  1  Philol.  Suppl.  2,  97  ff. 

2)  Zell  er  über  die  Anachronismen  in  den  j  platonischen  Gesprächen, 
Abhandl.  der  Berliner  Akad.  1873  S.  79  ff. 

3)  Anders  Zeller  a.  O.  S.  95  ff. 

4)  Ueber  den  platonischen  Stil  Dionysios  von  Halikarnass  repöc  Fvalov 
no}ji.iffjiov  entatoX-fj  L;  die  Alten  bewegen  sich  meist  in  Allgemeinheiten. 
B 1  a  s  s  attische  Bereds.  II  424  ff.  Das  Rhetorische  im  „Menexenos"  ist  in 
der  Abhandlung  von  Berndt  zusammengestellt  (s.  o.  S.  311  A.  1). 

5)  Stallbaum  indices  s.  v.  proverbia,  Krische  tiber  Piatons  Phaedros 
S.  1063  A.,  Lingenberg  platonische  Bilder  und  Sprichwörter,  Köln  1872; 
der  „Gorgias"  wird  mit  zwei  Sprichwörtern  eröffnet. 

Sittl,  GrescMchte  der  griechischen  Literatur. II.  22 


338  Neuntes  Kapitel. 

Sokratcs  mit  Rücksicht  auf  sein  jeweiliges  Publikum  ausgewählt^ 
werden,  so  dass  er  sie  z.B.  im  Gespräche  mit  jüngeren  Leuten 
gerne  der  Gymnastik    und  Musik   entlehnt ;  ^)   manchmal    sind 
die    Vergleiche,    für   den    allgemeinen    Geschmack    wenigstens 
zu  tief  gegriffen,    was   freilich  durch  Dantes  Übereinstimmung 
verteidigt    wird.     Von    der  Konversationssprache   nimmt  Plato 
zugleich   das  Recht   her,    seine  Personen    etwas    weitschweifig 
sprechen^)  und  die  Sätze  nicht  immer  streng  korrekt  bauen  zu 
lassen.^)     Er    strebte   aber   höher.     In   seiner  Jugend   hatte    er 
offenbar    einen    gründlichen    Unterricht    in    der  gorgianischen ' 
Rhetorik   genossen    und    die  Dichter    seines  Volkes   eingehend 
studiert,    weshalb    es    ihm   bei    seinem  angebornen  Talent  ein'; 
leichtes  war,  rhetorisch  und  poetisch  zu  schreiben.     Wo  er  sich] 
massvoll   zurückhält,    ist    seine     Sprache    nach    einem    feinen 
Ausdrucke  des  Dionysios  ,, ein  schöner  Quell,  um  den  Frühlings- 
grün  spriesst".     Plato    flicht   gerne  Anspielungen    auf  Dichter, 
besonders  auf  Homer,    ein    und   ahmt  sie  auch  nach.*)     Aber! 
zumal  in  den  Mythen   wagt  er  mit  den  Tragikern  und  Dithy-I 
rambikern  zu  wetteifern    und    dann    entschlüpft  ihm  manches,.' 
was  in  der  Prosa    nicht    entschuldbar  ist,  ^)  wenn  auch  Piatos 
mündliche   Ausdrucksweise    noch    reicher    an    ungewöhnlichen! 
Bildern  gewesen    zu    sein    scheint.'')     Von  Gorgias    hat  er  die] 
Vorliebe  für  Gleichklänge  und  Wortspiele  überkommen. '')    Diöj 
Wortstellung  ist  nicht  einfach,    sondern  durch  kunstvolle  Ver- 


1)  J.  P.  Huber   zu   den   platonischen  Gleichnissen,   Passau  1879    stellt 
die  Vergleichungen   der  Ktde  zusammen   und   bespricht   die  Verbindung  voaj 
xiz  mit  Vergleichungspartikeln. 

2)  Tiber,  schem.  35,  z.B.  Paare  von  synonymen  Partikeln,  vgl.  Seh  ans 
novae  commentatt.  p.  12  ff. 

3)  F.    W.   Engelhardt  anacoluthorum    Piatonic,   specimina,    Danzig] 
1834,  1838,  1845;  de  periodorum  plat.  structura  I.  Dauzig  1853.  IL  18G4. 

4)  Von  Homer  fl.  5<j;oo<:  13,  3;  Longin.  9  p.  326,  20  Sp.,  z.  B.  entaxpw- 
^Äat  noXirjai;  soph.  216  c,  vgl.  auch  Gorg.  449  a. 

6)  Diouys.  compos.  18.  de  Plat.  2,  Longin.  Sp.  I  324,  15;  Ilepl  Z^oui 
4,  6  (hier  werden  xaS-eüoetv  eäv  xa  tei^vj  leg.  6,  778  d  und  xoTcaptixivat;  jxvYjfiac 
leg.  5,  741  c  angeführt);  vgl.  Procl.  in  Tim.  19  b,  anderes  K.  Fr.  Hermann 
Gesch.  der  plat.  Phil.  S.  101,  56;  vgl.  E.  Wiedasch  de  Piatonis  dicendi 
geuere,  Ilefeld  1836. 

6)  Aristot.  topic.  6,  2,  5  z.  B.  öfppoooxcoc. 

7)  Z.  B.  'AXxivou  und  aXxtjAou  rep.  10,  614  b,  sogar  dreifach  leg.  4, 
714  a  3iav&|j.Yjv  ejiovojJidCovxeg  v&jxov. 


Der  Dialog  (Plato).  339 

schränkungen  ungewöhnlich  gestaltet,  ^)  z.  B.  liebt  der  Schrift- 
steller die  kreuzweise  Verschlingung  von  zwei  zusammenge- 
hörigen Gliedern.  ^)  Im  Satzbau  hat  er  Gorgias  weit  überflügelt, 
denn  seine  Kola  sind  mannigfaltig^)  und  gleiten  leicht  und 
rhythmisch  dahin.  *)  Der  Tonfall  wird  wohl  beachtet ;  so  kommen 
in  den  Reden  volle  gewichtige  Silben  häufig  vor^)  und  nicht 
selten  verfällt  er  in  Verse.  ^)  Wahrscheinlich  hat  Thrasyraachos' 
Beispiel  ihn  darauf  hingewiesen,  es  könnte  aber  auch  sein,  dass 
Isokrates  einen  Einfluss  auf  den  platonischen  Rhythmus  hatte, 
weil  man  nachweisen  kann,  wie  Plato  allmälig  gegen  den  Hiatus 
empfindlicher  wurde.')  Es  gehört  zu  den  zahlreichen  Wider- 
sprüchen in  Piatos  Wesen,  dass  derselbe,  welcher  die  Rhetorik  so 
leidenschaftlich  bekämpft  und  verhöhnt,  zugleich  einer  der  be- 
deutendsten Rhetoren  gewesen  ist.  ^)  Plato  stellt  im  Phaidros 
die  Schriftstellerei  sehr  tief  und  doch  hat  er  eine  ausserordent- 
liche Mühe  auf  die  Ausfeilung  seiner  Werke  verwendet.  Mochten 
auch  neuplatonische  Enthusiasten  die  Sprache  Piatos  wie 
eine  Art  von  göttlicher  Inspiration  betrachten,  den  Rhetoren 
entging  ihre  Künstlichkeit  nicht.  ^)  Die  Anekdote ,  dass  in 
Piatos  Nachlasse  die  ersten  Worte  seines  Staates  auf  einer 
Schreibtafel  in  verschiedenen  Variationen  aufgefunden  wurden,  ^°) 
kann  erfunden  sein,  doch  ist  sie  vollkommen  glaublich  und 
wird  dadurch  nicht   widerlegt,   dass  der  Leser   diese  mühsame 


1)  Z.  B.  am  Anfang  des  tünften  Buches  des  Staates;  Braun  dehyperbato 
Platonico,  Culin  1847.  1852.  Seine  cuv^soic;  wird  von  Quintilian  9,  4,  77 
hoch  gerühmt. 

2)  Schanz  novae  commentatt.  p.  8  ff. 

3)  Menand.  epid.  p.  150  W.  =  340,  29  Sp. 

4)  Demetr.  8p}j.7]v.  183  ff.  Aug.  Lange  de  compositione  periodorura 
inprimis  Platonicarum  I.  Breslau  1849, 

5)  Dionys.  compos.   18. 

6)  Quintilian.  9,  4,  77  f. 

7)  B 1  a  s  s  a.  O.  S.  426  ff. 

8)  Cicero  de  orat.  1,  11,  47,  was  Fronto  p.  149  benützt;  Jos.  Steger 
platonische  Studien  I.  Innsbruck  1869;  R.  Hirzel  über  das  Rhetorische  und 
seine    Bedeutung    bei    Plato,    Leipzig    1871;    J.    V.   Novak    Plato   und   die 

Rhetorik,  Jahrbb.  Suppl.  13,  443  ff. 

9)  Procl.  in  Tim.  p.  19  b,  vgl.  Aristid.  orat.  III.  p.  225. 

10)  Panaitios  und  Euphorien   bei   Diog.   37.     Dionys.  compos.  25  p.  209. 
Quintil.  8,  6,  64. 

22* 


^Q  Neuntes  Kapitel. 

Arbeit  nicht  empfindet ;  hat  nicht  auch  der  Meister  der  deutschen 
Prosa  einen  Zettel  hinterlassen,  auf  welchem  derselbe  Satz  vier- 
oder  fünfmal  gewendet  steht? 

Um  die  Wirkung  der  platonischen  Schriften  zu  schildern, 
müsste  man  eine  Geschichte  des  philosophischen  Dialoges  über- 
haupt schreiben;  denn  Plato  hat  die  äussere  Form  desselben 
nicht  nur  für  die  Griechen  der  folgenden  Zeiten,  sondern  auch 
für  die  übrigen  Kulturvölker  bestimmt.  Denn  soweit  die 
griechische  Sprache  verstanden  wurde,  gab  es  Leser  und  Ver- 
ehrer Piatos ;  demzufolge  wurden  Schriften  des  Philosophen  in 
alle  Schriftsprachen  der  alten  Welt  übersetzt:  In  Rom  übertrug 
kein  geringerer  als  Cicero  den  Timaios^)  und  Protagoras; 
Apulejus  übersetzte  den  Phaidon^)  und  der  „Timaios"  in  der 
unvollständigen  Übertragung  des  Chalcidius  ^)  vermittelte  abge- 
sehen von  Ciceros  Bemerkungen  dem  Mittelalter  die  Kenntnis 
der  platonischen  Philosophie.  Im  Orient  hatte  man  eine  be- 
son'^ere  Vorliebe  für  die  S.  298  erwähnten  Apokryphen  und 
daneben  standen  Staat,*)  Gesetze^)  und  Timaios^)  im  Vorder- 
grunde, ßildungsfreundliche  Regenten  jedoch,  wie  der  Sassanide 
Chosroes  '^)  und  der  Abasside  Mamun,  ^)  verschafften  sich  auch 
die  Übersetzung  anderer  Schriften. 

Vor  allem  aber  wurde  Plato  von  den  Griechen  selbst  ge- 
lesen   und    gehörte   jeder   Zeit    zu  den    Schriftstellern,    welche 


I 


1)  C.  Fr.  Her  mann  de  interpretatione  Timaei  Piatonis  dialogi  a  Ci- 
cerone relicta  disputatio,  Göttingen  1841. 

2)  Ueber  Gellius'  Platostudien  8,  8  1.  10,  22,  3. 

3)  Herausg.  v.  Wrobel,  Leipzig  1876;  er  war  vielleicht  ein  Jude,  der 
frühestens  am  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  lebte  (Freudenthal  helle- 
nistische Studien  I.  II.  S.  180  A.). 

4)  Mehrfach  übersetzt,  bearbeitet  (z.  B.  von  Averroes,  separat  lat.  Rom 
1639.  Ven.  1662  und  opera  vol.  III.  1660,  vgl.  Renan  Averrote  et  l'Aver- 
roisme,  Paris  1862  p.  122.  126  f.)  und  kommentiert,  vgl.  Hadschi  Khalfa 
lexic.  bibliograph.  V  60.  142,  Casiri  bibl.  Arabico-Hisp.  I  p.  302,  Fabr.-Harles 
bibl.  Gr.  III  92 ;  in  das  hebräische  übersetzt  Fabr.-Harles  a.  O.  p,  137, 

6)  In  das  arabische  übersetzt  (Hadschi  Khalfa  VI  391.  Casiri.  1  302). 

6)  Arabischer  Kommentar  Casiri  I  263. 

7)  Agathias  2,  28. 

8)  Hadschi  Khalfa  I  81.  Es  wird  noch  ein  arabischer  „Phaidon"  er- 
wähnt (Wen  rieh  de  auct.  Graec.  vers.  p.  117);  syrische  Uebersetzungen 
echter  Schriften  sind  höchst  zweifelhaft  (Wenrich  a.  O.). 


Der  Dialog  (Plato).  341 

jeder  Gebildete  kennen  musste  ^).  Liessen  doch  sogar  reiche 
Leute  l)ei  Tische  von  ihren  Sklaven  platonische  Dialoge  mit 
verteilten  Rollen  aufiführen^).  Allerdings  dürften  die  Meisten 
die  Lektüre  auf  die  beliebtesten  Dialoge  beschränkt  haben,  zu 
welchem  Zwecke  z.  B.  lamblichos  eine  Auswahl  von  zehn 
Dialogen  veranstaltete^).  Trotzdem  war  die  Bewunderung  nicht 
einstimmig.  Während  die  einen  versicherten,  Zeus  würde, 
wenn  er  griechisch  reden  wollte,  Piatos  Sprache  gebrauchen  *), 
wurde  sein  Stil  von  vielen  (z.  B.  Caecilius)  scharf  angefochten 
und  als  gorgianisch  und  schwulstig  getadelt  ^).  Hingegen  galt 
die  Komposition  und  der  Gesammtcharakter  des  platonischen 
Dialoges  für  mustergiltig  und  wurde  seit  Aristoteles  '^)  unauf- 
hörlich mehr  oder  weniger  geschickt  nachgebildet.  Das  Sym- 
posion '')  und  der  Phaidros  ^)  besonders  riefen  unzählige  Imi- 
tationen hervor. 

Eingehender  haben  wir  uns  mit  den  Erklärungsschriften 
zu  beschäftigen,  wobei  der  ,,Timaios"  vorläufig  nicht  berück- 
sichtigt werden  soll.  Xenokrates^)  und  sein  Schüler  Krantor 
verfassten  schwerlich  schon  Kommentare  zu  platonischen 
Schriften  ^");  auch  der  Eklektiker  Potamon,  der  unter  Augustus 
lebte' ^),  schrieb  wahrscheinhch  über  die  platonische  Staatstheorie 


1)  Iwan  Müller  symbolae  criticae  et  exegeticae  ad  Plat.  de  rep.  1. 
VI.,  Erlangen  1865  p.  1  ff.  sammelt  die  Citate  und  Anspielungen  auf  dieses 
sehr  beliebte  Buch;  das  Platonische  bei  Himerios  notiert  Teuber  quaestt. 
Himerianae,  Breslau  1882  cap.  II. 

2)  Athen.  8,  381  f.  Plutarch.  quaest.  symp.  1,  1,  1.  7,  8,  10. 

3)  Proklos  in  Alcib.  p.  297,  13  Cous.,  vgl.  Freudenthal  Hermes 
16,  211. 

4)  Dionys.  Dem.  23,  vgl.  Cic.  Brut.  31,  121.  Nachahmer  des  platonischen 
Stiles  Dionys.  Dinarch.  8. 

5)  Dicaearch.  bei  Diog.  38.  Dionys.  de  Plat.,  Plutarch.  bei  Isid.  Peius, 
epist.  2,  42  u.  A.  Bereits  Timon  bei  Diog.  3,  9  spielte  mit  nXazüzazoz  darauf 
an ;  über  Caecilius  11.  u'^our;  32,  8. 

6)  Zell  er  Hermes  15,  547  f. 

7)  E  o  8  e  Aristoteles  pseudepigraphus  p.  119  ff.;  auch  die  Christen  ahmten 
das  Symposion  nach,  wie  z.  B,  Methodios'  cu|j.Tr6otov  Sexa  irapfl-lvouv  zeigt, 

8)  Ruhnken  ad  Timae.  'AfxtptX,  Boissonade  ad  Aristaen.  1,  3  p.  264  f. 
z.  B.  Synesios'  Dialog  AlfOKXioi  ^  Tcspl  npovoiac  (vgl.  epist.  154.  292). 

'  9)  Ilepl  TTji;  IlXoctcuvoc  noXiztiaz  Diog.  4,  12.  Suid. 

10)  '0  npMzoc,  To5  IlXdxcuvoi;  ii-qf'q'z-fiz  Procl.  in  Tim.  p.  24  a;  Diogenes 
4,  24  schweigt  davon.  ^ 

11)  Suidas  V.  IIoxdjJLcuv. 


342  Neu  nies  Kapitel. 

Die  Reihe  der  eigentlichen  Erklärer  beginnt  mit  Tauros  von 
Berytos,  der  im  ersten  Jahrhundert  über  Gorgias  und  Timaios 
schrieb^).  Schon  im  zweiten  Jahrhundert  erhebt  sich  der  Streit, 
wer  Piatos  Schriften  wahrhaft  verstehe  ^).  Seit  der  Errichtung 
von  Universitäten  scheint  es  üblich  geworden  zu  sein,  dass  die 
Professoren  der  platonischen  Philosophie  in  Athen  und  Alexan- 
drien  Vorlesungen  über  einzelne  Schriften  Piatos  hielten,  Ihre 
Erläuterungen  gaben  sie  entweder  selbst  heraus  oder  fieissige 
Schüler  zeichneten  sie  nachträglich  aus  dem  Gedächtnis  auf^) 
und  teilten  diese  Notizen  ihren  Freunden  mit.  Auf  diesem 
Wege  stellte  sich  bei  Hierokles,  einem  Schüler  des  jüngeren 
Plutarchos,  heraus,  dass  er  den  Gorgias  in  einem  anderen 
Semester  ganz  verschieden  erklärte^).  Im  Texte  seien  nur  die 
berühmtesten  Exegeten  genannt:  Herme  las,  des  Ammonios 
Sohn,  ein  Schüler  des  Syrianos,  bearbeitete  in  Alexandrien  den 
Phaidros^);  verloren  ist,  was  Syrianos  selbst  über  den  Phaidon, 
den  Staat  und  die  Gesetze^),  Longin os  über  den  Phaidon^), 
Marinos  über  Parmenides  und  Philebos  ^),  Porphyrios  zum 
Sophistes  mid  Kratylos  ^),  lamblichos  über  Phaidon,  Parme- 
nides und  den  ersten  Alkibiades  ^*') ,  Damaskios  über 
Alkibiades  I.  ^^)    schrieben;    um  so  mehr    hatten    die  Arbeiten 


1)  Gellius  VII  (VI)  14,  5.  XH  15. 

2)  Lucian.  philopseud.  6;  Sueton  irspl  'EXX-fjvcuv  jtaiStä?  p.  276  Roth 
citiert  ol  toö  IlXättuvoi;  6Ttofi.VY]jjLaTiaTai. 

3)  lieblich  war  dies  nicht,  wie  Marin,  vit.  Procl.  12  p.  167,  16  W.  13 
p.  167,  62  zeigt. 

4)  Damasc.  vita  Isidori  54. 

6)  Herausg.  v,  Ast  zum  Phaidros,  Leipzig  1810. 

6)  Suidas  (Bernhardy  meint  aber,  der  Titel  sei  aus  dem  Artikel  HpöxXoc 
eingedrungen);  Simplic.  in  Arist.  phys.  fol.  144  v.  26.  Vielleicht  schrieb  er 
auch  über  Gorgias,  wie  ein  entstellter  Titel  bei  Hadschi  Khalfa  V  372  an- 
zudeuten scheint. 

7)  Vielleicht  erhalten,  vgl.  Lambec.  comm.  VII,  XX,  p.  114  f. 

8)  Huidas;  Damasc.  vit.  Isid.  42. 

9)  Boethius  de  divis.  praef.;  Bekker  Anecd.  1374;  Jtepl  tpMzoz  toö  £v 
aofjirtoot«})  Etym.  Flor.  v.  'Üxeav6(;  p.  316  Miller. 

10)  Olympiod.  in  Phaed. ;  Syriau.  in  Arist.  metaph.  II  p.  29  b;  Olymp, 
u.  Prokl.  zu  Alkib.  I.;  ein  Kommentar  zum  Staate  ist  zweifelhaft  (Met tau  er 
de  Piatonis  scholiorum  foutibus  p.  38  ff.) 

11)  Olympiod.  a<l  Alcib.  I.;  s.  S.  343  A.  6. 


Der  Dialog  (Plato).  343 

weniger  berühmter  Meister  dieses  Schicksal '),  Sie  wurden  in 
Byzanz  säramthch  verdrängt  durch  Proklos  und  Olynipiodoros. 
Von  Proklos''')  besitzen  wir  noch  Kommentare  zu  Alkibiades  I.''), 
Kratylos*),  Parmenides  ^)  und  Staat ^),  während  die  Erklärungen 
zum  Gorgias,  Phaidon,  Phaidros,  Phileljos,  Sophistes,  Theaitetos 
und  den  Giesetzen  verloren  gingen  '').  Nächst  ihm  war 
Olynipiodoros,  ein  Philosoph,  welcher  in  der  zweiten  Hälfte 

1)  Albinos  Bibl.  Coislin.  p.  598  (vgl.  Lagarde  o6|ji.[i.ixTa  p.  174  ff., 
Freudenthal  hellenistische  Studien  III  243  f.);  Ammonios  zum  Staat 
(Apostol.  proverb.  17,  54);  Demokritos  zum  Phaidou  und  Alkibiades  I.  (von 
Olympiodor  citiert),  Eubulos  zu  Philebos  und  Gorgias  (Porphyr.  Plotin.  20, 
Longin.  fr.  5);  Firmus  Castricius  zum  Parmeuides  (Ijei  Damaskios);  Gajus 
ßiblioth.  Coislin.  p.  598;  Harpokratiou  v.  Argos  in  14  Büchern  Suidas,  vgl. 
Procl.  in  Tim.  93  bc ;  Menaichmos  und  Onosaudros  zum  Staate  Suidas ; 
Philoponos,  Priscianus  und  Tauros  Bibl.  Coislin.  a.  O. ;  Plutarchos  über 
Gorgias  Walz  VII  33,  27;  Themistios  Phot.  bibl.  74  p.  52a  20.  Ob  Plofcinos 
den  „Staat"  erläuterte,  ist  sehr  zweifelhaft  (M  e  1 1  a  u  e  r  a.  O.  p.  38  ff.). 

2)  lieber  die  Abfassungszeit  seiner  Schriften  Freudenthal  Hermes 
16,  214  ff. 

3)  Unvollständig  erhalten;  nachdem  Marsilius  Ficinus  (Prodi  de  anima 
ac  daemone  de  sacrificio  et  magia,  Venedig  1497  u.  ö.)  einige  Auszüge  mit- 
geteilt hatte,  erschien  1503  in  Venedig  eine  lateinische  Uebersetzung ;  griech. 
herausg.  v.  C  r  e  u  z  e  r  initia  philosophiae  et  theologiae  ex  Platonicis  fontibus 
ducta,  Frankfurt  1820  und  Cousin  Prodi  opera  vol.  II.  III. 

4)  Fr,  Boissouade  Scholia  Graeca  in  Platonem  excerpta  ex  Prodi 
scholiis  in  Crat.,  Leipzig  1821  und  Stallbaum  Platt,  opp.   VI. 

5)  In  sieben  Büchern,  deren  letztes  von  Damaskios  verfasst  ist,  hrsg.  v. 
Cousin  vol.  IV. — VI,  (in  den  Indices  ist  die  Eubrik  „interpretes"  zu  be- 
achten) und  Stallbaum,  Leipzig  1840,  vgl.  E.  Heitz  Strassburger  Abhand- 
lungen zur  Philosophie,  Freiburg  1884  S.  1  ff. 

6)  Ursprünglich  vier  Bücher  (Suidas).  Jetzt  sind  nur  mehr  eine  Anzahl 
von  Problemen  erhalten,  gedruckt  hinter  dem  Timaioskommentare  in  den 
beiden  älteren  Ausgaben,  Plat.  opp.  Basel  1534  p.  349  f.,  mit  Plato  von  Joh. 
Valderus  Basel  s.  a.  p.  473  ff.,  vervollständigt  bei  Mai  spicil.  Rom.  8,  664 
(vgl.  Osann  Ztsch.  f.  Alterthumsw,  1842  Sp.  598  ff.).  Ein  Verzeichnis  der 
Kapitel  bei  Kose  Hermes  2,  96  ff,  469,  vgl,  E.  Roh  de  Rhein.  Mus.  32, 
330  ff.  Später  wurden  die  Probleme  mit  Schollen  versehen  (Bandini  catal. 
codd,  Graec.  III  192,  9). 

7)  Gorgias,  in  arabischer  Uebersetzung  Hadschi  Khalfa  V  372;  Phaidon 
vgL  Mettauer  a.  o.  p.  17  f. ;  (vielleicht  Philebos  wegen  Damasc.  vit.  Isid,  42); 
Theaitetos  Marin,  vit.  Procl.  38,  vgl.  Procl.  in  Tim.  p.  78c.  248  d;  Gesetze 
s.  Mettauer  a.  O,  p.  28;  seine  Vorlesungen  über  Phaidros  (ad  Tim.  p.  329d 
ev  xalc  sk  ^alopov  aovooaL«i^)  und  Sophistes  (ad  Farmen.  V  p.  122.  279 
wurden  vielleicht  nicht  veröffentlicht. 


344  Neuntes  Kapitel. 

des  sechsten  Jahrhunderts  zugleich  mit  den  platonischen  und] 
aristotelischen  Schriften  sich  beschäftigte,  beliebt.  Das  über- 
lieferte sind  jedoch  nicht  wirkliche  Schriften,  sondern  nach- 
lässig angefertigte  Schülerhefte  ^),  wodurch  es  gekommen  ist, 
dass  der  Kommentar  zum  Phaidon  in  mehreren  abweichenden 
Fassungen  vorliegt^).  Ausserdem  gibt  es  Kommentare  zu 
Alkibiades  I.  %  womit  die  Biographie  Piatos  verbunden  ist, 
Gorgias  *)  und  Philebos  ^) ;  nur  die  Erklärung  des  Staates  ist 
untergegangen ''). 

Nächst  dem  Phaidon  ^)  gab  es  zu  keiner  Schrift  zahlreichere 
Kommentare    als    zum    Timaios ,    dessen    Rätselhaftigkeit    diel 
Philosophen  reizte^).     Von  den  älteren  Versuchen  ist  bloss- der 
Kommentar  des  Arztes  Galenos  zum  Teil  gerettet^);  aber  der! 
erhaltene     unvollständige    Kommentar   des   Proklos  ^^)    nennt j 
eine   Menge    von    Vorgängern,    zu    denen    noch    manche    aus! 
anderen    Quellen    nachzutragen    sind.      Proklos    schöpfte    vor- 
züglich aus  dem  umfänglichen  Kommentare  des  Porphyrios  ^^), 
welcher  unterging. 

Ausser  den  eigentlichen  Philosophen  bemühten  sich  einzelne! 
philosophisch  gebildete  Rhetoren  um  die  Erklärung  Piatos,] 
wenigstens  schrieb  Maxim  OS  von  Tyros  über  den  Kraty  los  ^^)i 


1)  Freudenthal  Hermes  16,209  f.;  Skowronski  Comm.  in  hon.] 
Reiffersch.  p.  64  ff. 

2)  Hrsg.  V,  Finckh,  Heilbronn  1877,  vgl.  Mettauer  a.  O.  S.  17  f. 

3)  Von  Creuzer  mit  Proklos  herausgegeben  Bd.  II.  (s.  S.  343  A.  3) ;  der 
Kommentar  ist  in  npa^etc  (Vorlesungen)  eingeteilt. 

4)  Herausg.  v.  Alb.  Jahn   Jahns  Archiv  XIV.  (1848)  p.   109  flF.  236 
254  fif.  517  ff. 

6)  Bloss  eine  Einleitung,  hrsg.  v.  Stallbaum  zum  Philebos. 

6)  Apostol.  proverb.  17,  54. 

7)  Paulin.  Nolan.  poema  ultimum  V,  35  ff. 

8)  Galen,  de  plac.  Hipp,  et  Plat.  p.  686  M.,  IV  p.  758  K. 

9)  Fragments  du  commentaire  de  Galien  sur  le  Tim^e  de  Piaton,  pat 
Daremberg,  Paris  1848. 

10)  Mit  Phito  Basel  1634  und  1556  veröffentlicht,  dann  von  Chr.  Schneider] 
Breslau  1847,  vgl.  Jules  Simon  du  commentaire  de  Proclus  sur  le  Timöej 
de  Piaton,  Paris   1839. 

11)  Ad.  Schäfers  de  Porphyrii  philos.  in  Piatonis  dialogum  quiJ 
Timaeus  inscribitur  commentiirio,  Bonn  1868  und  über  ein  Fragment  aus^ 
dem  Commentar  des  Porphyrius  zu  Piatos  Timaeus  I.  Sigmaringen  1884. 

12)  Fabriciua-Harles  IH  77  f. 


Der  Dialog  (Plato).  345 

und  der  Grammatiker  Zotikos,  ein  Schüler  des  Plotinos,  fertigte 
eine  metrische  Paraphrase  des  Kritias  an  ^). 

Die  Erklärungsschriften  erstreckten  sich  sogar  auf  einzelne 
Tunkte  platonischer  Dialoge^).  Dem  elementaren  Unterrichte 
dagegen  waren  einleitende  Schriften  bestimmt,  welche  zunächst 
die  mathematischen  Bemerkungen  Piatos,  weil  dieselben  Fach- 
kenntnisse voraussetzten,  erläuterten.  Eine  solche  Schrift  liegt  von 
Theon  von  Smyrna  vor^);  schon  früher  hatten  Adrastos 
und  Theodoros  von  Soloi  denselben  Gegenstand  bearbeitet  ^). 
Erst  sehr  spät  entstanden  populäre  Einleitungen  in  das  Flato- 
^tudium  überhaupt ,  von  welchen  die  des  Ol  y  m p  i  o  d  o  r  o s 
bereits  bei  den  Biographien  zur  Sprache  kam.  Nur  philosophisch 
und  biographischer  Notizen  entbehrend  ist  die  in  einem  schlechten 
Auszuge  erhaltene  st-^aYtoYT]  des  Platonikers  Albinos-^),  welche 
über  die  Gattungen  der  Dialoge  handelt  und  Ratschläge  gibt, 
in  welcher  Ordnung  man  die  Lektüre  einrichten  soll ;  auf  das- 
selbe Buch  Tispl  Twv  nXdTwvi  apsoxövTwv  geht  wahrsclieinUch  ein 
Abriss  der  platonischen  Philosophie  zurück,  welchen  die  Hand- 
schriften Alkinoos  zuteilen^).  Die  Byzantiner  haben  mit  Aus 
nähme  von  Michael  Psellos  für  die  Erklärung  so  gut  wie  nichts 
geleistet ''). 

Vom  rhetorischen  Standpunkte   besprach   ausser  Dionysios 
der  einzige  Metrophanes  Piatos  Schriften  ^).     Weil  der  Philosoph 


1)  Porphyr,  vit.  Plot.  7. 

2)  Galenos  nepl  tcüv  ev  ^tX-fißc})  HEtaßäaetov ,  Dionys.  v.  Halikarnass 
rtEpl  XMV  £v  x-fj  riXdcxcuvoc  TioXttöia  [xoua'.v.üic  slpfjjxsvcuv,  Lnperkos  nspl  toö  ttapa 
flXaxtüvt  ocXExxpuovoc,  Michael  Psello.s  Fabr.-Harles  X  p.  68  f, 

3)  IIspl  Tcöv  v.a.zä  zb  iia^-q^axiv-ov  )(pYjai|j.cov  sie  tyjv  IlXaxcovoc  avaYVwoiv, 
zAierst  von  Bullialdus  (Paris  1644)  teilweise  herausgegeben,  vollständig  von 
Ed.  Hiller,  Leipzig  1878. 

4)  Plut.  defect.  orac.  32. 

5;  E.  Alberti  Khein.  Mus.  13,  76  ff. 

6)  Freudenthal  hellenistische  Studien  Heft  III.;  der  sogenannte  Al- 
kinoos, welchen  Fabricius  in  der  bibl.  Gr.  11  44  f.  zuerst  herausgab,  ist  am 
Ende  des  Heftes  nach  der  Anweisung  von  E.  Hiller  Hermes  10,  323  ff. 
kritisch  bearbeitet.  Der  Titel  lautet  in  den  Handschriften  otBaay.aX:xö<;  twv 
llXätcuvo«;  SoYfi-atcuv. 

7)  Manche  Kleinigkeit  steckt  in  Handschriften,  z.  B.  irpotEXe'-a  a6fj.fi.txxa 
Et':  tov  llXäxiuva  Codex  Monac.  Graec.   113. 

8)  riepl  ^apaxffipU)V  ÜXdxwvo?  SsvocpAvxoi;  Ncxooxpaxou  4>'.Xooxpaxou 
Sluidas. 


346  Neuntes  Kapitel. 

unter  die  Autoritäten  der  attischen  Sprache  aufgenommen  wa 
wurde  er  in  den  Wörterbüchern  der  Atticisten  berücksichtig 
Ausserdem  entstanden  mehrere  Glossare');  während  die 
beiten  des  Harpokration,  Clemens  und  Boethos  untergingen 
ist  ein  dem  Römer  Gentianus  gewidmetes  Glossar  des  TimaioF 
erhalten^),  leider  aber  fast  von  jeglicher  alter  Gelehrsamkeit 
entblösst  und  überdies  durch  unplatonische  Glossen  vermehrt, 
dazu  kommt  AiSdjjl'^o  ;c£pl  twv  a7copoo[isvwy  jcapa  IlXatwvi  X^^swv*). 
Aus  den  philosophischen  Kommentaren  und  den  Plato- 
glossaren,  sowie  den  atticistischon  Wörterbüchern,  flössen  die 
Schollen.  Was  der  Anhang  von  K.  Fr.  Hermanns  Aus- 
gabe enthält,  ist  aus  Siebenkees  (Anecdota  Graeca,  Nürnberg 
1798),  Ruhnken  (Scholia  in  Platonem,  Leiden  1800),  Gaisford 
(catalogus  sive  notitia  Mss.  Clarkii,  Oxford  1812  und  lectiones_ 
Platonicae  e  membran.  Bodlejan.  Oxford  1820)  und  ßekl 
(in  der  Platoausgabe ,  Berhn  1823  S,  311  fl'.)  kompiliert; 
diesem  Apparate,  in  welchem  manches  ältere  übergangen  ist] 
ist  später  einiges  neue  gekommen  ^).  Das  Handschriften- V<^ 
hältnis  ist  aber  vorläufig  nicht  übersehbar,  ausser  dass  Schal 
den  Clarkianus,  dessen  Schollen  sich  von  den  übrigen  absondei 
und  eine  wichtige  Handschrift  von  Venedig  genau  beschriel 
haf).  Obgleich  eine  kritische  Ausgabe  noch  nicht  erschient 
ist,  wurden  in  den  letzten  Jahren  die  Quellen  der  Schollen,  vi 
allem  die  lexikalischen,  wiederholt  untersucht^). 


1)  Mettauer  de  Piatonis  scholiorum  foutibus  p.  62  ff. 

2)  Suidas   v.    'ApTioxpaxicuv   (wahrscheinlich   dem  Atticisten    zuzuteiU 
Phot.  und  Suid.  v.  Cä^vj?,  "Hpac  SeojJLOuc»  naXtfißoXog,  vgl.  Cedren.  comj 
hJstor.  p.  19  c. 

3)  Herausg.  und  erklärt  von  Ruhnken,  Leiden  1764.  *  1789  (neu  Leipzig 
1828.  1833),  dann  in  der  Züricher  und  Leipziger  Platoausgabe. 

4)  Heraufig.  von  E.  Miller,  melanges  de  litterature  grecque  p.  399  ft'., 
der  Auszug  eines  Abschnittes    von  Didymos'   Werk  nepl  &rtopoo|j.evifj(;  Xe^etuc 

5)  Bei  Joh.  Friedr.  Fischer  in  seineu  Ausgaben  und  Creuzer,  Plotiii. 
de  pulchritudine  1811  add.  p.  530  fl. 

6)  Bei   KSchneider,  Breslau  1841  und  Stallbaum  Bd.  XII.  herausgegeben. 

7)  Novae  commentationes  Platonicae  p.  121  fl".  vgl.  Philologus  34,  375  ; 
über  den  Platocodex  der  Markusbibliothek  in  Venedig,  Leipzig  1877. 

8)  N  a  b  e  r  Photi  lexicon  proll.  p.  64 — 71;  Thom.  Met  tau  er  de  Piatonis 
scholiorum  l'ontibus,  Zürich  1880  (p.  64  fl'.  über  die  litorarhistorischen,  welche 
Diogenes  und  Suidas  nahe  stehen,  vgl.  auch  Flach  Hesych.  Miles.  p.  XV  ff",); 
Friedr.  Gieeing  de  scholiis  Platouicls  quaestt.  sei.,  Leipzig  1883;    Fred.  H. 


Der  Dialog  (Plato).  347 

Es  ist  ein  bedenkliches  Zeichen,  dass  man  die  Grammatiker 
auch  mit  dem  Texte  des  Plato  besch<äftigt  findet ') ;  sie  hinter- 
Hessen  in  den  kritischen  Zeichen  äusserliche  Spuren  ihrer 
Thätigkeit^).  Wie  bei  Demosthenes  und  Aischines,  gab  es  auch 
von  Plato  Attikoshandschriften  ■•^).  Unsere  Codices  gehen  auf 
eine  Recension  zurück,  die  wir  nach  der  tetralogischen  Ordnung 
der  Dialoge  bestimmen  können;  es  ist  das  bereits  oben  be- 
sprochene Corpus  des  Thrasyllos  ^).  Das  Bemühen  der  Heraus- 
geber muss  also  in  erster  Lhiie  darauf  gorichtet  sein,  den 
Archetypus  derselben  herzAistellen. 

Da  Plato  viel  gelesen  wurde,  sind  zahlreiche  und  schöne 
Handschriften  auf  uns  gekommen^);  vor  Einführung  der 
grossen  Codices  war  es  freilich  selten,  dass  ein  Privatmann  alle 
Schriften  besass  ^).    Die  ersten  sechs  Tetralogien  sind  durch  gute 

Wolf  observationes  ad  scholia  in  Platonem,  Utrecht  1884  (speziell  über  die 
Diogeuianosglossen) ;  Leop.  C  o  h  u  Untersuchungen  über  die  Quellen  der 
Flato-Schölien,  Jahrbb.  Suppl.  13,  773  flf.  Vgl.  noch  Fr.  Elias  Wolf  obser- 
vationes  ad  scholia  in  Platonem,  Utrecht  1884. 

1)  Procl.  in  Tim.  p.  61  f  oiaar-suactoii. 

2)  Schanz  Studien  zur  Geschichte  des  platonischen  Textes  S.  11  f. 
23.  45 ;  novae  commentationes  p.  105  ff. 

3)  Theoretisch  Diog.  39.  Reiffer  sehe  id  Rhein.  Mus.  23,  131  f.,  in 
Handschriften  Schanz  Studien  zur  Gesch.  des  Platotextes  S.  22. 

4)  Galen,  in  Tim.  p.  12,  vgl.  Schueidewiu  Philol.  3,  127;  Schanz 
Hermes  16,  312. 

5)  Dieses  Gebiet  ist  von  Martin  Schanz  aufgearbeitet,  vgl.  novae 
commentationes  Platonicae,  Würzburg  1871,  Studien  zur  Geschichte  des 
platonischen  Textes  Würzb.  ^874,  über  den  Platocodex  der  Markusbibliothek 
in  Venedig  Append.  Class.  4  Nr.  1,  d.  Archetypus  der  2.  Handschriftenfamilie, 
Leipzig  1877;  Ausgabe  des  Enthydemos  S.  V  ff.;  Jahrbb.  f.  Phil.  115,  485  ff. 
(zum  Timaios),  488  f.  (cod.  Paris.  1808).  117,  748  ff.;  Philol.  35,  368  f. 
(J43  ff.  38,  359  ff.;  Hermes  11,404  ff.  12,  173  ff.  (zum  Staat);  Rhein.  Mus. 
:?2,  483  ff.  (cod.  Coisl.  155  F).  33,  303  ff.  (cod.  Paris.  1807).  614  f.  34,  132  ff 
:cod.  Escur.  Y  I  13).  39,  132  ff.;  Albr.  Jordan  de  codicum  Platonicorum 
auctoritate,  Jahrbb.  Suppl.  7,  607  ff.  und  Hermes  12,  161  ff.  13,  467  ff.  und 
Heller  philol.  Wochenschrift  1881  Sp.  65  ff.  97  ff",  modifizieren  seinen  Hand- 
schriftenstammbaum; ablehnend  Wohlrab  Jahrbb.  f.  Philol.  113,  117  ff. 
Ueber  eine  Lobkowitzer  Handschrift  J.  Kräl  Listy  filologicke  11,  32  ff.,  über 
die  Tübinger  Teuf  fei  Rhein.  Mus.  29,  175  ff.,  von  einem  codex  Malatest. 
Campbell    Journal    of  philology  11,  195  ff. 

6)  Index  philos.  acad.  19,  15.  Der  Komikerspott  l6-(oiaiM  'EpfiöScopo?  ejatco- 
psusmi  (Cic.  ad.  Att.  13,  21,  4.  Zenob.  6,6.  Suid.  v.  Xo-ptatv,  vgl.  Philodem, 
rhet.  6,  6  ff.)  zeigt,  dass  Hermodoros  mit  den  Schriften  seines  Lehrers 
Handel  trieb. 


348  Neuntes  Kapitel. 

Handschriften  erhalten,  unter  denen  der  aus  Patmos  nacli 
England  gebrachte  Clarkianus  B  ^),  im  Jahre  896  für  den  Diakon 
Arethas  geschrieben,  den  grössten  Wert  besitzt;  bei  den  übrigt 
Dialogen  sind  der  Parisinus  A  und  Venetus  11  verhältnismässig 
am  wichtigsten.  KürzHch  wurde  unter  den  Papyri  von  Fajum 
ein  aus  dem  zweiten  Jahrhundert  stammendes  Fragment  des 
,,Gorgias"  gefunden.  Die  Ueberheferung  ist  nicht  sonderlich 
gut;  dem  Verständnisse  wurde  gerne  durch  Interpolationen 
nachgeholfen,  auf  deren  Spur  häufig  alte  Citate  führen  *). 

Wenn  auch  im  Abendlande  Piatos  Lehren  während  des 
Mittelalters  nur  durch  jene  Uebersetzung  des  Chalcidius,  sowie 
durch  Angaben  Ciceros  und  der  Kirchenväter  bekannt  waren, 
wäre  es  doch  nicht  unmöglich,  dass  die  Platoniker  der  brit- 
tischen  Inseln  griechische  Handschriften  gekannt  haben  ^) ; 
Petrarca  schwärmte  bekanntlich  für  Plato,  weil  ihm  der  Stil 
der  Aristotelesübersetzungen  missfiel  und  er  zufällig  eine  (ihm 
unverständliche)  Platohandschrift  besass  ^).  Bereits  Leontius 
Pilatus,  der  Lehrer  Boccaccios,  übersetzte  sechzehn  Dialoge ; 
am  meisten  wurde  bald  darauf  durch  den  neuplatonischen 
Mystiker  Gemistos  Plethon  der  Wunsch,  Plato  selbst  kennen  zu 
lernen,  belebt.  Zuerst  übertrug  Chrysoloras  1402  den  „Staat", 
auf  den  mau  besonders  gespannt  war,  ganz  wörtlich;  1423 
brachte  endlich  Aurispa  eine  vollständige  Platohandschrift  nach 
Florenz,  bald  kamen  mehrere  andere  dazu  und  nun  ging  man 
nach  der  Sitte  der  Zeit  an  das  Uebersetzen.  Die  zwei  Brenn- 
punkte des  Platostudiums  waren  die  platonische  Akademie  von 
Florenz  und  die  schola  Platonica  in  Rom.  Hier  Hess  Papst 
Nikolaus  V.  Georgios  von  Trapezunt  die  Gesetze  über- 
tragen; dort  waren  Lionardo  Bruni  und  Palla  de'  Strozzi 
aus  eigenem  Antriebe  mit  dem  Uebersetzen  beschäftigt.  Die 
Mediceer  selbst  beauftragten  Marsilius  Ficinus  mit  der  Ueber- 
tragung  aller  Dialoge  ;  dieses  Werk  erschien  1483 — 84  in  Florenz 
und  errang  so  grossen  Beifall,  dass  es  oft  (seit  1532  nach  den 
Ausgaben  revidiert)  aufgelegt  wurde. 

1)  Genau  beschrieben  bei  Schanz  novae  commentationes  p.  105  ß. 

2)  Schanz  novae  commentatioues  p.  68  ff. ;  Studien  S.  30  ff. 

3)  Vgl.  Schaarschmidt  Johannes  Sarisberiensis  S.  114.  Freilicli 
kennt  z.  B.  Johannes  Scotus  Erigena  in  der  Schrift  de  divisione  naturae  nur 
Chalcidius. 

4)  Voigt  Wiederbelebung  des  klassischen  Alterthnms  I '  80  ff. 


Der  Dialog  (Plato).  349 

Unter  deip  Protektorate  der  Mediceer  entstand  auch  die 
erste  Papst  Leo  X.  gewidmete  Platoaiisgabe,  welche  der  Grieche 
Markos  Musuros  1513  in  der  Officin  von  Aldus  besorgte.  Plato 
war  vielleicht  der  erste  griechische  Schriftsteller,  zu  dessen 
Werken  ein  grösserer  handschriftlicher  Apparat  beigebracht 
wurde;  Simon  Grynaeus  benützte  nämlich  für  die  Basler  Aus- 
gabe von  1534  englische  Handschriften,  Marcus  Hopper  nicht 
viel  später  (Basel  1556)  itahenische  Codices.  Einen  bedeutenden 
Fortschritt  bezeichnete  die  Uebersetzung  von  Janus  Cornarius, 
welche  von  Eclogae  in  dialogos  Piatonis  (Frankfurt  1561)  be- 
gleitet war  ^).  Von  der  Ausgabe  des  Henricus  Stephanus  (Paris 
1578,  3  Bde.  mit  der  Uebersetzung  des  J.  Serranus,  Lyon  1590, 
Frankfurt  1602)  ist  die  noch  immer  übliche  Citierweise  herge- 
nommen ;  er  leistete  wenig  und  zog  sich  den  gerechtfertigten 
Vorwurf  des  Plagiates  zu  ^).  Aus  der  Oede  der  folgenden  Zeit 
ist  höchstens  des  Literarhistorikers  Leo  Allatius  Schrift  de 
scriptis  Piatonis  dialogi  (Paris  1637)  zu  erwähnen.  Erst  mit 
der  Zweibrückner  Ausgabe  (1781 — 87,  12  Bde.)  beginnt  eine 
neue  Periode  des  Platostudiums ;  ihr  folgten  rasch  kritische, 
handschrifthche  und  erklärende  Beiträge.  J.  Bekker  nützte  in 
der  kritischen  Ausgabe  Berlin  1816 — 23  (8  Bde.,  cum  notis 
variorum  London  1826,  11  Bde.)  die  Handschriften  zuerst 
systematisch  aus;  Gottfried  Stallbaum  (Leipzig  1821 — 25,  12  Bde., 
Gotha-Leipzig  1827  ff.  10  Bde.),  Friedrich  Ast  (Leipzig  1819—32, 
11  Bde.),  die  „Züricher"  Baiter,  Orelli  und  A.W.  Winckelmann 
(Leipzig  1839 — 42,  2  Bde.  in  4.)  und  die  Didotausgabe  von 
R.  B.  Hirschig  u.  C.  E.  Schneider  (Paris  1846—56)  führten 
keinen  prinzipiellen  Fortschritt  herbei.  Auf  diese  Leistungen 
stützte  sich  die  Textausgabe  von  K.  Fr.  Hermann  (Leipzig 
1851 — 53,  6  Bde.,  2.  A.  von  Wohlrab  begonnen).  Die  wissen- 
schaftHche  Prüfung  und  Sonderung  der  Handschriften  wurde 
zuerst  von  David  Peipers  (quaestiones  criticae  de  Piatonis  legibus, 
Berlin  1858,  Diss.  v.  Göttingen)  angeregt ;  die  Ausführung  ver- 
dankt man  Martin  Schanz,  der  die  Handschriften  planmässig 
durchmusterte  und   in  Klassen   schied;    von    seiner    kritischen 


1)  Seine  Konjekturen    stellte   J.  Fr.  Fischer    (Leipzig  1771)    zusammen. 

2)  C.  E.  Chr.  Schneider  de  Piatonis  editione  Stephaniana,  ind.  lect. 
hib.  Breslau  1830  und  quaestt.  de  H.  Stephan!  recensioue  legum  Piaton.  I. 
lud.  lect.  hib.   1847  II.  Progr.  v.   1847. 


350  Neuntes  Kapitel. 

Ausgabe ,    deren    Prolegomena    wichtige    orthographische   ui 
grammatische  Untersuchungen    enthalten,    sind   bisher  (Leipzi 
1875 ff.)   erschienen  Vol.  I.   Euthyphro  Apologia  Crito  Fhaed< 
II.  1.  Cratylus,   V.  1.  Symposion,  2.  Ehaedrus,  VI.  1.  Alcibiad« 

1.  II.  Amatores  Hipparchus  Theages,  2.  Charmides  Lach< 
Lysis,  VII.  Euthydemus  Protagoras,  VIII.  Gorgias  Meno,  E 
Hippias  major  und  minor  lo  Menexenus  Clitopho ,  X] 
Leges  Epinomis.  Gleichzeitig  gibt  Schanz  eine  Textausgal 
heraus. 

Die  Erklärung  der  platonischen  Schriften  war  früher  iij 
Neuplatonismus     befangen.      In    England    wurde    zuerst    eip 
sprachliche    Interpretation  versucht^).      Dann    fasste    Friedrich 
August   Wolf  mit  Eifer   dieses   Ziel    ins   Auge   und    muntert 
Friedrich  Heindorf  zu   einer   erklärenden  Ausgabe    auf;    diesejl 
bearbeitete    zwölf   Dialoge    (Berlin   1802—10,   4  Bde.,    2.  Auf 
besorgt  von  Phil.  Buttmann  1825 — 29),  doch  nicht  zur  Zufriedei 
heit  Wolfs,  weshalb  dieser  Proben  seines  Planes  in  „dialogoruiij 
delectus  I.   Euthyphro,     apologia    Soor.,   Crito"    (Berhn    181' 
und   ,,über  den  Eingang   zu  Piatons  Phaedon"    (BerUn  1811 
veröffentlichte.     Aus  der    grammatischen  Interpretation    könnt 
erst   die  wahre   philosophische  entstehen ;    schon    1804  begann 
F.  Schleiermachers  Uebersetzung  zu  erscheinen  (Berlin  1804 — 1( 

2.  Aufl.  1817—28,  3  Thle.  in  6  ßdn.;  die  Gesetze,  Epinomi 
Timaios  und  Kritias  fehlen) ,  welche  neues  Interesse  für  di^ 
platonische  Philosophie  erweckte;  einen  Fortschritt  bezeichne 
Hieronymus  Müllers  Uebersetzung,  von  Karl  Steinhart,  mit  Eil 
leitungen  ausgestattet  (Leipzig  1850 — 73,  9  Bde.).  Die  philc 
sopliische  Erklärung  wurde  durch  den  Grundsatz  von  Bonita 
dass  jeder  Dialog  für   sich   ohne    vorgefasste  Meinung   erkläi 


1)  Nath.  Forster,  Platouis  dialogi  V :  amatores  Euthyphro  apologia  Socratis 
Crito  Phaedo,  Oxlord  1745  und  ö.,  dann  Joh.  Friedr.  Fischer,  der  1770—76 
elf  Dialoge  herausgab. 

2)  Ohne  die  lateinische  Uebersetzung  in  den  kleinen  Schriften  2,  962  fl. 
Schon  früher  war  Piatos  Gastmahl,  ein  Dialog,  Leipzig  1782  (^  1828)  erschienen. 
Etwa  gleichzeitig  gab  Daniel  Wyttenbach  den  Phaedo  (Leiden  1810)  heraus, 
vgl.  dazu  Philomathia  s.  miscellanea  doctrinae,  Amsterdam  1817.  III.  Auch 
die  Monographie  „pro.soiK)graphia  Platouica"  (über  die  bei  Plato  auftretenden 
Personen)  von  Groen  van  Prinsterer  (Leiden  1823)  ist  nicht  zu  übergehen, 
während  das  umfassende  Werk  von  Ph.  van  Heusde  „iuitia  philoaophiae 
Platonicae"  (Utrecht  1827  ff.  3  Bde.)  weniger  bedeutend  ist. 


I 


Der  Dialog  (Plato).  351 

werden  müsse,  (S.  307)  neu  belebt.  Gottfr.  Stallbaums  Aus- 
gabe (Gotba- Leipzig  1827 ff.)  ist,  zumal  die  meisten  Teile  neu 
l)earbeitet  sind,  noch  immer  die  reichste  Fundgrube  exegetischen 
Stoffes.  Ausserdem  gibt  es  treffliche  Ausgaben  einzelner 
Dialoge,  so:  Piatos  ausgewählte  Schriften  erklärt  von  Christ. 
Cron  und  Deutschle,  neu  von  Wohlrab  und  Hug  (Leipzig 
1S57  ff.  ')  in  5  Teilen,  enthaltend  Apologie,  Kriton,  Gorgias, 
Laches,  Euthyphron,  Protagoras  und  Symposion)  und  ausge- 
wählte Dialoge  erkl.  v.  C.  Schmelzer,  9  Hefte,  Berhn  1882  ff., 
ferner  Symposion  ^)  von  Rettig  (Halle  1875—76,  2  Bde.),  Par- 
menides  von  Stallbaum  (mit  Proklos  Leipzig  1839.  1848),  Prota- 
goras von  Sauppe  (Berhn  1857.  ^1884),  Phaidon  von  W.  Grosse 
(Halle  1828)  und  R.  Archer-Hind  (London  1883),  Theaitetos  by 
Lewis  Campbell,  Oxford  1883,  repubhc  book  L  IL  by  G.  H. 
Wells,  London  1882,  book  L  by  E.  C.  Hardy,  London  1883. 
Trotz  der  Massenhaftigkeit  der  platonischen  Literatur  fehlt  ein 
brauchbares  Lexicon ;  bescheidenen  Ansprüchen  genügt  jedoch 
G.  A.  Asts  Lexicon  Platonicum  (Leipzig  1835—  38,  3  Bde.). 


1)  Vgl.  dazu  Cron  Jahrbb.  Suppl.  6,  71  ff. 

2)  Für  Vorlesungen    von  O.  Jahn-Usener,  Bonn  1864.  '■*  1875  1)earbeitet. 


Zehntes   Kapitel. 
Die  kunstlose  Geschichtsschreibung. 

Städtechroniken;   Hippeus  von  Rhegion  ;    Antiochos  von  Syrakus;    Xantho 

Genealogien  (Pherekydes) ;    Charon  von  Lampsakos,  Hellanikos,    Skamon  ul 

Damastes;  geographische  Werke  (Skylax). 


Gerh.   Joh.    Vossins  de   historicis   Graecis  1.  III  (1623),  neu  bearbeit 
von  Anton  Westerraann,  Leipzig  1838;  Friedr.  Creuzer,  die  historische  Kui 
der   Griechen    in    ihrer    Entstehung    und   Fortbildung,    Leipzig    1803     2, 
Darmstadt  1846   (=  Deutsche  Schriften  III.);   Historicorum    Graecorum  an^ 
quissimornm  fragmenta,  Hecataei  historia,  itemque  Charouis  et  Xanthi  omi 
ed.   coli.   Fr.  Creuzer,    Heidelberg  1806;    Fragmenta  historicorum    Graecor 
ed.  Car.  Müller,  Paris  1841  ff.  5  Bde.  (für  diese  Periode  kommen  der  I. 
und  IV.  Band  in  Frage),  Nachträge  von  Aug.  Nau  c  k  Philol.  5,  675  flf.  S  tiehl 
Philol.   8,  690  flf.    9,  462  ff.    Göbel   Jahrbb.    f.  Philol.   93,  162  ff.   E.  Hei] 
additamenta    ad    frg.  bist.    Gr.,  Strassburg  1871;    Alfr.    v.   Gutschmid 
rerum  Aegytiacarum   scriptoribus  Graecis  ante  Alexandrum  Magnum,   Phil 
10,  622  ff.  636  ff.  712  ff. 

Während  die  literarischen  Produkte,  die  bisher  besprochel 
worden  sind,  mit  der  höheren  Bildung  der  Nation  im  engsten 
Zusammenhange  standen  und  die  Lektüre  aller  Gebildeten 
abgaben ,  entstanden  die  Schriften ,  zu  denen  wir  uns  jetzt 
wenden,  abseits  von  dem  öffentlichen  Leben  und  waren  für 
einen  auserwählten  Kreis  von  Lesern ,  man  -möchte  sagen ,  für 
Gelehrte  bestimmt.  Da  deren  Interesse  zunächst  der  Sache  galt 
bHeb  die  Form  dieser  Literaturzweige  so  lange  von  den  meisten 
vernachlässigt,  bis  die  Rhetorik  auch  sie  in  ihre  Kreise  zog. 
Die  Form  entsprach  freilich  dem  Inhalte,  denn  weder  die 
Chroniken  einzelner  Städte  und  Völker,  denen  Listen  von 
Königen,  Priestern,  Jahresbeamten  oder  olympischen  Siegern 
zu  Grunde  lagen,  *)  noch  die  Stammbäume  und  genealogischen 


1)  Dionys.  jud.  de  Thucyd.  9,  vgl.  Thucyd.  6,  20,  2, 


I 


Die  kunstlose  Gesdiicbtssclireihung.  353 

Sagen  der  edlen  Geschlechter  forderten  mehr  als  schlichte  klare 
Erzählung.  ^) 

Um  die  alten  Chroniken  bekümmerten  sich  die  Späteren 
wenig,  weil  sie  eine  anziehendere  Lektüre  vorzogen;  als  eine 
eigene  Klasse  heben  sich  die  sogenannten  wpoi  ab,  welche 
bei  den  Joniern  und  Böotiern  nachzuweisen  sind  und  Jahr- 
bücher einzelner  Städte  vorstellten/'')  Hingegen  hiess  des 
Deinarchos  kurze  Geschichte  von  Delos  und  Leros  AYjXtaxöc;^) 
ehie  Cbronik  von  Naxos  war  jonisch  geschrieben  und  wurde 
bald  Philetas  oder  Philteas  bald  Kalhnos  beigelegt.  *)  Die  Athener 
gelangten  seltsamer  Weise,  so  lange  sie  einen  unabhängigen 
Staat  bildeten,  zu  keiner  einzigen  Stadtgeschichte ^)  und  von 
den  Fremden  füllte  allein  Hellanikos  von  Mytileuo  diese 
Lücke  aus. 

Regeres  Leben  herrschte  auf  dem  Gebiete  der  Geschichts- 
schreibung in  den  westlichen  Kolonien.  Zuerst  schrieb  H  ip p  e  u  s 
aus   Rhegion,    der   Stadt,    welche  Sicihen    und    Unteritalien 


1)  Dionys.  jud.  de  Thucyd.  23,  vgl.  5.  6  extr.  de  vi  Dem,  2. 

2)  E.  Stiehle  Philol.  8,  394  ff.;  'iipoi  von  Ephesoa  verfasste  Kreo- 
phylos  Athen.  8,  361  c  (er  schrieb,  wie  es  scheint  in  attischer  Mundart),  von 
Lampsakos  Charon  (S.  360),  von  Samos  Aethlios  (die  Echtheit  vvurde  angezweifelt 
Etym.  M.  601,  25.  Cleui.  Alex,  protr.  4),  Alexis  (in  attischer  Mundart 
Athen.  13,  572  f  ß'.  12,  540  d  y'),  Potamon  (Suidas),  von  Kolophon  Hero- 
pythos  (Athen.  7,  297  e,  nach  Schneider  ad  Nicand.  Alex.  p.  82  identisch  mit 
dem  von  Plut.  Cim.  9  erwähnten),  von  Theben  Aristophaues  (jünger  als 
Herodot  Plut.  malign.  Herod.  31;  Steph.  B.  'Avxiv.ovSuXEl?;  Müller  fragm. 
liistoric,  IV  337  ff.  Die  Behauptung,  dass  er  attisch  schrieb,  beruht  auf 
lulscher  Interpunktion  von  Steph.  Byz.  Xaiptuvsta).  'öpoJv  ist  Athen.  11, 
470  d  beizubehalten  (falsch  Müller  a.  O.  IV  515)  und  für  wpcuv  Athen.  4, 
175  e,  Diog.  L,  1,  119.  Schol.  Eur.  Hec.  915.  Pophyr.  vit.  Pyth.  3  zu 
schreiben. 

3)  Dionys.  Dinarcb.  1  aus  Demetr.  Magn.  und  c.  11  am  Ende. 

4)  Etym.  Magn.  795,  14.  Tzetz.  Lycophr.  633,  Eustath.  ad  Odyss.  p. 
1885,  51, 

5)  Der  Verfasser  der  ältesten  'Ax^k  war  Kleidemos  oder  Kleitodemos 
(Paus,  10,  15,  5,  vgl.  Plut,  glor,  Ath.  1),  welcher  keineswegs,  wie  C.  Müller 
(fragm.  bist.  I  p.  359  ff.  LXXXII  ff.)  wegen  fr.  15  meinte,  ein  Augenzeuge 
der  sicilischen  Expedition  war;  denn  er  setzte  nicht  nur  fr.  8  das  Bestehen 
der  Symmorien  voraus,  sondern  sprach  fr.  18  von  der  Sitte,  dass  die  Athener 
auf  der  Pnyx  zusammenkamen,  wie  von  etwas  vergangenem.  Von  dem 
Naturforscher,  dessen  Name  bei  Aristoteles  und  Theophrast  vorkommt  (fr. 
26 — 30)  ist  er  gewiss  verschieden. 

S  i  1 1 1 ,  (ieschiclite  der  griechisclieii  Literatur.  II.  23 


354 


Zehntes  Kapitel. 


verband,  eine  Geschichte  beider  Länder;  von  seiner  sicilischei 
Chronik,  welche  fünf  Bücher  umfasste,  fertigte  Myes  einen  Aus| 
zug.  ^)  Von  Hippeus  ist  ein  Physiker  derselben  Stadt  zi 
unterscheiden,  dessen  Name  verschieden  (z,  B.  Hippys)  g€ 
schrieben  wird.^ 

Auf  den    wenig   beachteten    Hippeus    folgte    Antioc  hol 
von  Syrakus,   welcher   etwa  um  das  Jahr  420  eine  Chronil 
Siciliens  in  jonischem  Dialekt  schrieb.  ^)     Er    begann   mit  der 
Sikanerkönig  Kokalos   und  führte  die  Geschichte  der  Insel  bil 
Ol.  89,1  (424),  wo  durch  die  Verbrüderung  der  sicilischen  Stadt 
die  Verhältnisse  für  lange  gefestigt  schienen,  herab,*)  wobei  di| 
Zeitrechnung  nach  der  Gründung  von  Syrakus  geführt  wurde 
Von   der    zweiten  Schrift   des  Antiochos  —  er  behandelte  wi^ 
Hippeus  auch  die  italische  Geschichte  —  liegt  noch  der  Anfang 
vor:  „Antiochos,  Sohn  des  Xenophanes,  verfasste  dieses  Buc 
über  Italien  nach  den  alten  Überlieferungen  so  getreu  und  vei 
lässig  als  möglich"^);  in  dieser  Schrift  beschränkte  er  sich  ai 
die  Gründungsgeschichten  der  itaHschen  Städte,  unter  weicht 
auch  Rom  vorkam.     Der  jonische  Dialekt  beider  Schriften  würd^ 
zu  keiner  Bemerkung  Anlass  geben,  wenn  Antiochos  ein  Joni( 
gewesen  wäre,    die  Alten    wenigstens  nennen  ihn  jedoch  einei 
Syrakusaner    und   so  wählte  Antiochos  jenen  Dialekt,    der    ii 
fünften    Jahrhunderte  für  die    Historiker  beinahe  normal   wai 
damit   sein  Werk    über  Sicilien    hinausdringe.     Er   scheint  dt 
bedeutendste    unter    den    alten    Chronisten    gewesen    zu    seial 
Thukydides  benützte   ihn   daher  allem  Anscheine  nach  für  di| 

1)  Suidas  nennt  die  Titel  xtbtv  'ItaXta?  und  EixeXixAv  ßtßXla  e,  idei 
tisch  mit  -y^povtxa  ev  ßtßXtoic  e'  (irrig  noch  'ApYoXixÄv  y),  and  die  Epitoi 
des  Myes ;  die  Zeitbestimmung  y^T**^"**^  ^'^'  '^"'^  flepaixüiv  dürfte,  wie 
ähulicheu  Fällen  zu  hoch  gegriffen  zu  sein.  Nur  zwei  Fragmente  (Schol 
Eurip.  Med.  10  und  Zenob.  3,  42)  sind  erhalten.  L.  P  r  e  1  1  e  r  vermischt 
Aufsätze  S.  38  A.  66  gibt  bloss  ein  Werk  zu;  U.  v.  Wilamowitz  Herrn« 
19,  442  ff.  verwirft  alles. 

2)  Fragmente    bei  Müller    II  Vi    ff.    (nach     Plutarch    de    orac.    def. 
lebte    er    vor    Phainias    von    Eresos;    fr.  6    scheint    bereits  die  Kenntnis  deil 
Atthis  des  Hellanikos  vorauszusetzen). 

3)  Diouys.  ant.  Rom.   l,  12;  Fragmente  bei  Müller  I  p.  XLV.  p.  181 
(wo Strab.  6,  266  fehlt),  vgl.  Ed.  Wölfflin  Antiochos  von  Syrakus  und  Coelit 
Antipater,  Leipzig  1870. 

4)  Diodor.  12,  71,  2;  Dionys.  a.  O.  navu  äpj^ato«;  ist  also  unrichtig. 
6)  Dionys.  n.  O,  ev  'IxaXia?  otxtoficj). 


Die  kunstlose  Greschielitssohreibung.  355 

sicil  iscbe  Geschichte,  besonders  am  Anfange  des  sechsten  Buches^) ; 
auch  der  Umstand,  dass  man  die  Chronik,  wie  das  Werlc  des 
Herodot  in  neun  Bücher  einteilte,  spricht  vielleicht  für  die  ihr 
gezollte  Achtung,  Demungeachtet  geriet  es  frühzeitig  in  Ver- 
gessenheit. ^) 

Auf  echt  dorischem  Boden  entstanden  sehr  wenige  Orts- 
geschichten; die  Anwendung  des  Lokaldialektes  weist  zwei 
Schriften  dem  klassischen  Zeitalter  zu,  nämHch  des  Epimenides 
Chronik  von  Rhodos^)  und  das  Buch  des  Derkylos  von 
Argos.  *) 

Die  frühzeitige  Entwicklung  der  jouischen  Historiographie 
hat  auch  die  Barbaren  zu  ähnlichen  Versuchen  angeregt.  Die 
Anwohner  des  Mittelmeeres  haben  ohne  Zweifel  alle,  soweit 
ihnen  die  Schrift  bekannt  und  vertraut  war,  eine  einheimische 
Literatur  besessen ,  wenn  auch  durch  die  Gleichgiltigkeit  der 
Griechen  und  Römer  ausser  versprengten  abgerissenen  Notizen 
nichts  von  ihnen  verlautet.  Zumal  bei, den  Völkern  des  west- 
lichen Kleinasiens,  deren  Kultur  der  griechischen  an  Alter 
überlegen  war,  darf  man  ein  gewisses  geistiges  Leben  voraus- 
setzen; bis  auf  wenige  Inschriften  ist  indes  jede  Spur  davon 
verschwunden.  Allein  vermöge  der  Anwendung  der  jonischen 
Mundart^)  dauerte  ein  Denkmal  der  lydischen  Literatur  lange 
fort,  eine  Geschichte  des  lydischen  Reiches,  welche  der  jonisierte 
Lydier  Xanthos  verfasste;^)  er  schrieb  vor  Herodot  unter  der 


1)  Diese  Anuahme,  die  Niebuhr  (vgl.  auch  6 ö  11  er  de  origine  et  situ 
Syracusarum  p.  IX  ff.)  aufgestellt  hatte,  stützte  Wölfflia  (a.  O.)  durch  sprach- 
liche Beobachtungen  (nicht  widerlegt  von  Otto  Böhm  de  Antiocho  Syrac 
quaestt.,  Pr.  v.  Grabow,  Ludwigslust  1875);  die  einzige  jetzt  vorhandene  Be- 
rührung (Thucyd.  6,  I,  4  mit  fr.  1)  widerspricht  nicht.  Hellanikos  kann,  wie 
fr.   15,  97,  104  zeigen,  die  Quelle  des  Thukydides  nicht  sein. 

2)  Wölfflin  a.  O.  S.  20  f.;  über  die  Buchzahl  Diodor.  a.  O.  • 

3)  Diogenes  Laert.   1,  115. 

4)  Etym.  M.  p.  391,  12;  Müller  fragm.  hist.  IV  386  f.  Valckenaer 
ad  Adoniaz.  p.  274  vermutet,  dass  die  argivischen  Glossen  des  Hesychios  aus 
Derkylos  stammen.  Clem.  Alex,  ström.  I  139  S.  ist  zu  wenig  zuverlässig, 
als  dass  man  Derkylos  deswegen  in  die  alexandrinische  Zeit  versetzen  dürfte. 
Was  die  MsYaptxa  des  Dieuchidas  betrifft,  so  wird  von  U.  v.  Wilamowitz 
hom.  Untersuch.  S.  240  nur  so  viel  bewiesen,  dass  er  nicht  nach  Timaios  lebte- 

5)  Frg.  1  und  Hesych.  v.  ßouXsi}'^*')- 

6)  Welchen  Wert  die  Angaben  des  Suidas  über  die  Heimat  haben,  sieht 
man  aus  Strab.  13,  628'    h  AuSoc   heisst   er  auch   Schol.  Vict.  Ü  402.      Vgl. 

23* 


556  Zehntes  Kapitel. 

Regierung  des  ersten  Artaxerxes.  ^)     Artemon  wollte  allerdings 
wissen ,    diese    bis    zum  Sturze   des  Königs   Kroisos    reichende 
Chronik  sei  nicht  echt,    sondern   von  Dionysios  Skytobracliioi 
untergeschoben,  ^)  indes  überführen  sowohl  die  älteren  Zeugnisse 
des  Eratosthenes   und  Mnaseas^)   als   die   ganze  Beschaffenheit 
des  Werkes  Artemon  der  Verläumdung;    oder    hätte  nicht  eil 
Fälscher  gewiss  Herodots  Werk  geplündert,  während  die  Frag-j 
mente  die  geringe  Übereinstimmung   beider   darthun?^)     Ist  es 
ferner  glaublich,  dass  ein  Gelehrter  der  alexandrinischen  Periode 
die   angebliche  Verwandtschaft   der  Lydier   und  Etrusker    siel 
habe    entgehen    lassen    oder    dass    es   ihm    gelungen    sei,    das 
wichtigste  Orakel  in  ursprünglicherer  Fassung  als  Herodotos  eg 
bot  mitzuteilen  ?  ^)     Das  Buch  des  Xanthos  war  nicht  bloss  eine 
schlichte  Chronik,    welche   im  Anschluss  an  die  einheimischenj 
Jahrbücher  der  Könige^)  die  wichtigsten  Hof-  und  Staatsereigniss« 
und  auffallende  Naturerscheinungen  getreulich  verzeichnete,  mar 
konnte  hier    auch   vie].e   volkstümliche  Erzählungen  lesen ,    die 
Xanthos  wahrscheinlich  aus  mündlicher  Überlieferung  schöpfte,] 
z.  B.  vom  guten  König  Alkimos,  vom  gefrässigen  Kambles  oderl 


Meineke     Jahrbb.    f.  Phil,   87,  382.      Die    Fragmente    des     vierbücherigen' 
Werkes    stehen    in    Müllers    fragm.    histor.  I  36  ff.    IV    628    (vgl.    Stiehl 
Philol.  8,  598  f.). 

1)  Frg.  3  bei  Strab.  1,  49,  vgl.  Ephor.  bei  Athen.  12,  615  e.  Dionys. 
Thucyd.  5.  Suidas  verwechselt  den  Endpunkt  des  AVerkes  mit  der  ccx|jlyj  des 
Erzählers  (R  o  h  d  e  Ehein.  Mus.  33,  206  f.) 

2)  Athen.  12,  515d,  mit  Beistimraung  Welckers  kleine  Schriften  I 
481  ff.;  vorsichtiger  C.  Müller  I  pag.  XX,  Creuzer  historische  Kunst 
der  Griechen  S. "  289  ff.  und  Stichle  a.  O.  S.  599.  Göbel  Jahrbb.  f. 
Phil.  93,  165  ff.  will  zwei  Xanthos  unterscheiden.  Die  Citate  bei  Clem. 
Strom.  I  398  P.  (mit  Olympiadenrechnuug)  und  III  516  (ev  xoic  iTzifpafoii.ivQi<: 
Mafixotc,  aus  denen  auch  Diogen.  Laert.  prooem.  2  entlehnt  ist)  beziehen 
sich  nicht  auf  dieses  "Werk. 

3)  Strab.  1,  49.  Athen,  8,  346  e;  Schol.  Eurip.  Andr.  10  (fr,  10  a)  scheint 
anzunehmen,  dasa  das  Buch  von  Euripides  benützt  wurde. 

4)  Hupfeld  exercitatt  Herodot.  spec.  III,  sive  rerum  Lydiac.  p.  I. 
Marburg  1851;  C.  H  achtmann  de  ratione  inter  Xanthi  Auoiaxa  et  Hero- 
doti  Lydiae  historiam,  Progr.  v.  Halle  1869;  Beruh.  Heil  logographis  qiii 
dicuntur  num  Herodotns  usus  esse  videatur,  Marburg  1884  S.  27  ff. 

5)  A.  Schöne  Hermes  9,498. 

6)  Nicol.  Damasc.  fr.  49  ev  8i  toic  ßaoi'Ajio'.^  otix  ava-fpäfe-zat. 


I 


Die  kunstlose  Geschichtsschreibung.  357 

vom  Kraute  des  Lebens.  ^)  Beiderlei  Bestandteile  gingen  in 
-pätere  Geschichtswerke  über,  indem  die  Chronographen  aus 
Xanthos  die  lydische  KönigsHste  schöpften,^)  während  Nikolaos 
von  Damaskos  das  novellistische  und  fabelhafte  nicht  minder 
der  Wiedererzählung  wert  erachtete.^)  Diese  Hochschätzung 
des  Xanthos  erklärt  sich  daraus,  dass  er  der  erste  und  einzige 
Geschichtsschreiber  seines  Volkes  war.  ^) 

Neben  der  Darstellung  der  Geschichte  einer  einzelnen  Stadt 
orgab  sich  den  Forschern  die  umfassendere  Aufgabe,  ^)  die  von 
den  Epikern  gebotenen  oder  im  Volksmunde  fortlebenden  Nach- 
richten über  den  Ursprung  und  Zusammenhang  der  Fatrizier- 
liunilien  von  Hellas  zu  sammeln ,  und  diese  Literaturgattung 
trug  den  Namen  •^s'jb  aXo-^iai.  Sie  ist,  wie  die  prosaischen 
Sagenbücher  in  Nordfrankreich  und  Deutschland,  der  deutlichste 
Ausdruck  der  Erscheinung,  dass  die  Poesie  mit  Literatur  identisch 
zu  sein  aufhörte  und  die  ihr  von  Natur  fremden  Gebiete  der 
Prosa  überliess,  ja  nicht  einmal  in  der  Heldensage  die  Allein- 
herrschaft behaupten  konnte. 

Mögen  auch  die  genealogischen  Schriften  des  Akusilaos 
und  Hekataios,  wie  wir  früher  gesehen  haben,  Zweifel  erwecken, 
so  ist  doch  die  klassische  Zeit  an  derartigen  Werken  nicht  arm 
gewesen.  Der  bedeutendste  und  berühmteste  der  Genealogen 
war  Pherekydes  von  Leros,")  welcher  um  die  Zeit  des 
archidamischen  Krieges^)  in  einem  jonisch  geschriebenen  Werke 


1)  Frg.   10.  12. 

2)  Schubert  Geschichte  der  Könige  von  Lydien,  Breslau  1884  S.  40  f. 

3)  Dieser  benützte  zugleich  Herodot  (Schubert  a.  O.  S.  120  ff.) 

4)  Die  Reimchronik  des  Christodoros  (Schol.  Iliad.  B  461)  ist  eigentlich 
keine  Ausnahme;  die  lydischen  Geschichten  des  Dositheos  und  Xenophilos 
mögen  die  würdigen  Gewährsmänner  (Ps.  Plut.  parall.  30.  Anon.  de  dar. 
mulier.  9)  verantworten. 

5)  Die  zwei  Klassen  scheidet  z.  B.  Isokrates  12,  1. 

6)  Leros  Suidas  III.;  aus  Athen  nach  Eratosthenes  (Diogen.  1,  119). 
Dionys.  antiqu.  Rom.  1,  13.  Strab.  10,  487.  Schol.  II.  B  592.  Choerob.  Bekk. 
An.  III  1196.  Suid.  (vgl.  Rohde  Rhein.  Mus.  33,  210  f.),  wogegen  der  jonische 
Dialekt  (frg.  60.  76.  Apollon.  de  pronom.  p.  82  B)  spricht. 

7)  Er  erwähnte  noch  Hippokrates  (Soran.  vit.  Hippocr.  p.  449,  4  West.). 
Kuyebios  setzt  ihn  vierzig  Jahre  vor  Hellanikos  (Ol.  60,  1  Hieron.  P  und 
armen.,  59,  4  A,  sonst  60,  4,  Synkell.  62,  1),  dann  nochmal  Ol.  81,  2  Hieron. 
V  P,  sonst  81,  3  d.  h.  vierzig  Jahre  nach  Hekataios,  dem  Zeitgenossen  des 
ionischen   Aufstandes.      Durch    icpo    h'ki'(oo    x-rj?   oi     äXup.TCia8oc   (Suidas  IH.) 


358 


Zehntes   Kapitel. 


von  zehn  Büchern  die  griechischen  Faniihengeschichten  von] 
den  göttlichen  Ahnen  bis  zu  seiner  Zeit  herab  darstellte.  *)  Diel 
wörtlichen  Citate  zeigen,  dass  Pherekydes  um  die  äussere  Form] 
völlig  unbekümmert  war;  sein  Werk  konnte  daher  ausser  den] 
Famihen,  die  sich  in  diesem  goldenen  Buche  von  Hellas  einge-j 
zeichnet  fanden,  nur  Gelehrte  interessieren,  für  diese  aber  war^ 
es  beinahe  die  wichtigste  Fundgrube  alter  Sagen.  Diesemj 
Pherekydes  mit  Suidas  noch  andere  Schriften  zuzuteilen,  scheint 
bedenklich.  ^) 

Andere  derartige  Werke,  wie  die  des  Damastes  von] 
Sigeion  ^),  Simonides  von  Keos  *),  Anaximandros  aus! 
Milet-^)  und  Epimenides^)  sind  nur  durch  gelegentliche  Er- 
wähnung bekannt;  nach  Alexander  scheint  man  diesen  Zweig! 
der  Historik  nicht  mehr  in  derselben  Weise  bearbeitet  zi 
haben  '). 

Wie  in  den  zwei  bisher  besprochenen  Klassen  Mythen  unc 
historische  Zeit  als  ein  unteilbares  Ganzes  bestanden,  so  gab  esj 


d.  h.  vor  den  Perserkriegen  wird  er  der  ältesten  Gruppe  der  Historiker  bew 
gezählt.  Herodot  benützte  ihn  nicht  (Heil  a.  O.  S.  57);  vor  Antiochos  setzii| 
ihn  Schol.  Aristid.  p.  313,  20  ff.,  nach  Herodot  Isidor.  orig.  1,  41.  ^ 

1)  Zehn  Bücher  nach  Suidas,  was  die  Citate  bestätigen ;  denn  ev  t? ' 
Schol.  Apoll.  Ehod.  4,  1091  ist  bedenklich.  Der  Titel  wird  verschieden  an^ 
gegeben:  loioptat  Athen,  11,  470c.  Marceil.  vit.  Thucyd.  2.  Schol.  Apollj 
Bhod.  1,  740,  abxöyd-ovsc,  Suid.  II.,  ^soXoYta  ApoUon.  de  pronom.  p.  82  B.  u.l 
Suid.  I.,  ö-£OYovta  Schol.  Apoll.  2,  1210.  Fragmente  hrsg.  von  Friedr.  W. 
Sturz,  Gera  1789,  3,  Aufl.  Leipzig  1824  und  C.  Müller,  fragm.  histor.  I' 
p.  XXXrV  ff.  80  ff.  IV  637  ff. 

2)  Ilepl  Aepou  (vielleicht  identisch  mit  der  oben  erwähnten  Chronik  de 
Deinarchos),  Tispl  'Icpt^evstas,  irepl  tü)V  Aiovuoou  lepöiv  xai  5XXa  Suid.  HI 
Suidas  verwechselt  den  Syrier  und  Lerier,  wie  Ps.  Lucian.  fiaxpoß.  22.  Tzet&| 
exeg.  in  Iliad.  p.  38,  11.  Clem.  Alex,  ström.  5,  667  cd. 

3)  riepl  YOvEcuv  xal  T^poYovoiV  tcüv  el?  "IXtov  oxpaTeoaajJievüJV   ßißXia  ß  Suidas.! 

4)  Schol.  Apoll.  2,  866.  Etym.  M.,  nach  einigen  (Suidas)  ein  Neffe  desf 
berühmten  Dichters;  welchem  Simonides  gehören  eo^-rjiJiaTa  f'  Suid.  und] 
oüfjLpiixTa  Schol.  Apoll.  1,  763.     Etym.  Gud.  p.  276,  41? 

5)  'Hpu>oAr>Yta  (Athen.  11,498  b)    in  jonischer   Mundart  (Ath.    a.    O.  u.| 
Diogen.  L,  2,2);  es  scheint,  dass  er  Artaxerxes  Mnemon    erwähnte  (•^i'fove  SJ 
xaTÖ  xobz  'Apxa^Ep^ou  /pövou«;  xoö  Mvfjftovo«;  xXfjd'evTo^  Suidas).     Suidas  teilt 
ihm  eine  Erläuterung  der  pythagoreischen  Sprüche  zu,  s.  S.  26  A.  1. 

6)  Diog.  L.  1,  116  b  YsveaXÖYO?. 

7)  FeveaXoYtat  wurden  nicht  mehr  geschrieben,  denn  SooiSok;  ev  znlz- 
YeveaXoYtai?   Suidaa  v.  "A^j/upxoc  ist  zweifelhaft,  s.  Müllers    fragm.  II  466,  7.j 


Die  kunstlose  Gescliichtsschieibniig.  359 

historische  Schriften,  welche  die  Heroenzeit  aliein  zum  Gegen- 
stande hatten  und  nicht  viel  anderes  als  Prosabearbeitungen 
der  alten  Epen  waren.  So  stellte  Herodoros  von  Herakleia, 
der  Vater  des  Eristikers  Bryson,  die  Heraklessagen  und  den 
Argonautenzug  in  ausführUchen  Werken  dar^),  während  der 
Ruhm  des  F  h  a  y  1 1  o  s  darin  bestand,  dass  er  den  ganzen 
epischen  Sagenkreis  in  einen  kurzen  Abriss  zusammenzudrängen 
vermochte  ^). 

Nichts  näheres  verlautet  über  die  Beschaffenheit  einiger 
anderer  Bücher,  wie  der  ,, Geschichte"  des  Skythinos  von 
Teos^)  oder  des  „goldenen"  Buches  des  Ephesiers  Themista- 
goras"^),  welche  jonisch  geschrieben  waren,  oder  eines  dem 
Titel  nach  unbekannten  Werkes  des  Dairaachos  von  Flataiai, 
das  Ephoros  benützt  haben  soll^). 

Wiewohl  zunächst  die  ältere  und  älteste  Geschichte  das 
Interesse  der  Forscher  in  Anspruch  nahm,  fehlten  doch  auch 
nicht  Männer, ,  welche  das  hervorragendste  Ereignis  der  grie- 
chischen Geschichte  in  den  Bereich  der  Historik  zogen.  Es  ist 
dabei  beachtenswert ,  dass  die  Sieger  selbst  um  die  lieber- 
lieferung  ihrer  Thaten  sich  nicht  bekümmerten ;  Bürger  der 
Städte,  welche  durch  die  Niederlage  der  Perser  die  Freiheit 
gewonnen  hatten,  raussten  ihnen  diesen  Dienst  leisten.  Am 
lebendigsten  mag  die  Erinnerung   an  die  Zeit  der  Perserkriege 


1)  C.  Müller  II  27  flf.  IV  653  f.  Aristoteles  uennt  ihn  de  generat.  anim. 
3,  6.  bist,  an.  6,  5.  9,  11.  Tä  xa*'  'HpavcXea  in  mindestens  17  Büchern  (s. 
fr.  31),  die  'ApYovaoxtxä  kommen  wiederholt  in  den  Schollen  zu  ApoUonios 
vor;  korrupt  ist  irepl  'HpaxXetac  Scholl.  Apoll.  2,  815.  Zu  Herodoros  gehört 
weder  ev  UsXoKeicf.  (TliXoni)  Schol.  Find.  Pyth.  11,  25  noch  £v  Olonzooi  Schol. 
Find.  Nem.  3,  87  (wofür  Tzetz.  chil.  3,  953  Ion  citiert). 

2)  Aristot.  rhet.  3,  16  p.  1417a  15;  vgl.  Welcker  der  epische  Cyclus 
I  46    flf. 

3)  'laxopiv]  Athen.  11,  461  f.  Vielleicht  ist  er  derselbe  wie  der  Jonier 
dieses  Namens,  der  nepl  tpooeoc  schrieb  (Stob.  ecl.  phys.  1,  9).  In  Teos  gab 
es  auch  einen  Jambendichter  Skythinos  (Steph.  Byz.  Tecuc). 

4)  XpooEY)  ßißXoi;  Athen.  15,  681a,  vgl.  Etym.  M.  v.  'AaxuTtaXata  und 
Cramer  Anecd.  Paris.  I  p.  80  (nicht  wörtlich). 

5)  Schol.  Apoll.  1,  658.  Schol.  II.  N  218.  Porphyr,  bei  Euseb.  praep. 
ev.  10,  3,  2;  verschieden  davon  ist  der  später  lebende  Platäer,  welcher  irepl 
'IvSixYjc  (Müller  11  440  f.)  verfasste,  und  ein  anderer,  der  über  die  sieben 
Weisen  schrieb  (Diog.  1,  30,  Plut.  comp.  Sol.  et  Popl.  4)  und  endlich  ein 
Verfasser  von  JtoXiopxfjxixa  67ro}j.vfi(j.axa  (Steph.  Byz.  v.  AaxeSaijicuy). 


360  Zehntes  Kapitel. 

bei  den  Umwohnern  des  Hellespont  gewesen  sein ,  welche 
erst  die  ungeheure  Armee  des  Xerxes  an  sich  vorüberziehen 
und  dann  die  kärglichen  Ueberreste  heirafliehen  gesehen 
hatten.  Aus  ihrer  Mitte  erstand  der  früheste  Erzähler  der 
Freiheitskämpfe. 

Oharon  von  Lampsakos  ^)  begnügte  sich  nicht  damit,  der 
Chronist  seiner  Vaterstadt  zu  sein,  sondern  er  stellte  in  einem 
zweiten  Werke  die  Perserkriege    dar  ^).     Allerdings    muss  jede 
Vergleichung    mit    Herodot    unterbleiben ,     denn    Charon    be- 
schränkte  sich,    wie  es   scheint,    auf  eine  Chroni]i    des  Perserj 
reiches,  die  bis  zu  den  Anfängen  desselben  zurückreichend  (fr.  4| 
die  Ereignisse  mit    trockener   Kürze   berichtete.     Die  dürftiger 
Fragmente   belehren    uns    über  die  Zeit  des  Charon  besser  al 
die  alten  Literarhistoriker  ^) ;  er  erwähnte  nämlich  noch  (fr.  5)| 
dass  Themistokles  zu  Artaxerxes,    welcher  Ol.  79,  1  (464)  dei 
Thron  bestieg,  floh.  Herodot  weicht,  so  weit  eine  Vergleichunj 
gestattet  ist,  von  Charon  ab,    immerhin  mag  er  .z.  ß.  das  Ver- 
zeichnis der  Truppen  des  Xerxes,  über  dessen  Quelle  er  schweigt, 
aus  Charon  entlehnt  haben  *). 

Der  Chronist  eines  abgelegenen  Städtchens  und  Vorgänge^ 
eines  Herodot  verscholl  rascher  als  der  fruchtbare  Hellanikoi 
von  Mytilene  ^),    wiewohl  dessen  Lebensschicksale  ebenso  unbc 


1)  C.  Müller  I  p.  XVI  ff.  32  ff.  IV.  627  f.  Stiehle  Philol.  8,  597  f.] 
vgl.  A.  V.  Gutschmid  Philol.  10,  532  ff.;  Neumann  de  Oharone  Lanipsa 
ceno  ejnsque  fragracnlis,  Breslau  1880;  Heil  a.  O.  S.  38  ff.;  Alfr.  Wied« 
mann  Philol.  44,  171  ff.  Sohn  des  Pythokles  (Suid.;  abgekürzt  Pyth€ 
Pausan.  10,  38,  11). 

2)  Die  von  Suidas  angegebenen  Titel  sind  zum  Teil  Doubletten:  llepatxo' 
ev  ßißXtot':  ß' ;  Tcspl  Aa|j.'|iaxoo  ß'  =  wpoo<;  AfZjxtJ^axYjVwv  ev  ßtßXioti;  h'  |npo- 
tavstc  ^  ap^^ovce«;  ol  tcüv  Aax£?at|AOvtü)V  (sie),  satl  Se  )(poviy.ä]  =  'K).).YjVixä 
EV  ß'.ßXto'.?  B' ;  xTiajic  noXsoiV  ev  ßißXioic  ß'.  Alles  übrige  gehört  gleichnamigen 
Schriftstellern.  Jedenfalls  hat  Charon  mit  den  Lakedämoniern  nichts  zu 
schaffen;  fr.  11  kann,  vrenu  man  fr.  9,  12,  13  beizieht,  nicht  beweisen,  dass 
er  über  sie  schrieb  (vgl.  Stichle  Philol.  8,  597  f.). 

3)  ^m&Mi'(S'/öit.iyriz%rj.'zä.'zbv  Tcpojtov  Aapslov  ^ö^'o^^uiJ-i^täSifdieZahl  bezeichnet 
die  Mitte  seiner  Regierung),  fiäXXov  hl  tjv  IkI  zmv  llepcixcöv  xatä  tyjv  oi 
b\o\).Ktr/.ha. 

4)  Charon  älter  als  Herodot  nach  Dion.  Halic.  ad  Pomp,  de  Plat.  3  p. 
769.  Plut.  malign.  Herod.  20.  TertuU.  anim.  46. 

5)  Fragmente  gcs.  v.  F.  Wilh.  Sturz,  Loipzig  1787.  ^826;  C.  Müller 
fragm.    histor.  I  p.  XXIII  ff.   46  ff.  IV  629  ff.;  vgl.  L.  Preller  de  vita  et 


Die  kunstlose  Geschichtsschreibung.  361 

kannt  siiid^);  wir  wissen  aus  den  Fragmenten  soviel,  dass  er 
die  Schlacht  von  Aigospotamoi  406  überlehte^).  Seine  Schriften 
wurden  von  den  Gelehrten  viel  gelesen ,  weil  man  dort  die  ge- 
sammte  ältere  Gescliichte  von  Hellas  kompiliert  fand,  Hellanikos 
war  aber  weit  entfernt  von  der  Kühnheit  des  Ephoros,  ans  dem 
umfassenden  Stoffe  ein  einheitliches  Werk  zu  schaffen,  sondern 
er  behandelte,  wie  seine  Genossen,  die  Geschichte  einzelner 
Länder,  mindestens  von  Thessalien,  Böotien,  Attika,  Argolis  und 
Arkadien^),  gesondert,  indem  er  die  mythischePeriode  besonders  be- 
rücksichtigte, doch  auch  die  neuere  Zeit  kurz  besprach"^).  Den 
Landesgeschichten  des  eigentlichen    Hellas    fügte    er    die    Dar- 


scriptis  Hellanici,  Dorpat  1840  und  Philol.  8,  599  fl".  =  ausgew.  Aufsätze  1864 
S.  23  ff.;  Bass  Wiener  Studien  I  161  ff.;  Heil  a.  O.  S.  37  f. 

1)  Sohn  des  Andromenes  oder  Aristomenes  (oder  Skamon,  wie  der  Sohn 
des  Hellanikos  hiess)  Suidas ;  nach  demselben  war  er  mit  Herodot  am  Hofe 
des  Amyntas  und  erlebte  Perdikkas.  Er  starb  in  Perperene  gegenüber  Lesbos 
(Di eis  Rhein.  Mus.  31,50)  im  Alter  von  85  Jahren  (Ps.  Lucian.  }j.axpoß.  22), 
d.  h.  er  war  ein  Zeitgenosse  der  Perserkriege  oder  von  Ae.schylus  (Ol.  76,  2 
Hieron.  A)  und  starb,  als  Thukydides,  der  ihn  citiert,  blühte.  Seines  Namens 
wegen  hiess  es,  er  sei  am  Tage  der  Schlacht  von  Salamis  geboren  (Vita  Eurip. 
p.  134,  17  W.). 

2)  Frg.  80  und  add.  IV  p.  632  (Schol.  Aristoph.  Ran.  720,  vgl.  J.  H.  Li  ps  i  u  s 
Leipziger  Studien  4,  152  f,  Di  eis  Rhein.  Mus.  31,  51  ff.)  Nach  Pamphila  fiel 
seine  Blüte  12  Jahre  vor  Herodot  und  25  vor  Thukydides  (nach  Di  eis  a.  O. 
S.  63  ist  dainit  vielleicht  gemeint,  dass  er  um  so  viel  älter  als  Herodot  ist 
wie  dieser  vor  Thukydides  lebte).  Eusebios  setzte  ihn  als  Zeitgenossen  des 
Hekataios  an  (Hieron.  Ol.  70,  1;  70,  4  B,  69,  3  armen.,  71,  1  Synkell.).  In 
der  Anekdote  bei  Schol.  Soph.  Philoct.  201  gilt  er  für  einen  Zeitgenossen  des 
Herodot  oder  jünger;  Kephalion  betrachtete  ihn  dagegen  als  älter  (Syncell. 
p.  315  D.). 

3)  AsüxaXicovEia  =  WexTaXtxa  fr.  15—36;  'Aocuiric  =  ßotwTtv.ä  fr.  8—13; 
' Axfltc  fr.  62—84  (ül)er  das  chronologische  System  vgl.  B  r  a  u  d  i  s  de  temporum 
Graec.  antiquiss.  ratione  p.  7  ff.  K.  Robert  de  Apollodori  bibliotheca,  Berlin 
1873  S,  90  f.;  Kirchhoff  Hermes  8,  184);  ^opcuvk  =  ^Ap'(QliY.ä  fr.  1—7. 
37--43;  TTspl  'Apxa5iry.r  fr.  59—61;  unklar  ist  das  Verhältnis  der  'AxXavtiac 
in  wenigstens  zwei  Büchern  fr.  54—58;  Preller  griecli.  ^Mythologie  I '^  383 
A.  2  zieht  Diodor.  3,  60,  4.  5  bei,  wonach  sehr  viele  Heroen  von  den  Töchtern 
des  Atlas  abstammten.  Für  die  Identität  jener  Titel  spricht  der  Umstand, 
dass  die  Paare  nach  den  Schriftstellern  gesondert  sind;  keiner  gebraucht 
beiderlei  Citato. 

4)  Thukydides  (1,  97,  2)  bezeugt  dies  von  der  Atthis,  schränkt  es  aber, 
wie  Diels  bemerkt,  zugleich  ein. 


362  Zehntes  Kapitel. 

Stellung  der  Koloiiiengründungen  bei,  wobei  sein  Patriotismus 
den  Aeoliern  einen  hervorragenden  Platz  eingeräumt  zu  haben 
scheint  ^).  Gewissermassen  das  gemeinsame  Band  dieser  Mono- 
graphien bildete  die  Darstellung  der  zwei  grossartigen  Kriege,  zu  i 
welchen  sich  beinahe  alle  hellenischen  Stämme  vereinigt  hatten ; 
den  ,,Troika"  entsprachen  ,,Persika",  denen  Hellanikos,  wie 
Charon,  eine  Skizze  der  persischen  Geschichte  vorausschickte^). 
Damit  dürfte  die  Liste  der  echten  Werke  zu  schliesseri  sein. 
Denn  schon  die  Alten  zweifelten  an  der  Authenticität  der 
Chronik,  welcher  das  Verzeichnis  der  Herapriesterinnen  von 
Argos  zu  Grunde  lag  ^),  und  der  ,, Reise  zum  Ammonorakel."*) 
Die  ,, Barbarenbräuche"  waren  aus  Herodot  und  Damastes  zu- 
sammengeschrieben^). Nicht 'echter  waren  die  Bücher  über 
Lydien ,  Kypern ,  Skythien  und  Aegypten  ^)  oder  gar  die 
,,orphische  Theologie"  ^).  Der  sowohl  metrisch  als  in  Prosa 
abgefasste  Katalog  der  Karneensieger  gehört  wahrscheinlich 
dem  Grammatiker  Hellanikos  ^). 

,     ,       ,    ,  .    M 

1)  Fr.  92 — 121:    xtioek;  [lö-vüiv  xai]    jtoXecuv  (Steph.  Byz.  Xapi}j.atai)  ^Hl 
nspl  Idv&v    (Schol.   Apoll.   4,  322)  =    eö-vÄv  &vo|xaatat  (Athen.  11,  462  a)  = 
xTioetc    (Athen.    10,    447  c)    =    chorografia    (Schol.    Bern.   Verg.   ecl.   8,  44); 
Unterabteilungen   itepl    Xioo  xxioetuc  Schol.  Ambros.  Odyss.  ■6-   294  und  Alo- 
Xcxä  =  Aeaßixa  in  wenigstens  zwei  Büchern. 

2)  Tpwtxa  fr.  126—146;  Ilepctxa  fr.  158—169,  deren  Echtheit  durch  die 

Polemik  des  Ktesias  gesichert  ist.  _^H 

3)  'lEpsiat  ai  Iv  "Ap^ei  in  zwei  Büchern,  fr.  44—63.  Philol.  44,  217  A.  TiPl 
für  £v  zoLiq  laxopiatc  Athen.  9,410  ff.  vermutet  Preller  S.  17  A.=:36,26  ev  xaiq  lepetaic- 

4)  'Ev  z-Q  elq  "Aiifj-cuvo?  (ivaßäaet  Athen.  14,  662  a. 

5)  Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  evang.  10,  3,  10 ;  bloss  interpoliert 
■war  das  Werk  nach  C.  Müller  IV  624  und  Bass  Wiener  Studien  I  162. 
Aber  nur  ein  Lexikograph  (Suidas  =  Etym.  M.  Zd|jL0/4tc)  citiert  es. 

6)  Ta  irepl  AoStav  Steph.  Byz.  v.  'ACsiÄtat,  Koiiptaxa  v.  Kapnaota, 
£xud-cxä  V.  'A|i(i8oxot  (unsicher  'AfiöpYiov);  AiYoi^xtaxd  fr.  148 — 156,  vgl. 
A.  V.  Gutschmid  Philol.  10,  638  ff.  (nach  ihm  zwischen  318  und  226 
verfasst).  Fr.  148  bezieht  sich  auf  die  Stoiker;  der  Fälscher  war  ein  Aegypter, 
denn  er  setzte  für  "Ootptc  das  richtigere  "Toipt^  (Usiri).  Aotigonos  von 
Karystos  c.  126  benützte  das  Buch,  vielleicht  auch  Kallimachos  (fr.  100,  vgl. 
Bohde  Verhaudl.  der  Trierer  Philogenvers.  S.  87  A.  2).  Die  Sprache  war 
jonisch  (fr.  150).  Die  ^otvtxixct  des  Cedrenos  sind  aus  Joseph,  arch.  1,  4 
fingiert. 

7)  DamavSkios  ttepl  öipj^wv  bei  W  o  1  f  anecd.  Gr.  III  253  ;  ein  Schwindel- 
citat  ist  Fulgent.  mythol.  1,  2  in  Ato^  itoXüKXoxia  (Zink  der  Mythograph 
Fulgentius  II  76  f.). 

8)  "Ev   te  xotc  ejJLjiExpoi?  Kapvtovixai<:   xav  xolc  xaxaXoYäSijv    Athen.  14, 


Die  kunstlose  Geschichtsschreibung.  353 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  Hellanikos  den  Dialekt 
seiner  Heimatinsel ,  welcher  längst  aus  der  Literatur  ver- 
schwunden war,  verschmähte;  er  bediente  sich  statt  dessen, 
wie  es  scheint,  der  jonischen  Mundart*),  weil  diese  im  fünften 
Jahrhundert  die  Prosa  beherrschte.  Ueber  den  Stil  des  Hella- 
nikos beobachten  die  Rhetoren  ein  beredtes  Schweigen.  Seine 
Arbeitsmethode  und  Kritik  wurde  von  den  Aelteren  nicht  be- 
lobt. Thukydides  rügte  die  Kürze,  mit  der  Hellanikos  die 
Pentekontaetie  abfertigte,  und  die  chronologische  Ungenauigkeit, 
Ktesias  und  Ephoros  richteten  scharfe  Angriffe  wider  ihn  ^). 
Die  Alexandriner  dagegen  schätzten  Hellanikos  wegen  seiner 
Reichhaltigkeit;  Sopatros  excerpierte  die  gefälschten  Aigyptiaka 
in  seiner  Blumenlese  ■''). 

Des  Hellanikos  Sohn  S  k  a  m  o  n  schrieb  speciell  über  die 
Geschichte  von  Lesbos^)  und  war  der  erste,  welcher  die  auf 
Erfindungen  bezüglichen  Mythen  zusammenstellte^). 

Etwas  jünger  als  Hellanikos  war  Damastes  aus  dem 
troischen  Sigeion^),  über  dessen  Schriftstellerei  die  Nachrichten 
recht  ungenügend  sind.  Da  ihn  Dionysios  von  Halikarnass  zu 
den  Historikern,  wie  Hellanikos  einer  war,  rechnet,  verfasste 
er  eine  Chronik,  die  ebenso  spurlos  verscholl  wie  die  des  Chiers 


635  f;    der   gleiche  Titel    ist   Schol.  Aristoph.    Av.    1403   (fr.  85)   für    £v  xolq 
Kpavaixoli;  oder  Kapvatxoi?  herzustellen. 

1)  Vgl.  IlapvYiaooü  bei  Schol.  Apoll.  2,  705,  auch  ist  der  Dialekt  der 
Al-^üTzx'.av.a  zu  beachten.  Nach  Bekk.  Anecd.  351  (fr.  }79)  sagte  Hellanikos 
angeblich  &8"rjpa  nicht  ä%-r^pt].     Vgl.  C  o  b  e  t  observ.  in  Dion.  Hnl.  p.  26. 

2)  Thucyd.  1,  97  (nach  U.  Köhler  commentatt.  in  hon.  Mommseni 
p.  970  benützte  er  I  9  eine  peloponnesische  Chronik);  Phot.  bibl.  72  p.  43  b 
20.   Joseph,  c.  Apion.   1,  1,  vgl.  Strab.  8,  366.  9,  426.  10,  451.  13,  602. 

3)  Phot.  bibl.  161  p.  104a  13;  über  das  Verhältnis  des  ApoUodor  zu 
ihm  Robert  de  ApoUodori  bibliotheca  p.  88  fi. 

4)  Schol.  II.  r  250  (Anecd.  Paris.  III  159).  Sv.äjJKuv  ist  Koseform  von 
SxajxdvSpioc. 

S  5)  Eepl  e6pf]|AaT(uv  Athen.  14,  630  b.  637  b  (mit  Ephoros  verbunden). 
Phot.  u.  Suid.  ^otvtxYj'.a  -(päiiiiaxa  (im  2.  Buche  citiert) ,  Clem.  Alex. 
Strom.  I  74. 

6)  Sohn  des  sehr  reichen  Dioxippos  nach  Suidas  ;  über  die  Form  des 
Ethnikons  C.  Müller  IV  654,  KtTisu«;  bei  Agathem.  1,  1  ist  gewiss  korrupt. 
Er  war  nach  den  meisten  jünger  als  Hellanikos  (z.  F..  Agathem.  1,  1 ,  nach 
Suida«  sein  Schüler),  nach  anderen  sein  Zeitgenosse  (Dionys.  Thucyd.  5  u.  in 
der  Interpolation  bei  Suidas).     Fragmente  bei  C.  Müller  II  64  ff. 


364  Zehntes  Kapitel. 

Xenomedes').  Ausserdem  gab  er  ein  geographisches  Buch 
heraus,  in  welchem  die  Barbarenländer  des  Ostens  und  Westen« 
behandelt  wurden,  während  Grieciienland  vielleicht  wegblieb  ^jHJ 
Dasselbe  war  in  der  alexandrinischen  Zeit  beliebt,  denn  es 
schöpften  sowohl  zwei  Fälscher  daraus^)  als  auch  Eratosthenes, 
weswegen  er  von  Seiten  Strabos  strengen  Tadel  erfuhr;  Damastes 
sei  nicht  glaubwürdiger  als  Antiphanes  und  Euhemeros  *\ 
Plinius  führt  Damastes  ohne  nähere  Bezeichimng  unter  seinen 
Quellen  auf''). 

HellaMikos    und    Damastes    wollen    wir    die    eigentlicht 
geographischen   Werke  anreihen;   ihr  Hauptinteresse   b| 
stand   in    der  Mitteilung    der    landesübHchen    Sitten    und  Eil 
richtungen  ^).     Das  Material  war    teils    aus  Autopsie    teils    ai 
mündhchen  Nachrichten  geschöpft  ^).     Von  dem  Samier  Nausj 
machos,    dem  Verfasser   einer   solchen   Erdbeschreibung,    ia 
ausser  dem  Namen  nichts  bekannt  ^)  und  der  Athener  Phileas^ 
der  ein  paar  Mal  angeführt  wird,  gehört  zu  den  Lehrdichteri 
Somit  haben  wir  hier  über  einen  einzigen  Schriftsteller,  welch« 
der    literarischen  Forschung   die    grössten    Schwierigkeiten 
reitet,  zu  sprechen ;  er  führt  den  Namen  S  k  y  1  a  x  ^).     Herod< 
erzählt  von  einem  Skylax   von  Karyanda,    welchen    der  Köu^ 

1)  Dionys.  jud.  de  Thucyd.  5;    wahrscheinlich   stammt  daher    fr.  6 
6  und  9. 

2)  Titel  mpinkonz  Agathem.   1,  1;  ev  tcI)  ntpl  sO-voiv  Steph.  Byz.  v.  Treeji 
ßopeoi;  eS-vöJv  xaxäXoYoc  xal  TtoXewv  Suid. 

3)  Von  Hekataios'  Geographie  (Agathem.   1,  1  xä  icXeloTa  ex  toü  'KXX.^ 
vtxoo  jJLExaYpa'lat;)   und   den  v6[j,tp.a    ßapßaptxä    des  Hellaaikos   (Porphyr. 
Euseb.  praep.  ev.  10,  3,  10). 

4)  Strab.  I  p.  47. 

5)  In  den  Indices  des  4. — -7.  Buches. 

6)  Aristoteles  rhet.  1,  4  p.  1360  a  34,   ein  Beispiel  polit.  2,  3  p.   1262] 
19;  es  gab  mehrere  solche  -(rfi  jisploSoi  meteor.  1,  13  p.  360  b  16  ff. 

7)  Aristot.  meteor.  a.  O. 

8)  Ora  marit.  42  f. 

9)  Nie  buh r     über    das    Alter    des    Küsten beschreibers    Skylax    (ISlOjj 
kleine  bist.  Schriften  I  (Bonn  1828)  105  ff.;  Klausen  beim  Hekataios  188 
p.  264  ff.;  B.  Fabricius  Ztsch.    f    Alterthumsw.    1841  Nr.    132.    133.    18^ 
Nr.  136 — 38.  Letronuc  fragments  des  poemes  geograph.  de  Scymnus,  Pat 
1830  p.   165  ff.;  Schwaubeck  de  Megasthene  p.  1  —  11;  A.  v.  Gutschml 
Rhein.  Mus.  9,  141  ff.;    C.  Müller  Geographi  Graeci  minores  I   p.  XXIIIf! 
LI;  üngcr  Philol.  33,  29  ff.;    Heil  a.  O.    S.  42  ff.     Herau.sgegel)on    in   den" 
Sammlungen  der  Geographen,  separat  Anonymi  vulgo  Sc.  Car.  periplum  maris 
interni  cum  app.  rec.  B.  Fabricius,  Leipzig  1878. 


t)ie  Kunstlose  Geschichtsschreibung.  365 

Dareios  Hystaspis  mit  anderen  nachdem  Indus  aussandte  ^),  ohne 
ueizufügen,  dass  er  seme  Reise  beschrieben  habe;  erst  Athenaios, 
Philostratos  und  Tzetzes  führen  eine  jonisch  abgefasste  Schrift 
über  Indien  an,  deren  wirklichen  Verfasser  man  in  der  Person 
des  Polemon  von  lUon ,  der  mehrere  geographische  Werke 
lierausgab,  vermutete  2).  Denselben  Skylax  hielten  Strabo  und 
andere  Geographen  ^)  für  den  Verfasser  einer  Küstenbeschreibung, 
die  nicht  allein  das  Mittelmeer,  sondern  zum  mindesten  noch 
die  westafrikanische  Küste  und  das  rote  Meer*)  besprach;  diese, 
Schrift  war,  nach  ihrem  Inhalte  zu  urteilen,  wirklich  alt.^) 
Von  dem  nämlichen  ökylax  rührte  wahrscheinlich  eine  bis  zur 
llerrscliaft  des  Stadtfürsten  Herakleides  geführte  Chronik  der 
karischen  Stadt  Mylasa  her*^).  Die  späteren  Männer  gleichen 
Namens  seien,  damit  wir  nicht  in  die  Verwirrung  des  Suidas 
hereingezogen  werden,  bei  Seite  gelassen  ''). 

Es  ist  nun  eine  geographische  Schrift  unter  dem  Titel  Tcspi 
x■f^q  ^aXdaa'/jc  xfic,  olxoufi-svYjc  EopwTnrjc  %al  'Aaiac  xal  AtßDif]? 
erhalten,  welche  handschriftlich  eben  jenem  Skylax  von  Kary- 
anda  zugeschrieben  ist,  die  Citate  der  alten  Geographen  weichen 
jedoch  von  derselben  ab.  Betrachtet  man  aber  deswegen  die 
Schrift  als  unecht  und  sucht  aus  ihrem  Inhalte  die  Zeit  zu  be- 
stimmen^), so  möchte  man  zunächst  ungefähr  die  auf  die 
Schlacht  von  Chaironeia  unmittelbar  folgende  Zeit  vorschlagen^), 
wenn  nur  nicht  Städte  vorkämen,  die  damals  längst  nicht  mehr 


1)  Herodot.  4,  44. 

2)  Athen.  2,  70  b  (Sv.6Xa^  yj  IIoXIjxüiv).  Philostr.  vit.  Apoll.  3,  47.  Tzetz. 
Chil.   7,  629  ff. 

3)  'ü  naXaibz  auYfpa'fJuc  Strab.  14,  658,  b  reaXaiöc  XoYOYpäcpo?  Steph. 
P)yz.  V.  KapoavSa. 

4)  Harpocr.  v.  ütcö  •^r^'v  olv.ouvisg. 

5)  Vgl.   Strabo  12,  566. 

6)  Ta  xaxä  (sie)  xöv  'HpaxXeiofjv  xöv  MoXäocuv  ßaaiXs«,  vgl.  A.  v.  Gut- 
schmid  a.  O.  S.   142. 

7)  Einer  schrieb  eine  &yx'.Yp«'f*']  T^poc  x-rjv  IloXußiou  tatoptav,  ein  anderer 
aus  Halikarnass  war  „familiaris  Pauaetii  excellens  in  astrologia  idemque  in 
regenda  sua  civitate  priuceps"  (Civ.  diviu.  2,  42)  und  jj.a«fj|J.axi>cci<;  xal  jaou- 
G'.y.oc  (Suidas). 

8)  C.  Müller  a.  O.  XLIII  ff. 

9)  C.  35  gehört  Naupaktos  bereits  den  Aetolieru  (Schä  fer  Demosthenes 
II  515);  c.  59  beginnt  Böotieu  mit  Delion  nicht  mit  Oropos;  c.  67  .scheint 
der  thrakisohe  Chersones  den  Atheuern  nicht  mehr  zu  gehören. 


366 


Zehntes  Kapitel. 


existierten*).       Eine  zweite    Ungleichmässigkeit    besteht    darii 
dass  die  Entfernungen  bald  nach  Stadien,  bald  nach  Tagereise^ 
berechnet    sind.      Nehmen  wir    dazu ,    dass    die    Sprache   späl 
griechisch  ist  ^),  so  hat  die  Annahme  am  meisten  für  sich,  das 
die  Schrift  aus  Geographen  des  fünften  und  vierten  Jahrhunderl 
unter  welchen  sich  auch  Skylax  befand  ^),  kompiliert  wurde  ui 
dessen  Namen,  weil  er  alt  und  angesehen  war,  erhielt. 

Die  Beschreibungen  von  grossen  Reisen,  wie  sie  Fytheas  ui 
Megasthenes  unternahmen,  eingerechnet  die  Uebersetzung   v( 
Hannos   Reisebericht ,    eröffnen    passender   die    alexandriniscl 
Periode;    denn   Alexanders   Zug   macht   in   der  Geschichte  d( 
griechischen  Geographie  Epoche.     Vorher  waren  die  Orientale 
sicherlich  überlegen  gewesen,  weil  ihre  Handelsunternehmungei 
mit  welchen  die  Erforschung  der  fernen  Länder  zusammenhinj 
die  der  Griechen  durch  Grossartigkeit  und  Zielbewusstheit  übe 
trafen.     Die  Fürsten  haben  aus  politischen  und    kommerzielle 
Gründen  viel  gethan :  Necho  sendet  Phöniker  um  Afrika  herui 
Xerxes  stellt  dem  Sataspes  dieselbe  Aufgabe,  Dareios  lässt  Indie 
erforschen ,    Hanno    befährt    die    Küste    von    Westafrika.     Dl 
griechischen  Demokratien  hingegen  überliessen  Forschungsreise^ 
der  Opferwilligkeit  des  einzelnen ;  bei  Damastes  wird  nicht  ohi 
Grund  hervorgehoben,  dass  er  einer   sehr  reichen  Familie   eiij 
stammte.      Aber    was    vermochten    die   Kräfte    eines    einzige^ 
Reisenden  gegen  die  Mittel  eines  Königreiches? 

Wer  diese  verschiedenen  Erscheinungsformen  der  Geschieht 
Wissenschaft  überblickt,  wird  die  Historiker  mit  Befremden  vo| 
der  Betrachtung  ihrer  eigenen  Zeit  abgewendet  sehen.  Thuk] 
dides  hebt  ausdrücklich  hervor*),  dass  seine  Vorgänger  mi 
Ausnahme  des  Hellanikos  entweder  die  Perserkriege  oder  du 
denselben  vorhergehende  Zeit  darstellten ,  während  das  voit 
ihnen    selbst    Erlebte    vernachlässigt    bHeb.      Einen    gewisser 


1)  C.  Müller  p.  XLIV.  C.  107  am  Ende  |i.EXP"^  °"^  evtauö-a  AlYOJttto 
&py(ooatv  konnte  nur  zu  einer  Zeit,  wo  Aegypten  ein  selbständiges  Reicl 
bildete,  gesagt  werden. 

2)  Fabricius    Ztsch.    f.  Alterthumsw.    1844    Nr.   137.     'öptxtT)?  c. 
scheint  aus  einer  jonischen  Quelle  stehen  geblieben  zu  sein. 

3)  Letronne   a.  O.    p.  248.     Aus    ihm    stammt    z.  B.    c.  40    rrjv    it 
4|{i,ütv  ddXaoaav.      An    einem  Detail   weist  Nöldeke  Hermes   6,  445  f.  A. 
die  Ungleichmässigkeit  nach. 

4)  I  97,  2. 


Die  kunstlose  Geschichtsschreibung.  367 

Ersatz  dafür,  mochte  er  auch  höchst  subjektiv  und  ohne  grossen 
wissenschaftlichen  Wert  sein ,  brachten  die  Memoiren*), 
welche  natürhch  von  keinem  anderen  Stamme  der  Griechen 
eingeführt  wurden  als  von  den  Joniern.  Männer  von  bewegtem 
Leben  und  mannigfaltigem  Talent  teilten  interessante  Anekdoten 
und  pikante  Charakterschilderungen  mit,  ohne  ihrer  persönlichen 
Vorliebe  oder  Abneigung  Zügel  anzulegen.  Wir  kennen  von 
solchen  Werken  noch  zwei,  die  Erinnerungen  des  Stesimbrotos 
(S.  23  f.)  und  die  „Reisebilder"  (IxiSYjfju'at)  ^)  des  vielseitigen  Ion 
von  Chios,  welcher,  weil  seine  Hauptbedeutung  auf  dem  Gebiete 
der  Tragödie  liegt,  unter  den  Tragikern  gewürdigt  werden  soll. 
Obgleich  er  auch  eine  Gründungsgeschichte  seiner  Insel  schrieb, 
waren  doch  die  Memoiren  nichts  weniger  als  wissenschaftlich. 
Wie  Stesimbrotos  Kimon  in  das  schlechteste  Licht  stellte,  so 
erhob  ihn  Ion,  der  mit  ihm  persönlich  bekannt  war,  auf 
Kosten  des  Perikles,  des  Besiegers  von  Samos  ^).  Von  allen  be- 
rühmten Personen  seiner  Zeit  wusste  er  etwas  zu  erzählen  ^). 
Man  wird  durch  die  Fragmente  an  eine  drollige  Scene  der 
aristophanischen  Vespen  erinnert,  welche  zeigt,  dass  es  damals 
zur  feinen  Sitte  gehörte,  bei  Tische  derartige  Anekdoten  zum 
Besten  zu  geben  ^). 


1)  Köpke  de  hypomnematis  Graec.  I  Brandenburg  1857  II  1863. 

2)  Athen.  13,  603 e;  bloss  hTzo}).vi\\).axa  Schol.  Aristoph,  Fax  835.  Unter- 
abteilungen sind  vielleicht;  oov£x8*rj|j.Y]Tix6c  PoUux  2,  88  und  irpeaßEUttxoc 
(Schol.  Aristoph.  Pax  835,  nach  einigen  unecht).  Fragmente  bei  C.  Müller 
II  44  S.  (ein  neues  Schol.  Medic.  Aeschyl.  Pers.  427).  Die  Uebersetzung  des 
Titels  ist  gesichert  durch  Job.  Alexandr.  in  Hippocr.  Hermes  5,  208.  Vgl, 
Fr.  Scholl  Rhein.  Mus.  32,  157. 

3)  Sauppe  Ueber  die  Quellen  der  Geschichte  des  Perikles,  Abhandl. 
der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  1869  S.  29  f. 

4)  Aischylos  Schol.  Aesch.  a.  O.,  Sophokles  Athen.  13,  603  e  ff.  (über 
diese  berühmte  Erzählung  Holzapfel  Untersuchungen  über  die  Darstellung 
der  griech.  Geschichte  S.  128  ff.);  Sokrates  Diogen.  L,  2,  23. 

5)  Aristoph.  Vesp.  1186.  1209. 


Elftes   Kapitel. 
Herodot  und  Ktesias. 


Herodot:  Lebensgeschichte;  Weltanschauung;  Studien  und  Kritik;  Koraj 
sition  des  Werkes;  Schluss  und  alhnälige  Entstehung  desselben;  Stil;  äusse^ 
Geschichte;  Ktesias,  Deinon  und  Herakleides  von  Kynie. 


In  der  älteren  Geschichtsschreibung  der  Griechen  herrschj 
weder  das  Bestreben,    schön    oder    anmutig   zu    erzählen   nocl 
geschah  die  Sammlung  und  Bearbeitung  des  Stoffes  in  anderd 
Weise   als   dass    der  Forscher   auf   dem  Markte    bei   den  altel 
Bürgern,  im  internationalen  Getriebe  eines  grossen  Hafens  od( 
auf   Reisen    die  Überlieferungen    sammelte,    in    chronologisch 
Ordnung  brachte  und,  was  dem  gewöhnlichen  Menschen verstan( 
unwahrscheinlich    schien ,    änderte    und    umdeutete.     Die  Eii 
Wicklung  der  subjektiven  Philosophen  musste  diese  oberflächlicli| 
Auffassungvertiefen,  indem  sieteils  weniger  leichtGlauben  schenke 
teils  nach    den  Beweggründen    der  Handlungen    fragen   lehrt 
Zur  selben  Zeit  erfuhren  die  Griechen,  dass  ohne  den  Schmuc 
des  Versmasses  eine  schöne  Sprache  nicht  minder  möglich  se 
Sobald    aber    einmal    die  Prosa    mit   der  Poesie  den  Wettstn 
aufnahm ,    sollte    sie    auch    den    Forderungen    der    poetische 
Komposition  genügen,  wodurch  Anfang  und  Ende  nicht  mel 
willkührhch,    sondern  wie  in  der  Dichtung,    nach  höheren  G< 
setzen  zu  bestinmien  waren. 

In  diesem  Sinne  ist  Herodot,^)  wie  ein  Alter  mit  Recl 


1)  Bis  auf  den  Artikel  des  Snidas  fehlt  eine  antike  Bicigraphie.  Vg 
Friedr.  Dahliuann  Herodot.  Aus  .seinem  Buche  sein  Leben,  ForscJiunge 
auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  H.  Th.  1.  Altena  1823;  K.  W.  L.  Heys 
de  Herodoti  vita  et  itiueribus,  Berlin  1826;  Ad,  Bauer  Herodots  Biogniphi^ 
Sitzung.sgeri(;hte  der  Wiener  .Akademie  89,  391   ff.  (sehr  skepti.sch). 


Herodot  und  Ktesias.  3(39 

sagte ,  der  Vater  der  Geschichte.  ^)  Seine  Lebensverhältnisse 
haben  zu  einer  höheren  Auffassung  derselben  gewiss  nicht  wenig 
beigetragen.  Als  Bürger  von  Halikarnass  2)  war  er  unter  der 
Herrschaft  des  Perserkönigs  geboren  und  mit  der  Organisation 
des  Weltreiches  iin  allgemeinen  vertraut;  er  trat  sodann  mit 
seiner  Stadt  in  den  Machtbereich  des  perikleischen  Athens  und 
endlich  erschloss  ihm  die  Übersiedlung  nach  Thurioi  den  Westen 
der  hellenischen  Welt,  wie  sie  ihn  dem  Gezanke  des  eigenthchen 
Griechenlands  und  den  traurigen  Erinnerungen  an  die  ehemalige 
Knechtschaft  entrückte.  Ausserdem  hatte  er  in  diesem  Neuathen, 
das  der  ganze  Seebund  gegründet  hatte,  eine  ausgezeichnete 
Gelegenheit,  die  Neuerungen  der  itahschen  und  ostgriechischeu 
Literatur  zugleich  kennen  zu  lernen.  Was  Herodot  zur  Aus- 
wanderung bewog,  war  wohl  Wissbegierde  ;  denn  am  poHtischen 
Leben  hat  er,  wie  die  Vorurteilslosigkeit  und  die  politische 
Naivetät   seines  Werkes  zeigen,    sich    nie    beteiligt.^)    Herodot 

1)  Cic.  leg.  1,  1,  5. 

2)  Diese  Stadt  nennen  alle  unsere  Handschriften  und  die  meisten 
Autoren ;  er  wanderte  von  hier  nach  Thurioi  aus  (Strab.  14,  656.  Plut.  de 
exilio  13,  Grabschrift  bei  Steph.  Byz.  ©ouptoi  und  Tzetz.  iu  Anecd.  Oxon.  3, 
350),  weshalb  er  auch  Thurier  heisst  (Aristot.  rhetor.  3,  9  p.  1409  a  28,  Strab. 
a.  O.  ov  uaxepov  öouptov  IxäXeaav.  Plutarch.  malign.  Herod.  35.  Avienus  49. 
Julian,  epist.  22  p.  502,  11  H.  und  fr.  2  p.  608,  2  H.  Suid.  v.  üavuaaic). 
Der  Name  des  Vaters  Au^vji;  (Grabschrift,  Lucian.  de  domo  20.  Themist.  or. 
2,  27.  Suidas;  aus  b  Aü|oo  wurde  Anecd.  Oxon.  3,  850  b  SuXsw,  daraus 
Tzetz.  Chil.  3,  388  [u.  ö.  'O^uXoo)  kommt  nur  in  Halikarnass  vor  (Bulletin 
de  correspondance  hellen,  VI  192).  Suidas'  Quelle  ist  (aus  der  Chronik  des 
Skylax?)  über  die  Familienverhältnisse  axiffallend  gut  unterrichtet:  Die 
Mutter  hiess  Dryo  oder  Rhoio  (v.  IlavuaoK;),  ein  Bruder  Theodoros.  Der  be- 
kannte Panyassis  war  ein  l^aSsXcpoc  (avstpio?  Schol.  Gregor.  Naz.  Hermes  6, 
490)  oder  fXfjTpaSeXcpo?  des  Geschichtsschreibers.  Letzteres  ist  wahrschein- 
licher, wenn  Eanyassis  eine  Person  mit  dem  in  Röhls  Inscr.  Gr.  antiquiss. 
500  (vgl.  Kirchhof f  Studien  zur  Gesch.  des  griech.  Alphabetes  S.  ^44  ff.; 
Sauppe  Götting.  Gel.  Anz.  1863  S.  303  ff.;  Fr.  Kühl  Philol.  41,  54  ff.) 
genannten  Bürger  der  Bundesstadt  Salmakis  ist.  Eawlinson  (in  der  Ein- 
leitung zur  Uebersetzung  I''  p.  4)  und  Bauer 'a.  O.  S.  400  f.  ziehen  die  Ver- 
wandtschaft in  Zweifel. 

3)  Suid.  jJLsxIotf]  S'  £v  Säfxu)  8ia  AuYSajitv  ist  chronologisch  nicht 
möglich  (Bauer  S.  402  ff.),  weil  Halikarnassos  wahrscheinlich  seit  der  Schlacht 
am  Eurymedon  (465?,  Duncker  Gesch.  des  Altertums  VHI  S.  167  f.  A. 
S.  214),  jedenfalls  schon  Ol.  81,  3  (454,  vgl.  CIA.  I  226)  zum  attischen  See- 
bunde gehörte;  die  Absicht  und  damit  der  Ursprung  der  Notiz  wird  klar, 
wenn  man  weiter  hört:  sv  oov  t^  Sd|ji(ü  (wegen  3,  60  genannt)  xal  tyjv  ""laSa 
Sittl,  (Jeschichte  der  griechischen  Literatur,  n.  24 


370  Elftes  Kapitel. 

verwendete  sein  Vermögen  lieber  auf  die  Befriedigung  seiner 
Wissbegierde.  Auf  weiten  Reisen  sammelte  er  Nachrichten  über 
alles  Merkwürdige,  in  allen  Wissenschaften,  soweit  sie  damals 
bekannt  waren,  sah  sich  der  Historiker  um,  ^)  manchem  be- 
deutenden Manne  trat  er  nahe,  z.  B.  dem  Perikles,  auf  dessen 
Familie  er  ungewöhnliche  Rücksicht  nahm.  ^) 

Weil  Herodot  weder  als  Staatsmann  noch  als  Sophist^)  in 
die  Öffentlichkeit  trat,    fehlen  über    sein  Leben,   Geburts-  und 
Wohnort  ausgenommen,  beglaubigte  Nachrichten.   So  ist  denn  derJ 
Literarhistoriker  darauf  angewiesen,  gelegentliche  Bemerkungen] 
Herodots  selbst  auszunützen.     Wir  erfahren  von  ihm,    dass  ei 
Aegypten  nach  dem  Jahre  445  besuchte;^)   im    übrigen  erhell^ 
aus  seinem  Werke  nur  so  viel,  wann  oder  wo  es  entstanden  ist.l 
Den   archidamischen  Krieg  und  die  Regierung  des  ArtaxerxesJ 
welcher  425   starb,    scheint    er    als    beendet    vorauszusetzen,*]! 
während    die   sicilische  Niederlage    und    der    dekeleische  Krie^ 
noch  nicht  vorgefallen  waren.  **)     Was  ferner  den  Ort  der  Nieder- 
schreibung anlangt,  führen  mehrere  Spuren  darauf,  dass  Herodot 


•?jax7j9^  ScötAexTov.  Noch  weniger  glaublich  ist,  dass  Herodot  den  Lygdami 
vertrieb.  Der  Grund  der  Auswanderung  ist  recht  allgemein,  nämlich  dej 
«p^-ovoc  seiner  Mitbürger  (Grabschrift  und  Suidas). 

1)  In    den   Naturwissenschaften    scheinen    seine  Kenntnisse   nicht    seht 
tief  gewesen  zu  sein,    z.  B.    sind   die  Tierschilderungeu   oft   sehr  dürftig  (IIIl 
103).     Dagegen    sind    die    geologischen   Bemerkungen    über  Aegypten    höchst] 
beachtenswert  (II  10  ff.),   wenn    auch  Herodot  die  Anregung   dazu    von    den 
ägyptischen  Priestern  erhielt. 

2)  Sophokles  zu  seinen  Freunden  zu  zählen,  hat  man  kein  Recht ;  denn  i 
der  Dichter  beging  gewiss  nicht  die  Geschmacklosigkeit,  in  der  AntigoneJ 
(905  flf.)  eine  gelehrte  Anspielung  auf  das  Werk  des  Herodot  (3,  118  f.)  zu' 
machen  und  die  Elegie ,  welche  er  an  einen  Herodotos  richtete ,  mnss  dem  j 
Zusammenhang  nach  einem  schönen  Knaben,  der  so  hiess,  gegolten  habenj 
(Plutarch.  an  seni  ger.  3). 

8)  Aristoph.  Boeot.  bei  Plutarch.  malign.  Herod.  31  ist  tendenziös. 

4)  3,  12  schildert  er  das  Schlachtfeld  vonPapremis;  11  30.  98.  99  wird] 
anf  die  Perserherrschaft  Bezug  genommen. 

6)  7, 187.  9,  73;  6,  98,  vgl.  7,  106  napi  too  ßaotXeuovToc  iet;  auch  1,  180. 
3,  16.  160.  7,  114,   236  sind  zu  berücksichtigen.    Vgl.  J.  Rubino  de  mortis! 
Herodoti  tempore,  ind.  1.  aest.  Marburg  1848;  Ad.  Scholl  Philol.  9,  193  fl'.;| 
W.  G.  Clark  Journal  of  class.  and  sacr.  philol.  II  (1866)  p.  46  fl". 

6)  6,  98.  7,  170,  3;  9,  78. 


Herodot  und  Ktesias.  371 

in  Thurioi  das  gesammelte  Material  verarbeitete^)  und  seit  seiner 
Übersiedelung  das  Mutterland  höchstens  flüchtig  wiedersah.'^) 
Die  Lücken  der  Überlieferung  füllten  die  geschäftigen  Gram- 
matiker durch  mancherlei  Kombinationen  aus;  wie  man  den 
Gebrauch  des  jonischen  Dialektes  begründete,  haben  wir  schon 
gesehen.  Wäre  es  nur  bei  so  harmlosen  Erfindungen  gebheben ! 
Esistaber  von  jeher  eine  Eigentümlichkeit  der  Griechen  gewesen, 
den  Urteilen  ihrer  Historiker  persönliche  Gründe  unterzuschieben, 
weshalb  man  auch  Herodot  der  Parteilichkeit  bezichtete  und 
um  Gründe  nicht  verlegen  war.  Die  Böoter  und  Korinther 
schienen  ungerecht  behandelt;  natürlich,  sie  hatten  Herodot 
nicht  bestechen  wollen.^)  Dagegen  hob  Herodot,  wie  man  be- 
hauptete, die  Athener  hervor,  weil  sie  ihm  eine  Belohnung  von 
zehn  Talenten  dekretierten.^)  Wie  glaubwürdig  diese  Nachricht 
ist,  ermisst  jeder,  der  sich  erinnert,  dass  die  Sieger  von  Phyle, 
Landeskinder  und  Vertreiber  von  Tyrannen,  die  einen  grossen 
Teil  ihres  Vermögens  eingebüsst  hatten,  zusammen  zehn  Minen 
als  Ehrensold  zu  rehgiöser  Verwendung  empfingen.^)  Und 
wofür  soll  Herodot  diese  hohe  Summe  —  die  Späteren  waren 
ja  mit  Ziffern  sehr  freigebig  —  erhalten  haben?  Für  eine  Vor- 
lesung, ^)  obgleich  diese  Sitte  bei  Geschichtswerken  nur  in  der 


1)  2,  177  sagt  er  von  den  Athenern  IxeTvoi;  4,  99  wird  eine  Entfernung 
auch  nach  Japygien  bestimmt,  2,  123  auf  die  Pythagoreer  Rücksicht  ge- 
nommen; die  Erwähnung  anderer  unteritalischer  Dinge  (Rose  Jahrbb.  f. 
Philol.  115,  261)  könnte  nicht  mehr  beweisen,  als  dass  Herodot,  wie  andere 
Länder,  auch  Unteritalien  bereiste.  1,  98  erwähnt  er  Athen,  weil  es  die 
grösste  Stadt  in  Griechenland  war;  2,  7  zeigt  nur,  dass  er  sich  in  Athen  die 
Distanz  aus  einer  Inschrift  notierte.  Plin.  12,  18  historiam  eam  condidit 
Thuriis  in  Italia. 

2)  Das  delische  Erdbeben ,  welches  dem  peloponnesischen  Kriege  vor- 
herging, und  der  Epitaphios  des  Perikles  scheinen  ihm  nicht  bekannt  gewesen 
zu  sein  (6,  98;  7,  162);  die  Propyläen  schildert  er  nur  vom  Höreusagen  (5, 
77,  vgl.  Curt  V^achsmuth  Jahrbb.  f.  Phil.  119,  18  ff.  Bachof  Jahrbb. 
126,  177  flf.). 

3)  Aristophanes  Boeot.  bei  Plutarch.  malign.  Herod.  31;  Dio  Chrysost. 
or.  37,  7,  vgl.  Marcell.  vit.  Thucyd.  27. 

4)  Diyllos  (im  dritten  Jahrhundert)  bei  Plut.  malign.  Herod.  26  (offenbar 
die  einzige  Quelle);  da  sein  Werk  mit  dem  Jahre  357  begann,  erwähnte  er 
jenes  bloss  gelegentlich. 

5)  Aeschin.  3,  187. 

6)  Plutarch.  a.  O.  &v£yvü>,  Euseb.  chron.  83,  4  Hierou. 

24* 


372  Elftes  Kapitel. 

Kaiserzeit  häufiger  erwähnt  wird  und  vorher  einmal  am  syrischen] 
Königshofe  nachzuweisen  ist.  ^)     Bei  welcher  Gelegenheit  konnte] 
in  Athen  eine  öffentliche  Vorlesung  stattfinden  ?  ^)     Was  soll  er ; 
ferner  vorgelesen  haben?     Ein  Alter  sagt,  sein  Werk,  während 
die  Neueren   diese  unmögliche  Behauptung  durch  verschiedene] 
Vermutungen  zu  verbessern  suchen.  ^)     Indes  dürfte  der  Nach- ' 
weis    eines    Abschnittes    von    Herodots    Werk    schwer    halten, 
welcher   die   von   ihren  Rednern    umschmeichelten  Athener  zu 
der  ausserordentlichen  Ehre  eines  Nationalgeschenkes,  mag  man 
auch  eine  kleinere  Summe  annehmen,  begeistert  haben  könnte; 
bei  Pindar   liegt   die  Sache    ganz   anders.     Ist   aber  nicht  das 
Jahr  jenes  Dekretes,  Ol.  83,3  oder  4  (445)^)  überliefert?     Es  ist 
doch  merkwürdig,  dass  Herodot  mit  seinem  Werke  gerade  fertig 
war,  als  er  Reisegeld  zur  Übersiedlung  nach  Thurioi  ^)  brauchte. 
Die  Vorlesung   in  Athen   verdient   also   genau   so    viel  Glaub- 
würdigkeit wie  die  olympische^)    oder  die  Anekdote,    dass  der 
junge  Thukydides    durch   die  Vorlesung   begeistert    wurde  und 
von    Herodot    ein    glänzendes    JPrognostikon    empfing.'^)      Der 
Historiker  schrieb  überhaupt  nicht  für  Hörer,  sondern  für  Leser, 
welche    allein   den   wohlberechneten  Plan   des  Ganzen  und  die 
zahlreichen  Verweisungen    verstehen    und  würdigen  konnten.^) 


1)  Athen.  10,  432  b. 

2)  Scaliger  schlug  die  Panathenäen  vor,  ohne  einen  Beleg  beizubringen. 

3)  Zusammengestellt  bei  Bauer  die  Entstehung  S.  150  ff.,  besonders 
A.  Scholl  Philol.  10,  410  ff.  Kirchhoff  über  die  Entstehungszeit  des 
herodotischen  Geschichtswerkes,  Abhandl.  der  Berliner  Akad.  1868  u.  1871, 
2.  Aufl.  1878  (bekämpft  von  Büdinger  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad. 
72,  663  f.  und  Stein  Bursians  Jahresbericht  13,  179  ff.);  U.  v.  Wilamo- 
witz  Hermes  12,  331  A.  11. 

4)  Euseb.  chron.  83,  4  Hieron.,  83,  3  armenisch,  85,  1  Synkellos. 

5)  Ol.  83,  3  nach  Diodor. 

6)  Lucian  'HpoSoxoc  ^  'Aexicuv.  Suid.  v.  ©goxoSiSyic.  Paroem.  Gr.  I. 
app.  2,  35.  Vgl.  Ad.  Scholl  Philol.  10,  417  ff.;  die  verschiedenen  Meinungen 
verzeichnet  Bährs  Ausgabe  IV  406  ff.  Im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  wurden 
in  Olympia  historische  Schriften  vorgelesen  (Dio  Chrysost.  12,  6). 

7)  Marcellin.  vit.  Thucyd.  54.  Phot.  cod.  60  p.  19  b  38  ff.  Suidas  v. 
0ouxu8t8'/]i;. 

8)  Die  bekannte  Polemik  3,  80  und  6,  43  ist  nicht,  wie  R  oscher  Klio 
S.  93  und  andere  glauben,  gegen  solche  gerichtet,  welche  nach  einer  Vorlesung 
Herodots  ihre  Zweifel  aussprachen;  denn  wäre  die  dort  vertretene  Ansicht 
erst  von  Herodot  aufgestellt  und  ihm  eigentümlich,  würde  er  dies  nach  seiner 


■ 


Herodot  und  Ktesias.  373 

Weil  der  Historiker  das  makedonische  Königshaus  mit 
Wohlwollen  behandelte,  soll  er,  wie  andere  berühmte  Schrift- 
steller am  Hofe  von  Pella  geweilt  haben  *).  Was  endlich 
Ptolemaios  Chennos  über  das  Verhältnis,  in  welchem  Herodot 
zu  dem  thessalischen  Hymnendichter  Plesirrhoos  stand,  erzählt, 
verbietet  der  berüchtigte  Name  des  Autors  zu  glauben  ^). 

Es  bringt  mehr  Nutzen,  in  dem  Werke  selbst  die  Persön- 
lichkeit Herodots  zu  studieren  und  seine  Legitimation  zum 
Berufe  des  Historikers  zu  prüfen.  Höchst  eigentümlich  ist  zu- 
nächst die  Stellung,  welche  er  zum  Uebernatürlichen  einnimmt^). 
Wie  alle  Gelehrten  seiner  Zeit  hielt  er  die  VolksreHgion  mit 
ihren  persönlichen  Göttern  und  Sagen  für  die  Erfindung  von 
Menschen  und  wenige  Zeitgenossen,  soweit  wir  ihre  Urteile 
kennen,  sprachen  sich  so  unverhohlen  gegen  den  öffentlichen 
Kultus  aus.  Die  Verehrung  der  Gottheit  war  einst  namenlos, 
die  Namen  der  einzelnen  Götter  kamen  aus  Aegypten,  Homer 
und  Hesiod  stellten  das  griechische  Mythensystem  fest,  so  lehrt 
er  im  zweiten  Buche  (c.  48  ff.).  Die  Einfalt  der  Hellenen,  unter 
denen  nicht  einmal'  die  Athener  ihre  gewohnte  Klugheit  be- 
kunden, verspottet  Herodot  wiederholt.  Ein  Kenner  der  Natur- 
wissenschaft konnte  nur  lächeln,  wenn  man  Poseidon  Erregung 
von  Erdbeben  zuschrieb  (7,  129)  oder  die  Athener  den  Boreas 
durch    ihr    Gebet    hergerufen    zu    haben    wähnten     (7,    189). 


Gewohnheit    ausdrücklich    anzeigen;    noch    weniger   darf  man  mit  Eawlinson 
daraus  auf  eine  zweite  Ausgabe  des  Werkes  schliessen. 

1)  Ttv£?  bei  Suidas;  U.  v.  Wilamowitz  Hermes  12,  359  nimmt  an, 
er  sei  mit  Thusydides  verwechselt  worden,  anders  Bauer  Biographie  S.  414. 

2)  Bei  Photios  biblioth.  190  p.  150  b  24  fl,,  vgl,  Rud.  Hercher  über 
die  Glaubwürdigkeit  der  neuen  Geschichten  des  Ptolemaeus  Chenuus,    Leipzig 

1856;  O.  Nitzsch  de  prooemio  Herodoteo,  Greifsw.  1860. 

3)  W.  Bötticher  de  *siw  Herodoteo,  Berlin  1829;  K.  Hoffmeister 
sittlich-religiöse  Lebensansicht  des  Herodotos,  Essen  1832;  Baarts  religiös- 
sittliche Zustände  der  alten  Welt  nach  H,,  Marienwerder  1842;  Phil,  Ditges 
de  fati  apud  H,  notione,  Coblenz  1842;  F.  W.  Beisert  de  H.  deorum  cultore, 
Lauban  1846;  J.  F.  Lindemann  vier  Abh.  über  die  religiös-sittliche  Welt- 
anschauung des  H.  etc.,  Berlin  1852;  Heinr.  Runge  Herodots  Verhältnis  zum 
griech,  Volksglauben,  Hildesheim  1856;  Ferd,  Bredow  de  Herodoti  ratione 
theologica  et  ethica,  Treptow  a.  R.  L  1862.  H.  1872;  Joh.  Kitt  quae  ac 
quanta  sit  inter  Aeschylum  et  Herodotum  et  consilii  operum  et  religionis  simi- 
litudo,  Breslau  1869;  Gaisser  über  die  religiösen  Grundideen  in  Herodots 
Weltanschauung,  Tübingen  1871  (Fr.  v.  Rottweil), 


374  Elftes  Kapitel. 

Rationalistische  Erklärungen  jedoch,  wie  sie  damals  schon  be- 
liebt wurden,  nimmt  er  bloss  dann  an,  wenn  das  zu  Erklärende 
noch  besteht,  z.  B.  der  Name  der  Priesterinnen  von  Dodona 
(2,  56  f.).  Herodot  ging  über  seine  Zeit  einen  bedeutenden 
Schritt  hinaus,  indem  er  die  mythische  Periode  bei  Seite  Hess 
und  mit  der  wirklich  historischen  Zeit  begann;  beinahe  das 
allein,  was  die  Tradition  der  Barbaren  bestätigte,  schien  ihm 
mitteilenswert  ^).  Dem  Historiker  ging  es  indes  wie  vielen 
Männern  desselben  Zeitalters.  Götternamen  und  persönliche 
Mythen  warf  man  ohne  Bedenken  fort,  aber  dafür  trat  eine 
furchtbarere  Gottheit  ohne  Namen  ein,  welche  die  Geschicke 
der  Menschen  bestimmte,  den  Frevler  selbst  oder  seine  Nach- 
kommen strafte  und  den  üebermütigen  demütigte^);  das  Un- 
glaubliche vieler  Sagen  kritisierte  man  spöttisch  und  selbstge- 
fällig, aber  Orakel  ^),  Träume  *)  und  Vorzeichen  aller  Art  ^)  er- 
füllten diese  Aufgeklärten  mit  Schaudern.  An  die  Stelle  des 
Olymp  wurde  das  Zwischenreich  gesetzt,  an  die  Stelle  des  Kultus 
Mysterien  und  Weihungen.  Herodot  gehörte  zu  diesen  stark- 
geistigen Mystikern,  welche  zu  keiner  Zeit  gefehlt  haben,  voll 
und  ganz ;  da  die  Mysterien  damals  noch  nicht  so  friedlich  wie 
in  der  Kaiserzeit  nebeneinander  bestanden,  sei  beigefügt,  dass 
er  die  Altertümlichkeit  der  orphischen  Religionsurkunden  nicht 
anerkannte  ^). 

Eine  so  ausgeprägte  religiöse  Anschauung  beeinflusste 
naturgemäss  die  Auffassung  der  Geschichte  im  allgemeinen  '); 
während  Herodot,   wie  gesagt,    die  Mythen  verwarf,    verlieh  er 


1)  t  2  ö.  II  118  flf. 

2)  Ueber  den  (pÖ-ovoc  «■e&v  vgl.  Wilh.  Hoffmann  Philol.  15,  224  flf.; 
A.  Schul  er  über  Herodots  Vorstellung  vom  Neide  der  Götter,  Oflfenburg 
1869  (Diss.  V.  Freiburg). 

3)  A.  Schul  er  über  Herodots  Vorstellung  von  den  Orakeln,  Donau- 
eschingen  1879. 

4)  Herodot  gestand  mit  dem  griechischen  Volksglauben  zu,  dass  ein  Teil  der 
Träume  trügerisch  sei  (7,  IC,  2).  Herrn.  Steudener  diss.  de  divinationis 
apud  Herodoturn  ratione,  Rossleben  1866. 

6)  Z.  B.  spricht  Herodot  ausführlich  über  die  Opfer  und  Vorzeichen, 
welche  vor  der  Schlacht  von  Plataiai  gesqjiahen  (IX  33 — 38).  VI  27  (ptXeei  hi 
xux;  itpooYjjJLrxivstv,  eW  &v  fi^XX-jj  }ieY<4Xa  naxa  ^  nöXe'i  ^  tdye'i  eosaö-ai. 

6)  2,  53,  vgl.  81. 

7)  J.  Fechner  quantum  Herodoti  religio  ac  pietas  valuerit  in  histori» 
8<-ribenda,  Bromberg  1861. 


Herodot  und  Ktesias.  375 

dafür  der  historischen  Zeit  einen  mythischen  Anstrich,  weil  er 
allem  Ueberirdischen  einen  unverhältnismässigen  Platz  ein- 
räumte. Das  treibende  Moment  der  Weltgeschichte  ist  ihm  die 
Vergeltung,  mag  sie  nun  von  Menschen  oder  durch  die  Götter 
selbst  ausgeführt  werden.  Herodot  erblickt  daher  eine  fatalistische 
Verkettung  der  Dinge,  wo  an  eine  solche  nicht  einmal  gedacht 
werden  darf.  Oder  zeugt  es  von  richtigem  Urteil,  wenn  er  in 
denBeziehungen  des  Orients  und  Occident  seine  regelmässige  Folge 
von  Schlag  und  Gegenschlag  erblickt  oder  gar  behauptet,  dass 
Dareios  an  den  Skythen  für  den  Einfall  der  Kimmerier  Rache 
nehmen  wollte  (7,  20)?  Auch  im  Leben  der  Einzelnen  sucht 
er  nach  Beispielen  unerwarteter  Vergeltung  und  widmet  solchen 
nicht  wenige  Episoden.  Man  begreift,  dass  bei  einem  so  theolo- 
gischen Standpunkte  weder  die  politischen  noch  die  militärischen 
Motive  der  Ereignisse  hervorgehoben  werden ;  dieser  Grundfehler 
des  herodotischen  Werkes  tritt  sofort  hervor,  wenn  Thukydides 
verglichen  wird.  Allerdings  genügen  Herodot  die  religiösen 
Motive  nicht,  er  begründet  das  einzelne  nicht  sowohl  kleinlich, 
als,  dürfte  man  richtiger  sagen,  pessimistisch.  Er  wusste  als 
eliemaliger  Unterthan  des  Perserkönigs  wenigstens  vom  Hören- 
sagen, wie  wenig  diese  Autokraten  nach  grossen  politischen 
Ideen  handelten,  da  sie  sich  in  der  Regel  durch  ihre  augenblick- 
liche Stimmung  oder  durch  den  Rat  von  Günsthngen  lenken 
Hessen  ^) ,  und  in  Griechenland  selbst  sah  er  die  Leidenschaften 
und  Schwächen  der  Führer  und  erfuhr  die  verderbliche  Macht  ge- 
heimer Intriken  und  Bestechungen  ^).  Darum  fasste  Herodot  die 
Geschichte,  insofern  sie  nach  seiner  Vorstellung  von  Menschen 
gemacht  wurde,  höchst  pessimistisch  auf.  Damit  wird  zu- 
gleich das  Urteil  über  die  Frage,  wie  gross  bezüglich  der  Dar- 
stellung der  Perserkriege  Herodots  subjektive  Glaubwürdig- 
keit sei  %  bestimmt. 

Auf  jenem  Gebiete  lag  keine  Gefahr   näher    als    dass    die 


1)  Bemerkenswert  ist  hiefür  die  Erzählung,  wie  Dareios'  Gedanken  auf 
die  Unterwerfung  Griechenlands  gelenkt  worden  sein  sollen  (III  134). 

2)  Ueber  die  Beurteilung  des  Themistokles  Ad,  Bauer  Themistokles, 
Merseburg   1881. 

3)  N.  Wecklein  über  die  Tradition  der  Perserkriege,  Sitzungsber.  der 
bayer.  Akad.  1876  S.  239  ff.;  Herrn.  Lämmerhirt  de  Herodoti  fide  quae- 
stiones,  Halle  1874. 


376  Elftes  Kapitel. 

idealisierte  Vorstellung  von  den  Heldenthaten  der  Perserkriege, 
die  in  der  lebhaften  Phantasie  des  griechischen  Volkes,  je 
weiter  man  sich  von  jener  Zeit  entfernte,  gewiss  immer  weiter 
von  der  Wirklichkeit  abwich,  auch  die  literarische  Tradition 
beherrschte  Und  entstellte.  Weil  Herodot  der  Hauptsache  nach 
auf  die  mündliche  Ueberlieferung  angewiesen  war  *),  konnte  er 
den  üebertreibungen  derselben  nicht  völlig  entgehen;  nament- 
lich die  Angaben  über  die  Grösse  der  persischen  Streitkräfte 
oder  ihre  Verluste  erregen  vielfach  Bedenken,  wiewohl  Herodot 
die  Vorsicht  gebrauchte,  unter  verschieden  berichteten  Ziffern 
die  niederste  zu  wählen  ^).  Ebenso  wenig  fehlen  Berichte,  von 
denen  es  offenbar  ist,  dass  Herodot  der  Ueberlieferung  einer 
einzelnen  FamiHe  (z.  B.  der  Alkmaioniden  und  Philaiden)  ^) 
oder  der  offiziellen  Version  eines  Staates  folgte  *).  Aber  er 
wählte  nicht  dies  üeberlieferte  nach  Vorurteilen,  sondern  hob 
überall  zugleich  die  Licht-  und  Schattenseiten  hervor.  ,,Hier 
kann  ich  nicht  umhin,  meine  Meinung  abzugeben,  obgleich  sie 
bei  den  meisten  Anstoss  erregen  wird;  aber  ich  will  reden, 
wie  ich  es  für  wahr  halte",  sagt  der  Historiker  (VH  139),  bevor 
er  nachweist,  dass  von  der  Parteinahme  Athens  das  Schicksal 
der  Griechen  abhing.  Trotz  dieses  Urteils  war  er  weit  davon 
entfernt,  die  Phrasen  der  athenischen  Redner  für  baare  Münze 
zu  nehmen,  sondern  er  teilte  in  den  Hauptschlachten  des 
Xerxeskrieges  den  Ehrenpreis  den  Aigineten  und  Spartanern 
zu  ^).  Der  Hauptsache  nach  erscheinen  freilich  die  Perserkriege 
bei  Herodot  statt  in  verklärendem  Lichte  vielmehr  höchst 
pessimistisch  aufgefasst.     Von  nationaler  Begeisterung  ist  wenig 

1)  Er  nennt  gelegentlich  im  besonderen  Archias  von  Pitana  3,  55  und 
Thersandros  von  Orchomenos  9,  16. 

2)  7,  190;  9,  32  verhehlt  er  seine  Zweifel  nicht.  Bei  Marathon  wird 
die  Zahl  des  persischen  Heeres  nicht  angegeben.  Ueber  des  Xerxes  Streit- 
kräfte vgl.  Du  ucker  Geschichte  des  Altertums  VII  206  A.  1. 

3)  Volquardsen  Bursians  Jahresber.  19,  46;  K.  W.  Nitzsch  Rhein. 
Mus.  27,  226  ff. ;  über  5,  71,  wo  die  Alkmaioniden  hinsichtlich  des  kylouischen 
Blutbades  entschuldigt  werden,  s.  Philipp i  der  Areopag  und  die  Epheten 
S.  219  flE. 

4)  Z.  B.  der  spartanischen,  wenn  er  erzählt,  warum  den  aufständischen 
Joniern  die  Hilfe  verweigert  oder  wozu  Leonidas  ausgesendet  wurde  (Duncker 
Geschichte  des  Alterturas  VII "  S.  41  A.  1.  255  A.   1). 

6)  8,  93;  9,  64,  vgl.  71.  — .  Friedrich  Herodoti  de  Atheuiensium  et 
Laceilaemoniornm  ingenio  et  moribus  quae  scntentia  fiierit,  Zerbst  1862. 


^  Herodot  und  Ktesias.  377 

ZU  spüren,  die  griechischen  Staaten  handehi  aus  selbstsüchtigen 
Motiven  oder  gehässiger  Eifersucht,  wie  ihre  Lenker  zumeist 
liald  durch  Ruhmsucht,  bald  durch  Bestechungen  bestimmt 
werden.  An  die  Freiheitsliebe  der  Phoker  glaubt  Herodot  nicht 
mehr  (8,  30)  als  dass  die  niederen  Klassen  Böotiens  mit  der 
Politik  der  Aristokraten  nicht  einverstanden  waren  ^).  Ueber- 
haupt  denkt  Herodot  sowohl  von  der  Handlungsweise  der 
Staaten  als  der  Einzelnen  schlecht,  wiewohl  er  selten  einen 
Tadel  ausspricht;  denn  nach  einem  merkwürdigen  Ausspruche 
unseres  Schriftstellers  hat  keiner  Grund,  dem  anderen  etwas 
vorzuwerfen  ^). 

An  derselben  Stelle  spricht  Herodot  den  Grundsatz  seiner 
historischen  Kritik^)  aus:  ,,Ich  muss  das  Gehörte  berichten, 
jedoch  nicht  alles  allen  glauben,  und  dies  soll  für  mein  ganzes 
AVerk  gelten".*)  Er  fragte  zunächst  überall  herum  ^)  um  genau 
(aTpcXswc)  berichten  zu  können  ^)  Wichen  die  Nachrichten 
von  einander  ab,  dann  befolgte  Herodot  nicht  immer  dieselbe 
Methode.  Anfangs  hatte  er  den  Mut,  sofort  die  ihm  zusagende 
Version  wiederzugeben  und  die  übrigen  kurzweg  bei  Seite 
/u  lassen  oder  auch  das  verschiedene  zu  vermitteln. '')  Doch 
wurde  er  im  Fortschreiten  vorsichtiger  und  führte  auch  die- 
jenigen an,  welche  die  geringere  Wahrscheinlichkeit  für  sich 
zu  haben  schienen,  wobei  er  meistens  ausdrücklich  bemerkte, 
welche  Fassung  er  für  die  richtige  halte.  ^)  In  anderen  Fällen 
stellte  Herodot  dem  Leser  beide  Überlieferungen  zur  beliebigen 
Auswahl  hin^)  oder  deutete  nur  zwischen  den  Zeilen  an,  welche 

1)  9,  87.  40,  vgl.  Duncker  a.  O.  VII  S.  257  A. 

2)  7,  152  ETCio'cajj.ac  ?£  xoaoöxo,  Ott  el  Tzavts«;  avfl-pcuitoi  xa  olv.-i]'.a  xaxä 
£Z  }J.saov  ouvEVEixaiev  ftXXa^aa^a'.  ßöoX6[j.svo'.  xolat  irXTjaioiot,  h(ii.ö'^a'^'ztq  av  Iz 
i'j.  xtüv  ■Kzkrxq  xaxä  äaicaaicoc  ixaoxot  aöxwv  anocpspotaxo  öitiacu  xa  eofjvsuavxo. 
Wahrheit  und  Läge  regeln  sich  nach  dem  Nutzen  (III  72).  Deragemäss  urteilt 
Herodot  V  50. 

3)  Wiukler  über  die  Art  und  den  Grad  der  von  Herodot  geübten 
Kritik,  Thorn  1865. 

4)  Ebenso  II  123. 

5)  II  19.  28.  29.  34.   104.  ni  115. 

6)  Z.  B.  III  98.    115.  116.  IV  16.  25.  V  9. 

7)  I  95.  214;  I  70. 

8)  Z.  B.  n  3.  III  1—3.  9.  56.  120  f.  IV  5—13.  VI  53.  VII  213  f.  VIII 
117—20.  vgl.  I  20. 

9)  I  2—5.  III  32.  47.  122.  IV  150—54.  V  44  f.  85  f.  VII  148  ff. 
165  flf.  IX  74. 


378  Elftes  Kapitel. 

den  Vorzug  verdiene.^)  Es  kommt  jedocli  auch  vor,  dass  er 
eine  alle  Überlieferung  widersprechende  Ansicht  vorbringt,  die 
er  durch  Vernunftschi uss  gewonnen  hat.  ^)  Niclit  minder  ge- 
stattete sich  der  Historiker  sehr  oft  die  Kritik  der  Überlieferung, 
wenn  seine  Quellen  nicht  von  einander  abwichen ,  sobald  er 
eine  innere  Unwahrscheinlichkeit  zu  entdecken  glaubte.  ^)  Die 
Kritik  wird  allerdings  zu  wiederholten  Malen  in  unbeholfener 
und  uns  kindlich  anmutender  Weise  ausgeübt,  doch  darf  man 
nicht  vergessen,  dass  Herodot  vieles  richtige  bringt,  z.  B.  wem 
er  die  Epigonen  und  Kyprien  verwirft. 

Unter  wesentlich  anderen  Bedingungen  als  die  Geschieht 
der  Perserkriege  ist  der  grösste  Teil  von  Herodots  Werke,  d( 
sich  auf  die  Barbaren   bezieht,    zu    beurteilen.     Sein  Buch    is 
nicht  im  Studierzimmer  entstanden,  mag  er  auch  die  Schrifteij 
seiner  Vorgänger,    unter  denen  er  Hekataios  (2,  143)  ausdrücklicl 
nennt,   benützt  und  noch   öfter   gegen   sie   polemisiert  haben. 
Die  Grundlagen  seiner  Arbeit  sind  o^ic,  toTopiT]  und  7V(j)[i.7],  als! 
Augenschein,    Erkundigung,    Kritik.^)     Zu  einer  Zeit,    wo  d( 
griechische  Handel  fast  das  ganze  Mittelmeer  und  das  schwär? 
Meer  beherrschte,  konnte  Herodot  in  allen  bedeutenden  Häfe^ 
bei   Handelsleuten  Erkundigungen    einziehen.     ,,Ich   weiss  es* 
sagt  er  jedoch  selbstbewusst  erst  dann,  wenn  er  sich  mit  eigene^ 
Augen    von   der  WirkHchkeit    des   Berichteten    überzeugt    hal 
Welche  Reisen  Herodot  ausführte,  geht  aus  seinem  Werke  mi 


1)  z.  p..  vm  95. 

2)  I  75. 

3)  I  95.   182,  2.    II  32.  33.  73.  106,  18.   121  s  4.    IH  2.   16.    IV  16.  24 
25,  3.  26—27.  32.  105.  V  10.  32.  VI  121.  VH  152.  214.  VIII  8.  14.  119.  12< 

4)  Gefälschte  Werke  warfen  auf  Herodot  ein  falsches  Licht  (vgl.  Polioi 
itepl  TYjc  'HpoSÖTOü  xXoTC-r)«:  Porphyr.  Euseb.  praep.  ev.  10,  3,  16;  über  Hekataic 
Http'  5o  Sy)  [xdXiota  lucpeXTjtai  b  'HpöSotoi:  Hermog.  n.  13.  2,  12  wie  Suid  v.  'Exa 
taloc,  vgl.  Wiedemann  Geschichte  Aegyptens  von  Psanimetich  I.,  Leipz 
1880  S.  82  ff.;  die  Benützung  schriftlicher  Quellen  schränkt  Bernh.  Hej 
logographis  qui  dicuntur  num  Herodotus  usus  esse  videatur,  Marburg  18? 
sehr  ein.  Herodot  nimmt  auf  Landkarten  4,  36  Bezug.  In  Formeln  wie  <^ 
s^w  müvä-avo}j.ai  fordert  er  den  Leser  gewis.sermassen  zum  Vergleiche 
seinen  Vorgängern  auf.     Direkte  Polemik  II  20.  134.  III  111. 

6)  2,  99.     Daher  gibt  Herodot  seinem  Werke   die  Bezeichnung   btopiifjl 
aii68e4tc  1,  1   nnd  sagt  2,  123   ejjloI  hk  irapä  redvxa  xiv  X6'(ov  örtoxesxai  oxi 
Xe^^tJ-eva  6(p'  ixdotcuy  axo^  fp6L(f(u. 


Herodot  und  Ktesias.  379 

ziemlicher  Sicherheit  hervor.^)  Als  Thurier  war  er  iu  Uriter- 
italien  und  Sicilieii  wohl  bekannt;  das  eigentliche  Griechenland 
I)oreiste  er  gründhch,  indem  er  alle  bedeutenden  Heiligtümer,  deren 
Weihgeschenke  gleichsam  ein  Urkundenbuch  der  griechischen 
(ioschichte  abgaben,  besuchte.  Im  Nordwesten  drang  er  bis 
zum  dodonäischen  Orakel  vor,  im  Nordosten  besuchte  er  nicht 
nur  Thessalien,  sondern  legte  auch  vom  Tempethale  die  Strasse, 
^auf  welcher  einst  die  Perser  vom  Hellespont  anmarschiert  waren, 
'zurück.  Was  er  von  Asien  ^)  auf  verschiedenen  Reisen  in  Augen- 
schein nahm ,  entspricht  ungefähr  dem  Gebiete  der  asiatischen 
Türkei.  Kleinasien  durchzog  Herodot  in  mehreren  Routen  bis 
Kolchis  hin.  Kypern,  Phönikien  und  das  südliche  Syrien^) 
wurden  aufgesucht;  auch  einen  Besuch  der  babylonischen 
Wunder  konnte  er  sich  nicht  versagen."^)  Dagegen  genügten 
ITorodot  für  Eran,  Turan  und  Indien^)  die  spärlichen  und 
teilweise  fabelhaften  Nachrichten,  die  er  von  den  Persern  einzog. 
Wm  Syrien  wanderte  Herodot  an  den  Arabern  vorbei*^)  nach 
Aegypten,  das  seine  Wissbegierde  am  höchsten  reizte;^)  er  be- 

1)  K.  W.  Heyse  quaestiones  Herodoteae  I.  Berlin  1827;  KaiiHachez 
de  Herodoti  itineribus  et  scriptis,  Göttingen  1878;  R.  Fr.  Hildebrand  t  de  iti- 
iieribus  Herodoti  enropaeis  et  africanis,  Leipzig  1883.  lieber  Herodots  Geo- 
^'laphie  existiert  noch  kein  genügendes  Werk,  vgl.  Niebuh  r  über  die  Geo- 
üiaijhie  Herodots,  Kleine  bist.  11.  phil.  Schriften  I.  Bonn  1828;  J.  B.  Gail 
Litugraphie  d'Herodote,  Paris  1823,  2  Bde.  mit  Atlas;  W.  Dönniges  comm. 
(!e  geographia  Herodoti,  Berlin  1836;  Herrn.  Bobrik  Geographie  des  Herodot, 
Königsberg  1838  mit  Atlas;  J.  S.  Wheeler  the  geography  of  Herodotus, 
London  1855  (1861)  mit  Atlas. 

2)  M  a  t  z  a  t  Hermes  6,  392  flf. 

3)  Ferd.  Hitzig  de  Cadyto  urbe  Herodotea,  Göttingen  1829. 

4)  Matzat  a.  O.  S.  432  ff.,  vgl.  Job.  Brüll  Herodots  babylonische 
Nachrichten  I.  zur  Geographie  und  Topographie  von  Babylonien.  Leipzig  1879; 
II.  1.  Semiramis  und  Nitokris,  1885. 

5)  A.H.  V.W  ey  rauch  in  Morgensterns  Dörpt'sche  Beiträge  1814  II  365  ff.; 
Eyries  u.  Malte-Brun  Nonvelles  annales  des  voyages,  Paris  1819  II  2, 
'.07  ff. 

6)  Halevy    Academie    des  Inscr,  Comptes    rentlus    serie  3.  VIT.  (1871) 
^p.  231  ff. 

7)  Max  B ü dinge r  zur  egyptischen  Forschung  Herodots,  Sitzungsber. 
ler  Wiener  Akad.  72,  561  ff.,  separat  Wien  1873;  Brugsch  in  Steins  Aus- 
;abe;  G.  Maspero  Annuaire  de  l'assoc.  pour  l'encour.  des  et.  gr.  9,  16  ff. 
.0,  185  ff.  11,  124  ff.  12,  124  ff.  Annales  de  la  faculte  des  lettres  de  Bordeaux 
I  2,   105  ff.  Revue  archeol.  1884  p.  343  ff.;  Krall  Wiener  Studien  4,  33  ff. 

161  f. 


380  Elftes  Kapitel. 

sichtigte  namentlich  Unterägypten  und  Memphis,  machte  aber 
auch  eine  rasche  Fahrt  bis  Elephantine  hinauf.  In  Aegypteu 
erhielt  er  über  die  Aethiopen  einige  Nachrichten,  wie  er  m 
Kyrene  allerlei  von  den  Noraaden  der  östlichen  Sahara  hörte.  *) 
Über  das  Ostbecken  des  Mittelmeeres  ging  also  Herodots  Autopsie 
nicht  weit  hinaus;  darunter  litt  besonders  die  Darstellung  von 
Europa,  ^  weil  der  Historiker  nur  an  die  Nordküste  des  schwarzen 
Meeres  einen  kurzen  Abstecher  gemacht  hatte,  während  er  im 
übrigen  auf  dürftige  Berichte  von  Kaufleuten  angewiesen  war.^) 
Herodot  hat,  wie  man  sieht,  der  Wissenschaft  beträchtliche 
Opfer  gebracht.  Freilich  stand  der  Befriedigung  seines  Wissen 
eifers  ein  grosser  Mangel  im  Wege.  Er  verstand  als  echter 
Grieche  keine  Barbarensprache.  So  musste  er  in  fremden 
Ländern  hauptsächlich  mit  Fremdenführern  und  Dolmetschern, 
verkehren.  Man  weiss,  wie  gross  die  Genauigkeit  und  Gelel^fl 
samkeit  solcher  Leute  zu  sein  pflegt,  und  kann  einem  herv^^ 
ragenden  Aegyptologen  nicht  Unrecht  geben ,  wenn  er  sagt: 
,, Die  Denkmäler  erzählen  uns  die  Thaten  eines  Cheops,  Ramses, 
Thutmosis  oder  werden  es  eines  Tages  thun ;  aus  Herodot  er- 
fahren wir,  was  man  sich  in  den  Strassen  der  Hauptstadt  von 
ihnen  erzählte."  International  wie  diese  Menschen klasse  war  — 
man  könnte  sie  nach  dem  heutigen  Sprachgebrauche  Levantiner 
nennen  — ,  trugen  auch  die  von  ihr  herkommenden  Nachrichten 
einen  internationalen  Charakter.  Daher  kommt  es,  dass  die 
sogenannten  Perser  und  Aegypter  in  der  griechischen  Mythologie 
bewandert  sind  und  überhaupt  ihre  Mitteilungen  dem  Fremdling 
durch   hellenische  Form    mundgerecht    machen.     So    sehr   wir 


1)  Herrn.  Schlichthorst  geographia  Africae  Herodotea  und  Joh.  Hen- 
nicke  corara.  de  geographia  A.  H.  Göttingen  1784;  C.  Sei).  Seife rliug  de 
geographia  A.  H.,  Marburg  1844. 

2)  H.  V.  Seh  werin  Herodots  framställning  af  Europas  geografi,  Lnnd  1884. 

3)  Von  der  reichen  Literatur,  welche  das  herodotische  Skythien  und 
dessen  Umgebungen  betrifft,  nenne  ich  bloss  die  neueren  Erscheiuungen :  Ph. 
Bruun  essai  de  concordance  entre  les  opinions  contradictoires  relatives  ^  la 
Scythie  d'Herodote,  Odessa  1874;  Bonneil  Beiträge  zur  Alterthuniskunde 
Russlands  I.  Herodot,  seine  Vorgänger  und  einige  spätere  Schriftsteller,  Peters- 
burg 1882;  O.  Genest  osteuropäische  Verhältnisse  bei  H.,  Quedlinburg  1883; 
G.  Mair  das  Land  der  Skythen  bei  H.,  Saaz  1884;  über  das  Federnland 
Fred.  Schiern  fiorene.s  land.  Bernärkniuger  til  nogle  .steder  i  Herodots  fjerde 
bock,  Kopenhagen  1875;  Borggreve  Ausland  1876  S.  238. 


Herodot  und  Ktesias.  '  381 

demnach  die  Unermüdlichkeit  des  Geschichtsschreibers  be- 
wundern müssen,  so  sind  seine  Nachrichten  über  die  Barbaren- 
länder aus  den  geschilderten  Gründen  mit  grosser  Vorsicht  zu 
benützen.  Schlimm  steht  es  besonders  um  die  Chronologie  und 
die  Reduktion  der  fremden  Masse,  ^)  weil  Herodot  für  das  Zahlen- 
wesen überhaupt  nicht  veranlagt  ist;  behauptet  er  doch  abge- 
sehen von  anderen  Ziiferfehlern  '^)  die  Sonnenfinsternis  von  478 
habe  den  Perserkrieg  verkündet,^)  und,  wenn  die  Historiker 
über  die  Chronologie  des  jonischen  Aufstandes  und  des  ersten 
Perserkrieges  nicht  ins  Reine  kommen,  liegt  die  Schuld  an  der 
Unklarheit  Herodots.  '*) 

Sowohl  seine  Begabung  als  seine  Neigung  lag  auf  einem 
anderen  Gebiete.  Wir  haben  gesehen,  dass  Herodot  mit  grossem 
Eifer  das  Material  von  allen  Seiten  sammelte,  dass  er  ferner 
über  Kritik  gesunde  Grundsätze  hatte.  Ungeachtet  der  Mangel- 
haftigkeit des  Materials  hätte  er  eine  höhere  Stufe  der  Geschichts- 
schreibung erreichen  können,  wenn  ihm  ein  gefährliches  Talent 
in  geringerem  Masse  verliehen  gewesen  wäre.  In  unserer  Zeit 
würde  Herodot  vielleicht  zu  den  bedeutendsten  Romandichtern 
gehören,  damals  schrieb  er  seine  Geschichte  so,  dass  sie  einem 
historischen  Romane  glich  ^).  Er  lässt  unbefangen  seine  Per- 
sonen sich  so  unterhalten ,  als  ob  er  dabei  gewesen  wäre  und 
alles  bis  auf  das  Wort  genau  wüsste;  Gespräche  unter  vier 
Augen  machen  davon  nicht  die  geringste  Ausnahme.  Den 
Schein  der  Wirklichkeit  steigert  der  Historiker  dadurch,  dass 
z.  B.  die  Worte  der  Barbaren  ein  orientalisches  Kolorit  erhalten^). 
Ein  solcher  Wechsel  von  Erzählung  und  Rede  ist  unverkennbar 
dem  homerischen  Epos  abgelauscht).     Wo  immer   es    angeht, 


1)  Hultsch  griechische  und  römische  Metrologie  S.  *57  ff.  362  ff. 

2)  Böckh  Staatshaushaltung  der  Athener  1362;  Metropulos  Unter- 
suchungen über  das  lakedämonische  Heerwesen  S.  61 ;  die  Chronologie  von 
1,  65  verteidigt  Unger  Jahrbb.  f.  Phil.  127,  383  ff. 

3)  A.  Schäfer  de  rerum  post  bellum  Pers.  usque  ad  tricennale  foedus 
in  Graecia  gestarum  temporibus,  Leipzig  1865  p.  5. 

4)  Duncker  Geschichte  des  Alterthums  VII='  30  f.  A.  2. 

6)  Beruh.  Erdmannsdörffer  das  Zeitalter  der  Novelle  in  Hellas, 
Berlin  1870  S.  29  f. 

G)  Theon  npo-^uit.v.  p.  116,  7  ff.  Dionys.  rhetor.  11,4.  Vielleicht  ist  bei 
Artabanos  7,  16  die  Geschwätzigkeit  des  Alters  angedeutet. 

7)  Nikolaos  npoYujiv.  p.  455,  27  Sp. 


283  Elftes  Kapitel. 

vermeidet  Herodot  die  Motive  der  Handlungen  selbst  ausführ- 
lich zu  erörtern,  weil  er  lieber  einen  König  mit  seinem  Rate 
vorführt  oder  den  Leser  in  eine  Volksversammlung  versetzt. 
Der  Anschaulichkeit  der  Erzählung  wird  sogar  die  Wahrschein- 
lichkeit aufgeopfert,  oder  istesz.  B.  glaubwürdig,  dass  die  Griechen 
erst  angesichts  der  Perser  in  Plataiai  ratschlagten  (9,  41)?  8o 
trat  der  Historiker  oft  hinter  dem  Dichter  zurück. 

Die  Komposition  des  Ganzen  ist  gleichfalls  nicht  a\. 
dem  wissenschaftlichen  Bedürfnisse  erwachsen,  sondern  teils 
dem  poetischen  Streben^)  teils  der  ethischen  Weltanschauung 
des  Verfassers  entsprungen.  Wiewohl  die  Einheit  des  Stoffes 
schon  zu  Stande  gekommen  wäre,  wenn  Herodot  die  Perserkriege 
allein  zum  Gegenstande  seiner  Geschichte  gewählt  hätte,  fasste  er 
sie  welthistorisch  wie  einen  einzelnen  Abschnitt  des  Ringkampfes 
der  Asiaten  und  Hellenen  auf.  Darum  begann  er  mit  Kroisos, 
der  ,, zuerst  den  Hellenen  Unrecht  zufügte".  Hingegen  läs.^i 
Herodot  die  Wahrheit  der  Mythen,  welche  Orient  und  Occideui 
in  Verbindung  bringen,  dahingestellt  und  zeigt  seine  Verachtung 
der  hellenischen  Mythen  recht  deutlich,  indem  er  einleitungs- 
weise nicht,  was  die  Griechen  allein  über  den  Raub  von  Heroe| 
frauen  erzählten,  sondern  bloss  die  Ansichten  der  sogenannt 
Perser  und  Pliöniker  mitteilte.  Wir  sehen  übrigens  darai 
dass  der  herodotische  Kausalnexus  in  manchen  Kreisen,  w( 
man  Recht  und  Unrecht  des  grossen  Kampfes  erörterte,  schon 
vorbereitet  war^).  Den  eigentlichen  Perserkriegen  gehen  also 
bei  Herodot  die  Angriffe  des  Kroisos,  Kyros'  Unterwerfung  der 
asiatischen  Griechen  und  der  jonische  Aufstand  voraus;  diese 
Ereignisse  bilden  den  Rahmen  für  zahlreiche  Episoden  und 
Exkurse,  in  denen  Herodot  die  ältere  griechische  und  orien- 
talische Geschichte,  sowie  die  Geographie  und  Ethnographie 
ferner  Länder  ausführlich  bespricht.  Am  unvollkommensten 
ist  im  ersten  Teile  ,, Kroisos,  Uebermut  und  Ende"  (I  6 — 94) 
der  Zusammenhang  zwischen  Text  und  Exkursen.  Nachdem 
närnlich  Herodot  den  Satz,  dass  Kroisos  der  erste  Barbarenfürst 
war,  welcher  gegen  die  Griechen  einen  Angriffskrieg  führte, 
an  die  Spitze  gestellt  hat,  geht  er  ohne  weiteres  auf  die 
ältere  Geschichte  des  lydischen  Reiches   über   (7 — 25)   und  ge- 

1)  Otto  Anhalt  quaeatio  Herodotea,  Cöthen  1884    vergleicht  Herodota 
Werk  mit  einer  Tragödie. 

2)  Vgl.  auch  das  Orakel  bei  Herod.  7,  169  und  Isocrat.  10,  61. 


Herodot  und  Ktesias.  3^H3 

stattet  sich  mit  der  wunderbaren  Geschichte  des  Arion  eine 
unentschuldbare  Episode  (23.  24).  An  die  Unterwerfung  der 
Jonier  und  die  Befragung  griechischer  Orakel  reiht  sich  der 
Bericht,  wie  Kroisos  mit  den  Griechen  verhandelte,  weshalb  die 
damalige  Machtstellung  von  Athen  und  Sparta  geschildert  wird 
(56—68);  die  ethnographischhnguistische  Abhandlung  über  die 
Pelasger  (56—58)  ist  an  dieser  Stelle  lästige  Gelehrsamkeit. 
Es  folgt  Kroisos'  Auszug  und  Fall^  worauf  ein  Anhang  seine 
Weihgeschenke  und  Lydiens  Merkwürdigkeiten  und  Bräuche 
(92 — 94)  darstellt.  Wer  war  aber  nun  der  Besieger  des  Kroisos? 
fragt  Herodot^).  Weil  Kyros  das  medische  Reich  übernahm, 
l)erichtet  er  die  medische  Geschichte,  ohne  sich  auf  die  assyrische, 
weil  sie  zu  weit  abführen  würde,  einzulassen  (I  95-130),  und 
stellt  die  Eigentümlichkeiten  des  persischen  Volkes,  welchen  es 
seine  Errungenschaften  verdankte,  dar  (I  131 — 140).  Herodot 
kehrt  hierauf  wieder  zum  Zusammenhange  zurück.  Die  Lyder 
werden  durch  die  Perser  ersetzt,  welche  die  Bewohner  der 
kleinasiatischen  Westküste  unterwerfen,  wobei  Herodot  Exkurse 
über  diesen  einflicht  (I  141 — 176).  Von  den  übrigen  Thaten 
des  Kyros  will  er  nur  die  wichtigsten  erwähnen  (177);  er  wählt 
die  Eroberung  der  Weltstadt  Babylon  und  den  verhängnisvollen 
Zug  gegen  die  Massageten  und  verflicht  die  historischen  Nach- 
richten mit  der  Geographie  und  Ethnographie  in  der  kunst- 
vollen Weise,  dass  er  beide  Gruppen  in  je  zwei  Stücke  zer- 
legt^). Der  von  Kambyses  auf  Aegypten  unternommene  An- 
griff (11  1)  ermöglicht  eine  ausführliche  Schilderung  dieses 
merkwürdigen  Landes  hinsichtlich  der  Geographie,  der  Wunder- 
werke und  der  Geschichte  (II  2 — 182).  „Kambyses  in  Aegyp- 
ten, sein  Ende,  die  Magier,  Dareios'  Thronbesteigung"  führen 
den  Faden  der  persischen  Geschichte  fort,  wobei  der  Historiker 
mit  richtigem  Takte,  Episoden  von  grösserem  Umfange,  z.  B. 
über  die  Aethiopen,  einzulegen  unterlässt;    dagegen    nimmt   er 


1)  Ein  neuer  Fund  hat  eine  Kyrosfrage  geschaffen  ;  vgl.  V.  F  1  o  i  g  1 
Cyrus  und  Herodot  nach  den  neugefuudenen  Keilinschriften,  Leipzig  1881; 
A.  Bauer  die  Kyrossage  und  Verwandtes,  Wien  1882;  Hal^vy,  Delattre 
und  Sayce  in  der  Zeitschrift  Le  Museon  1883  II  Nr.  1.  3.  4;  E.  Evers  das 
Emporkommen  der  persischen  Macht  unter  Cyrus,  Berlin  1884. 

2)  1178;  178—187;  188—91;  192— 200— 20J  .— .  201—204;  204—14; 
216.  216. 


384  Elftes  Kapitel. 

nach  dem  langen  ägyptischen  Exkurse  Gelegenheit,  die  di 
Persern  folgenden  Griechen  hervorzuheben  (III  1.  25).  Herod^ 
stellt  den  Zusammenhang  noch  deutlicher  her,  indem  er  eine 
Episode  über  Polykrates  von  Samos  und  sein  Verhältnis  zu 
den  Griechen  einflicht  (III  39 — 60) ;  obgleich  er  die  Länge 
dieses  mit  den  Thaten  des  Kambyses  nur  lose  zusammen- 
hängenden Einschiebsels  durch  die  drei  Merkwürdigkeiten  von 
Samos  ausdrückhch  motiviert,  hat  ihn  gewiss  der  Wunsch,  die 
Griechen  nicht  ganz  aus  den  Augen  zu  verlieren,  dazu  be- 
wogen ;  denn  er  spart  Polykrates'  Tod  für  später  auf.  Dareios 
ist  der  erste  persische  König,  welclier  die  Unterwerfung  von 
ganz  Hellas  ernstlich  ins  Auge  fast;  damit  die  Leser  eine  Vor- 
stellung von  seinen  Machtmitteln  gewinnen,  schildert  Herodot  III. 
89 — 117  die  Organisation  des  persischen  Reiches  und  hängt 
daran  ganz  äusserlich,;  was  er  über  die  Völker  an  den  Enden 
der  Erde  in  Erfahrung  gebracht  hat.  Da  der  Faden  einm^||| 
verloren  scheint,  wird  noch  rasch  eine  merkwürdige  GeschichlWI 
mitgeteih  (III  118.  119).  Herodot  erzählt  den  Tod  des  Poly- 
krates, der  noch  unter  Kambyses  stattfand,  jetzt  erst,  nicht 
sowohl  weil  die  Weltordnung  Dareios  zur  Bestrafung  des 
Mörders  benützte,  als  weil  der  Geschichtsschreiber  jenes  Ereignis 
gleichsam  als  eine  Vorbedeutung  der  Ofifensivpläne  des  Dareios 
darstellt.  Er  setzt  sodann  breit  und  redselig  auseinander,  wo- 
durch die  Gedanken  des  Grosskönigs  auf  Griechenland  gelenkt 
wurden  und  weshalb  die  ersten  Perser  dort  erschienen;  auch 
wird  die  Eroberung  von  Samos  mitgeteilt.  Von  den  Thaten 
des  Dareios  kommen  nur  die  zur  Sprache,  welche  sich  direkt 
oder  indirekt  auf  Griechenland  beziehen  ^),  ausser  dass  Herodot 
sich  wiederum  nicht  versagen  kann,  den  Abfall  und  die  Wieder- 
eroberung von  Babylon  zu  schildern  (III  150 — 160).  Hier  war 
ohne  Zweifel  die  Stelle,  welche  er  anfangs  zur  Einschaltung 
der  assyrischen  Geschichte  bestimmt  hatte.  Nachdem  der 
Historiker  jedoch  seine  Kompositionsmethode  vervollkommnet 
hatte,  musste  er  einsehen,  dass  es  nicht  anging,  einem  ohnehin 
nicht  zur  Sache  gehörigen  Abschnitte  einen  ausführlichen 
Exkurs,  dessen  Interessantestes  bereits  vorweg  genommen  war, 
anzufügen.  Hingegen  konnte  sich  Herodot  solche  Abschweifungen 
gestatten,  als  er  die  gegen  die  Skythen  und  ßarka   gerichteten 


1)  Z.  B.  wird  der  1,  130  berührte  Aufstand  der  Meder  uicht  erzählt. 


I 


Herodot  und  Ktesias.  3g5 

Züge  schilderte,  und  selbst  hier  beobachtete  er  niclit  mehr  das 
einlache  Verfahren,  welches  bei  Aegypten  zur  Anwendung  ge 
kommen  war,  sondern  verteilte,  was  er  über  die  Skythen  und 
ihre  Nachbarn  7ai  sagen  hatte,  in  drei  durch  Erzählung  ge- 
trennte Abschnitte  (IV.  1—82.  99—101.  103—117).  Dagegen 
ist  die  Schilderung  der  libyschen  Völker  (IV.  168 — 199)  nicht 
ungesucht,  während  es  wohl  passt,  dass  die  ältere  Geschichte 
der  Kyrenaika  (IV  145  — 167)  eingeflochten  wird.  In  den 
Episoden  sind  gewöhnlich  Geographie,  Sitten  (\i6\loi)  und  Merk- 
würdigkeiten (^wjxaTa,  -ö-wiidata)  behandelt,  indes  fasst  sich  Herodot 
kürzer,  wenn  seine  Nachrichten  dürftiger  sind  oder  auch  wenn 
er,  wie  bei  der  Landeskunde  Persiens,  die  Vorgänger  nicht  zu 
überbieten  weiss.  Von  nun  an  läuft  die  Erzählung  von  der 
Unterwerfung  Thrakiens  und  Makedoniens  ununterbrochen  ohne 
grosse  Abschweifungen  fort;  nur  am  Anfange  verleitet  die 
Ethnographie  Thrakiens  Herodot  zu  einem  längeren  Einschiebsel. 
In  einem  Flusse  kann  er  freilich  nie  erzählen ;  jeden  Augen- 
blick fällt  ihm  etwas  ein,  sei  es  dass  ein  Detail  ihm  merk- 
würdig scheint  oder  dass  er  in  die  Vergangenheit  zurückgreift 
oder  auch  etwas  späteres  vorwegnimmt.  Bald  kämpft  auch 
der  Historiker  gegen  irrige  Meinungen  an,  bald  macht  er 
den  Leser  aufmerksam ,  dass  er  zuerst  dieses  und  jenes  beob- 
achtet habe. 

Das  Werk  schliesst,  wie  es  uns  jetzt  vorliegt,  mit  dem 
Falle  von  Sestos  (478).  Man  kann  darüber  streiten,  welches 
Ende  Herodot  den  Perserkriegen  setzte,  ob  er  das  Jahr  für 
einen  passenden  Abschluss  erachtete,  wo  die  Offensive  der 
Perser  zurückgewiesen  war  und  die  Dinge  in  gewissem  Sinne 
so  lagen  wie  vor  Kroisos'  Zeiten,  oder  ob  er  mit  den  Thaten 
Kimons  dem  Werke  einen  glänzenden  Schluss  geben  wollte; 
jedenfalls  ist  es  wedervomGesichtspunkteder  Komposition  möglich, 
dass  Herodot  seine  Weltgeschichte  mit  einem  so  wenig  epoche- 
machenden Ereignis  schliessen  wollte,  noch  irgendwie  glaublicb, 
dass  er  ohne  das  kürzeste  Nachwort  die  Feder  weglegte^).  Ohne 
Zweifel  wurde  er  durch  den  Tod  verhindert,  sowohl  das  Buch 
zu  vollenden  als  auch  demselben  die  letzte  Feile  zu  geben.    So 


1)  Anders  Bauer  Herodots   Biographie  S.  392  und  besonders  Gomperz 
Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  103,   141  ff. 
Situ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  25 


386  Elftes  Kapitel. 

schied  er  aus  der  Welt,  ohne  manches  Versprechen,  das  er  den] 
Lesern  gemacht  hatte,  zu  erfüllen.     Es  ist  nur    ein  Notbehelf, 
wenn  man  annimmt,  die  Ermordung  des  Ephialtes  (7,  123)  sei 
in  der  Lücke  hinter    8,  120  erzählt    gewesen  ^).     Aber  die  An- 
kündigung 2,  161  wird  im  vierten  Buche  (c.  159)  bloss  unvoll- 
kommen erfüllt.     Auf  eine  noch  auffallendere  Lücke,  das  Fehlen 
der  'Aaauptot  Xöyoi,  ^haben  wir  bereits   früher    hingewiesen  und 
sie  zu    erklären   versucht^).     Ausser   manchen  Ungleich mässig- 
keiten  ^)  kommen   zahlreiche  Wiederholungen  *)    vor,    die  indesJ 
bei  einem  so  redseligen  Schriftsteller  nicht  sonderlich  auffallen,] 
wiewohl  man  zugeben  darf,  dass  Herodot    bei   der    endgiltigei 
Durchsicht  seines  Werkes  viele  davon    entfernt    hätte.     Er  be 
mühte  sich  aber  sofort  bei  der  Niederschreibung,    durch    uner- 
müdliche Vor-  und  Rückverweisungen'')  die  einheitliche  Kompo- 
sition des  Werkes  seinen  Lesern  klar  zu  machen.   Dessungeachtet 
gaben  jene  Mängel  zugleich  mit  einem  eigentümlichen  Sprach- 
gebrauche Herodots,  welcher  bei  Verweisungen  sv  stepotat  Xö^oiat 
u.  dgl.  zu  sagen  pflegt,  d.  h.  „an  einer  anderen  Stelle"  ^),  der 


1)  Vgl.  Ad.  Kirch  ho  ff  Sitzungsber.  der  Berliner  Akad.   1885  S.  301  flf^ 

2)  1,  106.  184.    Vergessen  kann  Herodot  sein  Versprechen  nicht  haber 
weil  er  4,  1  auf  1,  106  vei-weist.     Ueber  die  Frage   vgl.   zuletzt  E.  Bachoi| 
Jahrbb.  f.  Phil.  115,  577  fif.  Karl  Hachez  de  Herodoti  itiueribus  et  scriptis 
Göttingen  1878  p.  44  ff. 

3)  Ad.  Scholl  Philol.  9,  203  fif. 

4)  Kose  hat  Herodot  sein  Werk  selbst  herausgegeben?  Giessen  18791 
S.  7;  Bachof  quaestiuncula  Herodotea,  Eisenach  1880  S.  3  ff.  (S.  7  ff .  sindl 
die  Stellen  verzeichnet,  wo  Herodot  ausführlicher  ist  als  an  den  ähnlichen  1 
früheren ,  z.  B.  sind  die  persischen  Kronrichter  statt  HI  14  erst  c.  31  er-j 
läutert).  Die  auffallendste  Wiederholung  (8,  104  vgl.  1,  175  am  Aniang)  wird 
von  Valckeuaer,  Stein  und  Gomperz  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  103,^ 
696  ausgeschieden. 

5)  Am    vollständigsten    bei    Engelbr.    Ammer     Herodotus    Halic.    quo^ 
ordine  libros  suos  conscripserit,  Würzburg  1881  p.  9  zusammengestellt. 

•     6)  Ueber  das  Wort  vgl.  Ad.  Bauer  die  Entstehung  des  herodotischen  Ge 
Schichtswerkes,  Wien  1878  S.  7  ff.  Wir  haben  zu  unterscheiden  I.  Selbstcitate 
im  Perfekt:  bestimmt  6,  36  ev  T(j)  nputxip  tü»v  "köfutv  (=  AoSiaxd  1,  92),  ande 
7,  93  EV  xotGi  itptuToio'.  TÄv  Xö^wv  gegcu  Anfang    (1,  171);    II.  im  Futur: 
stimmt  2,  161  ev  toiot  Aißuxoiai  Xo^oiot  =  4,  159  fl'.;  1,  184  ev  toIoi  'Aaoopiotot 
'kö^o'.Qi;  unbestimmt  1,  75  ev  xolat  oiriatu  XofoiGi  (=  1,   107  flf.),  6,  22    (=  8,1 
137)  u.  7,  213  ev  t.  ouio^e  X.,  1,  106  ev  kxipoiai  X.,  2,  38  (=  3,  28)  u.  6,  39J 
(=  6,  103)    ev   äXXy    Xö^ip;    bloss    Botepov    2,  101    (vgl.  149);    ohne   ZnsatJ 
Äitirjifrjoojjiat  4,  145  (vgl.  1G6);  umständlicher  6,  19  (vgl.  6,  77). 


Herodot  und  Ktesias.  387 

Anstoss  zu  der  Theorie,  dass  Herodot  zuerst  historische  Mono- 
graphien verfasste  und  erst  später  auf  den  Gedanken,  sie  zu 
einem  Ganzen  zusammenzuarbeiten  verfiel,  ohne  dass  ihm  die 
vollständige  Durchführung  seines  Planes  gelungen  sein  soll  ^). 
Nicht  minder  verbieten  jene  Wechselbeziehungen  die  Annahme, 
dass  zwischen  der  Abfassung  der  einzelnen  Teile  des  Buches 
längere  Zwischenräume  gelegen  seien  ^).  Es  mag  die  Phantasie 
reizen,  die  Entstehung  eines  so  kühnen  Werkes  sich  vorzu- 
stellen, doch  spricht  der  objektive  Thatbestand  für  die  bisher 
aufgestellten  Hypothesen  nicht.  Höchstens  könnten  mit  Hilfe 
der  Sprache  die  verschiedenen  Schichten  gesondert  werden^). 
Wenn  der  Mangel  einer  definitiven  Bearbeitung  schon  in 
den  Details  der  Erzählung  sich  äussert,  muss  noch  mehr  die 
stilistische  Form*)  darunter  leiden.  Herodot  hat  also  ohne 
Zweifel  nicht  sein  volles  Können  gezeigt.  So  sind  denn  die 
F'ehlerdes  Stiles  milde  zu  beurteilen.  Von  den  älteren  Historikern 
unterscheidet  seh  Herodot  darin,  dass  er  nicht  mehr  naiv  erzählt. 
Im  Satzbau  weicht  er  von  ihnen  nicht  bedeutend  ab,  wenn  er 
auch  die  lose  und  bequem  neben  einander  gestellten  Sätze 
(£ipo[j.svTr]  Xl^tc)  mannigfaltiger  baut^);  zahlreiche  Anakoluthe '^) 
und  Attraktionen  '^)  erschweren  nicht  das  Verständnis,  sondern 
verhindern  die  Einförmigkeit  und   bringen    doch    zugleich    den 


1)  Zuerst  von  Tbeod.  Heyse  quaestioues  Herodoteae  I.  Berlin  1827 
aufgestellt  (sofort  von  Heinr.  Jäger  disputatioues  Herodoteae  duae,  Göttingen 
1828  bekämpft);  Ad.  Scholl  Philol.  9,  193  ff.  10,  25  ff.  410  ff.  (besonders 
S.  427  ff.);  Max  Büdinger  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  72,  561  ff.;  Ad. 
Bauer  a.  O.;  O.  Nitzsch  Abhandlung  über  Herodot,  Bielefeld  1873;  vgl. 
Rose  a.  O.  und  Bachof  a.  O. 

2)  Ad.  Kirchhoff  über  die  Entstehungszeit  des  herodotischen  Ge- 
schichtswerkes, 2.  Aufl.  Berlin  1878;  vgl.  oben  S.  372  A.  3. 

3)  „Auch  jetzt  noch"  heisst  xal  vöv  exi  I  167.  173.  HI  48.  vüv  I'ti  I  57 
oder  bloss  xal  vöv  I  50.  IV  12.  15  (wobei  xal  Satzpartikel  ist) ,  hingegen  in 
der  Geschichte  der  Perserkriege  l'xt  xal  vöv  VH  178.  sxi  v.a\  ec  toSe  VII  123, 
umständlicher  VIII  33.  Das  II.  Buch  geht  mit  der  zweiten  Gruppe  (etc  v.a\ 
vBv  99.  ETI  xal  £<;  toSe   135,  aber  auch  xal  vüv  stt  135 ;  mit  VIH  33  vgl.  II  99). 

4)  Zimmermann  Bemerkungen  über  den  Stil  des  Herodot,  Clausthal 
1851;  Wen  dt  de  oratione  Herodoti,  Greiffenberg  1856;  Cassian  Hof  er  über 
die  Verwandtschaft  des  herodotischen  Stiles  mit  dem  homerischen,  Meran  1878. 

5)  Dionys.  compos.  verb.  4.  Demetr.  ic.  epfXTjv.  12.  Menand.  iittBstxx 
7  extr. 

6)  Samuel  Me lau  der  de  anacoluthis  Herodoteis,  Lund  1869. 

7)  Emau.  O.  May  de  attractiouis  usu  Herodoteo,  Bre.slau   1878. 

25* 


388  t.}fies  Kapitel. 

Schein  der  Zwangslosigkeit  hervor.  Die  Wortstellung  ^)  ist 
keineswegs  natürlich  und  ungesucht,  weil  Herodot  z.  B.  das 
Subjekt  mit  Vorliebe  hinter  das  Zeitwort  stellt  und  die  zusammen- 
gehörigen Worte  durch  Einschiebsel  trennt;  manchmal  ist  die 
Stellung  sogar  rein  dichterisch  ^).  Noch  mehr  beansprucht 
Herodot  im  Wortgebrauch  die  Freiheiten  der  Dichter,  z.  B 
vergleicht  er  die  Mauern  mit  Gewändern  {zBiyßoiv  xt^tövsc  7,  139) 
und  bezeichnet  schöne  Frauen  als  ,,  Augenschmerzen"  (aX^rj^övac: 
o^'&aXfiwv  5,  18)^).  Von  Homer  hat  er  die  epische  Breite  ange- 
nommen ^).  Ausdrücke  werden  häufig  durch  Zusätze  (z.  B. 
Verba  durch  Partizipien)  verstärkt  oder  näher  bestimmt;  Paren- : 
thesen  oder  grössere  Einschiebsel  schliesst  Herodot  gerne  in 
epischer  Weise  mit  den  nämlichen  Worten,  wie  er  sie  einge- 
leitet hatte ;  an  das  Epos  erinnern  gleichfalls  eigentümhche 
Pleonasmen  wie  wenn  ein  Kausalsatz  nicht  unmittelbar  zu  der  i 
dadurch  begründeten  Thatsache  tritt,  sondern  diese  apodiktisch 
hingestellt  und  dann  mit  der  Partikel  y^P  und  jenem  Neben- 
satze verbunden  wird  ^).  Ein  gerechtes  Urteil  über  Herodots 
Stil  zu  fällen  scheint,  weil  von  der  älteren  Prosa  der  Jonier; 
sonst  höchst  dürftige  Ueberreste  vorliegen,  unserer  Wissenschaft 
versagt;  denn  wir  können  weder  sagen,  wie  sich  Herodot  im 
einzelnen  zu  seinen  Vorgängern  verhielt  noch  ob  er  von  den 
älteren  Sophisten  (Protagoras,  Hippias  und  Prodikos)  wirksame 
Anregungen  erhalten  hatte.  Soviel  dürfte  aber  feststehen,  dass 
Herodots  Stil  nicht  naiv,  sondern  künstlich  geformt  ist,  gerade 
wie  auch  sein  Wortschatz  nicht  den  der  jonischen  Volkssprache 
repräsentiert^).    Ein  genauerer  Nachweis  des  letzteren  ist  aber 


1)  Ilepl  Z'^ooi  22  p.  272,  31  flf.  Demetr.  n.  ipp-fjv.  112. 

2)  Z.  B.  7,  10  am  Ende  •»]  oe  -(e. 

3)  Getadelt  lUpl  ü^/oüc  4,  7;  im  allgemeinen  Demetr.  n.  ^pfi"$v.  112. 
Euötath.  in  Odyss.  p.  1867.  Eine  Wendung  von  7,  lül  ist  aus  einem  Epi- 
gramm entlehnt    (Plut.  Cim.  7,    vgl,  H.  Weil  Revue  de  philol.    1877    p.  96). 

4)  C.  M.  Zander  de  epanalepsi  Homerica  et  Herodotea,  Land  1871. 

6)  Z.  B.  8,  110  'Aö'Tfjvaiot  oi  ETCetä-ovtO'  eTteiSv]  ^äp  xal  irpötepov  SeSoffisvoc 
eivat  aofbz  e^pdvYj  eöuv  aXTjö-ecuc  ootpoc    te    xal  eüßoükoc,    irävTtuc   itoijxoi  -rjoav 

6)  Hermog.  n.  18.  p.  362,  14  flf.i  Ealey  Transactions  of  the  Cambridge 
Philosoph.  Society  XI  2  (1869)  p.  369  fl'.  vergleicht  die  homerische  Sprache. 
'Ojj.Tjpcxu)TaToc  heisst  Herodot  Ilepl  ü({/oui;  2,  3. 


Herodot  und  Kfresias.  389 

jetzt  nicht  möglicli.  Das  Dritte  „ignorabimus"  gilt  der  Gestalt 
des  jonisclieu  Dialektes.  Welche  Mundart  hat  Herodot  gewählt 
und  in  welchem  Grade  hat  er  sie  mit  homerischen  Formen 
versetzt?  ^)  Dies  sind  Fragen,  auf  welche  die  in  dieser  Be- 
ziehung stark  abweichenden  Handschriften  keine  Antwort 
geben,  und  auch  die  Inschriften,  wenn  deren  mehr  gefunden 
würden,  könnten  nicht  weiter  helfen  ^).  Soviel  aber  hat  die 
Durchforschung  von  Halikaruassos  klar  gestellt,  dass  Herodot, 
obwohl  er  sich  als  Dorier  und  echten  Hellenen  fühlte  (7,  99), 
keine  fremde  Mundart  anwendete;  es  sprachen  ja  auch  seine 
Mitbürger  jonisch. 

Will  man  das  Ansehen,  in  welchem  Herodots  Werk  stand, 
richtig  abschätzen,  so  muss  Inhalt  und  Form  gesondert  be- 
sprochen werden.  Die  älteren  uns  bekannten  Urteile  beziehen 
sich  insgesammt  auf  den  ersteren.  Thukydides  hat  Herodot 
wahrscheinlich  in  der  Einleitung  benützt,  doch  auch,  ohne 
seinen  Namen  zu  nennen,  mehrere  Angaben  seines  V^orgängers 
bestritten  und  verbessert  ^).      Plato   ignorierte   ihn    zu  Gunsten 


1)  Dionysios,  welcher  übrigens  epist.  ad  Pomp,  de  praecip.  liist.  3  p.  130 
Herodot  'JdtSot;  apizxor  xavcov  nennt  (vgl.  Phot.  cod.  60  am  Anfang),  fand 
solche  bereits  in  seiner  Handschrift,  weshalb  ihm  der  Dialekt  im  Vergleich 
mit  dem  des  Hekataios  ttoixiXy]  schien. 

2;  K.  L.  Struve  quaestionum  de  dialecto  Herodoti  spec.  I.  II.  IH. 
1828—30  (Opnscnla  seleeta  II  p.  256—362);  Ferd.  Bredovius  quaestt.  critt 
de  dialecto  Herodotea  libri  IV.,  Leipzig  1846  ;  W.  Dind  or  f  in  der  Didotschen 
Ausgabe  p.  I — XLIV.  (der  strenge  Analogie  fordert);  im  einzelnen  G.  Klo p  p 
de  augmento  Herodoteo,  Schleusing  1848;  E.  Abicht  Philol.  11,  270  ff.; 
über  Kontraktion  Abicht  quaestt.  de  dialecto  Herodotea  spec.  I.  Göttingen 
1859,  Reinh.  Merzdorf  quaestt.  gramm.  de  dial.  Herod.  Leipzig  1875 
(Curtius'  Studien  7,  125  ff.),  W,  L.  Meyer  über  die  Contraction  der  Verba 
auf  otu  bei  Herodot,  Ilfeld  1868;  E.  E.  Noren  de  contractione  verborum  in 
EU)  exeuntium  apud  Herodotum  comment.,  Upsala  1876;  Emil  Spreer  de 
verbis  contractis  apud  Herodotum,  Stettin  1874. 

3)  1,  126  (vgl.  5,71).  138  (8,  58).  2,  8  (6,  98).  5,  55  ff.  (1,  20.  6,  54); 
vgl.  Ernst  Salomon  de  Herodoto  et  Thucydide  quaestt.  histor.  spec,  Berlin 
1851  (Pr.  des  Friedr.  Werd.  Gymn.);  Hugo  Lemcke  hat  Thucydides  das 
Werk  des  Herodot  gekannt?  Stettin  1873;  Herm.  Lämmer  hl  rt  de  Herodoti 
fide  quaestt.,  Halle  1874;  Schömann  Jahrbb.  f.  Phil.  111,  449  ff.;  Ad. 
Bauer  Herodots  Biographie  S.  392  ff.  A.  3;  anderes  bei  Lipsius  Bursians 
Jahresber.  1878  III  S.  284.  Thukydides  scheint  an  ein  paar  Stellen  Herodot 
missverstanden  zu  haben,  falls  er  dort  nicht  gegen  andere  polemisiert. 


ü 


390  Elftes  Kapitel. 

des  Ktesias.  Dieser  selbst  ^)  und  Manetho  ^  setzten  seinem  An- 
seilen hart  zu.  Aristoteles  nannte  ihn  einen  Fabelerzähler ^) 
und  dieser  Ruf  blieb  seitdem  an  ihm  haften.*)  Die  Gelehrten 
hatten  keine  Veranlassung,  Herodot  den  besser  unterrichteten 
Historikern,  welche  nach  ihm  lebten,  vorzuziehen.  In  der 
Kaiserzeit  richteten  Aelius  Harpokration  ^)  und  der  bekannte 
Plutarch,  der  aus  Lokalpatriotismus  gegen  den  Historiker  gereizt 
war,  ^)  besondere  Schriften  gegen  die  Glaubwürdigkeit  Herodots 
und  beschuldigten  ihn  der  bewussten  Fälschung.  Hingegen  gab 
Herodots  Buch  für  Laien  eine  angenehme  Lektüre  ab; ')  die 
ältere  Geschichte  Roms  wurde  bekanntlicli  aus  seinen  orien- 
talischen Geschichten  interpoliert.  Der  Rhetor  Dionysios  von 
Halikarnassos  zog  seinen  Landsmann  dem  Thukydides  vor.^) 
In  dem  Zeitalter  vollends,  wo  der  Roman  sich  bildete  und  man 
für  das  Naive  schwärmte,  wurde  Herodot  von  allen  Gebildeten 
gelesen.  Man  teilte  sein  Werk  in  neun  Bücher,  um  sie  nacli 
den  Musen  zu  nennen^).    Historiker^")  und  gelehrte  Sophisten  ^^), 

1)  Bei  Phot.  bibl.  cod.  72  p.  35  b  41  ff.  43  b  21 ;  Theopomp  Strab.  1,  43. 

2)  Joseph  c.  Apion.  1,  14.  ^H| 

3)  Müd-okö'^oc,  de  animal.  gener.  p.  756  a  (5,  vgl.  Bauer  a.  O.  S.  396  A.^T 

4)  Diogea.  prooera.  9,  z.  B.  Strab.  13,  618.  Cic.  leg.  1,  1,  6.  Plutarch. 
Aristid.  19.  de  e.su  carn.  3.  Gell.  3,  10,  11  u.  ö.  Lucian.  philops.  2.  ver.  hist. 
2,  31.  Dio  Chrysost.  18,  10.  Hermog.  n.  58.  2,  4  p.  357,  29  u.  s.  w. 

5)  Ilepl  Toö  v-axti^sbad-ai  tvjv  'HpoSotoo  loxopiav  Suidas. 

6)  Ilepl  zr^z  'HpoSoxou  %a-/ioYjO'£ia<;;  einige  Widersprüche  zwischen  dieser 
und  anderen  Schiiften  veranlassten,  obwohl  derartiges  auch  sonst  bei  Plutarch 
vorkommt,  dass  die  Echtheit  angefochten  wurde;  vgl.  Gust.  Lahmeyer 
de  libelli  Plutarchei  qui  de  maliguitate  Herodoti  iuscribitur  et  auctoritate  et 
auctore,  Göttingen  1848;  K,  Alb.  Häbler  qnaestiones  Plutarcheae  duae, 
Leipzig  1873  I.;  H  ol  z  a  p  f  el  Philol.  42,  23  ff.;  F.  Majchrovics  de 
auctoritate  libelli  Plutarchei  qui  n.  'H.  x.  inscribitur,  Leraberg  1881. 

7)  Athen.  14,  620  d  ist  aber  für  'IJpoSoxou  'HoiöSou  zu  lesen. 

8)  Ad  Pomp,  de  Plat.  3  u.  de  praecipuis  historicis;  Cic.  orat.  12,  39 
sine  Ullis  salebris  quasi  sedatus  amnis  fluit. 

9)  Diese  Einteilung  war  in  der  hadrianischen  Zeit  schon  ganz  gewöhnlich 
und  Jedenfalls  älter,  weil  damals  bereits  Kei)halion  wetteifernd  neun  nach  den 
Musen  benannte  Bücher  herausgab  (Phot.  bibl.  68  p.  34  a7fF.).  Pausanias  affektiert 
die  herodotische  Citiermethode  (3,  2,  3.  10,  32,  8).  Auf  eine  andere  Eintei- 
lung könnte  höchstens  Schob  luven.  13,  199  (in  VII.  historia»=  6,  86)  führen. 

10)  Dionysios  (Gomperz  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  103,  169,  1), 
Arrianos  (H.  R.  G  r  u  n  d  m  an  n  quid  in  elocutione  Arriani  Herodoto  debeatur, 
Berlin  18S4),  Appianos,  Cassius  Dion  (Muemos.  m.  s.  7,  47),  Prokopios, 
Agathias  u.  A. 

11)  Pausanias  (Pfundtner  Jahrbb.  f.  Phü.  99,  441  ff.  C.  Wernicke 


Herodot  und  Ktesias.  392 

Romanschreiber^)  nicht  ausgeschlossen,  zehrten  von  herodoteischen 
Gedanken  und  Phrasen.  Es  entwickelte  sich  sogar  eine  Treib- 
hausliteratur jonischer  Mundart,  die  mit  Arrianos  und  Lukianos 
auhob  und  bis  in  das  vierzehnte  Jahrhundert  vegetierte  ''^). 
Die  Beliebtheit  des  Autors  machte  damals  bereits  eine  kritische 
Ausgabe  zu  einem  Bedürfnis ;  nachdem  Philemon  über  ver- 
derbte Stellen  gehandelt  hatte,  unterzog  sich  Alexander  von 
Kotyaion  im  hadrianischen  Zeitalter  dieser  Aufgabe  ^).  Andere 
schrieben  erläuternde  Abhandlungen  ^).  Notwendiger  war  die 
Erklärung  der  jonischen  Idiotismen ;  während  das  Glossar  des 
Apollonios  ^)  unterging,  ist  ein  kleines  Verzeichnis  noch  er- 
halten *^).  Lexikographen  eitleren  endlich  einen  Auszug,  welchen 
Theopompos  (natürlich  nicht  der  berühmte,  obgleich  dies  jene 
geglaubt  zu  haben  scheinen)  anfertigte/). 

Die    Handschriften  ^)    waren,    wie    aus    der   oben    citierten 

de  Pausaniae  peiiegetae  stiuliis  Herodoteis,  Beilia  1884),  Aelianus  (Bernhardy 
zu  Suidas  v.  gIxy|v,  ■S-jocoX-ric,  npoaxstfAEVot,  aoßapöc,  ttjiYiaatfi.Yjv),  Philostratos 
(Cobet  var.  lect.  "410)  uud  audere  (Beiuhardy  zu  Suidas  v.  thpo-r\Xa.zov 
und  MsvavGpoc  p.  781). 

1)  lieber  Chaiiton  s.  Cobet  Muemos.  8,  236  ff. 

2)  Lucian.  bist,  couscrib.  16  (25).  Bekannt  sind  uns  Arrianos  'IvSixdt, 
Lukianos  icspl  t-rj«;  Xoplv)?  •S-cOÖ  und  Hcpl  dLO'zpo'ko'(if]z  (mit  vielen  Sprach- 
fehlern ^.  z.  B.  M  e  r  z  d  o  r  f  de  dialeclo  Herodotea  p.  207) ;  dann  Abydenos 
'Aaaopio'.y.a  und  Uranios  'Apaßtv.ä  und  die  Kaisergeschichten  von  Quadratus 
(Suidas  V.  Koopäxoq),  Eusebios  (ein  Stück  ist  unter  den  konstantinischen 
Excerpten  itspl  iroXtopxtwv  erhalten  und  von  Wescher  Revue  archeol.  17 
(1868)  S.  401  ff.  herausgegeben)  uud  Praxagoras  (Phot.  bibl.  cod.  62  p.  21  b  16)  ; 
endlich  die  gefiilschte  Horaerbiographie  (Bd.  I  S.  54  f.)  und  t-^v.üJit.iov 
sl?  xov  ßaai/ia  von  Nikephoros  Gregoras;  einzelne  jonische  Formen 
kommen  auch  bei  Philostratos  (Scheibe  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1847  Sp.  437), 
Agathias,  P.'iellos  (Sathas,  fxsa.  ßtßX.  V  126)  uud  anderen  Byzantinern  vor. 

3)  Porphyr,  quaest.  Hom.  8  p.  286  f.  Sehr.,  vgl.  H.  Stein  vindiciae 
Herodot,  p.  17  sq. 

4)  Eirenaios  Lexic.  Cantabrig.  p.  675,  4  P.  E.  Miller,  melanges  de 
litt,  et  crit.  p.  7 97 (vgl.  H  aupt  Opuscula  II  434  fl.)  ;  die  durch  Suidas  bekannten 
Schriften  des  Heron,  Tiberios  und  Salustios  sind  wahrscheinlich  rhetorischen 
Inhalts. 

5)  'E^-fiY'^iai?  Tcüv  'Hpo^oToo  y^wx^oäv  Etym.  Magu.  v.  vctotpoc  und  aocptax-fic, 
vgl.  Porphyr,  a.  O.  Bei  Eustathios  stehen  mehrere  Herodotglossen ,  s.  den 
Index  von  Devarius  p.  207). 

6)  In  zwei  Recensionen,  hrsg.  v.  Stein  II  443  ff.;  ders.  S.  431  ff.  teilt 
einige  wertlose  Schollen  mit. 

7)  Phot.  (Suid.)  V.  övaß-rjvat  xbvliznov,  xaxoßioc,  rfo-^MzÖGai.  Suid.  eeoitoiiTros. 

8)  Vgl.  auch:  LXIII     ocos    ex  Herodoto   excerptos   qui  ex  conlectaneis 


392  EKiea  Kapitel. 

Stelle  des  Porphyrios  erhellt,    schon  frühzeitig   sehr  fehlerhaft; 
die  bisher  verglicheueii  scheinen  in  zwei  Klasson    zu    zerfallen, 
über  deren  Wert  das  Urteil  schwankt  und  so  lange  schwanken 
wird,  als  der  Sprachgebrauch  Herodots  nicht  gründlich  erforscht 
ist.  ^)     Nach    der    lateinischen    Uebarsetzung    von    L-inrentius 
Valla  (Venedig  1474)''^),  welche  trotz  ihrer   F^ehlerhaftigkeit    oft 
wiederholt  und  überarbeitet  wurde,  erschien  der  griechische  Text 
zuerst    bei  Aldus  Venedig    1502.     Die  Humanisten   gewannen 
dem  Buche  keinen  rechten  Geschmack  ab;    H.  Stephanus,  der 
es  Paris  1570.   1592  mit  Benützung  von  Pariser  Handschriften 
recensierte,    hatte    in    seiner    ,,apologie   pour  Hörodote"    (1566) 
nicht  sowohl   eine    ernsthafte  Verteidigung    des  Historikers  als 
vielmehr    die    konfessionelle   Polemik    im  Auge.     Das  Studium 
Herodots  wurde,  wie  das  Xenophons,  zuerst  in  England  belebt, 
indem  Th.  Gale    eine  Ausgabe  mit   kritischem  Apparat   voran- j 
staltete  (London  1679).   Dadurch  erhielt  Jac.Gronov  den  Anstoss,< 
sich  mit  Herodot  zu  beschäftigen  ;    er    zog    in    der   zu   Leiden' 
1715    erschienenen   Recension    bereits    die    Codices     der   medi-j 
ceischen    Bibliothek ,     darunter     die     bedeutende    Handschrift 
Mediceus  A  (F)  aus  dem  zehnten  oder  elften  Jahrhundert  heran. 
Sein  Landsmann  Peter  Wesseling  sammelte  alles  ihm   zugäng- 
liche Material   in   der  bedeutenden  Amsterdamer  Ausgal^   von! 
1763,    in  welcher  er   auch  für   die  Emendation    viel   leistete  ^). 
Schweighäuser  führte  in  seiner  sechsbändigen  Ausgabe  (Strass- 
burg  1816,  London  1824)  die   zweite  Handschriftenklasse,    ver- 
treten durch  den  Parisinus  A  (P)  aus  dem  zwölften  oder,  drei- 
zehnten Jahrhundert  ein ;    Gaisford    legte  seiner  Ausgabe    den 
ähnlichen   Sancroftianus  (S)    zu   Grunde    (Oxford    und   Leipzig 
1824—26  ßd.  I.  H.  3.  A.  Oxford  1849).     Wilh.  Dindorf  stelltej 
sich,    weil    er    das  Prinzip   der   Analogie   durchführte,    zu  den 


Coustantini  Augusti  Porphyr.    Tzspl   apsxriz    xal   xaxia<:    in   codice  Peiresciano* 
exstant  rec.  Jnl,  Wollenberg,  JJerlin  1862. 

1)  Ausser  mehreren  syntaktischen  Monographien  sind  zu  nennen  Joh.  j 
Schwel  ghäuscr  lexicou  Herodoteum,  Strassburg  1824  2  Bde.  u.  C.  Jacobitzi 
speciraen  lexici  Herodotei,  Progr.  der  Nicolaischule  Leipzig  1870. 

2)  Vgl.  Wesseling    dissertatio  Herodotea   cap,  VIII.    und   V  a  h  1  e  n 
Vallae  opuscula  tria  p.  361  ff. 

3)  Der  Ausgabe   ging   die    wichtige  Dissertatio  Herodotea    ad  Tiberinm 
Hemsterhusium,  Traject.  1758  voraus. 


Herodofc  nnd  Ktesias.  393 

Handschriften  solbstcändiger  (Paris  1844).  Die  neueren  Aus- 
gaben von  Abicht  (Leip/.ig  1869,  2  Bde.)  ^)  und  Stein,  welclier 
den  reichsten  kritischen  Apparat  gesammelt  hat,  jedoch  nicht 
vollständig  mitteilt'^),  folgen  der  ersten  besonders  durch  Mediceus 
A  vertretenen  Klasse;  m  neuerer  Zeit  haben  sich  aber  gewich- 
tige Stimmen  zu  Gunsten  der  zweiten  Klasse  (Parisinus,  Romanus 
und  Sancroftianus)  erhoben'^). 

Auf  sichererem  Grunde  ruht  die  Erklärung  des  Geschichts- 
werkes durch  die  Ausgaben  von  Bahr  (Leipzig  1830  —  35. 
M  856— 61,  4  Bde.),  Abicht  (5  Hefte,  Leipzig  in  2.-4.  A.), 
K.  W.  Krüger  (5  Hefte,  Leipzig  1855—57,  H.  2.  3.  in  2.  A.) 
und  Stein  (Berlin  1872—77,  5  Hefte  in  3.-5.  A.),  sowie  die 
enghsche  Uebersetzung  von  G.  Ravvlinson  (Lond.  1858.  "M876, 
4  Bde.)^).  Naturgemäss  müssen  die  den  orientalischen  Ver- 
hältnissen gewidmeten  Abschnitte  mit  den  Ergebnissen  der 
Aegyptologie  und  Keilschriftforschung  verglichen  werden.  Hiefür 
:-iellt  nach  Rawlinson  das  Buch  von  A.  H.  Sayce,  The  ancient 
ompires  of  the  east,  Herodotus  books  L  —  III.  (London  1883) 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Wissenschaft  dar,  während  er 
Ilerodot  selbst  nicht  gerecht  wird.  Von  den  zahlreichen  Ueber- 
setzungen  sind  nur  die  des  sechszehnten  Jahrhunderts  einer 
ausdrücklichen  Erwähnung  wert,  weil  der  Stil  jener  Zeit  dem 
lierodotischen  näher  kam  ;  z.B.  rührt  die  stilgerechteste  franzö- 
sische Uebersetzung  von  dem  Jesuiten  Salliat  (1575,  neu  hrsg. 
von  Eugene  Talbot,   Paris  1864)  her. 

Nächst  den  Thuriern  fand  Herodots  Buch  anfänglich  gewiss 
unter  den  Bürgern  seiner  asiatischen  Heimat  die  meisten  Leser; 
so  lernte  es  ein  Knidier,  der  am  persischen  Hofe  lebte,  kennen 
und  wurde  dadurch  angeregt,  die  günstige  Gelegenheit  benützend 
ein  genaueres  Werk  über  die  persische  Geschichte  zu  schreiben. 
Ktesias  von  Knidos *^)    war  ja  nicht  ein  vielgereister    und   an 

1)  Vgl.  Philol.  21,  78  ff.  uud  de  codicum  Herodoti  fide  atque  auctoritate, 
Naumburg  1869  (Pvogr.  v.  Pforta).  Die  Teubucrsche  Textausfrabe  ist  von 
Dietsch  besorgt  (I.^  1884  vou  Kalleiiberg  mit  kritischer  Einleitung). 

2)  Berlin   1869—72,  2  Bde.;  kleinere  A.usgabe  Berlin  1885,  2  Bde. 

•>)  Cobet  Muemosyne  n.  s.  10,  400  ff.;  Gomperz  Sitzungsber.  der 
Wiener  Akad.  103,  149  ff.;  Wehr  mann  de  Herodotei  codicis  Roraani  auc- 
toritate, Halle  1882. 

4)  Das  7.  Buch  ist  von  J.  Sitzler,  Gotha  1885  bearbeitet. 

ö)  Ctesiae  Cnidii  quae  supersunt  ed.  Alb.  Lion,  Göttingen  1823;  operum 


394  Elftes  Kapitel. 

mannigfachen  Kenntnissen  reicher  Mann  gleich  seinen  Vor- 
gängern, sondern  ein  geschickter  Arzt,  welcher  dem  knidischen 
Asklepiadengeschlechte  angehörte  ').  Da  die  griechischen  Aerzte 
im  Altertum  dieselbe  Rolle  wie  die  jüdischen  im  Mittelalter  spielten, 
schwang  er  sich  im  Jahre  415  zum  Leibarzt  der  griechen freund- 
lichen Königin  Parysatis  auf'-^).  In  der  Schlacht  von  Kunaxa 
hatte  er  das  Glück,  dem  verwundeten  Artaxerxes  Hilfe  leisten 
zu  können  ^).  Seitdem  wurde  der  geschickte  Arzt  auch  zu 
diplomatischen  Verhandlungen  beigezogen  ^).  Siebzehn  Jahre 
lang  hatte  Ktesias  am  persischen  Hofe  eine  angesehene  Stellung 
behauptet,  als  er  Ol.  95,  3  (398)  als  Gesandter  nach  Spart 
ging.  Da  gelang  es  Pharnabazos  in  Susa  durchzusetzen,  das 
der  Perserkönig,  indem  er  Konou  an  die  Spitze  der  Flott 
stellte,  den  Bruch  mit  Sparta  besiegelte.  So  desavouiert,  kehrt 
Ktesias  nicht  mehr  nach  Persien  zurück,  sondern  begab  sic| 
in  seine  Heimat  und  von  da  nach  Sparta  %  Seine  weiterei 
Schicksale  entziehen  sich  unserer  Kenntnis. 

Jene  Stellung  hat  nun  Ktesias  verwertet,  um  eine  ausführlich« 
23  Bücher^)  umfassende  Geschichte  der  orientalischen  Monar^ 
einen  abzufassen.  Der  erste  kleinere  Teil  (aus  sechs  Buchen 
bestehend)  stellte  das  assyrische  und  medische  Reich  dai 
während  der  zweite  Teil  die  persische  Geschichte  von  Kyroij 
bis  zum  Jahre  398  herabführte;  den  Schluss  bildeten  ein« 
üebersicht  des  persischen  Reiches  und  eine  Königsliste.  Eil 
besonderes  Buch  verzeichnete  eingehend,  was  die  Unterthanei 
dem  Grosskönige  zu  steuern  und  zu  liefern  hatten,  wobeil 
Ktesias  die  verschiedenen  unterthänigen  Völkerschaften  charak-l 


reliquiae  ed.  Felix  Bahr,    Frankfurt  1824,    diiiin  von  Karl  Müller  der  Didot 
ausgäbe  des  Herodot  von  W.  Diudorf  (1844)  beigefügt. 

1)  Galen,    coniin.    in  Hippocr.    XVIII  1,  731  K. ;    Sohn   des  Ktesiöchc 
Tzetz.  cliil.  1,  82. 

2)  Er  war  17  Jahre  in  Persien  (Diodor.  2,  32,  4.  Tzetz.  chil.  1,  86)j 
Parysatis  Ctes.  bei  Phot.  bibl.  44  a  32.  Nach  Diodor.  2,  32,  4  kam  er  kriega 
gefangen  an  den  persischen  Hof;  Tzetz,  chil.  1,  84  bezieht  dies  irrtümlicl 
auf  den  Zug  des  jüngeren  Kyros. 

3)  Xenoph.  anab.  1,  8,  26. 

4)  Bei  Euagoras  und  Konon  (bestätigt  durch  Plut.  Artax.  21)  Phot 
p.  44  b  20  fl'. 

6)  Phot.  p.  44  b  37  ff. ;  der  Schluss  xpioi«;  Kpö?  loüs  AaxeSatjjioviooc 
ttYY^^oo?  ev  *P6?i(j)  xal  ä<peotc  ist  nicht  recht  klar. 

6)  Diodor.  a.  O.  Tzetz.  chil.  1,  86  (irrtümlich  steht  xä  llepotxdc). 


Heiodot  nnd  Ktesias.  395 

terisierte  ^).  Der  Untergang  dieses  inhaltsreichen  Werkes  ist 
ein  schwerer  Verlust,  für  welchen  die  Excerpte,  die  Photios  in 
seiner  ,, Bibliothek"  von  dem  zweiten  Teile  anfertigte''^),  nicht 
entschädigen;  erregt  doch  manches  gerechte  Zweifel  an  der 
Genauigkeit  des  belesenen  Patriarchen.  Noch  weniger  kann 
die  moderne  Quellenforschung  durch  die  zuversichtliche  Auf- 
stellung, wie  viel  in  den  ersten  drei  Büchern  des  Diodor^)  und 
der  plutarchischen  Biographie  des  Artaxerxes^)  von  Ktesias 
herrührt,  den  Verlust  ersetzen.  Förmlich  citiert  wird  der 
Historiker  recht  selten. 

Vergleicht  man  die  dürftigen  Reste  des  grossen  Werkes 
mit  Herodot,  so  fällt  sofort  die  bedeutende  Verschiedenheit 
ihrer  Berichte  in  die  Augen.  Darum  gehört  es  zu  den  wichtigsten 
Problemen  der  Geschichte  des  alten  Orients,  welcher  von  beiden 
Schriftstellern  den  Vorzug  verdiene^).  Da  die  Keilinschriften 
liiefür  keine  sichere  Entscheidung  an  die  Hand  geben,  muss 
man  durch  Betrachtung  der  beiderseitigen  Quellen  und  der 
Persönlichkeit  der  Historiker  sich  ein  Urteil  zu  bilden  ver- 
suchen. Es  unterliegt  nun  meines  Erachtens  keinem  Zweifel, 
dass  Ktesias  viel  gründlichere  Studien  als  Herodot  zu  machen 
im  Stande  war.  Jener  lebte  ja  volle  siebzehn  Jahre  in  der 
Hauptstadt  des  persischen  Reiches,  wohin  Abgesandte  der  ent- 
legensten Länder  zusammenkamen,  dieser  machte  einige  Reisen 
in  der  westlichen  Hälfte  des  Landes,  ohne  irgendwo  dauernden 
Aufenthalt  zu  nehmen.  Ktesias  war  bestimmt  mit  der  persischen 
Sprache  vertraut,  während  Herodot  nur  einige  Worte  davon 
kannte.  Der  eine  war  ein  angesehener  Hofbeamter,  dem  die 
königlichen  Archive  zugänglich  waren,  der  andere  ein  einfacher 
Privatreisender.      Ktesias   standen    also    viel    zahlreichere    und 


1)  IIspl  TÖJv  v.axGc  tvjv  'Ao'.av  cpoptov  Athen.  2,  67  <a.   10,  442  b. 

2)  Bibl.  codex  72. 

3)  Da  jedoch  das  Ktesias  ausdrücklich  zngeschriobene  in  manchem  ab- 
weicht, nimmt  Carl  .Tacoby  Rhein.  Mus.  30,  555  flf.  an,  dass  Diodor  Ktesias 
indirekt  (etwa  durch  Vermittlung  des  Kleitarchos)  benützte.  Wer  glaubt, 
dass  Ktesias  Niniveh  an  den  Euphrat  versetzte  (Diod.  2,  7,  2)? 

4)  M.  Hang  die  Quellen  Plutarchs  in  den  Lebensbeschreibungen  der 
Griechen  S.  92  f. ;  Schottin  observatt.  de  Flut,  vita  Artax.  p.  3  flf. 

5)  Friedr.  Spiegel  Ausland  1877  S.  641  ff.  673  ff.  701  ff.  727  ff. 
792  ff.  806  ff.;  Euter  de  Ctesiae  Cnidii  fide  et  auctoritate,  Gütersloh  1873. 


396 


Elftes   Kapitel. 


genauere  Nachrichten  zu  Gebote,  wie  auch  Missverständnissc 
durch  seine  Kenntnis  von  Sprache  und  Sitte  weniger  leichtj 
vorgekommen  sein  dürften.  Im  Bewusstsein  dieser  günstigenj 
SeUung  zog  der  eitle  Manu  gegen  Herodot  und  andere  Historikerf 
scharf  los,  was  die  Neueren  gegen  ihn  von  vornherein  einge- 
nommen hat. 

Wenn  wir  die  Zuverlässigkeit  des  reichen  Materials  a  priori 
erörtern    wollen ,   ist    zunächst    der    die    Vorläufer    der    Perser 
behandelnde   Teil    abzusondern;    für   diesen    benützte    Ktesias, 
wie    die    Sprachwissenschaft    konstatieren    kann,    das    persische 
Königsbuch ^).     Wie  gross  die  Glaubwürdigkeit  dieser  offiziellen 
Clironik  gewesen  sei,   kann  man  an   den  ähnlichen   Produkten 
der  orientalischen  Höfe  ermessen,  wo  die  ältere  Geschichte  einj 
Gemisch  von  wenig  Wahrheit  und  sehr  viel  Dichtung  zu   sein 
pflegt.     Sobald   jedoch  Ktesias    zu   den  Thaten    des  Kyros  ge] 
langte,    legte    er   die    offizielle  Chronik    bei   Seite    und   schriet 
fernerhin    sowohl    nach    mündlichen  Erkundigungen    als    nacl 
Autopsie^),  wodurch  das  seltsame  Verhältnis  entstand,  dass  der 
persische   Hofleibarzt    viel    weniger    den   Persern    zu    Gefaller 
schrieb    als  Herodot,    der   von    loyalen  Persern    berichtet   war; 
Die  Hoflegende  von  Kyros    findet    man   bei  Ktesias   nicht,   ii 
Gegenteil    erklärt    er,    dass    der    Ahnherr    der   Achaemenidei 
von    niederer  Herkunft    war.     Zu    der  Eroberung    von    Aegy{ 
ten  trägt  nach  seinem  Bericht  Kambyses  nur  wenig  bei,    dem 
das  Hauptverdienst  kommt  einem    Eunuchen  zu.     Ueberhaup( 
weist     der    gründliche    Kenner     der    orientahschen     Hoflebens 
den  Eunuchen  den  ihnen  gebührenden  Anteil   an    der  Weltg« 
schichte  zu  ^);  ebenso  entsprach  es  gewiss  den   wirklichen  Ver 
hältnissen,    wenn  Günstlinge   bei    ihm    eine    sehr    bedeutende 
Rolle^)  spielen.     Auch  Serailgeschichten  fanden  die  gebührende 
Beachtung  •'').     In    diesen    kloinen    Ursachen    mit    grossen  Wir-< 
kungen  war  Ktesias  natürüch  sehr  bewandert;    vieles   hörte  er 


1)  Spiegel  a.  O.  S.  676  f.;  dadurch  wird  bestätigt,  dass  ihm  wirklichj 
die  ßaoiXixal  Sitpö-epat  zu  Gebote  standen  (Diodor.  2,  32,  4). 

2)  Phot.  p.  36  a  1  ff.,  vgl.  Spiegel  a.  O.  S.  792  ff. 
8)  Phot.  p.  36  b  21.  37  a  30.  35.  b  32.  40. 

4)  Phot.  p.  38b   35.    39b    31.  40.  41a  24.  40..  42a    11.  b  3  ff.    43  a  6i 
Leibärzte  40  a  21.  41  b  10  ff. 

5)  Phot.  p.  39  b  34  ff.  41b  8  ff.  43  b  15. 


fierodot  und  Ktesias.  397 

wohl  von  älteren  Kollegen,  selbst  seine  Herrin  liess  sich  herab  ihm 
manches  zu  erzählen,  i)  In  wiefern  Ktesias'  Quellen  auf  dem 
(Jebiete  der  persischen  Geschichte  Glaubwürdigkeit  besassen, 
kann  man  aus  dem  Gesagten  ermessen.  ^)  Ob  er  selbst  aber 
die  ihm  zugekommenen  Nachrichten  treu  mitteilte,  mit  anderen 
Worten,  ob  er  nichts  fälschte  oder  unterschlug,  ist  eine 
schwierigere  Frage.  Dass  er  dem  persischen  Hofe  niclit 
schmeichelte,  ^)  zeigen  die  Reste  seiner  Geschichte ;  es  lag  ja 
kein  Grund  dazu  vor,  da  er  im  freien  Hellas  schrieb,  im  Gegen- 
teil könnte  der  Historiker  eher  verstimmt  gewesen  sein,  falls  er, 
was  wahrscheinHch  ist,  Susa  nicht  aus  vollkommen  freiem  Ent- 
schlüsse mied.  Wenn  Ktesias  für  jemand  parteiHch  war,  dann 
begünstigte  er  die  Spartaner,  zu  denen  ihn  seine  dorische  Ab- 
kunft hinzog.  ^)  Die  Eitelkeit  endlich,  welche  ihn  trieb,  sich 
als  einen  vielverwendeten  Diplomaten  hinzustellen,  thut  der 
Richtigkeit  der  betreffenden  Ereignisse  keinen  Eintrag  ^),  Somit 
wird  der  Schluss  nicht  abzuweisen  sein,  dass  Ktesias'  Buch 
einen  bedeutend  höheren  Wert  als  das  Werk  Herodots  besessen 
1  laben  muss. 

Trotz    der  scharfen    Polemik,    welche    Ktesias    gegen    den 

Inhalt    der  herodotischen    Geschichte     richtete,     verkannte    er 

die  äusseren  Vorzüge  derselben  nicht,  sondern  strebte  sie  auch 

I  hierin   zu   überbieten.     Wie  er   durch   orientalische  Wunderge- 

I  chichten  ^)    und  Novelletten  '^)    für  die  Unterhaltung   der  Leser 

)!  sorgte,  so  legte  er  seine  Geschichte  mindestens   in   den  Teilen, 

j  welche  er  auf  Grund  eigener  Erfahrung  eingehend   berichtete, 

nach  Art  eines  Romanes   an  ^).     Ein   Meisterstück   spannender 


1)  Phot.  p.  42  b  12. 

2)  Die  Ereignisse  des  zweiten  Perserkrieges  hat  natürlich  erst  Photios 
(39  a  40  ff.)  verwirrt. 

3)  So  meinte  Lucian,  histor.  conscrib.  39. 

4)  Klearchos  besprach,  er  sehr  freundlich  (Plut.  Artax.  13). 

5)  Xenophon  (Auab.  2,  1,  7)  straft  seine  Behauptung,  dass  er  zu  den 
Zehntautend  geschickt  wurde,  Lügen  (Plut.  Artax.  13).  Man  sagte  Ktesia.s 
nach",  er  habe  durch  Fälschung  eines  Briefes  erreicht,  dass  er  mit  Konon 
unterhandeln  durfte  (Plut.  Artax.  21). 

6)  Phot.  p.  36  b  9  fl'.  33  flf.  38  a  3  ff. 

7)  Frg.  25—28. 

8)  Plutarch.  Artax.  G  -npöc  to  [j.uÖ'wSec  iial  8ptx|xanx6v  IxtpEirofAEVOi;; 
Demetr.  ip|XYjv.  215  f. 


398  Elftes  Kapitel. 

Erzählung  war  der  Bericht,  wie  ein  Perser  der  Königin  Pary- 
satis  den  Ausgang  der  Schlacht  bei  Kunaxa  meldete^).  Die 
Ausdrucksweise  war  klar  und  anmutig,  doch  hielt  Ktesias  in 
Wiederholungen  und  Pleonasmen  nicht  Maass^).  Im  Allge- 
meinen stand  sein  Stil  hinter  dem  herodotischen  zurück.  So- 
wohl dieser  Mangel  als  der  grosse  Umfang  des  Werkes  veran- 
lasste, dass  es,  obwohl  Xenophon  es  in  der  Anabasis  citierte, 
Plato  dasselbe  an  Stelle  Herodots  benützte  ^)  und  Fälscher 
Gewinn  daraus  zogen*),  gegen  Herodot  allmälig  zurücktrat 
und  endlich  unterging.  Nicht  einmal  der  dreibücherige  Aus-  i 
zug  der  Pamphila  ist  erhalten^).  fll 

Unter  den  Grenzvölkern  des  persischen  Reiches  erregte 
ausser  den  Aethiopen  kein  anderes  das  Interesse  der  Griechen 
in  so  hohem  Grade  wie  die  Inder.  Herodot  hatte  von  Indien 
nicht  viel  mehr  als  mehrere  Namen  und  einige  Wunderge- 
schichten mitzuteilen  vermocht;  musste  nicht  ein  Mediciner, 
der  sich  dem  geheimnisvollen  Lande  verhältnismässig  so  nahe 
befand  und  heilsame  Kräuter  daraus  erhielt,  nähere  Kunde 
einzuziehen  aus  allen  Kräften  streben  ?  Nachdem  er  selbst  einen 
Teil  (vielleicht  das  Pendschab)  bereist  und  sonst  durch  persisd^Mi 
Kaufleute  Nachrichten  erhalten  hatte,  *')  beschrieb  er  Indien  iHI 
einer  besonderen  Schrift  ('IvStxa),  welche  durch  Alexanders  Zug 
allerdings  ihren  Wert  verlor, ')  aber  den  Griechen  den  äussersten 
Osten  zum  ersten  Male  wirklich  bekannt  machte.  Später  imr 
mehr  als  Fabelbuch    gelesen^)    und   von  Lukianos   parodiert^), 


1)  Demetr.  Ipfiirjv.  216. 

2)  Deraetr.  ^pixYjv.  212  ff. 

3)  Nöldeke  Hermes  5,  457. 

4)  Daraus  erklärt  sich  Polious  eTtiatoXT]  npöc  i^tuxvjpivSav  itepl  ffjc  Kttj- 
otoo  xXoTC7]5  (Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  10,  3,  IG). 

6)  Suidas  v.  Ila|X(fiX7]. 

G)  Phot,  bibl.  72  p.  49b  39  ff.  ;  vgl.  Lassen  indische  Alterthumskunde 
II  636  f.;  Spiegel  a.  O.  S.  643,  wo  der  persische  Ursprung  nachgewiesen 
ist,  »Sachlich  Malte-Bruu  Nouvelles  annales  des  voyages,  Paris  1819  II  2, 
307  ff.;  H.  H.  Wilson  notes  of  the  Indica  of  Ctesias,  Oxford  1836;  J.  W. 
Mac  Cruindle  ancient  India  as  described  by  Ctesias,  Calcutta  1881  (niil 
indi.schen  Quellen  verglichen)  und  in  The  Indian  Antiquary  X.  (1881). 

7)  Vgl.  Aristot.  bist.  an.  2,  1  p.  öül  a  25.  3,  22  p.  523  a  26.  8,  28  p.  606  a  8. 

8)  Gell.  9,  4,  3. 

9)  Uobde  der  griechische  Roman  S.   192  A.  2.  193  A. 


Herodot  und  Ktesias.  39g 

ist  sie  gleich  dem  Hauptwerke  durch  einen  Auszug  des  Photios 
(cod.  72  p.  45  ff.)  bekannt,  wozu  einige  Bruchstücke  und  drei 
kürzüch  entdeckte  Excerpte  treten.  ^)  Photios  macht  dazu  die 
merkwürdige  Bemerkung,  dass  die  „Indika"  mehr  jonisch  ge- 
schrieben seien ;  ^)  selbstverständhch  bediente  sich  Ktesias  selbst 
des  nämhchen  Dialektes,  den  er  übrigens,  ein  echter  Dorier, 
von  Herodot  übernahm,  dagegen  war  die  Überlieferung  des 
Textes  beider  Werke  verschieden,  beispielsweise  etwa  so  wie 
die  des  herodotischen  in  den  zwei  Handschriftenklassen. 

Wie  es  sclieint,  hat  Ktesias  ferner  eigene  Erfahrungen  und 
vielleicht  persische  Reiseberichte  benützt,  um  ein  geogra- 
phisches Handbuch  zu  schreiben;  es  ist  nur  durch  einige 
Citate  bekaimt.  ^)  Endhch  gibt  es  ein  medicinisches  Excerpt 
KiTjaioD  TTspl  sXXsßöpoo,  das  freilich  auch  von  einem  späteren 
Ktesias  desselben  Geschlechtes  herrühren  kann.*) 

Die  Persergeschichte  des  Kolophonier  Deinon^)  muss  den 
Werken  des  Herodot  und  Ktesias  geglichen  haben ,  weil  sie 
ihrem  ansehnlichen  Umfange  gemäss^)  sehr  detailliert  war;  von 
Deinon  erfuhr  man  z.  B.  ganz  genau,  was  der  König  Xerxes 
ass  und  trank.  Er  schrieb,  als  das  Perserreich  bestand,  weil 
er  dessen  Einrichtungen  wie  noch  vorhanden  berichtet,  doch 
war  bereits  die  Eroberung  von  Aegypten,  welche  340  ^)  stattfand 
in  dem  Buche  erwähnt  (fr.  30).  Weil  also  Deinon  so  spät 
schrieb,  bediente  er  sich  der  attischen  Mundart,  welche  damals 
bereits  die  andej-en  aus  der  Prosa  verdrängt  hatte.  Das  Werk 
begann    wie  die  älteren   gleichartigen  Schriften  mit  dem  baby- 


1)  Sp.  Lambros  laToptxa  fjiEXeT-fjfJLata,  Athen  1884  Kap.  4. 

2)  Phot.  p.  45a  21   ev  oic  fi.äXXov  IwvtCs^ 

3)  'Ev  npcuxu)  TiEpinXcuv  Steph.  B.  v.  St^ovoc,  ev  tw  TCEptirXu)  'Aoia?  Suidas 
V.  SxtdrtoSei;,  tpit-fl  ntpi-q-^-tiaziuc,  Steph.  B.  v.  Koaözt]  (über  Umbrien),  ev  xü) 
ä  izEpt68ü>v  Schol.  Apoll.  Rh.  2,  1017  (Meursius  irspi  hpütv),  ev  ß'  2,  401. 

4)  Medicorum  XXI  veteruin  et  clarorum  Graecorum  varia  opuscula  ed. 
Ch.  F.  de  Matthaei,  Moskau  1808,  bequemer  bei  C.  Müller  a.  O.  p.  III. 

5)  Diodor.  2,  20,  3  ;  C.  Müller  fragm.  histor.  Graec.  II  88  ff.  Kolo- 
phonier heisst  er  in  den  Indices  des  Plinius. 

6)  Es  werden  drei  ouvta^Etc  citiert:  ev  x^  e  xdiv  IlEpoatMV  xyj?  iiptuXTjc 
oovxä^Eujc  fr.  21,  £v  ß'  xyjc  OEUxspac  Guvxä^Ecuc  fr.  4.  ev  xw  a  xyjc  xpixY)?  ir,  8; 
nach  einer  anderen  Einteilung  werden  £v  x-jj  irsjxTtxig  xwv  loxoptuiv  und  ev 
xpixü)  nspotxÄv  (Athen.  11,  503  f)  angeführt. 

7)  Schäfer  Demostlienes  und  seine  Zeit  I  437  ff. 


400 


Elftes  Kapitel. 


loniscbeii  König  Ninus  (fr.  1).  Die  Zuverlässigkeit  Deinons 
wird  gerühmt;^)  sein  Sohn  war  Kleitarchos,  der  bekannte  Ge- 
sehichtssclireiber  Alexanders. 

Herakleides  von  K  y  m  e  schrieb  gleichfalls  seine  Perser- 
gescliichte  noch  vor  denl  Untergang  des  Reiches;^)  auch  er 
schilderte  den  Luxus  des  Grosskünigs  ausserordentlich  eingehend. 
Herakleides  bediente  sich  ebenso  der  attischen  Mundart. 


1)  Cornel.  Nepos  9,  5,  4  sagt  von  ihm:  Dinon  historicns  cni  uos  pliuiinm 
de  Persicis  rebus  credimus. 

2)  C.  Müller  IVagm.  histor.  Graec.  II  p.  95  ff.;  Atlieuaics  citiert  fr. 
lind  4  SV  Tolz  £K{.'( pa'fO^itMoiz  jrapaaxsuaaxixolc. 


Zwölftes   Kapitel, 
Thukydides  und.  Philistos. 

Thukydides:    Biographien,  Leben,  Abfassungszeit  seines  Buches,  religiöse 

und  politische  Ansichten,  Zuverlässigkeit,    Komposition   des  Werkes,  Eeden, 

Stil,  Wertschätzung  bei  den  Späteren,  Schollen,  Handschriften  und  Ausgaben ; 

Philistos  und  Athanas. 


Wiewohl  Hörodot  die  Geschichtsschreibung  dadurch  zu  einer 
Kunst  erhob,  dass  er  einen  innerlich  abgeschlossenen  Stoff 
wählte  und  für  diesen  eine  gefällige  künstlerische  Form  fand, 
wurde  er  durch  die  Beschaffenheit  seines  Stoffes  verleitet,  von 
der  streng  historischen  Darstellung  abzugehen.  Denn  weil 
Herodot  von  den  geschichtlichen  Ereignissen,  die  er  schilderte, 
kein  einziges  erlebt  hatte,  ergänzte  die  Phantasie  die  Lücke  der 
Überlieferung.  Die  Wissenschaft  wurde  also  erst  dann  wahrhaft 
erweftert,  wenn  mit  der  Einheitlichkeit  des  Themas  die  eigene 
Erfahrung  sich  verband,  die  im  Altertum,  wo  der  Geschichts- 
schreiber nicht  aus  Dokumenten  ein  Mosaikbild  zusammensetzte, 
allein  eine  eingehende  und  doch  nicht  halb  erdichtete  Darstellung 
ermöglichte.     Diesen  Fortschritt  machte  Thukydides. 

Von  den  biographischen  Quellen  verdient  die  anonyme  Thukydides- 
handschriften  beigegebene  Biographie,  sowie  eine  Lobrede  des  Ehetors  Aph- 
thonios  (p.  37,  20  ff.  Sp.)  keine  Beachtung.  Wertvoll  dagegen  ist  MapxsXXivou 
EX  Tcüv  sie  öoüv.uotSYjV  a)(oXt(uv  irspl  Toö  ßtou  ahzoö  0ooxo3i8ou  xal  tt]?  zoü 
XoYou  ISeac.  So  lautet  der  Titel  im  codex  Palatinus.  Wie  er  andeutet,  hat 
Markellinos,  vpahrscheinlich  eine  Person  mit  dem  Ehetor,  welcher  einen  Kom- 
mentar zu  Hermogenes  verfas.ste  (Walz ,  rhetor.  Gr.  IV  39  ff.)  und  Schol. 
Aeschin.  p.  285  Seh.  citiert  wird,  aus  Schollen  einiges  ausgewählt.  Man 
kann  noch  drei  verschiedene  Stücke,  die  einst  Schollen  einleiteten  (vgl.  1  u. 
51  am  Ende)  unterscheiden:  Der  Hauptteil  §.  1—44  ist  aus  guten  Quellen 
geschöpft;  angeführt  werden  Antyllos  (22.  36)  und  Didymos,  der  indes  eine 
besondere  Biographie  nicht  verfasste  (vgl.  Eitter  Didymi  Chalcenteri  opuscula 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur. II.  ^'^ 


402  Zwölftes  Kapitel. 

p.  1  ff.  Rud.  Scholl  Hermes  13,  442  ff.).  Dieser  Einleitung  sind  zwei  aus 
einigen  biographischen  Notizen  und  einer  Beurteilung  der  Schreibart  bestehende 
Stücke  angehängt  (§  45—53  und  54—58;  §  65  wird  Antyllos  mit  hohem 
Lobe  citiert,  §  58  ein  Asklepios).  lieber  die  Ungleichartigkeit  der  Biographie 
vgl.  Journal  litteraire  ä  la  Haye  1714  vol.  IV  429  fl.,  W.  H.  Grauert  Rhein. 
Mus.  1  (1827)  S.  169  ff.,  Wuttke  de  Thucydide  scriptore  belli  Peloponnes. 
Breslau  1839  p.  12,  Rose  her  Klio  S.  83,  Fr.  Ritter  Rhein.  Mus.  3,  321  tf., 
Schumann  de  Marcellini  quae  dicitur  vita  Thucydidia,  Colmar  1879  (Diss. 
von  Jena).  Endlich  ist  der  durch  zwei  Zusätze  vermehrte  Artikel  des  Suidas 
zu  nennen. 

Aus  neuerer  Zeit  verdienen  Erwähnung  K.  W.  Krüger  Untersuchungen 
über  das  Leben  des  Thukydides,  Berlin  1832  u.  epikritischer  Nachtrag  zum 
Leben  des  Thukydides,  Berlin  1839;  Röscher  Klio  L  Leben  Werk  und 
Zeitalter  des  Thukydides,  Göttingen  1842.  Die  eigentliche  Kritik  der  Ueber- 
lieferung  beginnt  mit  Ritter  a.  O.;  Eugen  Petersen  de  vita  Thucydidis, 
Dorpat  1873  führt  sie  methodisch  durch  (s.  dazu  A.  Schöne  Bursians 
Jahresber.  2,  811  ff.).  Weiter  geht  ü.  v,  Wilamowitz  die  Thukydides- 
legende,  Hermes  12,  326ö.  (berichtigt  von  Rud.  Scholl  Hermes  13,  433  ff.[ 
vgl.  auch  R.  Hirzel  a.  O.  S.  46  ff.  O.  Gilbert  Philol.  38,  243  ff.). 

Thukydides  von  Athen  entstammte  einer  thrakischel 
Fürstenfamilie,  welche  der  berühmte  Miltiades,  indem 
Hegesjpyle  heiratete,  für  die  athenische  Politik  und  die  griechischij 
Bildung  gewonnen  hatte.  ^)  Sein  Vater  Orolos  oder  Oloros, 
wahrscheinlich  ein  Neffe  jener  Hegesipyle,  besass  das  athenisch^ 
Bürgerrecht  im  Gau  Halimus,  ^)  während  seine  grossen  Bi 
Sitzungen,  auf  denen  sich  Goldbergwerke  befanden,  um  Skaptehyl^j 
an  der  thrakischen  Küste  lagen. '^)  Thukydides  war  also  nicl 
ein  Vollblutathener,  sondern 'durch  seine  Herkunft  von  mancher 
athenischen  Vorurteil  frei,  zugleich  aber  in  so  günstiger  Lage 
dass  er  die  Bildungsmittel  der  Kunststadt  sich  aneignen  könnt« 
Man  darf  annehmen,  dass  er  Protagoras,  der  aus  einer  nahe 
liegenden  Stadt  stammte,  hörte;  von  Prodikos  lernte  er  Begriffe 


1)  Ueber  die  Verwandtschaftsverhältnisse  Krüger  S.  3  ff.,  Röscher  S.  89  f. 
Müller-Strübing  Aristophanes  und  die  historische  Kritik  S.  637  ff.  Die 
Mutter  des  Thukydides  benennt  Marceil.  2  nach  der  Frau  des  Miltiades.  Der 
Zusammenhang  mit  den  Feisistratiden  (Hermipp.  bei  Marc.  18,  vgl.  Rühl 
Jahrbb.  f.  PhU.  117,  313  ff.)  scheint  kombiniert. 

2)  'üpöXoo  stand  nach  Didymos  (Marcell.  16)  auf  der  Grabstele;  'ÜXopou 
bieten  eine  Inschrift  (Bergk  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1846  Sp.  964  A.)  und 
die  gesammte  handschriftliche  Ueberlieferuug.  Tomaschek  Sitzungsber. 
der  Wiener  Akad.  60,  390  nimmt  als  Grundform  Varala  an. 

3)  'AXifjLOüato';  auf  der  Grabstele  (a.  O.). 

4)  Thucyd.  4,  105,  1,  vgl.  Plutarch.  Cim.  4.  Miltiad.  14.  Fabel  Marcell.  19. 


Thukydides  und  Philistos.  4Q3 

definieren  und  verwandte  Begriffe  scharf  sondern.  ^)  Ura  ein 
Schüler  des  Gorgias  zu  werden,  2)  war  Thukydides  bei  dessen 
Auftreten  zu  alt,  doch  mag  er  seine  Vorträge  gehört  und  die 
Schriften  studiert  haben.  Die  Alten  stellten  ferner  seit  CaeciHus  ^) 
die  Vermutung  auf,  dass  Antiphon  ihn  unterrichtet  habe,  indes 
besteht  der  einzige  und  nicht  stichhaltige  Beweis  in  dem  warmen 
Nachrufe,  den  der  Historiker  jenem  weihte  (8,  68,  1).  Seinen 
rehgiösen  Freisinn  endüch  leitete  man  von  dem  Unterricht  des 
Atheisten  Anaxagoras  her.  *)  Dass  Thukydides  im  Mannesalter 
sich  am  öffentlichen  Leben  beteiligte  und  oft  ins  Feld  zog, 
lehrt  sein  Werk  auf  jeder  Seite.  ^)  Er  selbst  schweigt  darüber 
völhg.  Als  im  Jahre  424  Brasidas  die  thrakischen  Besitzungen 
der  Athener  bedrohte,  wurde  Thukydides  wegen  des  Ansehens, 
das  er  in  der  dortigen  Gegend  genoss,  als  Stratege  abgesandt, 
kam  jedoch  zu  spät,  iim  Amphipolis  zu  retten;  es  gelang  ihm 
nur,  Eion  zu  besetzen.  Thukydides  wurde  deswegen  als  Hoch- 
verräter verbannt.*')  War  er  schuldig?^)  Die  Athener  haben 
oft  nach  dem  Erfolge  geurteilt.  Die  Haltung,  welche  Thukydides 
in  seinem  Geschichtswerke  einnahm,  beweist  nichts  für  ihn,  weil  er 
seine  wirkliche  Gesinnung  nicht  zu  enthüllen  brauchte.  Es  muss 
indes  Verdacht  erregen,  dass  er  seine  Besitzungen  offenbar  be- 
hielt und  nachher  mit  beiden  kriegführenden  Parteien  ver- 
kehrte. ^)     Wie  dem  auch  sein  mag,  Thukydides    benützte    die 


1)  Antyllos  bei  Marceil.  36;  Spengel  auvaYcuyr]  zsjyüy  p.  53  ff. 
gibt  Proben. 

2)  Antyllos  bei  Marceil.  36.  51.  Philostr.  epi.st.  13  p.  919  H.  Eusebio.s 
setzt  ihn  in  das  Jahr,  wo  Gorgias  nach  Athen  kam.  (Ol.  88,  1  armen,  u. 
Synkellos,  87,  4  Hieron.,  87,  3  F). 

3)  Interpol  ator  des  T^yphon  Spengel  rhetor.  III  201,  8. 

4)  Antyllos  bei  Marceil.  2. 

5)  Daher  hat  Dionys.  epist.  ad  Cn.  Promp.  3,  9  mehr  Recht,  als  Marc.  2,  3, 
der  ihm  alle  politische  Thätigkeit  abstreitet.  Bei  den  Quellen  seines  Werkes 
wird  davon  zu  sprechen  sein,  dass  man  bestimmte  Feldzüge,  welche  er  aus 
eigener  Anschauung  kannte,  namhaft  machen  will. 

6)  4,  107,  2.,  6,  26,  5.  Erfindungen  sind  Marceil.  46.  55.  Anon.  3. 
Seine  Abneigung  gegen  Kleon  führte  man  darauf  zurück,  dass  dieser  ihn 
anklagte  (Marcell.  46;  vgl.  26). 

7)  W.  Oncken  Sybels  histor.  Zeitschrift  10,  289  ff.  Herm.  Hiecke 
über  den  Hochverrath  des  Geschichtsschreibers  Thukydides,  Pr.  des  Fr.  Wer- 
derschen  Gymn.  Berlin  1869. 

8)  Grote  und    Mure    glauben   an  Verrat;    Oncken  und  Müller -Strübing 

26* 


404  Zwölftes  Kapitel. 

unfreiwillige  Müsse,  um  von  allen  Seiten  Nachrichten  über  die 
Kriegsereignisse  zu  sammeln  und  die  wichtigsten  Schauplätze  zu 
besichtigen;   unter  anderem   besuchte  er  jedenfalls  Unteritalieu 
und  Sicilien.  ^)     Volle    zwanzig  Jahre    blieb  Thukydides   seiner 
Vaterstadt  fern,  erst  im  Jahre  404   durfte  er  mit  den  übrigen 
Verbannten    kraft   des  Friedensvertrages  heimkehren,  ^)     Sonst 
wissen  wir  nur,  dass  er  zu  Athen  in  dem  Familiengrabe  Kimons 
begraben  lag^)    und    einen  Sohn  Timotheos   hinterliess.  *)     Die 
alten  Literarhistoriker  erschlossen  aus  dem  unvollendeten  Zustande  i 
seines  Werkes,  dass  der  Historiker  eines  plötzlichen  Todes  ge-j 
storben  sei.  ^)  Weil  er  ferner  des  makedonischen  Königs  Archelaosj 
freundlich  gedenkt,  versetzte  man  ihn  an  dessen  Hof,  *')  vvorauj 
sich  wiederum  die  Annahme  schloss,    dass  er  seinem  dort  ver- 
storbenen Landsmann  Euripides  die  Grabschrift  fertigte.  ^)   Wannj 
und  in  welchem  Alter  Thukydides  sein  Leben  beschlossen  habe,] 
darüber  gibt  das  Werk   selbst   einige  Andeutungen.     Er  stand] 
nämlich  bei  Beginn  des  Krieges  bereits  in  reifem  Mannesalter,  ^) 


geben  die  Möglichkeit  zu.    Schol.  Thucyd.  5,  26  behauptet,  dass  Thukydides] 
in  den  Peloponnes  ging. 

1)  Timaios  übertrieb  dies  zu  der  Behauptung,  dass  Thukydides  in  Italien 
wohnte  und  starb  (Marcell.  25.  33).  Der  Thukydides,  welcher  auf  Äigina 
Wuchergeschäfte  betrieb,  war  gewiss  ein  anderer  (Marcell.  24.  Anon.  7). 

2)  6,  26,  5,    wie    Pausanias    1,   23,  9    versichert,    auf  ein  Dekret    des] 
Oinobios  hin   (vgl.  K.  Scholl  Hermes  13,  438  ff.  Gilbert  Philol.  38,  243  flf. 
Müller-Strübing  Aristophanes   und  die  hist.  Kritik  S.  627  f.),   s.  jedoch] 
Andocid.  myster.  73 — 80,  besonders  80. 

3)  Polemon  bei  Marcell.  17  (statt  'HpoSotoo  ist  'OjioXoa  zu  lesen),  vgl. 
65.  Pausan.  1,  23,  9. 

4)  Polemon  bei  Marcell.  17. 

5)  Ermordet    in    Athen    (Didymos   bei  Marcell.  32  f.    aus  Zopyros    und| 
Kratippos,  Pausan.  1,  23,  9)  oder  in  Skaptehyle  (Plutarch.  Cim.  4,  vgl.  Mar-' 
cell.  32.  45,  55,    wo    eine  Vermittlung    versucht    ist);    da  die  Grabstele    mit 
einem   txpiov   verziert   war,   schloss  man,    dass   sie    ein  Kenotaph    bezeichne* 

ol  jiev  Marcell.  30  f.), 

6)  Vgl.  R.  Scholl  a.  O.  S,  446  ff.,  auch  Prell  er  ausgewählte  Auf- 
sätze S.  106  f.  Marcell.  29  aovexpovtoe. —  ^^aofj.dad'Y]  bezieht  sich,  denke  ich, 
auf  xixapxoz  äXXoc  6.  nourjfrj?. 

7)  Vita  Euripid.  p.  5,  1  N.  (Thukydides  oder  Timotheos).  Anthol.  Palat. 
7,  45  cod.  C.  Athen.  5,  187  d. 

8)  5,  26,  öerteßiiuv  81  8iä  ttavTic  aüxoü  (xoö  itoX^ftoo)  aiafl-avoixevoc  xs  x^ 
4jXixiqt  (also  nach  griechischen  Begriffen  über  dreissig  Jahre  alt).  Apollodoros 
liess  daher  seine  &x}jiy|  mit  dem  Beginn  des  peloponnesischen  Krieges  zusam- 
menfallen   (entstellt  Pamphila    bei  Gell.  15,  23,    vgl.    Diels   Rhein.  Mus.  31, 


Thukydides  und  Philistos.  405 

SO  dass  er  die  perikleische  Zeit  nicht  bloss  erlebte,  sondern  auch 
mit  Verständnis  durchlebte.  Nach  seiner  Rückkehr  genoss 
Thukydides  die  bürgeriichen  Rechte  gewiss  mehrere  Jahre,  in 
denen  er  an  dem  zweiten  Teile  seines  Werkes  arbeitete.  Ein 
bestimmtes  Jahr  des  Todes  ist  aber  nicht  festzustellen.  Nach 
2,  100  scheint  der  Geschichtschreiber  den  König  Archelaos, 
welcher  399  starb,  überlebt  zu  haben;  dagegen  kannte  er,  als 
er  3,  116  schrieb,  den  Aetnaausbruch  von  396  noch  nicht. 
Doch  ist  es  möglich,  dass  dies  zu  den  Spuren  der  früheren 
Abfassung  der  ersten  Bücher  zu  rechnen  ist. 

Ein  widriges  Geschick  hat  Thukydides  missgönnt,  die 
Geschichte  des  peloponnesischen  Krieges  sowohl  äusserlich  zu 
Ende  zu  führen  als  in  den  Einzelheiten  durchzuarbeiten.  Letzteres 
wäre  um  so  notwendiger  gewesen,  als  die  Niederschreibung  des 
Erhaltenen  über  einen  langen  Zeitraum  sich  erstreckte.  Wenn 
Thukydides  am  Eingange  versichert,  sofort  beim  Beginne  des 
Krieges  die  Sammlung  von  Notizen  begonnen  zu  haben,  so  ist 
damit  allerdings  nicht  gesagt,  dass  er  auch  an  die  Darstellung 
der  Ereignisse  sogleich  Hand  anlegte,  ^)  indes  kann  er  nicht  erst 
nach  Beendigung  des  ganzen  Krieges  ^)  das  Buch  geschrieben 
haben.  Ullrich  hat  aus  mehreren  Stellen  der  ersten  Bücher 
nachgewiesen,  dass  Thukydides  den  Krieg  der  Peloponnesier  und 
Athener  mit  dem  Frieden  von  421  abgeschlossen  meinte  und, 
als  er  zu  schreiben  begann,  nur  den  archidamischen  Krieg  im 
Auge  hatte.  ^)  Dieses  Resultat  wurde  durch  die  folgende  Polemik 
modificiert,    aber    im    Ganzen     nicht    erschüttert.^)      Ludwig 


48  f.).  Nach  Marceil.  34  (Xi^txai)  starb  er  über  fünfzig  Jahre  alt,  was  Diels 
Rhein.  Mus.  31,  50  und  Hermes  11,  292  deutet:  zwanzig  Jahre,  nachdem  er 
das  Strategenamt  erhielt  (wozu  ein  Alter  von  über  dreissig  Jahre  erforderlich 
war).  Oder  setzte  dieser  Grammatiker  die  äxfiYi  in  das  Jahr  der  Strategie 
und  betrachtete  410  als  das  Todesjahr?  Johann  Stahl  de  morte  Thuc, 
Münster  1875. 

1)  Vgl.  Sadee  Dissertatt.  Argentor.  II  264. 

2)  Dionys.  de  Thuc.  jud.  6.  12,  vgl.  Marcellin.  45.  Aber  in  Skaptehyle 
zeigte  man  die  Platane,  unter  welcher  er  sein  Werk  geschrieben  haben  soll 
(Marcell.  25,  vgl.  46  f.),  wie  am  Ida  eine  Homerpinie  stand.  Nach  Vita 
Thucyd.  8  (epcxai)  ist  nur  das  Proömium  nach  dem  Kriege  verfasst. 

3)  Ullrichs  Abhandlungen  sind :  Beiträge  zur  Erklärung  des  Thukydides 
Pr.  des  Johanneums  Hamburg  1846.  Beiträge  zur  Kritik  des  Th.  1850.  1851. 
1852,  Beiträge  zur  Erkl.  u.  Kritik  des  Th.  1862. 

4)  Gegen  Ullrich  sprachen  sich  aus  C lassen  und  Stahl  in  ihren 
Ausgaben;  J.  Welti  über  die  Abfassungszeit  des  Thucydideischen  Geschichts- 


406  Zwölftes  Kapitel, 

Cwiklinski  versuchte  in  die  Entstehungsgeschichte  des  Buches 
noch  tiefer  einzudringen^),  wodurch  er  auf  die  neueren  Forschungen 
sehr  anregend  gewirkt  hat,  ohne  jedoch  überzeugendes  zu 
bieten.  *) 

In  der  ausführhchen  Einleitung  denkt  Thukydides  nicht 
an  eine  rechtfertigende  Auseinandersetzung,  warum  er  den  zehn- 
jährigen Krieg  mit  der  durch  einen  erhebhchen  Zwischenraum 
getrennten  sicilischen Expedition  und  ihren  verderblichen  Folgen^) 
wie  einen  und  denselben  Krieg  betrachte,  ebenso  wenig  wird 
gerechtfertigt,  dass  er  gerade  bei  der  Epidamnosfrage  beginnt, 
da  doch  die  Athener  und  Spartaner  schon  vorher  manchen 
Kampf  unter  einander  gehabt  hatten.  Würde  der  Historiker 
ferner  auf  den  ganzen  Krieg  zurückblicken,  so  brauchte  er  seine 
These,  der  pelonnesische  Krieg  sei  das  grossartigste  Ereignis 
der  griechischen  Geschichte,  nicht  so  ausführlich  zu  verteidigen. 
Kurz,  die  Einleitung  passt  nur  für  eine  Geschichte  des  archida- 
mischen  Krieges.  ^)     Am  Anfange    des   zweiten  Buches  spricht 

Werkes,  Winterthur  1870,  Heinr.  Welzhofer  Thukydides  und  sein  Ge- 
schichtswerk, München  1878;  fär  Ullrich  traten  ein  Poppo  in  seiner  Aus- 
gabe (vgl.  de  historia  Thucydidea,  Leipzig  1866),  Ludwig  Ztsch.  f.  österr. 
Gymn.  1864  S.  497  flf.  und  Jul.  Steup  quaestiones  Thucydideae,  Bonn  1868. 

1)  Quaestiones  de  tempore  quo  Thucydides  priorem  historiae  partem 
composuerit ,  Giessen  1873  (Diss.  v.  Berlin),  vgl,  auch  L.  Breitenbach 
Xenophons  Hellenika,  Berlin  1873  I  S.  157  f.  u.  Jahrbb.  f.  Phil.  107,  186  ff. 

2)  P.  L  e  8  k  e  übei*  die  verschiedene  Abfassungszeit  der  Theile  der 
Thukydideischeu  Geschichte,  Berlin  1875  (Pr.  v.  Liegnitz);  Fri'edr.  Zimmer 
mann  quaestiones  de  tempore  quo  historiarum  libri  a  Thucydide  compositi 
quoque  editi  sint,  Halle  1875;  Jul.  Helmbold  über  die  successive  Ent- 
stehung des  Thucydideischen  Geschichtswerkes,  Colmar  1876  (Pr,  v,  Geb- 
weiler); Ad.  Schmidt  das  perikleische  Zeitalter  II  365  ff.;  O.  Struve 
de  compositi  operis  Thucydidis  temporibus,  Halle  1878;  F.  Vollheim  zur 
Entstehungsgeschichte  des  Thucydideischen  Geschichtswerks,  Eisleben  1878; 
Ed.  Ippel  quaestiones  Thucydideae,  Halle  1879. 

3)  Ueber  den  Ausdruck  SSs  6  TCoXefjLO«;  u.  dgl.  Herbst  Philol.  38,  521  ff. 
Friedr.  Kiel  quo  tempore  Thucydides  priorem  operis  sui  partem  composuerit,  Han- 
nover 1880  (Diss.  V.  Göttingen),  Gg.  Meyer  quibus  temporibus  Thucydides 
historiae  suae  partes  scripserit,  Nordhausen  1880  (Diss.  v.  Jena)  p.  11.  Da 
das  Imperfekt,  welches  bei  Thukydides  auch  zur  Zeit  des  Niederschreibens 
noch  fortdauernde  Ereignisse  bezeichnet,  missverstanden  wurde,  sei  erwähnt, 
dass  mittelalterliche  Chronisten  sich  dieselbe  Freiheit  gestatteten  (Scheffer- 
Boichorst,  Beilage  zur  Allgem.  Ztg.  1884  S.  1050). 

4)  Auch  erwartete  man  1,  23,  3  einen  Hinweis  auf  die  der  sicilischen 
Expedition  verhängnisvolle  Mondsünsternis ;  1,  10,  2  ist  ungenau. 


I 
I 


Thukydides  und  Philistos.  407 

Thukydides  von  einem  zusammenhängenden  Kriege  und  zwei 
Stellen  desselben  müssen  vor  414  geschrieben  sein.^)  Dagegen 
linden  wir  im  dritten  Buche  keine  solchen  Aeusserungen,  im 
Gegenteil  zwei,  welche  die  Fortsetzung  des  Krieges  voraus- 
setzen. 2)  Das  gleiche  ist  von  dem  vierten  Buche  zu  sagen. '^) 
Nachdem  Thukj^dides  sodann  den  Frieden  des  Nikias  erzählt 
hat,  kündigt  er  ausdrückHch  an,  dass  er  hier  nicht  abbrechen, 
sondern  bis  zur  Schleifung  der  athenischen  Mauern  fortfahren 
werde  (26);  zugleich  nennt  der  Historiker,  weil  ein  neuer  Ab- 
schnitt beginnt,  seinen  Namen  abermals  und  bringt  seine  Grund- 
sätze in  Erinnerung  (20). 

Es  war  Thukydides  nicht  beschieden,  seinen  Plan  auszu- 
führen; eben  mit  den  Ereignissen  des  Jahres  411  beschäftigt, 
musste  er  die  Feder  für  immer  niederlegen  und  so  blieb  das 
Werk  ein  Torso.  *)  Aber  auch  dem  bereits  Geschriebenen  hatte 
Thukydides  nicht  die  endgiltige  Form  gegeben.  Als  nämhch 
die  sicilische  Expedition  und  der  dekeleische  Krieg  das  Gesammt- 
bild  vollständig  veränderten,  verschob  Thukydides,  indem  er 
in  seiner  Arbeit  unbeirrt  fortfuhr,  die  zeitgemässe  Revision  der 
ersten  Bücher  auf  später ;  vorläufig  legte  er  nur  einige  Nach- 
träge in  sein  Manuskript  ein.  Der  umfangreichste  wurde  der 
Einleitung  angehängt;  sobald  nämlich  Thukydides  den  Ent- 
scheidungskampf von  Athen  und  Sparta  zur  Grundidee  seines 
Werkes  zu  machen  begonnen  hatte,  fühlte  er  sich  genötigt,  auch 
das  Entstehen  und  die  allmählige  Verschärfung  des  Gegensatzes 
zu  schildern,  zumal  nachdem  Hellanikos  in  seiner  „Atthis"  die 
den  Perserkriegen    folgende  Zeit  kurz    und    flüchtig  dargestellt 


1)  II  54,  3.  57.  2;  dagegen  sind  die  Versuche,  II  9,  2  (wegen  V  82,  1. 
vni  3,  2)  und  48,  2  (Schol.  Aristoph.  Av.  997)  chronologisch  zu  bestimmen, 
unsicher. 

2)  III  82,  1.  86,  4,  nicht  sicher  98,  4.  113,  3.  Müller-Strübing 
thukydid.  Forschungen  S.  42  flf.  nimmt  an,  III  104  wisse  Thukydides  noch 
nicht,  dass  Nikias  421  eine  Brücke  von  Delos  nach  Kheneia  schlug. 

3)  IV  48,  5  (vgl.  Diodor.  13,  48).  81,  2;  unsicher  74,  4  (Diodor.  13,  65). 

4)  Ueber  die  Ansicht  des  Dionysios  (de  Thuc.  12,  vgl.  10),  dass  er  die 
Geschichte  absichtlich  unvollendet  liess,  braucht  man  nicht  zu  diskutieren. 
Wegen  y£TP"?^  5,  26,  1  vermutet  Ludwig  Jahrbb.  f.  Phil.  95,  152,  dass 
der  Schluss  von  Thukydides  geschrieben  worden,  aber  in  seinem  Nachlass 
verloren  gegangen  sei;  vgl.  auch  Müller-Strübing  a.  O.  S.  73  flf. 


408  Zwölftes  Kapitel. 

hatte  (I  97,  2);  aus  diesen  Gründen  wurden  I  89 — 118^)  eing' 
fügt  und  zwar  geschah  dies,  wie  die  Nennung  des  Hellanikot. 
zeigt  (S.  361),  nach  dem,  Ende  des  Krieges.  Im  übrigen  dürfte 
Thukydides  nicht  mehr  als  zwei  Zusätze,  welche  psycliologisch 
leicht  erklärbar  sind,  gemacht  haben:  In  dem  einen  (II  65, 
11 — 13)^)  will  er  Perikles  gegen  die  Vermutung,  dass  dieser  die 
sicilische  Expedition  gleichfalls  unternommen  hätte,  schützen ; 
II  100,  2  steht  ein  Nachruf  auf  den  König  Archelaos,  mit  dem 
er  höchst  wahrscheinlich  persönlich  bekannt  war.  Bei  einer 
genaueren  Durcharbeitung  hätte  Thukydides  jene  Spuren  der 
früheren  Auffassung  entfernt  und,  wie  dies  seine  Art  wc^fl 
sentenziöse  Anspielungen  auf  die  späteren  Ereignisse  einge- 
flochten. 

In  anderer  Weise  zeigt  sich  die  Unfertigkeit  der  nach 
415  geschriebenen  Abschnitte.  Die  Geschichte  der  sicilischen  ■ 
Expedition  arbeitete  Thukydides  in  dem  Bewusstsein ,  dass  sie 
die  Glanzpartie  seines  Buches  werden  würde,  mit  grosser  Sorgfalt 
aus;  er  eilte  augenscheinlich  zu  diesem  interessanten  Abschnitte 
zu  gelangen,  weshalb  er  die  antiquarische  Einleitung  aus  Antiochos 
falsch  excerpierte  und  die  uninteressante  Periode  der  Unter- 
handlungen und  des  latenten  Krieges  ein  wenig  vernachlässigte. 
Hier  waren  ja  trockene  Vertragsurkunden  einzufügen  und  poli- 
tische Reden  nicht  am  Platze.  Etwas  anders  liegt  die  Sache 
bei  dem  achten  Buche.  ^)     Hier  fehlen  direkte  Reden  gänzHch, 


1)  Die  Episode  auf  I  97 — 118  zu  beschränken  (Cwiklinski  a.  O. 
p.  18  ff.  A.  Kirchhoff  Hermes  11,  371),  könnte  höchstens  I  93,  5  veran- 
lassen ;  doch  scheint  dort  der  Geschichtsschreiber  die  Niederreissnng  der 
Mauern  vorauszusetzen. 

2)  Es  ist  nicht  notwendig,  dass  »oan  die  vorhergehenden  Paragraphen 
dazu  rechnet;  §  7  wäre,  von  der  sicilischen  Expedition  gemeint,  recht  schwach 
ausgedrückt. 

3)  Ant.  .lerzykowski  octavo  historiae  Thucydideae  libro  extremam 
manum  non  accessisse  demonstratur,  Breslau  1842;  W.  Mewes  Untersuchungen 
über  das  achte  Buch  der  thukydideischen  Geschichte,  Pr.  v.  Brandenburg  1 868. 
Friedr.  O.  Dietrich  quaestiones  Thucydidiae,  Halle  1873;  Paul  Hellwig 
de  Thucydidei  operis  libri  Vin.  indole  ac  natura,  Halle  1876;  Fellner 
Forschuugs-  und  Darstellungsweise  des  Thukydides  gezeigt  an  einer  Kritik 
des  achten  Buches,  Büdingers  Untersuch,  aus  der  alten  Geschichte,  H.  2.  Wien 
1881;  Fr.  J.  Cüppers  de  octavo  Thucydidis  libro  non  perpolito,  Münster 
1884  sucht  nachzuweisen,  dass  auch  andere  Bücher  Spuren  der  Un Vollendung 
tragen. 


Thukydides  und  Philistos.  4Q9 

obgleich  Veranlassungen  dazu  nicht  gemangelt  hätten ;  ausserdem 
ist  die  Erzählung  lückenhaft  und  unklarer  als  man  bei  Thukydides 
gewohnt  ist.  Im  UrteiP)  sowohl  als  im  Ausdruck  2)  erscheint 
eine  gewisse  Unsicherheit ;  an  anderen  Stellen  hingegen  drückt 
Thukydides  seine  Ansichten  über  Verfassung 3)  und  einzelne 
Personen^)  unverhohlener  als  sonst  aus.  Diese  Eigentümhchkeiten 
fielen  bereits  den  Alten  auf,  von  denen  manche  das  achte  Buch 
deswegen  der  Tochter  des  Thukydides  oder  seinen  Fortsetzern 
Xenophon  und  Theopompos  zuschrieben.'^)  Davon  kann  jedoch 
keine  Rede  sein  teils  weil  Thukydides  am  Ende  jedes  Jahres 
sich  zu  nennen  fortfährt  teils  weil  seine  ausgeprägte  Individualität 
auch  hier  nicht  zu  verkennen  ist.")  Von  dem  achten  Buche 
liegt  also  nur  das  Koncept  vor.  Wenn  nun  auch  die  Be- 
schreibung des  siciüschen  Feldzuges  von  dem  Vorhergehenden 
wie  von  dem  auf  sie  Folgenden  sich  hinsichthch  der  Aus- 
arbeitung abhebt,  kann  doch  Thukydides  dieselbe  nicht  als  ein 
besonderes  Werk  abgefasst  haben.  ^)  Denn  dieser  Krieg  ist 
einerseits  von  dem  Dekeleischen  auf  keine  Weise  zu  scheiden, 
andererseits  hängt  seine  Vorgeschichte  mit  dem  archidamischen 
Kriege  enge  zusammen. 

Thukydides  war  durch  verschiedene  günstige  Verhältnisse 
wie  geschaffen  zum  Historiker:  Durch  seine  Geburt  war  er 
zwischen  Hellenen  und  Barbaren,  durch  sein  Lebensgeschick 
zwischen  die  kriegführenden  Parteien  gestellt;  grosser  Privat- 
besitz gewährte  ihm  mit  der  Müsse  die  Möglichkeit,  sich  Nach- 
richten von  allen  Seiten  zu  verschaffen  und  selbst  Reisen  zu 
unternehmen.  Dazu  kamen  militärische  Erfahrung  und  ein  unge- 
wöhnhches  politisches  Talent.  Im  Vollgefühle  dieser  günstigen 
Stellung ,  worin  im  Altertum  nur  Polybios  mit  ihm  wetteifert, 
trat  er  auf,  um  ein  XTyjjia  st?  aet  (I  22,  4)  zu  schaffen  und 
seinen  Lesern  nicht  augenblickliche  Unterhaltung,  sondern  Be- 

1)  Aoxsl  fioi,  tly.öz,  Xk'^ziw.  kommen  ungewöhnlich  häufig  vor. 

2)  Jerzykowski  p.  14  ff.;  Dietrich  p.  14  ff.;  Hellwig  p.  42  ff. 

3)  24,  4  ff.  lobt  er  die  Spartaner,  97,  2  die  gemäs.sigte  Demokratie. 

4)  Z.  B.  68  Antiphon,  73,  3  Hyperbolos. 

5)  Marceil.  43;  vgl.  Vita  8. 

6)  Krüger  Dionyjsi  historiogr.  p.  266  ff.  Leben  des  Thukj^dides  S.  74  ff.; 
Poppo  11  1,  77  ff.  und  Gö  Her  I  35  ff.  in  ihren  Ausgaben. 

7)  So  Cwiklinski  Hermes  12,  23  ff.,  Zimmermann  a.  0.  und 
G.  Meyer  p.  18  ff.  (bestritten  von  Struve  p.  21  ff.). 


410  Zwölftes  Kapitel. 

lehrung  zu  gewähren ,  denn  die  Geschichte  galt  ihm  als  Lehr- 
meisterin der  Zukunft,  ^)  eine  Ansicht,  welche  seitdem  die  alte 
Geschichtsschreibung  beherrschte. 

Wir  haben  bei  Herodot  gesehen,  wie  der  religiöse  Stand- 
punkt seine  Auffassung  der  Geschichte  beeinfiusste ;  Thukydides 
unterscheidet  sich  ganz  von  ihra.^)     Zwar  glauben  beide  an  die 
persönlichen  Götter   nicht  und  wissen,    was    von    den  Sonnen - 
und  Mondsfinsternissen  zu  halten  sei.  ^)  Dagegen  fehlt  Thukydides 
das  religiöse  Gefühl,  welches  Herodot  erfüllt,  gänzlich ;  er  glaubt, 
weder  an  Orakel  noch  an  Wunder  und  selbst  die  unklare  Tych« 
zu  nennen  überlässt  er  lieber  den  Personen,  welche  er  reden( 
einführt.     Nichts    desto    weniger    äussert   sich  Thukydides    mil 
Rücksicht    auf   sein    Publikum    sehr    vorsichtig.*)     Ausserdei 
rechnet  er  gleich  Macchiavelli  mit  den  religiösen  Empfindungei 
wie  mit  einem  politischen  Faktor,  weshalb  er  die  Abnahme  dei 
Gottesfurcht  bedauert.  ^)     Thukydides  selbst  beurteilt  die  Hand- 
lungen der  Bürger  vom  Gesichtspunkte  des  Nutzens  (Sopi'fspov), 
nicht  der  Gerechtigkeit  (Stxatov).   Man  braucht  nicht  sentimenti 
zu  sein ,    um   sich   über  die  Ruhe    zu    entsetzen ,    mit   welche^ 
Thukydides  von  den  Massenmorden  gefangener  Griechen  spricht.* 
Als  es  sich  nm  die  Hinschlachtung  des  schuldlosen  Demos  voi 
Mytilene  handelt,  haben  seine  Athener  nur  darüber  eine  Meinungs 
Verschiedenheit,  ob  das  Gemetzel  räthch  sei  oder  nicht.     Aucl 
bei  der  Verhandlung  von  Melos  wird  das  sittliche  Moment  nichj 
hervorgehoben.     Wer  MacchiaveUi  kennt,  wird  in  dieser  Gleicl 
giltigkeit  wiederum  eine  frappante  Ähnlichkeit  zwischen  beider 
Historikern  finden. 


1)  I  22,  4  ooot  8i  ßouXYjOOVtai    tcüv   te   Ysvofievtuv   xö    orx^zq    oxortslv   xa 
TÄv  (AsXXovKwv    nozi    auö-i?    xata     tö    äv^ptuKEtov    totoutcuv    xal    itapa^X-fjoimS 
eoEod'ai,  ü)tf(EX'.jj.a  xpiVEiv  auxa  ftpxouvTa»^  l^ti ;  II  48  öccp'  (uv  xtc  oxojtwv,  Etitoi 
xal  auö-ti;     STCtTCeao:,  [xciXiox'  äv  tyoi  xi  Tzpozi^uxz  p.V]  U'(votl\i,  xaüxa  SfjXiuaw. 

2)  Klix  Thucydides    und   die  Volksreligion,    ZüUichan  1864;  Bocki 
ha  mm  er   die  sittlich -religiöse  Weltanschauung  des  Thukydides,   Tübingei 
1862  (Pr.  V.  Urach);  Ed.  Voss  de  zö^q  Thucydidea,  Düsseldorf  1879. 

3)  II  28.    VII    50,   4 ;     vgl.    H  e  i  s      de    eclipsibus    apud     Thucydider 
Köln  1834. 

4)  n  8,  2.    17,  2.    47,  4.    54,  3.   III    96.    V  16,  2.    26,  4.    VI    27,  3, 
Classens  Ausgabe  I  S.  LXI ;  offener  spricht  er  V  103,  2. 

6)  n  68,  4  f.  III  82,  6. 

6)  Z.  B.  m  68.  IV  67,  4.  V  16.   32,  1.   116,  4. 


Thukydides  und  Philistos.  411 

Beide  haben  ferner  dies  gemein,  dass  man  sie  keiner  der 
politischen  Parteien  ihrer  Zeit  zurechnen  kann,  weil  sie  ohne 
Voreingenommenheit  eigentlich  nur  vor  einer  Regierung,  die 
besonnen  und  kräftig  geführt  wird,  gleichgiltig  welchen  Namen 
sie  trägt,  Achtung  haben.  Wiewohl  also  Thukydides  im  Herzen 
mehr  der  Aristokratie  als  der  unstäten  Demokratie  ^)  zugethan 
war,  missbiiligte  er  den  Fanatismus  der  Ohgarchen  und  trug 
Perikles ,  dem  kraftvollen  zielbewussten  Herrscher  des  Demos, 
aufrichtige  Bewunderung  entgegen;  dennoch  lesen  wir  bei  ihm, 
dass  Athen  nie  so  gut  regiert  war  wie  zur  Zeit  der  gemässigten 
Demokratie,  wie  sie  411  kurze  Zeit  bestand.  2) 

Eine  ähnliche  Stellung  nahm  Thukydides  zu  den  krieg- 
führenden Parteien  ein.  Wiewohl  der  Athener  naturgemäss 
gegen  seine  Mitbürger  wohlwollender  gestimmt  war,  als  gegen 
die  Spartaner,  bemühte  er  sich  wenigstens,  die  Unparteilichkeit 
zu  wahren.  Gylippos  und  noch  mehr  Brasidas  werden,  weil 
sie  vortreffliche  Generäle  waren,  obgleich  Athen  dadurch  das 
grösste  Unheil  erwuchs,  mit  unverkennbarem  Vergnügen  dar- 
gestellt; hingegen  fühlt  man  vor  den  Schlachten  von  Syrakus 
eine  gewisse  Ironie  durch,  wenn  Thukydides  auf  das  Flotten- 
wesen der  Peloponnesier  zu  sprechen  kommt.  Auf  der  anderen 
Seite  wird  die  Zerfahrenheit  des  athenischen  Volkes,  welche  der 
Kriegführung  schädlich  war,  nicht  verhehlt  ^).  So  hat  denn 
Thukydides  aufrichtig  und  ohne  Heuchelei  gesprochen,  wenn 
er  versichert,  dass  er  die  Ereignisse  nicht  oberflächlich  und 
willkürhch  dargestellt  habe  (I  22,  2).  Die  Alten  priesen  last 
ausnahmslos  die  Unparteilichkeit  des  Thukydides^).  In  neuerer 
Zeit  wurde  gegen  diese  Ansicht  Einsprache  erhoben  und,  mag 
auch  MüUer-Strübing  ^)  vielfach  in  das  entgegengesetzte  Extrem 

1)  Ueber  OKtp  «piXel  Srjfxoc  rcoielv  und  ähnliche  Ausfälle  F  e  1 1  n  e  r 
Forschungs-  und  Darstellungsweise  des  Th.  S.  31. 

2)  Kort  um  zur  Geschichte  hellenischer  Staatsverfassungen,  Heidelberg 
1821;  Heinr.  Colombel  Thucydidis  de  reipublicac  constitueudae  et  admini- 
strandae  ratione  quae  fiierit  sententia,  We^lburg  1871  f^Pr.  v.  Hadamar). 

3)  S.  B.  II  21,  2.  3.  69,   1.  2.  65,   10  ff.  HI  36,  4.  IV  28,  5.    VI  63,  2. 

4)  Dionys.  de  Thucyd.  jud.  8  (anders  ad  Pomp,  de  Plat.  3).  Plutarch. 
malign.  Herod.  3;  Joseph,  contra  Apion.  1,  2  ist  tendenziös.  Ungünstig  Vita. 
Thucyd.  4. 

5)  Aristophanes  und  die  historische  Kritik;  Leipzig  1873  und  thukydi- 
deische  Forschungen,  Wien  1881;  vgl.  auch  O.  Kämmel  Comment.  phil. 
Script,  semin.  philol.  reg.  Lips.  sodales,  Leipzig  1874  p.  255  ff.  Karl  Haupt 
de  Thucydidis  quam  vocant  fide  historica,  Hanau  1875. 


412  Zwölftes  Kapitel. 

verfallen ,  so  ist  doch  jedenfalls  die  ideale  Auffassung  der 
früheren  Gelehrten  nicht  haltbar.  In  erster  Linie  dreht  sich 
der  Streit  darum,  ob  Thukydides  Kleon  Unrecht  Ihut,  wenn  er 
ihn  als  Friedensstörer  hinstellt,  und  ob  dies  aus  persönhcher 
Gereiztheit  geschieht  *).  Er  ist  für  uns  nicht  entscheid  bar, 
sicherhch  aber  fiel  die  bürgerliche  Ehrenhaftigkeit  des  Volks- 
führers  für  Thukydides  bei  der  Beurteilung  seiner  staats- 
männischen Fähigkeit  nicht  ins  Gewicht. 

Angenommen  nun,  dass  der  Historiker  das  ihm  vorliegend 
Material,  wenn  auch  nicht  mit  übermenschlicher  Objektiviti 
so  doch  in  treuer  ehrenwerter  Weise  benützt  hat,  war  jenes 
sich  so  zuverlässig,  dass  er  die  Wahrheit  überall  sagen  könnt 
Den  Quellen  nach  war  Thukydides  günstiger  als  Herodot  g\ 
stellt,  weil  er,  wenn  wir  von  der  Einleitung  •  und  wenig 
Episoden  absehen,  nur  von  Ereignissen,  die  er  selbst  erlebt  hatte 
oder  von  Augenzeugen  erfahren  konnte,  handelte.  Nach  sein 
eigenen  Versicherung  (I  22,  vgl.  V  26)  begnügte  er  sich  nie 
mit  den  ihm  beiläufig  zugekommenen  Berichten,  sondern  z 
von  beiden  Parteien  und  von  verschiedenen  Individuen  Kun 
ein.  Da  ergab  sich  natürHch,  dass  die  Berichte  je  nach  der 
Gedächtniskraft  oder  der  Parteistellung  der  Erzähler  abwichen; 
besonders  schwierig  war  die  Aufgabe ,  das  Bild  eines  v^H 
wickelten  Gefechtes  aus  den  Detailangaben  der  Einzelnen  ziff! 
sammenzusetzen  (VII  44).  Thukydides  wusste  auch  recht  gut, 
was  für  eine  Bewandtnis  es  mit  den  Verlustangaben  habe  (5, 74), 
Ueberhaupt  pflegen  Zahlen  nur  dann  angegeben  zu  werden, 
wenn  sie  aus  zuverlässiger  Quelle  stammten  oder  eine  Nach- 
prüfung möglich  war  ^), 

Thukydides  war  also   oft  auf  Kombinationen   angewiesen,  |j 
wer  wüsste  aber  nicht,    wie   oft  das  Wahrscheinliche    und    die 
Wirklichkeit    nicht    zusammenfallen?     Manchmal    ist    es    ihm 
jedoch  nicht  einmal  geglückt,  eine  glaubwürdige  Schilderung  zu 


i 

de 


1)  Besonders  V.  16  Ysvo|j.evY)?  Yjoü^^iac  xatatpaveotepoc  vo}JLtC">v  5v  slvai 
xaicoüpY<"V  xal  curiototepo?  SiaßäXXcuv.  Die  ältere  diese  Frage  ])ehandelude 
Literatur  ist  bei  K.  Fr.  Hermann  griech.  Staatsalterthümcr  §  163,  9  und 
W.  Vischer  kleine  Schriften  I  415  flf.  verzeichnet;  vgl.  Max  Büdinger 
Kleon  bei  Thukydides,  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  96,  367  flf.  (für  Kle(.n 
günstig). 

2)  Z.  B.  V  GS. 


Thukydides  und  Philistos.  413 

entwerfen,  weil  die  genaue  Ortskenntnis  fehlte.  So  gil>t  die 
Belagerung  von  Plataiai  in  der  Form,  welche  Thukydides  bietet, 
'/AI  vielen  Bedenken  Anlass^).  Ebenso  sind  seine  Ortsbeschrei- 
bungen, speciell  von  Inseln,  die  er  wahrscheinhch  vom  Schiffe 
aus  sah,  manchmal  unkorrekt  ^).  Ausserdem  beeinträchtigt  die 
ünvollständigkeit  des  Materials  nicht  selten  die  Treue  des 
Bildes.  Ueber  die  Athener  standen  ihm,  wie  es  natürlich  war, 
reichlichere  Mitteilungen  zu  Gebote  als  über  die  gegnerische 
Seite,  selbst  was  die  Kriegsmittel  (II  13)  anlangt.  Ferner  tritt 
die  innere  Geschichte  Athens  zu  sehr  zurück^),  obgleich  sie  auch 
auf  die  Kriegsvorgänge  oft  Einfluss  übte.  Dass  Thukydides 
überhaupt  von  Vollständigkeit  weit  entfernt  ist,  zeigt  ein  Ver- 
gleich mit  den  übrigen  Quellen  des  peloponnesischen  Krieges. 

Ist  Thukydides  seinem  Vorgänger  durch  die  Beschaffenheit 
des  Gegenstandes  weit  überlegen,  so  möchte  dies  bezüglich 
seiner  Behandlung  der  älteren  Geschichte  ^)  nicht  unbedingt  zu 
behaupten  sein.  Während  nämlich  Herodot  auf  die  Heran- 
ziehung der  sagenhaften  Zeit  so  gut  wie  ganz  verzichtet,  ist 
Thukydides  nicht  so  skeptisch,  sondern  er  betrachtet  die  epischen 
Gedichte  wie  historische  Quellen ,  bei  denen  nur  poetische 
ITebertreibungen  in  Abzug  zu  bringen  seien. ^)  Abgesehen  von 
dieser  Voraussetzung  ist  die  Methode,  mit  welcher  er  ein  Bild 
der  ältesten  griechischen  Geschichte  entwirft,  wahrhaft  bewun- 
derungswürdig. Aus  den  Epen  werden  kulturhistorische  und 
nationalökonomische  Folgerungen  gezogen,  zu  deren  Bestätigung 
alte  Gebräuche  der  thukydideischen  Zeit  ^)  und  selbst  die  Ergeb- 
nisse von  Ausgrabungen  dienen  müssen.     Für  die  spätere  Zeit 


1)  G.  Cox  history  of  Greece  II  603  ff.  Paley  Journal  of  philology 
10,  8  ff.  Müller-Strübing  Jahrbb.  f.  Philol.  131,  289  ff.  (er  zieht  andere 
Folgerungen  daraus). 

2)  Sphakteria  E.  Curtius  Peloponnesos  II  179;  Thera  Kiepert  Vor- 
bericht zum  neuen  Atlas  von  Hellas  S.  2;  Kythera  E.  Weil  Mittheil,  des 
deutschen  arch.  Inst.  V  240  f. 

3)  Müller-Strübing  Aristophanes  und  die  historische  Kritik  S.  385  ff. 

4)  Gust.  Glogau  die  Entdeckungen  des  Thukydides  über  die  älteste 
Geschichte  Griechenlands,  Nenmarkt  i.  Westpr.  1876;  U.  Köhler  Commen- 
tatt.  in  hon.  Mommseni,  Berlin  1877  p.  370  ff.;  Ad.  Bauer  Themistokles. 
Marburg  1881  S.  28  ff. 

5)  I  10,  3.  11,  3.  21,  1. 

6)  I  5,  2.   6,  2.  3,  5.  c.  7. 


414  Zwölftes  Kapitel. 


I 


4 


benützt  der  Historiker  hauptsächlich  Herodot  ^) ,  aus  dessen 
Notizen  er  sogar  chronologische  Schlüsse  zu  ziehen  wagt.  Doch 
polemisiert  er  wiederholt  stillschweigend  gegen  ihn,  wie  auch 
gegen  andere^).  Die  Pentekontaetie^)  ist  nicht  in  allem  glaub- 
würdig dargestellt. 

Die  Verschiedenheit  des  Stoffes  bedingte  zugleich,  dass  die 
Komposition     des    thukydid eischen    Werkes    von    dem    des 
herodotischen  vollkommen  abweicht.     Weil  der  Historiker  einen 
bestimmt    abgegrenzten    Gegenstand    gewählt    hatte,    durfte 
sich  keine  erheblichen  Abschweifungen  mehr  gestatten,  nachdei 
er   den    eigentlichen  Krieg   zu    erzählen   begonnen    hatte 
ältere  Geschichte  Siciliens  (VI  1  ff.),  welche  wahrscheinlich  dem 
Buche    des  Antiochos    entlehnt    ist,    hängt,    indem    die    ethno- 
graphischen Verhältnisse   der  Insel    von    politischer  Bedeutung 
waren ,    mit    der   Geschichtserzählung  zusammen ;    das  gleiche 
gilt  von   der  Vorgeschichte   des  Odrysenreiches    (II  96  f.)     Bei 
den  übrigen  Excursen  dagegen   war  ein    persönliches  Interesse 
im  Spiel :  Seine  nordische  Abkunft  führte  ihn  auf  den  Ursprung 
Makedoniens  (II  99)  und  die  mythischen  Traker  (II  29);    na 
Akarnanien  (II 102)  kam  Thukydides  wahrscheinlich  mit  Demi 
sthenes'  Heer,  das  übrige  bezieht  sich  auf  Athenisches,  wie  dl 
Bemerkungen  über  die  Lage  von  Altathen  (U  15)  und  die  delisc 
Panegyris  (III  104).     Ein  üeberblick  dieser  Stellen  zeigt  sofo: 
dass  sie  fast  sämmtlich  zum  ersten  Teile  des  Werkes  geh()re: 
Seitdem   Thukydides    sein  Thema    durch    die  Fortsetzung    d 
Krieges  erheblich  vergrössert  sah,  vermied  er  solche  Episoden 
der  Manier    des  Herodot;    umsomehr    überrascht   es ,    wenn 
in  der  Geschichte  des  sicilischen  Krieges  übermässig  ausführli 
von  Harmodios  und  Aristogeiton  (VI  54 — 59)  spricht*).     Thuk 
dides  entschuldigt  dies  selbst  mit  der  Begründung,   dass    nich 
einmal  die  Athener  die  richtige  Ueberlieferung  hätten.    Herodot 
spricht  freilich  bei  Gelegenheit^)  den  wahren  Sachverhalt  aus, 


1)  Aus  einer  schriftlichen  Qaelle   muss  auch  der  Briefwechsel  des  Pau- 
sanias  mitgeteilt  sein. 

2)  Z.  B.  1,  138  bezüglich  der  Lehrer  des  Themistokles  gegen  Stesiinbrotos. 

3)  W.  Pierson    Philol.   28,  40  fi.    193  ft.;    vgl.   Duucker    Geschichte 
des  Alterthums  Vm  158  ff.  243  A.  2.  323  A.  1. 

4)  I  20,  2  war  zu  einer  ausführlichen  Behandlung  der  Frage  kein  Platz. 
6)  V  66  f.  VI  128. 


I 


Thukydides  und  Philistos.  415 

darum  kann  sich  aber  Thukydides  nicht  kümmern,  weil  er  ein 
eingewurzeltes  Vorurteil  seiner  Bürgerschaft  wissenschaftlich 
(werden  doch  sogar  zwei  Inschriften  aufgeboten)  widerlegen 
wollte.  Der  Eifer  des  Gelehrten  hat  eben  einmal  über  die 
Strenge  der  Komposition  gesiegt. 

Thukydides  hat  an  Stelle  des  herodotischen  Einschach- 
telungssystemes  in  der  Geschichte  des  peloponnesischen  Krieges 
die  Zeiteinteilung  zur  Grundlage  genommen.  Da  bei  der 
Mangelhaftigkeit  des  Kriegswesens  und  der  Schifffahrt  der 
Winter  die  Operationen  gänzHch  unterbrach  oder  doch  auf  ein 
Minimum  beschränkte,  war  die  annalistische  Einteilung  nahe 
liegend.  Der  Historiker  wählte  aber  dazu  nicht  nach  dem  Bei- 
spiele seiner  Vorgänger  das  offizielle  ßeamtenjahr,  sondern, 
wie  er  ausdrückhch  hervorhebt  (V  20),  das  natürliche^);  das 
Jahr  zerfiel  ihm  also  in  die  gute  (^^poc)  und  schlechte  Zeit 
(/st^tüv).  Hie  und  da  wird  auch  der  Herbst  oder  der  Stand 
von  Getreide  und  Wein  ^)  zur  genaueren  Zeitbestimmung  ge- 
nannt. Diese  Einteilung,  welche  nur  am  Anfang  (II  34)  ein 
wenig  verletzt  wird,  hat  Thukydides  im  ganzen  Werke  durch- 
geführt, indem  er  jedes  Jahr  durch  eine  Schlussformel,  welche 
dessen  Zahl  und  den  Namen  des  Verfassers  enthält,  von  dem 
folgenden  abgrenzt.  Die  Erwähnung  der  jährlichen  Beamten  ^) 
oder  der  olympischen  Sieger  *)  dagegen  erleichtert  sehr  selten 
die  Zeitrechnung.  Wie  wenig  diese  strenge  Regelmässigkeit, 
welche  allerdings  einem,  der  von  Herodots  Lektüre  kommt, 
einförmig   dünken   mag,    den    Tadel    unpraktischer  Rhetoren  '*) 


1)  Aug.  Mo  in  m  se  u  Mittelzeiten.  Ein  Beitrag  zur  Kunde  des  griechischen 
Klimas,  Schleswig  1870;  auch  Vöniel  quo  die  secundum  Thucydidem  bellum 
relopounesiiicum  inceperit,  Frankfurt  1846;  Heinr.  L.  Schmitt  quaestt. 
chronologicae  ad  Thucydidem  pertinentes,  Leipzig  1882;  H.  Müller- 
Strübing  Jahrbb.  f.  Phil.  121,  578  ff.  615  ff.;  U.  v.  Wilamowitz 
Index  lect.  Gotting.  aest.  1885  p.  8  ff.;  Kubicki  das  Schaltjahr  in  der 
griech.  Kechnungsurkunde  C.  I.  A.  vol.  I  u.  273,  Ratibor  1885.  Das  bürger- 
liche Jahr  verteidigt  Unger  Sitzungsber.  der  bayer.  Akad.  1875  I  28  ff. 
II  1  fi.  1878  I  88  ff. 

2)  II  19,  1.  III  15,  2,  IV  1,  1.  2,  1.  6,  1,  vom  Wein  IV,  84,  1.  Man 
sieht,  dass  im  zweiten  Teile  solche  Angaben  fehlen. 

3)  Argivische,  lakonische  und  athenische  Rechnung  U  2. 

4)  III  8  und  V  49,  weil  von  Olympia  die  Rede  ist. 

5)  Dionys.  de  Thucyd.  jud.  9;  ttvE?  bei  Doxopatris  Walz  II  220,  25. 


410  Zwölftes  'Kapitel . 

verdient,  zeigt  das  Gegenbild,  die  Verwirrung  in  den  Hellenika 
Xenophons,  welcher  von  Thiikydides'  Neuerung  abging.  Hin- 
gegen konnte  Thukydides  im  dritten  Buche  vermöge  seines 
Schemas  die  mannigfaltigen  verwickelten  Unternehmungen  ganzj 
deutlich  neben  einander  darsteilen. 

Weil    das  Streben   des  Historikers,    wie    wir    oben    sahen,' 
darauf  gerichtet  war,   nicht   sowohl   zu  unterhalten   als   zu   be- 
lehren, musste  er  einen  Mittelweg  zwischen  der  unkünstlerischen 
Weise  der    älteren  Geschichtsschreibung  und  der  romanhaften« 
Manier  Herodots  suchen.     Jene  missfiel    dem   rhetorisch  gebil- 
deten Manne,    diese  schien  die  Ereignisse  zu  entstellen  und  erj 
war  zu  wenig  poetisch  veranlagt,  um  Unterredungen,  die  kein 
dritter  gehört   hatte,    unbefangen   des  Langen   und   Breiten    zul 
erzählen.     Nur  einmal  (HI  113)  teilt  Thukydides  zur  Steigerung] 
des   Pathos    ein   Gespräch    mit,    welches    damals    offenbar   ii 
athenischen    Heere    vor    Ambrakia    umlief.      Dennoch     wollt 
er    auf   die    belebende  Wirkung    der   direkten  Rede   nicht  ver-| 
ziehten. 

Wenn  in  Athen  auch  viel  protokolliert  und  geschrieben 
wurde,  beruhte  das  öffentliche  Leben  doch  zuvörderst  auf  den 
mündlichen  Verhandlungen  des  Volkes;  Thukydides'  Begeisterung 
für  Perikles  war  nicht  vor  den  Urkunden  des  Staatsarchives 
anempfunden,  sondern  durch  die  Gewalt  seines  lebendigen 
Wortes  entzündet.  Wo  nun  ein  moderner  Geschichtsschreiber 
ein  politisches  oder  militärisches  Exposö  geben  würde,  wählte 
der  Grieche  eine  anschaulichere  Darstellungsart,  indem  er  die 
Gedanken  von  bedeutenden  Männern  in  Reden')  aussprechen 


1)  W.  Vi  seh  er  Schweiz.  Museum  HI  1  flf.  =  kleine  Schriften  I  416  ff. 
G.  Langreuter  num  orationes  Thucydideae  revera  habitae  sint ,  Celle 
1853  ;  C.  T  i  e  8 1  e  r  über  die  R.  des  Th.,  Posen  1854  ;  W.  U  h  r  i  g  de  con- 
cionibus  Thucydideis,  Darmstadt  1869 ;  H.  Steinberg  Beiträge  zur  Wür- 
digung der  thuk.  R.,  Pr.  des  Wilhelmsgymn.  in  Berlin  1870;  Cwiklinski 
a.  O.  (S.  40G  A.  1)  p,  42  flf,;  G.  Rosen  er  de  orationibus  operi  Thucydidio 
insertis,  Greiflfenberg  1874;  Michaeler  über  die  R.  im  Geschichtswerke 
des  Th.,  Bozen  1874;  O.  H  ü  p  p  e  de  orationibus  operi  Thucydidis  insertis, 
Gr.  Strehlitz  1874;  Emil  Junghahu  Jahrbb.  f.  Phil.  111,  657  flf.  117, 
691  flf. ;  Kleist  über  den  Bau  der  thuk.  R.,  Dramburg  1876;  Joh.  Leh- 
mann Thucydidem  in  orationibus  suis  vere  babitas  minus  respicere  demon- 
stratnr,  Putbus  1876  (Pr.  v.  Jena);  O.  Drefke  de  orationibus  quae  in 
priore  parte  historiae  Thucydideae  insunt  et  directis  et  iudirectis,  Halle  1877  ; 


Ol  I  ,  ^_ 


Thiikydides  und  Philistos.  417 

Hess.  Es  ist  dabei  charakteristisch  für  Thukydides,  dass  er  es 
nicht  unbefangen  that,  sondern  die  Leser  in  der  Einleitung 
über  den  Grad  der  Authenticität  aufklärte  (I  22,  1).  Demzu- 
folge knüpfte  der  Historiker  stets  an  wirklich  gehaltene  Reden 
an  und  hielt  auch  überall  die  Tendenz  fest,  während  er  das 
Einzelne  so  gestaltete,  wie  es  gerade  für  seine  Zwecke  not- 
wendig war.  Am  häufigsten  flicht  Thukydides  Reden  ein,  wo  es 
gilt,  die  leitenden  Gedanken  feindlicher  Staaten  oder  politischer 
J^arteien  gegenüberzustellen,  so  dass  dem  Leser  selbst  die  Ent- 
scheidung zufällt.  Für  solche  Redepaare  bietet  sich  eine  Ge- 
legenheit, wenn  die  Gesandten  beider  Gegner  vor  einer  noch 
unentschlossenen  Bürgerschaft  erscheinen  ^)  oder  zwei  Parteien 
in  einer  Volksversammlung  sich  die  Wage  halten,^)  wobei  die 
Gestaltung  der  Zukunft  wirklich  von  der  Ueberzeugungskraft 
der  Reden  abhängt.  Beide  Gruppen  gleichen  einander  nach 
Zahl  und  Schauplatz  merkwürdig.  An  sie  schliessen  sich  zu- 
nächst die  Redenpaare  an,  bei  welchen  die  eine  Partei  zugleich 
spricht  und  richtet:  So  ist  das  Gespräch  von  Platäern  und 
Archidamos  (11  71  f.)  und  vor  allem  die  berühmte  Unterredung 
von  Meilern  und  Athenern  (V  85  flf.)  angelegt;  hier  setzt  der 
Geschichtsschreiber  der  Herrschaft  der  Gewalt  gewissermassen 
die  moralische  Ueberlegenheit  gegenüber.  Die  übrigen  Reden 
zerfallen  in  politische  und  militärische.  Jene  sind  in  ganz  be- 
stimmte Grenzen  eingeschränkt.  In  Athen  nämlich  achtet 
Thukydides  den  einzigen  Perikles  so  hoch,  dass  er  dessen 
Gegner  nach  ihm  gar  nicht  zu  Worte  kommen  lässt.    Perikles 


Joh.  S  ö  r  g  e  1  .Tahrbb.  f.  Phil.  117,  331  fif. ;  L.  A  u  f  f  e  n  b  e  r  g  de  orationibus 
operi  Thucydideo  insertarum  origine  vi  bistorica  compositione,  Crefeld  1879 ; 
Cl.  Cammerer  quaestt.  Thucydideae,  Burghausen  1881;  Herbst  Philol. 
38,  563  fif.;  Swoboda  thukydideische  Studien  S.  27  ff. ;  K.  Jebb  die  R. 
des  Th.,  übers,  v.  Imelmann,  Berlin  1883;  Zeitschel  de  Thucydidis  in- 
ventione  cum  usu  oratorum  congruente,  Nordhausen  1884. 

1)  In  Athen  Kerkyräer  und  Korinther  I  32  ff. ;  vor  den  Spartanern 
Korinther  und  Athener  I  68  ff.,  Platäer  und  Thebaner  III  53  ff.;  in  Kama- 
rina  Syrakusaner  und  Athener  VI  76  ff.  (nur  hier  werden  bestimmte  Sprecher 
genannt). 

2)  In  Athen  Kleon  und  Diodotos  HI  37  ff.,  Nikias  und  Alkibiades  VI  9 
(Nikias  hat  eine  Duplik);  in  Sparta  Archidamos  und  ^Sthenelaidas  I  80  ff. ; 
in  Syrakus   Hermokrates  und  Athenagores  VI  33  ff'. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  2" 


418  Zwölftes  Kapitel. 

ist  es,  der  seine  Mitbürger  zum  Kriege  fortreisst  (1 140  ff.),  der 
Athens  Ruhm  in    der    berühmten  Leichenrede    mit    den    herr- 
lichsten Worten  verkündet  (II  35  ff.)>  ^©r  endHch  kurz  vor  dem 
Tode  Rechenschaft  über   seine  Politik    ablegt  (II  60  ff.)-     Den 
Feinden  dagegen  gesteht  Thukydides  mehrere  Redner  zu,  aber 
keiner  derselben  nahm  in  seiner  Heimat  eine  ebenso  gebietende 
Stellung  ein;    daher  verfolgen   alle  den  Zweck,    andere  Staaten 
gegen  Athen  aufzurufen^).     Die  vor  den  Schlachten  gehaltenen 
Reden  sollen  die  militärischen  Chancen   erläutern   und  auf  dU 
Bedeutung  des  Kampfes   einen  Ausblick  eröffnen.     Auch   hie 
gebraucht    Thukydides    dreimal   Redenpaare,    von    denen   abe^ 
nur  die  Reden,    womit  Nikias   und  Gylippos    vor  Syrakus   di^ 
Entscheidungsschlacht  einleiten ,  gemäss  der  ausserordentliche! 
Wichtigkeit  des  Treffens  einen  ansehnlicheren  Umfang  haben. 
Sonst    sind    die    Reden    der    Feldherrn    überhaupt    kurz ,    waj 
Thukydides    von    den    bramarbasierenden  Geschichtsschreiberi 
der  nachklassischen  Zeit  vorteilhaft  unterscheidet  ^),  Das  längst 
militärische    Aktenstück    ist    der    berühmte    Brief    des    Niki« 
(VII  lOff.),  welchen  Thukydides,  wie  Sprache  und  Inhalt  gleicl 
deutlich  zeigen,  nicht  im  Staatsarchive  kopierte,  sondern  selbsj 
entwarf,  indem  er  die  Angaben  von  Bürgern,  welche  das  Originf 
vorlesen  hörten,  benützte.   Dies  bewog  den  Historiker  auch,  das 
er  den  Brief  nicht,  wo  er  die  Absendung  erzählte,  sondern  be| 
der  durch   denselben   veranlassten  Volksversammlung  einfügte 
Damit   wurde    die   Anschaulichkeit   der    Erzählung    gefördert] 
ähnlich  zählte  Thukydides  die  Hilfsmittel  Athens   nicht  selbs 
auf,  weil  es  weniger  trocken  klang,  wenn  Perikles  sie  dem  Volk^ 
vorrechnete. 

Die  Form  der  Reden  und  die  oingeflochtenen  Sentenzen  *| 
gehören  natürlich  Thukydides  ganz  und  gar  an;  indes  gab  ei 
hervorstechende  Eigentümlichkeiten   der  Sprecher  wieder,  z.  B* 


1)  Korinther  I    120  flf.  uad    Lesbier  III    9  ff.    vor    den    Peloponnesier 
Brasidas   in  Akanthos  IV  85  ff.,    Herraokrates    vor    den    Siciliem   IV   69 
Alkibiacles  in  Sparta  VI  89  ff. 

2)  II  87  u.  89;  IV  92  u.  95;  VU  61  ff.  u.  66  ff. 

3)  Archidamos  11    11    u.   Teutipalos    HI  80    sprechen    nicht    vor   eine 
Schlacht;  Demosthenes  IV  10,  Nikia.s  VI  68,  Gylippos  VII  77. 

4)  Vgl.  z.  B.  U.  V.  Wilaniowitz  Hermes  11,  294  f. 


Thukydides  und  Philistos.  419 

gebraucht  Alkibiades  die  meisten  Metaphern  ^).  Die  Einfügung 
der  Reden  war  in  der  Blütezeit  der  athenischen  Demokratie 
ganz  ungesucht  und  in  der  Hand  eines  Thukydides  vor  Miss. 
brauch  gesichert;  seine  Neuerung  ward  jedoch  der  Geschichts- 
schreibung verderblich,  seitdem  Isokrates'  Schüler  nur  um  des 
Deklamierens  willen  Reden  fingierten.  Wie  die  besonnene  An- 
wendung dieses  gefährlichen  Mittels  Thukydides  zur  Ehre  ge- 
reicht, so  gibt  es  einen  Massstab  für  den  historischen  Sinn  der 
einzelnen  späteren  Geschichtsschreiber  ab. 

Thukydides  zeigt  in  diesem  Punkte  eine  wahre  Scheu  vor 
allem  CJeberflüssigen  wie  auch  sonst  in  der  Erzählung,  was  ihm 
Diouysios  lächerlicher  Weise  zum  Vorwurfe  macht.  Er  erzählt 
nicht  alles  mit  gleicher  Ausführlichkeit,  sondern  je  nachdem 
es  in  politischer  oder  militärischer  Hinsicht  Beachtung  verdient, 
z.  B.  werden  die  Vorgänge  von  Sphakteria  mit  grosser  Aus- 
führlichkeit geschildert ,  weil  die  Spartaner  hier  durch  eine 
merkwürdige  Verkettung  widriger  Umstände  den  schwersten 
Schlag,  der  sie  im  ersten  Kriege  traf,  erlitten  und  dadurch  zum 
Frieden  geneigter  wurden.  Was  hingegen  von  keinem  Belange 
ist  und  von  jedem  verständigen  Leser  ergänzt  wird,  lässt 
Thukydides  ganz  weg  oder  deutet  es  flüchtig  an ;  des  jährlicli 
Wiederkehrenden  (z.  B.  der  öffentlichen  Leichenrede)  gedenkt 
er  nur  einmal  bei  einer  passenden  Gelegenheit.  Ueberall 
strebt  er  nach  Anschauhchkeit  der  Darstellung;  der  Leser 
seines  Werkes  wird  nach  einem  Urteile  des  Plutarch^)  zum  Zu- 
schauer. 

Weniger  glücklich  war  Thukydides  in  der  Bildung  seines 
Stiles 3).     Der  belehrende  Charakter  des  Werkes  hielt  ihn  ab, 

J 

m,  l)  Dies   bemerken    die  Scholien    zu    6,  18.     Die  Kürze   der  Dorier  und 

H  die  Umständlichkeit  des  Nikias  werden  vielleicht  angedeutet,  wenn  Arehi- 
I  damos  das  Heer  kurzweg  mit  avSpsc'  IlsXoiiovvfiotot  xal  46fA}iaxoi  (II  11),  Gy- 
^  lippos  mit  tu  Süpaxootot  xal  46|J.|JLaxot  (VII  66)  anredet,  während  Nikias 
spricht  (VII  61):  avSpec;  oxpaxt&tai  'A^^vivatcuv  te  xal  twv  aXXtov  oDfXjxaxwv. 
Maxim.  Planud.  Walz  V  527,  13  steUt  die  Reden  hinsichtlich  der  Charak- 
teristik mit  Menanders  Dramen  zusammen. 

2)  Plutarch.  glor.  Athen.  3. 

3)  Eine  einseitige  Charakteristik  gibt  des  Rhetors  Dionysios  zweiter 
Brief  an  Ammaeus  nspl  xÄv  600x081800  ISiwpiatwv ,  welcher  die  Hauptschrift 
•Ksfi  toü  öoüXüSiSoo  x^apaxTYjpoc  begründen  soll. 

27* 


42Ö  Zwölftes  Kapitel. 

den  lässigen  Plaudertou  Herodots  beizubehalten,  dagegen  fand 
der  Historiker  an  der  Sprache  der  Sophisten  solchen  Gefallen, 
dass  er  sich  dieselbe  zum  Muster  nahm  ^) ;  vielleicht  ist  es 
richtiger,  wenn  ich  sage,  dass  er  mit  ihren  Figuren  seinen  Stil 
reich  verbrämte,  denn  nächst  Tacitus  ist  Thukydides  der  subjek- 
tivste Stilist  des  Altertums.  Der  Wortschatz'-^)  stand  wohl  dem 
gorgianischen  am  nächsten,  Thukydides  liebte  ja  gleichfalls 
veraltete  und  seltene  Wörter,  eben  so  sehr  aber  poetische 
Ausdrücke  und  Bilder,  welche  meist  der  Tragödie  entstammten^! 
doch  war  Thukydides  selbständig  genug,  um  teils  selbst  neudHI 
zu  schaffen,  teils  das  entlehnte  eigenartig  umzugestalten. ') 
Starke  und  schroffe  Ausdrücke  waren  ihm  jederzeit  lieber  als 
die  üblichen  durch  den  Gebrauch  gleichsam  abgenützten.  *) 
Begierig  ergriff  ferner  Thukydides  die  Neuerung  der  Sophisten, 
dass  abstrakte  Substantiva,  wenn  sie  einen  Genitiv  mit  sie 
führten,  durch  das  Neutrum  des  entsprechenden  Eigenschaft 
Wortes  ersetzt  wurden  und  wagte  sogar  das  Neutrum  ein^ 
aktiven  Participiums  zu  substantivieren  ^).  Der  Kraft  des  Ai 
drucks  wegen  war  er  Pleonasmen  nicht  abgeneigt*^);  andere 
seits  hatte  Prodikos  auch  ihn  die  scharfe  Definition  ui 
Sonderung  ähnlicher  Wörter  gelehrt'^). 

Durch  diese  und  andere  Künste  der  Sophistik  hätte  Thuk^ 
dides  das  Verständnis  nicht  erschwert,    würde   er   zugleich 
übersichtliche  Gleichmässigkeit  der  Rhetorik  angenommen  habei 
Aber  wiewohl  er  Antithesen  liebte  ^),  die  Satzglieder  gelegentlicl 


1)  Joh.  Becker  de  sophisticarum  artium  vestigiis  apud  Th.,  Berlin  186 
F.  Stein  de  figurarum  apud  Thucydidem  usu,  Cölu  1884. 

2)  L.  A.  C  y  r  a  n  k  a  de  orationum  Thucydidearum  elocutione  ci 
tragicis  comparat.i,  Breslau  1875;  Phü.  Both  de  Antiphontis  et  Thucydic 
geuere  dicendi,  Marburg  1875  p.  19  ff.  25  f. 

3)  Demetr.  ic.  ^pfi.*rjv.  113  führt  iteptppuxoc  als  Beispiel  an. 

4)  Derselbe  Rhetor    verweist    c.  49    auf   xexpaYo»?  =  ßoJiv  und  ^tj^v 

{LCVOy    =    (p3p6}l.EVOV. 

6)  Both  a.  O.  p.  36  ff.;  Wenzel  Kl  o  ucek  1.  Ueber  den  sogen.  No« 
nativus  absolutus  bei  Thukydides.  2.  Die  Substantivirung  des  Neutr.  sLug 
im  Sinne  eines  abstrakten  Substantivs  bei  Thuk.,  Leitmeritz  1859/60; 
Nietzki  de  Thncydideae  elocutiouis  proprietate  quadam ,  Königsberg  18^ 
p.  16  f.  26  f. 

6)  Both  a.  O.  p.  28  f.,  81  f. 

7)  S  p  e  u  g  e  1  auva^tof  "»j  xe^^vcüv  p.  64  fl.;  B  e  c  k  e  r  a.  O.  p.  46  ff. 

8)  Becker  a.  O.  p.  27  f. ;  Both  p.  29, 


Thukydides  und  Philistos.  421 

genau  übereinstimmen  Hess')  oder  durch  gorgianisclien  Gleich- 
klang zusammenschloss '^),  erhielt  das  Ungleichmässige  bei  ihm 
in  der  Regel  den  Vorzug.  Kein  Schriftsteller  hat  so  oft  wie 
er  verschiedenartiges,  z.  B.  Substantive  und  ganze  Sätze  oder 
Partizipien  zu  einer  äusseren  Einheit  zusammeugezwungen.  ^) 
Die  Worte  stehen  häufig  so  verschränkt,  dass  die  Leichtigkeit 
des  Verständnisses  darunter  leidet.  ^)  Jenes  ist  um  so  schlimmer 
als  Thukydides  seine  Gedanken  mit  möglichst  wenigen  Worten 
darlegen  und  allzu  viel  in  einen  Satz  zusammendrängen  will. 
So  sind  die  für  Thukydides  charakteristischen  Sätze  entstanden, 
welche  mit  schroff  und  unvermittelt  an  und  aufeinander  ge- 
häuften Participien  belastet  sind.*)  Im  gegenseitigen  Verhältnis 
der  Sätze  kommen  Anakoluthe  nicht  selten  vor.  ^) 

Bringen  wir  ausserdem  noch  in  Anschlag,  dass  die  Wörter 
nicht  getrennt  geschrieben  und  die  Sätze  oft  schlecht  inter- 
pungiert  waren,  so  wird  jeder  Cicero  gerne  glauben,  dass  er 
die  Reden  des  Thukydides  schwer  verstand.^)  In  den  Reden 
traten  freilich  die  Fehler  des  Stiles  am  stärksten  hervor,  während 
in  der  einfachen  Erzählung  seine  Vorzüge  zur  Geltung  kamen. 
Knappheit,  Kraft  und  hohe  Würde  sind  die  hauptsächlichen 
Grundzüge  des  thukydideischen  Stiles,  die  naturgemäss  bei  der 
Schilderung  von  Katastrophen  besonders  wirkungsvoll  sind,  so 
dass  es  keine  Übertreibung  ist,  was  Macaulay  über  den  Rück- 
zug der  Athener  von  Syrakus  sagte,  er  sei  das  nonplusultra 
menschlicher  Kunst. 

Dadurch  dass  Thukydides  den  Lesern  zuviel  geistige  An- 
strengung zumutete  —  mau  möchte  Goethes  Vers  ,,Ich  schreibe 


1)  Demetr.  n.  epfjL-rjv.  25. 

2)  Becker  a.  O.  p.  30.  32  f.;  Quintilian.  9,  4,  18. 

3)  Edm.  Paanicke  de  austera  Thucydidis  compositione,  Berlin  1867; 
vgl.  Dionys.  comp.  verb.  10.  Cic.  orator  13,  40.  Demetr.  ^pfi^iv.  48. 

4)  J.  J.  Braun  de  collocatione  verborum  apud  Thucydidem,  Braunsberg 
1861;  Franz  Darpe  de  verborum  apud  Th.  collocatione,  Warendorf  1866 
(Diss.  V.  Münster).  Theon  TcpoYOfiv.  p.  82,  19  f.  Sp.  tadelt  den  übermässigen 
Gebrauch  des  Hyperbaton. 

5)  Am.  Wilde  de  coacervatis  participiis  apud  Thucydidem,  Görlitz 
1862  (Diss.  V.  Breslau);  im  Allgemeinen  :  Aug.  Theoph.  Lange  de  periodorum 
Thucydidiarum  structura.  Fr.  des  Friedrichgymn.  Breslau  1863,  additamenta  1865. 

6)  P.  Kampfner  de  anacoluthis  apud  Thucydidem,  Münster  1868. 

7)  Cic.  orator  9,  30. 


422  Zwölftes  Kapitel. 

nicht  euch  zu  gefallen,  ihr  sollt'  was  lernen"  seine  Devise 
nennen  —  schränkte  er  selbst  die  Verbreitung  seines  Lebens- 
werkes ein.  Lange  Zeit  drang  es  über  die  Kreise  der  Fach- 
gelehrten und  höher  Gebildeten  nicht  hinaus.  Dass  die 
Historiker  das  Buch  hochschätzten,  bezeugen  die  Fortsetzungen, 
welche  Xenophon,  Theopompos  und  Kratippos  verfassten.  Der 
letztgenannte,  der  wahrscheinlich  geraume  Zeit  vor  Dionysios 
lebte,  ^)  sprach  in  der  Einleitung  über  Thukydides ,  wobei  er 
die  Behauptung  aufstellte,  der  Geschichtsschreiber  habe  im 
achten  Buche  absichtlich  die  Reden  weggelassen ,  weil  er  ihre 
Unzuträglichkeit  erkannte.  Trotzdem  aber  dass  Thukydides 
den  Jüngeren  imponierte ,  fand  er  eigentlich  keinen  Nachfolger, 
wenn  man  von  Agatharchides  ^)  und  einigen  um  Originalität^ 
bemühten  Historikern  ^)  absieht ;  von  Philistos  soll  nachher  di( 
Rede  sein.  Noch  weniger  Bedeutung  hatte  Thukydides  für  die 
Beredsamkeit,  ^)  immerhin  hielt  es  Dionysios  von  Halikarnasso? 
für  nötig,  gegen  einige  Rhetoren ,  welche  in  Thukydides  das 
Musterbild  der  politischen  Beredsamkeit  erblickten,^)  eine  ein^ 
gehende  Polemik  zu  eröffnen.  ^)  Mehr  Freunde  fand  die  herbe 
Art  des  Thukydides  in  Rom,  wo  sie  auf  die  klassische  G( 
Schichtsschreibung  einen  erheblichen  Einfluss  ausübte,  indei 
Sisenna  die  Disposition,  Sallust')  die  rhetorische  Erörterung  dei 


1)  Dionys.  Halic.  jud.  de  Thuc.  16,  der  alle  Historiker  älter  macht,  b« 
haaptet,  er  sei  ein  Zeitgenosse  des  Thukydides;  aber  er  citiert«  Zopyro 
(Marcellin.  vit.  Thuc.  33).     Fragmente  in  C.  Müllers   fragm.  histor.  II  75 

2)  Phot.  biblioth.  cod.  213  p.  171b  10. 

3)  Dionys.  jud.  de  Thucyd.  62. 

4)  Dass  Demosthenes  Thukydides  studierte  (S.  170  A.  1),  sprächet 
Dionysios  und  Caecilius  noch  als  Vermutung  aus  (de  Piaton.  8  am  Endel 
begründet  de  Thuc.  jud.  63  fi.).  Isokrates  soll  im  Panegyrikos  den  Epw 
taphios  benüt/.t  haben  (Phot.  bibl.  260  p.  487  b  35). 

6)  Dionys.  jud.  de  Thucyd.  62,  vgl.  60.  Zu  ihnen  gehörte  Lesbons 
(Blass  griech.  Beredsamkeit  von  Alexander  S.  166  f.). 

6)  C.  E.  Hesse  Dionysii   Halic.    de    Thucydide   judicia    examinantnr^ 
Leisnig  1877;    J.  Wichmann    D.    H.   de    Th.  j.,    Halle    1878.     Trotz    de 
scharfen    Kritik,    welcher    Dionysios    den    Historiker    in    zwei   Monographien 
(billiger    de  Plat,  3)    unterzieht,    hat    er   ihn  gelegentlich  nachgebildet  (z. 
Sadöe  Dissert.  Argentor.  H  294). 

7)  Poppos  Ausgabe  VI  372  ff.;  Dolega  de  Sallustio  imitatore  Thucy^ 
didis  Demosthenis    aliorumque    scriptorura    Graecorum,    Breslau   1871;    Joh^ 
Bobolski  SaUastius  in  couformanda  oratioue  quo  jure  Thucydidis  exemplui 


Thukydides  und  Philistos.  423 

politischen  und  militärischen  Fragen  von  dem  Athener  überkamen. 
Auch  einige  Redner,  unter  ihnen  Asinius  Polho,  wählten  sich 
den  thukydideischen  Stil  zur  Nachahmung,  wogegen  Cicero 
Widerspruch  erhob.  ^)  Die  Gegnerschaft  der  angesehensten 
Rhetoren,  zu  denen  sich  das  abfällige  Urteil  des  Grammatikers 
Didymos  gesellte,  2)  vermochte  Thukydides'  Buch  nicht  in  den 
Hintergrund  zu  drängen,  im  Gegenteil  gehörte  es  seit  Hadrians 
Zeit  zu  den  im  rhetorischen  Unterrichte  gebrauchten  Schul- 
büchern. FreiHch  mag  der  Grund  davon  nicht  allein  in 
dessen  Gedankentiefe  zu  suchen  sein,  sondern,  als  für  den 
Stil  jeder  Literaturgattung  ein  Musterschriftsteller  aufgestellt 
wurde,  konnte  man  weder  Herodot,  weil  er  jonisch  schrieb, 
noch  Xenophon,  weil  er  nicht  eigenthch  ein  Historiker  war, 
zum  Kanon  des  historischen  Atticismus  bestimmen.  Es  blieb 
also  nur  Thukydides.^)  Aus  dem  gleichen  Grunde  vertrat  er 
in  der  klassischen  Dreizahl  der  Byzantiner  (Demosthenes,  Plato, 
Thukydides)  die  Geschichtsschreibung;  mit  ihrer  Begeisterung 
für  Thukydides,  welchen  sie  den  Historiker  xat'  I^o/tjv  nannten,*) 

secutus  e.sse  existimetur ,  Halle  1881.  Ueber  Tacitus  Abhandlung  von  Roth 
in  Poppo's  prolegomena  I. 

1)  Orator  9,  30  flf. ;  Lucretius  bildet  5,  222  fi.  die  thukydideische  Schil- 
derung der  Pest  nach. 

2)  Er  schrieb  Tispl  tcüv  Yj[j.apT7)[JLev(uv  Tiapä  ty]v  avciXo-fiav  0ooxt)8i§-g  (vgl. 
Dionys.  de  Thuc.  jud.  53  x6  ooXo'.xo^aviq). 

3)  Vgl.  Lucian.  Lexiphan.  22.  Von  den  Historikern,  welche  Thukydides 
nachahmten  (Lucian  quom.  hist.  conscr.  sit  15.  19  (27).  26  (34)),  nenne  ich 
Arrianos  (E.  Meyer  de  Arriano  Thucydidio,  Rostock  1877,  Nachträge  bei 
Grundmanu  quid  in  elocutione  Arriani  Herodoto  debeatur,  Berlin  1884 
p.  12  ff.),  Plutarchos  (über  die  Benützung  S  i  e  m  o  n  quomodo  Plutarchus 
Thucydidem  legerit,  Berlin  1881),  Cassius  Dien  (besonders  in  den  Reden 
Phot.  bibl.  cod.  71,  vgl.  Roger  "Wilmans  de  Dionis  Cassii  fontibus,  Berlin 
1835  p.  32  ff.  Jacoby  Jahrbb.  f.  Phil.  127,  841  ff.),  Dexippos  (Phot.  bibl. 
cod.  82  p.  64a  19),  Prokopios  (Meineke  Hermes  3,  362  ff.),  Agathias 
(Niebuhrs  Ausgabe  S.  418)  und  Johannes  von  Epiphania  (Hase  zu  Leo  Diac. 
p.  169  sq.  ed.  Paris.),  denen  Pausanias  (U.  v.  Wilamowitz  Hermes  12, 
347  A.  31)  und  Lukianos  als  Verfasser  der  wahren  Geschichten  (Ad.  Bauer 
Lucianea,  Görz  1884  3.  Kap.)  angereiht  werden  können.  Ausserdem  sind 
Chariton  (C  o  b  e  t  Mnemos.  8,  229  ff.  nov.  lectt.  p.  372  f.),  die  angeblichen 
Phalaris  und  Herakleitos  (Diels  Hermes  13,  6  f.)  n.  A.  zu  erwähnen;  vgl. 
Themist.  orat.  4,  71.  23,  350.  Thukydides  xavcuv  der  attischen  Mundart 
Phot.  bibL  60  p.  19  b  18. 

4)  Z.  B.  Aphthon.  12  p.  46,  21  Sp.  mit  den  alten  Kommentaren, 
Michael  Psellos  Sathas  }jieaatu>v.  ßtßX.  IV  136. 


424  Zwölftes  Kapitel. 

hielt  gewiss  die  Mangelhaftigkeit  des  Verständnisses  gleichen 
Schritt.  Von  jeher  hatte  man  ja  zur  Lektüre  grammatische  Er- 
läuterungen bedurft.  ^)  In  der  Kaiserzeit  schrieben  mehrere 
Rhetoren  zum  Nutzen  ihrer  Schüler  erklärende  Abhandlungen ;  ''*) 
die  Reden  scheinen  zum  Schulgebrauche  excerpiert  worden 
zu  sein.  ^) 

Die  Byzantiner  gaben  fast  allen  Handschriften  Schollen 
bei,  welche  sehr  wortreich  sind,  aber  nicht  viele  gelehrte  Be- 
merkungen enthalten.*)  Eine  bessere  Ausgabe  als  die  Poppos 
ist  sehr  notwendig;  A.Schöne  gab  die  Schollen  zum  ersten  und 
zweiten  Buche  (Berlin  1874)  kritisch  heraus.  Neues  bot  eine 
Handschrift  von  Patmos.  ^) 

Ein  so  eigenartiger  und  schwer  verständlicher  Schriftsteller 
wie  Thukydides  bereitete  den  gewöhnlichen  Abschreibern  selbst- 
verständlich grosse  Schwierigkeiten  und  so  kam  es,  dass  die 
alten  Grammatiker  bereits  über  die  Verderbnis  des  TextejB 
klagten.^)  Wie  unser  Text  von  Fehlern  wimmelt,  thun  die 
inschrifthchen  Zeugnisse  dar,'')  namentlich  die  Reste  der  Urkunilen, 
welche  Thukydides   in  sein  Werk  aufnahm.  *)     Auch    ein  paar 


1)  Dionys.  de  Thuc.  judic.  51.  56. 

2)  Aus  Suidas  kennen  wir  folgende  Schriften :  6no|i.VY]}jLaTa  von  Tiberi 
Sabinoa  (unter  Hadrian)  und  Heron,  uito^eoetc  von  Alexandros  Numeniu ; 
uepl  ayrni.a.'zuiv  v.  Klaudios  Didymos  und  des  Porphyrios  eic  tö  0oüxü8i8oi) 
7tpooi}j.tov;  Khetoren  waren  auch  Antyllos  (E.  Schwabe  de  schol.  Thucyd. 
fontt.  p.  71  ff.)  und  Phoibammon  (Schol.  1,  53;  eine  rhetorische  Schrift  in 
Walz  rhet.  Graec.  Vm  487  ff.). 

8)  (Dionys.)  rhetor.  8,  9  ev  t(}>  tni'fpafo\i.ivu>  STrixatpiuj. 

4)  Emil  Doberentzde  scholiis  in  Thucydidem,  Halle  1876,  Dissertatt. 
philol.  Halenses  U  221  ff.  (vgl.  Egenolff  in  Bursians  Jahresber.  13,  136  ff.) 
u.  de  scholiis  in  Thucydidem  qnaestiones  novae,  Magdeburg  1881;  über  die 
Benützung  der  attischen  Glossarien  F.  Goslings  observatt.  ad  scholia  in 
Thucydidem,  Leiden  1874  und  Ernst  Schwabe  quaestiones  de  scholiorum 
Thucydideorum  fontibus,  Leipzig  1881,  Leipziger  Studien  IV  67  ff.  (p.  146  ff. 
handelt  er  über  die  Thukydidesglossen  des  Suidas). 

6)  Sakkelion  und  Duchesne  Revue  de  philol.  n.  s.  I  (1877). 
p.  182  ff. 

6)  Porphyr,  quaest.  Homer,  p.  286  f.  Sehr. 

7)  S.  93  A.  9. 

8)  Kirchhoff  Hermes  12,  368  ff.  (vgl.  auch  .\.  Schöne  12,  472  ff. 
Niese  14,  429)  u.  Sitzungsber.  der  Berliner  Akad.  1882  S.  909  ff.  1883 
S.  829  ff. 


1 


Thnkydides  und  Philistos.  425 

Papyrusstücke  von  Fajüm,  welche  zum  achten  Buche  gehören 
und  zugleich  Schollen  enthalten,  bieten  verhältnismässig  viele 
Varianten,  ^)  wie  auch  die  Citate  bei  Dionysios  von  Halikarnass  ^) 
und  dem  Geographen  StephanosJ)  Von  vornherein  darf  man 
voraussetzen,  dass  der  knappe  Stil  des  Schriftstellers  durch  zahl- 
reiche kleine  Einschiebsel  verständlicher  gemacht  und  verwässert 
worden  ist.  Ein  merkwürdiges  Beispiel  einer  grösseren  Inter- 
polation ist  die  bereits  in  den  Schollen  verworfene  Moral  III  84, 
welche  ein  Rhetor  in  schwulstigen  Phrasen  über  die  Greuel 
von  Kerkyra  zum  Besten  gab.  *)  Die  Schäden  der  Überlieferung 
würden  jetzt  offener  vor  uns  Hegen,  wenn  nicht  gelehrte  Gram- 
matiker den  Text  durchgesehen  hätten.  Eine  solche  Recension 
liegt,  wie  es  scheint,  in  der  vatikanischen  Handschrift  vor;-'') 
sie  unterscheidet  sich  besonders  dadurch  von  den  übrigen,  dass 
der  Text  von  6,  94  bis  zum  Schlüsse  wortreicher,  also  interpoliert 
ist.  Die  Bewunderung  für  Thukydides  hat  bisher  noch  immer 
nicht  eine  planmässige  Sammlung  des  kritischen  Materials 
hervorgerufen.  ^) 

Die  unseren  Ausgaben  gemeinsame  Einteilung,  wonach 
das   Werk   des   Thukydides   in   acht  Bücher    zerfällt,    kannten 


1)  Wessely  Wiener  Studien  VII  (1885)  S.  116  ff.  mit  Facsimile. 

2)  Leon  Sadee  Dissertationes  Argentorat.  II  (1879)  p.  207  ff. 

3)  Niese  Hermes  14,  423  ff. 

4)  Müller  -  Strübing ,  Classen  und  Steup  Rhein.  Mus.  24,  350  ff.  ver- 
werfen III  17,  wogegen  sich  Herbst  Philol.  42,  681  ff.  mit  Recht  aus- 
spricht. Müller-Strübing  meint,  dass  ein  Gegner  der  athenischen  Demokratie 
allerlei  ihr  abträgliche  Einschiebsel  in  den  Text  gebracht  habe  (thukydideische 
Forschungen,  Wien  1881).  Einen  Ueberarbeiter  des  thukydideischen  Nach- 
lasses nimmt  U.  v.  Wilamowitz  Index  lect.  aest.  1885  p.  17  f.  an,  vgl. 
Junghahn  Jahrbb.  f.  Philol.  111,  657  ff.  119,  353  ff.  .T.  Helm  b  cid, 
über  die  successive  Entstehung  des  thucydideischen  Geschichtswerkes  II; 
Widerlegung  der  Annahme  einer  Redaktion  von  fremder  Hand,  Mühl- 
hausen i.  E.  1882. 

5)  Jerzykowski  octavo  historiae  Thucydideae  libro  extremam  manum 
non  accessisse  demonstratur.  Breslau  1842  p.  36  ff.;  Job.  Eggert  de  Vati- 
cani  codicis  Thucydidei  auctoritatet  Berlin  1882;  U.  v.  Wilamowitz  index 
lect.  Gotting.  aest.  1885  p.  1  ff.  Für  a"«  wird  konsequent  xx  geschrieben. 

6)  Ueber  eine  alte  Handschrift  des  brittischen  Museums  aus  dem 
10.  oder  11.  Jahrhundert  Müller-Strübing  Aristophanes  und  die 
historische  Kritik  S.  281,  A.  u.  ö.;  über  eine  ialienische  Rud.  Prinz  Jahrbb. 
f.  Phil.  99,  759  f. 


426  Zwölftes  Kapitel. 

schon  Dionysios  und  Diodor  *),  daneben  erwähnt  letzterer  aber 
auch,  dass  man  es,  entsprechend  Herodots  ,, Musen"  in  neun 
Bücher  einteilte^) ;  einem  Scholiasten  lagen  sogar  dreizehn  Bücher 
vor.  ^)  Die  jetzige  Einteilung  ist  mit  Einsicht  gemacht:  Das 
erste  Buch  umfasst  die  Einleitung,  die  nächsten  drei  je  drei 
Kriegsjahre;  die  sicilische  Expedition  sondert  sich  ohnehin  ab 
und  hat  die  Ankunft  des  Gylippos  als  Peripetie;  der  Rest  füllt 
das  fünfte  und  achte  Buch.  Der  Titel  io-^^^pafpri  ist  den  Anfangs- 
worten entnommen ;  die  Citate  variieren  bedeutend  ^). 

Den  Humanisten  war  Thukydides  zu  schwer  und  unele- 
gaut;  Lorenzo  Valla  machte  wenigstens  den  Inhalt  durch  eil 
flüchtige  lateinische  Uebersetzung  bekannt^).  Nur  der  Kaise 
Karl  V.  ahnte  die  Bedeutung  des  Historikers,  dessen  Geschieh 
sein  Lieblingsbuch  war.  In  dem  Zeitalter  der  grossen  Bucl 
drucker  ging  Thukydides,  von  den  alten  Schollen  geleite^ 
aus  den  berühmtesten  Offizinen  hervor:  Aldus  Manutius  gfc 
ihn  schon  1502  heraus  ^) ;  dann  folgten  Junta  (Florenz  1506 
1526),  Herwagen  (Basel  1540,  von  Camerarius  besorgt)  und 
Stephanus  (1564.  1588).  Die  einzige  selbständige  Leistung 
welche  nachher  vor  unserem  Jahrhunderte  erschien,  war  di 
Ausgabe  von  J.  Hudson  (Oxford  1696),  einem  Landsmann  d( 
Philosophen  Hume,  welcher  den  Ausspruch  that :  ,,Das  ersi 
Blatt  des  Thukydides  ist  zugleich  das  erste  der  wahren  G^ 
schichte  und  Geschichtsschreibung".     In  unserem  Lande  weckt 


1)  13,  42.  22,  37.  Marcellin.  am  Ende;  ebenso  Schol.  Platon.  p.  144  bifl| 
Die  wiederholte  Nennung  des  Verfassers  spricht  gegen  die  Annahme  von  Bii 
(das  antike  Buchwesen  S.  444),    dass   das  Werk    in    einer  einzigen  Rolle  zu 
Ausgabe  gelangt  sei, 

2)  Ebenso  Marcellin.  a.  O. ;  daher  ev  t^  yj  (=  C)  Phrynich.  ecl.  246. 

3)  Schol.  2,  79.  4    am   Anfang    u,  76;    vgl.   Osann    Philol.    9,  646 
U.  V.  Wilamowitz  a.  O.  p.  6  f. 

4)  Z.  B.  'loToptai  Porphyr,  bei  Clem.  ström.  6,  740  =  620;  HsXotiov 
vY|ot(a)xa  Schol.  Clem.  Alex,  paedag.  p.  233.  Joseph.  Rhacend.  Walz  in  bb\ 
24 ;  Pausanias  6,  19,  6  sagt  herodoti.sch  Xö-foi. 

6)  Schon  im  fünfzehnten  Jahrhundert  s.  1.  et  a.  gedruckt.  Euge 
Jul.  Golisch  de  Thucydidis  interpretatione  a  Laur.  Valla  Latine  facti 
Olsnae  1842.  Ueber  eine  dunkle  Nachricht  von  einer  älteren  Uebersetzung 
Voigt  Wiederbelebung  des  klassischen  Alterthums  11'  257. 

6)  Die    Schollen     kamen    im    nächsten    Jahre     hinter    Xenophons    He 
lenica  heraus. 


Thukydides  und  Philistos.  427 

erst  Niebuhr^)  ein  warmes  Interesse  für  den  Historiker.  Imni. 
Bekker  begründete  die  Texteskritik  durcb  die  Ausgabe  von 
18212).  £)iß  reichhaltigste  Sammlung  kritischen  und  exege- 
tischen Stoffes  bietet  noch  immer  die  grössere  Ausgabe  von 
Ernst  Poppo  (Leipzig  1821—40,  4  Abteilungen  mit  11  Bänden, 
kleinere  Ausgabe  Gotha-Leipzig  1843—56,  4  Bde.,  erneuert  von 
Stahl  1866—83);  das  historische  wurde  mehr  betont  von  Rob. 
Ad.  Morstadt  (Frankfurt  1832—35)  und  dem  Engländer  T. 
Arnold  (London  und  Oxford  M847fF.  mit  Exkursen,  ausführ- 
lichem Register  und  Karten^),  während  die  sprachliche  Erklärung 
bei  K.  W.  Krüger  (2.  u.  3.  A.  Berlin  1860,  4  Hefte)  und  J. 
Classen  (2.  A.  BerHn  1871  ff.,  acht  Hefte)  vorwiegt*).  Der  Text 
ist  recensiert  von  Job.  Stahl  (Leipzig  1873 — 74,  2  Bde.)  und 
van  Herwerden  (Utrecht  1877 — 82,  5  Bde.)^).  In  neuerer  Zeit 
sind  die  historischen  Fragen,  besonders  die  Belagerung  von 
Syrakus,  in  Monographien  erörtert  worden  ^).  Ein  praktisches 
Hilfsmittel  ist  endlich  das  Lexicon  Thucydideum  von  Betaut 
(Genf  1843,  2  Bde''). 

Thukydides'  Werk  wurde  auch  in  dem  Lande,  wo  der 
herrlichste  Teil  desselben  spielt,  gewürdigt  und  regte  hier  ein 
treffliches  Talent  an.  Wenn  die  Geschichte  irgend  einer 
hellenischen  Gegend,  gestattete  die  sicilische  eine  einheithche 
Darstellung,  weil  die  geographische  Lage,  obgleich  der  Zu- 
sammenhang mit  Griechenland  stets  gewahrt  blieb,  eine  unab- 
hängige und  doch  bedeutungsvolle  Entwicklung  beförderte.  Es 
ist  somit  beinahe  notwendig,  dass  die  einzige  Landesgeschichte, 

1)  Vgl.  kleine  Schriften  II  155. 

2)  Berlin  in  drei  Bänden  (mit  den  Schollen);  der  Text  erschien  1868  in 
2.  Auflage.  Vgl.  Nachtrag  von  Varianten  zum  Thucydides,  Monatsber.  der 
Berliner  Akad.  1855  S.  470  ü.  Englische  Handschriften  und  die  zwei  ältesten 
Ausgaben  sind  kollationiert  von  Rieh.  Shilleto,  London  1872. 

3)  Karten  und  Pläne  sind  auch  der  englischen  Ausgabe  von  S.  T.  Bloom- 
field  (London  1842—43,  2  Bde.)  beigegeben. 

4)  Ausserdem  sind  die  erklärenden  Ausgaben  von  Franz  Göller  (Leipzig. 
M836,  2  Bde.  mit  zwölf  Karten),  Gtfr.  Böhme  (Leipzig  1854  2  Bde.)  und 
Böhme-Widmann  (Leipzig  3. — 5.  A.  4  Hefte)  anzuführen. 

5)  Die  Teubnerausgabe  ist  von  Böhme  (*1875,  2  Bde.)  besorgt. 

6)  Vgl.  z.  B.  C.  Conrad t  Jahrbb.  f  Phil.  129,  529  ff.;  H.  L.  Schmitt 
quaestiones  chronologicae  ad  Thucydidem  pertinentes,  Leipzig  1882. 

7)  Em.  Fr.  Poppo  Lexici  Thucydidei  supplementum  L— III.,  Progr. 
v.  Frankfurt  1845,  47,  54. 


428  Zwölftes  Kapitel. 

welche  mit  den  klassischen  Geschichtswerken  wetteifern  konnte, 
von  einem  sicilischen  Griechen  herrührte. 

P  h  i  1  i  s  1 0  s  ^)    entstammte    einer    vornehmen    Familie    von 
Syrakus.^)    Er  benützte  sein  Ansehen  und  Vermögen,  um  dem 
älteren  Dionysios  Ol.  93,3  (406/5)  zur  Tyrannis  zu  verhelfen^), 
weshalb  ihm  lange  Zeit  die  Citadelle  anvertraut  war.  ^)    Nichts- 
desto    weniger    wurde    er  Ol.  98,  4  (385/4)    nach    Hadria   ver- 
bannt und  seine  Güter  eingezogen  ^).     Erst  nach  dem  Tode  des 
Tyrannen    Ol.  103,    2    (367/6)    durfte    Philistos    nach    Syrakuaj 
zurückkehren  und  gewann  das  einstige  Ansehen  wieder.^)    Als 
Dion  Ol.  106,  1  (356/5)  die  Stadt  bedrohte,  leitete  PhiHstos  das 
Heer  des  Dionysios,  aber  wie  er  aus  Leontinoi  geworfen  wurde^ 
so  war  er  zur  See  gegen  Herakleides    unglücklich.     Der   greise 
Feldherr  fiel  selbst  in  die  Hände  der  Republikaner  und  wurde 
von  ihnen  schmählich  getötet.')      Damals  stand  Philistos  schoi 
in  sehr  hohem  Alter,  da   er  älter   als  Dionysios  I,  gewesen  zi 
sein  scheint.^) 

In  jener  Zeit  der  unfreiwilligen  Müsse  verfiel  Philistos  au| 
den  Gedanken,  eine  ausführliche  Geschichte Siciliens  zu  schreibenJ 
und  gab  diese  Absicht  auch  nach  seiner  Rückkehr  nicht  aufJ 
Zuvörderst  ward  die  Geschichte  Siciliens  von  der  ältesten  Zei| 
bis  zum  Jahre  406  in  sieben  Büchern  dargestellt;  fünf  Büchei 
behandelten  die  Regierung  des  älteren  Dionysios  und  die  zwei  letzter 


1)  Die  Fragmente  wurden  zuerst  von  Franz  GöUer  in  der  Abhandlung 
„de  situ  et  origiue  Syracusarum"  (Leipzig  1818)  p.  145  ff.  gesammelt,  dam 
in  C.  Müllers  fragm.  bist.  Graec.  I  p.  XLV  ff.  185  ff.  IV  624  ff.,  vgl.  477  ;| 
G.  Wolfg.  Körber  de  Philisto  rerum  Sicularum  scriptore,  Breslau  1874. 

2)  Sein  Vater  hiess  Archonides  (Suidas,  verderbt  'Ap/o[j.ev18yjc   Pauss 
6,  23,  6). 

8)  Diodor.  13,  91,  4.  14;  8.  Flut.  Dio  11.  35.  Mit  ihm  verwandt  nacl 
Snidas  v.  4>iXtaxo(;. 

4)  Plutarch.  Dio  11. 

6)  Flut.  Dio  11.  Timol.  16.  de  eiilio  14  (nach  Epirus) ;  abweichend 
Diodor.  15,  7,  3.  4. 

6)  Flut.  Dio  11.    Com.  Nep.  Dio  3,    vgl.  Fs.  Fiat.   ep.  3   p.  671.     Ma 
behauptete,  dass  er  Plato  entgegenarbeitete. 

7)  Timaeus    bei  Flut.  Dio  36.    Tzetz.  Chil.  10,  830  f.;   vgl.  Diodor.  1( 
11,  3,  ungenau  Suidas  v.  <I>iXioxoc. 

8)  Man  beschuldigte  ihn,  mit  dessen  Mutter  in  intimem  Verhältniaa 
zu  stehen  (Flut.  Dio  11). 


Thukydides  und  Philistos.  429 

stellten  die  ersten  fünf  Regierungsjahre  seines  Nachfolgers  dar.^) 
Offenbar  wurde  Philistos  durch  den  Tod  an  der  Weiterführung 
des  Werkes  gehindert.  Man  sieht  also,  was  von  der  Insinuation 
zu  halten  ist,  Philistos  habe  den  Tyrannen  geschmeichelt,  damit 
er  zurückberufen  werde.  ^)  Wie  seine  Lebensgeschichte  zeigt, 
war  er  eine  treue  aufrichtige  Stütze  der  Dynastie;  dass  er  die 
Geschichte  der  Dionyse  mit  Wohlwollen  schrieb,  ist  folglich 
auch  ohne  eigennützige  Beweggründe  verständlich.  Unpar- 
teiische Männer,  wie  Ephoros  ^)  und  Cicero*),  haben  Philistos 
hochgeschätzt,  während  Timaios  auch  ihn  nicht  verschonte.^) 
Es  scheint,  dass  Philistos  nicht  eigentlich  die  Unwahrheit  sagte, 
sondern  bloss  die  Frevel,  welche  Dionys  sich  gegen  die  Barbaren 
erlaubte,  verschwieg  ^). 

Die  Alten  stellen  Philistos  gerne  mit  Thukydides  zusammen, 
wiewohl  sie  die  Aehnlichkeiten  nicht  im  einzelnen  anführen.') 
Wahrscheinlich  erinnerte  der  allgemeine  Eindruck  an  den 
athenischen  Geschichtsschreiber,  weil  Philistos  knapp  erzählte, 
Abschweifungen  vermied  ^)  und  in  politischen  und  militärischen 
Dingen  ein  gutes  Urteil  bekundete.  Auch  flocht  er  Reden  ein.^) 
Dagegen  bemühte  sich  Philistos  mehr  darum,  dass  er  den  Lesern 
das  Verständnis  nicht  erschwerte,  sondern  die  Lektüre  angenehm 


1)  Diodor.  13,  103,  3.  15,  89,  2.  Man  teilte  diese  vierzehn  Bücher  in 
zwei  auvta^ei<;  von  je  sieben  Büchern,  vgl.  Cic.  ep.  ad  Qu.  fr.  2,  11  (13),  4. 
Dionys.  ad  Cn.  Pomp.  5.  Suidas  kennt  eine  andere  Einteilung  in  elf  (fünf 
und  sechs)  Bücher. 

2)  Pausan.  1,  13,  9,  womit  die  Angabe  von  Plut.  de  exilio  14,  dass  er 
seine  Geschichte  in  der  Verbannung  schrieb,  zusammenhängt, 

3)  Plutarch.  Dio  36. 

4)  Cic.  div.  1,  20,  39  et  doctum  hominem  et  diligentem. 

6)  Plutarch.  Dio  36;  er  hat  Plutarch  und  Dionysos  beeinflusst. 

6)  Plutarch.  de  malign.  Herod.  3  rechnet  ihm  dies  zum  Lobe  an.  Auf- 
fallend   ist  Mareen,   vit.  Thuc.   227  4>iXtoxoc    U  tu»  vsu)  Aiovualcu   TOt(;    Xö-cok; 

7)  Cic.  ad  Qu.  fr.  2,  11  (13),  4Siculus  ille  capitalis  creber  acutus  brevis, 
paene  pusiUus  Thucydides;  Brut.  17,  65  (mit  Thukydides  verbunden)  horum 
concisis  sententiis,  interdum  etiam  non  satis  apertis  tarn  brevitate  quam 
nimio  acumine;  vgl.  de  orat.  2,  13,  57.  Dionys.  vet.  cens.  3,2.  ad  Cn.  Pomp. 
5.  Quintil.  10,  1,  76. 

8)  Dionys.  ad  Cn.  Pomp.  5.  Theon  npoYü|xv,  p.  80,  27  ff. 

9)  Dionys.  a.  O.  <^o<f(i>Uic.  zohz  SfifiiriYopoüvTac 


TCOlSt. 


430  Zwölftes  Kapitel. 

machte.  Daher  war  sein  Stil  durchsichtig  ^) ;  der  Ausdruck 
klang,  obgleich  Philistos  seltene  Wörter  vermied,  nicht  gewöhn- 
lich.^) Hingegen  erregten  Wortstellung  und  der  einförmige  Satzbau 
Tadel  ^).  Der  Unterhaltung  der  Leser  zu  Liebe  ging  Philistos 
in  der  Kritik  nicht  so  weit  wie  Thukydides,  sondern  teilte 
hübsche  Erzählungen,  Anekdoten  und  lebhafte  Schilderungen 
mit.  So  las  man  bei  ihm,  wie  der  Sikanerkönig  Kokalos  den 
flüchtigen  Daidalos  aufnahm  ^).  und  die  berühmte  Fabel  des 
Stesichoros  ^).  Auch  entwarf  der  Geschichtsschreiber  ein  glänzen- 
des Bild  von  den  Rüstungen,  welche  der  ältere  Dionys  gegen 
Karthago  veranstaltete  und  dem  prunkvollen  Begräbnisse  des] 
Tyrannen  (fr,  34,  42),  Ueberhaupt  liess  er  sich  sehr  auf  Details] 
ein,^)  worunter  die  Uebersichtlichkeit  der  Erzählung  litt '').  Inj 
religiöser  Beziehung  stand  Philistos  gleichfalls  Herodot  näher,] 
weil  er  auf  Träume  und  Vorzeichen  (fr.  47,  48)  Wert  legte. 

Bemerkenswert  ist,  dass  Philistos  nach  Olympiaden  rechnete] 
(fr.  6);  diese  Zeitbestimmung  scheint  zuerst  von  Sicilien  aus] 
sich  verbreitet  zu  haben.  Sie  war  ja  für  die  Griechen  inter- 
national.  Wahrscheinlich  bediente  sich  der  Historiker  desj 
attischen  Dialektes,  wenn  man  auch  Sikelismen  bei  ihm  fand. 

Phihstos'  Geschichte  erlangte  bald  einen  Fortsetzer;  nach! 
Diodors  Angabe  schilderte  Athanis^)  die  Jahre  362 — 355,  um] 
den  Zusammenhang  herzustellen,  während  den  Hauptteil  des] 
Werkes  von  dreizehn  Büchern  die  Geschichte  Dions   einnahm: 


1)  Quintil.  a.  O. 

2)  Ilepl  54<ous  40. 
i3)  Demetr.  tt.  ipfi^jv.  198    (er  wirft  ihm  nXafiotfiTac   vor).     Dionys.  adJ 

Cn.  Pomp.  6. 

4)  Theon  itpoYojtv.  p.  66,  27  Sp, 
6)  Fr.  17,  vgl.  Theon  p.  66,  10  ff. 

6)  Dionysios    ad    Cn.  Pomp.  6    nennt   ihn    jitxpoXoYO? ;    der   Name    von; 
Gelons  Hnnd  (fr.  44)    dürfte    bei   der  Aelian.    var.   hist.  1,  13    erzählten  Ge- 
schichte vorgekommen  sein. 

7)  Dionys.  ad  Cn.  Pomp.  6.  vet.  Script,  cens,  3,  2. 

8)  Steph.  Byz.  v.  'Ajißpaxia. 

9)  Diodor.  16,  94,  4  (Variante  'AMvtic,  'Aö-iva?);  vgl  J.  F.  J.  Arnoldt 
de  Athana  rerum  Sicularum  scriptore,  Gumbinnen  1846;  ders.  Timoleon, 
Gumbinnen  1860  S.  12  ff. 


Thukydides  und  Philistos,  431 

Die  drei  erhaltenen  Fragmente^)  beziehen  sich  jedoch  auf  die 
sonderbaren  Wörter  des  älteren  Dionys  und  auf  Timoleon, 
Auch  Athenis  nahm  in  Syrakus  eine  sehr  angesehene 
Stellung  ein  ^). 


1)  Müller,  fragm.  histor.  H  81  ff. 

2)  Theoporap.  fr.  2! 2  bei  Steph.  E.  v.  Aü|jlyj. 


Dreizehntes   Kapitel. 
Xenophon. 

Biographie  und  Charakter;  Anabasis  (Sophaiuetos) ,  Hellenika,  Agesilaos; 
Kyropädie  nnd  sokratische  Bücher;  über  den  spartanischen  Staat  und  die 
athenischen  Finanzen ;  Schriften  über  den  Reiterdienst ;  Jagdbuch ;  Hieron ; 
Reihenfolge  der  Schriften;  der  jüngere  Xenophon;  Stil;  Wertschätzung 
Handschriften  und  Ausgaben. 


^1 

Der  Schriftsteller,  den  man  jenen  zwei  Klassikern  der  GHI 
Schichtsschreibung  beizufügen  pflegt,  wurde  von  den  Alten  nicht 
eigentlich  als  Historiker  von  Fach  betrachtet;  Xenophon  er- 
streckte ja  in  der  That  seine  Thätigkeit  auf  verschiedenartige 
Gebiete.  Dennoch  dürfte  es  mit  den  geringsten  Bedenken 
verbunden  sein,  wenn  man  ihn  den  Geschichtsschreibern  bei- 
zählt. 

Über  die  Jugendzeit  Xenophons,  ^)  dessen  Vater  Gryllos 
Bürger  im  athenischen  Gau  Erchia  war,  ^)  ist  nur  soviel  über- 
liefert, dass  er  zu  den  Schülern  des  Sokrates  gehörte.^)  Da 
ihm  als  Aristokraten  die  Zustände,  welche  in  Athen  nach  der 


1)  Alte  Biographie  von  Diogenes  Laertios  II  c.  6;  K.  W.  Krüger 
de  Xenophontis  vita  quaestt.  critt.,  Halle  1822  =  histor.  philol.  Stud.  2, 
262  flF.;  F.  Ranke  de  Xenophontis  vita  et  scriptis,  Berlin  1861  (mehr  über 
den  Charakter);  Alfr.  Croiset  Xenophon  son  charactöre  et  son  talent 
Paris  1873;  A.  Roquette  de  Xenophontis  vita,  Königsberg  1884;  Xenophon 
als  Offizier:  W.  Rüstow  militärische  Biographien  I  S.  37 — 246. 

2)  'Ep^uu*:  Diog.  48;  über  rp6XXo<;  oder  FpoXoc  Roquette  im  Anhang. 

3)  Anekdote  über  ihre  Bekanntschaft  Diog.  48,  Stob.  flor.  Bd.  II  p.  2l9, 
6  ff.  Wachsm. ;  davon,  dass  Sokrates  in  der  Schlacht  von  Delion  Xenophon 
rettete  (Strabo  9,  403. Diog.  2,  22),  weiss  Plato  sympos.  220  de  nichts.  Daran, 
in  Verbindung  mit  der  Nachricht,  das«  er  Gastfreund  des  Böotiers  Proxenos 
war,  schloss  sich  die  Behauptung,  dass  er  in  Böotien  gefangen  genommen 
wurde  (Philostr.  vit.  soph.  1,  12). 


I 


Xenophon.  433 

Vertreibung  der  Dreissig  eintraten,  nicht  gefielen,  nahm  Xenophon 
ohne  Bedenken  die  Einladung  des  Böotiers  Proxenos  an,  mit 
ihm  unter  Kyros  gegen  die  Pisidier  zu  fechten.  ^)  Wohl  oder 
übel  musste  er,  als  Kyros  seine  wahre  Absicht  enthüllte,  ihm 
nach  Babylonien  folgen.  Eine  bestimmte  Stelle  bekleidete  er 
in  dem  Heere  nicht;  als  aber  die  Katastrophe  von  Kunaxa 
erfolgt  war,  zeigte  er  so  viel  Geistesgegenwart,  dass  er  unter 
die  Führer  des  Rückzugs  gewählt  wurde.  Der  improvisierte 
General  dürfte  damals  nicht  viel  über  dreissig  Jahre  gezählt 
haben.  *)  Wie  glücklich  der  Rückzug  verlief,  ist  bekannt ;  indes 
darf  ich  nicht  verschweigen,  dass  Xenophon  seinen  Anteil  an 
dem  glücklichen  Ausgange  wahrscheinlich  vergrössert  hat,  da 
Diodor,  welcher  den  Rückzug  der  Zehntausend  nach  anderer 
Quelle  ausführlich  schildert,  nicht  ein  einziges  Mal  seinen  Namen 
nennt.  Im  März  399  trat  Xenophon  mit  den  ihm  treu  ge- 
bliebenen Söldnern  in  den  Dienst  der  Spartaner,  welche  damals 
mit  dem  Perserkönig  Krieg  führten.  Zuvor  hatte  er  nach 
Athen  zurückzukehren  gedacht,  aber  dies  wurde  ihm  jetzt  durch 
das  Verbannungsurteil,  welches  die  Athener  über  ihn  verhängten, 
unmöglich  gemacht.  Was  veranlasste  nun  dieses  Urteil?^) 
Man  muss  hier  zwischen  Vorwand  und  wirklichem  Grund  wohl 
unterscheiden.     Letzteren  deutet  Xenophon  selbst  an,*)  es  war 


1)  Anab.  3,  1,  9. 

2)  Nach  Anab.  3,  1,  14  (uoiav  8'  -rjXixiav  efiaoTu»  eX^elv  &va[JLEVü)).  25. 
2,  37  (vEcuxatot)  war  er  jung  ,  wie  es  die  Griechen  verstanden.  Seuthes  hält 
es  Anab.  7,  2,  38  für  möglich,  dass  Xenophon  eine  heiratsfähige  (also  min- 
destens zwölf  Jahre  alte)  Tochter  habe.  Krüger  historisch-philol.  Studien 
2,  262  ff.  und  kritische  Analekten  2,  42  ff.  kann,  weil  er  der  Anekdote  von 
Delion  Glauben  schenkt,  das  Geburtsjahr  nicht  nach  444  ansetzen,  was  den 
obigen  Stellen  widerspricht.  Vgl.  Athen.  5,  2]6d.  Cobet  variae  lectiones 
p.  534  ff.  (um  425);  Selchau  Nordisk  tidskrift  for  fllologi  n.  r.  7,  1  ff.  Die 
Alten  bestimmten  die  Zeit  Xenophons  nach  der  Anabasis  (Ol.  94,  4  Diog.  55) 
oder  nach  Sokrates  (Ol.  89,  1,  wo  die  Wolken  des  Aristophanes  zur  Auf- 
führung kamen,  oder  Ol.  95,  1,  dem  Todesjahre  des  Sokrates,  Euseb.  Suidas). 
Als  Sokratiker  wird  er  sogar  an  den  Hof  des  älteren  Diouysios  f  Athen,  10, 
427  f)  und  nach  Megara  (Epist.  Socrat.  21)  versetzt. 

3)  Nicolai  Jahilbb.  f.  Phil.  89,  811  ff.  Schenkl  Sitzungsber.  der 
Wiener  Akad.  60,  639  ff.,  80,  154  A. 

4)  Anab.  8,  1,  5.  Daraus  ist  Pausan.  6,  6,  5.  Dio  Chrys.  or.  8,  1,  vgl. 
Diog.  58.  Epist.  Socrat.  5,  1  geschöpft;  Diog.  51  stammt  aus  Anab.  VII  7,  57 
(06  Y"?  '^<"  <{''^<poc  o-hzib  £ii'?ixxo  ^AQ-r^vriai  nepl  <p!>Y'*l'^)- 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  28 


434  Dreizehntes  Kapitel. 

die  Beteiligung  am  Aufstande   des  Kyros,    welcher    von   jeher 
der  thätigste  Freund  der  Spartaner  gewesen  war.     Doch  durften 
die  Athener  dies  nicht  öffentlich  aussprechen,  weil  sie  im  Jahre 
399  noch  unter  Spartas  Herrschaft  standen.  ^)   Der  vorgeschobene 
Grund  ist  natürlich  nicht  zu  bestimmen,    etwa  weil  Xenophon 
sich   der  Dienstpflicht    zu  Hause    entzog.     Die   Spartaner    ent- 
schädigten Xenophon  für  den  Verlust  der  Heimat,  zu  der  seine 
Neigung    ohnehin    nicht  stark   war,    vollauf.     Nachdem   er  an 
ihren  Kämpfen    in  Asien    teilgenommen   hatte,  ^)   begleitete   er 
den   König   Agesilaos,    dem    er  mit   aufrichtiger    Begeisterung 
zugethan    blieb,    nach  Griechenland    zurück    und   focht  in  der, 
Schlacht  von  Koroneia  gegen  sein  Vaterland.  ^)     Für  die  Über- 
lieferung   des  Söldnerheeres  erhielt    nun  Xenophon  den  Lohn,] 
der  wahrscheinlich  früher  bereits  vereinbart  worden  war,  näm- 
lich   die    Ehre    der   Proxenie*)    und    ein    Gut   im    Gebiet    desj 
elischen  Städtchens  Skillus.  ^)     In  dem  lieblichen  von  Wäldern] 
durchzogenen    Hügellande   führte    der    Condottiere    mit   seiner^ 
Gattin  Philesia  und  den  zwei  Kindern  Gryllos   und  Diodoros^)] 
ein  idyllisches  Leben ;  der  fromme  Mann  errichtete  der  ephesischenj 
Artemis  eine  Votivkapelle  und  die  Söhne  stellten  ihr  zu  Ehrei 
Jagden  in  den  wildreichen  Wäldern  an. '')     Erst  die  Folgen  derl 
Schlacht  von  Leuktra   zerstörten    dieses  Stillleben.     Xenophon 
musste,    von    den    Eleern    des    Gottesfrevels    angeklagt,    nach 
Lepreon  flüchten,  ^)  worauf  er  in  Korinth  seineu  Wohnsitz  nahm. 

1)  Xenoph.  Hell.  3,  1,  4. 

2)  '0  tÄv  Kopstüjv  npoEOTfjxux;  Hell.  3,  2,  7  ist  jedenfalls  er. 

3)  Plutarch.  Ages.  18,  vgl.  Anab.  5,  3,  6.   Es  ist  unwahrscheinlich,  ds 
die  Verbannung    erst  deswegen   ausgesprochen  wurde  (Niebuhr  kleine  hist.l 
Schriften  I  467;  Grote  history  of  Greece  IX  240);  Anab.  6,  3,  G  f.  beweistj 
dies  nicht. 

4)  Diog.  51 ;    nach    Diokles   (Diog.  64)    durften    seine  Söhne    in   Sparta^ 
erzogen  werden. 

6)  Pausan.  5,  6,  6,  vgl,  Anab.  6,  3,  7. 

6)  Dinarch.  u.  Demetr.  Magn.  bei  Diog.  62.  Er  war  anscheinend  schon 
zu  Sokrates'  Lebzeiten  verheiratet  (Aeschines  bei  Cic.  inv.  1,  31,  61);  im 
Jahre  399  hatte  er  aber  noch  keine  Kinder  (Anab.  7,  6,  34). 

7)  Anab.  6,  3,  7  ff. 

8)  Diog.  53;    die    rätselhaften  Worte  tlq  ttjv  ^HXiv  Tcpotepov  finden  ihre 
Erklärung  durch  Pausan.  5,  6,  ü.     Der  Zusatz  der  Eleer,    dass  er   sein   Gutj 
zurückerhielt    und  dort  begraben  wurde,  scheint  tendenziös,  denn  Siuiplikiosj 
ad  Epictet.    p.  153  Salm.    (Xenoph.    opp.    ed.  Schneider  IV   p.  XXIV)    sagt^ 
X(I>v  'OXu]Xrtttuv  e^exYjpü/^O'Yi. 


' 


Xenophon.  435 

Doch  bald  gestaltete  sich  seine  Lage  wieder  günstiger.  Nachdem 
nämlich  die  Athener  363  mit  den  Spartanern  ein  Bündnis 
gegen  die  übermächtigen  Böotier  geschlossen  hatten,  suchten 
sie  sich  Agesilaos  dadurch  zu  verpflichten,  dass  sie  den  Ver- 
bannten auf  Antrag  des  Eubulos  in  alle  bürgerlichen  Rechte 
wieder  einsetzten.^)  Dem  siebzigsten  Jahre  nicht  mehr  ferne, 
machte  Xenophon  für  sich  davon  vielleicht  keinen  Gebrauch,  ^) 
dagegen  Hess  er  seine  beiden  Söhne  in  die  athenische  Ritter- 
schaft eintreten.  3)  Auch  diese  Freude  sollte  ihm  getrübt  werden  : 
Gryllos  fiel  heldenmütig  kämpfend  in  der  Reiterschlacht  von 
Mantineia.^)  Da  zeigte  sich,  wie  berühmt  und  angesehen  der 
Führer  der  Zehntausend  war.  Sein  Sohn  ward  mehr  als  je 
ein  griechischer  Held  gefeiert.  Die  Schriftsteller,  unter  denen 
selbst  der  berühmteste  Redekünstler  der  Zeit  nicht  gefehlt  haben 
soll ,  wetteiferten  in  Enkomien  und  ähnlichen  Gelegenheits- 
schriften, ^)  zu  Athen  erhielt  Gryllos  in  der  bildlichen  Darstellung 
der  Schlacht  den  Ehrenplatz^)  und  Mantineia  errichtete  ihm 
ein  Denkmal.'')  Der  greise  Vater  soll  die  Todesnachricht  mit 
männlicher  Fassung  ertragen  haben.  ^)  Die  folgenden  Jahre 
verbrachte  er  trotz  seinem  hohen  Alter  in  reger  Thätigkeit;  an 
der  griechischen  Geschichte  schrieb  er  noch  mindestens  359  ^) 
und  die  Schrift  über  die  athenischen  Finanzen  ist  gar  erst  355 
verfasst.  Bald  darauf  dürfte  Xenophon  sein  langes  wechsel- 
volles Leben  beschlossen  haben  und  zwar  in  Korinth,^^)  denn 
in  Athen  scheint  man  kein  Grabmal  gefunden  zu  haben. 

1)  Istros  bei  Diog.  59 ;  dieser  bezeichnet  Eubulos  zugleicb  als  Urheber 
der  Verbannung.  Nach  Letronne  (bei  Dindorf  ed.  Oxon.  p.  XLI  ff.)  war  aber 
letzterer  der  Archon  von  Ol.  96,  3. 

2)  Ps.  Plutarch.  Demosth.  845  d  ist  nur  eine  Vermutung. 

3)  Diogen.  53. 

4)  Ephoros  bei  Diog.  54 ;  daher  ist  es  eine  Fabel,  dass  er  Epaminondas 
die  Todeswunde  beibrachte  (Pausan.  8,  11,  6). 

5)  Aristotel.  und  Hermipp.  bei  Diog.  55,  vgl.  Eose  Aristoteles  pseudepi- 
graphus  p.  76  f. 

6)  Pausan.  1,  3,  4.  9,  15,  5. 

7)  Pausan.  8,  9,  5. 

8)  Diog.  54.  55. 

9)  In  diesem  Jahr  wahrscheinlich  wurde  Alexandros  von  Pherai  er- 
mordet (A.  Schäfer  Demosthenes  I  133  A.  2);  Stesikleides  (Diog.  56)  meinte, 
wie  xaT£aTps4*s  zeigt,  dass  er  in  diesem  Jahre  seine  Ceschichte  vollendete, 
nicht  dass  er  starb.     Ueber  90  Jahre  alt  nach  Ps.  Lucian.  }j.axpoß.  21. 

10)  Demetr.  Magn.  56. 


28' 


436  Dreizehntes  Kapitel. 


Xenophons  Persönlichkeit  ^)  ist  uns  durch  seine  zahlreichen 
Schriften  genauer  als  die  irgend  eines  anderen  Atheners  bekannt.  ,^^ 
Seine  ganze  Neigung  gilt   dem  Kriegswesen  und  den  bei  denfll 
Griechen  damit  zusammenhängenden  Beschäftigungen,    Reiten 
und  Jagen;   die  Freude   an  Pferden   und  Hunden  gibt  sich  in 
vielen  Bemerkungen    kund.     Gegen    seine  Nebenmenschen    er- 
scheint Xenophon  wohlwollend  gestimmt.  Er  tritt  im  Oikonomikos 
für    eine   bessere   Stellung    der  Frauen    und  Sklaven   ein;    die 
Barbaren  werden  so  unparteilich  geschildert  als  einem  Griechen  __. 
möglich  war.   Gerne  würzt  er  die  Erzählung  mit  etwas  trockenem  ^ 
Humor.  ^)     Was  aber  Xenophon  charakterisiert  und  von  Herodot 
oder   gar   Thukydides    auffallend    unterscheidet,    das    ist    sein 
religiöser  Standpunkt.     Er  hängt  ja  noch  ganz  an  dem  alther- 
gebrachten Götterkulte  ^)   und   empfiehlt  die  üblichen  frommen 
Bräuche  in  seinen  theoretischen  Schriften  häufig  an.     Vor  jeder 
wichtigen  Unternehmung   erforscht   er    den  Willen  der  Götter, 
sei  es  bei  einem  Orakel  oder  im  Felde  aus  den  Opfern,  wobei     , 
er    selbst   in  der  Eingeweidebeschau  dilettiert;    ein  Zweifel   ^nfl 
der  Wahrheit  der  Orakel   oder  an  der  Wirksamkeit  der  Opfer    « 
steigt  ihm   nie   auf.      Nehmen  wir  dazu,    dass  Xenophon   auf 
militärischem  Gebiete    gründliche  Kenntnisse    besass    und  sich 
für  alles  interessierte,  *)  so  stellen  wir  uns  einen  strenggläubigen 
Offizier,  mit  dem  angenehm  zu  verkehren  war,  vor. 

Leider  wird   dieses  Bild  durch  entstellende  Züge  getrübt 


1)  Eanke   u.   Croiset   a.  O.;    Jos.  Borscht  de  Xenophontis  pietatej 
deorum  fiducia  atque  ratione   historiae  scribendae.  Speier  1861;    Carl   Bra- 
bau  der   quaestiones    Xenophonteae,  Lüdenscheid  1870  (Diss.  v.  Göttingeu) ; 
Fr.  Butters  Xenophon  als  Patriot,  Zweibrücken  1872  ;  F.  Cocian  quaeritur 
qualis  sententias  in  historia  Graeca  secutus  sit  Xenophon  de  rebus  divinis  et  i 
publicia,  Budweis  1879. 

2)  Z.  B.  Cyrop.  2,  2  (Demetr.  n.  ipjiTjv.  134);  Scbimmelpf eng  znrj 
Würdigung  von  Xenophons  Anabasis,  Berlin  1870. 

3)  Daher  bekämpft  er  memor.  4,  7,  6  fl".  den  Atheisten  Anaxagoras; 
Eckh.  Coli  mann  de  Xenophontis  circa  res  divinas  seuteutia,  Marburg  1833; 
J.  H.  Lindemann  über  die  sittlich -religiöse  Lebensausicht  des  Xenophon, 
Coiutz  1843;  O.  Fabricius  zur  religiösen  Anschauungsweise  des  Xenophon, 
Königsberg  1870. 

4)  Dass  ihm  im  herrlichen  Pontaslande  der  Sinn  für  Naturschönheit  ^ 
fehlte  (Fallmerayer  Fragmente  aus  dem  Orient  I  290  f.),  ist  ihm  als] 
Uriecheu  und  nach  solchen  Erlebuisseu  uicht  zu  verargen. 


Xenophon.  437 

Xeuophon  trieb  die  Abneigung  gegen  die  Demokratie  ^)  soweit, 
dass  er  nicht  bloss  dem  Staate,  der  kurz  vorher  Athens  Mauern 
gebrochen  und  die  Dreissigmänner  eingesetzt  hatte,  ein  stattliches 
Heer  zuführte,  sondern  sogar  gegen  seine  Mitbürger  kämpfte. 
Seine  griechische  Geschichte  vor  allem  ist  ein  trauriges  Zeugnis, 
wie  man  aus  Parteileidenschaft  die  Flecken  der  eigenen  Sache 
verschwieg  und  den  Gegner  kleinlich  herabsetzte.  Auch  die 
Art  der  Herausgabe  der  Anabasis,  wovon  wir  später  sprechen 
werden,  wirft  auf  Xenophons  Charakter  kein  schönes  Licht. 
Niebuhr  ging  freilich  zu  weit,  als  er  schrieb:^)  ,, Wahrlich 
einen  ausgearteteren  Sohn  hat  kein  Staat  jemals  ausgestossen 
als  diesen  Xenophon!"  Aber  auch  ein  ruhigerer  Beurteiler 
kann  nicht  umhin,  erhebliche  Charakterschwächen  anzuer- 
kennen. 

In  der  Stille  von  Skillus  und  dann  in  Korinth  benützte 
Xenophon  seine  Müsse  zu  schriftstellerischen  Arbeiten.  Seine 
Schriften  zeigen  klar,  dass  er  nicht  von  Jugend  auf  dazu  sich 
heranbildete,  sondern  im  Vergleiche  mit  den  übrigen  Klassikern 
der  griechischen  Prosa  gewissermassen  ein  Dilettant  war,  dem 
die  regelrechte  Schulung  fehlte. 

Man  darf  daher  glauben,  dass  Xenophon  zuerst  durch  eine 
ihn  persönlich  berührende  Angelegenheit  gereizt  der  Schriftstellerei 
sich  zuwandte,  und  welche  konnte  ihm  näher  gehen  als  wenn  über 
den  Rückzug,  dem  er  seinen  Ruhm  verdankte,  ein  ihm  un- 
günstiger Bericht  erschien?  Unter  den  Führern  der  Söldner 
hatte  sich  auch  Sophainetos  von Sty mphalos  befunden.  Dieser 
veröffentlichte  nicht  sehr  lange  nach  der  Rückkehr  ^)  eine  Dar- 
stellung des  Zuges,    in    der  Xenophons  Name    kaum  vorkam; 


1)  Paul  Werner  quae  fuerit  Xenophon tis  de  rebus  publicis  sententia, 
Breslau  1851;  W.  Engel  Xenophons  politische  Stellung  und  Wirksamkeit, 
Stargard  1853. 

2)  Kleine  historische  u.  philol.  Schriften  I  464  fi.;  gegen  ihn  Ferd, 
Delbrück  Xenophon.  Zur  Kettung  seiner  diirch  B.  G.  Niebuhr  gefährdeten 
Ehre  dargestellt,  Bonn  1829. 

3)  Nach  Xenoph.  Anab.  5,  3,  1.  6,  5,  13  war  er  einer  der  ältesten 
Anführer  (vgl.  Sehen  kl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  60,  635);  Xenophon 
erwähnt  ihn  selten  und  dann  ungünstig  (5,  8,  1.  6,  5,  13).  Nur  Stephanos 
von  Byzanz  hat  einige  Fragmente  bewahrt  (v.  KapSoöxoc,  Tko/oi,  4>6oxoc, 
Xapfidvo-ri).  Xenoph.  Anab.  1,  8,  18  ki-^ooai  U  xcvs;  u.  s.  w.  scheint  von 
einem  Leser  beigefügt. 


438  Dreizehntes  Kapitel. 

man    nimmt   wenigstens   an,    dass  Diodors  Erzählung  auf  ihn 
zurückgeht.  ^)    Xenophon  entschloss  sieh  daher,  eine  ausführliclie 
Gegenschrift,  die  berühmte  Köpoo  avdßa okz,^)  herauszugeben.^) 
Weil   er   nun    darin    sich    selbst  möglichst  hervorheben  wollte, 
was  auch  den  Griechen  nicht    recht  zienilich  erschien,    wählte 
er  einen  Ausweg,  den  schwerlich  jemand  vor  ihm  eingeschlagen 
hatte.     Xenophon  ist  nämlich  der  Erfinder  der  Pseudonymität. 
Wider  die  Gewohnheit  der  Historiker  liess  er  das  Vorwort  weg, 
um  weder  seinen  Namen  noch  den  eines  anderen  ausdrückUch 
nennen  zu  müssen,    und    in    der  Erzählung   selbst  machte   er] 
einige  ungeschickte  Versuche,  das  Buch  wie  aus  den  Berichten] 
von  Augenzeugen,    doch  nicht  von  einem  Teilnehmer  verfasstl 
hinzustellen,^)     Im  Titel  stand  wahrscheinlich   der  Name  einesi 
Themistogenes  von  Syrakus;    denn  Xenophon   verweist  in  den] 
Hellenika  (3,  1,  2)  auf  diesen,  welcher  den  Zug  der  Zehntausend 
erzählt  habe.  ^)     Leugnet  man  diese  Identität,  so  bliebe  nur  diei 
wenig  wahrscheinliche  Annahme  übrig,  dass  Xenophon,  als  er] 
das  dritte  Buch  der  griechischen  Geschichte  schrieb,  au  die  Ab- 
fassung   der  Anabasis    noch    nicht   dachte.     Es    ist  ihm  nicht] 
gelungen,  die  Verfasserschaft  einem  anderen  zuzuschieben,    so] 


1)  Volquardsen  Untersuch,  über  die  Quellen  der  griech.  und  sicil. 
Geschichten  Diodors  S.  131  f. 

2)  Die  Alten  sagen  häufig  allein  avdßaatc  wie  izaihtia.  H.  Schenkl 
Xenophontische  Studien  I.  Wien  1869  (Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  60,, 
563  flf.);  H.  Taine  Xenophon.  L'anabase,  Essais  de  crit.  et  histoire  Parisj 
1874  p.  49  ff. 

3)  Anab.  6,  6,  9  beweist,  dass  er  nach  dem  Ausbruche  des  korinthischen^ 
Krieges  schrieb;    5,  3,  7  ff.    urgiert  Schenkl  a.  O.    S.  633  ff.  80,    163    das 
Imperfekt,  aber  s.  S.  406,3  und  wxelto  Anab.    1,  4,  11.  Gerade  bei   einer  so 
persönlichen   Sache    war    das    Präsens    in    einer    Pseudonymen    Schrift    nicht 
am  Platze. 

4)  1,  8,  6.  18.  2,  2,  6.  4,  7,  15.  5,  4,  34;  sTi-fiXa-oiiev  7,  8,  25  gehört  zu 
einem  unechten  Stücke. 

5)  So  Plutarch.  glor.  Athen.  1  u.  Tzetz.  Chil.  7,  940  (Suidas  v.  Wefiiaxo- 
fivfiz  hält  diesen  irrtümlich  für  den  wirklichen  Verfasser  und  schreibt  ihm, 
wie  es  bei  verschiedenen  geschieht,  „andere"  Schriften  zu);  ebenso  Wester- 
mann ad  Voss.  bist.  Gr.  p.  53,  C.  Müller  fragm.  bist.  II  p.  74  u.  A. 
Jacobs  Vermischte  Schriften  VI  45  ff.  besonders  68  ff.  und  Bernhard  y 
zu  Suidas  glauben,  er  habe  Xenophons  Werk  herausgegeben  oder  ihn  sonst- 
wie unterstützt.  Andere  nehmen  zwei  verschiedene  Werke  an  (z.  B.  Schneider, 
Creuzer  historische  Kunst  S.  230,  zurückgenommen  Wiener  Jahrbb.  der 
Litteratur  122,  3,  und  Lincke  Hermes  17,  283). 


Xenophon.  439 

deutlich  hat  er  sich  sowohl  durch  den  Stil  als  durch  die 
Einzelheiten ,  die  ihn  persönlich  angehen ,  gekennzeichnet.  ^) 
Nächst  der  Selbstverherrlichung  leitete  den  Historiker  sicherlich 
der  (jedanke,  die  Pläne  des  Agesilaos  zu  fördern  und  den 
Wünschen  der  Patrioten,  welche  in  einem  Perserkrieg  das  Allheil- 
mittel für  die  innere  Zerrüttung  des  Vaterlandes  erblickten, 
entgegenzukommen,  indem  er  die  Hilflosigkeit  des  ungeheueren 
Reiches  an  einem  drastischen  Beispiel  darstellte.  Mag  auch 
Xenophon,  wenn  er  von  sich  oder  von  seinen  Feinden  redet, 
nicht  vollen  Glauben  verdienen,  so  haben  doch  die  Reisenden 
unserer  Zeit  der  geographischen  Genauigkeit  des  Geschichts- 
schreibers ein  günstiges  Zeugnis  ausgestellt.^)  Der  Historiker, 
welcher  eigene  Erlebnisse  schildert,  erzielt  in  der  Regel  grösseren 
Erfolg  bei  dem  Publikum  als  der  gelehrte;  die  Wirkung  der 
Anabasis  vollends  wurde  durch  die  Aufregung  verstärkt,  mit 
welcher  der  Leser  die  kühne  Schaar  alle  Gefahren,  die  in  der 
fremdartigen  Gegend  erheblich  gesteigert  erscheinen,  überwinden 
sieht,  bis  sie  endlich  wieder  zu  Landsleuten  gelangen.  So 
kommt  es ,  dass  die  letzten  Bücher  der  Anabasis ,  weil  die 
Spannung  gemindert  ist,  an  Reiz  weit  hinter  dem  Vorhergehenden 
zurückstehen. 


1)  Z.  B.  3,  1,  4  ff.  5,  3,  5  ff.  7,  8,  6.  23  ff.;  im  allgemeinen  K.  W. 
Krüger  de  authentia  et  integritate  Anabaseos  Xenophonteae,  Halle  1824  = 
kritische  Analekten  III.  (Berlin  1874)  S.  115  ff.  gegen  Sam.  Natb.  Morus, 
welcber  in  der  Leipziger  Ausgabe  von  1775  die  Echtheit  bestritt. 

2)  Ausser  Moltkes  „Briefen  aus  dem  Orient"  sind  zu  erwähnen  James 
ßennell  illustrations  of  the  history  of  the  expedition  of  Cyrus,  London 
1816,  übers,  von  Lion,  Göttingen  1825;  Karl  Koch  der  Zug  der  Zehn- 
tausend nach  X.  Anab.  geographisch  erläutert,  Leipzig  1850;  Gust.  Hertz- 
berg der  Feldzug  der  zehntausend  Griechen,  Halle  1861.  ^1870;  W.  Strecker 
u.  H.  Kiepert  Beiträge  zur  geographischen  Erklärung  des  ßückzuges  der 
Zehntausend,  Berlin  1870  (Ztsch.  der  Ges.  f.  Erdk.  IV.);  Kiepert  Ztsch. 
der  Gesellschaft  für  Erdkunde  18,  388;  F.  Eobiou  itineraire  des  Dix-mille, 
Paris  1873  (Bibl.  de  l'^c.  des  hautes  et.  fasc.  14);  ausserdem  W.  Voll  brecht 
Philol.  36,  349  ff.  u.  zur  Würdigung  und  Erklärung  von  Xenophons  Ana- 
basis, Eatzeburg  1880;  ders.,  die  Expedition  gegen  die  Drileu,  Philol.  35, 
446  ff.;  E.  A.  Richter  Jahrbb.  f.  Phil.  117,  601  ff.  und  Altes  und  neues 
zur  Expedition  Xenophons  in  das  Gebiet  der  Drilen,  Altenburg  1880; 
O.  Kämmel  die  Berichte  über  die  Schlacht  von  Kunaxa  Philol.  34,  516  ff. 
665  ff.;  W.  Mangelsdorf  zu  Xenophons  Bericht  über  die  Schlacht  bei 
Kunaxa,  Karlsruhe  1884. 


440  Dreizehntes  Kai>ite]. 

Um  dieser  Eigenschaft  willen   erwarb   sich   das   Buch   ein 
zahlreiches  Publikum,  zumal  unter  den  jüngeren  Altersklassen 
und  in  militärischen  Kreisen,  aber  auch  gelehrte  Leser  fehlten 
nicht,  welche  allerlei  zum  Teil   sachkundige  Zusätze   machten; 
mehrere  derselben  sind  dadurch  erkennbar,   dass   sie   nicht  in 
allen  Handschriften   überliefert  sind  ^).     Am   meisten  Wert  be- 
sitzt das  Verzeichnis  asiatischer  Völker,   Fürsten   und   Gouver- 
neure, welches  jetzt  das  Werk  abschliesst  ^).     Die  Abweichungen 
in  den  Truppenzahlen  ^)  dürften  dagegen  eher  durch  die  Nach- 
lässigkeit   der    Abschreiber    als    durch    Einschiebsel    veranlasst] 
sein.     Eine  buchhändlerische  Massregel  war   die  Einteilung    in,] 
Bücher,  deren  man  sieben  feststellte  ^).     Daran  knüpfte  sich  die] 
Einfügung  von  Rekapitulationen,  wobei,  wie  die  Codices  zeigen, 
verschiedene  Hände  thätig  waren  ^). 

Wie  die  Anabasis,  so  ist  auch  Xenophons  ,, griechisch! 
Geschichte"  ('EXXirjvtxd)^)  kein  rein  historisches  Werk,  sonderni 
eher    eine  Tendenzschrift.     Da    der  Verfasser    ein    Schlusswort 
beifügt,    darf   man    annehmen,    dass    er    dieses    Mal   mit    dei 

1)  Schenk  1  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  60,  595;  über  die  Inter'^ 
polalionen  im  allgemeinen  Krüger  a.  O.  S.  143  ff.  u.  E.  A.  Richter  krit 
Untersuchungen  über  die  Interpolationen  in  den  Schriften  Xenophons  voi 
zugsweise  der  Anabasis  u.  den  Hellenicis,  Leipzig  1873  (Jahrbb.  SupplJ 
6,  559  ff.). 

2)  Von  Krüger  S.  121  ff.  verworfen;  über  den  Wert  Schenkla.  O. 
696  f.  L  incke  Hermes  17,  285  f.;  Kiepert  Ztsch.  f.  Gymnasialweaen  5,2 
vermutet,  dass  es  aus  dem  Buche  von  Sophainetos  stammt. 

3)  Ritschi  Rhein.  Mus.  13,  136  ff.  =  Opusc.  I.  437  ff.;  Rud.  Nei 
b  e  r  t  de  Xenopbontis  anabasi  et  Diodori  ....  parte  bibliothecae,  Leipzig  I  SS 
p.  1—24. 

4)  Schon  bei  Athenaios  (Schenkl  a.  O.  60,  573,  l)    und    Diog.    2,  57| 

5)  Schenkl  a.  O.  60,  594,  vgl.  Lincke  Hermes  17,  284;  Birt  d« 
antike  Buchwesen  S.  464  ff.  Nur  das  sechste  Buch  entbehrt  eines  Proömiuma 
die  Interpolation,  welche  unsere  Ausgaben  c.  3  bieten,  fehlt  in  den  besseren  Hand 
Schriften.  Die  Proömien  wurden  zuerst  von  Jacob  üsserius  annales  veter 
et  novi  testameuti,  Genf  1722  p.  125  verworfen.  Ephoros  (Diod.  16,  76, 
scheint  solche  Rekapitulationen  eingeführt  zu  haben.  Wa.s  Georgios  Lekj 
penos  und  Phavorinos  angeblich  aus  der  Anabasis  anführen ,  ist  erfunde 
(Dindorf  ed.  Oxon.  p.  XXX;  Schenkl  a.  O.  S.  632  A.  1). 

6)  So    lautet    der   Titel    in    den    besten    Handschriften ;    andere    habe 
'EXXtjvixtj  toTopia,  'EXXfjvtxai  latopiai,  7tapaXeiit6|j.eva   "KXXfjvtxcüv  oder  'PjXXi 
vtxTjc;  loTopiac  oder  öooxo8i5ou,  vgl.  Bull,  de  corr.  hellen.   1878  p.  152;  'KXXirj« 
vixat  Harjwcr.  v.  ava^xalov;  loxoptat  Diodor.  16,  76,  4. 


Xenophon.  4^| 

Publikum  nicht  Verstecken  gespielt,  sondern  in  einem  Vor- 
worte, wie  es  üblich  war,  seinen  Namen  aufrichtig  genannt 
und  den  Plan  des  Werkes  dargelegt  hat.  In  dem  Zustande 
jedoch,  wie  es  uns  heute  vorliegt,  setzt  es  abgerissen  mit  \isza 
Ss  Taota  ein,  wodurch  die  Hellenika  zu  einer  unmittelbaren 
Fortsetzung  des  thukydid eischen  Werkes  geworden  sind.  Dass 
Xenophon  selbst  so  unselbständig  war,  wie  ein  mittelalterlicher 
Chronist  genau  dort  anzuknüpfen,  wo  den  Vorgänger  der  Tod 
von  der  Arbeit  abgerufen  hatte,  darf  man  nicht  glauben;  da 
nun  beide  Werke  nicht  genau  an  einander  passen  ^),  dürfte  dies 
ein  äusserer  Beweis  dafür  sein,  dass  ein  Späterer  Xenophons 
Werk  ungeschickt  verstümmelte,  um  eine  fortlaufende  Erzählung 
herzustellen.  Gab  ihm  dazu  der  Schriftsteller  selbst  ein  ge- 
wisses Recht,  indem  er  Thukydides'  Werk  fortführen  wollte"? 
Gewiss  nicht!  Denn  er  wich  beinahe  in  allen  Punkten  von 
seinem  Vorgänger  ab  (er  hielt  nur  an  der  Einfügung  politischer 
Reden  fest)  und  zuvörderst  wurde  die  allgemeine  Anlage  ver- 
ändert, weil  er  die  annalistische  Einteilung  des  Thukydides  auf- 
gab. Die  Alten  haben  nie  mehr  als  wir  besessen  ^).  Wie  viel 
verloren  gegangen  ist,  kann  man  nicht  erraten,  aber  es  scheint 
mir,  dass  Xeaophon  den  Fall  Athens  zum  Ausgangspunkte 
nahm,  während  die  vorhergehenden  Ereignisse  (etwa  seit  der 
sicilischen  Niederlage) ,  nur  damit  der  Zusammenhang  mit 
Thukydides  hergestellt  wäre,  kurz  geschildert  wurden. 

Die  Hellenika  machen  weder  dem  Charakter  noch  der 
historischen  Anlage  Xenophons  Ehre.  Er  schrieb  freilich  mit 
Ueberzeugung  und  nicht  aus  materiellen  Gründen  zur  Ehre 
des  spartanischen  Staates,  indes  überschreitet  seine  Anhänglich- 
keit an  diesen  die  erlaubten  Grenzen^)     Die  Spartaner  werden 

1)  Bü  chseusch  üt  z  Philol.  14,  508  ff.,  bestritten  von  Volckniar 
de  Xenophontis  Hellenicis,  Göttingen  1837  p.  27  1f.  u.  Breitenbach 
Philol.  2,  441  ff.  n,  in  seiner  Ausgabe  §  68  ff.;  vgl.  auch  Alfr,  Ludwig 
Jahrbb.  f.  Phil.  95,  151  ff.  Grosser  Jahrbb.  f.  Phil.  95,  737  ff. 

2)  Diod.  13,  42,  5.  Beide  Werke  vFurden  in  ein  Corpus  zusammen- 
gefügt, woraus  Diog.  2,  57  und  Marceil.  vit.  Thuc.  43  zu  erklären  sind. 
Grosser  Jahrbb.  f.  Phil.  105,  25  f.  nimmt  an  ,  dass  es  einen  zusammen- 
hängenden Auszug  von  Thukydides  und  den  Hellenika  gab;  nur  die  zweite 
Hälfte  desselben  soll  erhalten  sein. 

3)  W.  M  e  y  e  r  de  Xenophontis  Hellenicorum  auctoris  in  rebus  scribendis 
fide  et  usu,  Halle  1867;  Fellner  in  Historische  Untersuchungen  Arnold 
Schäfer  gewidmet,  Bonn  1882  S.  47  ff.  , 


442  Dreizehntes  Kapitel. 

Überall,  selbst  wenn  sie  die  ärgsten  Gewaltthaten  verüben '), 
mit  Rücksicht  behandelt;  ihre  Niederlagen  verschweigt  Xeno- 
phon  oder  beschönigt  die  Misserfolge,  so  dass  z.  B.  die  Schlacht 
von  Koroneia  wie  ein  entschiedener  Sieg  erscheint,  während  er 
knidischen  Niederlage  kaum  einige  Worte  widmet.  Die  Gottes- 
furcht der  spartanischen  Feldherrn  wird  geflissenthch  hervor- 
gehoben und  der  Leser  soll  sich  für  die  geringste  Kleinigkeit, 
die  Xenophons  Gönner  Agesilaos  angeht,  interessieren.  Der 
aber  dunkel  und  unklar  ist  und  Euphemismen  liebt,  wenn  es 
sich  um  Spartaner  handelt,  derselbe  drückt  sich  über  die 
Ausschreitungen  der  Demokraten  merkwürdig  klar  und  scharf 
aus;  diese  spielen  die  Tyrannen^)  und  hier,  nicht  bei  den 
Spartanern  sind  die  gehassten  ,,Harniosten"  zu  finden  ^).  Am 
schlimmsten  ergeht  es  den  ßöotiern,  weil  sie  es  gewagt  haben, 
Sparta  zu  besiegen :  Pelopidas  erscheint  ein  einziges  Mal  (7,l,33fF.) 
und  da  nur,  damit  er  als  Bittsteller  beim  Perserkönig  verächtlich 
gemacht  werde.  Der  lebende  Epaminondas  hat  Xenophon  keii^l 
Anerkennung  entringen  können,  bis  seii.i  Tod  den  Historiker  zu 
kärglichem  Lobe  bestimmte^).  Die  Befreiung  Messeniens  schweigt 
er  tot.  Der  in  militärischen  Dingen  sonst  so  beredte  Mann  spricht 
kaum  von  den  bedeutenden  Reformen  des  Epaminondas  ui^A 
Iphikrates ;  sie  wurden  ja  seinen  Parteigenossen  verderblich.  Sogar 
hinsichtlich  seiner  eigenen  Landsleute  richtet  Xenophon  sein 
Urteil  nach  ihrem  Verhalten:  -Er  behandelt  sie  gehässig^),  wo  sie 
den  Spartanern  widerstrebten  (selbst  Theramenes  ^  war  ihm  zu 
gemässigt),  milder  in  neutralen  Dingen,  obgleich  die  Thätigkeit 
des  Timotheos'')  und  Iphikrates  die  gebührende  Anerkennung 
nicht  findet,  wohlwollend  endlich,  so  lange  sie  mit  den  Spartanern 
verbündet  sind.  Es  stände  schlinmi  um  die  griechische  Ge- 
schichte jener  Zeit,  wenn  Xenophons  Hellenika  allein  erhalten 
wären. 


1)  Lysanders  Grausamkeit  wird  II  1,  31  f.  ausführlich  verteidigt;  an 
der  Gewaltthat  der  Dreissig  tragen  die  Spartaner  nicht  die  geringste  Schuld 
(II  3,  21). 

2)  Topavveüovxec  4,  4,  6. 

3)  4,  8,  8.  7,  1,  43.  3,  4. 

4)  Deiter  de  Epaminonda  Xenophonteo  et  Diodoreo,  Emden   1874. 

6)  Z.  B.  2,  2,  3.  10  u.  ö. 

G)  Vgl.  Pöhlig  der  Athener  Theramenes,  Jahrbb.  Suppl.  9,  *i24  ff. 

7)  Vgl.  Schäfer  Demosthenes  I  44  A.  1. 


Xenophon.  ^^q 

Diese  sittliche  Schwäche  ist  nicht  einmal  durch  literarische 
Vorzüge  verhüllt.  Durch  die  Hellenika  bekundet  Xenophon 
im  Gegenteil,  dass  ihm  der  historische  Sinn  abgeht.  In  der 
Anabasis  war  seine  Kleinmalerei,  weil  er  ein  beschränktes 
Thema  mit  gleichbleibender  Ausführlichkeit  behandelte,  nicht 
störend.  Sowie  er  sich  aber  mit  den  Ereignissen  eines  langen 
Zeitraumes  zu  beschäftigen  hatte,  stellte  sich  heraus,  dass  ihm 
die  Empfindung  für  das  Wichtige  mangelte.  Da  er  doch  in 
einem  massigen  Werke  (es  füllt  jetzt  sieben  Bücher)^)  die  Vor- 
kommnisse seit  411  bis  zur  Schlacht  bei  Mantineia,  also  von 
fast  fünfzig  Jahren  schildern  wollte,  musste  er  einzig  das  Be- 
deutungsvolle herausheben.  In  Wirklichkeit  bethätigt  Xenophon 
eine  auffallende  Vorliebe  für  Nebensachen,  wobei,  wie  oben  ge- 
sagt ist,  seine  persönliche  VorHebe  mitspielt.  Dagegen  tritt 
vieles  wichtige  ganz  zurück,  weil  es  kurz  oder  unklar  mitgeteilt 
wird.  Statt  dass  die  Stellung  der  leitenden  Mächte,  Sparta, 
Athen  und  Theben  stets  genau  markiert  wird,  erfahren  manche 
Kleinstaaten,  wie  Phleius,  eine  unverhältuismässige  Berück- 
sichtigung. Ein  solches  Gemisch  von  Nebensächlichem  und 
Notwendigem  kann  allerdings  nicht  einmal  massigen  Ansprüchen 
genügen,  ebenso  wenig  hat  es  aber  das  Aussehen  einer  Epitome 
eines  grösseren  Originals  ^).     Weil  derartige  Ungleichheiten  auch 


1)  Ueber  die  Bucheinteilung  Lewis  Classical  Museum  II  1  ff. ;  Arn. 
Schäfer  Jahrbb.  f.  Phil.  101,  527  (Er  weist  nach,  dass  es  wahrscheinlich 
auch  in  neun  Büchern  eingeteilt  wurde). 

2)  Teil  Philol.  10,  567  f.,  Campe  Einl.  zur  Uebersetzung  von  Xen. 
griech.  Gesch.  1856  S.  8,  besonders  KoTcpiavoc  ^tspl  xoiv  'EXXir]vtv.üiv  toö 
Scvocpcüvxoc ,  Athen  1859  und  OtXbxcup  11  339  ff.,  D  ittrich-Fabricius 
Jahrbb.  f.  Phil.  93,  455  ff.  95,  721  ff.;  die  Hypothese  beruht  hauptsächlich 
auf  dem  ,, Ergebnis"  der  Quellenforschung,  dass  Plutarch  und  Diodor  voll- 
ständigere Hellenika  gehabt  hätten  (Eich,  Grosser  Jahrbb.  f.  Phil.  93, 
7  21  ff.  95,  737  ff.  105,  723  ff.  zur  Charakteristik  der  Epitome  von  Xenophons 
Hellenica,  Barmen  1873,  Ztsch.  f.  Gymnasialw.  30,  257  ff.);  aber  s.  über 
Diodor  Volquaidsen  Unters,  über  die  Quellen  der  griech.  u.  sicil.  Ge- 
schichten bei  Diodor,  Kiel  1868  u.  Collmann  de  Diodori  Sic.  fontibiis,  Mar- 
burg 1869,  über  Plutarch  Herm.  Stedefeldt  de  Lysandri  Plutarchei  fou- 
tibus,  Bonn  1867  u.  Büchsenschütz  Jahrbb.  f.  Philol.  103,217  ff.  Weitere 
Literatur  verzeichnet  Otfr.  Schambach  Unters,  ü.  Xenophons  Hellenika, 
Jena  1871  S.  7.  Vgl.  J.  Hänel  besitzen  wir  Xenophons  hellenische  Ge- 
schichte nur  im  Auszuge?  Berlin  1872  ;  Breitenbach  Rhein.  Mus.  27, 
497  ff.;  W.  Vollbreoht  de  Xenophoutis  Hellenicis  in  epitomen  non  coactis. 


444  Dreizehntes  Kapitel. 

den  ersten  Teil  des  Werkes  entstellen,  kann  dieser  gleichfalls 
nicht  in  verkürzter  Fassung  vorliegen.  Der  Unterschied  der 
Teile  besteht  nur  darin,  dass  Xenophon,  bevor  er  sich  aus 
Athen  entfernte,  hauptsächlich  auf  das,  was  er  dort  hörte,  be- 
schränkt war,  während  später  die  Q.uellen  über  das  Spartanische 
reichlich  flössen;  der  Schriftsteller  schöpft  also  mehr  aus  dem 
Vollen,  was  seiner  Darstellung  mehr  Lebhaftigkeit  und  An- 
schaulichkeit verleiht.  In  Hinsicht  auf  den  Stil  endlich  verdient 
das  Werk  gleichfalls  kein  Lob.  Sorgsame  Beobachtungen  haben 
aus  dem  Sprachgebrauch  dargethan,  dass  Xenophon  an  den 
Hellen ika  nicht  in  einem  Zuge,  sondern  mit  längeren  Unter- 
brechungen arbeitete.  Indes  ist  die  scharfe  Sonderung  der 
Abschnitte  unthunlich,  weil  er  selbst  ohne  die  geringste  Pause 
erzählt  und  Perioden  nicht  unterscheidet  ^).  Da  der  Historiker 
in  der  Anabasis  (2,  6,  4)  den  Leser  offenbar  auf  die  Hellenika 
verweist,  ohne  das  dort  gegebene  Versprechen  zu  erfüllen,  war 
er  damals  bereits  mit  den  Vorarbeiten  beschäftigt  ^).  Er  schrieb 
noch  im  Jahre  359  (S.  435)  daran.  Dank  der  Länge  seines 
Lebens  war  Xenophon  glücklicher  als  Thukydides,  insofern  als 
er  sein  Werk  zu  Ende  brachte.     Die  Fortsetzung  überliess  der 


Hannover  1874  (Diss.  v.  Göttingen).  Nur  die  zwei  ersten  Bücher  hält 
Sehen  kl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  60,  632  f.  für  Excerpte,  indem  er 
sich  auf  Auab.  2,  6,  4  (aXXip  '^ifpaKzai)  beruft,  vgl.  jedoch  über  das  Perfekt 
Bernhardy  Gnindiiffs  der  griech.  Litteratur  11'  1,  210. 

1)  Zuerst  wurde  Niebuhr  Khein.  Mus.  I  194  ff.  (mit  Nachtrag  kleine 
bist,  und  philol.  Schriften  I  S.  464  ff.,  vgl.  dazu  Delbrück  Xenophon 
S.  179  ff.;  Krüger  historischphilol.  Studien  I  244  fi'. ;  A.  Lipsius  über 
den  einheitlichen  Charakter  der  Hellenika  des  Xenophon,  Luckau  1857)  zur 
Unterscheidung  von  zwei  Teilen  veranlasst;  W.  Nitsche  über  die  Abfassung 
von  Xenophons  Hellenika,  Berlin  1871  (vgl.  Fr.  Rosenstiel  de  Xeno- 
phontis  historiae  Graecae  parte  bis  edita,  Diss.  v.  Göttingen,  Jena  1882) 
scheidet  I  —  VI  (angeblich  SSVs  verfasst)  und  V  2  —  VH.,  Grosser  a.  O. 
S.  737  ff.  I  —  n  3,  10;  n  3,  11  —  V  3;  V  4  —  VII.,  Dittenberger 
Hermes  16,  330  A.  2  ebenso  ausser  dass  er  den  zweiten  Teil  mit  V  1  be- 
schliesst,  was  auch  Roquette  (de  Xenophontis  vita)  thut.  Nach  H.  Sauppe 
Nachrichten  von  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  1882  S.  297  ff.  ist  VH  2  gleich- 
zeitig mit  dem  ersten  Teile  verfasst. 

2)  Die  Verschiedenheit  von  Hell.  3,  1,  1  und  Anab.  1,  2,  21  fällt  den 
Abschreibern  zur  Last;  Anab,  1,  1,  1  zeigt  nur,  dass  Hell.  2,  1,  9  u>5 
äppu>otd)v  nicht  ein  erdichteter  Vorwand  war. 


Xenophon.  ^^g 

Greis  in  dem  Schlussworte,    das   vielleicht   auf  die  Wirren  des 
heiligen  Krieges  anspielt,  ausdrücklich  einem  Anderen  i). 

Diese  Hoffnung  wurde  nicht  vor  dem  fünfzehnten  Jahr- 
hundert erfüllt,  wo  der  bekannte  Philosoph  Gemistos  Plethon 
zwei  Bücher  hinzufügte;  es  ist  also  nicht  zu  verkennen,  dass 
die  Hellenika  den  Männern  von  Fach  missfielen  2).  Erst  als 
man  so  ausführliche  Werke  wie  Theopomps  Geschichte  nicht 
mehr  liebte  und  die  Mode  die  eigenthchen  Attiker  einseitig 
bevorzugte,  trug  Xenophon  den  Sieg  über  den  Nebenbuhler  so 
entschieden  davon,  dass  manche  Kritiker  die  Hellenika  als 
klassisches  Geschichtswerk  anpriesen  ^).  Weil  sich  aber  bei  einer 
gründhchen  Lektüre  herausstellte,  dass  die  Kriegsjahre  ober- 
flächlich und  nicht  scharf  gesondert  seien,  suchten  gelehrte 
Leser  diesem  Mangel  durch  Einschiebsel  abzuhelfen,  weshalb 
wiederholt  Bemerkungen  über  die  eponymen  Beamten  eines 
Jahres  eingefügt  sind.  Da  jedoch  Xenophon  eine  bestimmte 
Ordnung  der  Ereignisse  nicht  einhielt,  bHeben  dem  Interpolator 
Missgriffe  nicht  erspart*).  Zu  diesen  annahstischen  Angaben 
traten  manche  synchronistische  Notizen,  welche  Ereignisse  in 
Asien,  SiciHen  und  Thessalien  betreffen  und  aus  guten  Quellen 
entlehnt  sind  %     Die  Angaben  über  Tempelbrände  und  Wunder- 


1)  Nach  Wyttenbach  ecl.  hist.  p.  X ,  Sauppe  Xenoph.  opp.  IV 
p.  X  flf.,  Didotausgabe  p.  5  und  Breitenbach  Xenophons  Hellenika  I- 
p.  XXIX  §  56  sind  die  Hellenika  unfertig  im  Koncept  hinterlassen. 

2)  Nach  Polion  (Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  10,  3,  6)  beutete  Theo, 
pompös  die  Hellenika  aus;  natürlich  musste  vieles  beiden  Werken  ge- 
meinsam sein. 

3)  Dionys.  epist.  ad  Pomp.  4,  2.  Diodor.  1,  37,  4  (hier  wird  er  gar 
Thukydides  an  Glaubwürdigkeit  gleichgestellt).  Lucian,  hist.  conscrib.  39. 

4)  Diese  Interpolationen  wurden  zuerst  von  H.  Dodwell  und  Marsham 
(Fabr.-Harles  b.  G.  III  9)  erkannt.  G.  R,  Sievers  commentatt.  histor.  de 
Xenophontis  Hellenicis  I.  Berlin  1833  p.  107  ff.;  C.  Aug.  Brückner  de 
notationibus  annorum  in  Historia  Graeca  Xenophontis  suspectis,  Pr.  v. 
Schweiduitz  1838;  Dindorf  in  der  Oxforder  Ausgabe;  (verteidigt  von  Emil 
Müll  er  de  Xenophontis  historiae  Graecae  parte  priore,  Leipzig  1856  S.  20  f.); 
Breite  nbach  Jahrbb.  f.  Philol.  105,  80.  89.  Ueberhaupt  alle  Jahresanfänge 
(TU)   8'aXX(u  zzti  u.  dgl.)  verwirft  J.  Beloch  Philol.  43,  261  ff. 

6)  I  1,  37.  2,  19.  5,  21.  II  1,  8  f.  2,  14,  immer  am  Ende  des  Jahres, 
abweichend  II  3,  4.  5.  Vgl.  Riemann  qua  rei  criticae  tractandae  ratione 
Hellenicon  Xenophontis  textus  constituendus  sit,  Paris  1879  p.  59  flf.  G,  F. 
Unger    die    bi.storische  Glosseme    in    Xenophons  Hellenika,    München  1882 


446  Dreizehntes  Kapitel. 

zeichen^)  passen  so  vortrefflich  für  Xenophon,  dass  ich  keinen 
Grund  für  die  Verwerfung  sehe;  ebenso  ist  gegen  die  Verzeich 
nisse  der  spartanischen  Ephoren  und  der  athenischen  Dreissig 
männer  schwerlich  etwas  einzuwenden^). 

Darf  man  auch  diese  zwei  Schriften,  die  Anabasis  und  die 
Hellenika,  nicht  als  das  Ergebnis  unbefangener,  absichtsloser 
Forscliung  bezeichnen,  so  wahrte  doch  der  Verfasser  die  Form 
wirklicher  Geschichtswei^ke.  Bei  allem  übrigen  dagegen,  was 
Xenophon  schrieb,  verhehlte  er  nicht,  dass  ihn  eine  be- 
wusste  Absicht  zur  Veröffentlichung  der  einzelnen  Schriften  be- 
wog.  Des  lehrhaften  Charakters  ermangelt  nur  eine  kleine 
Abhandlung,  welche  vielmehr  Xenophons  königlichen  Gönner 
verherrlichen  sollte. 

Seit  der  Nekrolog  von  Isokrates  in  die  Literatur  eingeführt 
war,  hatte  sich  diese  Gattung  in  kurzer  Zeit  rasch  beliebt  ge- 
macht. Xenophon,  der  beim  Tod  des  Gryllos  selbst  mit  der- 
artigen Produkten  geehrt  worden  war,  konnte  daher  nicM 
umhin,  wie  andere,^)  dem  Agesilaos  als  Zeichen  des  Dankes 
einen  literarischen  Nachruf  zu  widmen.  Der  ,, Agesilaos"  zeij 
nun,  dass  Xenophon  die  Technik  des  Enkomions  bloss  ob 
flächlich  sich  aneignete  und  im  epideiktischen  Stile  ungeü 
war.  Jeder  Schüler  des  Isokrates  hätte  die  typischen  Forme 
gewandter  gehandhabt  als  der  greise  Historiker,  welcher  das 
Enkomion  behandelte,  wie  wenn  es  eine  Episode  in  einem 
Geschieh ts werke  bilden  sollte.  Dies  zeigt  bestimmt,  dass  der 
„Agesilaos"  wirklich  von  Xenophon  herrührt  und  nicht  von 
irgend  einem  Rhetor  verfasst  ist"*).     Die  Sprache  stimmt  eben- 


elP 


(Sitzungsber.  der  Akad.),  auch  Teil  Philol.  10,  567  fl".  und  Campe  in  seiner 
Uebersetzung,  Stuttgart  1856. 

1)  I  3,  1.  6,  1. 

2)  II  3,  2  f.  10.     J.  Beloch  verwirft  beides. 

3)  Ps.  Isoer.  epist.  9,  1. 

4)  Der  Agesilaos  wurde  zuerst  von  Valckenaer  diatribe  IX.  ad  Herod. 
3,  134.  9,  27  u.  ad  Phalar.  epist.  p  320  (350)  verworfen.  Die  ältere  Literatur 
verzeichnet  Sauppe  ed.  stereot.  1866  V  p.  125  fi. ;  später  verteidigten  die 
Echtheit  Ad.  G  r  u  n  o  de  Agesilai  qui  fertur  Xeuophontei  elocutione  atque 
dictioue,  Pr.  v.  Neustadt  -  Eberswalde  1873  uud  Bergk  fünf  Abhandl.  zur 
Gesch.  der  griech.  Philos.  S.  8  f.  Die  Unechtheit  vertreten  Gerb.  Terwelp 
de  Agesilai  qui  Xenophontis  nomine  fertur  auctore,  Münster  1873;  Ad. 
Sachse  über  Xenophons  Agesilaus,  Göttingen  1875  (Diss.  v.  Jena);  M.  Evers 
Xenophon  quomodo  Agesilai  mores  desciipserit,  I.  Düsseldorf  1883;  über  die_l 

I 


Xenophon.  ^^n 

falls  mit  der  der  sicher  echten  Werke  überein,  wenngleich 
Xenophon  in  manchem  rhetorischer  als  gewöhnlich  zu  sprechen 
sich  bemüht,  z.  B.  wendet  er  die  gorgianische  Regel,  die  Wörter 
unverändert  oder  doch  ankhngend  zu  wiederholen,  an^).  Was 
das  Historische  betrifft,  so  weicht  der  „Agesilaos"  allerdings  in 
einigem  von  den  Hellenika  ab  ^y,  indes  sind  diese  Verschieden- 
heiten derart,  dass  sie  nur  zeigen,  Xenophon  verstehe  nicht 
schlechter  als  die  professionsmässigen  Panegyriker  dfen  Stoff 
für  seine  Zwecke  umzumodeln.  Endlich  hat  der  Verfasser  das 
Haus  des  Agesilaos  selbst  gesehen  (8,  7).  Es  bleibt  also  nur 
ein  wirklich  angreifbarer  Punkt,  ^)  die  fast  wörtliche  Ueberein- 
stimmung  ganzer  Abschnitte  und  der  Stellen  der  Hellenika, 
welche  Agesilaos  angehen.  Sieht  man  jedoch  näher  zu,  so  be- 
merkt man,  dass  die  Uebereinstimmung  bloss  den  ersten  Teil 
der  Hellenika  betrifft^)  und  die  kleinen  stiHstischen  Varianten 
nach  den  neuesten  Untersuchungen  eher  zu  Gunsten  des 
„Agesilaos"  sprechen.  Demnach  hat  Xenophon  den  ,, Agesilaos" 
bereits  ausgearbeitet,  als  die  Hellenika  noch  unvollendet  in 
seinem  Pulte  lagen.  Manche  Störungen  der  Disposition,  be- 
sonders die  Einmischung  ungehöriger  Dinge  und  die  Vergess- 
lichkeit,  welche  verschuldet  hat,  dass  das  §  2  versprochene 
Urteil  ausbleibt,  können  recht  gut  dem  alten  Manne  selbst  zu- 
getraut werden.  Mit  dem  ,,Euagoras"  des  Isokrates  zusammen- 
gestellt, zeigt  der  „Agesilaos",  wie  aus  einem  rein  rhetorischen 
Nekrologe  allmälich  die  historische  Biographie  erwuchs,  deren 
Ursprung  sich  noch   darin   äussert,    dass   sie  in  panegyrischer 

eigentümliche  Ansicht  von  Hub.  Beck  haus  de  Xenophon  teo  qui  fertur  Age- 
silao,  Berlin  1863  s.  u. 

1)  lieber  die  Sprache  Gruno  a.  O.  K.  Kyovsky  stilistische  Eigen- 
tümlichkeiten in  Xenophous  Agesilaos,  Pilsen  1884;  über  die  Gorgianismen 
u.  Ä.  Terwelp  p.  56  ff. 

2)  Herrn.  Hagen  quaestionum  Xenophontearum  fasc.  I.  de  Xenophonteo 
qui  fertur  Agesilao,  Bern  1865;  Sachse  a.  O.  p.  16  ff. 

3)  Es  ist  nicht  wahr,  dass  vor  Cicero  (epist.  5,  12)  die  Schrift  nicht 
citiert  v^ird  (die  späteren  testimonia  sind  in  den  Ausgaben  von  Baumgarten 
und  Heiland  und  in  der  Dissertation  Hagens  p.  5  ff.  gesammelt).  Der  Perieget 
Polemon  schrieb  uspl  xoo  Trcxpa  Ssvotpdüvxi  v-avad-poo  (Athen.  4,  138  e),  d.  h. 
über  Ages.  8,  7  ;  Dikaiarchos  scheint  die  Schrift  bereits  berührt  zu  haben 
(Plutarch,  Ages.  19,  5).  Bergk  a.  O.  bezieht  sogar  Plato  Theaet.  175  d  ff.  auf 
unsere  Schrift,  was  E.  Rohde  Götting.  Gel.  Anz.   1884  S.  14  widerlegt. 

4)  B  r  e  1 1  e  u  b  a  c  h  HeUeuika  II  p.  LVI  A. 


448  Dreizehntes  Kapitel. 

Absicht  geschrieben  ist,  wie  z.  B.  auch  Timonides  oder  Simo- 
nides, ein  Genosse  Dions,  dessen  Leben  schilderte.*) 

Sonst  hat  Xenophon,  wie  gesagt,  nur  lehrhafte  Schriften 
verfasst,  von  welchen  die  grösseren  erzählende  Form  haben, 
während  bei  den  kleineren  Aufsätzen  Xenophon  in  eigener 
Person  spricht. 

Von  jener  Gattung,  wo  Sokrates  und  Kyros  von  Xenophon 
als  Musterbilder  aufgestellt  werden,  nähert  sich  den  historischen 
Schriften  am  meisten  die  sogenannte  Kyropädie  (Kopoo 
TuatSsia).^)  Nicht  als  ob  sie  Xenophon  selbst  für  ein  wirkliches 
Geschichtswerk  ausgegeben  oder  die  Alten  sie  in  diesem  Sinne 
gelesen  hätten!  ^)  Doch  behielt  er  die  äusseren  Formen  der 
Geschichtsschreibung  bei,  auch  verwertete  er  für  die  Schilderung 
des  persischen  Staates  die  Erfahrungen^  welche  er  auf  seinem 
Zuge  gemacht  hatte ;  er  kannte  auch  die  Werke  des  Herodot^) 
und  Ktesias  und  mag  manche  mündhche  üeberlieferung  gehört 
haben.'')  Aber  das  Historische,  das  übrigens  nicht  gründlich 
gearbeitet  war,^)  bildete  nur  die  äussere  Dekoration  einer  Lehr- 
schrift. Obgleich  Herodot  die  Organisation  des  persischen 
Reiches  Dareios  zugewiesen  hatte,  nahm  Kyros  bei  den  grie- 
chischen Philosophen  diese  Stelle  ein,  weil  Dareios  den  Griechen 
wegen  Marathon  verhasst  war;  auch  die  Erzählungen  der 
Perser  stellten  Kyros   in  glänzendes  Licht.     So   gedenkt  Plato 


1)  Plutarch.  Dio  22.  31.  36,  dem  Speusippos  gewidmet  Diog.  4,  5. 

2)  Die  Alten  eitleren  häufig  nur  ev  itatSeia  z.  B.  Athen.  8,  368a.  37  3d; 
«atSstac  Küpou  Gell.  14,  3,  3;  iraiSelat  Max.  Planud.  Walz  V  444,  5.  Der 
unglückliche  Titel  stammt  aus  I  1,  6.  flemardinquer  la  Cyropedie, 
Paris  1872  ;  L  ö  h  1  e  der  Charakter  des  Cyrus  nach  Xenophons  Cyr.,  Tauber- 
bischofsheim 1876—76. 

3)  Z.  B.  Cic.  ad  Qu.  1,  1,  8  Cyrus  ille  a  Xenophoute  non  ad  historiae 
fidem  scriptus.  Hieronymus'  Ansicht  hat  dagegen  keinen  Wert.  Max 
Büdinger  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  92,  216  ff,  u,  96,  477  ö".  be- 
trachtet die  Kyropädie  als  historische  Quelle,  A,  Gylden  de  Cyropaediue 
Xen,  fide  historica,  Helsingfors  1828;  O.  Isensee  der  geschichtliche  Wert 
von  Xenophons  K.,  Schleusingen  1868;  Ferd.Seelmanu  de  historica  Xeuo- 
phontis  in  institutione  Cyri  fide,  Potsdam  1870. 

4)  Schubert  Geschichte  der  Könige  von  Lydien,  S.  119. 

5)  I  2,  1  beruft  er  sich  auf  persische  Lieder;  die  Mischung  von  Wahr 
heit  und  Dichtung  deuten  die  Worte  an  ooa  ouv  xal  sjtud'öfi.EO-a  v.a.\  Tgo^Tjod«'. 
8üxoö}j.ev  nspi  aöxoö,  xaüta  neipaoop-Ed-a  Sifjf "JjoaaS-at  I  1,  6. 

6)  Nöldeke  Hermes  6,  466  f. 


Xenophon.  ^g 

seiner  wiederholt  mit  Ehren,  Antisthenes  benannte  philo- 
sophische Dialoge  nach  ihm  und  unser  Xenophon  wusste  keinen 
besseren  Namen  für  das  Ideal  eines  guten  Regenten  als  den 
des  Kyros.  Das  Musterbild  eines  Herrschers  verspricht  Xeno- 
phon selbst  zugeben;^)  da  aber  ein  unbefangener  Republikaner 
die  Vorteile  der  Alleinherrschaft  zunächst  hinsichtlich  des  Krieges 
anerkannte  und  dieses  Gebiet  Xenophon  persönhch  nahe  lag, 
gestaltet  sich  die  Kyropädie  zur  Schilderung  eines  musterhaften 
Kriegsherrn.^)  Darum  lasen  die  römischen  Offiziere,  unter 
welchen  Scipio  Africanus,  dessen  Lieblingsbuch  sie  war,  ^)  und 
Lucullus  Erwähnung  verdienen,  das  Werk;  auch  Macchiavelli 
fasste  es  so  auf,  als  er  mit  der  Vita  di  Castruccio  Castracani 
Xenophon  zu  überbieten  gedachte.  In  der  Darstellungsweise 
will  sich  Xenophon  offenbar  an  Herodot  und  Ktesias,  indem 
er  zahlreiche  Episoden,  Gespräche  und  Anekdoten  einflicht, 
anschliessen ;  selbst  eine  Liebesgeschichte  „Abradatas  und 
Pantheia",  zu  welcher  wahrscheinlich  Ktesias  den  Anstoss  gab, 
findet  in  dem  Buche  einen  Platz  und  dürfte  die  Veranlassung 
gewesen  sein,  warum  man  Xenophon  in  der  Kaiserzeit  mehrere 
Romane  beilegte.  ^)  Leider  sind  solche  anziehende  Episoden 
gar  nicht  häufig,  vielmehr  wird  er  den  dozierenden  pedantischen 
Ton  selten  los.  Trotzdem  hatte  die  Kyropädie  im  siebzehnten 
Jahrhundert,  gerade  wie  bei  den  Byzantinern,  grossen  Erfolg 
und  rief  zahlreiche  ,, philosophische  Romane"  hervor,  welche, 
in  Frankreich  entstanden  und  besonders  von  der  Scudery  ge- 
pflegt,  rasch  die  Nachbarländer  überschwemmten. 

Xenophon  stellte  also  Kyros'  Handlungsweise  zur  Nach- 
ahmung dar.  Musste  indes  nicht  ein  denkender  Leser  an  ihrer 
dauernden  NützHchkeit  zweifeln,  wenn  er  auf  die  damalige  Zer- 
rüttung des  persischen  Reiches  bHckte?    Darum  fügte  Xenophon 


1)  I  1,  3,  woraus  Dionys.  de  Plat.  4,  Gell.  noct.  Att.  14,  3,  3  und  Max. 
Planud.  Walz  rhet.  V  444,  4  ff.  schöpfen;  die  eigentliche  Einrichtung  des 
Reiches  wird  fast  nur  gestreift  (VII  5,  70—86.  VIII  1.  2). 

2)  Ad.  Nicolai  Xenophons  Cyropädie  und  seine  Ansichten  vom  Staate, 
Progr.  V.  Bernburg  1867  und  „zur  Literatur  über  Xenophon",  Cöthen  1880 
A.  3  betont  diese  Seite  etwas  schroff.  Cicero  ad  Qu.  fr.  1,  1,  8  sagt  richtig: 
effigiem  justi  imperii. 

3)  Cic2ro  a.  O. 

4)  Kohde  der  griechische  Koman  S.  346  A.  2. 

29 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur. U. 


450  Dreizehntes  Kapitel. 

eineD  Epilog  bei,  worin  er  den  einstigen  und  den  jetzigen  Zu- 
stand verglich.  Natürlich  kam  er  zu  dem  Schlüsse,  dass  die 
Perser  körperlich  und  geistig  herabgekommen  seien;  zwischen 
den  Zeilen  kann  man  lesen:  ,,Also  ist  ein  Angriff  ohne 
Schwierigkeit."  ^)  Der  Epilog  erstrebt  also  dasselbe  Ziel  wie  die 
Anabasis. 

Dem  Ideal  des  Alleinherrschers  stellte  Xenophon  das 
Musterbild  des  einfachen  Bürgers  gegenüber,  wozu  er  keine 
bald  sagenhafte  Person  der  Vergangenheit  auswählte,  sondern 
seinen  verehrten  Lehrer  Sokrates.  Doch  verfolgte  er  noch  ein 
anderes  Ziel,  wenn  er  ,j^Erinnerungen  an  Sokrates" 
(a7ropYj[JLOV£u{AaTa)  ^)  herausgab.  Sokrates'  Verurteilung  war  ja 
ein  Thema,  dass  in  Athen  sowohl  mündlich  öfter  zur  Sprache 
kam  als  besonders  in  der  Literatur  von  verschiedenen  Stand- 
punkten erörtert  wurde.  Auf  der  einen  Seite  standen  gewandte 
Dialektiker,  unter  welchen  Polykrates  durch  des  Isokrates 
ßusiris  bekannt  ist  (S.  73),  auf  der  anderen  Rhetoren  gleicher 
Quahtät  (wie  Lysias)  und  die  Sokratiker.  Auch  Xeoophon 
fehlte  unter  den  Verteidigern  seines  Lehrers  nicht.  Obgleich 
er  sich  in  der  Einleitung  gegen  „den  Ankläger"  wendete,  als 
ob  er  nur  Meletos  vor  sich  hätte,  steht  es  doch  fast  sicher, 
dass  er  die  Anklagerede  des  Polykrates  kannte  und  berücksich- 
tigte;^)   wahrscheinlich   nahm   er  sogar  auf   mehrere    ähnliche, 


1)  Dav.  Schulz  de  Cyropaediae  ultimo  capite  quod  non  Xenophontia 
esse  probatur,  Halle  1806,  dem  Diodorf  und  Schenkl  Jahrbb.  f.  Phil.  88J 
540  ff.  beistimmen,  verwirft  den  Epilog;  mit  Recht  verteidigen  ihn  Friedr^ 
Bornemann  der  Epilog  der  Cyropädie  von  Xenophon,  Leipzig  1819,  Brei-^ 
tenbach  in  seiner  Ausgabe  u.  Cobet  Mnemos.  nov.  s.  III  66  ff.  Ander 
ansehnliche  Interpolationen  sucht  Carl  Lincke  de  Xenophontis  Cyropaediae 
interpolationibus,  Berlin  1874  nachzuweisen. 

2)  E.  Köpke  über  die  Gattung  der  a7ro}j.vY)|xoveujJLaxa,  Jahrbb.  f.  Phil. 
79  (1859)  S.  10  ff.  436  ff.  Gellius  (14,  3,  5)  übersetzt  den  Titel:  dictorumj 
atque  factorum  Socratis  commentarios.  Ungewöhnlich  Schol.  Aristid.  p.  718,  6J 
ev  Tol?  a7to(pfl"6Y}i.aot  Scuxpaxoüc.  Lud.  Dissen  de  philosophia  morali  in  Xen.i 
de  Socr.  commentariis  tradita,  Gott.  1812  =  kleine  lat.  u.  deutsche  Schriften^ 
S.  59  ff.     G.  Cobet  prosopographia  Xenophontea,  Leiden  1836. 

3)  Ueber  Alkibiades  vgl.  Isoer.    Bus.  6;    mit  I  2,  58    stelle   man  Schol.  | 
Aristid.    p.   480,   29    zusammen.     Vgl.    Cobet    nov.    lect.    1863    p.   662    ff.i 
Schenkl   Sitzuugsber.    der    Wiener    Akad.    80,    87  ff.    u.    Xenophontische| 
Studien  II  Kap.  1   (bestritten  von  B  r  e  i  t  e  n  b  a  c  h  Jahrbb.  f.  Phil.  99,  801  ff. 
116,  465  ff.). 


Xenophon.  452 

Schriften  (14,  1)  Bezug.  Allerdings  war  Xenophon  nicht  so 
pedantisch,  die  Anklagepunkte  des  Meletos  von  denen  des  Poly- 
krates  genau  zu  scheiden,  sondern  er  wählte  der  Lebhaftigkeit 
und  der  grösseren  moralischen  Bedeutung  wegen  die  gesprochene 
Anklage  zur  Zielscheibe  seiner  Polemik.^)  Die  formelle  Wider- 
legung der  Anklage  nun  enthalten  die  zwei  ersten  Kapitel. 
Weil  aber  Xenophon  überhaupt  darlegen  will,  wie  nützlich 
Sokrates'  Rat  uhd  Lehre  für  alle  Seiten  des  bürgerlichen  Lebens 
war,  erzählt  er,  nachdem  er  ein  allgemeines  Charakterbild  des 
Philosophen  entworfen,  zahlreiche  Beispiele  aus  seiner  eigenen 
Erinnerung,  wie  durch  ,,ich  weiss,  ich  hörte  einmal"  und  ähn- 
liche Wendungen  angedeutet  wird.  Daher  fallen  alle  mitge- 
teilten Gespräche  und  Anekdoten  in  die  Zeit ,  wo  Xenophon 
persönlich  um  Sokrates  war.'^)  Bloss  bei  einigen  Episoden  be- 
ruft er  sich  auf  Berichterstatter.  Innerhalb  der  vier  Bücher, 
welchen  man  jetzt  den  Titel  ,, Erinnerungen"  im  besonderen  gibt, 
nehmen  Zwiegespräche  des  Sokrates  und  bestimmter  Personen 
den  grössten  Raum  ein;  nur  manchmal,  häufiger  im  vierten 
Buche,  fasst  Xenophon  selbst  in  kurzen  Worten  zusammen, 
wie  sich  Sokrates  einer  gewissen  Gruppe  gleichartiger  Fälle  oder 
einer  ganzen  Klasse  von  Menschen  gegenüber  verhielt.  ^)  Hie 
und  da  wird  man  eine  bewusste  Ordnung  der  Erzählungen  ge- 
wahr, z.  B.  sind  die  dem  politischen  Leben  geltenden  Rat- 
schläge, bei  welchen  Xenophon  natürlich  die  militärischen 
Würden  hervorhebt,  in  einen  Abschnitt  (III  1 — 7)  zusammen- 
gestellt. Sonst  findet  man  fast  nur  Gruppen  von  zwei  oder 
drei  Abschnitten.  Dieser  Mangel  einer  Disposition  hat  solche, 
welche  von  Xenophon  eine  zu  vorteilhafte  Meinung  haben, 
angereizt,  bedeutende  Stücke  auszuscheiden,  damit  ein  Zu- 
sammenhang hergestellt  werde  i"^)  die  Schuld  an  der  Verwirrung 
soll  ein  späterer  Bearbeiter  tragen.^)     Von  grösserer  Bedeutung 


1)  Daher  gebraucht  er  stets  den  Singular:  6  xaz-i]fopoz,  stf-q  u.  dgl. 

2)  Vgl.  über  die  Frage  Jul.  Sander  Bemerkungen  zu  Xenophons  Be- 
richten über  Leben  und  Lehre  des  Sokrates,  Jahrbuch  des  Pädagogiums  in 
Magdeburg  1884  S.  17  ö. 

3)  Deshalb  wahrscheinlich  meint  Bergk  Philol.  14,  181,  das  Werk  sei 
zum  Teil  im  Auszuge  überliefert. 

4)  Dindorf  in  der  Oxforder  Ausgabe  p.  VII  ff,  (Er  verwirft  IV  3—5.  8). 

5)  Sehen  kl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  80,  115  ff.,  noch  kühner 
Aug.  Krohu  Sokrates  und  Xenophon,  Halle  1875. 

29* 


452  Dreizehntes  Kapitel. 


1 


ist  die  in  die  Geschichte  der  Philosophie  tief  eingreifend« 
Frage,  ob  Xenophon  die  Lehren  des  Sokrates  treulich  geschildert 
habe  oder  (wie  man  das  Problem  gewöhnlich  fasst)  ob  treuer 
als  Plato.  ^)  Philosophische  Untersuchungen  werden  hierüber 
nicht  so  zur  Klarheit  führen  wie  eine  Erwägung  der  Persön- 
lichkeit und  der  Absichten  Xenophons.  Obgleich  er  mit  Sokrates 
mehrere  Jahre  verkehrte,  war  er  ebenso  wenig  wie  z.  B.  Kriton 
ein  eigentlicher  Philosoph,  der  sich  die  Philosophie  zum  Lebens- 
berufe auserkoren  hätte ;  ferner  schrieb  er  auch  nicht  für  Philo- 
sophen, sondern  hatte  athenische  Durchschnittsbürger  im  Auge. 
Endlich  durfte  sich  Xenophon  gemäss  seiner  Absicht  nicht 
über  die  speculative  Philosophie  Sokrates'  verbreiten,  sondern  ihm 
genügte  dessen  Lebensweisheit  im  engeren  Sinne.  Man  darf 
demnach  bei  Xenophon  nicht  ein  vollständiges  System  der 
sokratischen  Philosophie  suchen.  Aber  hat  Xenophon  innerhalb 
jener  Grenzen  die  Worte  und  Thaten  seines  Meisters  genau 
wiedergegeben?  Daran  darf  man  zweifeln.  Xenophon  haM 
nämlich,  wie  aus  der  Bekämpfung  des  Polykrates  hervorgeht 
(S.  73),  geraume  Zeit  nach  dem  Tode  des  Sokrates  geschrieben  ^ 
die  Ereignisse  der  Anabasis  und  des  korinthischen  Kriege 
Hessen  ihm  keine  Zeit  den  Erinnerungen  naclizuhängen,  Aui 
Zeichnungen  aber  scheint  er  nicht  gemacht  zu  haben  ^)  und  so" 
dürfte  Xenophons  Phantasie  oft  dem  Gedächtnisse  zu  Hilfe_ 
gekommen  sein.  Hat  doch  der  ganze  Ton  der  Gespräche  weni 
von  der  sokratischen  Frische,^)  wogegen  er  nur  zu  sehr  an  di< 
Kyropädie  erinnert.  Ueberdies  ist  mindestens  an  einer  Gattun{ 
von  Aussprüchen  ganz  klar,  dass  Xenophon  die  Lehren  de 
Sokrates  mit  seinen  eigenen  Gedanken   vermengte.     Denn  we 


i 


1)  Zeller  PhUosophie  der  Griechen  II'»  1,  150  flf.  199  ff.  Für  Xenophon 
günstiger  Strümpell  Geschichte  der  praktischen  Philosophie  der  Griechen 
S.  466  ff.;,  vgl.  Karl  Kunz  über  Xenophons  philosophische  Schriften  I. 
Troppau  1862;  Ch.  H.  Bertram  der  Sokrates  des  Xenophon  und  der  des 
Aristophanes ,  Magdeburg  1865;  Bronisl.  Cybichowski  quae  Socratis  de 
diis  et  daemonio  fuerint  opiniones  et  quae  Xenophon ti  Platonique  in  iis  tra- 
dendis  fides  adjungenda  sit,  Breslau  1870;  Sigurd  Kibbing  über  das  Ver- 
hältnis zwischen  den  xenophoutischen  und  den  platonischen  Berichten  über 
die  Persönlichkeit  und  die  Lehre  des  Sokrates,  Upsala  1870. 

2)  I  3,   1  xoüxcuv  8*r]  "cp"'}^  Cijrciaa  &v  oiafjLVY]|AOV£üoai. 

8)  Jos.  Grulich  de  verbosa  Socratis  Xeuophoutei  in  disputando  jejuni- 
tate,  Meiasen  1820. 


Xenophon.  453 

glaubt,  dass  Sokrates  so  eingehend  über  Kriegswesen  sprechen 
konnte  und  wollte,  wie  ihn  Xenophon  (z.  ß.  III  5,  27)  thun 
lässt  ? 

Noch  mehr  Xenophontisches  enthält  das  fünfte  Buch  der 
Erinnerungen,  welches  seit  alter  Zeit  unter  dem  Titel  Oikono- 
mikos  abgesondert  steht.  ^)  In  der  Form  unterscheidet  es  sich 
von  den  vorhergehenden  Büchern  nicht,  ausser  dass  es  aus 
einem  einzigen  Zwiegespräche,  welches  Sokrates  mit  Kritobulos 
hält,  besteht ;  Xenophon  erzählt  dies,  wie  er  sagt,  ebenfalls  aus 
seiner  Erinnerung.  Der  erste  Dialog  (c.  1 — 6)  gibt  den  Dialog, 
der  zwischen  Sokrates  und  Kritobulos  über  den  bürgerlichen 
Haushalt  stattfindet,  zunächst  einfach  wieder.  Da  wagt  Xenophon 
eine  Hj'-postasis ;  aber  während  Plato  in  solchen  Fällen  nie  ein 
längeres  Zwiegespräch  vorführt,  erzählt  der  Xenophontische 
Sokrates  ein  Gespräch,  das  er  früher  mit  einem  Ischomachos 
hatte  (c.  7  ff.),  und  damit  nicht  genug!  Letzterer  berichtet 
seinerseits  Sokrates,  wie  er  zu  seiner  Frau  gesprochen  und 
was  sie  geantwortet  habe  (c.  7,  10  ff.).  Die  Kühnheit  dieser 
Komposition,  die  sonst  vielleicht  nur  in  Dantes  Inferno  ihres- 
gleichen findet,  wäre  an  sich  nicht  gerade  zu  tadeln,  wenn 
nicht  Xenophon  in  dem  Bestreben,  ein  vollständiges  System, 
wie  ein  Bürgerhaus  nach  innen  und  aussen  bestellt  sein  soll, 
zu  entwickeln,  die  Natürhchkeit  der  Gespräche  ausser  Acht 
liesse ;  namentlich  die  Unterredung  des  Ischomachos  und  seiner 
Gattin  ist  nicht  aus  der  Situation  heraus  gedacht,  sondern 
rein  doktrinär  angelegt,  z.  B.  passt  das  breit  angelegte  dem 
Kriegswesen  entlehnte  Beispiele.  8,  4  ff.  für  diese  Personen  nicht. 
Xenophon  hat  mit  diesem  Buche  wiederum  eine  neue  Bahn 
eröffnet,  weil  er  hier  zuerst  eine  Wirtschaftslehre  aufzustellen 
versucht  hat.  Man  kann  nicht  zweifeln,  dass  er  auf  diese  Idee 
nicht  eher  verfiel  als  bis  er  zu  Skillus  durch  mehrjährige  Praxis 
mit   dem    Stoffe    vertraut    war.  2)     Theophrastos    würdigte    die 


1)  K.  Sehen  kl  Sitzuugsberichte  der  Wiener  Akad.  83,  103  ff.  Galenos 
XVIII  1  p.  301  K.  bezeiclinet  den  Oikonomikos  als  fünftes  Buch;  auch 
Stobaios  citiert  ihn  wenigstens  einmal  (floril.  55,  19)  £H  twv  ä;ro|j.VY]}j.oV£OfJ.aTU)V. 
Doch  las  ihn  bereits  Cicero  sen.  17,  59  abgesondert.  Der  Titel  ist  persönlich 
(„der  kluge  Hausvater»)  zu  fassen  (R.  Hirzel  Hermes  10,  63).  Allzu  kritisch 
Lincke  in  der  Ausgabe  „Xenophon  nepl  olxovo^tta?"  Jena  1879.  Vgl.  noch 
Ludw.  Breitenbach  quaestionum  de  Xenophontis  oeconomico,  Halle  1837. 

2)  Schenkl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  80,  152  f. 


454  Dreizehntes  Kapitel. 

Trefflichkeit  seiner  Aufstollungen  in  dem  unter  Aristoteles' 
Schriften  erhaltenen  Oikonomikos^)  und  Cicero  bearbeitete  das 
Buch  unter  Beiziehung  anderer  Quellen  zu  einem  Werke  von 
drei  Teilen.  ^) 

Einen  formellen  Abschluss  haben  die  a7ro|xv7j[i.ov£6{jLaTa,  zu 
denen  wir  den  Oikonomikos  rechnen,  nicht;  der  Leser  wird 
dadurch  auf  eine  Fortsetzung  hingewiesen  und  diese  findet  sich, 
schon  äusserlich  durch  die  Partikel  aXXa  als  unselbständig  be- 
zeichnet, mit  dem  Titel  Symposion.^)  Xenophon  erachtet 
nämlich  das  Bild  des  Musterbürgers  Sokrates  für  unvollständig, 
wenn  nicht  auch  gezeigt  werde,  dass  der  Philosoph  selbst  in 
heiterer  Gesellschaft  beim  Becher  lehrreiche  Worte  einzuflechten 
liebte.  Von  dieser  schon  früher  (IV  1,  1)  angedeuteten  Absicht 
geleitet,  erzählt  Xenophon  ein  Festmahl,  dem  er  selbst  beiwohnte; 
der  bekannte  Kallias  gab  es  zu  Ehren  eines  ihm  lieben  Knaben, 
des  Autolykos,  weil  dieser  Ol.  89,  3,  (421/0)  im  Pankration 
gesiegt  hatte.*)  Der  Verfasser  erspart  uns  weder  etwas  von 
dem  Augen-  und  Ohrenschmaus,  welchen  der  reiche  Wirt  de 
Gästen  bot,  noch  die  hie  und  da  etwas  trivialen  Witze  der  Gäste 
ja  nicht  einmal  die  Einfälle  des  Spassmachers  werden  ver- 
schwiegen. Dazwischen  lässt  Xenophon  in  fast  regelmässigen 
Absätzen  philosophische  Fragen  unter  der  Leitung  des  Sokrates 
und  Antisthenes  erörtern ,  ohne  dass  ein  einheitlicher  Grund- 
gedanke sichtbar  würde.  Der  Schluss  ist  derb  realistisch.  Als 
Genrebild  ist  das  ,, Gastmahl"  hübsch  erzählt  und  komponiert, 
obwohl  der  moderne  Geschmack  es  vorzöge,  wenn  der  Ver- 
fasser   die    Disposition    weniger    durch    einförmige   Übergänge 


n 

1 

r-^ 


1)  Schömann  opuscula  III  214  ff. 

2)  Cic.  off.  2,  24,  87.  Colum.  XII.  praef.  Serv.  Verg.  Georg.  1,  43. 
Schenk]  a.  O.  83  S.  106  f.  Philodemos  polemisiert  in  dem  Buche  irepl 
olxovo}i,ia<:  (p,  44,  2)  gegen  Xenophon.  Auch  Virgil  benützte  ihn,  wie  Servius 
Georg.  1,  43  bemerkt,  in  den  Georgica  (vgl.  Morsch  de  Graecis  auctoribus 
in  Georgicis  a  Vergilio  expressis,  Halle  1878). 

3)  Sehen  kl  a.  O.  83,  141  ff.  Schol.  Aristid.  p.  667,  26  D.  citiert  4,  27 
aus  den  lirtOfjiv/jfJLOVEÖfj.axa;  wiederum  ist  es  Cicero,  der  de  senect.  16,  46  das 
Symposion  für  sich  anführt.  Wie  Böckh  de  simnltate  quam  Plato  cum 
Xen.  exercuisse  fertur  p.  10,  verbindet  Schenkl  a.  O.  S.  142  f.  alle  drei 
Schriften  zu  einer  Einheit. 

4)  K.  Fr.  Hermann  de  temjwre  convivii  Xenophontei,  ind.  1.  Göt- 
tingen 1844  und  1845;  Fr.  Vater  Jahns  Archiv  9,  49  ff.  13,  485  ff. 


Xenopbon.  455 

sichtbar  gemacht  hätte ;  doch  bleibt  Wielands  Lob,  ^)  es  sei 
,,ein  in  jeder  Hinsicht  schwer  zu  übertreffendes  Muster  einer 
dialogisierten  Erzählung",  schwer  begreiflich.  Die  Sprache  ist 
bei  den  nicht  philosophischen  Gesprächen  volkstümlich  und 
mit  Sprichwörtern  und  Anspielungen'^)  versetzt,  in  den  philo- 
sophischen Keden  hingegen  höher  als  es  sonst  Xenophons  Ge- 
wohnheit ist,  gegriffen;  dies  geschieht  teils  im  Ernste  teils 
parodisch,  wie  in  der  Parabel  ,, Herakles  am  Scheidewege",  wo 
der  gorgianische  Stil  verspottet  wird.  Doch  gibt  dieser  Zug 
kein  Recht,  das  Symposion  Xenophon  abzusprechen.^)  Dass 
Plato  der  Erfinder  des  Symposions  ist  und  nicht  Xenophon,  ist 
S,  326  f.  dargethan  worden.*) 

Das  Symposion  beschliesst  die  eigentlichen  „Erinnerungen 
an  Sokrates"  heiter  und  naturalistisch,  wie  ein  Satyrspiel  eine 
Tetralogie.  Indes  wollte  Xenophon  auch  der  natürlichen  Frage 
begegnen,  warum  ein  so  vernünftiger  Mann  bei  der  Gerichts- 
verhandlung die  Geschworeneu  derart  vor  den  Kopf  stiess,  dass 
die  Verurteilung  nach  attischem  Brauche  unvermeidlich  war. 
Es  folgt  daher  unter  dem  Titel  ,,Verteidigu  ngsred  e  des 
Sokrates"  (aTioXoYia  XcoxpdTODc) ^)  eine  rechtfertigende  Dar- 
stellung des  Benehmens,  das  der  Philosoph  vor  Gericht  und 
nach  der  Verurteilung  beobachtete.  Die  eigentliche  Verteidigungs- 
rede ist  dramatisch  angelegt,  indem  bald  die  Richter  Sokrates 
unterbrechen  bald  der  Ankläger  dazwischen  spricht.  Es  tritt 
nämlich,  wie  am  Anfange  der  ,, Erinnerungen",  ein  Haupt- 
ankläger auf.  Der  Schluss  bezieht  sich  offenbar  auf  das  ge- 
sammte  Werk,  nicht  auf  die  Apologie  allein.  Da  überdies 
nichts  einen  Deklamator  verrät,  sehe  ich  keinen  Grund,  warum 


1)  Versuch  über  das  Xeuophoutische  Gastmahl  als  Muster  einer  dialogi- 
sierten Erzählung,  Attisches  Museum  IV  2,  99  if. ;  im  Sinne  "Wielands 
G.  F.  Kettig  Xenophons  Symposion  ein  Kunstwerk  des  griechischen  Geistes, 
Philol.  38,  269  ff. 

2)  Unklar  2,  20. 

3)  K.  O.  Müller  de  sacris  Minervae  Poliadis  p.  17  (Kunstarchäol. 
Werke  I  1,06  A.  4),  Steinhart  Piatons  Leben  S.  95.  300  f.,  Gail  oeuvres 
de  Xenophon  VII  2,  110  f.,  Krohn  Sokrates  und  Xenophon  S.  98,  Joh. 
Herchner  de  symposio  quod  fertur  Xenophontis,  Halle  1875. 

4)  Die  Literatur  ist  verzeichnet  von  Ascherson    in  Böckhs   kleinen 
Schriften  IV   1  flf.  und  Hug  in  seiner  Ausgabe  p.  XXIII  ff. 
5)  Schenkl  a.  O.  83,  169  flf. 


450  Dreizehntes  Kapitel. 

man  die  Apologie  verwerfen^)  soll.  Denn  der  Nachweis  ist 
nicht  erbracht,  dass  die  Apologie  aus  dem  heutigen  Schlüsse  der 
Apomnemoneumata  excerpiert  sei.  '^)  Im  Gegenteil  wurde  dieser 
mit  Ausnahme  der  letzten  Worte  erst,  nachdem  die  ersten 
vier  Bücher  von  dem  Folgenden  abgesondert  waren ,  diesen 
angehängt. 

Es  verdient  Beachtung,  dass  Xenophon  auch  dieses  Werk, 
den  ersten  Versuch  einer  philosophischen  Biographie,  ^)  ohne 
seinen  Namen  herausgab;  denn  er  spricht  I  3,  8  ff.  von  sich 
gerade  so  wie  von  einem  Fremden. 

Neben  diesen  vier  grossen  Werken,  welche  man  der  histo- 
rischen   Gattung   im    weiteren    Sinne    zuteilen    darf,    verfasste 
Xenophon  mehrere  kleine  Broschüren,  von  dogmatischer  Form. 
Die    älteste    derselben    ist    die  Abhandlung    über  den  lake- 
dämonischen Staat  (AaxsSai[Aovi(öv  jroXiTsia),  ein  in  konser-j 
vativen  Kreisen    sehr  beliebtes  Thema.     Der  Verfasser   erklärt' 
gleichsam  zur  Begründung  seiner  Schrift,  wie  der  spartanische  j 
Staat  mit  seiner  wenig  zahlreichen  Bürgerschaft  zu  einer  solchen; 
Höhe  emporsteigen  konnte,  habe  er  erst  begriffen,  als  er  dessenj 
Einrichtungen  kennen  lernte.     Xenophon  gibt  der  Abhandlung] 
dadurch,  dass  er  ohne  weiteres  mit  aXX'  sy^  anhebt,  den  Charakter] 
einer   improvisierten    Rede.*)     Zunächst    stellt    er    die   für    die 
einzelnen   Lebensalter   geltenden    Satzungen    dar    (c.  1 — 4.  10,| 


1)  Zuerst  verwarf  sie  Valckenaer  als  des  Xenophon  unwürdig,  ebenso | 
Delbrück  und  die  meisten  neueren,  besonders  A.  Hug  hinter  Köchlys  Akadem. 
Reden  und  Vorträgen  (Zürich  1859)  S.  430  flF. ;  Rud.  Lange  de  Xenophontis 
quae  dicitur  apologia  et  extremo  commentariorum  capite,  Halle  1878;; 
W.  Caspers  de  apologia  Socratis  Xenophonti  adjudicanda,  Recklinghausen  | 
1836  =  .Jahns  Archiv  8,  101  flf. 

2)  Für  die  Priorität  der  Apologie  Jak.  Geel  de  Xenophontis  apologia] 
Socratis  ac  postremo  capite  memorabilium  ,  Leiden  1836  und  Dindorf  ed.  i 
Oxon.  p.  XIII  f.  XVIII;  anders  Schneider  in  der  Ausgabe  der  Memora- 
bilien,  Leipzig  1801;  Hug  Jenaische  Literaturztg.  1874  S.  679  fi.;  Emil 
Po  hie  die  angeblich  Xenophonteische  Apologie  in  ihrem  Verhältniss  znm 
letzten  Capitel  der  Memorabilien ,  Altenburg  1874  u.  Schenkl  a.  O.  80, 
135  ff.  (er  setzt  die  Apologie  in  das  zweite  Jahrhundert  v.  Chr.).  , 

3)  Diogen.  2,  48.  Snidas. 

4)  Solche  Anfange    sind    der    manierierten  Sophistik   der   Kaiserzeit  g©-] 
läufig,  vgl.  Dio  Chrys.  or.  XII.  XV.  XXIX.  Apnl.  metara. ;  ein  Vergleich  der  | 
Anlange   der  Kyropädie    und    der  Erinnerungen   scheint  nachzuweisen ,    dass 
nichts  verloren  gegangen  ist. 


Xenophon.  457 

1 — 3),  worauf  er  die  allgemeine  Lebensführung  (5 — 9.  10,  4  ff.) 
und  die  Kriegsordnung  (c.  11--13)  schildert.  Diese  Disposition 
will  der  Verfasser  gemäss  seinen  eigenen  Bemerkungen  zu 
Grunde  gelegt  wissen.  Hier  spricht  er  so,  als  ob  die  Ein- 
richtungen des  Lykurgos  —  diesem  wird  ja  alles  zugeschrieben  — 
noch  fort  beständen.  Da  musste  ihn  aber  der  Augenschein  Lügen 
strafen.  So  gesteht  denn  Xenophon  c.  14,  ähnlich  wie  in  der 
Kyropädie,  ein,  dass  der  spartanische  Staat  jetzt  allerdings  herab- 
gekommen sei,  doch  sei  der  Grund  gerade  der,  dass  man  sich 
um  die  lykurgischen  Gesetze  nicht  mehr  kümmere.  Das  Kapitel 
kann  nicht  unecht  sein,  ^)  weil  es  die  Zustände ,  wie  sie  in 
Sparta  zwischen  dem  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  und 
der  Schlacht  von  Leuktra  bestanden,  voraussetzt.  ^)  Auf  dieses 
Kapitel  folgt  ein  weder  mit  dem  Plane  des  Vorhergehenden 
zusammenhängender  noch  äusserlich  vermittelter  Abschnitt, 
welcher  von  den  Rechten  und  Pflichten  der  Könige  handelt. 
Schon  die  ungeschickte  Palinodie  und  der  ungeeignete  Schluss 
würden  uns  an  der  Unversehrtheit  der  Schrift  zu  zweifeln  be- 
rechtigen. Dass  wir  aber  nicht  einmal  eine  unvollendete  ^)  oder 
durch  fremde  Zusätze  entstellte^)  Arbeit,  sondern  eine  Art 
Excerpt  vor  uns  haben,  erhellt  aus  einem  Citat  bei  Polybios 
(VI  45),  das  man  in  unserem  Texte  vergeblich  sucht.  •^)  Nach 
dem  Erhaltenen  zu  schliessen,  wollte  Xenophon  nicht  den  Staat 


1)  Seit  Weiske  (in  Schneidere  Ausgabe  VI  p.  8)  wird  es  von  vielen 
verworfen,  vgl.  K.  Sehen  kl  Bursiaus  .Tahresbericht  17,  28.  H.  Stein  Be- 
merkungen zu  Xenophons  Schrift  vom  Staate  der  Lacedämonier,  Glatz  1878 
versucht  durch  Aenderung  und  Interpretation  die  Widersprüche  (besonders 
14,  3.  7  vgl.  7,  6.  8,  Ij  zu  entfernen  (widerlegt  von  Alb.  Wulff  quaestiones 
in  Xeuophontis  de  republica  Lacedaemoniorum  libello  institutae,  Münster  1884). 

2)  Unhaltbar  sind  die  Ansichten,  welche  die  Schrift  vor  das  Ende  des 
peloponnesischen  Krieges  (Böckh  u.  Wachsmuth)  oder  um  402  (Oncken)  ver- 
setzen. Nach  Grote,  Cobet  und  G.  Erler  quaestiones  de  Xenophonteo  libro 
de  rep.  Lac,  Leipzig  1874  ist  sie  zwischen  394  und  372  ,  nach  Neumann 
387—85  (c.  14  378),  nach  Haase,  Schömann  (griech.  Staatsalterthümer  I^  296) 
und  Lehmann  später  als  371  verfasst. 

3)  Sauppe  praef.  p.  XXIX. 

4)  Cwiklinski  Ztsch.  f.  österr.  Gymn.  1878  S.  495  f.  u.  Schenkl 
Bursians  Jahresbericht  17,  26  beanstanden  c.  8;  Schenkl  will  c.  15  und  8 
hinter  10  stellen;     H.  K.  Stein  a.  O.  S.  2  verbindet  mit  c.  13  c.  8. 

5)  Köchly  und  Rüstow  Gesch.  des  griech.  Kriegswesens  S.  XIII, 
Bergk,  Cobet  u.  A.  (bestritten  von  Wulff  S.  43  flf.). 


458  Dreizehntes  Kapitel. 

der    Lakedämonier ,    wie   er    zu    seiner  Zeit    war,    verteidigen, 
sondern  die  Verfassung    des  Lykurgos,    welche    die  Sokratiker 
priesen    und   sein    königlicher  Freund    wieder  herstellen  wollte, 
empfehlen ;  darum  verherrlichte  er  sie  in  zum  Teil  übertriebener 
Weise  (z.  B.  7,  5).     Ein  probehaltiger  Grund,  warum  die  Schrift 
Xenophon    abgesprochen    werden    soll, ^)    ist    incht    vorhanden. 
Jedenfalls  darf  man  sich  nicht  darauf  berufen,  dass  Aristoteles, 
als  er  sich  auf  die  den  lakonischen  Staat  behandelnde  Literatur 
bezieht,  von  Xenophon  schweigt ;  ^)  denn  er  führt  nur  die  Schrift^ 
des  Thimbron    an    und    fügt    die  Worte    ,,und    andre"    beis 
Warum  soller  jene  Arbeit  der  Xenophons  nicht  haben  vorziehei 
dürfen?^)     Die   lykurgisclie  Verfassung   war  ja  seit  Kritias  eil 
Gegenstand ,    für   den   sich   alle  Aristokraten   und   Philosophei 
interessierten ;  solchen  ideahsierenden  tendenziösen  Darstellungei 
ist  es  zu  danken,  wenn  jene  allmälig  in  ganz  falschem  Licht 
erschien.     Ob  der  aus  Xenophons  Schriften   bekannte  Thibron 
der  Verfasser   jener  Abhandlung   war-,    daran    ist    ein   Zweifel 
gestattet;    waren   doch    die    spartanischen  Generäle   besser   m^ 
dem  Schwerte  als  mit  der  Feder  vertraut.  *)     Noch  zweifelhafte! 
ist  es,  ob  er  eine  so  bedeutende  Schrift  abfassen  konnte,  dasii 
Aristoteles  sie  eigens  erwähnte. 


1)  Aeltere  Literatur  in  Sauppes  Ausgabe  p.  XXI;  nach  Kud.  LeW 
mann  die  unter  Xenophons  Namen  überlieferte  Schrift  vom  Staate  der  Lacc- 
däraonier  und  die  panathenaische  Rede  des  Isokrates,  Greifswald  1853  soll 
die  Schrift  wegen  Isoer,  panatb.  199  von  einem  Isokrateer  verfasst  sein,  der 
nach  Beckhaus  „der  jüngere  Xenophon"  ist.  Die  Echtheit  schützen  Em- 
Haase  in  den  Prolegoraena  seiner  Ausgabe  (Berlin  1833),  Ang.  Fuchs 
quaestt.  de  libris  Xenophonteis  de  republica  Lacedaemoniorum  et  de  rep. 
Atheniensiura,  Leipzig  1838,  E.  Naumann  de  Xenophontis  libro  qui  Aaxe- 
Saifiovtwv  itoXtTEia  inscribitur ,  Berlin  1876,  H.  Stein  a.  O.  Die  Athetese 
des  Demctrios  Magues  (Diogen.  2,  57)  bezog  sich  ursprünglich  wohl  nur  auf 
die  Schrift  vom  athenischen  Staate. 

2)  Polit.  7,  14  p.  1333  b  18  ff. 

3)  Oncken  vermutet,  dass  Xenophon  sein  Buch  unter  dem  Namen  des 
Thimbron  herausgab;  aber  wie  entdeckte  man  nach  Aristoteles  den  wirklichen 
Verfasser?  Was  Stein  a.  O.  S.  16  zum  Beweise  beibringt,  dass  Aristoteles 
unsere  Schrift  benützt  habe,  ist  notwemlige  in  der  Sache  liegende  Ueberein- 
stimmung. 

4)  Sogar  Lysander  liess  sich  eine  politische  Rede  (nicht  eine  Denkschrift) 
über  Verfassungsreform  von  dem  Halikarnassier  Kleon  aufsetzen  (Plntarch. 
Ages.  20.  Lys.  25.  30.  Diodor.  14,  13,  8). 


Xenophon.  459 

Auf  dem  Gebiete  der  Staatsverfassung  wusste  Xenophon 
nichts  besseres  als  vorhandene  fremde  Einrichtungen  zu  em- 
pfehlen; denn  dass  die  Schrift  über  den  Staat  der  Athener  nur 
durch  äussere  Umstände  ihm  beigelegt  wurde,  steht  fest  (S. 
86  ff.). ;  wo  er  sich  dagegen  heimisch  fühlte ,  wagte  er  selbst 
a  priori  Bestimmungen  zu  treffen.  Wir  haben  gesehen ,  dass 
er  im  fünften  Buche  der  sokratischen  Erinnerungen  durch 
seinen  Lehrer  Ratschläge  über  den  bürgerlichen  Haushalt  vor- 
tragen lässt;  später,  fast  am  Ausgange  seines  langen  Lebens 
schrieb  Xenophon  ohne  eine  derartige  Hypostase  eine  kleine 
Schrift  „die  Einkünfte  (jzöpoi)  des  athenischen  Staates."^) 
Die  eigentümlichen  Finanzverhältnisse  Athens  brachten  es  mit 
sich,  dass,  so  lange  es  sogenannte  Bundesgenossen  und  Unter- 
thanen  besass,  diese  die  Ausgaben  des  Vorortes  zum  grossen 
Teile  zu  decken  hatten.  Durch  die  Stiftung  des  zweiten  See- 
bundes standen  nun  zwar  Athen  von  neuem  fremde  Gelder  zu 
Gebote,  doch  bald  nach  der  Schlacht  von  Mantineia  regte  sich 
eine  gefährhche  Unzufriedenheit  unter  den  Bundesgenossen. 
Die  Einsichtigen  erkannten  die  drohende  Gefahr,  unter  ihnen 
Xenophon.  Jetzt  hatte  er  Gelegenheit,  der  Heimat  einmal  durch 
seine  Studien  zu  nützen,-  indem  er  nachwies,  wie  die  eigenen 
Finanzkräfte  Attikas  gehoben  werden  könnten,  damit  die  Bundes- 
genossen nicht  belastet  würden.  Die  Einleitung,  welche  von 
den  Vorzügen  des  attischen  Landes  ein  glänzendes  Bild  ent- 
wirft, (I  2 — 8)  verdient  als  der  erste  Versuch  einer  Anthropo- 
geographie  Beachtung.  ^)  Den  Wert  seiner  Vorschläge,  für  die 
der  fromme  Mann  zum  Schlüsse  den  Segen  der  Götter  wünscht, 
haben  wir  hier  nicht  zu  prüfen,  doch  sei  die  Bemerkung  ge- 
stattet, dass  Xenophon  die  plötzhche  Erschöpfung  der  Silber- 
bergvverke  nicht  voraussehen  konnte.  Wann  wurde  die  Schrift 
verfasst?  Wäre  der  Aufstand  der  Bundesgenossen  schon  aus- 
gebrochen   gewesen ,  ^)     dann    hätte    Xenophon    irgendwo    und 

1)  Die  Haudschriften  setzen  einfach  7i6pot;  Tcepl  nopwv  Athen.  6,  272  c. 
Diog.  L.  2,  57.  Hilclebraud  Xenophontis  et  Aristotelis  de  oeconomia 
publica  doctrinae,  zwi  Prograiume  Marburg  1845. 

2)  Eob.  Pöhlmann  hellenische  Anschauungen  über  den  Zusammenhang 
zwischen  Natur  und  Geschichte,  Leipzig  1879  S.  55  fl'.  ;  ähnliche  Erörterungen 
stehen  mem.  III  5.  Cyr.  I  2.  5.  VI  2,  21  f. 

3)  Wegen  der  5,  9  erwähnten,  aber  sonst  unbekannten  Friktionen,  die 
um  das  delphische  Heiligtum  bestanden ,    uahmeu    dies  B  ö  c  k  h  Staatshaush. 


460  Dreizehntes  Kapitel. 

irgendwie    der    veränderten  Verhältnisse  gedenken  müssen;    ii 
Wirklichkeit  spricht    er  am  Anfang  von    der  Bedrückung    der 
Bundesstädte  und  lässt  5,8  hoffen ,   Athen  könne  eine  Art  voi 
Plegemonie  über  Hellas  wiedergewinnen ,  woran  nach  dem  AW 
falle    der   Inselstaaten    nicht    einmal    gedacht    werden    konnte. 
Das  letzte   bestimmt    erwähnte  Ereignis    ist    der    369  zwischen 
Lakedaimon   und  Athen  geschlossene  Bund  (5,7);    eben  ist  ein 
Krieg    zu  Ende    gegangen    und  das  Meer    dem  Handel   wieder 
geöffnet,    wenn    auch    noch  Verwirrung    in    Hellas    herrscht,^) 
von    Philipp    aber    weiss    der    Verfasser    noch    nichts.     Mithin 
ist    die    Schrift    wahrscheinlich    Ol.    105,     3     (357)    zwischen 
dem    Anschlüsse    Euböas    und    dem  Aufstande    der  Bundesge- 
nossen   verfasst.     Xenophon    wendet    sich    an    das    athenische 
Volk,    das  er  von  4,40    an   direkt  anredet;    doch   beweist   dies^ 
nicht  (mag  er  auch  6,1   ,,wir"  sagen),    dass   er  sich  damals  ii 
Athen  selbst  aufhielt.     Seine  Vorschläge  haben  weder  den  Beij 
fall    der   damaligen  Leiter    des  athenischen  Volkes^)    noch  dei 
ßöckhs  gefunden ;  ^)  immerhin  machen  sie  Xenophon  in  Anbe 
tracht,    dass    ihm   die    praktische    Erfahrung    mangelte,    kein^ 
Schande. 

Ganz    anders    bewandert    war  Xenophon    in    militärischeil 
Dingen  und  in  allem,  was  Pferde  anging;  beide  Gebiete  nahi 
er    vereint    zum    Gegenstand    von    zwei    nützlichen    Schriftei 
Die  eine, 'IjcTrap/ixöc  betitelt,  belehrt  einen  athenischen  Reitei 
führer    über    seine  Pflichten    in  Krieg   und  Frieden;    über    di(j 


der  Athener  I  778  ff.,  Zur  borg  de  Xenophontis  libello  qui  itöpot  inscribitt 
Berlin  1874  u.  Th.  Gleiniger  de  X.  1.  q.  k.  i.,  Halle  1874  an;  H.  Hagej 
Eos  II  149  ff.,  nach  welchem  die  Schrift  aus  zwei  Reden  (I  1  —  IV  33.  IV 
—  VI  3)  kompiliert    ist,    setzt    sie  sogar  nach  dem  philokrateischen  Friedet 
ähnlich  Holzapfel  Thilol.  41,  242  ff.    Dann   könnte  die  Schrift  nicht  avoI 
von  Xenophon    sein,    aber  Bakius    Nova   acta    soc.   litt.   Rheno-Traj.    ISSj 
p.  11  ff.,    Zurborg  a.  O.    p.  19  ff.    und    Gleiniger   a.  O.    p.  61  ff.    61 
rechtfertigen  die  Echtheit  aus  der  Sprache  und  den  Gedanken.  Der  Verfaa 
war  schon  ein  alter  Mann  (4,  26),  was  für  Xenophon  passt. 

1)  4,  50.  6,  12;  tapax-f)  6,  8  erinnert  an  das  Ende  der  Hellenika. 

2)  Auch  nicht  den  des  Eubulos,  dessen  Anregung  die  Schrift  angeblic^ 
ihre  Existenz  verdankt. 

3)  Böckh  Abhandl.  der  Berliner  Akad.  1816  S.  85  ff.  138  ff.  Staat 
haush.  I  '781  ff.  Daraus  schlössen  Bergk  und  Oncken  (Isokrates  und  Ath« 
S.  96  ff.),  die  Schrift  sei  Xenophous  nicht  würdig. 


Xenophon.  461 

Person  desselben  wurde  die  ansprechende  Vermutung  aufge- 
stellt, ^)  dass  Xenophon  den  Leitfaden  dem  Befehlshaber,  unter 
dem  Gryllos  in  den  Feloponnes  ausritt,  bestimmte.  Seine  Er- 
fahrungen fasst  er  in  allgemeinen  Regeln  zusammen,  ohne 
(ausser  9,4)  bestimmte  Beispiele  vorzubringen.  Die  Götter  führt 
Xenophon  so  oft  im  Munde,  ^)  dass  er  selbst  sich  am  Schlüsse 
entschuldigen  zu  müssen  glaubt  mit  dem  Satze:  „Den 
Frommen  begnadigen  die  Götter  mit  Vorzeichen  in  Opfern, 
Vogelflug,  Stimmen  und  Träume."  Die  kleine  Schrift  gewährt 
in  die  lockere  Disziplin  der  Bürgerwehr,  die  dürftige  Taktik 
und  den  Aberglauben  der  Führer  tiefe  Einblicke. 

Xenophon  entschloss  sich  später  (c.  12,  14),  für  seine 
,, jüngeren  Freunde",  welche  dem  Ritterstande  angehörten,  An- 
weisungen über  den  Reiterdienst  (litmv.6(:)^)  zusammen- 
zustellen. Hier  fanden  sie  Ratschläge,  welche  den  Ankauf, 
die  Pflege  und  Abrichtung  der  Pferde  betreffen;  zum  Schluss 
wird  die  zweckmässigste  Ausrüstung  der  Reiter  und  das  Fechten 
zu  Pferde  besprochen.  Die  Einleitung  streift  nicht  sonderhch 
freundlich  eine  Schrift,  welche  der  Athener  Simon  über  den 
gleichen  Gegenstand  verfasste ;  Xenophon  citiert  sie  im  weiteren 
noch  einmal.  Sie  muss  vortrefflich  gewesen  sein,  weil  sie  trotz 
Xenophon  noch  in  der  Kaiserzeit  benutzt  wurde.*) 

Da  man  wusste,  dass  Xenophon  an  der  Jagd  Freude  fand 
und  gerne  davon  sprach,  enthält  die  Sammlung  seiner  Schriften 
auch  ein  Jagd  buch  (xDVTjYSTtxd?).  Ein  seltsames  Produkt! 
Es  beginnt  mit  den  berühmten  Jägern  der  Mythologie  und 
Heroensage;  hierauf  werden  die  Jagdgeräte  und  die  Jagd  auf 
die  verschiedenen  Tiere  geschildert ;  das  Ende  bildet  eine  durch 
viele  Abschweifungen  gedehnte   Apologie   der  Jagdkunst.     Die 


1)  Krüger  historischphilologische  Studien  II  282. 

2)  I  1.  V  14.  VI  1.  VII  3  zweimal.  4.   14.  VIII  7.  IX  3.8. 

3)  Also  keine  Jugendschrift,  wie  Eühl  Ztsch.  f.  österr.  Gymn.  1880 
S.  411  ff.  annimmt.     Depl  lirjnxTjc  lautet  der  Titel  Athen.  3,  94 e. 

4)  Pollux  gehrauchte  sie  nehen  Xenophon,  wie  Reinh.  Michaelis  de 
Julii  Pollucis  studiis  Xenophonteis,  Halle  1877  zeigt.  Vgl.  Plin.  nat.  hist. 
34,  76.  Suidas  v.  "Aij^optoc  (hier  heisst  er  Kijacuv)  und  TpiXXTj.  Nach  diesen 
zwei  Stellen  scheinen  auch  die  Pferdekrankheiten  darin  besprochen  gewesen 
zu  sein.  Ein  Stück  nepl  s'ihooz  xal  £xXoy"?jc  iTtmuy  teilt  Darem her  g  notices 
et  extraits  des  manuscrits  medicaux  ,  Paris  1853  p.  169  f.  mit  (vgl.  dazu 
Fr.  Blass  Liber  miscell.  a  soc.  philol.  Bonn,  editus,  Bonn  1864  p.  49  ff.). 


462  Dreizehntes' Kapitel. 

Schrift  ist  sachkundig  geschrieben,  wie  man  aus  dem  sehr 
günstigen  Urteile  eines  engUschen  Sportraanns  ^)  schliessen  darf, 
und  zeigt  dadurch,  dass  menschliche  Ausdrücke  auf  Hunde 
angewendet  sind^),  den  Verfasser  als  einen  grossen  Hundefreund, 
indes  sprechen  die  ganze  Anlage  der  Schrift,  die  mythologische 
Gelehrsamkeit  und  die  Eigentümlichkeiten  der  Sprache^)  gegen 
Xenophon.  Glücklicherweise  wird  der  Verdacht  durch  äussere 
Zeugnisse  gestützt.  Wenn  in  der  Einleitung  eine  Form  der 
Aeneassage  (I  15)  erscheint,  welche  nicht  älter  als  das  dritte 
Jahrhundert  sein  kann,  *)  so  schliesst  man  daraus  richtig,  dass 
der  Abschnitt  lange  nach  Xenophon  entstand^).  Dasselbe  gilL 
aber  von  der  ganzen  Schrift^):  Der  Verfasser  erwähnt  nämlicH 
indische  Hunde  und  spricht  von  Jagden,  die  ausserhalb  Griechen- 
lands, z.  B.  in  Syrien  abgehalten  werden.  "')  Er  lebte  also, 
wenn  auch  vor  der  römischen  Herrschaft,  ^)  doch  unter  dei^ 
Diadochen  und  schwerlich  im  eigentlichen  Griechenland,  son^m 
hätte  er  mehr  von  der  lakonischen  Jagd  gesprochen.  Jedenfalls 
hätte  Xenophon  letzterer  eine  eingehende  Behandlung  zu  Tei 
werden  lassen.  Der  Autor  war  ein  Privatmann  (ISicottj?  13, 
und  auf  die  Sophisten  nicht  gut  zu  sprechen  (13).  Es  missfä 
ihm  besonders  ihre  gesuchte  Ausdrucksweise.  Er  selbst  geh1 
mit  der  Feder  nicht  sehr  gewandt  um,  wie  es  denn  zu  seinen 
Eigentümlichkeiten  gehört,  eine  Menge  von  Eigenschaften  ohne 
Verbindung  aufzuzählen  (z.  B.  4,  1).  Der  Name  Xenophons 
ward  dieser  Schrift  wegen  seines  bekannten  Jagdeifers  vorge- 
setzt, vielleicht  trugen  auch  äussere  Gründe  dazu  bei,  indem  das 
Jagdbuch  an  die  eben  besprochenen  Abhandlungen    angehängt 


1)  Bei  Ad.  Breunecke  de  authentia  et  integritate  cynegetici  Xeno- 
phon tei,  Posen  1868  (Diss.  v.  Breslau). 

2)  Herniog.  tz.  18.  2,  4  p.  361,  18  ff. 

3)  Brennecke  p.  10  ff.  verzeichnet  fast  360  Wörter,  die  Xenophon  fremd 
sind;  7,  6  steht  die  uuattische  Form  "Hßa. 

4)  Fr.  Eühl  Ztsoh.  f.  österr.  Gymn.  31,  411  fl. 

6)  So  zuerst  Vaickenaer  de  Aristobulo  p.  114  adn.  Auch  C.  12  — 13 
verwerfen  Schneider  und  Andere,  weil  13,  18  auf  c.  1  sich  bezieht,  T.  D. 
Seymour  Transactious  of  the  American  philological  associatiou  1878  lässi 
bloss  I  18.  II  1-8.  VI  7— X.  (ausser  kleineu  Interpolationen).  XII  1—16  übri: 

6)  Vaickenaer  ad  Eurip.  Hippolyt.  86. 

7)  9,   1.  10,  1;  11,  1.     Vgl.  auch  2,  4. 

8)  Das  älteste  Zeugnis  ist  das  Tryphous  (Athen,  9,  400a). 


Xenophon.  463 

wurde.  Im  Zeitalter  Hadrians  las  es  Arrianos  bereits  in  der 
heutigen  Gestalt,  wie  ein  echtes  Werk,  dem  er  eine  vollständigere 
Darstellung  desselben  Gegenstandes  zur  Seite  setzte. 

Ein  Ueberblick  der  echten  Literatur  zeigt,  dass  Xenophon 
als  praktischer  Mann  nicht  für  die  Nachwelt,  sondern  zu  be- 
stimmten Zwecken  schriftstellerte ;  dagegen  ist  es  sehr  fraglich, 
ob  er  philosophische  Schriften  verfasste.  Der  sogenannte 
,, zweite  Alkibiades"  ward  bloss  vermutungsweise  ihm  statt  Plato 
zugewiesen  (S.  303)  und  der  Echtheit  des  erhaltenen  Dialoges 
Hieron  ^)  stehen  gewichtige  Bedenken  entgegen.  ^)  Denn  er 
behandelt  einen  Xenophon  ferne  liegenden  Gegenstand  in  einer 
ihm  fremden  Weise.  Der  Tyrann  Hieron  stellt  nämlich  dem 
Dichter  Simonides,  ^)  der  zunächst  eine  wenig  selbständige  Rolle 
spielt,  die  widrige  Lage  eines  Tyrannen  dar,  worauf  ihm  Simo- ' 
nides  die  Mittel,  wie  ein  Alleinherrscher  trotz  alledem  die  Liebe 
seiner  Unterthanen  erwerben  kann, .  auseinander  setzt.  Dass 
Sokrates  nicht  auftritt,  würde  gegen  Xenophon  keineswegs 
sprechen,  da  sich  ja  auch  Antisthenes  nicht  eine  solche  Be 
schränkung  wie  Plato  auferlegte. 

Ausserdem  scheint  Xenophon  manche  philosophische  Ab- 
handlung, die  jetzt  verloren  gegangen  ist,  beigelegt  worden  zu 
sein;  denn  die  Grammatiker  führen  allerlei  an,  was  jetzt  bei 
Xenophon  nicht  gelesen  wird.  ^)  Mag  auch  mancher  Irrtum 
dabei  mit  unterlaufen,  so  mahnt  doch  ein  bestimmtes  Citat  des 
Stobaios  zur  Vorsicht  (flor.  88,  14).  Dieses  klärt  uns  aber  nicht 
darüber  auf,  in  welchem  Verhältnis  die  von  ihm  angeführte 
Schrift  über  Theognis  zu  der  moralischen  Abhandlung  des 
Antisthenes,  welche  denselben  Gegenstand  behandelte  (S.  280) 
steht  f)  wahrscheinlich  wurde  dieselbe  aus  irgendwelchem  Grunde 

1)  'lipoiv  Yj  tupavvtv.6i;  Diog.  57.  Athen.  3,  121  d.  4,   171  e. 

2)  Angezweifelt  von  F.  Ranke  de  Xenophontis  vita  et  scriptis,  Berlin 
1851  p.  25  u.  J.  Sitzler  de  Xenophonteo  qui  fertur  Hierone,  Taiiber- 
bischofsheim  1874;  verteidigt  von  Ad.  Nicolai  über  Xenophons  Hiero, 
Dessau  1870  u.  Nitsche  Bursians  Jahresber.  1877  I  25  ff.  Vgl.  O.  Schmidt 
.specimen  commentarii  ad  Hieronem  Xenophonteuni,  Eisenach  1881. 

3)  Simonides  philosophischer  Berater  Hierons  Cic.  nat.  d.   1,  22,  60. 

4)  Heiland  Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1847  Sp.  603  ff.;  Grosser 
Jahrbb.  f.  Phil.  93,  727;  Sauppe  ed.  stereot.  V  293  ff. 

5)  Vgl.  Bergk  poetae  lyr.  Gr.  11*  136  zu  Theogn.  183  ff".;  vgl. 
E.  V.  Leutsch  Philol.  29,  519  ff.  Alfr.  Eausch  quaestiones  Xenophonteae, 
Halle  1881  p.  33  ff'.     Nach    Heiland    war    der  Abschnitt    einst    in    den    voll- 


der 
ruejfl 

atcM 


464  Dreizehntes  Kapitel. 

von  einigen  Xenophon  zugesprochen.  Die  Briefe,  welche  be- 
sonders Stobaios  anführt,  sind  natürlich  unecht;  ^)  die  schlechteste 
Mache  weisen  die  im  Briefwechsel  der  Sokratiker  stehenden 
(Nr.  35.  18.  19.  21.  22)  auf. 

Wie  bei  Plato ,  ward  die  Reihenfolge  und  Entstehungszeit 
der  xenophon  tischen  Schriften  der  Gegenstand  eifriger  Unter- 
suchungen, welche  durch  mehrere  Andeutungen  des  Schrift- 
stellers erleichtert  werden.  In  seine  letzten  Lebensjahre  gehören 
darnach  die  drei  für  Athen  bestimmten  Abhandlungen,  der 
Agesilaos  und  die  letzten  Bücher  der  Hellenika;  wenn  feru^ 
die  sokratischen  Bücher  eine  Einheit  gebildet  haben,  dann  sin« 
sie  wegen  des  Verhältnisses,  in  dem  das  Symposion  zum  plat 
nischen  steht,  nach  385  verfasst,  ^)  Die  Schrift  über  den  S 
der  Lakedämonier  fällt  vor  die  Schlacht  von  Leuktra.  Hin' 
gegen  fehlen  in  der  Anabasis,  der  Kyropädie  und  den  Hellenika 
derlei  Anhaltspunkte,  ausser  dass  die  nach  399  geborenen  Söhne 
Xenophons  in  der  Skillusepisode  der  Anabasis  bereits  als  Jüng- 
linge auftreten.  Eröffnet  nun  das  letztere  Buch,  wie  wir  ver- 
mutet haben,  Xenophons  literarische  Thätigkeit,  dann  erstreckt 
sich  dieselbe  über  eine  Zeit  von  nicht  viel  mehr  als  .zwanzig 
Jahren.  In  der  That  kann  man  zwischen  den  so  zahlreichen 
und  mannigfaltigen  Werke  keine  tiefgehenden  Unterschiede  en 
decken.  Im  Gegenteil  sind  sie,  abgesehen  von  der  Gleic 
mässigkeit  des  Stiles  und  der  Denkungsart,  durch  mannigfac 
Bande  verknüpft.  Anabasis  und  Hellenika  sammt  dem  Agesila 
welche  eine  besondere  Gruppe  bilden,  sind  unter  sich  dur 
gegenseitige  Citate  verbunden.  Aber  die  Erfahrungen  d 
Anabasis  hat  Xenophon  in  der  Kyropädie  und  den  zv 
kavalleristischen  Schriften  verwertet,  während  der  ,,Agesilaoi 
dem  ,, Staat  der  Lakedämonier"  und  auch  der  Kyropädie  na 
steht.  Die  beiden  letzteren  Schriften  hängen  auch  unter  si 
in  gewissem  Sinne  zusammen,  weil  Xenophon  in  der  Kyropädi 
I  2,  2 — 16  ein  Seitenstück  zur  Schilderung  Spartas  liefert.  Die 
Kyropädie  und  die  sokratischen  Bücher    ergänzen   sich   gegen- 


ständigeren äitojj.vTjfioveufi.aTa  eutbalteu.     Für  Xenophon  würde  der  Vergleich 
atoiTEp  ei  tk;  litnixö?  Jiv  (jo-^fpä.t^tt.tv  nepl  InnixYjc  recht  gut  passen. 

1)  Fragmente  in  Herchers  Epistolographi  Graeci  p.  788  fl". 

2)  Memor.  3,  9,  2    (vgl.  Teichmüller    literarische  Fehden    I    21  f.) 
beweist  nichts. 


i 


Xenophon.  465 

seitig,  wie  der  Oikonomikos  ^)  und  die  Schrift  über  die  Ein- 
künfte; endlich  nehmen  die  „Erinnerungen"  gelegentlich  auch 
auf  Spartas  Einrichtungen  Bezug.^)  Will  man  nun  die  histori- 
schen Anspielungen  durch  sprachhche Untersuchungen  ergänzen,^) 
so  bietet  sich  hier  eine  schwierigere  Sachlage  als  bei  Plato;  denn 
die  Schriften  gehören  verschiedenen  Stilgattungen  an,  wiewohl 
diese  bei  Xenophon  niclit  voll  ausgeprägt  sind,  dann  aber  sind 
sie  teilweise  nicht  zu  Ende  geführt,  sämmtliche  aber  nicht  mit 
der  Genauigkeit  ausgefeilt  als  wir  von  den  griechischen  Klassikern 
gewohnt  sind;  treffliche  Kenner  Xenophons  nehmen  sogar  an, 
dass  Xenophon  die  meisten  Schriften  unvollendet  hinterlassen 
habe.  ^)  So  viel  dürfen  wir  aber  für  gewiss  annehmen,  dass 
Xenophon  am  wenigsten  unter  den  klassischen  Prosaikern  sich 
bestimmte  Ansichten  über  den  Sprachgebrauch  gebildet  habe. 
Wir  sahen  oben ,  dass  die  Anabasis  und  die  Hellenika 
sachkundige  Zusätze  erhielten;  die  ünzuverlässigkeit  der  Ueber- 
lieferung  ist  in  neuerer  Zeit  übertrieben  worden,  indem  man 
überall  Interpolationen  und  Umstellungen  zu  entdecken  glaubte, 
damit  die  ideale  Vorstellung  von  Xenophon  nicht  getrübt  würde. 
Ebenso  wenig  ist  es  zu  verwundern,  wenn  man  dafür  einen 
einzigen  Bearbeiter  verantwortlich  machte,^)  obgleich  bei  den 
Rekapitulationen  der  Anabasis  der  urkundliche  Nachweis  ihrer 
allmähgen  Entstehung  noch  möglich  und  nirgends  eine  plan- 
massige  Arbeit  erkennbar  ist.  Durch  den  Missgriff  eines  By- 
zantiners schien  dieser  Bearbeiter  greifbare  Gestalt  anzunehmen : 
Photios  ^)  setzte  nämlich ,    als    er    aus   der  Quelle    des  Pseudo- 

1)  Oecon.  4,  18.  19  beziehen  sich  auf  Anab.  1,  9,  29.  31,  werden  aber 
von  Nitsche  über  die  Abfassung  von  Xenophons  Hellenika  S.  22  ff.  u. 
K.  Schenkl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  80,  155  verworfen,  doch  hängt 
das  ganze  Kapitel  mit  der  Anabasis  und  der  Kyropädie  zusammen. 

2)  III  5,  15  f.  IV  4,  15. 

3)  Bitten  berger  Hermes  16,  330  ff.  (er  ordnet:  1.  cyneg.  Hell.  I  1,  1 

—  II  3,  10;  2)  oecon.;  3a.  memor.  symp.  Hiero  Anab.  Cyrop.  Hell.  II  3,  11 

—  V  1;  3b.  Hell.  V  2  —  VII.  und  die  Monographien);  Eoquette  de  Xeno- 
phontis  vita  et  scriptis,  Königsberg  1884  stellt  auf  Grund  weiterer  Unter- 
suchungen dieselben  Gruppen  auf  und  sucht  die  Abfassungszeit  festzusetzen. 

4)  Sauppe;  Breitenbach  bei  Blass,  attische  Beredsamkeit  II  452  A.  3. 

5)  Lincke  Hermes  17,  282. 

6)  Bibl.  cod.  260  p.  486b  36;  bei  Ps.  Plut.  837c  fehlt  Xenophon;  in 
der  Stelle,  an  welche  sich  Photios  erinnerte,  als  er  die  Interpolation  beging, 
war  Sokrates  wie  so  oft  (Schäfer  Ztsch.  f.  Alterthumsw.  1848  Sp.  250)  mit 
Isokrates  verwechselt. 

Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  30 


466 


Dreizehntes  ß!apitel. 


plutarch  die  Biographie  des  Isokrates  und  unter  anderem  aucl 
das  Verzeichnis  von  dessen  Schülern  abschrieb,    zu  Theopora[ 
und    Ephoros    de   suo    „Xenophon    des    Gryllos  Sohn"    hinzi 
Nun  sprach    der  Redner  Deinarchos    in    einem  Prozesse  gegei 
einen  Xenophon,    dem  er    dabei  das  unpatriotische    Benehmet 
seines  berühmten  Namensvetters   vorwarf;  ^)  jener  war  also  eii 
jüngerer  Verwandter,    vielleicht   ein  Enkel'-)  des  SchriftstellersJ 
Xenophon  interessierte  sich  ferner  für  die  Aufsehen  erregendei 
Erscheinungen  des  Buchhandels,  er  las  Plato,    Polykrates  un( 
natürhch   auch  Isokrates,    dessen  Anschauungen    den    seinigei 
nahe  standen,  und,    wie    er   aus  der  Lektüre    des  Gorgias  unc 
der  Gorgianer  manches  zog,  so  nahm  er  vielleicht  gelegentlicl 
etwas    von  Isokrates,    z.  B.    den  Anfang    der   sokratischen  Er^ 
innerungen  aus   dem  berühmten  Panegyrikos,   dessen  Eingang 
Theophrastos    in    ähnlicher    Weise    verwertete.     Endlich    musij 
ich    auch    noch  erwähnen,    dass    Pseudoplutarch    Demosthen( 
mit  Xenophon    in    Verbindung   setzte   (845  d) ;    der  Name    de 
Redners  könnte   vielleicht    in   einem    der  verlorenen  Briefe  g€ 
standen  haben,    es  wäre  dies  nicht  der  einzige  Anachronismi 
dieser  Produkte.     Die  Aufführung  aller  dieser  Funkte  war  not 
wendig,  weil  eine  Fabel  daraus  zusammengesetzt  wurde,  welcheij 
jeder  Halt  fehlt.  ^)    Die  Behauptung,  dass  der  jüngere  Xenophoi 
ein  Schüler    des  Isokrates,    die  Schuld    an  den  Mängeln  trägt 
entspringt  wiederum  der  Abneigung,  die  Meinung  von  Xenophoi 
herabstimmen  zu  müssen. 

Dennoch  wird  nichts  anderes  übrig  bleiben,  wenn  mai 
nicht  an  Xenophon  einen  viel  weniger  strengen  Massstab  alsj 
an  seine  Zeitgenossen  anlegen  will.  Er  erhielt  ja,  wahrscheinlicl 
schon  bei  Zeiten  ein  Freund  ritterlicher  Uebungen  und  dea 
Krieges,  offenbar  höchstens  eine  oberflächliche  Ausbildung  ii 
der  Rhetorik.  So  blieb  Xenophon,  weil  er  weder  im  Kriegs^ 
lager  noch  auf  seinem  Landsitze  Gelegenheit  hatte,  das  Ver- 
säumte gründlich  nachzuholen ,  durch  sein  ganzes  Leben  hiu-j 
durch  ein  Dilettant.     Freilich  besass  er  natürliches  Talent  unc 


1)  Dionys.  Dinarch.  12.  Diog.  2,  62. 

2)  G  r  o  t  e  history  of  Greece  IX  246,  2. 

3)  Hub.  Beckhau. s  Xenophon  der  Jüngere  und  Isokrates,  Posen  1871 
(Pr.  V.  Kogasen)  und  Ztsch.  f.  Gymnasial w.  26,  256  ff.  (vgl.  dagegen  Blas^ 
die  attische  Bereds.  II  447  ff.). 


Xenoplion.  467 

besonders  war  ihm  die  leichte  Beredsamkeit  der  Attiker,  wie 
die  Anabasis  zeigt,  nicht  versagt.  Auch  studierte  er,  wie  wir 
vorhin  sahen,  die  bedeutendsten  Schriften  seiner  Zeitgenossen; 
die  Dichter  seines  Volkes  waren  ihm  wohlbekannt,  wenn  er  in 
iinien  auch  zunächst  die  Lehrer  des  Edlen  und  Guten  schätzte.  ^) 
Doch  blieb  er  stets  ein  Autodidakt. 

In  diesem  Sinne  ist  der  Stil  Xenophons  zu  beurteilen. 
Er  drückt  sich  in  der  Regel  natürlich  und  einfach  aus ,  ^)  wes- 
halb er  in  Schilderungen  oder  in  einfachen  Auseinandersetzungen 
am  glücklichsten  ist.  Dagegen  vermisst  man  in  der  Erzählung, 
wie  Dionysios  treffend  bemerkt,  ^)  das  eigentliche  Historische, 
die  Kraft  und  Würde.  ,,Er  erhebt  sich  höchstens  wie  ein 
Landwind,  der  sich  rasch  wieder  legt."  Dennoch  wäre  es  un- 
richtig zu  glauben ,  Xenophon  sei  auf  den  schlichten  und 
treffenden  Aasdruck  allein  bedacht.  Sein  Dilettantismus  gibt 
sich  vielmehr  abgesehen  von  der  häufigen  Wiederholung  der- 
selben Wörter  in  der  Ungleichmässigkeit  der  Sprache*)  kund. 
Sie  spiegelt  die  Mannigfaltigkeit  seiner  Studien  und  zugleich 
sein  ruheloses  Leben  ab,  kontrastieren  doch  vor  allem  mit  der' 
gewöhnlichen  Einfachheit  Xenophons  die  poetischen  Wörter, 
die  er  hie  und  da,  entweder  aus  den  Dichtern  selbst  oder  aus 
sophistischen  Schriften,  unerwartet  einflicht  ;^)  auf  eigene  Hand 
den  Dichtern  nachzustreben ,  wagt  der  Schriftsteller  selten, 
sondern  gebraucht  statt  kühner  Metaphern  lieber  Vergleiche.^) 
Aus  der  Kunstprosa  entnimmt  er  viele  imposante  Zusammen- 
setzungen   (mit    ED-5ua-xaxo-7coXo-7rav-^tXo-a^to- '')    und    -Yacot;,  *) 


1)  Memor.  1,  6,  14.  3,  10,  5.  8,  4.  symp.  4,  6,  vgl.  Alfr.  Rausch 
quaestiones  Xenophonteae,  Halle  1881  p.  5  ff. 

2)  'AtpsXs'.a  Hermog.  tz.  IS.  2,  5  p.  365,  10  ff.  (Dionys.)  rhetor.  2,  9 
u.  A. ;  ioyyäc,  Phot.  bibl.  58  p.  17  b  20;  Dionys.  ret.  Script,  ceus.  3,  2  aatp-rj«; 
v.a\  £vapY"fii;. 

3)  Ad  Cn.  Pomp,  de  Plat.  4,  vgl.  vet.  Script,  cens.  3,  2. 

4)  S  a  u  p  p  e  lexilogus  Xenophontis  sive  index  Xenophontis  grammaticas, 
Leipzig  1868. 

5)  Hermog.  k.  18.  2,  12,  6.  Zurborg  de  Xenophontis  libello  qui  rzöpoi 
iuscribitur,  Berlin  1874  p.  19;  Gust.  Eichler  de  Cyrupaediae  capite  extremo 
p.  7—9. 

6)  Demetr.  ^pp.Y]v.  80;  ein  geschraubter  Ausdruck  ist  z.  B.  sv  4'jXtvoi(; 
T£U)^eat  Anab.  7,  5,  14. 

7)  Zurborg  a.  O.  p.  20  ff. 

8)  Zacher  de  nomiuibus  Graecis  in  atoc  aia  atov,  Halle  1877  S.  111  ff. 

30* 


468 


brfeizehntes  Kapitel. 


für  die  jetzt  seine  Schriften  die  meisten  Belege  liefern.  Manches 
mag  ihm  auch  von  der  Lektüre  Herodots  her  im  Gedächtnisse 
gebheben    ein.     Doch    selbst    wenn    diese    Elemente    in  Abzug! 
gebracht   werden,    bleibt    vieles,    was    wir    bei    den    attischenj 
Klassikern  nicht    finden.  ^)     Xenophon    mag    sich  während  dei 
langen  Zeit,    die    er    von    seiner  Heimat    ferne  war,    manches, ^ 
was  dort  nicht  üblich  war,   angeeignet  haben,  doch  stimmt  erj 
nicht    selten    mit    den  Komikern    und  Hypereides  überein,    sol 
dass  der  Schluss  nahe  liegt,    er  sei  mehr  dem  Vulgärattischenj 
als  der  Schriftsprache  der  gebildeten  Athener  gefolgt. 

Der  Satzbau  ist,  wie  man  von  Xenophon  ohnehin  erwarten 
darf,    klar  und  übersichtlich,  aber  ohne  Kunst '')    und    oft  ein-j 
förmig  gestaltet;   wenn  er  die  Inversion  anwendet,    was  häufig 
geschieht,  verdeutlicht  er  sie  durch  ein  Demonstrativ.     Schiebtl 
er    etwas    ein ,    so  nimmt   er    gerne    nach  Herodots  Weise  das] 
vorhergehende    umständlich    auf.     Vielleicht    kein    griechischen 
Prosaiker  hat    so   sehr   wie  Xenophon    bald    durch    einleitende] 
und  abschliessende  Bemerkungen   bald   durch  Rekapitulationen! 
dem  Publikum  den  Gedankengang  seiner  Schriften  eingeprägt;! 
dies  tritt  bei  den  Lehrschriften  am  meisten   und  sogar  störendl 
hervor.     Die  erzählenden  Schriften   haben  diesen  Fehler  natur- 
gemäss  weniger;    sie   besitzen  im  Gegenteil  einen  grossen  Reiz 
an    den  Reden    und  Gesprächen,    die  Xenophon   einzuflechten 
liebt,     wenn    anders    das    Doktrinäre    darin    nicht   vorwiegt.^) 
Sonst  zeichnen    sie  Schlagfertigkeit,    Humor  und  Naivetät  aus] 


1)  Am    eingehendsten ,    aber    nicht    ohne  üebertreibung   ist  diese  Frage 
nach  G.  Sauppe  (a.  O.  und  in  der  Ausgabe  I  p.  XV)  in  „The  new  Phrynichus, , 
by  Rutherford,  London  1881"  (s.  Index  S.  539)  behandelt,  besonders  p.  163  fF.,j 
wo    die  angeblich  unattischen  Wörter  verzeichnet   stehen.     Unter  den  P^igen- 
tümlichkeiten  der  Syntax  ragt  der  übermässige  Gebranch  der  Präposition  ouv 
hervor,  welchen  Tycho  Mommsen  aufgedeckt  hat;  vgl.  noch  Fuhr  animadvers. 
in  oratores  Atticos  p.  41,  1,    Phil.  Weber  Entwicklungsgeschichte    der   Ab- 
sichtssätze II   S.  89,   Zycha  Wiener  Studien   7,   106,    Franz    Fassbenderl 
de  optativo    futuri,    Münster  1884.     Dionysios   hielt  die  Sprache  Xenophons 
noch  für  rein  attisch  (de  Plat.  4.  Script,  ceus.  3,  2),  ebenso  anfangs  Phryiiichos 
(bei  Phot.    bibl.    p.  101  b  8).     Als    aber    der    attische  Sprachgebrauch    genau 
erforscht  war,  erkannte  man  die  Abweichungen  (Phrynich.  ecl.  71,    Helladios, 
bei  Phot.  bibl.  279  p.  633  b  26,  vgl.  Galen.  I  414  K.). 

2)  Die  ouvö-eotc  ist  angenehm  aber  nicht  schön  (Dionys.  compos.    10). 

3)  Dionys.  vet,  script.  cens.  3,  2    Jiepcxc^elc    ävSpäotv   l8iu»Tatc  >ia't  ßap- 
ßdpotc  ^oB-'  Zte  Xo^oo?  (piXooofpooc. 


Xenophon.  469 

und  der  Historiker  sorgt  für  Individualisierung,  indem  er  z.  B, 
den  Reden  der  Sj^artaner  durch  Dorismen  einen  lokalen  Anstrich 
verleiht.  ^)  Seine  Vorzüge  kann  er  jedenfalls  am  besten  in  der 
Anabasis  entfalten,  ^)  wo  die  Beschränktheit  des  Stoffes  kräftige 
Töne  nicht  fordert  und  die  bunte  und  überraschende  Folge 
der  Ereignisse  eine  gewisse  Einförmigkeit  des  Vortrags  verdeckt; 
zugleich  hatte  er  hier  den  Leser  nicht  in  seiner  etwas  pedan- 
tischen Weise  zu  belehren. 

Dieses  Werk  ist  es  denn  auch,  welchem  Xenophon  den 
grössten  Teil  seines  Ruhmes  bei  der  Nachwelt  verdankt.  Wie- 
wohl aus  den  oben  entwickelten  Gründen  seine  Schriften  nie 
zu  den  eigentlichen  Musterbüchern  des  rhetorischen  Unter- 
richtes geliörten ,  erfreuten  sie  sich  doch  eines  ansehnlichen 
Leserkreises.  Seine  Kyropädie  wurde  nicht  lange  nach  seinem 
Tode  von  Onesikritos,  einem  Schüler  des  Kynikers  Diogenes, 
in  der  Alexandropädie  nachgebildet;^)  manche  Enthusiasten 
versicherten ,  Xenophons  Sprache  redeten  die  Musen,  *)  oder 
nannten  ihn  geradezu  die  attische  Muse;  ^)  der  Rhetor  Dionysios 
stellte  ihm,  wenn  auch  mit  gewissen  Einschränkungen,  ein 
ehrenvolles  Zeugnis  aus  und  Cicero  rühmte  den  Schriftsteller 
hoch,  wiewohl  er  es  nicht  billigte,  dass  zeitgenössische  Redner 
ihn  nachahmten,  ^)  Xenophon  kam  aber  erst  in  der  Zeit  des 
forcierten  Atticismus  recht  in  die  Mode.  Bekanntlich  erwählte 
ihn  Arrianos  sich  zum  Vorbild,  wodurch  er  den  Ehrennamen 
des  jüngeren  Xenophon  gewann.  ^)  Ein  begeisterter  Verehrer 
Xenophons  war  ferner  der  Sophist  Dion,  welcher  ihn  durch 
eine    besondere     Deklamation     feierte    und     unter  den     alten 


1)  K.  Schenkl  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  60.  668,  vgl.  Hell.  8 
3,  2.  4,  4,  10. 

2)  Dio  Chryso.st.  or.  18,  15  f. 

3)  Diogen.  L.  6,  84. 

4)  Cicero  orator  19,  62  (ferunt). 

5)  Diogen.  57,  'Attixt]  (j-EXitT«  Suidas. 

6)  Orator  9,  32  nielle  dulcior,  vgl.  Val.  Max.  5,  10  ext.  2.  Quintilian 
10,  1,  82.  Tacit.  dial.  31. 

7)  Phot.  bibl.  cod.  58;  vgl.  C.  Kenz  Arrianus  quatenus  Xenophontis 
Imitator  sit,  Kostock  1879;  H.  Doulcet  quid  Xenophonti  debuerit  Arrianus, 
Pams  1882;  Nacbträge  bei  Grün  dm  aun  quid  in  elocutioue  Arriani  Herodoto 
debeatur,  Berlin   1884. 


470  Dreizehntes  Kapitel. 

Prosaikern  am  meisten  für  den  Unterricht  empfahl.  ^)  So  ver- 
drängte selbst  sein  mangelhaftestes  Werk  die  Konkurrenzschrift 
Theopomps.  Wie  Suidas  mitteilt,  schrieben  die  Rhetoren  Zenon, 
Heron,  Aelius  Theon,  Metrophanes  und  Tiberios  über  Xenophon. 
Hephaistion  und  Polemon  erörterten  einzelne  Punkte.  ^)  Ein 
Harpokration  besprach  die  Anabasis  vom  militärischen  Stand- 
punkte;^) denn  die  Alten  haben  Xenophon  jederzeit  als  Kriegs- 
kundigen respektiert,  darum  studierten  ihn  Scipio  Africanus 
und  andere  Römer,  wenn  sie  in  den  Krieg  ziehen  mussten. 
Dagegen  wurde  über  seinen  historischen  Wert  verschieden  ge- 
urteilt, insofern  als  man  lieber  an  Herodot  und  Thukydides 
den  historischen  Stil  darlegte  und  studierte.  "*)  Immerhin  wurde 
aber  Xenophon  auch  in  Byzanz  fleissig  gelesen  und  (wie  von 
Joannes  Kinnamos  und  Anna  Komnena)  nachgeahmt.  ^)  Wie 
wenig  man  ihn  aber  damals  richtig  zu  beurteilen  wusste,  lehrte 
der  Beiname,  den  ihm  die  Byzantiner  gaben ;  während  nämlich 
die  Früheren  Xenophon  von  seinen  Namensgenossen  durch  den 
Zusatz  „Sokratiker"  ^)  unterschieden,  bezeichnen  ihn  die  Byzan- 
tiner gerne  als  Rhetor.  Erst  in  der  letzten  Zeit  des  Byzan- 
tinismus war  man  so  leseträge ,  dass  Xenophon  excerpiert 
wurde.  '') 

Die  handschriftliche  Ueberlief erung  ist  je  nach 
den  einzelnen  Schriften  verschieden;  indes  gab  es  auch  grosse 
Sammelhandschriften,  in  welchen  die  Bücher  fortlaufend  gezählt 
waren.  ®)  Was  die  erhaltenen  Plandschriften  betrifft,  so  sind  sie 
in  Karl  Schenkls  Xenophontischen  Studien  (I.  Beiträge  zur 
Kritik  der  Anabasis,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie 
60,  563ff.,  separat  Wien  1869;    IT.  Beitr.    zur  Kritik  der  Apo- 


\ 


1)  Vm.,  vgl.  auch  XVIII  14  ff.  Chariton  (Cobet  Mneraos.  8,  229  flf. 
nov.  lect.  372  f.),  Achilleus  Tatios  (E.  Rohde  der  griechische  Roman  S.  481  A.) 
und  Andere  ahmten  Xenophon  nach. 

2)  S.  66.  447  A,  3. 

8)  riepl  Tiöv  itapä  Ssvocpüivxt  ta^Ecuv  Suidas. 

4)  Daher  werden  manchmal  bloss  Herodot  und  Thukydides  zusammen 
genannt  z.  B.  Julian,  epist.  42  p.  645,  16.  Joh.  Glykas  de  syntaxi  p.  49,  22. 

5)  Vgl.  Joseph  Rhacend.  Walz  III  521,  23. 

6)  Preziösere  s.-igten  Ssvo'^dtv  b  xaXcii;  ii.  dgl. 

7)  Von  Makarios-Chrysokephalos  in  der  ^oSwvcdc  und  Gemistoa  Plethon 
(Cod.  Monac.  Graec.  48.  69). 

8)  Fr.  Rähl  Jahrbb.  127,  735  ff. 


Xenophon.  47 1 

mnemoneumata  80,  87fif.  Wieu  1875;  III.  Beitr.  zur  Kritik  des 
OikoDomikos,  des  Symposion  und  der  Apologie  83,  103  ff.  Wien 
1876)  so  übersichtlich  zusammengestellt  und  beurteilt,  dass  ich 
einfach  auf  sie  verweise.  Unter  den  Abhandlungen,  welche 
diese  Studien  ergänzen,  ist  0.  Riemanns  Buch  qua  rei  criticae 
tractandae  ratione  Hellenicon  Xenophontis  textus  constituendus 
sit  (Paris  1879)  hervorzuheben.  ^)  Neben  den  Handschriften 
verdienen  die  Citate,  vor  allem  was  Stobaios  aus  unserem  Autor 
anführt,  Beachtung,  da  sie  teilweise  auf  bessere  Texte  zurück- 
gehen ;  ^)  ob  Cicero  eine  abweichende  Ueberlieferung  der  Kyro- 
pädie  vor  sich  hatte,  ist  fraglich.  ^) 

In  der  Renaissancezeit  wurden  die  grösseren  Werke  Xeno- 
phons  viel  gelesen;*)  besonders  waren  die  Kyropädie,  lateinisch 
von  Filelfo  (Rom  1474),  italienisch  von  Poggio  (Florenz  1521), 
deutsch  von  Boner  (Augsburg  1540)  und  französisch  von  De 
Vintemille  (Paris  1547)  und  die  Anabasis  (lateinisch  von  Romulus 
Amasaeus,  Bologna  1533,  französisch  von  Cl.  Seissel,  Paris 
1529,  deutsch  von  Boner  1540  und  itahenisch  von  Lod.  Dome- 
nichi,  Venedig  1547)  beinahe  Volksbücher.  Dagegen  verhielten 
sich  die  eigentlichen  Gelehrten  anfangs  etwas  kühl :  Aldus 
fügte  die  griechischen  Hellenika  seinem  Thukydides    von  1502 

1)  P.  70  ff.  handelt  er  von  der  Orthographie  Xenophons  (vgl.  noch  Fr. 
Riemann  observatt.  in  dialectum  Xenophouteam  spec.  I.  Jever  1883).  Zur 
Anabasis  (deren  zwei  Handschriftenklassen  —  die  zweite  ist  interpoliert, 
doch  nicht  ganz  wertlos —  schon  im  zweiten  Jahrhundert  existierten):  Cobet 
nov.  lect.  422;  A.  Hug  de  Xenophontis  Anahasis  codice  C,  Zürich  u.  Leipzig 
1878;  Ad.  Matthiae  de  lituris  et  correctionibus  quae  inveniuntur  in  Xenoph. 
Anab.  cod.  C  (Paris  1640),  Berlin  1884  (Pr.  v.  Bochum);  zu  den  Hellenika: 
Rieh.  Schneider  quaestiones  Xenophonteae ,  Bonn  1860;  O,  Riemann 
Bulletin  de  corresp.  Hellenique  H  133  ff.  317  ff,  gibt  eine  Kollation  von 
Ambros.  A.  4  P.  inf.  u.  Paris.  317,  sowie  den  kritischen  Apparat  zu  I  1 
(ergänzt  von  Studemund  Philol.  Anzeiger  14,  509  ff.);  Discussion  in  der 
Revue  critique  zwischen  Graux  1879  H  441  ff.  u.  Riemann  1880  p.  99  ff'.; 
zur  Kyropädie  K.  Sehen  kl  Bursians  Jahresber.  17,  2  u.  A.  Hug  Ver- 
handl.  der  Karlsruher  Philol.  Vers.  Leipzig  1883  S.  274  ff.;  zu  den  (i n o |j. v t]- 
|xove6[j.axa  Schenkl  a.  O.  S.  12  ff.;  zum  Hieron  Schenkl  Melanges 
Graux  p.  lll  ff.;  Victoriana  zu  Hierou,  Symposion,  Agesilaos  Acta  philol. 
Monac.  3,  355  ff. 

2)  Breitenbach  Jahrbb.  f.  Phil.  115,  462  ff. 

3)  Jul.  Sommerbrodt  Rhein.  Mus.  21,  285  ff. 

4)  S.  den  Index  von  Voigt  Wiederlebung  des  klassischen  Alterthums, 
unter  „Xenophon". 


472  Dreizehntes  Kapitel. 

bei,  aber  erst  1516  erschien  die  erste  nicht  ganz  vollständige 
Sammlung  bei  Junta  in  Florenz;  vollständiger  und  um  den 
Agesilaos  vermehrt  gab  sie  Aldus  1525  heraus;  die  erste  wirk- 
liche üesammtausgabe  jedoch,  in  welcher  auch  die  Apologie 
nicht  mehr  fehlte  —  sie  war  von  Reuchlin  mit  Agesilaos 
und  Hieron  bereits  1520  inHagenau  bekannt  gemacht  worden  — , 
veranstaltete  Melanchthon  in  Halle  1540;  Henricus  Stephanus 
förderte  in  den  Pariser  Ausgaben  von  1561  und  1581  die  Besserung 
des  Textes  bedeutend.  *)  Von  ihm  an  bis  zur  Begründung  der 
modernen  Philologie  ist  keine  Ausgabe  von  Belang  zu  verzeichnen; 
unter  den  Bearbeitungen  einzelner  Schriften  verdient  Erwähnung, 
was  Petrus  Victorius  (Florenz  s.  a.)  für  die,, Erinnerungen"  leistete. 
Nach  dem  Zeitalter  der  grossen  Buchdrucker  bestand  nirgends 
mehr  ein  lebendiges  Interesse  für  Xonophon,  ausser  etwa  in 
Frankreich ;  sein  üikonomikos  war  bei  den  dortigen  Landedel- 
leuten  in  der  Übersetzung  von  LaBoötie  so  beliebt  wie  Vergilsj 
Georgica  bei  Italiens  Signori  und  die  Kyropädie  gab  den  An- 
stoss  zu  zahlreichen  philosophischen  Romanen.  Das  Zeitalter] 
der  Natürlichkeit  brachte  Xenophon  wieder  zu  Ehren.  Seit] 
Shaftesbury  wurde  es  Sitte,  für  den  „schönen^'  oder  gar  , .schön- 
guten" Sokratiker  zu  schwärmen.  Winckelmann  stimmte  einen! 
begeisterten  Panegyricus  auf  ihn  an,  ^)  Klopstock  wusste  ihnj 
fast  auswendig,  auch  Herder  und  Johannes  v.  Müller  fanden 
in  Xenophon  ihren  Lieblingsschriftsteller.  Aus  dieser  Sentimen- 
talität zog  auch  die  Wissenschaft  indirekt  Vorteil.  Nachdem 
ein  Landsmann  Shaftesburys,  Thomas  Hutchinson  die  Kyropädie 
(Oxford  1727  u.  ö.)  und  die  Anabasis  (1735)  herausgegeben 
hatte,  führte  Joh.  Aug.  Ernesti  Xenophon  in  die  deutsche  Ge- 
lehrtenrepublik ein;  er  selbst  gab  die  Memorabilien  (zuerst 
Leipzig  1737,  5.  Aufl.  1772)  heraus  und  veranlasste  Thiemes 
Sammelausgabe  (cum  notis  variorum  Leipzig  1763 — 64  4  Bde., 
2.  Aufl.  1801—1804).  Das  Beispiel  fiuid  rasch  Nachahmung. 
Sam.  Morus  bearbeitete  die  Anabasis  (Leipzig  1778),  J.  C.  Zeune 
fast  sämmtliche  Schriften  einzeln.  ^)     Die  sechsbändige  Ausgabe 

1)  lieber  seine  Handschriften  L.  Breitenbach  Ztsch.  f.  Alterthumsw. 
1847  Nr.  123  f. 

2)  Justi  Winckelmann  I  608  flF. 

3)  Die  politischen  und  praktischen  Abhandlungen  erschienen  Leipzig 
1778,  die  Kyropädie  1780,  die  Memorabilien  1781,  die  kleinen  philosophischen 
Schrillten  1782  und  endlich  die  Anabasis  1785. 


Xenophon  473 

von  Weiske  (Leipzig  1798 — 1804)  rausste  sofort  der  von  Joli. 
Gottl.  Schneider,  welchen  Wolf  unterstützte,  den  Platz  räumen; 
letztere,  zuerst  1790 — 1821  in  sechs  Bänden  gedruckt,  erschien 
1825 — 49  (teilweise  von  Bornemann  und  Saupjie  hearheitet)  in 
zweiter  Auflage.  Die  moderne  Textkritik  repräsentieren  die 
Ausgaben  von  Gust.  Sauppe  (Leipzig  1865 — 67,  5  ßde.),^) 
Ludwig  Dindorf  (s.  u.)  und  Karl  Schenkl  (leider  noch  unvoll- 
endet)^) An  kritischen  Einzelausgaben  sind  die  Bearbeitungen 
der  Anabasis  von  Ludwig  Breitenbach  (Halle  1867),  Cobet 
(Amsterdan:!  ^1880)  und  Arn.  Hug  (Leipzig  1878  ed.  major 
auf  Grund  des  Codex  Paris.  1640>,  der  Hellenika  von  Cobet 
(Amsterdam  ^1880)  und  der  ,, Einkünfte'-  von  Ilerm.  Zurborg 
(Berlin  1876)  zu  erwähnen.  Sehr  wichtig  sind  Ludwig  Dindorfs 
kritische  Ausgaben  (Kyropädio  Oxford  1857,  Hellenika  1852, 
Memorabilien  und  xVpologie  18(i2,  kleinere  Schriften   1866). 

Noch  zahlreichere  Arbeiten  beziehen  sich  auf  die  Erklärung 
xenophontischer  Schriften:  Bei  der  Anabasis  verdient  die 
Ausgabe  von  K.  W.  Krüger  (lateinisch  Halle  1826,  verkürzt 
und  deutsch  1830,  6.  Autl.  LS71)  wegen  der  gründlichen  Sprach- 
erklärung besondere  Hervorhebung;  deninächst  sind  die  Sannnel- 
ausgabe  von  E.  Poppo  (Leipzig  1827)  und  die  Schulausgaben 
von  Kaph.  Kühner  (Leipzig  1851-52),  Ferd.  Vollbrecht  (Leipzig 
1857—58,  jetzt  7.  und  6.  Aull.)  und  C.  Kehdantz  (Berhn 
1863 — 64,  jetzt  I.'^  von  ü.  Carnuth)'')  zu  nennen.  Die  Kyro- 
pä  die  versorgte  Poppo  Leipzig  1821  ebenfalls  mit  notis  variorum^) 
Schulausgal)en  sind  von  Ericdr.  K.  Hertlcin  (Berlin  3.  AuÜ.) 
und  L.  Breitenbach  (Leipzig,  3.  und  2.  Aufl.)  hergestellt.  Die 
umfassendste  Erklärung  der  Hellenika  gab  L.  Breitenbach 
(Berlin  1873 — 7(5,  I.-  1884),  dagegen  für  Schulzweckc  Beridi. 
ßüchsenschütz  (Leipzig  1860  4.  Aufl.)  und  Emil  Kurz  (München 
1873 — 74).  Die  Apom  nem  onoumata  fanden  Erklärer  an 
Gust.  Sauppe  (Leipzig  1834),  l\a[)li.  Kühner  (Leipzig  1850,  4  A.), 
L.  Breitenbach  (Berlin   1854,  jetzt  5.  A.)  und  M.  Seilfert  (Leipzig 

1)  Appeudicula  ad  Xeu.  editionem  stereotypain  contineus  auiiot.  crit. 
in  scripta  minora,  Leipzig  1869. 

2)  Vorläufig  sind  erschienen  vol.  I.  AuaV>asis;  II.  Libri  Socratici, 
Berlin  1869—76. 

3)  Kritischer  Anhang  zu  Xenophons  An.,  Berlin   1865. 

4)  Joh.  Fr.  Fischer  commeutarius  in  Xeu.  Cyrop.,  Leipzig  1803. 


474 


Dreizehntes  Kapitel. 


*  1 883).     Der  0 i k o  n  o m i!c  o s  ist  von  Ed.  Herbst  (Leipzig  1 840]| 
Ch.  Graux  (Paris  1878,  nur  cap.  1—11.),  H.  A.  Holden  (Londoi 
1884)  und  Wedderburn   and  Collingwood  (Orpington  1883)   ei 
klärt.    Was  die  kleineren  Schriften  anlangt,  so  bearbeitet 
L.  Breitenbach  Agesilaos  und  Hieron  (Gotha  1846),  Bornemani 
die  Apologie   mit   dem  Symposion   (Leipzig  1824,    auch   beid^ 
separat),  G.  Aug.  Herbst  (Halle  1830)  und  Rettig  (Leipzig  1881] 
das    Symposion ,    Gust.    Sauppe    Convivium    Hiero    Agesilaus, 
Helmstedt  1841,  Karl  H.  Frotscher  (Leipzig  1822)  und  A.  Holdeuj 
(London  1883)  den  Hieron  i)   und  Fr.  Haase  (Berlin  1833)  dei 
Staat   der  Lakedämonier.     Von    den   lexikaHschen   Hilfsmittel! 
verdienen  Erwähnung:    Fr.  W.  Sturz,   lexieon  Xenophonteui 
Leipzig  1801—1804,  4  Bde.,  G.  A.  Koch,  vollständiges  Wörter 
buch  zu  Xenophons  Memorabilien,  Leipzig  ^1870,  G.  Ch.  Crusius 
vollständiges    Wörterbuch    zu    Xenophons    Kyropädie,    Leipzig 
*1860  und  die  Wörterbücher   zur  Anabasis   von  G.  A.  Krüge^ 
(ßerhn   ^872),    Suhle  (Breslau    1876),  Theiss   (Leipzig  »187^ 
und  Vollbrecht  (Leipzig  31876).^) 


1)  Joh.  H.  Bremi  Philol.  Beyträge  aus  d.  Schweiz  I  167  ff.;  O.  Schmidj 
specimen  couimentarii  ad  Hieronem  Xenophoutemn,  Eisenach  1881. 

2)  Vgl.    noch:    Catalogue  of  the  British  Museum    of  printed    —  booka 
Xenophon,  London  1883. 


Vierzelintes   Kapitel. 
Die  Fachliteratur. 

Naturforscher:  Anaxagoras,  Archelaos  und  Diogenes;  Leukippos  und  Demo- 
kritos  ;  Ion  und  Andren;  Uiagoras;  Pythagoreer  (Timaios,  Okelos,  Philolaos 
undArchytas).  Mathematiker,  Astronomen  und  Mediciner.  Militärische  Literatur. 


Gelehi'ter  und  Schriftsteller  sind  zwei  Begriffe,  welche  sich 
nicht  häufig  decken.  Dies  gilt  nicht  etwa  bloss  von  unserer 
Zeit,  wo  die  wissenschaftliche  Forschung  durch  die  einseitige 
Konzentrierung,  bei  welcher  für  die  schöne  Form  kein  Raum 
bleibt,  die  grössten  Erfolge  erzielt,  sondern  nicht  minder  von 
der  Blütezeit  Griechenlands.  Wir  sahen  bei  der  Geschichts- 
schreibung, dass  sie  nicht  von  Anfang  an  den  Namen  einer 
Literaturgattung  beanspruchen  konnte;  während  aber  dort  der 
Stoff  nicht  so  spröde  war,  dass  die  Möglichkeit  einer  künst- 
lerischen Entwickelung  gefehlt  hätte,  blieben  die  den  exakten 
Wissenschaften  und  praktischen  Fertigkeiten  gewidmeten  Schrift- 
werke hinsichtlich  der  Form  stets  so  ziemlich  auf  derselben 
Stufe ,  ^)  mochten  auch  manche  Gelehrte  durch  Sorgfalt  und 
Eleganz  des  Ausdruckes  von  ihren  Genossen  abstechen. 

Unter  den  vorsokratischen  Philosophen  gehörten  die 
beredtesten  zum  jonischen  Stamme.  Manche  Kritiker  erkannten 
die  älteren  Schriften  dieser  Gattung  (Bd.  I.  S.  351  ff.)  nicht 
an,^)    sondern    schrieben     die   Priorität   Anaxagoras^)    von 


1)  Vgl.  Dionys.  de  vi  Deraosth.  2. 

2)  Clem.  Alex,  ström.  1,  364. 

3)  Anaxagorae  Claz.  fragmenta  quae  supersunt  omnia,  von  Ed.  Schau- 
bach, Leipzig  1827,  mit  Diogenes  von  Apollonia,  herausgegeben  von  W.  Schorn, 
Bonn  1829;  Fr.  Panzerbieter  scriptio  de  fragmentorum  Anaxagorae  ordine, 
Meiningen  1836;  Mullach  fragmenta  philosophorum  Graec.  1  243  ff.  (Nachtrag 
Diel 8  Hermes  13,  3  f.). 


4-76  Vierzehntes  Kapitel. 

Klazoinenai ')  zu.  Dieser  Philosoph ,  der  sich  den  Studien  mii 
solchem  Eifer  hingab,  dass  er  darüber  sein  Vermögen  verlor,'^ 
kam  um  die  Zeit  des  Xerxeszuges  nach  Athen, ^)  wo  zuerst 
Themistokles,*)  dann  Perikles^)  sich  um  ihn  annahmen.  Er 
hielt  Vorträge  über  seine  Wissenschaft,  ^)  bis  er,  wahrscheinlich 
des  Landesverrates  angeklagt ,  Athen  verlassen  musste. ')  Die 
Bürgerschaft  von  Lampsakos  nahm  den  Flüchtling  freundlich 
auf  und  begeisterte  sich  für  Anaxagoras,  den  auch  das  Unglück, 
seine  Söhne  zu  verlieren,  traf ,  ^)  so  sehr,  dass  er  nach  seineni_ 
Tode  in  dem  hellespontischen  Städtchen  wie  ein  Heros  verehi 
wurde.  ^)     Man  pflegte  später  zu  behaupten,  die  Anklage  hal 


1)  Die  Heimat  ist  durch  Isokrates  (15,  235)  und  Aristoteles  bezeu| 
Der  Vater  hiess  Hegesibulos  (Aristot.  s.  Diels,  doxogr.  p.  228,  nicht  Eubal 
Diogen.  2,  6). 

2)  Ps.  Plato  Hipp.  maj.  p.  283  a  (Anekdoten  bei  Valer.  Max.  8,  7  ext. 
Diogen.  2,  6.  7). 

!J)  Demetr,  Phaler.    bei    Diog.  2,  7   (Itäv  sTy.octv  uiv   ist    ein  Zusatz 
Diogenes).     Nach    Aristoteles    metaph.    1,    3    p.   984  a    11    (vgl.    Theophra 
p.  477,  17  D.)  war  er  vor  Enapedokles  geboren  (nach  Alkidanias  bei  Diog.  8, 
sogar  sein  Lehrer)  ,    veröffentlichte    aber   seine  Theorie  später  als  dieser, 
war  auch  älter  als  Zenon  (Aleidamas  a.  O.)  und  Demokritos,  v/ie  dieser  seit 
angab  (Diog.  9,  41,  ihm  feindselig  2,  14).    Die  Zeitangaben  der  alten  Liter 
historiker  (Diels   Ehein.  Mus.  31,  27  ff.    Zeller  Philosophie    der    Griecl 
I  S.  865  ff.)  reducieren  sich  auf  zwei;  Ol.  80,  1  (Todesjahr  des  Themistokl^ 
nach  Apollodoros,  der  Stesimbrotos  folgte,  Todesjahr,  nach  anderen  Blütez 
(dann  Ol.  75,  1  zwanzig  Jahre  alt)   und  Ol.  88,   1    (Piatos  Geburt)    Todesjj 
(Diogen.  2,  7,  daher,  wenn  die  Blüte  Ol.  80,  1  war,  72  Jahre  alt)  oder  Bli 
(Hippolyt.  1,  8  p.  563,  14  D.).  In  einer  Anekdote  ist  er  als  Greis  bei  Peril 
(Plnt.  Pericl.  16);  wertlos  Diogen.  2,  10. 

4)  Stesimbrotos  bei  Plutarch.  Themist.  2. 

6)  Plato  Phaedr.  270  a.  Alcib.  I  118  c.  Isoer.  15,  235. 

6)  Vgl.  Aeschin.  Socrat.  bei  Athen.  5,  220  b. 

7)  Der  Ankläger   hiess  Sosibios  (Aristot.   bei  Diog.  2,  46,    nicht  Thul 
dides,    Perikles'    Gegner,    vgl.    Müller-Strübing    Aristophanes    und 
historische  Kritik  S.  317  ff.).     Anaxagoras    wurde   in  absenti  zum  Tode  vfl 
urteilt.     Dies    geschah    nach  Diodor.  12,  39,'  2    (ähnlich  Plut.   Pericl.  82) 
87,  2  =  43  Vo  (Diog.  2,  7  denkt,  dass  er  Ol.  80,  1  nach  Athen  kam,   we 
er  seineu  Aufenthalt  aut  30  Jahre  berechnet).     Ueber    den  Grund  Satyros 
Diog.    2,  12.      Ein    ähnliches    Schicksal    traf    den    Dichter    Timokreon. 
Anaxagoras  trug  aber  vermutlich  der  Ruf  des  Atheismus  zur  Verurteilung 

8)  Demetr,  Phal.  bei  Diogen.  2,  13. 

9)  Alkidamas  bei  Aristot  rhet.  2,  28  p.  1398  b  15;  Feier  seines  Tod^ 
tages  Diogen.  2,  14  f.;  Grabschrift  Diog.  2,  16.     Aelian.  v.  h.  8,  19. 


Die  Fachliteratnf.  477 

auf  Gotteslästerung  gelautet,  ^)  aber  bei  Sokrates'  Prozesse  war 
von  diesem  angeblichen  Präcedenzfall  keine  Rede,  im  Gegenteil 
kursierte  das  Buch,  welches  die  angeblich  inkriminierte  Aeusserung 
über  die  Sonne  enthielt,  in  Athen  ungehindert  und  muss 
grossen  Absatz  gefunden  haben ,  weil  ein  Exemplar  nur  auf 
eine  Drachme  zu  stehen  kam.  ^) 

Es  war  vielleicht  nicht  die  einzige  Schrift  des  Philosophen,^) 
aber  wahrscheinlich  die  einzige  den  Späteren  bekannte.  ^)  Man 
rühmt  von  ihr,  dass  sie  zugleich  angenehm  und  pathetisch  ge- 
schrieben war.  ^)  Wir  dürfen  in  Anbetracht  der  frühen  Ab- 
fassungzeit diesen  Lobsprüchen  unbedenklich  das  Wort  „ver- 
hältnismässig" beisetzen. 

Bezüghch  des  etwas  jüngeren  Atheners  Archelaos  stehen 
weder  über  sein  Leben*')  noch  über  sein  Buch  nähere  Angaben 
zu  Gebote.^)  Wenn  er  mit  dem  Elegiker  identisch  ist,  war  er 
mit  Kimon  befreundet;^)  sicherer  steht  die  Nachricht,  dass 
sich  Sokrates  in  seiner  Jugend  an  Archelaos  anschloss.^) 

Diogenes  von  Apollonia  ^*^)  soll,  wie  Anaxagoras,  der  für 


1)  Cyrill.  c.  Jul.  6,  190.  Er  entfernte  sich,  als  der  philosoplienfeindliche 
Antrag  des  Diopeithes  durchging  (Plutarch.  Pericl.  32).  Dagegen  erhob  nach 
Sotiou  (Diog.  2,  12)  Kleon  die  Anklage  und  .setzte  die  Verbannung  saiumt 
einer  hohen  Geldstrafe  durch.  Anaxagoras  wurde  nach  Herrn ippos  (Diog.  2, 
13,  vgl.  Plutarch.  Nie.  23.  de  profect.  in  virt.  15.  de  exil.  17)  in  das  Ge- 
fängnis geworfen,  nach  Hieronymos  (Diog.  2,  14,  vgl.  Joseph,  c.  Apion.  2,  37) 
auf  die  Verteidigungsrede  des  Perikles  hin  freigesprochen.  Vermittlung  bei 
Olympiod.  in  Aristot.  meteor.  p.  5  a. 

2)  Plato  apolog.  p.  26  d. 

3)  Plato  a.  O.;  vgl.  anuitor.  p.  132a.  Aristot.  de  plantis  1,  6  p.  817  a 
25.  Ilcpl  ßaatXsiac  schrieb  Anaxarchos,  nicht  Anaxagoras  (U.  v.  Wilamo- 
witz  ind.  schol.  Gryphisw.  aest.  1884  p.   10). 

4)  Diogen.  1,  16;  Athen.  2,  57  d  nennt  sie  (puaiv.a.  Plutarch.  exil.  7 
p.  338  und  Vitruv.  7  praef.  sprechen  nicht  dagegen. 

5)  Diogen.  2,  6. 

6)  Aus  Athen  (auch  Hippolyt.  9  p.  563,  14.  Ps.  Plut.  plac.  phil.  1,  3. 
Riniplic.  in  Arist.  phys.  6  v  56)  oder  Milet,  Sohn  des  Apollodoros  (auch  Ps. 
J'iut.  a.  O.  Epiphan.  p.  590,  1  D.)  oder  Mydon  (Diogen.  2,  16,  Milton  tivsc 
bei  Epiplian.).  Euseb.  praep.  ev.  10,  4,  9  ist  aus  Clem.  ström.  I  301  a  entstellt. 

7)  Citiert  von  Hierax  bei  Strob.  flor.   10,  77. 

8)  Plut.  Cim.  5  (am  Ende)  aus  Panaitios. 

9)  Ion  bei  Diog.  2,  7. 

10)  Schwerlich   aus  der  kretischen  Stadt    dieses  Namens  (Stephan.  Byz.), 
da  er  jonisch  schrieb;  Sohn  des  ApoUothemis  (Aristotel.  p.  228  Diels). 


478  Vierzehntes  Kapitel. 

seinen  Jjehrer  galt/)  zu  Athen  in  Todesgefahr  gekommen 
sein.  ^)  Die  schriftliche  Darstellung  seiner  Philosophie  zerfiel 
in  zwei  Teile,  wovon  der  zweite  ,,über  die  Natur  des  Menschen" 
handelte.^)  So  bezeichnet  das  Buch  äusserlich  den  Uebergang 
von  der  metaphysischen  Spekulation  zur  empirischen  Natur- 
wissenschaft, wie  Diogenes  denn  auch  zu  den  letzten  Natur- 
philosophen zählte.'*) 

Zahlreichere    Schriften    vertraten    die    atomistische    Lehre. 
Ueber   Leukippos    freilich,    den    angeblichen  Begründer   der 
Sekte,  ist  nicht  das  mindeste,  nicht  einmal  die  Heimat  •'^)  über- 
liefert,   ein  deutliches  Zeichen,    dass  kein  Buch  seinen  Namei 
trug ;  es  gab  allerdings  eine  Schrift,  ^üfaq  8idxoa{ioc:  betitelt,  voij 
der  man  nicht  wusste,    ob  sie  von  Leukippos  oder  Demokritc 
verfasst  sei.^) 

Leukippos  galt  für  den  Lehrer  des  Demokritos,'')  welchei 


1)  Antisthenes  bei  Diog.  9,  57. 

2)  Demetr.  Phal.  bei  Diog.  9,  57. 

3)  Vgl.  Simplic.  in  Aristot.  phys.  32  v  35  ff.,  der  den  zweiten  Teil 
nicht  mehr  las ,  mit  Rufu.s  bei  Galen.  2.  in  epid.  Hippocr.  V  p.  473.  Frag- 
mente bei  Schorn  in  der  Ausgabe  des  Anaxagoras,  separat  hrsg.  von  Friedr. 
Panzerbietcr ,  Leipzig  1833,  auch  bei  Mullach  1  252  ff.;  vgl.  Sohle  icr- 
m  acher  sämmtliche  Werke  3.  Abth.  II  149  ff. 

4)  Theophrast.  p.  477,  5  Diels;  jünger  als  Leukippos  ders.  p.  477,  7. 
Er  erwähnte  den  Meteorfall  von  Ol.  78,  2. 

6)  Die  Alten    rieten    bald    auf   diese    bald    auf  jene  Stadt:    Theophrasti 
(Diels  doxogr.  p.  483,  11)  nannte  Elea  oder  Milet,  weil  Leukippos  als  Schüler! 
der   Eleaten  (Zenon  Galen,  bist.  phil.  3  p.  601,  9  D.   oder  Parmeuides  Theo-j 
phrast.  p.  483,  12  D.,  daher    eptotixöc)  oder  Nachfolger  der  Hylozoisten   ga 
(Epiphan,  p.  590,  26  Diels);  Diog.  9,  30  (wo  MyjXio?  aus  MiX-rjotoc  korrumpier 
scheint)  und  Ps.  Galen,  bist.  phil.   19,  229  fügen  Abdera,  die  Heimat  Dem« 
krits,  bei. 

6)  Aristot.  de  Melisse  c.  6  p.  980a  7  ev  toic  Aeuxcititou  xaXoü|xevotj 
Xo-yot?  ;  es  war  dies  offenbar  der  i>.i'(o.<:  Staxoofjioc,  welchen  Theophrast  Let 
kippos  zuteilte,  während  er  sonst  für  ein  Werk  des  Demokrit  galt  (Thrasylk 
bei  Diog.  9,  46).  Bedenklich  ist  ev  x(f  voö  Stob.  ecl.  1,  4.  Die  Unsicherhei 
der  Ueberlieferung  wies  E.  Rohde  Verhandlungen  der  Philologen vers. 
Trier  1879  S.  64  ff.  nach  (anders  Diels  Verhandl.  der  Philologen  vers. 
Stettin  1880  S.  96  ff.). 

7)  Theophrast.  p.  484,  1  Diels,  Diog.  10,  13  (evtoi  v.al  'A7toXX68ü>poc 
'Entxoüpeioi;) ,  geleugnet  von  Epikur;  doppelsinnig  Aristot.  metaph.  1, 
p.  985  b  6,  der  das  Wort  exaipoc  gebraucht. 


Die  Facliliteratur.  479 

alle  übrigen  Gelehrten,  die  vor  Aristoteles  gelebt  haben,  an 
Scharfsinn ,  Fruchtbarkeit  und  Formgewandtheit  weit  liinter 
sich  Hess.  Demokritos ,  ^)  der  Sohn  eines  reichen  Bürgers  von 
Abdera ,  ^)  benützte  die  väterlichen  Schätze  nur  dazu ,  um  die 
Naturwissenschaft  aus  ihrem  kindlichen  Zustande  durch  uner- 
müdliche Forschungen  zu  einer  wahren  Wissenschaft  zu  er- 
heben. Im  Alter  durfte  er  von  sich  rühmen,  er  habe  weitere 
Reisen  als  irgend  einer  seiner  Zeitgenossen  gemacht  und  so 
viel  Wissen  gesammelt,  dass  ihn  nicht  einmal  die  ägyptischen 
Gelehrten  überträfen,^)  Der  Philosoph  konnte  den  Studien 
mehr  Zeit  als  andere  Menschen  widmen,  weil  er  nicht  nur  ein 
ausserordentlich  hohes  Alter  erreichte,*)  sondern  noch  als  er 
von  dem  hunderten  Jahre  nicht  mehr  ferne  war,  Kraft  und 
Lust  zur  literarischen  Thätigkeit  besass.  ^)  Demokritos  war 
jünger  als  Anaxagoras ,  dessen  Lehren  er  bekämpfte ,  ^)  und 
erlebte  noch  den  schrecklichen  Untergang  der  achäischen  Stadt 
Helike,  also  das  Jahr  Ol.  101,  4  (373/2).^)     Als  Lehrer  trat  er 


1)  Fragmente  separat  von  Aug.  Mullach  ,  Berlin  1843  gesammelt  (vgl. 
quaestt.  Democritearum  spec.  I.  Berlin  1835.  II.  1842),  auch  in  den  fragm. 
philos.  Graec.  I  330  ff.;  Louis  Liard  de  Democrito  philosopho,  Paris  1873; 
Gern  per z  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  83,  585  S. 

2)  Durch  mehrere  Stellen  des  Aristoteles  (Bouitz,  Iudex  p.  175  a)  ge- 
sichert; u)<;  Eviot  M'.X-fjoio?  Diog.  9,  34  von  Leukippos  entlehnt,  Kwot;  Sozomen. 
hist.  eccl.  2,  24  von  seinem  Freunde  Hippokrates,  aus  Megara  Schol.  Juvenal. 
10,  50.  Der  Vater  hiess  Hegesistratos  (auch  Tzetz.  chil.  2,  979.  13,  85), 
Atheuokritos  oder  Damasippos  (Diog.  9,  34.  Suidas.  Epiphan.  p.  590,  30  D., 
Theodoret.  4,  792.  Hippolyt.  13). 

3)  Clem.  Alex,  ström.  1,  15  p.  131  S.  =  356  P.  (vgl.  Sozomen.  a.  O.), 
bestätigt  durch  Theophrast.  bei  Aelian.  var.  hist.  4,  20  und  Megasthenes  bei 
Strab.  15,  703.  Nech  Diodor  1,  98,  3  war  Demokrit  fünf  Jahre  in  Aegypten. 

4)  90  Jahre  nach  Diodor.  14,  11,5;  100  Eusebios,  über  100  Antisthenes 
bei  Diog.  9,  39;  104  Ps.  Lucian.  |xay.poß.  18,  vgl.  Phlegon  2;  109  Hipparch. 
bei  Diog.  9,  43  (wie  Gorgias,  oder  nicht  ganz  108  Censorin.  15);  bnip-^ripiuz 
Hermipp.  bei  Diog.  9,  43,  matura  vetustas  Lucret.  3,  1037. 

5)  In  dem  A.  3  citierten  Fragmente  sagt  Demokrit,  er  sei  achtzig  Jahre 
gereist  (Ten  Brink  Philol.  7,  354  ff.  vermutet:   18). 

6)  Diogen.  9,  34.  41. 

7)  Seneca  quaest.  nat.  7,  16.  Er  sagte  ausserdem,  er  habe  den  [iixpöc 
o'.äv.oo]i.oz  730  Jahre  nach  Trojas  Zerstörung  geschrieben  (Diogen.  9,41);  aber 
wann  setzte  er  diese?  Ueber  die  Zeitangaben  s.  Diels  Khein.  Mus.  31,  29  ff.; 
sie  lassen  sich  auf  folgende  Formeln  reducieren-.  jünger  als  Anaxagoras 
(Ol.  80,  wo  letzterer  starb,  ApoUod.  bei  Diog.  9,  41),  älter  als  Sokrates 
(Ol.  77,  3  nach  Thrasylos,  weil  letzterer  Ol.  87,  3  blühte  ;  älter  war  Demokrit 


480  Vierzehntes  Kapital. 

nicht  auf,  sondern  zog  es  sogar  in  Athen  vor  unbekannt  7a\ 
bleiben.  ^)  So  viel  teilte  Demokritos  selbst  in  seinen  Schriften 
gelegentlich  mit,  ^)  wenn  aniiers  alle  einschlägigen  Werke  echt 
waren. 

Die  Geschichtsschreiber  der  Philosophie  machten  dieser 
unermüdlichen  einzig  um  die  Wissenschaft  bekümmerten  G( 
lehrten  zum  Gegenstande  vieler  Sagen ;  sie  betreffen  haupt 
sächlich  seinen  unersättlichen  Wissensdurst,^)  seine  an  übei 
natürliche  Kräfte  streifenden  Künste*)  und  endlich  das  Verhältnis 
zu  seinen  Mitbürgern,  ■')  das  später,  als  Abdera  in  den  bekannter 
Ruf  geriet,  in  das  Komische  umschlug.^)  Seltsam  ist  es,  daslj 
Demokritos    zum    „lachenden  Philosophen"   gemacht    wurde; 

in  der  That  nach  Aristot.  part.  an.  1,  1  p.  642  a  26)  und  Plato  (er  starl 
Ol.  88),  Jüngling  zur  Zeit  der  Perserkriege  (Diogen.  2,  7,  ungenau  Euseb.)] 
nach  der  Sage  wurde  nämlich  Dcmokrit  von  den  Magiern  zum  Danke  dafiu 
unterrichtet,  da-^is  sein  Vater  Xerxes  bewirtete  (Diog.  9,  34,  vgl.  Valer.  MaJ 
8,  7  ext.  4).  Das  Todesjahr  Ol.  94,  4  (Hieron.,  94,  2  Euseh.,  95,  2  Synkell 
94  Diodor.  14,  11,  5)  scheint  errechnet,  indem  man  Ol.  77,  3  als  Blut 
(vierzigstes  Jahr)  und  ein  Alter  von  109  Jahren  (s.  o.)  in  Rechnung  setzte. 

1)  Demetr.  Magn.  bei  Diog.  9,  36.  Cic.  Tusc.  5,  36,   104  (in  Dem.  Phs 
bei  Diog.  9,  37  liegt  kein  Widerspruch). 

2)  Vgl.  Ten  Brink  Philol.  6,  689  ft. 
8)  Ps.  Hippocr.  epist.  X.  Diog.  9,  36.  Patron,  sat.  88.  Luc.ian.  phiIopseud| 

32.  Er  blendete  sich  freiwillig  (Cic.  fin.  5,  29,  87.  Tnsc.  6,  39,  114.  Laberii 
bei  Gell.  10,  17.   Tertull.  apol.  46,  verworfen  von  Plutarch.  de  curios.  12). 

4)  Diog.  9,  42.  Tzetz.  alleg.  Hom.  1,  89;  wie  er  sein  Leben  um  einigt 
Tage  verlängerte  Job.  Alexandr.  Hermes  5,  213  f.  (Dagegen  spricht  deii 
Epikureer  Lucrez  8,  1037  von  Selbstmord). 

5)  Erbe  eines  ungeheuren  Vermögens,  liess  er  es  im  Stiche  (Cic.  fin.  5, 
29,  87.  Horat.  epist.  1,  12,  12.    Val.  jMax.  8,  7  ext.  4.  Lact.  inst.  div.  3,  28, 
Philo  provid.  2,  13.  Dio  Chrys.  or.  54,  2.  Origen.  c.  Cels.  2,  41)  oder  braucht 
seinen  Teil  vollständig  auf  (Demetr.  bei  Diog.  9,  36),  worauf  ihn  sein  Briidej 
ernähren    musste  (Antisthen.    bei    Diog.  9,  39).      Die  Abderiten    wollten    ihi 
deshalb  bestrafen,  als  er  ihnen  aber  seinen  fisY^C  Staxoofioc  vorlas,  erhielt 
100  oder  gar  500  Talente  Ehrensold   (Autisth.  u.  Demetr.  a.  O.;    vgl.  Athen 
4,  168b.    Clem.    Alex,    ström.    6,  755  =  631).     Sie    nannten    ihn    <piXooo<pt« 
(Aelian.  var.  bist.  4,  20)  oder  ootp'.a  (Clem.  Alox.  a.  O.  Suidas). 

6)  Hippokrat«s    (über   seine  Verbindung   mit  Demokritos  D  i  e  1  s  Rheil 
Mus.  31,  33)  soll  über  seinen  Geisteszustand  referieren  (Ps.  Hippocr.  epist. 
Soranos  vit.  Hippocr.  Z.  31   f.  Tzetz.  Chil.  2,  983  IT). 

7)  D  i  e  1 8  doxographi  Graeci  p.  265  f.,    dazu  Anthol.  Palat.   7,  66.  5S 
59.  Horat.  epist.  2,  1,  194  If.  Seueca  trnnqu.   au.  15.  Juvenal.  sat.  10,  33 
Aelian.  v.  h.  4,  20    (reXaolvo«;,    wie    Suidas).    29.    Lucian.    Peregr.    Prot.  6| 
Cosmas  Mai  spicil.  Rom.  II  93. 


t)ie  Fachliteratur.  481 

diese  Auffassung  ging  wohl  von  der  epikureischen  Sehule 
aus,  weil  der  Atomist  in  gewissem  Sinne  der  Vorläufer  ihres 
Meisters  war, 

Diogenes  verzeichnet  sechzig  angeblich  echte  Schriften  des 
Demokrit,  welche  Thrasyllos  wie  Piatos  Werke  in  Tetralogien 
ordnete;^)  eine  so  umfassende  und  vielseitige  Schriftstellerei 
würde  in  der  klassischen  Zeit  einzig  dastehen ,  wenn  sich  nur 
nicht  vieles  ungehörige  unter  die  echten  Schriften  gedrängt 
hätte.  Mag  auch  der  Kritiker,  dem  Suidas  folgt,  wenn  er  nur 
zwei  Schriften  {[fA'(CLc  0'.äxoa[xoc  und  zzpl  'fooeox:  xdajtoo)  dem  Philo- 
sophen selbst  zugesteht,  zu  weit  geheuj  so  ist  doch  grosse  Vor- 
sicht* angezeigt.  Unbedenklich  darf  man  die  acht  moralischen 
Schriften,  von  denen  Aristoteles  nichts  weiss,  ^)  verwerfen,  ob- 
gleich durch  die  Spruchbücher  gerade  aus  ihnen  zahlreiche 
Fragmente  erhalten  sind.  ^)  Auch  die  acht  Sammlungen  von 
alxia.1^)  und  die  Abhandlungen  über  Poesie,  Malerei,  Taktik 
u.  dgl.  ^)  sind  recht  bedenklich.  Melir  Vertrauen  flössen  von 
vornherein  die  seclizehn  philosophischen  Schriften,  unter 
welchen  der  „grosse"  und  der  „kleine"  8idxoo[io?  hervorragen, 
ein ,  ferner  zwölf  Bücher  über  die  mathematischen  Wissen- 
schaften ,  ^)     wozu     sich     die     musikalischen     Untersuchungen 


1)  Diog.  9,  46  ff. 

2)  S.  dagegen  part.  au.  1,  1  p.   642  a  24  ff. 

3)  Bereits  von  Meiners  Geschichte  des  Ursprung»,  Fortganges  und 
Verfalles  der  Wissenschaften  in  Griechenland  I  728  fl.  augezweifelt;  vgl.  Ten 
Briuk  Philol.  6,  577  ff.  23,  555  ff.  F.  Lortzing  über  die  ethi.schen 
Fragmente  Demokrits,  Pr.  des  Sophieng.  Berlin  1873  n.  besonders  E.  Roh  de 
Verhandl.  der  Philologenvers,  in  Trier  S.  70  ff.  A.  2 ;  über  die  Schrift  itepl 
eid-up-iY)?  Rad.  Hirzel  Hermes  14,  354  ff,  Ueber  die  Spruchsummlungen 
Curt  Wachsmuth  Studien  zu  den  griechischen  Florilegieu,  Berlin  1882 
S.  121  ff. ;  Demokritos  wird  hier  häufig  zu  Demokrates  verderbt  (s.  auch 
Suidas  V.  Ka/v).tp.ayo(;  und  Wen  rieh  de  auctorum  Graec.  versionibus, 
Leipzig  1842  p.  93). 

4)  Die  No|xixa  oXx'.a  erkannte  Thrasyllos  nicht  au.  Ailianos  benutzte 
die  atxtai  uepl  I^üxjjv  in  den  Tiergeschichten. 

fa)  Thrasyllos  selb.st  verwarf  Trspl  loTop'.Yjc;  xaxttxov  wird  Aelian.  tact.  1 
ignoriert.  Doch  ist  für  diese  Kh^sse  Philodem,  de  mus.  col.  36  in  Erwägung 
zu  ziehen :  xal  itsp;  zu  l3topoü|j.Jva  oooevö^  tjxxov  no\oKpä'f\).üiv. 

6)  riepl  xä»v  EtSüJV  ist  bereits  von  Theophrast  p.  514,  4  D.  citiert.  Eine 
der  astronomischen  Schriften  benützt  Ptolemaios  (de  appar.  p.  93  d)  unter 
dem  Titel  tpatvöfiEva;  die  Echtheit  derselben  dürfte  gesichert  sein,  weil  die 
Slttl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  U.  31  • 


480  Vierzelmtes  Kapitel. 

nicht  auf,  sondern  zog  es  sogar  in  Athen  vor  unbekannt  zu 
bleiben.  ^)  So  viel  teilte  Demokritos  selbst  in  seinen  Schriften 
gelegentlich  mit,^)  wenn  anders  alle  einschlägigen  Werke  echt 
waren. 

Die  Geschichtsschreiber  der  Philosophie  machten  diesen 
unermüdlichen  einzig  um  die  Wissenschaft  bekümmerten  Ge- 
lehrten zum  Gegenstande  vieler  Sagen ;  sie  betreffen  haupt- 
sächlich seinen  unersättHchen  Wissensdurst,^)  seine  an  über- 
natürliche Kräfte  streifenden  Künste^)  und  endhch  das  Verhältnis 
zu  seinen  Mitbürgern, '')  das  später,  als  Abdera  in  den  bekannten 
Ruf  geriet,  in  das  Komische  umschlug.  *')  Seltsam  ist  es,  dass 
Demokritos    zum    ,, lachenden  Philosophen"   gemacht    wurde;'') 


in  der  That  uach  Aristot.  part.  an.  1,  1  p.  642  a  26)  und  Plato  (er  starb 
Ol.  88),  Jüngling  zur  Zeit  der  Perserkriege  (Diogen.  2,  7,  ungenau  Euseb.); 
nach  der  Sage  wurde  nämlich  Demokrit  von  den  Magiern  zum  Danke  dafür 
unterrichtet,  dass  sein  Vater  Xerxes  bewirtete  (Diog.  9,  34,  vgl.  Valer.  Max 
8,  7  ext.  4).  Das  Todesjahr  Ol.  94,  4  (Hieron.,  94,  2  Euseb.,  95,  2  Syukell, 
94  Diodor.  14,  11,  5)  scheint  errechnet,  indem  man  Ol.  77,  3  als  Blüte 
(vierzigstes  Jahr)  und  ein  Alter  von  109  .Tahren  (s.  o.)  in  Rechnung  .setzte. 

1)  Demetr.  Magu.  bei  Diog.  9,  36.  Cic.  Tusc.  5,  36,  104  (in  Dem.  Pbalj 
bei  Diog.  9,  37  liegt  kein  Widerspruch). 

2)  Vgl.  Ten  Brink  Philol.  6,  589  ft. 

3)  Ps.  Hippocr.  epist.  X.  Diog.  9,  36.  Petron.  sat.  88.  Lucian.  philopseud. 
32.  Er  blendete  sich  freiwillig  (Cic.  fin.  5,  29,  87.  Tusc.  5,  39,  114.  LaberiusJ 
bei  Gell.  10,  17.   Tertull.  apol.  46,  verworfen  von  Plutarch.  de  curios.  12). 

4)  Diog.  9,  42.  Tzetz.  alleg.  Hom.  1,  89;  wie  er  sein  Leben  um  einige 
Tage  verlängerte  Joh.  Alexandr.  Hermes  5,  213  f.  (Dagegen  spricht  der 
Epikureer  Lucrez  3,  1037  von  Selbstmord). 

5)  Erbe  eines  ungeheuren  Vermögens,  liess  er  es  im  Stiche  (Cic.  fin.  ö, 
29,  87.  Horat.  epist.  1,  12,  12.  V.il.  Max.  8,  7  ext.  4.  Lact.  inst.  div.  3,  23. 
Philo  provid.  2,  13.  Dio  Chrys.  or.  54,  2.  Origen.  c.  Cels.  2,  41)  oder  brauchte 
seinen  Teil  vollständig  auf  (Demetr.  bei  Diog.  9,  36),  worauf  ihn  sein  Bruder 
ernähren  musste  (Antisthen.  bei  Diog.  9,  39),  Die  Abderiten  wollten  ihn 
deshalb  bestrafen,  als  er  ihnen  aber  seinen  |XEYac  SiaxoGfio«;  vorlas,  erhielt  er 
100  oder  gar  500  Talente  Ehrensold  (Antisth.  u.  Demetr.  a.  O.;  vgl.  Athen. 
4,  168b.  Clem.  Alex,  ström.  6,  755  =  631).  Sie  nannten  ihn  (ptXoao'fia 
(Aelian.  var.  bist.  4,  20)  oder  ootpia  (Clera.  Alax.  a.  O.  Suidas). 

6)  Hippokrates  (über  seine  Verbindung  mit  Demokritos  D  i  e  1  s  Kbcin. 
Mus.  31,  33)  soll  über  seinen  Geisteszustand  referieren  (Ps.  Hippocr.  epist.  X. 
Soranos  vit.  Hippocr.   Z.  31   f.  Tzetz.  Chil.  2,  983  ff.)- 

7)  Di  eis  doxographi  Graeci  p.  265  f.,  dazu  Anthol.  Palat.  7,  56.  58. 
59.  Horat.  epist.  2,  1,  194  ff.  Seneca  tranqu.  an.  15.  Juvenal.  sat.  10,  33  ff. 
Aelian.  v.  h.  4,  20  (FeXacIvo?,  wie  Suidas).  29.  Lucian.  Peregr.  Prot.  6. 
Cosmas  Mai  spicil.  Rom.  H  93. 


t)ie  Fachliteratur.  481 

diese  AufPassung  ging  wohl  von  der  epikureischen  Schule 
aus,  weil  der  Atomist  in  gewissem  Sinne  der  Vorläufer  ihres 
Meisters  war. 

Diogenes  verzeichnet  sechzig  angeblich  echte  Schriften  des 
Demokrit,  welche  Thrasyllos  wie  Piatos  Werke  in  Tetralogien 
ordnete;^)  eine  so  umfassende  und  vielseitige  Scliriftstellerei 
würde  in  der  klassischen  Zeit  einzig  dastehen ,  wenn  sich  nur 
nicht  vieles  ungehörige  unter  die  echten  Schriften  gedrängt 
hätte.  Mag  auch  der  Kritiker,  dem  Suidas  folgt,  wenn  er  nur 
zwei  Schriften  {\jA-(ac  di6.yt.oi[xoc  und  zBpl  ^oasw«:  y.6o]xoo)  dem  Philo- 
sophen selbst  zugesteht,  zu  weit  gehen_,  so  ist  doch  grosse  Vor- 
sicht angezeigt.  Unbedenklich  darf  man  die  acht  moralischen 
Schriften,  von  denen  Aristoteles  nichts  weiss,  ^)  verwerfen,  ob- 
gleich durch  die  Spruchbücher  gerade  aus  ihnen  zahlreiche 
Fragmente  erhalten  sind.^)  Auch  die  acht  Sammlungen  von 
alzlai'^)  und  die  Abhandlungen  über  Poesie,  Malerei,  Taktik 
u.  dgl.  ^)  sind  i-echt  bedenklich.  Mehr  Vertrauen  flössen  von 
vornherein  die  sechzehn  philosophischen  Schriften,  unter 
welchen  der  „grosse"  und  der  ,, kleine"  8tdxoa[jLog  hervorragen, 
ein,  ferner  zwölf  Bücher  über  die  mathematischen  Wissen- 
schaften ,  •^)     wozu     sich     die     musikalischen     Untersuchungen 


1)  Diog.  9,  46  flf. 

2)  S.  dagegen  part.  an.  1,  1  p.  642  a  24  flf. 

3)  Bereits  von  Meiners  Geschichte  des  Ursprungs,  Fortganges  und 
Verfalles  der  Wissenschaften  in  Griechenland  I  728  fl.  augezweifelt;  vgl.  Ten 
Briuk  Philol.  6,  577  ff.  23,  555  ff.  F.  Lortzing  über  die  ethischen 
Fragmente  Demokrits,  Fr.  des  Sophieng.  Berlin  1873  u.  besonders  E.  Roh  de 
Verhandl.  der  Philologenvers,  in  Trier  S.  70  fi.  A.  2 ;  über  die  Schrift  itepl 
e6ö"üfj,iYj(;  Rud.  Hirzel  Hermes  14,  354  ff,  lieber  die  Spruchsammlungen 
Cnrt  Wachsmuth  Studien  zu  den  griechischen  Florilegieu,  Berlin  1882 
S.  121  ff. ;  Demokritos  wird  hier  häufig  zu  Demokrates  verderbt  (s.  auch 
Suidas  V.  KaX>,[(j.a)(0(;  und  Wen  rieh  de  auctorum  Graec.  versionibus, 
Leipzig  1842  p,  93). 

4)  Die  No|j.ixa  aitta  erkannte  Thrasyllos  nicht  au.  Ailianos  beuützte 
die  aixiai  itepi  t^ü>uiv  in  den  Tiergeschichten. 

ö)  Thrasyllos  selbst  verwarf  irspl  loToptTjc;  taxttocov  wird  Aelian.  tact.  1 
ignoriert.  Doch  ist  für  diese  Ivhisse  Philodem,  de  mus.  col.  36  in  Erwägung 
zu  zieheu :  xal  iisp;  xa  'caTopc<ü[X£va  ooosvoc  yjxxov  noKoK^ä-^\).uiV. 

6)  Ilepl  xd>v  elSiJüv  ist  bereits  von  Theophrast  p.  514,  4  D.  citiert.  Eine 
der  astronomischen  Schriften  benützt  Ptolemaios  (de  appar.  p.  93  d)  unter 
dem  Titel  (paivofjiEva ;  die  Echtheit  derselben  dürfte  gesichert  sein,  weil  die 
Sittl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  II.  31  • 


482  Vierzehntes    Kapitel. 

wohl     fügen,     und     vier     wichtige,     die     Medizin     betreffende 
Schriften.^) 

In  Aegypten  entwickelten  sich  Magie,  Alchymie  und  ähn- 
liche Geheimwissenschaften    wahrscheinlich    schon    sehr    früh; 
dort  lernten  sie  die  Griechen  im  Zeitalter  der  Ptolemäer  kennen. 
Die    Geheimbücher   griechischer  Sprache    prunkten    daher   mit 
ägyptischen  Weisen,    aber   auch    der    imponierende  Name   des 
Naturforschers    von  Abdera   deckte  manches  dieser  Produkte.  ^) 
Da  gab  es  Uebersetzungen  der  Zauberbücher  des  Apollobeches 
von  Koptos  und  des  Phönikers  Dardanos,   die  Demokritos  aus] 
dem  Grabe  holte, ^)    sowie  der  Stele  des  babylonischen  Weisen] 
Akikaros,  ^)    es    gab   Schriften    über    die    heiligen  Bücher    von] 
Babylon  und  Meroe   und    was  sonst  die  verirrte  Phantasie  derj 
Menschen  noch  ausbrütete.  ^)     Selbst  die  Christen  benützten  dei 
Wunderraann  zur  Verkündigung    des   Messias.  ^)     Aus    solchenl 
phantastischen  Büchern    zog    man  vielleicht    schon    im  dritten 
Jahrhundert  der  Kaiserzeit  eine  Rezeptensammlung  (^oatxa  xai 
poTixa)  aus,  die  so  grossen  Anklang  fand,  dass  sie  von  mehreren] 
kommentiert    wurde     und     allein    von    allen    demokriteischen 
Schriften  erhalten   blieb ;  '^)    der  Name    ist    aber    vielleicht    erst 
später  hinzugesetzt,  weil  im  Texte  nichts  speziell  auf  Demokrit 
deutet.     Ausserdem    enthalten    die  Handschriften   verschiedene! 


Angaben  ungefähr  die  geographische  Breite  von  Abdera  voraussetzten  (vgl. 
Ptolem.  a,  O.  p.  94  a).  Anderes  bei  Mullach  ist  dagegen  nach  römischem 
Kalender  eingerichtet.  lieber  Demokrits  Mathematik  Carl  Blass  de  Piatone  j 
mathematico,  Bonn  1861  S.  8  f. 

1)  Eine    fünfte  ^epl  itoptzoö  xal  tiüv  (nTzb  v6ooi>    ßirjooovxcov    nahm  Thra- 
sylos  nicht  auf. 

2)  H.  Kopp  Beiträge  zur  Geschichte  der  Chemie  I  108  ff.  Berthelot 
Journal  des  savants  1884  p.  620  flf. 

3)  Plin.  nat.  bist.  30,  2. 

4)  Clem.  Alex.  I  p.  131  S  =  356  P. 

6)  Diogen.  9,  49.  Plin.  nat.  bist.  24,  102  (vgl.  dazn  die  kritische  Be- 
merkung von  Gell.  10,  12,  8). 

6)  Theophilus  bei  Malalas  p.  85,  3  ff.  ed.  Bonn,    ev  tg  'fikoaö'fio   abxob 

oüYYpa<p*. 

7)  Lateinisch  unter  dem  Titel  „de  arte  magna  sive  de  rebus  naturalibua" 
mit  den  Kommentaren  des  Synesios,  Pelagios  und  Stephanos  von  Alexandrien 
von  Pizinenti,  Padua  1673  herausgegeben,  wieder  abgedruckt  bei  Kopp  a.  O. 
S.  137  ff.  Den  dialogisierten  Kommentar  des  Synesios,  welcher  an  den 
alexandrinischen  Serapispriester  Dioskoros   gerichtet,    also    vor    389  abgefasst 


Die  Fachliteratur.  483 

naturhistorische    und    abergläubische  Kleinigkeiten   unter    dem 
Namen  des  grossen  Gelehrten. M 

Der  Untergang  sämmtlicher  Schriften,  welche  Thrasyllos 
als  echt  anerkannte,  während  das  Produkt  des  Aberglaubens 
erhalten  und  sogar  vielgelesen  blieb ,  ist  für  die  Wissenschaft 
der  späteren  Kaiserzeit  nicht  sehr  rühmlich,  zumal  da  vorher 
kein  Gelehrte!"  in  weiteren  Kreisen  eine  solche  Beliebtheit 
genossen  hatte,  wie  gerade  Demokritos.  Wussten  doch  nicht 
allein  die  Philosophen  und  Fachgelehrten,  z.  B.  der  kongeniale 
Aristoteles  und  seine  Schüler,  ^)  Demokrits  Forschungen  zu 
schätzen,  selbst  die  Grammatiker  und  Rhetoren  ^)  respektierten 
den  Schriftsteller,  welcher  seine  Untersuchungen  in  bilderreicher 
poetischer  und  doch  klarer  Sprache  mitteilte,  *)  gelegentlich 
auch  amüsante  Geschichten  nicht  verschmähte;  so  erzählte  er, 
als  er  über  das  Walten  des  Schicksals  sprach,  eine  Fabel  vom 
Adler  und  der  Schildkröte.  ^)  Diesen  Eigenschaften  verdankte 
es  Demokrit,  dass  seine  Schriften  im  ersten  Jahrhundert  n.  Chr. 
durch  Thrasyllos  eine  Recension  erfuhren  und  eine  propädeu- 
tische Einleitung  erhielten ;  *')  fünfhundert  Jahre  später  aber  las 
Simplikios  nichts  mehr  von  ihm,  doch  gelangten  einige  Schriften 
zu  den  Arabern. ') 


ist  und  zu  unserem  Texte  nicht  ganz  passt,  gab  Fabricius  in  der  bibliotheca 
Graeca  VIII  p.  233  ff.  (Hamburg  1717)  heraus,  vgl.  Ameilhon  Notices  et 
extraits  VII  2,  222;  Kopp  a.  O.  S.  144  ff.  Hier  und  in  ähnlichen  Hand- 
schriften werden  mehrere  sonst  unbekannte  Schriften  „Demokrits"  citiert. 
Nepualii  fragmentum  iiepl  xtuv  xaxä  ftviiTräO-siav  xai  ooiAJtdfl-stav  et  Democriti 
nepi  cofXTta^etwv  xal  ^cvTOTaS-si&v  reo.  W.  Gemoll,  Striegau  1884  war  mir 
nicht  zugänglich. 

1)  Oionys.  perieg.  rec.  Bernhardy  p.  XXXVII;  Rhein.  Mus.  28,  266  ff, 
279;  Hermes  14,  358  ff. 

2)  Theophrastos  schrieb  uspl  xy|(;  Af]|j.oxpixou  ftaxpoXoYioK;  (Diog.  5,  43) 
und  nspl  A7](jLoxpixou  (ib.  49),  Herakleides  itpoc  xöv  Avjaoxptxov  £4"'i'('*'l°^''^ 
(Diog.  5,  88). 

3)  Kallimachos  iciva^  xcüv  A"r][j.oxpöxou  •(■^^'"^awv  (sie)  v.al  aDvxaYJJiaxcuv 
Suidas;  'HY^joidva^  TptuaSeui;  itepl  X7)(;  A-rj[j.oxptxoo  Xe^scuc  Steph.  Byz.  Tpcuiä?, 
Hesychios  und  Suidas  haben  mehrere  Glossen  aus  Demokrit. 

4)  Cicero  de  orat.  1,  11,  49.  orator  20,  67  (mit  Plato  verglichen),  de 
divin.  2,  64,  132.  Dionys.  de  comp.  verb.  p.  372.  Plut.  quaest.  conviv.  5,  7,  6 
(8aip.oviü>c  'ki'^ziv  v.a.\  ^i.t'(aKonptKGyc,), 

6)  E.  Roh  de  Jahrbb.  f.  Phil.  121,  22  ff. 

6)  Tcc  upö  XYjc  ftvaYvcuaEcuc  xcöv  AYjfxoxpixou  ßtßXiaiv  Diog.  9,  41. 

7)  Dschemaluddiu    kannte    „de  corporum  solutioue  in  atoma,   tractatus 

31* 


484  Vierzehntes  Kapitel. 

Ueber  die  Seliriften  seiner  unmittelbaren  Schüler  ist  nichts 
überliefert;  hier  ist  aber  ein  später  Demokriteer  zu  nennen,  der  an 
der  FälschungderdeniokriteischenMagicanichtvnibeteiligt  gewesen 
7Ai  sein  scheint.  Bolos  aus  dem  ägyptischen  Mendesgau  wird 
nämlich  in  Verbindung  mit  dem  Titel  Trspi  ai)[i,7:a^(£t)(i>v  xal 
avTi7ra^(ec)ü)V  citiert^)  und  D;ro|xvfj[iaTa  waren  zwisclien  ihm  und 
DemokritoB  streitig.  ^)  Ausserdem  heisst  er  nicht  bloss  Pytha- 
goreer,  sondern  auch  Demokriteer.^) 

Auch  in  der  philosophischen  Literatur  der  klassischen  Zeit 
war  die  mystische  Richtung  nicht  ganz  ohne  Vertreter.  Der 
vielseitige  Ion  von  Chios  verfasste  ein  merkwürdiges  Buch 
TptaY[iö<;  oder  TpiaY{ioi',  worin  er  alles  auf  die  Zahl  drei  zurück- 
führte.^) Kallimachos  teilte  diese  seltsame  Schrift  fälschlich  dem 
Astrologen  Epigenes  aus  Rliodos  oder  Byzanz  zu,  welcher  über 
die  orphische  Dichtung  und  die  chaldäische  Astronomie  schrieb;^) 
seine  Zeit  ist  nicht  genauer  bekannt.  Hier  sei  auch  der  eigen- 
artigen Schrift  ,,Dreifuss"  (tpiTiooc:)  des  Ephesiers  Androu  ge- 
dacht, welche  von  einer  verbreiteten  auf  die  sieben  Weisen 
bezüglichen  Anekdote  den  Namen  hatte;  ^)  sie  soll  von  dem 
Historiker  Theopompos  benützt  worden  sein. '') 

Der  reine  Atheismus  endlich  scheint  keine  literarische  Ver- 


de pbilosophia  und  Briefe"  (Wen rieh  de  auctorum  Graec.  versionibns  p.  94). 
In  dem  unechten  Briefwechsel  des  Hippokrates  stehen  zwei  Demokritos  bei- 
gelegte Briefe  XVIII.  (XIX.)  XXIII. 

1)  Suidas  V.  BäXoc.  Schol.  Nicand.  Ther.  764. 

2)  Columella  7,  5. 

3)  Jenes  Suid,,  dieses  Schol.  a.  O. 

4)  Isoer.  16,  268.  Harpocr.  v.  "Iwv;  vgl.  Bentley  epist.  ad  Job.  Mil- 
lium  p.  508  flf,  (opu.scula,  Leipzig  1781);  Lobeck  Aglaopbamus  p.  340  f.; 
Fr.  Scholl  Rhein.  Mus.  32,  158  f.  Fragmente  bei  Stobae.  flor.  I  p.  218,  16 
Wachsm.  (Diels  doxogr.  p.  356)  n.  Job.  Philop.  in  Aristot.  i:.  '(sv.  xal  tpö'op. 
fol.  46  b,  Eine  merkwürdige  Parallele  liefert  dazu  die  Zeit  des  Humauisinus 
in  Renchlins  Schrift  de  verbo  mirifico. 

6)  Kallimachos  Harpocr.  (dagegen  spricht  das  Zeugnis  des  Isokratcs); 
aus  Rhodos  Varro,  Colum.  u.  l'liii.  n.  h.  iud.  VIII.  X.  XIV.  XV,  7,  56,  aus 
Byzanz  Sen.  quaest.  nat.  7,  3,  Censoriu.  7;  korrupt  Uzpi-fh-qz  iv  tü)  ntpX  rijc 
XaXxt^txTji;  Twv  (lies  it,  xwv  XaXSaixuiv)  fj.a9-Yj|jLaTixd>v  Schol,  Apoll.  3,  1378, 
vgl.  Stichle  Philol.  6,  763. 

6)  Fragmente  in  Müllens  fragm.  bistor.  Graec.  II  347. 

7)  Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  10,  3,  4. 


Die  Fachliteratur.  485 

tretung  gefunden  zu  haben,  da  die  angeblichen  Prosaschriften 
des  bekannten  Meliers  Diagoras  gefälscht  waren. ^) 

Alle  diese  Philosophen  veröffentlichten  ihre  Lehren,  um 
dieselben  der  Nachwelt  zu  überliefern  und  in  ihrer  eigenen 
Zeit  Schüler  zu  gewinnen;  beides  traf  bei  dem  pythagoreischen 
B  u  n  d  e  nicht  zu.  Die  älteren  Pythagoreer,  welche  über  die 
achäischen  Städte  Unteritaliens  verbreitet  waren,  vermieden 
jegliche  Veröffentlichung  ihrer  Lehren  so  sehr,  dass  sie,  wie  es 
heisst,  Hipparchos  wegen  Herausgabe  einer  Schrift  aus  dem 
Vereine  stiessen.^)  Allerdings  existierten  in  der  Kaiserzeit  nicht 
wenige  die  Namen  alter  Pythagoreer  führende  Schriften,  doch 
deckt  der  Dialekt  derselben  sofort  ihre  Unechtheit  ^)  auf,  denn 
die  alten  Pythagoreer  sprachen  weder  dorisch  noch  jonisch.  *) 
In  jener  Mundart  aber  ist  die  Hauptmasse  der  Literatur  abgefasst, 
von  welcher  uns  Stobaios  den  grössten  Theil  kennen  lehrt, 
weil  die  meisten  Schriften  morahsche  Themata  behandelten  ;  ^) 
manches  davon  ging  in  die  Spruchsammlungen  über ,  die 
Sprüche  der  Theano  (Pythagoras'  Gattin)  wurden  sogar  in  die 
syrische  Sprache  übersetzt.  ^)  Ausserdem  existierten  einige 
Darstellungen  der  pythagoreischen  Kosmologie  '^)  und  von  diesen 
sind  noch  zwei  erhalten. 


1)  Vgl.  Philodem.  k.  suasß.  p.  85  G. ;  4>p6Yiot  loyot  Tatian.,  äitoTCup- 
YiCovTsc  Siiidas,  vgl.  Cyiill.  c.  Julian.  6,  190. 

2)  Clem.  Alex,  ström.  5,  680  =  674  P. 

3)  Bentley  dissertatiou  upon  Pbalaris  p,  381  f.  (383  Wagn.)  sprach 
zuerst  Zweifel  aus;  vgl.  Gruppe  über  die  Fragmente  des  Archytas  und  der 
älteren  Pythagoreer,  Berlin  1840;  A.  Ed.  Chaignet  Pythagore  et  la  Philo- 
sophie Pythagoricieuue  contenant  les  fragments  de  Philolaus  et  Archytas, 
Paris  1873.  2  Bde.;  U  s  e  n  e  r,  Rhein.  Mus.  28,  431  flf. 

4)  Ueber  den  Dialekt  dieser  Fälschungen  Ad.  Matthäi  de  dialecto 
Pythagoreorum,  Göttingen  1878. 

5)  Ausserdem  wird  Eurytos  Tispl  töx«?  (Clem.  Alex,  ström.  6,  662  P) 
angeführt. 

6)  Herausg.  v.  Sachau  Inedita  Syriaca,  Wien  1870  (s.  S.  IV,  dazu  S.  V). 

7)  Thearidas  von  Metapont  (Jamblich.  vit.  Pyth.  266)  ixepl  cpooeo«;  Clem. 
Strom.  5,  728=;  611  (vgl.  Jumblich.  104),  Athamas  von  Poseidonia  (Jamblich. 
267)  Porphyr,  bei  Clem.  6,  746  =  624;  ist  auch  nepl  xy]c  teTpavttooc,  vier 
Bücher  mit  dem  Naiuen  des  Telauges  (Sohn  des  Pythagoras  und  der  Theano 
Suidas  V.  ösavo)  u.  iluS-aYopac,  Porphyr,  vit.  Pyth.  4)  dorisch  geschrieben? 
Diogenes  8,  43  kennt  es  noch  nicht.  Das  mathematische  Buch  des  Hippasos 
(Jarablich.  bei  Villoison  Anecd.  II  216)  ist  nach  Demetrios  Magnes  entstanden 
(Diogen.  8,  84).  Simplikios  in  Arist.  phys.  citiert  lol.  178  v  28  Paron  und 
161  r  7  Xuthos. 


486  Vierzehntes  Kapitel. 

Der  platonische  „Timaios"  gab  den  Anlass,  dem  Pytha- 
goreer  Timaios  von  Lokroi  eine  Schrift  unterzuschieben;  diese 
aus  Citaten  bekannte  Fälschung  ^)  wurde  durch  die  erhaltene 
„7repl(};o-/äc  xöojioo  xal  96010?"  verdrängt.^)  Letztere  ist  nichts  weiter 
als  ein  Excerpt  des  platonischen  Dialoges,^)  weshalb  später  Piatos 
Selbständigkeit  in  Zweifel  gezogen  wurde;  der  Neupythagoreer 
Nikomachos  von  Gerasa,  der  im  ersten  oder  zweiten  Jalirhunderte 
n.  Chr.  schrieb,  deutet  bereits  auf  sie  hin.'*) 

Ein  anderer  Pythagoreer  0  k  e  1  o  s  ^)  ist  als  Lukanier  eine 
fremdartige  Erscheinung  unter  den  Philosophen,  aber  gerade 
dies  mochte  einen  Fälscher  reizen.  Dieser  gab  sich  wenig 
Mühe,  sondern  sclirieb  sein  Produkt,  das  schon  Yarro  vorlag,  ^) 
unter  dem  Titel  „über  die  Natur  des  Weltalls"  '^)  aus  Aristo- 
xenos  und  Peripatetikern  zusammen.  Es  scheint  sogar  aus  der 
verhältnismässigen  Reinheit  des  Ausdrucks  hervorzugehen,  dass 
er  an  dem  Wortlaut  seiner  Quellen  wenig  änderte.  ^)  Während 
die  politischen  und  morahschen  Schriften,  die  man  Okelos 
ebenfalls  zuteilte,^)  untergingen,  blieb  jenes  Büchlein  in  mehreren 
Handschriften  erhalten,  ^°)  da  es  aber  in  Schulen  gelesen  wurde, 

1)  Plin.  nat.  bist,  2,  8.  Clem.  AI.  5,  116  Kl.  Stob.  ecl.  phys.  p.  16, 
14  Wachsm. 

2)  In  mehreren  Handschriften  heisst  sie  Ti\).aio<;  b  (xixpo?;  sie  ist  mit 
Plato  überliefert  und  gedruckt.  Zuerst  erschien  eine  von  Georgius  Valla  an- 
gefertigte Uebersetzung  (Venedig  1488,  1498). 

3)  Tennemann  System  der  platonischen  Philosophie  I  93  ff.;  W.  Anton 
quaest.  de  origine  libelli  n.  (p.  x.  x.  4'-  iuscripti  qui  vulgo  Timaeo  Locro 
tribnitur  I.  Berlin  1861  u.  Erfurt  1883,  quaestio  de  origine  libelli  Timaeo 
L.  tributi  continuata,  Essen  1869. 

4)  Harmon.  I  p.  24  Meibom  mit  den  Worten  (f  xal  EXatcuv  napvjxo- 
XoöS-Yjas.  Schol.  Plat.  p.  220  B  (nach  diesem  schrieb  er  auch  jJLaO^jiaTixd) 
u.  A.     Theon  von  Smyrna  erwähnte  das  Buch  noch  nicht. 

5)  Die  Schreibung  schwankt  zwischen  "ßxeXC^)©!:,  "OxeXoc  und  "OxxeXoc 
(Mnllach  fragm.  philos.  Graec.  I  p.  388  Anra.  Diels  doxographi  p.  187,  2). 
Bergk  Ztsch.  f.  Alterthumswiss.  1848  Sp.  1033  A.  vergleicht  das  oskische  Aukil. 

6)  Diels  doxographi  p.  187  f.;  „Philo"  de  incorrupt.  mundi,  wo  am 
Ende  von  c.  3  Okelos  gleichfalls  citiert  wird,  ist  unecht  (Diels  a.  O.  p.  107). 

7)  riept  TT)?  xoö  Tzixvzbz  (pooeux;,  bei  Procl.  in  Tim.  160e  ^apl  (puoecoc. 

8)  Roh  de  Rhein.  Mus.  27,  52  f. 

9)  Brief  des  Archytas  (!)  bei  Diogen.  8,  80  (nach  Usen  er  Rhein.  Mus. 
28,  433  von  dem  Fälscher  der  erhaltenen  Schrift  erdichtet);  Stob.  ecl.  phys. 
1,  13  p,  139,  17   Wachsm,  citiert  uepl  v6|jloo. 

10)  Zuerst   Paris    1539    gedruckt,     besser    von    Nogarola    Venedig    1569 
herausgegeben,  mit  Kommentar  von  Vizzanius  TBologna  1646,  Amsterdam  1661) 


Die  Fachliteratur.  487 

wurden  die  dorischen  Formen  durch  die  der  Koine  ersetzt;  nur 
ein  Citat  des  Stobaios  zeigt,  dass  der  Fälscher  dorisch  geschrieben 
liat.^)  Das  sechzehnte  und  siebzehnte  Jahrhundert  fand  an  dem 
Buche  merkwürdig  Geschmack. 

Neben  dieser  umfangreichen  dorischen  Literatur  stand  ver- 
einzelt ein  in  jonischer  Mundart  verfasstes  Buch,  welches  also 
anhob:  „Alkmaion^)  von  Kroton,  des  Peirithoos  Sohn,  sagte 
folgendes  zu  Brontinos,  Leon  und  Bathyllos".^)  Manche  hielten 
es,  vielleicht  durch  den  Dialekt  bewogen,  der  an  den  Geburts- 
ort des  Pythagoras  erinnerte,  für  die  erste  Pythagoreerschrift.*) 
Es  war  jedoch  gewiss  nicht  minder  gefälscht;  Plato  und  Aristo- 
teles ^)  dürften  über  Alkmaion  mündliche  Ueberlieferungen  benützt 

haben. 

Schärfere  Kritiker*')  betrachteten  als  das  älteste  Literatur- 
denkmal der  pythagoreischen  Lehre  ein  Buch  des  Ph  il  o  lao  s ,  '^) 
des  ersten  Pythagoreers,  der  nach  dem  eigentlichen  Griechenland 
kam.  Wie  er  durch  die  ünterrichtung  von  Schülern  von  der  alt- 
pythagoreischen Geheimthuerei  abwich,  so  wagte  er  auch  zuerst 
mit  einer  Schrift  in  die  Oeffentlichkeit  zu  treten.  Dies  ge- 
schah zur  selben  Zeit,    als  Sokrates   in  Athen    wirkte.^)     Sein 

und  Aug.  Fr.  Rudolphi  (Leipzig  1801) ;  zuletzt  von  Mullacb  hinter  Aristo telis 
de  Melisso  etc.  Berlin  1845  und  Fragm.  philos.  Graec.  I  383  ff.  bearbeitet. 

1)  Stob.  ecl.  phys.  1,  20  (24)  p.  173,  20  ff.  Wachsm.,  worauf  schon 
Vizzanius  in  seiner  Ausgabe  prolegg.  fol.  ***  aufmerksam  machte,  vgl. 
Bentley  dissertat.  upon  Phalaris  p.  383  f.  (384  f.). 

2)  Maur.  A.  Unna  de  Alcmaeone  Crotoniata  ejusque  fragmentis  quae 
supensunt,  in  Petersens  historischpbilol.  Studien  S.  41  ff.;  Zeitgenos.se  des 
Pittakos  und  zu  den  sieben  Weisen  gerechnet  Cyrill.  c.  Jul.  I  p.  12. 

3)  Diogen.  8,  83;  eine  Sentenz  Porphyr,  bei  Clem.  ström.  6,  746  ==  624. 
Philoponos  (in  Arist.  de  anima  c.  8)  las  die  Schrift  nicht  mehr. 

4)  Diogen.  8,  83.  Clem.  ström.  I  364  =  308  (=  Theodoret.  I  p.  400 
Seh.;  hier  und  p.  822  steht  'AXv.[j.äv). 

5)  Rud.  Hirzel  Hermes  11,  240  ff. 

6)  Demetrios  Magnes  bei  Diog.  8,  85. 

7)  A.  Böckh  Philolaos  des  Pythagoreers  Lehren  nebst  den  Bruch- 
stücken seines  Werkes,  Berlin  1819;  skeptisch  Gruppe  (S.  485  A.  3)  und 
Carl  Schaarschmidt  über  die  augebliche  Schriftstellerei  des  Philolaos 
und  die  Bruchstücke  der  ihm  zugeschriebenen  Bücher,  Bonn  1864. 

8)  Lehrer  des  Siramias  und  Kebes  Plato  Phaedo  61  d;  Aristoxenos  kannte 
seine  Schüler  persönlich  (Diog.  8,  46).  Daran  ist  festzuhalten  gegenüber  den 
Bemerkungen  von  Apollod.  Cyuic.  bei  Diog.  9,  30.  Cic.  de  orat.  3,  34,  139. 
Plutarch.  gen.  Socr.  13.  Schob  Plat.  p.  86  B.  Jamblich.  vit.  Pyth.  104.  Ueber 
die  Zeit  der  jüngeren  Pylbagoreer  Unger  Sitzungsber.  der  bayer.  Akad.  1883 
I  S. 190  ff. 


4B8  Vierzehntes  Kapitel. 

Werk  war,  da  er  selbst  ein  Dorier  war,  *)  in  dorischer  Sprache 
abgefasst  und  von  geringem  Umfang.  Während  man  an  dessen 
Echtheit,  weil  bereits  Timon  von  Phleius  (um  280)  seiner  gedenkt,''') 
nicht  zweifehl  darf,  traten  später  mehrere  Fälschungen  hinzu, ^) 
wobei  orakelhafte  Dunkelheit  den  Schein  der  Tiefsinnigkeit  er- 
wecken sollte.  *) 

Noch  mehr  als  das  Buch  des  Philolaos  gab  die  Schrift- 
stellerei  des  Taren tiners  A  r c  h  y  t  a  s  ^)  zu  jener  pseudopythagorei- 
schen Literatur  dorischer  Mundart  den  Anstoss.  Nach  den 
ältesten  Quellen  war  er  Zeitgenosse  und  Freund  Piatos,  ^)  bei 
dessen  dritter  Sicilienfahrt  er  eine  Rolle  gespielt  haben  soll 
(S.  288,  4),  und  obendrein  vielleicht  jünger  als  der  athenische 
Philosoph.  ^)     Obgleich  Archytas  seiner  Vaterstadt  als  Feldherr 

1)  Aus  Tarent  Vitruv.  1,  1,  16  p.  10,  15.  Claud.  Mam.  2,  3  p.  105,  7 
Eng.  Jamblich.   vit.  Pyth.  267,   dagegen    aus  Herakleia  Jamblicb.    a.  O.  266 

oder  Krotou  Diog.  8,  85.  Alles  übrige  ist  ganz  unsicher  (Diog.  8,  84 ;  bei 
Synes.  de  dono  astrolab.  p.  307  Pet.  u.  Theophyl.  Simoc.  epist.  71  mit  Archytas 
verwechselt). 

2)  Gell.  3,  17,  4  flf.  (vgl.  S.  292  A.  1);  auch  Xenokrates  (Jamblich,  theol. 
arithm.  p.  61  f.)  und  Neanthes  (Diog.  8,  65)  scheinen  die  Schrift  gekannt  zu 
haben.  Von  Aristoteles  sucht  Zelle  r  Hermes  10,  178  ff.  dasselbe  nachzu- 
weisen. Der  Titel  war  irspl  (puaecuc  (Theon  Plat.  math.  49.  Damasc.  princip.  50 
p.  133)  oder  nepl  xoafxto  (Stobaios  ecl.  1,  21  (22)  p.  187,  14  flf.  W.).  Von 
drei  Büchern  sprechen  Satyros  bei  Diog.  3,  9.  Diog.  8,  15.  Jamblich.  vit. 
Pyth.  199  (vgl.  Ps.  Plato  bei  Diog.  8,  84),  aber  nicht  wie  von  des  Philolaos 
eigenen  Werken. 

3)  'Ev  T(|)  npuitif)  <puotxt})  Nicomach.  barm.  I  p.  176,  Bdxj^ai  Procl.  comm. 
in  Euclid.  p.  22,  15  Friedl.  Stob.  ecl.  phys.  1,  15  (16)  p.  148,  4.  25  (26) 
p.  214,  21,  das  dritte  Buch  von  irspl  pü8-fj.wv  Claud.  Mamert.  de  statu  an.  2,  7 
p.  120,  13  flf.  E.,  nepl  ^ox&Z  Stob.  1,  20  (21)  p.  172,  9;  im  allgemeinen 
Vitruv.  1,  1  p.  10.  15.  Claud.  Mam.  2,  3  p.  105,  6  flf.  Böckh  gestand  nur  ein 
einziges  Werk  zu. 

4)  Schol.  Plat.  p.  87  B.  Claud.  Mam.  p.   105,  6  flf. 

6)  E  g  g  e  r  de  Archytae  Tar.  Pythagorici  vita  operibus  et  philosophia, 
Paris  1833;  Gust.  Hartenstein  de  Archytae  Tarentiui  tiagmentis  philoso- 
phicis,  Leipzig  1883;  Mull  ach  fragm.  philos.  II  p.  XIV  ff.  117  flf.  Aristo- 
xenos  von  Tarent  schrieb  seine  Biogiaphie;  sein  Vater  hiess  Hestiaios 
Aristox.    bei    Diog.    8,    79,     nicht  Mnesagoras). 

6)  Ps.  Plato  epist.  7,  338  c.  350a,  Zeitgenosse  des  jüngeren  Dionysios 
(Aristox.  bei  Athen.   12,  545  a). 

7)  Nach  Eratosthenes  bei  Eutoc.  in  Archim.  du  sphaera  II  2  p.  144  Ox. 
war  er  ein  Schüler  Piatos  ;  nach  Psellos  epist.  182  (Satlias  |i.eoatü>v.  ßißXioO-. 
V  462)  citierte  er  sogar  Theophrastos,  doch  war  die  betreffende  Schrift  sicher 
nicht  von  ihm. 


Die  Fachliteratur.  489 

die  wiclitigsten  Dienste  leistete,^)  fand  er  daneben  Zeit,  die 
|)Ositiven  Wissenschaften  mit  grossem  Erfolge  zu  l)etreiben  und 
(!ie  Ergebnisse  durch  zahh'eiche  Schriften  zu  veröffenthchen. 
Leider  wurde  auch  hier  das  echte  von  dem  unechten  über- 
wuchert. ^)  Wir  wollen  die  von  Stobaios  erwähnten  Schriften 
'■»ei  Seite  stellen/)  auch  der  kleine  Abriss  „über  die  zehn  Kate- 
fiorien",  dessen  Sprache  manche  Dorismen  enthält,  kann  selbst- 
verständlich nicht  von  Archytas  herrühren  ;  *)  von  den  Schriften, 
welche  dann  noch  bleiben,  können  wir  die  eine  Gruppe  die 
naturphilosophische  nennen.  Die  Echtheit  dieser  fast  nur 
durch  die  Aristotelesscholiasten  bekannten  Bücher'')  mag  dahin- 
gestellt bleiben,  hingegen  darf  man  dem,  was  Archytas  an 
mathematischen  und  musikalischen  Untersuchungen  beigelegt 
wird,  von  vornherein  mehr  Vertrauen  schenken.  Vor  allem  ist 
die  Echtheit  des  mathematischen  Werkes  nicht  zu  bezweifeln  ;^) 
auch  das  Buch  ,,über  die  Flöten"  scheint  dem  Tarentiner 
Archytas  gesichert.'') 

Diese  dorisch  geschriebenen  Werke  des  Archytas  regten 
sowohl  seinen  jüngeren  Landsmann  Aristoxenos  als  auch  die 
Produktion  angebhch  alter  Pythagoreerschriften  an,  bei  welcher 
mehr  philosophischer  Eifer  als  Gewinnsucht  die  Triebfeder  war.  ^) 


1)  Aristox.  bei  Diog.  8,  82  u.  Athen.  12,  545a;  Fs.  Plat.  epist.  9 
Plutarch.  praecept.  ger.  reip.  28,  5,  nach  Aelian.  v.  h.  7,  14  sechsmal,  nach 
Diog.  8,  79  siebenmal  Feldherr. 

2)  Porphyr,  in  Ptoleni.  härm.  p.  236  ou  fj-dcXioxa  xal  '^M-r^oia  Xi'^fzru  thai 
T«  QO'i'(pa\i\).r/.':rj.,  Varro  s.  Di  eis  doxographi  p.   188. 

3)  Zu  den  gefälschten  Moralia  gehört  auch  ntpl  oo'xiiaz  Jamblich,  protrept. 
p.   12  ff. 

4)  Abgedruckt  in  Mullachs  fragm,  philosoph.  I  570  ü.,  erwähnt  Schol. 
Hermog.  Walz  IV  297,  2. 

5)  Simplikios  zu  den  Kategorien  und  zur  Physik  und  Sophonias  zur 
Schrift  über  die  Seele.  Ausserdem  citiert  Claudian.  Mamert.  de  statu  an. 
2,  7  p.  121,  5  ff.  eine  Schrift  de  rerum  natura  mit  hohem  Lobe. 

6)  Fragmente  von  Fr.  B 1  a  s  s  Melauges  Graux  p.  573  ff.  gesammelt, 
vgl.  All  man  Hermathena  1884  p.   190  flf. 

7)  Athen.  4,  184  e  (aus  Aristoxenos  ?) ;  der  Pythagoreer  Euphranor  schrieb 
über  denselben  Gegenstand,  ebenso  Aristoxenos;  hingegen  ist  'Apyuxac  6  ap- 
}j.ovix6^  bei  Athen.  13,  600  f  oflenbar  der  gleichnamige  Musiker  aus  Mytilene 
(Diogen.  8,  82). 

8)  Die  bekannte  Stelle  David  in  Aristot.  categ.  p.  28  a  wird  mit  Un- 
recht verallgemeinert;  sie  besagt  nur,  dass  der  König  Juba  mit  angeblichen 
Werken  des  Pythagoras  betrogen  wurde,  spricht  aber  weder  von  einer  allge- 
meinen Verbreitung  derselben  noch  von  den  Pythagoreern. 


492  Vierzehntes  Kapitel. 

„Über  die  Ernährung  der  Gesunden"  herausgegeben  haben.  ^) 
Man  wird  an  dieser  Stelle  die  Besprechung  der  hippokratoischen 
Schriften  erwarten;  sowohl  in  Anbetracht  jedoch,  dass  Aristo- 
teles noch  keinen  Schriftsteller  Hippokrates  kennt,  sondern  eine 
Stelle  unserer  Sammlung  aus  Polybos  citiert,^)  als  auch  aus 
anderen  Gründen  kann  ich  nicht  umhin,  mich  denen  anzu- 
schliessen,  welche  die  Entstehung  des  hippokrateischen  Corpus 
der  Zeit  nach  Aristoteles  zuweisen,  und  hoffe  dies  an  einem 
anderen  Orte  darlegen  zu  können,  Aristoteles  erwähnt  auch 
einen  Arzt  Syennesis  aus  Kypern  und-  einen  gleichfalls 
von  der  halbbarbarischen  Insel  stammenden  Naturforscher  NikaHl 
goras.^) 

Im  übrigen  wurden  nur  über  mihtärischen  Fragen  Bücher 
geschrieben,'^)  weil  dieses  F^ach  gleichfalls  von  den  Sophisten 
gelehrt  wurde.  Ein  Zufall  hat  wenigstens  ein  Stück  eines  solchen 
Werkes  gerettet.  Ueber  Aineias,^)  wie  der  Verfasser  heisst, 
wüssten  wir  einzig  und  allein,  dass  er  vor  Kineas,  dem  Minister 
des  Königs  Pyrrhos,  welcher  das  ausführhche  Werk  in  einen 
Auszug  brachte,  ^)  gelebt  hat,  wenn  nicht  die  historischen  An- 
spielungen seines  Werkes  gerade  bis  zum  Jahre  357  herab- 
reichten;'') andererseits  kannte  er  die  grossartigen  Erfindungen 
Phihpps  wahrscheinlich  nicht.  ^)  Niemand ,  nicht  einmal  der 
Arkadier  Polybios,  deutet  an,  dass  dieser  Aineias  der  Stym- 
phalier,  welcher  unter  den  Zehntausend  Hauptmann  war  und 
366  das  Bundesheer  der  Arkadier  befehhgte,  sei.^)     Im  Gegen- 


1)  Suidas :  itspl  laTpixYj(;  =  Jtepl  Tpief?]«;  ÖYtstvöJv  ßtßXiov  a' ;  Diogened 
8,  66  teilt  ein  Epigramm,  das  Empedokles  angeblich  an  ihn  richtete,  mit. 

2)  Aristot.  hist.  an.  3,  3  p.  612  b  12  =  de  natura  hominis  6. 

3)  Hist.  an.  3,  3  p.  611b  2:5;  Diels  doxogr.  p.  228. 

4)  Die  t£)(V7j  ■(pa\).ii.äzu)'^  des  Künstlers  C  laukos  von  Samos  Schol.  Plat. 
p.  91  li.  beruht  auf  einem  ungeheuerlichen  Missverständnis. 

5)  Arn.  Hug  Aineias  von  Stymphalos,    Zürich  1877  (Progr.  der  Univ.). 

6)  Aelian.  de  instr.  acie  1. 

7)  Hug  S.  6  flf.  (vgl.  Köchly  (u.  Küstov.)  griech.  Kriegs-schriftsteller 
I  p.  7)  verzeichnet  die  Belege  bis  zum  Jahre  3ü0 ;  das  späteste  Ereignis 
(c.  31,  18  Krieg  gegen  den  jüngeren  Dionysios)  hat  A.  v.  Gutschmid 
Literar.  Centralblatt  1880  Sp.  589  nachgewiesen. 

8)  C.  32,  8 — 10  sind  nach  Hug  proleg.  p.  8  interpoliert;  ebensowenig 
kennt  er  die  Hellenika  Xenophons. 

0)  Xenoph.  anab.  4,  7,  13.  Hell.  7,  3,  1.  Für  die  Identität  Hug  a.  O. 
dagegeu  Ad.  Lauge  de  Aeneae  commeutario  poliorcetico,  Berlin  1879  p.  7 — 22. 


Die  Fachliteratur.  493 

teil  ist  es  fraglich,  ob  dieser  im  Jahre  357  überhaupt  am  Leben 
war,  jedenfalls  berücksichtigt  unser  Aineias  die  Ereignisse, 
welche  an  der  Propontis  und  in  ihrer  Umgebung  vorfielen ,  so 
auffallend,  dass  der  Schluss  nicht  gewagt  ist,  er  sei  dort  zu 
Hause  gewesen.  ^)  Vielleicht  lässt  die  Reinheit  der  Sprache  ^) 
auf  einen  Bewohner  des  thrakischen  Chersones  seh  Hessen.  Wie 
dem  auch  sein  mag,  Aineias  verfasste,  wahrscheinlich  durch 
Xenophous  Schriften  angeregt,  ■')  mehrere  selbständige  Abhand- 
lungen; er  citiert  selbst  TrapaGxsoaaTr/cd?  (c.  7,  4,  8,  5.  21,  1), 
'KO[A<3ziv.6c,  (14,  2),  ozpaxoKzdtoxi-Mc.  (21,  2)  und  axo6:5[i,aTa  (38,  5). 
Der  in  einem  einzigen  Ai-chetypus^)  erhaltene  Abschnitt  führt 
den  Titel  ;r£pl  xoö  ttw?  '/^pq  ;roXtop7,jD[jivoD<;  avTS'/etv  ^)  und  wurde 
zuerst  von  C.asaubonus  mit  Polyb  1609  herausgegeben.")  Die 
neuesten  Ausgaben  von  Rud.  Hercher  (Berlin  1870)  und  Arn. 
Hug.  Leipzig  1874  sind  für  Aineias'  schriftstellerischen  Ruf 
förderlich  gewesen,  indes  ist  über  Zahl  und  Umfang  der  fremden 
p]inschiebsel  noch  kein  Einverständnis  erzielt.')  Mag  nun  auch 
Aineias'  Stil  besser  sein,  als  man  früher  dachte,  so  hat  sich 
der  Autor  doch  nicht  gescheut,  die  historischen  Beispiele  fast 
wörtlich  aus  seinen  Quellen  (Herodot  und  Thukydides)  zu 
entlehnen.^)  Beiläufig  wird  noch  ein  alter  Taktiker  Xeno- 
krates  erwähnt.^) 

Von  den  einzelnen  Zweigen  der  Militärwissenschaft  wurde 
besonders  die  Reitkunst,  weil  die  vermögenden  Bürger  sich 
dafür  interessierten  ,  erörtert ;  bei  Xenophons  einschlägigen 
Schriften  (S.  461)  haben  wir  bereits  seines  Vorgängers  Simon 
gedachtt;  falls  er  der  Reiteroberst  ist,  welcher  in  den  ,, Rittern" 


1)  Die  Arkadier  werden  dagegen  nnr  einmal  (27,  1)  erwähnt  und  zwar 
zur  Erläuterung  von  ttvec- 

2)  Hug  S,  27. 

3)  Hug  S.  19.  24. 

4)  Medie.  55,  4,  wovon  es  Abschriften  gibt. 

5)  In  der  Handschrift  ist  diesen  Worten  AlXtavoü  taxxtxöv  6Tc6|xvVj|i.a, 
das  aus  der  subscriptio  der  vorhergehenden  Schrift  eindrang  vorgesetzt;  die 
Unterschrift  lautet  AIve'.ou  noXtopxYjTixa  [yj   AlXtavoö  xatJ-wc  yj  i5cp)(*fjj. 

6)  Ausserdem  sind  die  Ausgaben  von  Jac.  Gronovius  (Leiden  1675)  und 
Joh.  Cour.  Orelli  (Leipzig  181&  mit  Kommentar)  zu  nennen. 

7)  Hug  prolegomena  critica  ad  Aeneae  Poliorcetici  editioneni,  Zürich  1874. 

8)  Hug  Aineias  S.  9  ff.;  er  benützte  auch  mündliche  oder  schriftliche 
Anweisungen  älterer  Taktiker,  z.  B.  27,   1, 

9)  Diog.  4,   15. 


494  Vierzelintes  Kapitel. 

des  Aristophanes  (242)  vorkommt,   gehörte  seine  Schrift  zu  den 
ältesten  Denkmälern  der  attischen  Prosa. 

Der  Kuriosität  wegen  sei  erwähnt,  dass  Traum-  ^)  und 
Kochbücher^)  auf  Leser  rechnen  durften;  die  gastronomische 
Literatur  entwickelte  sich,  nachdem  die  ersten  Versuche  bei  den 
Gourniands  Siciliens  entstanden  waren ,  in  Athen  freilich  erst 
seit  Alexander  dem  Grossen,  als  man  sich  für  den  Verlust 
der  Grossmachtstellung  durch  materielle  Genüsse  zu  trösten 
begann.  ^) 


1)  Plut.  Aristid.  27;  über  Xen.  anal).  7,  8,  1  s.  aber  Scheu  kl 
Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  60,  589. 

2)  Von  dem  Sicilier  Mithaikos  Plat.  Gorg.  518  b,  ,, 

3)  Der  erste  Verfasser  einer  wissenschaftlichen  Speisekarte ,  der  Parasit 
Chaireplion,  war  ein  Zeitgenosse  der  jüngeren  Komödie  (Calliinach.  bei 
Athen.  6,  244a.  Machon  ib.  243  a  flf.). 


f^9{ 


Nachträge  und  Berichtigungen. 


S.  44,2:    Nach  Dionys.  eoiiipos.  verb.   12   schrieb    Gorgias    Tispl   xatpoö. 

S.  53:  Vgl.  E.  Tal  bot  de  ludicris  apud  veteres  landationibus, 
Paris   1850. 

S.  63,3:  Die  Eede  gegen  Herodes  ist,  wie  §76.  77  zeigen,  lange  nach 
dem  Jahr  420  verfasst. 

S.  66,  2:  Zu  Melampus    Tispl  TiaXfiJiv  ist  beizufügen  c.  33  p.  461   Franz. 

S.  67,  4:  Aus  dejn  Voikomraen  von  ca  oder  xx  habe  ich  absichtlich 
keine  Schlüsse  gezogen,  weil  die  handschriftliche  üeberliefernng  zu  unsicher 
und  vor  allem  von  Grammatikern  nach  ihren  Theorien  geregelt  ist.  Es  ver^ 
dient  übrigens  Beachtung,  dass  sich  die  Kritiker  auch  bei  Plato  für  aa  ent- 
schieden 'Ael.  Dionys.  bei  Eustath.  II.  K  385,  vgl.  Dionys.  Lys.  2);  dann 
bliebe  tx  nur  den  Komikern,  den  Rednern  (Antiphon  allein  ausgenommen;  und 
—  Xenophon.  Immerhin  dürften  die  älteren  Schriftsteller,  solange  Athen 
in  der  Prosa  noch  nicht  das  entschiedene  Uebergewicht  erlangt  hatte,  diesen 
Idiotismus  vermieden  haben. 

S.  72,  2  :  A  für  Isaios  kollationiert  bei  S  c  h  e  n  k  1  Wiener  Studien 
3,195  fif.  und  Bürmann  in  seiner  Ausgabe  1883;  Blass  der  Codex  Oxo- 
niensis  insbes.  des  Lykurgos,  Jalirbb.  f.  PhiL    111,  597  flf. 

S.  244:  Von  der  Teubnerausgabe  gab  Blass  1885  den  ersten  Band  neu 
heraus  und  zwar  erschien  nicht  bloss  der  Text,  sondern  auch  eine  editio  major. 

S.  275,  9  Z.  4  lies  „erhaltene". 

S.  299,  4  Z.  1  lies  Diog.  4,  5. 

S.  842,  5  lieber  die  Handschriften  des  Hermeias  Schanz  Hermes  18,  129 ff. 

S.    342,  6  :  Kommentar  zum  Parmeuides  Damasc.  tz.  äpy^ütv  p.  128  Kopp. 

S.  343,  6:  Zu  Rose  vgl.  L.  Traube  Rhein.  Mus.  39,467  f. 

S.  344,  5:  Dieser  Kommentar  wird  im  Cod.  Monac.  Graec.  100  einem 
Stratou  beigelegt;  diesen  citiert  Damasc.  a.  O.  p.  174,  177. 

S.   858,  1 :  Ein  neues  Fragment  Jahrbb.  f.  Philol.  93,  165. 

S.  360,  5 :  Zwei  weitere  Bruchstücke  a.  O.  S.  163. 

S.    390  A.   10  Z.  3  lies  Mnemos.  n.  s.  7,  47. 

S.  415  A.  1 :  über  den  Kriegsaufang  Lipsius  Leipziger  Studien  8, 
161  ff.;  U.  V.  Wilamowitz  Hermes  20,477  ff 

S.   417  a.  E.  lies  Athenagoras. 


^ 


CiL 


KüL.  Hof-  und  UnivrrsitXts-Buchdruckkrbi  von  Dr.  C.  Wolf  &  Sohn. 


n 


T.  MAR  2 


PA 

3057 

S57 

T.1-2 


Sittl,  Karl 

Geschichte  der 
griechischen  literatur 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY