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PUBLIC LIBRARY
Kansas City, Ho.
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Z ENVELOPS CO., KANSAS CITY, NO,
PUBLIC LIBRARY
ODD! H5133mi 1
Aus den Vorreden
zur zweiterij dritten und vierten Auflage,
Was die Grundsatze betrifft, welcke ich bei dem vorliegenden
Werke als *die leitenden festlialten zu mftssen glaubte, so ist das Wich-
tigste in der Einleitung zur orsten Vorlesung erwalint.
Eine besondore Aufmerksamkeit babe icli auf die Scldchtung des
Material*, die Gruppirunfj des Sto/s verwendet. Darauf scMea es mir
vor Allem anzukommen, wenn vor den Augen des Lesers em deut-
liclies Bild dor bisherigen Entwicklung wirklicli aufgestellt werden
Bollte. Die Gruppirung des Stoffs in den ineisten der vorhandenen
Werke war nicht tibersicMlicli. Icli glaube, mit der meinigen, in der
Hauptsache wenigstens, das Eiclitige getroffen zu liaben, oline damit in
Abrede zu stellen, dass bei weiteren Fortscliritten Umstellungen noth-
wendig sein werden.
Ein zwoitor, eben so wichtiger Zweck war fur mich. eine au-
nahernde Feststellung der allgemeinsten Ge&ichtspuncte, der Kategorien,
unter denen die Hauptepoclien und die Haupterscteinungen zu be-
greifen sind. Diesen ScMtt zu tliun, scbien mir vorzugsweise am dbr
Zeit, um der Willkur oder Einseitigkeit in der Auffassung, der Zer-
splitterung und Yereinzelung in den Ansichten entgegenzutreten. Natur-
licb. konnte nicM zugleich und in demselben Grrade auch. die ent-
gegengesetzte Seite, der Eeiehtlium der Detailschilderung, berucksicMigt
werden. Icli xnusste mich zu Gunsten der einen Seite auf Kosten der
anderen entsclieiden, wenn icli nicht eine ganz \inverMtnissxnassig gi-6s-
sere Ausdelmung in Ansprucb. nelimen wollte.
Welter habe icli versuclit, die Gesc-hichte der Musik mit den wichttffsten
IV
!> ,
Ersctieinungen des allgemeinen Geisteslebens in Vwlindtfng zu Iringen
Naturlich konnten Mer nur erst die nachsten, anniiherungwcisen Bostim-
mungen gegeben werden, undausserordentlichvielbleibtnochzu tlmn tibrig.
Vergleicht man indess mit dem Gegebenen die friihere Betraehtungswcise
der Erscheinungen auf. musikalischem Gebiet, so wircl man findon, dass ich
damit iiberhaupt den" Anfang gemaclit liabe. Jetzt ist vieles von dem,
was ich zuerst aussprach, schon in das Leben ubergegangen. Das zu-
letzt Gesagte gilt uberhaupt von vielen in dem Bttclie ausgesproclionon
Anscliauungen. Bs ist dasselbe niclit wie man vielleicM vermuthon
konnte miter den Einflitssen des Umschwungs dor leteten Jalire
entstanden, meine Ansicliten im Gegontheil warou festgostellt, bovor an
den letzteren gedachfc wurde. Der gogeuwartige Umscliwuug war die
ErfuUung dessen, was ich goalmt hatte, Iccinosw^gH das inoiuo llichkmg
neti Bestimmende. Nur in Folge der iimoreu Verwandbcliaft moiner
Bestrebungen ergriff ich Partei ftir E. Wagner.
Endlich war fur mich eiu Hauptxiel inoinea Strebeua dor Wunscli
der WiederenoecJcung der Meisterwerke der 'MrJlow.nGU Jahrhuudet'lfi.
Ich liabe, soweit nur irgend daxu Golegonlioit geboton war, stets mieh
bestrebt, auf diese Schiltee aufmorksam zu luaehen, und wonn man die
gegenwartigen Zustande mit deiieri vergleicht, die nocii vor drcwsig Jalireu
die herrsctenden waren, wenn man die mhlrclcheu Auffiiliruiigou iiltorer
Werke, die vielen erncuteu Auagabeu doryolbou inn A ago fanst, HO darf
ich wol hieran einen Antheil mir beimessen. Wenn ich indoss die
altere Kunst dem Leben cler Gogeuwart naho scu briugtm bointiht war,
so geschah. dies, im Unterscliied von andoron Freundon der Vorxoifc, nicht
mit jener bei dieseu *beliebten oinseitigen Voiiiobe fiir daa Alto, en g*o-
schah immer mit vorxtiglicliBtor BeriickBichtigung dor Oogouwart, so
dass diese nicht als die Zeit dos Vorfalb orHchion, niclit als elwas
Untergeordnetes, im Gegenthoil als die Haii]>taacljo zur floltung kani.
Es ist dies das Unterachoidcnde moinor Auffassung von der Anderer,
welche ausschKesslich die altero Kunat wollen golton lassen. Ich strobto
nach unparteiischer Beurthoilung allor Hpochon nnd suelite mich eben
so weit von dem entgegengeselsston Fohler oiuor ausschliesslichen Aner*
keunung der Neuzeit fern ^u halten.
Das geschichtliche Material habe ich aus den grossoron vorliande-
nen Werken nur aufgenommen. Die Aufstellung der Kategorien gait
mir als die Hauptsache uncl das Thatsachliche zog icli mehr nur zur
Erfiillung und Belebung in dio Darstellung herein. Meine Schrift soil
dalier keineswegs an die Stelle anderer grosserer "Werke treten, diese
uberfltissig machen, sie soil zu ihnen hinfilkren und die oft etwas ab-
sehreckende Lecture derselben durch eine vorausgegangene Orientirung
erleichtern, zugleich aber soil sie in den Stand setzen, eine bestinnnte
Ansicht, welclie aus meinem Ueberblick gewonnen wurde, mitzubringen,
clamit der naifc dem Gegenstancl noch nicht vertraute Leser die grosse
principielle Binseitigkeit, der die rneisten dieser Scliriften unterliegen
vermeiden lernt.
In eine erschopfendo Darstellung der Geschichte der Musik gehort
auch eine ausfuhrliche und vollsttodigo Benieksichtigimg der tedmischeii
Soite, des gesammtou Materials und der Umbildungen, die im Gebrauclie
desselben erfolgt sind; in glcieher Weise eine Geschichte der inusikali-
schen Formcngestaltung. Sollen derartige Angabon aber melir sein als
eine ganz ausserliclie, gcistlose Besclireibung, so muss man zuvor zur
Vorgoistigung der Erachoinungen, zur Erfassung des die Formen schaf-
fonden und mngestaltcndon achOpforisclion Princips durcligedrungen sein,
um scinon Ausgaugnpunct von dieser Seite nehmen zu konnon. Um zu
diesena Eesultat zu gelangen, war das, was icli gegeben habe, der erste
nothwendige Schritt. Nur auf diesom Wege wird man domnach in dor
Folgozoit weiter zu gelangen vonnogen, niclit allein von Seite der cm-
piriscben Forschung mit Uiugoliung desselben.
So hoffe ich, dass man mir Gereclifcigkeit widerfahren lassen wcrde,
selbst wenn die Zukimft liingst liber das, was ich gegeben habe, lunaus-
gogangen ist, Mnausgegangen dariiber sowol durch ein reicheres, immer
neu lierzugebraclites thatsacbliches Material und durch Aufklarung liber
viele dunklo, jotzt nodi wenig boarboitete Partien, als auch durch Ver-
naittlung einer weiter ausgobildoteu Aesthetik und einer fortgeschrlttenen
Kritik. Bonn wie die GescMclite dor Kritik und Aesthetik vorarbeitet,
so wird die erstere wieder oine ausserordentliche Forderung orhalten,
wenn die lotztgenaunten beiden Fiicher weiter gediehon sind.
Dr. F. Brendd.
Vorwort
zur fiinfton imd seclistou Auflagp.
Als (lor Untorzeichnoto von der Vorlagshandlung die Auffordoning
erMelt, die fftnfte Auflage dor BrendoPscLon GcBehi elite dor Mnsik vor-
znbereiten, war es zugloicli oino Innoro Vorpflichtung, woblio ilm be-
stimmte, diese Aufgabo xu ubernolmien. Molirorc Jahre liindurch haU.o
er mit dem verowigtcn Verfasser ties vorliegcndon Workos in naliom
perBonliclien Verkohr gestanclcn und oine ITftllo goistigor Anroguugon
Ton ihm enipfangen, Eino in sidi liarmonisclio Natur, wio Brondol
war, im Besitz einer selbststandig errungcnon durdigcMldoten Welt-
anschauung, die sein ganzos Woaon lobonclig durclulriing, voll goiBtigor
Kegsamkeit, mit gloiclior Encrgio di luloreswju dort Lubona wio dor
Kiinst mid der WiBBonschaft erfassond, bt^ginHhirt itir die Jdoalo dor
Zukunft, wio sic. durcli das Uingon und Mtrebon dor (jogonwart liin-
durch diinimeni, don Blick Bchaffoiwfroudig vorwiirts gorielitot, niiiHHto
er, wie jodo walirliaft productive Evsclioiinmg , naiuontlioli anf Jiingerc 7
die, empfanglicli , ilun nahor traton, allnoitig bolcbcnd wirton. lit
innigom Danko gegon den Veratorbonoii bckoime ich OB, daHH UrondoPH
Personlichkeit auf moine Eiitwicldung von outsclK^idoniloin KinlluHHO
gcwesen 1st. EB war somit aucli nur cine Pflicht d<u* Piolat, dans icli
seine goistigo fliutoiiassonBcliaft antnit, gowiBsonliafL bc-strobt, dan von
ibm Empfangono wiodorum mm Nutzou deusolbou xu vorworthou.
BrondePs Goscldcliio dor Musik, oiu .Hanptwcvrk, woicliOB go winner-'
maasson den Korn seiner GoHaituntlowtungon , dio Mmumo aoiuor dor
Kunstwissenschaft gogobonon Anrogungou ontluilfc, iat luwtroitig von
epocbemacliender Bedentung gowosou* Die gonaimuto gogonwatiige
Kritik stoht, bowusst odor unbowiiHBt, uutor doiu KinfhiHHo dor in ilir
niedorgclogton Anschauungen und orBclioint von ibnon gonahrt
ersten Male war Mer in clas bisher nur in ausserlicher Zusammen-
stellung vorliegende Material Zusammenhang gebracht, die GescMchte
cler Musik als ein grosses, gesetzmfesig sicli entwickelndes Ganzes ge-
fasst und clas Urtlieil fiber ihre einzelnen Ersclieinungen objectiv, nack
wissenschaftlichen Gesichtspuncten festgesteUt, waren die verschiodenen
Epoclion sowol, wie die grossen Trager derselben in dem Mittelpunct,
iu cler Eigentlitiinlichkeit nntl Mile ihres Lebens, in iliren innersten
Zusainnicnliiingen unter sich, wie mit der allgemcinen Geistosentwiek-
limg erfasst. Zu solchen Besultaten war freilicli nur zu gelangen durch
cine Vereinigung von philosophischem Tiefblick mit dem Vermogen
IraiiBtleriBcher Intuition, wie sie Brendel eigen war. Ihr verdanlen
wir u.A. jeno in jeder Beziehung meisterliaft ausgeffihrton Cliarakteristiken
imscrer drei Claysiker Haydn, Mozart und Beethoven, Cliai*akteristiken,
wolcho oine tiofore, treuere und umfassendere Anscliauung von dem
Wcson dcrselbon, ilirer Entwicklting und ihrein Verhiiltniss zu einancler
gebon, aln en allo bcstgemeiuten Analysen ilirer Werke, wie sie bisher
&
moint ublioli waren, alle specifisch musikalischen Erorterungen zu gewaliren
venndgeiL Jeno Objoctivitfit der Anscliauung, cler fireie und weite Blick,
die Kinwiclit in clas Walton und die Ziele cles in* der geschicbtlichon Ent-
wicklung der Kunst sioli oflbnbaroudon GeisteB ist es auch gewesen, welclio
ihn mit voller Begeisterung und Entscliiedenheit fur die drei Meister
eintreten Mess , welche *an cler Spitzo der gegenwartigen Epoclie stehen,
fur Berlioz, Wagner, Liszt. Mit einer Sicherhoit, welche nanaent-
licli Berlioz und Liszt gegemiber, die erst in neuester Zeit eine eat-
sprocliende Wiirdigung zu finden beginnen, tiberrasclien muss, erkannte
Brendol ihre Becleutung, erfasste or den Kernpunct der durch ihre Er-
sclioinung angeregten Fragen und fixirte or die Grundzfige ffir ihro
Bourtheilung. Die Vordiensto, welcho sich Brendel uni die Forderung
dor Anerkennung clieser Manner erworben hat, werden mit deren Naineu
uutrennbar vorknfipft bloiben,
Die Toiidenz cler Brendernclien Musikgeschichte , nach welcher
dieselbe dem Lescr in grossen Ziigen ein cleutliclies Bild dor gesammten
Entwicldung der Musik vor Augen stellen und hauptsachlich die
geistigen Beziige in den Erscheinungen zur Anschauung bringen sollte,
machtc es nothig, bei der Aufnahme des geschichtlichen Materials mit
vm __
einor gewissen Besclinlnkung m verfaliren. Brondol hat sicli Meriiber
ausdriicklich orklart, und os war demnach niclit am Platzo, wonn man ihm
aus clem Mangel dor lustorischon Dotailscliildonmg und dor Quollen-
forscliung oinen Vorwurf machte, und einen Tadol gogon ilm aussprach,
dass or Etwas niclit leistete, was zu loisten gar niclit seino Absicht war.
Dass es nach Feststollung dor aUgomeinen Qosiclitspuncto die woitere
Aufgabe sei, von ilinen aus inclir und mohr wiodor zuin Oonoroton liorab-
zustoigen, dosson war sich Brondcl nolir wolil bewnsBt, und hat or oben-
falls ausdrficklich bemerkt. Da dor Ilntorzcuclmoto mit dor Brwoitorung
des Worses in clem bezoiclmoten Sinno noch niclit mm Al)schlusa go-
langt ist, hat or sich bci dor Bearbeitung dor vorliegondcn sochston
Auflage darauf boschraukt, daa Tluit.Hfu-hlicho gcnan nach don neuo-
sten Foi'Bchungcn foHtzuKtollon dor el)cn o,rst orHcliionouo 4. Band
von AmbroB' Musikgoschichto konnte liiorl)oi nicht inohr bouutzt
worilen , die biographibclicn Baton und dio (Chronologic zu borichtigon,
hie und da dio Angaben fiber nou nidi ontwickdndo .Formon priiciwor zu
fassen und in dor Barstollung dor nounsfcon 55oit die in dor jungHton ()o-
genwart aufgotrotonon Tonsoteor und auBffilu f oncl(jn KiinBtlor luichzutragon,
sowic dio Urthoilo fiber 'die boroifcs bowpvochon gewoH(mon Lobondon, wo
OH noting orscliion, m orgauzon.
Leipzig, im Soptomber 1878.
I
Inhalts-Verzeielmiss.
Vorlesung.
Seite
Einleitung. Erste Anfange der christlichen Musik. Ambrosius. Gregor.
Weitere Fortschritte im Mittelalter. Hucbaldus. Guido von Arezzo. Franco
von Koln. Marchettus. Johannes de Minis. Die weltliche Musik dieser Zeit.
Troubadours und Minnesanger. Tliibaut, Brste Versuche auf musikalisch-
dramatischem Gebiet, Adam de la Hale 1
Ziveite Vorlesung.
Die GescMchte der Musik bei denNiederlandern: Dufay. Ockenheim.
Der Zustand des Orgelspiels : Antonio degli Organi und Bernhard der Deutsche.
Notendruck: Petrucci. Josquin. Deutsche und italienische Tonsetzer.
Willaert. Orlandus Lassus. Bintheilung der Geschichte der Musik, die
allgenieine Entwicklung des Geistes in der Geschichte, die Stufenfolge der
Kiinste und die weltgeschichtliche Stellung der Tonkunst ,20
Dritte Vorksuny.
Geschichte der Musik in Italien: Eomische Schnle, Palestrina, Nanini*
Allogri. Vittoria, Baj 40
Vierte Vorlesung.
Die weltliche Musik dieser Zeit in Italien. Allgemeiner Umschwung
des Geistes. Irste Anfange der Oper. Caccini, Bardi, Graf von Vernio.
Galilei. Peri. OorsL Einuccini. JB. del Cavaliere. Das Oratorium.
Wesen und geschichtliche Bedeutung der neuen Brfindungen 58
F&nfte Vorlesung,
Zustand der Instrumentalmusik. Fortgang der Oper; Giacobbl Quagliati.
Marco da Gagliano. Tonsetzer im Stile Palestrina's : Benevoli und Bernabei.
Spatere Meister: Viadana und Carissimi; Cavalli und Cesti. Neapolita-
nische Schule: A. Scarlatti. Durante. Leo. Greco. Astorga, Spatere Ton-
setzer: Jomelli. Teradeglias, Pergolose "... 77
Sechste Vorlesuny.
Seito
Die Gesangskunst in Italien; Ferri. Farinelli. Porpora. Pistocclii
Bernacchi. Erste Ausbildung der Kunst des Yiolinspiels : Corelli Tartini.
Locatelli. Pianoforte und Orgel : Dom. Scarlatti. Frescobaldi. Die vene-
tianische Scliule: A. und GK Gabriell Lotti. Marcello. Oaldara. Die
bolognesisclie Schule: Colonna, Clari ............... 97
Siebente Vorlesung.
Die Hauptepochen der ELunst. Cliarakteristik der italionischen und
deutschen Musik. Blick auf die Hauptentwicklungsstufen der letztereu . . 116
Ac Ate Vorlesung.
Erste Anfange der deutschen llusik. Lutlier. Der evangelische Ge-
meindegesang. Quellen. desselben. Walther. Senfi. Allgemeino Einthcilung 132
N&unte^ Vorlefnmg.
Fortgang nach Luther's Todc. Osiander. Johannes Eccard. M. Pratorius.
Schiitz. Orgel- und Klaviermusik: M. Pratorius. Scheidt. Paoliolbol.
AmmerbacK. Die Suite und die Sonatc. Kuhnau. Die Laute ..... 1f)()
Zehnte Vorlesuny.
Der weltliche G-esang. Albert. Verpflanzung clcr Oper nach Doutsch-
land, H. Schiitz. Die Oper in Hamburg, Keiser. Matthcson. Handel.
Telemann. Handel und Sebastian Bach, Cliarakteristik Bolder von Eochlit^ 171
El fie Vorle.siDtfj.
Handel und Sebastian Bach. Ghnraktoristik Bcider, Allgemeino Be-
trachtungcn tilier das richtigo Yerstandniss insbosondoro Bach's untl die
moderne Ueberavbeitung alterer Werke. Dor Wonclepunct in dor Gosohiohto
der deutschen llusik ..... , .............. 208
r /A oolfte Vor/Mw t fj*
Erste Anfange der franzosisehon Musik: die iranssosisclio Opov. Caiubort.
Lully. Wciterer Fortgang: Gluck und Piccini ........... ^l>7
Drcisehnte I r
Die italienischo Oper in Beutsehknd: Hasse. Nainuanu, Graun. Die
tleutsche, insbesondcro koinische ()))er, die Opcrotto und das Melodrani:
G. Benda. Schweitzer. Hillor. Ditiersdorf. Eoichardt, Wonnol Mttllor.
Erstcr Aufsohwung der Instruinentahuusik ; Emanuol Bach, Friedoinaim
Bach. J. Haydn . . * ................... 2(50
Vierzeknte
Mozart und Beethoven. Biographien und Charaktoristik dcrselbeu ,
XI
Fiinfzehnte Vorlesung.
Allgemeine Oharakteristik Haydn's, Mozart's und Beethoven's .... 306
Seckszehnte Vorlesung.
Die Schule Mozart's in Deutschland, Frankreich und Italien. DieKirchen-
musik in Deutschland. Allgemeine Entwicklung des religiosen G-eistes.
Folgerungen hieraus beziiglicli der Zustande der Kirchenmusik 328
Siebzehnte Vorlesung.
Die Kirchenmusik des letzten Jahrhunderts : Emanuel und Friedemann
Bach. Stoltzel. G-raun. Eolle. Homilius. Doles. Killer. Naumann. Fasch.
Fux. G-assmann. Tuma. Czernohorsky. Brixi. Zach. Stadler. Eybler.
Ett. Tomaschek. Cherubini. Schneider. Lowe. Klein. Mendelssohn. Haupt-
mann. Franz. Kiel. Beethoven. Wagner. Schumann. Berlioz. Liszt.
Orgelmusik und Orgelvirtuosen: Einck. Fischer. Eitter. Hesse. Haupt.
Schneider. Becker. Schcllenberg. Stade. Thiele. Merkel. Faisst. Krejci.
Brosig. Fischer. Thomas. Topfer. "Winterberger, Korner. Engel. Liszt.
Ghoralgesang: Hiller. Eitter. Das Oratorimn: Schneider. Mendelssohn.
Schumann. Marx. 4 Hiller. Eeissiger. Eubinstein, Leonhard. Eeinthaler.
Engel. Markull. Mangold, Meinarclus. Kiel. Liszt 346
Aehteelmte Vorlesung.
Die Oper. Bntwicklung derselben in Deutschland riach Mozart. Zumsteeg.
Winter. Weigl. Gallus. Gryrowetz. Himmel. Kreutzer. Hummel. Beethoven.
Spohr. C. M. v. Weber. Marschner a ... 374
Neunzehnte Vorlesung.
Die Oper. Bntwicklung derselben in Italien. Ficcini. Traetta. Paesiello.
Oiniarosa. Martin. Mayer. Zingarelli. Eossini. Charakteristik der italieni-
schen Oper. Fort gang auf dem Gfebiete der Oper in Frankreich. Die komische
Oper, clas Taudeville. Eameau. Eousseau. Monsigny. Philidor. d'Alayrac.
Isouard. Boieldieu. Herold. Halevy. Adam. Die grosse Oper daselbst.
Salieri. Oherubini. Mehul. Spontini. Die neucste Epoche der Oper seit
1830 in Frankreich. Auber. Meyerbeer. Die italienische Oper der neuesten
Zeit. Bellini, Donizetti. Verdi 401
Zwttnzigste Vorlesun'g.
Die ueuoro Epoche der Oper in Deutschland seit dem Jahre 1880. Be-
trachtungen darliber und Oharakteristik der Zustande. Die Ursachen des
"Verfalis. Beispielswcise Erwahnung mehrerer Tonsetzer: Eies. Wolfram.
Ohelard. Lindpaintner. Kreutzer. Eeissiger. Lortzing. Dramatische Sanger
und Sangerinnen. Die Mozart' sche Schule der Instramentalmusik. Eosetti.
Pleyel. Q-yrowetz. Wranitzky. Hoffmeister. F. E. Fesca. A. Eomberg.
G-. Onslow. L. Spohr. Die Mozart' sche Schule der Pianofortemusik. Hummel.
Moscheles. 0. Ozerny. Wolfl. Steibelt. A. E. Muller. J. W. Tomaschek.
A. Schmitt. 0. M. v. Weber, dementi. Cramer. Berger. A, Klengel.
Seite
Field. Prinz Louis Ferdinand. Dus&ek. 0, Mayer. Kalkbrenner, H. Herz,
Pollini. Virtuosen auf der Violine und anderen Orchesterinstrumenten. Be-
trachtungen uber die Stellung und Bedeutung der ausfiihrenden im G-egen-
satz zur schaffenden Kunst .................. 430
JEirvmdzwansigste Vorleswig,
Der erneute Aufschwung der deutschen Musik in den 30er und 40cr
Jahren, Concert-, Kammer- und Hausniusik als Mittelpunct der Entwicklung.
F. Ries. F. Schubert. C. Lowe. F. Menclelssohn-Bartholdy. R. Schumann.
F. Chopin. Stephen Heller ................... 461
Zweiund&waiisigste Vorlesnng.
H, Berlioz. R. Franz. Die Instrumental-, insbcsondere Pianoforte-
virtuositat und der erneute Aufsclrwung derselbcn: F. Liszt. F. llendels-
sohn. Clara Schumann. A. Henselt. F. Hillor. S. Thalberg u. A, Virtuoson
auf den Orchesterinstrumenten : N. Paganini. Ernst Vieuxtomps u. A. Parish-
Alvars. JDie Schulen Mendelssohn's und Schumann's: N. W. Grade. F. Hillor.
St. Bennett. J. J. H. Verliulst. J. Eietz. C. Beinooke. H. Hirsohbacb. Aeltere,
noch in dieser Epoche thatige Toasetzer, sowie jungere, wolche cine mehr
vereinzelte Stellung einnehmen: L. Spohr. H. Mar.sclmer. C. GK Reissiger.
W, H. Yeit. J. W. Kalliwoda. F. Lachner u. A. Die Kritik : F. Kochlitz,
E. T. A. Hoffmann. G. W. Fink, L. Rellstab. A. B. Marx. ft. "Weber.
R, Schumann .... ................... 501
Vorlwung.
Die Zeit des Ucbcrgangcs und der ncuosto Aufsclawung. R. AVagner . 549
V'ierund&WMiz'igHtti Vovlcsnny.
Die Theorie E. Wagner's. Die Musik als Sorxdorkunst dom Wagnor'schon
musikalischen Drama gcgoniiber. Franz Lisnt in seiner zwelton Epocho. Die
Schulen "Wagner's und Liszt's, Raff, v. Billow. Sobolowski. v, Bronsart. Soifrisj.
Draesokc. Lassen, Cornelius. "Woisslioimer, Pamrosch. Gotzo, Hitter* J* Rcubko.
Schulz-Beuthen. Riemonsohneidor. Suchor. Stor. Khighardt, Hubor. Lohmann.
Andere hervorragendc Talcnte dieser Zoit. Volkmann. Rubiiifltoin. Die
Schulen Mendelssohn's und Sclramami'H. Brahms, Joachim. Bargiol
Kirchnor. Jensen. Grimm u, A. Tonsoteer mil minder b(-stitumt ausg(-
pragtor Physiognomic. Nachtraglicho Erwahnung luehroror Namoiu Virtuo-
scn dor noueston Zeit. .............. ..... r>65
Schlussbctrachtung. Riickblick auf den durcMaufonen Wog, Dor bis-
herige Standpunct der TonkuuRt. Dor Umschwungf der neuofltcu Zoit und
die Aufgaben fur Gogonwart itncl Zukunft .............
Erste Vorlesung,
Einleitung. Erste Anfiinge der christliclien Musik. Amljrosius. Gregor. Weitere
Fortscliritte im Mittelaltcr. liucbaldus. Ghiido von Armo. Franco von Koln.
Marclicttus von Padua. Johannes do Muris. Die wc k ltliclie Musik dieser #eit. Trou-
badours und Mimicsangor. Tliibaut Erste Yersuche auf musikaliscli-drama-
tischem G-cbiet. Adam de la Halo,
Iiulena icli es untcmehmo, in, tlom nachfolgenclen Cursus Tor Ihnen
die Gescliiclite dor Musik m boliandoln, muss icli mich zunSlcliBt sowohl
fiber die Grlinde, welclie niich r m der Walil dieses Qegenstandes bestimm-
teu, al aucli liber die Gosichtspuncto, uuter welch en icli eine Beliand-
lung dcssclbon ffir aiigemosson eraelito, auBSprecbeu.
Die Musik ist die hcrrscliende Kunafc der Gegenwart; iiicbt nur,
daRH diesoll)0 in den weitestcn Kreasen Eiugaiig gewonnen hat, man
erkennt in ihr zugleicli oincu wichtagen Tlieil der Eraiehnng, und ein
orliohtes und grundlicheres Interesso an der Tonkunst gilt als eine nicht
abzuweisende Fordorung fur den Gebildeteii. Dies rechtfertigt im Allge-
meinen die Walil moincs Gcgonstandes, wenn icli vor einem PubKcum,
welclieB nicht allein aus Kfmstlem und Kiinstlerimien besteht, denselben
zur Beliandlnng wiihle. Man kann jetzt fast durcliweg, wenn auch nicbt
eigone Tvenntniss und Uebnng, KO docli gostcigerto Empfangliclikeit und
Bekannteohaft init den Hauptwerkon dor Tonkunst bei dem Publicum
vorauBHeteen. Es lag jodocli in den binherigeii Verhfiltnisson, wenn trotz
diesos gesteigerten Intoressos, trotz allcr Vortrautlieit rait den Werken
dor Tonkunst, ein tie feres VerstiindniBS naeli verschiedenen Seiten hin
oft nodi immer yermisBt wtirde. Die gewobnliche Einfiihrung bildete
bisher in der Regel Pianofortespiel und Gesang, und in Fallen, wo diese
Uebung in der Jugend nicht gewonneu wurde, eine durcli haufigen
Concertbesuch vermittelte Bekanutnchaft mit den Moisterwerken , wenig-
stcns der neuercn Zelt. Griindlicljeres VerstandniBS , eine mnfassendere,
bowusstere An&chauung mangelte. Die Theorie liegt dem Kunsstfreunde
zu fern ; die musikalische Tvritik sotzt eine specielle Vortrantlieit voraus ;
so 1st dem Publicum, aucli bci clem beaten Willen, wenig odor gar kerne
Gelegenkeit geboten, si<jli ein liefores Verstandniss m erwerben. Ir
diesem Uebelstancle liegt dor zweite Grund fur die Walil nioinos Gegon-
standes. Die Gescliichte der Kunsfc ist die beste Lelirmoistorin ; die
Bekanntschaft mit xhr ist das, was dem Kunstfreunde, und mit ilim auch
einem grossen Theile der Dilettanton und Kunstler, bislier mangelte ; sie
ist, indem sie das allmahliche Werden, die Entsteliung und Woitor-
bildung bis zu dem Pimcte der Vollendung, ebon so selir den Riick-
gang und den Verfall zeigt, mehr als jedcs andere Gobiet nmsikaliscken
Wissens geoignet, eine gonauore Eiusiclit, ein grundlicheres Verstandniss
iusbesondere aucli der Gogonwart und ilirer Ersclioiimngen vorznboreiten.
Niclit antiquarisclie Gelelirsamkeit will icli dahor duroh moino Beluind-
Imig des GcgenstandcB ford(u*n. Es iwt zwar moine Absicht, Iliuon eine
Anschauung der gosainintou Kunwi zu gewiiliren und aucli die Grossen
der Vorgangcnlioit ntihor m rficlccn; vorzugwwoiao abor wfinsclio ioh auf
Hire BotLoiligung an dor Xunnt unnatteibar cinzuwirken und Sie zu
.einem l)ewuHBtcron VorHtfinduiHK der JUauptwerko der Tonkunnt und ihror
M'eister m fiiliron.
Die fiesicilitspuncfco ITir UKUIIO Beliandlung do.s (Jegenslandes orgobon
sioh mm Thcil Iiionms, zimi Tlioi] aim dciu Slandjmncto der ("Jeacluclit-
schreibuug dor Musik in dor Gogomvart. fch nproclio niclit alloin und
ausscliliesHlidi zu Kfmstleni und Ivfuistltu'iiuuui, icli richte moino Worte
an (j(sbildcto ilberliaii])!,, an o.in Publiciiin, vvi( k . cs J^r. lioclilitz vor
Augen liaite, aln or ? ,Fur Fnnindo dor Tonkuimt" Hi-hrieb. Ks ist dom-
nach das, was nur do.n Musikc^r infcoroHHinMi kann, ontHcIiiodou auHZU-
HcliliftHHon. KH ist lonior niclit das oxHt( k , Mai, dans icli dicson Gogon-
stand vor einem groHMoron PubUomu bekmcllo. Otdloro "Wiodorholungon
habon mir goswigt, w( k .lcli(3 Ausdolinung als dio zwockinitaigHto zu be-
trachten, sie liabon anir gololirt, daws (^s dwv.lums liilHcli infc, Nainon und
Tliateaclien m liilufon, W(dl boi dor goringon Vortraiitlio.it d<u- Moisten
iriit unsorom Gogonstando dadtirc.h nur Vorwirrung liorvorgomfon wird;
ira GogontUoil liegt ^n-ado in indgliclistor Bosc-lin'tnliung dan untor den
gegonwiirtiigon VovliiiltniHHon 'und untor niehion (JoHicliljHimuctou, nac.h
meinem Daf(lrluilt(i, <ui)zi{f Uiclitigo; nur dadwv.li kann dio ({ondiiclito
d<u- Miwik doin Kunsirroiindo nalior tfobraoht, das Abscliraekeude bo-
soitigt werdon,
Was die blsborige Boliandlung dos Gogonstandos botvifft, HO wird
oino kurzo Ucborsiclit fiber dan (Jolointoto moino Aufgabo in diosor Bo-
ziolmng sogldcli foHtntollon. Dio Gost-liiditc dor Miwik Tiat in nouestor
Zeit grossero Beachtung und eine liber die fruher gemachten Anfange
binausgehende Bearbeitung gefuiiden. Nachdem man ina vorigen Jahr-
hundert in England, Deutschlantl nnd Italian begonnen hatte, in grosseren
Geschichtswerken freilicli noch selir rolie und migeordneto Materialien-
saninilungen 7Ai veranstalten, ist erst soit 40 bis 50 Jahren welter For-
derndes, zum Tlieil Grosses, geleistet worden. Ich nenne unter diesen
^orderern zunachst den beriihmten lieidelberger Juristen Thibaut, der
ii seiner geistvollen Sclirift: ,,Ueber Eeinlieit der Tonkunst", einer der
Erston in den 20 er Jahren t dieses Jalirhunclerts. auf die unbeachteten
Schiitze der Vergangenheit aufmerksam machte, und fur das Studium
der altoren Musik eine nachdriickliche Anregung gab. Der k. k. Hof-
rath It. G. Kiese wetter, Edler von Wiesenbrunn in "Wien hat
sp liter in seiner ,,Geschichte der europaisch-abendliindischen oder unserer
houtigon Musik" (Leipzig, Breitkopf und Hiirtel) ein umfassendes Lehr-
bucli gogeben, worin das Material wohl geordnet und kritisch gesicltet
aufgestellt ist, ausserdera in mehreren anderen Wcrken, so namentlich
in seiner in dersolben Verlagshandlung erschieneneu Schrift: ,,Scliick-
nale und BeschafTenheit dcs weltliehen Gesanges etc." einzelne Partien
der Oescliichte der Musik ausfuhrlicher bebandclt. Urn dieselbe Zeit,
rl. h. in den 4()cr Jahren, wnrdo von deni preussischen Gelieimrath
0. von Winter fold in Berlin die grosse Epoche der deutschen Musik
von Luther bis auf Sob.' Bach und H tin del in einem hochst griind-
lichen, ausgezcichneten Werke behandclt, welchen unter do-in Titel:
,,T)er ovangelisclie Kirchengesang" gleichfalls von der genannten Hand-
lung veroffentliclit worden ist, naclidcm schon fruher in iihnlicher Weise
die Qescbichto der vonotianischen Musikschulo von demselben Verfasser
bearbeitet worden war. Eine vortreffliehe Monographie liber den, grossten
italienisclion Tonseteer Q. P. da Palestrina hat der papstliche Ka-
pellmeister G. Baini: ,,TJeber das Leben und die Werke des G. P.
da Palestrina", deutsch von F. S. Kandler (Leipzig, Breitkopf und
Hartel 1834), gegeben. Verdiensle, insbesondore was die Hulfsmittel
xum Studium cler Musik betriift, erwarb sich auch der Leipziger Organist
0. F, Becker: icli nenne beispielsweise nur seine Sclirift: ,,Die Ton-
werke des 16. und 17. Jahrhunderts " (Leipzig, Fleischer 1847). In
seiner ,,Geschiehte der Hausmusik" (Leipzig, Fest'sche Verlagsbuchh,
1840) hat derselbo eiiien bis dahin ganz imbeachteten Gegenstand zum
ersten Male bearbeitet. Eine geistvolle Zusammensfcellung, der erste
Versuch einer pragmatischen Qeschichte unter hoheren, allgemeinen
kunstgescliichtUchen GesichtHpuncten, findet sich in dor BiograpWe
Mozart's von dem Uusson A, Ulibischeff, obschon dem Werke groSse
Einseitigkeit und Befangenheit in Bossug auf olio neuoron "ErBohointmgen
mm Vorwurf gemacht werden raiiHB. Elno AuBwahl von MuHikHtuokon 1
aus den verschiedensten Epocheu nut kurxen Klrlfuitorungon hat V r. Itocli-
litz In seinem grosseii Worker ,,Saimnlung voratglieher UoHangHHtftektf
vom Ursprung gesotera&BsigGr Harmonic etc." (Mainx, Solicit) gogobon.
Yortreffliches loisteto A. B Marx in cinxoliion Aufeiiteon und Hiograi>hlon
in Schilling's ,,UniveraallQxikou dor Tonkunnt' 4 und an aiohroron andoren
Orten. In seiner ,,Kunsfc den GoBangoH" hat dornolbe yiouilioh, xtiorHl
den Versuch gemacht, das Chaos friilmr ungoordnoior VorHtollungon xu
lichten mid in Be/vug auf oinigo Haupt]>uncto xinn Princ.i]) vov/tidriugon,
Ich nenne ferner nnter Dencn, dio sioh Vordionnto crworbou habon, Howohl
durch Schriften, wie (lurch HorauB^abo alter Workc: Dohu, (kuninor,
Prosko, Frlir. vonTuchor. AuHgo/oichuotow mullich int naiHouLlioh
in allerncuoster Zoit violfac.li goloistofc wordon. Unfco.r <1on dor Qiudlon-
forschiuig angclidrigen W<u'kcn orwsilnio icli: A, Sclnuid'B HchviHt fibor
Qluck: 3,OhriHtoph Wlllil)ald Kitfaa' von (Uuck. DOHHOU Lobcm und ton-
Mnstlorisclios Wirko.n "(Lo.ip/Jg, Fbinchor 185^), In dionoiu Hucho int /tun
ersten Male cine uaiifasscndo DarHttdlung don r rhatHru'.hlic-hoH
so wenig daBsclhc aiu'h gcsnftgt, wan dan iiHlh(^.iH( 4 lu k . (Iriboil
Ich nenno fernor in dioHoin KiiHaimnculjango Otto Jahn'H 'Work flbtvr
Mozart, das von "Frhu"! ric.h Ohry Haiidor nbcir Ilsindol, dio iin ornluui
Bando voiiie^ndo Jtiogruphio Hol>. Bach'n" von M K U(;a (Hftitnritljclio
dreiWerkebelliroitkoprund Iliirtol), llaydu'H von (I I<\ Pohl (L Hand),
C. M. v. Wcbor'H von Max Maria v, Wob<n , nowio dan Huc.lt <-. M
v. Weber in Hoincn "Workcn" vou Jfihun, fc.nuu* dio Bio^'niphion
Bcothovou'H von Nolil und Tluiyor, Franz Mohuborl'H von If,
Kroisslo v, Hollboni, dioMonographio von 'Ilndhardt flbor dinOpor in
Mfinchcn, von PfirHlouau fiber frfilioro Dn^dnor MuHikyjiHi.ando. A. 1{.
Marx IwhancloltG in umfangroicJuMi Hnhriflion <! 1 nek nnddi( v . Opo.r", HOWIO
Beethoven aln Tondichter, Kinigo Jjihro (VOIu^r vorollenllicJiio dorrtolbo
Autor eine Schril't: ,,I)in Mtwik den 19, Jjihrhnnderi.H und Hire IMlegc,", die
ebon fill IH hior atigefnhrt wnrdeii nniHH, uui, HO inehr, aln darin d(r
(lor Kiehtnng, die ic.h binho-r vo.rlblgl; haJ)(\, iin "Wesonilic.hon I
AxiHBordem hat donwlbo in Heino,n ,,Krinn( k <rung(^n", Mi(.th( i Jlnngeu UUH
neinern Leben enttialtend, H<,itrag( i , xur ZeitgCrMchic.hi^ gelicdnrt (I<b<r-
luiupt hat nich in den lotxttvu Jahron der IteichUuun der Public-atiioTinn
nocli jnolir geHteigert. Kataloge, .Hriefw^'.Imol, xuin Thoil hoc-lml; dankenH
wcrther Art, Hind violfach crsc.huinc.n* (<di hebe uut,or dienen thin M oy.arU
Ivutalog von L. v. Kiic.hol, dit^ von dtunHc.lbon heraUHgo^^eiHui Brirtfo
.11 oo fcli ov on's an d<vn tehorxog "Rudolph, und die von Ij. No hi vv-
dffentlichten Briefe des genannten Meisters, sowie die zwei Bancle um-
fassende Briefsammlung von Mendelssohn hervor. In Bezug auf geist-
volle Auffassung und tiefes Verstandniss sincl B. "Wagner's gegenwartig
in einer Gesammtausgabe (Leipzig, E. W. Fritzsch) vorliegenden Schriften,
namentlich ,,0per und Drama", sowie F. Liszt's Aufsatze in der ,,Neuen
Zeitschrift fur Musik" (in den Banclen 40, 4:1 und welter) von hochster Be-
deutung geworden. Eine grosse Anzalil von Monographien, Ideineren Sclirif-
ten uberliaupt fiber einzelne Tonsetzer oder einzeliie Eiclitungen der Ton-
kunst ware schliesslich nocli anzufiiliren, wenn hier der Ort sein konnte,
ein ganz speciolles Verzeichniss zu geben. Aucli die Gesehiclite der Musik
selbst, als zusammenhangendes Gauzes, erMelt durcli das nmfangreiche, MB
zum vierten Bande vorgeschrittene Werk von A. W. Ambros eine in lioliem
Grade dankenswertlie Bereicherimg. Von grOsster Bedeutung ist ferner, was
Eduarcl Sclielle in einzelneii Arbeiten, namentlicli fiber fruhere Zeit-
abschnitte, in der ,,Nenen Zeitschrift fur Musik" niedergelegt liat, und
luerbei ist nocli niclit einmal (lessen, was auslandiache, namentlich
franz5sische Scliriffcsteller geleiatet liaben, gedacht. Allerdings sind aueh
inungon aufgetancht, welche, ohne alien Beruf, und ohne naeli
einer Soite, sei es nacli der der historischen Forscliung oder der
'\vi6aenschaffclichen Betrachtung, Selbststandiges zu bieten, lediglich den
gftustigen Moment zu benutzen und auszubeuten suchen.
Sie entnelimen aus dicsen Angaben, wie die TMtigkoit auf dem
Gebiote, welches 'wir zu durchlaufen haben, in neuerer Zeit mehr und
niehr sich gesteigert hat. Bin ganz auHserordentlicher Eeiclithum des
Stoffes ist hsroitB aufgespoichert. Viele Absclinitte der Gesohichte der
Miinik sind in (let That beinahe chon erschopfoud und mit grosser Meister-
Hchaft beliandolt, audero froilich erscheinen zur Zeit noch iminer ver-
nachliisHigt. Naliirlich haben wir in dieser unserer gegenwartigen Dar-
stellung von diesem Roichthum faat abzusehen. In dem engen Ralimen,
in clen ich das Ganze zusammeniaBsen muss, wurde es eine Unmoglich-
keit sein, denwdbeii zu bewaltigen. Uns kommt es darauf an, in leiclit-
fassliclier, mogliclist ftbersichtlicher Darstellung einen Blick auf das
Ganze der Ent wick lung zu eroffnen, don Strom der Brscheinungen,
die gogensoitigc Beziehung sowie die Aufeinanderf^a^e der-
H el ben, den ZuHammeuhang clarin vor Augen zu stellen. Auch
gescliielit es leioht, daas )>oi der Vortiefung in einen hesondoron Gegen-
stand von Seiten der Aufcoren gowisse subjective Sympathien und An-
tipathien sich erzeugen, welche vor oinor imifasHendenJBetrachtung nicht
Stich halten. Solcher Binseitigkeit gegenftber muss es unser Bestroben
jcin, mit frciem Blick das G esammtgebiot zu beherrschen,
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mit Unbefangeuheit clcn Worth auch des VerBchiodenartigsten abzuwfigon,
urn auf diese Weiso uns zu einer moglichst allgomoingtiltigon Anachau-
ungsweise zu erhoben* Tin ongston Zusammenhango fernov mit diesor
Aufgabe, mit einer zu gowinnonden uinfassonden Uobersicht tibor
den Gang der Erscheinungen steht die andero: cine tioforo Einniclit
in die innere Gesetzmassigkeit zu gewinnen, in Bozug auf das
Ganze des Stoffs zum Princip vorzudringon. Die Geachickto dor
Kunst ist melir ais nur ein hunter Wochsel zufalligor PoraOnlichkeifcon
und Brscheinungen. Auf die Erfassung dioser tiofor liegondon Gcsctz-
massigkcit kommt GB daher weitorhin kauptaiichlich an, und dies inn BO
mehr, als diese Aufgabe im Qanzen nur erst Bolten gostollt mid oino
L5sung derselben vcrsucht worclen ist. Tlir wcrdon wir daher cine
besondere Aufmerksanikeit zu widmcn hal)on. Eino solcho Hotrachtxmg
ist zugleich die Grundlago fiir je<le liOhcro Kritik, gooignot, oino objec-
tive Wflrdigung der vcrscbicdoncn KunstorHchoinungon, an dor OB mr
Zeit noch so sehr felilt, anzuhahneiu KB ist fornor au<un Zwo<jk, die
Tonkunst in ihren Bossiohuiigon zur allgomoinou gointigon Knl-
wicklung erkennen zu lasson, ihren ZiiHanmionhang init don a^8%-
meinon, welthowegendon Miichteu, Boweit dicB gogenwi'lrtig, Im ^ k
fast ganzliclien Mangel tiller Vorarbeilen, nioglich, darzuthmu W( 'fin
ich endlich den tiefon goiyiigon Inhalt, dor in den "Worken
grosson Tonmcislor zur ErHclioinuug gokommou int,
bemiilit bin, rosultirt diiraus die WoltaiiBcluuiung dor
Kunstlor und ihror Kpochen. Wir habon auf dioso WOJHO, wio ich
glaube, ek oigontlifimlicJios Gobiot abgogronzt, innorhalb d(^HHO)i wir unn
bewegen. werdon. Daboi soil moino DarBtellung die Looturo jonor vor-
hin genannton Sclirifton kcinonwogs Qborflilsaig inachon, im Gogcniihoi!
zu donselben und zu ein or aiiBftihrlichoren Boschftftigung daiuit hitiloitcn.
Was darin hin und wiodor EiriscitigOH vorkonmit, wordon Wio, vorhoroiliot
durch das hi or Gogebono, clnnn mit groHBeror Hicliorlioit Jjourthoilou
konnen, und pclilicaHlich an Hoinon Ort zu Htollon wiwaon. Am ntiof-
mtitterlichsten ist binher iitmier die Nouzoit bohandolt wordon. Sio
isl dalier auch voraigweiso zu botonon und tuu aim fill uliclmton m bo-
handeln. EB gilt dio GoHihtH]mncto fiir ErfuBBiuig dcrnolbon uufeulindon,
es gilt die Gegenwart zu bogroifon, inn don groHBen Hohritt mr nMwim
Kunatstufo vomiberoiton, OH wircl nofcliwendig, Abroohnung mit dor Vor-
gangonhoit m halton, urn Hodanu mit nm BO gTfiBBOror Bontimmthoit dor
Zukunft cntgogontroton zu konnen: allos dioB frei YOU jodwodor Pavfcoi-
lichkeit, yon allor Voroingonommouhoit, Wor dio OoBchiclito o
behandoln will, BIUBH lib or don Partoion Htohon,
Ich kann micli nach diesen einleitenden Bemerkungen sogleich zur
Sacho selbst wenden, und gebe Ilinen in der heutigen und in der
nachsten Vorlesung einen Ueberhlick fiber die Vorgeschichte unserer
Kunst im Mittelaltcr bis zur Zeit des hohern Aufschwunges derselben
im 16. Jahrhunclert. Ich beschranke micli hier auf das Nothwendigste ;
es ist eine kurze Uebersicht der Hauptpuncte, die ich Ihneri gebe.
Kiese wetter bat gerade diesen Absclmitt In seiueni Geschichtsabriss
selir ausfiihrlich dargestellt, so dass derselbe in seiner Selirift fast die
grossere Halfte dersolben einnimmt. Diesein Autor folge ich hier in
meiner Erzahlung. Allerdings hat Schelle in den vorhin bereits er-
walmten Artikeln gegen viele der bisher ublichen Ansichten und somit
auch gegen die von Kiosewetter mitgetheilten Ilesultate seiner Forsch-
ungen Einsprueli erhoben und bezeichnet gar Manclios als vollig unzu-
lassig. Schelle hat indess noch keine ausfiihrliclic selbststSndige Dar-
stellung aller dieser Vorgange, aus dor es moglich wiirde, eine zusammen-
hangende Mittheilung zu entlehnen, gegeben, mid ich werde mich daher
darauf beschranken, an den botreffenden Stollen auf dessen abweichende
Auffassung hinztfweisen.
Es war eine weit verbrcifceto, ticf eingewurzelte Meinung, dass
unsero heutige Musik aus der der alien Griechen entsprungen, gewisser-
maassen nur eine Portsetzung derselben sei, und die SchriftsteHor sprachen
deslialb auch hiiufig von einem Wiodoraufleben der giiccMschen Musik
im Mittolaltor. Ki eg e wetter, in seineni zucrsb genaunten Worke, ist
dieser Ansicht mit Bestimmtlieit entgcgengotreten, indein er zu Anfang
clesselben sagt: Allerdings gab es eine Zeit, in wekher die christliche
Musik cles europaischen Occidents sich bei jener RathB erholte und
lange sehr lange wurden die AusHprficlie der griechischen Sclnift-
steller als die Quelle aller nmsikalischen Theorie angesehen: die Wahr-
heit aber ist, class die neue Musik nur in dem Maasse gedieh, als sie
sich von den ihr aufgedrungenen griechischen Systemen zu entfernen
anting, und dass sie einen bedeutenden Grad von Vollkommenheit erst
dann erreichte, als es ihr gelang, sich auch noch der letzten Ueber-
bleibsel altgriechischer Musik vollends m entledigen. Mit dieser hatte
sie schon sehr lange, ich mochte sagen von joher, kaum mehr als das
SubHtrat Ton und Klang geniein. Aus der altgriechischen Musik
ware, wenn Alt-Hellas ungestort noch durch zwei Jahrtausende fort-
geblflht hatte, eine Musik, dor unsrigen ahnlich, nimniermehr hervorge-
gangen; in den Systemen, in welch en sie dort durch die Autoritat seiner
"Weltweisen, durch das Herkommon, ja selbst durch burgerliche Gesetze,
im eigentliclmten Sinne festgebannt war, lag das unfibersteiglicho Hinder-
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niss Hires Wachsthums. Sollte die schone Kunst der T5ne sicb dereinst
noch zu jener Vollkommenheit entfalten, doren Keira wol tiberall in
ihr lag, so musste sic dort untorgehen , und andorwarts, oin anderes
Wesen , neu geboren werclen. Die altgriocliische Musik starb in Hirer
Kindbeit; ein liebenswiirdiges Kind, abet unfahig je mr Eeife zu ge-
langen. Fin* die MenscKheit war ihr Untergang Item Verlust". Durch
die hier ausgesprocliene Ansicht ist fur imscre Bolraclilxing ein bcstim niter
Anfangspunet gegebon; wir bcschaftigen HUB liior mil der Goschiohto
der christlichen Musik, in doin doppcllcn Sinno, dans nicht blon die
Tonkunst der v o r christlichen , sondern auch die der apatcron nicb L-
christlichen Volkcr ausgeschlosson ist. Was die lotztoren botrifl'fc, HO
konnen, wie natflrlicli, die Leistungon dioscr auch idcht ontfcrul in
Vergleich kommen rait der holien Vollendung der diristlicheai KuiiHfc;
hier allein erscheint die Tonkunst zur Wuvde cfiuior walirluiflon Kuiwt
entwickelt. Die gliicklich begabton, fcinon, scbarfwiniigou Griochcn abor
besassen zwar oino sohr ausgobildete Munik; nicbt Ungoschiok, TalcnL-
losigkeit waren die Ursaclie dor gcringon Erlblge; die Munik indoHH
befaiid sich dort in einein Bodcn, (lev uberhaupt niclit fur nio d(u* go-
eignete war. Die Tonkunst ist die Kunst des Gomfiklw, BIO Hpriolil aln
solche die innersten Tiofen dor Scele aim; die inn ere Welt int abor orwl;
durch clas Gliristenthum crwchloHsen worden. Bei den Griechon witr dor
Sinn nach ausen gowendot, das Plastoclio vorliorrHclioml. Anch die
gesammto Sussere Heschaflonlioit ilirer Muaik war oino durchaiw vc.r-
schiedene, Meloclie und Hanuonie in tmsorom Sinno den Gruwhon gfuizlioh
unbekannt. Das ChriHtonthum und dio Folgon dosnolbon vcvmichtotou
daher mit Rechfc die griochiychon TonwoiBon tuid die griecluHclio Thoorio,
obschon erst nacli langon, muliBoligon Katnpfoii, nach vitdlaltigen, oft
wiederholton Versuchen und erst naclulem ein Jahrtaunend hintlurch die
griechische Musik dan Aufkeimen dor chriatliclion ot'tmalH orndiwort und
gehemmt liatte. EB ist dies dio Kinwirlning don Giw.IuHchon auf
das Christlicho oin bemorkoimwortlior UmBtand, obschon or hior noch
nicht in seiner ganzon Bodoutmig hervortritt. Ich inaclie jotxt im Vor-
ubergehen auf dieso EvHcheiuung nur aufinorkHam, indoin ib Hpiitor nsihor
darauf zurfickkomnion mum.
Die neue Musik, weam man aio in ihron orHton Anfangon Hclion HO
nennon will, war unboa<j]itot in niodovon Hutdon, ja in, verborgenen Ildhlon
ontstanden. Ki OHO wet tor orylihlt, wio in don Vovsaxmnlungon dor
ersten (Jhristen, meint armor, schlichlior, mit dor nohr schwiorigou Thoorio
dor griechisclion Musik gam rabokanntor Leuto, oin liBcliHt oiirfachor,
kunst- und rdgollosor Naturgonang ontntandon soi, dor oiusthmnig, tactlon,
die BewegiiDg nur yon der Lange und Kfirze cler Textsylben entnehmend,
allmahlich gewisse Accente, gewisse Betonimgen fur die Datier erhalten
imd in dieser Qestalt clurch ofteres Anhoren in den Gemeinden sieh fest-
gestellt mid fortgepflanzt babe.
Bei ganzlichein Mangel einer Regel jedoch musste in dein Maasse,
als die Gemeinden zahlreicher wurden, die nothige Gleichheit und Ueber-
einstiiumung in den Melodien immer schwieriger uncl endlich umnoglich
warden. Im 4. Jahrlmndert, als schon Kirchsprengel nnd Oberliirten
entstaiiden waron, nnd Manner von wissenschaftliehor Bildung das
Christeiithum angenommen liatten, imternahmen es daber einige gelehrte
Bischoie, den Gesang zu ordncn und festzustellen. Dies konnte nur
inittclst einer gcregelten Tonleiter bewerkstelligt werdeu. Es war
natfirlich, dass man in deni Nachlasse der griechiselien, damals bekann-
ten musikalischen Scliriftsteller Eath suchte. Man fand Mer eine sebr
schwicrige, kunstvoll ausgebildete Theorie, nnendlicb Yieles, was man
niclit gebraucbcn konnte mid womit man Nicbts anznfangen wusste,
Totireihcn, die das schr getibte Ohr kainn am Monochord erkennt und
die die nioiiscblic.be Stinmio bei aller Uebnng nicbt vernebmlich an-
geben kann u. s. w. Man fand aber auch bier und da Anfange, von
denen sich mit Aenderungen Biuiges gobrauchen und zur Feststellung
einos so ciiifaclioii Gesanges, wie der cliristlicho war, in Anwendung
bringou lions.
Der lioilige Am^roshis ist es, dor unter dieson Verbesserern des
KircbcngeHanges zuerst und mifc besonderer Anerkcnnung erwahnt wird.
Goboren im Jabre 33H, studirte A nib rosins zu Rom, zeiclinete sich
dorfc yanuiclist als Redncr uncl Pbilosopb aus, wurde sod aim 369 zum
Statihalter fiber inebrcrc Provinzen crimmit und ondliob im Jabre 374
einHtinmdg, aber so sebr gogen seinen Willon, class er an fangs mebrere
Orausamkeiten beging, um die Leuie von der Walil abzubalten, zum
Biscbof von Mailand erwablt. Dein regen Eifer dieses Mamies, der
Tluifcigkeit, die clerselbe, als er einmal die Bischofswiirde angenommen
hatle, bald enifalteie, verdankt die Kircbe, verdankt die Tonkunst die
naclibaltigsfce Forderung. A m b r o s i u s war es numlieli, der dem Kirch en-
gosang eine festo lonale Gmndlage gab, indem er 4 Tonreihoii auswiililte,
denen or rait Beseitigung der scbwerfiilligen grieclnselien Namen die Be-
zeicbnung des 1., 2., 3. und 4. Tones gab. Es warcn dies die Ton-
reihen : cl o f g a b c d e f g a b c d o f g ab c d o f gab c d e f g. Auf diese
begriinclete sich von nun an der Kircbengesang.
Ambrosias war en sodann, der jene Melodien, wolcbo sicb bei
clen gofctcsdienstliolien Ucbungen der ersten Christen gebildet batten,
diese aus der ersten Gluth der Bogeisterung . hervorgegangenen und
nocli von Neueren hochgeriilimten Gesiinge regelto und so zu ihrer Er-
lialtung wesenttich beitrug. Zum Beweisc, wie sehr die Verbesserungon
dieses Mamies die damalige Zeit liberraschen mochten, fuhre icli cine
Stelle aus den Bekenntnissen des lieil. Augustinus an: ,,Die Stimmen",
sagt dieser, als er in der Kirch e zu Mailand jeno Gesango zuerst ver-
nommen hatte, ? ,flossen in moino Ohren, Wahrheit wurde in mein Herz
getraufelt, und das Gefuhl der Andacht stromte in slissen Thranen der
Freude liber". Es sind dies Worto, die nur ein Soldier spriclit, den
ein bis daliin nlclit Gekanntes tiberwaltigt und die innersten Tiofcn der
Seele erschiittert. Ambrosias' Bestimmungeii famlen iiberall die boroit-
willigste Aufnahme, und es war auf diese Woiso aclion ein widltigcr
Schritt zur Bildung, z\\r Foststellung dor neuon Musik gesclielien.
Dem heiligen Gregor dom Cfrosscn, der in den Jiihren 590 bis
604 die clristliclic Kirch e regierfcc, war es vorl>c]iaiton , auf diosor
Grundlago foi'tzubauen und das eigcntlicho Fundament fur dan ganxe
spiltere Gebaudo zu legcn. Greg or sammelte die bereits vorliandenen
Melodion, vorbessorte diesclbon, vonnohrte sie durcli nouo uncl ftihrte
das auf diese Wciso Gowonnono in der ganzon cliristlidien Kirclie ein,
als cine Norm, von der nioht abgewiohen werden durfto. Ein Exem-
plar dieses Mclodien-BucIiGS wurde an dcm Altar 8i Peter's in Horn
nieclergelegt und mit einer Kette befestigt, um im Jjaulo der Zoiton
cntsteliondc Abwciclmngen nach demselben zu bericlitigen. Er be'hielt
fcrncr die borcits vorliandenen ambrosianiHclien vior Kirliontono bci,
fttgte abor dionon noch vior none, von dor Ihiterquarto oiner jotkm der
vorliandenen aungolionilo Tonroilicu liinxiu, die Touroilion alitulofga
hcdofgah cdofguhc dofgahcd. Dioso lotsstoron warden,
dies boilfiutig erwiilmt, die plagaliscliou genannt, mm UntorHchiodo von
den altoren, welclie den Namon dor autlionLisoliou orhiolton. Der Untcr-
sclucd diesor Tonreilion von unworn lumtigon Tonloitnm npringt noglnicAi
in die Augon : wahrend die unsrigeu molitw welter Bind aln TranB-
positionon einer und dornolbon Tonart, warori jcmo S(JbsiHtan(Ug(i Oottwon-
gattimgen, in doron jeder dor lialbe Ton cine andoro Sii(^llo ohnialan.
Das von A ml) ro si UN JJogonno.no war HO zur cvnton Hfcufo dor Vollcm-
dung gebraclit uncl dadurdi dor ernto bodoutciido ftruud fur die Hpiltoro
Tonkunst gelegt. Er war m ondlich, der an. dio Sttdlo der
ordontlich RclmorfS.lligon griccliischon Benomiuugon die ernten
des latoiniBchon Alphabets als Namen der T5no setzte. Allon dieR abor
war, nacli Kiosewetter's Bemerkung, nclion im UrBprungo melir, als
dio in ihro Systeme oingozwfington (Jrioohon jomals kauutou odor nur
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ahnten. Im Vorubergehen sei erwahnt, wie der Umstand, dass Gregor
cliese Buchstaben an die Stelle der fruheren Namen setzte, nicM auf die
Vermuthung bringen darf, als ob er auch schon eine, wenn auch unvoll-
standige Kenntniss unserer Notirungsweise besessen habe, denn dies war
keineswegs der Fall. Die letztere ist, wie ich nachher noch erwahnen
werde, eine viel spatere Erfindung, imd kein Schriftsteller vor dem
14. Jahrhundert hat von derselben Gebrauch. gemacht*)/
Nach diesen bedeutenden Anfangen hfitte nun wohl ein unmittel-
barer Fortgang stattfinden konnen. Doch das sollte erst nacii Jahrhun-
derten goschehen. Die Unbilden der spateren Zeit bracMen Qregor's
System bald in Verfall und in Yergessenlieit , seine Gesange selbst
waren in Qefahr, vollig auszuarten und verloren zu gehen. Unter die-
sen Umstanclen nalimen sich einige gelelirte Geistliche des verfallenen
Kirchengesanges an, aber ilir Unstern wollte, dass sie, statt der von
Gregor gebroclienen Balm m folgen, von der Autoritat Qriechenlands
nicht loszukommen vennochten, dort Vorbild und Eegel suchton und
dcmgemass, statt das Neue zu fordern, es nur in seiner Fortbildung
hemmten. Glficklicher Woise incless gelang es ihnen niclit, ihron Be-
strebungen den Sieg zu verschaffen ; die widerstrebenden Elcmente des
chriatlichon Glaubens und der cliristlichen Musik waren doch zu sehr
ausgobreitet und y,u tief cingcdrungen, als dass melrr denn blosso lang-
jalirige Hommung das Kesultat ilires Strebens liatte sein konnen. Ins-
bosondore aber, als Karl der Gross e, oinkehrend in sicli selbst und
sich abwondend von den Zerstreuungen des Kriogslebens, dein Gottes-
dionat, der Kunst und Wissenscliaft seine Auflnerksamkeit zuwendete,
orblickon wir aucli den Kircliengesang wiedcr gehoben und wesentlicli
go.fordert. Vorzugsweise war das Interesse des Genannten von Einfluss,
als nun auch in den (ibrigen Landorn seiner Herrscliaft durch ihn kriiF-
tige Anrogungon gegjoben wurden.
Mit fliorten Bemerkungen kann ich die erste Epocbe der Gcschiclite
unserer Musik, die Zeit der ersten Entstehung und Bogrundung der-
selbon, boschlioRson. Der Grand fur das spatere Gebaude war durch
*) Sohollo (Band CO dor Neucn Zeitsclirift fur Musik, Jalirgan^ 1864, Nr.
J() 7 S. 78) bcsireitet die obe-n angefiihrten Verdionste dieser Manner. Er sagi \i. A,,
dans nock nicht einmal im 8. Jahrhundert eine systematischo Schoidung^der authen-
tisohcn und plagalisclxen Tonarien bcstanden habe. Im wcitoren Verlaufo crklart
er, dass es falscli sei, die Melodic als cine Erfindung 1 der neucren Kunstperiode
hinzusiollon, und sidi von dor altcsten Melodic die ,,al)Rurdo Vorstellurig ZM ma-
ohon, dass sie nur eine syllabische G-osangsweisc, ein unorganiRches Couglomerat
von gleioharligen Not en nach Art des (Jantits firmus" gewesen sei.
Ambrosius und Greg or golegt warden. Dies ist im Auge zu be-
halten ; dies ist das Wesentlicho. Wir treten unserem Gegenstando jetzt
schon naher, Indem wir die Versudie, welche in den Jalirlnmdorten des
Mittelalters gemacht wurdon, bofcrachton,
Icli erwabnte vorliin, wie ein wesenfclicher Mangel dor grieobiscben
Muaik in clem Mangel der Harmonie beslandon babe ; das Eigontbumlicbe,
Charakteristische der modernen Musik selion wir darum xuerst da bo-
stirnmter hervortroten, wo wir den erston Antangeu dor spatoron Har-
raonie begegnen. Die ersten harmoniscben Venmche, sowie die woilo-
ron Fortseliritte darin sind es claber zuniicbtst, auf die icli Hire Aufmork-
sanikoit lenke.
Ueber die ersten Anfaiige der Farm oirie im iViibou Mil to! alter, bemorkt
Kiesew otter, bat ew von jeber vorydhioclono M(unung(^n und Hagen
gegeben, so claHS es schwer ist, bicrilber etwas ganx Hi^tiinnitoB fostzu-
stellen. Der erste Vernuch, wio es nohoint, oiner Hannonio, oinor Vor-
bindung melircror gleicbzeitig auf vonscbiodonon Tonnliiifcn erklingender
Stimmen, zoigt sicb in oiner von dem Moncb llucbtildus, auc.li Ucbu-
bald, Hub aid genannt, liintoiiassenen Sclirift. Dieser war ein sebr
gelohrter Moneli aua Mantlern, welchor niicli einein iii tlultigcn* Bearbei-
tung der musikalinclion Tbeorie verbraclifctm Leben in H(dir lioliera AUor
im Jalire 930 gestorbeu ist. Hue bald scheint die MebrKfeunndgkoit,
da er von ihr als von oinor bekauuton Sadie s]ricbt, nicht Holbwl. orliinden,
sondern riur y.uorst tbeoretiscb begrundet m luibou. Kr niimnt in seinem
Tractat das griediiscbe HjKtcin xinn AusgangHpunc.t. Die (iileeben kanuton
nur den emstinnnigon Uc^aug und die Bogleitung (lossc^llx'.n dundi die
Octave. DioMO, sowio dio Quinte und (iuarie< gallon ilinon Mmi als
Consonanxen, wjibrend m\ die Torx und Sexto, dio *IIauj)tl)(^tandtbeile
unserer consonirenden Acoordo, Itlr diBsojurotul liiolton, und dor niatbe-
inatischen (Construction ibrer Tonloitor gtnnass fijr disHoniro.ud, lialten
musston. Diese ItoHtinmiungtui (iborlragt nun Hue bald auok auf die
Vorbindtmg niebrerc.r TOIHJ m ffloiobxoiUgoni Krklingon und omplioblt
demnacb das Fortscbreiten />W(dor odor iiwliro.iw Ktininion in (lotjBonanxon,
Er boxoiclinot eine, Holclio Vorlnndung von Stimmen mil dom Naiuon
,,()rganurn", d< j ,r dann Jiudi spater tU,r gowobnliobo und iK^rrscjhondc- wunlo.
Zwei Arbon den Organuui sind OH, wtdcbo Hucbald orkliirt. Dio m-Hto
Art bostolit in der Vorbindung oiner llauptstimmo niit yswoi odor molir
andoren Stmtmon, die mil diosoa* in liuiuton odor Quarton und Oetavou
cinhorgobciL Hoi dr xwoifcon Art sotzt or fiber ciuo Vrinci])alHthnnie
KwiHchon (iouHouanssou auch andcrc nicbt consouirondo Intorvallo, dio ^Q
und die von ilun fur dissoniroml goluiltcno Torz in versolnedoner
_ 13 .
Dies sind die ersten Versuclie, einer gleiehzeitigon Verbindung
von Tonen, das erste Wagniss einer Harmonie. Die Hauptsache
ist, dass dasselbe unternommen wurde; die Versuche selbst sind noch
ganz roh.
Urn eine jetzt ganz unbedeutend scheinende Erfindung zu machen,
mussten im Mittelalter Jahrhunderte voriibergehen. Es lag dies in den
bekannten Verhaltnissen desselben, deren ich hier nicht weiter zu ge-
denken nothig habe. Die meisten Erfindungen blieben auf die Orto
ibrer Entstehung, auf die Bloater, beseliriinkt und mussten claher wieder-*
holt gemacht werden. Erst im 11. Jahrhundert tritt uris wieder eine
Erscheinung entgegen, welche naheie Aufmerksamkeit in Anspruch
nimmt. Bin Benedictiner - Mimeh aus dem Hosier zu Pomposa in der
Nahe'von Ravenna und Perrara war es, Guido von Arezzo, urns
Jahr 1020 lebend, welcher in diesem Jahrhundert die Tonkunst wesent-
lich fonlerte und einen so grossen Kuf erlangte, dass noch jetzt sein
Name unter denen der Musikor des Mttelalters der bekannteste, oder
vielinehr unter den Musikfreunden einzig gekannte ist. Guido sail ein,
wie wenig durch den vor und zu seiner Zeit tiblichen Unterricht ge-
leistet werden kdnne, und wendete desbalb seine Sorgfalt vorzuglich auf
Verbesaerung des Praktisclien. Eine vemflnftige praktiselic Lehr-
methode aufznstellen , war sein Hauptbostreben. Er war so glucklich,
mehreres seino'n Wunschen Entsprechcndo zu ersinnon. Seine Erfolge
erregten in seiner nachsten Umgebung einiges-Aufeehon, so dass er, ver-
leumdot , auf Befelil des Oberen das Kloster verlassen und sicli einige
Zeit in der Premde umhertreiben musste. T he o da Id, Bischof von
Arozzo, nahm ilm endlieh bei sich auf, und unter dessen Schutze setzte
er seine Bestrebungen fort. Sein Kuf verbreitete sicli , drang zu dem
damaligon Papst Johann XIX., der ilm zu sicli kommen liess und leb-
haft aufmunterte. Spitter kelirte er in sein Bloater zuriick, da der Obere
desselben sein fruheres Benehmen schon Ifuigst bereut hatte. Guide's
groHstes und wosontiichstes Vertlienst beatand in der Verbesserang und
zweckmiissigereu Anordnung der Tonschrift. Er kennt zwar noch keines-
wegH die spatcre Notenschrift ; schon vorliin erwahnte ich, dass diene
eine weit spfttdre Erfindung sei. Die frfihere Notirungsweise , die nota
romuua, die sogenannten Neumen, beatauden in kleinen Puiicton, Hat-
chen, Strichelchen in verscliiedenen Richtungen, Gestalten und Farbon,
welche, fiber den Text gesetxt, dem Sanger durch ihre Stellung die Ton-
bohe versinnlichten, auch ganzo Tongruppen bezeiclmeten, nur dass
man, urn etwaB melir Ordnung in solclie Bezeiehnung zu bringen, spa-
ter eine, auch zwei Linien quer fiber den Text zog. Guido nahm
__ 14
seinen Ausgangspu.net davon, fugto aber don vorgefundonon frulier iib~
lichen zwei Linicn noch zwei audere bei, und lelirte nicht allein die
Linien, sondern auch die Zwischenraume benutzen, so dans er dadurch
der spateren Tonsclirift wesentlicli vorgearbeitet hat. Wie durcli
Hucbald der erste Anstoss zurHarraonie gegeben wurcle, HO sohen wir
liier einen zweiten FortBchritt angebalint, eine besBere Notirungsweise,
die fur die fortschreitende Kunst ein wesentliches ErfordorniBB war, mid
es offonbart sich uns schon liier, indom wir solien, wio ein Stein nach
1 dem anderen xu rtem grossen Qebrmdo lieraugel)racht \vird, jenc Qosote-
mSLssigkeit des Ganges, jene innorc Nothwondigkcit dor Eniwicklung,
von "wolclicr die gosammle naclifolgonde Zoit ein innuer HprcchcnderoB
Zcugniss ablegt^ Ein so wilstes Durchoinandor ])ohn oratoii Bluik jene
Bestrobungon des Mittclaliors xoigon, so entdockon wir bei niilioi'or Bo-
trachtung tloch bald die Idee, wolclic das Zonstrouto v( v /rknfi])rt, die Tdoe,
welch e alle diewe Erychoiimiigtin Jiervornift, und dion int das Intora-
nante bei dieBOii xuniiohst minder iuto.remnten gH(*ihic.hf;)ichoji Thtit-
sachen. Wir go-walirun ein ntctcH, nnablitaHigos Ringen, und wenn wir
die Seliwierigkeiten bodenkon, mit den on did Tonkunst jinohr aln die
anderon Kdihsto xu kami>ien luilte, indom sic ilir Vorbild wcdov in der
Natur noch in groHHcn Mnstern deB Altertlnmis (and, HO (vraclioint UIIB
die beiiu mim Blick niiihaoligc und langHiuno EnLwickluiifj; in der That
rasch und cufol^reiclh - Waa fluido'n LtUHtungen hn HanuoniHchen
betufl't, BO hat or darin buno Forkcliritte g<,nuuiht. EH lindot Hich bei
Him genau dannelbe wieder wio bo.i Hucbald, obsdhon r <IoHH<m Hc.Iirif-
ten niclit gokannt zu liabon acheint. Audi (,r nuwiht s<mi(^ Siitxe durch
Vcrdoppelung drei- und vierntinunig; wir haben dioHclbon Folgen von
(iuarteu und Quintan in govador Bewegung\ .Btulautig noi crwalint, dtiHH
er die bekanntcu boim Oeaange ilblichon Nainen: nt, w, vd, ot. zuorHt
angewendet hat, indom er die AnfiingHHylbon einer lateiniBchon Otlo anf
den heiligon Job a nn en daxu wahlte. Nodi ruehroro ando.ro PJrfmdun-
gen werden ihm zngoschviobon, doch iwt OB walirH<'.h(iinH<ih , dann die-
selbon erst von semen Selmlern und Nachfolgorn ill in. boigologt worden
Bind, loh Libcrgehc dionolbon iiln nichfc hierher gclK'irig, urn, HO niohr,
als in Kteo Bich doch kaum ein doutiiclum Bild von cT^nsolbon wiirdo
geben lasaen.
Kino Erweiterung dor Lehre von der Mannouio brachte orst, init
noch inehreren wichtigon Entdeckungen , dan 12. Jahi'lmndort, o))Bhon
KTahoros hi( k ,rfiber xur Zeit noch nicht bokannt int. Bio LftiHtungou doB
folgenden Jahrhnndovts abor xoigon, daBB man in dioswn Zoitabsclmitfc
( 4 inen wiohiigen Porfadiritfc m Stando gobracht habcn mum* KB mfls-
" 15
sen damals scbon gliickliehere Versuche iu der Harmonie, ja sclion in
ctwas mannigfaltigeren , zusammengesetzten Tonverbindungen gemaeht
worden sein; auf dem Wege praktischer Untersuchungen musste man
bald dahinter kommen, class die von den Grieclien als Dissonanzen ver-
rufenen grossen und kleinen Terzen, grossen und kleinen Sexten durch-
aus nichts Widriges besassen; es muss in dieses Jahrliundert die Erfin-
dung und ersto Ausbildung der Note fallen, es muss endlich die.Ein-
theilung der Noten Linsiclitlicli ihrer Zeitdauer, damals Mensnr genannt,
orfundon wordeu sein. Was das Letztere betrifft, so leuchtet ein, dass
mit niannigfaltigcren ' Tonverbindungen die NothwendigkSw, Noten vor-
schiedoner flcltuiig zu besitzen, gegeben war. Eigentlichen Tact liatte
man nioht; man mans die Noten der Pigur naeli (lurch bestandiges
Zalilen.
Diese Erfindungen zu pflegen und zur Reife zu bringen, war nun-
melu- die Aufgabc ties nachfolgondeu, dcs 13. .lahrhuuderts. Es traten
jeizt bedeutende Lelirer auf, welclie im Stande waron, schon eine etwas
siusgcarbeiieto Theorie aufeustellen. Einer dieaer Manner, von welchem
jiucli (dne Schrift auf ims gekommen ist, war Franco von Koln^ in
den ersten Jahrzelinteu des 13. Jalirlmnderts, der scliou vollkcmmione,
unvollkommeno uud mittlere Consonanxen unterschoidet, sowie vollkom-
mene uud unvollkommene DisBOuaiizen. Was Fraiikreieli betriil't, BO
beweinen die aua dem 12. und 13. Jabrbuudert mis lil)eiiieferten mehr-
Htimmigeii Toiwatze, dass man aucli dort einen Anfang im Harmoiiiechen
gcmaclit liatte. In England erblicken wir ebenfalls verwaudto BestroLungen.
ftegon Ende dcs 13. uud m Aiifang des 14. Jalniiuuderts begegneu uns
zwei ScIuiftHttiller, welclio grosse Portschritto bcwirkt, niclit nur die
Lohre von der Monsur weitnr atisgebildet, sondern aucli, was Harmonie
botvifft, zuerst befriedigende Itcgeln g( j .geben baben, Eegeln von soldier
UoBchaffonho.it, dass nach denselben, aueli nach unsern heutigen Be-
griffon , zuni ersten Male reine Accordo und reine Harmoniefolgon
gobildot wcrden konnten. Zurn ersten Male erscheint jefczt das
Oesetz, dass zwei vollkommene Consonanzen , Quinten und Octaven,
niclit in gerader Bewegung auf einander folgeu sollen; mm ersten Male
erkennt man sclion etwas genauer das Wesen der Dissonanzen und die
Notbwendigkeit, dieselben in die nachstfolgende Consonant aufzulosen.
Marcliettus von Padua und Jolamies de Mnrls, ein franxSsischer
Geistlicher lind Dr. der Sorbonne m Paris, sirid die Manner, denen diese
Portsdiritte auf theoretischem Gebiete zu danken, wennschon hiBsichtiidi
der praktischen Anwendung ihrer Gnmdsatze immer noch viel zu wfinschen
iibrig blieb.
H6
Das bi&her Erwahnte betrifft insbesondere die oino Hauptscito dor
Musik, die Harmonie, mid doren allrnaliliclic Ausbildung ; andors ver-
hielt es sich mit dem zwoiton, wiehtigsten Bestandtlieile, dor Molodie.
Walirend. die erstere Gegonstand cler sorgfiiltigsten Iforsclmng war und
insbesondore von den Gelehrten, den Goistlichen , cultivirt wurde, or-
blicken TO die letztere vernachlassigt und in ilirem lieclite durchaus
niclit anerkannt, so dass sie nur als etwas Beilfiufiges und Untergeorcl-
netes nebenher gelit. \ Gehort die Harmonie in den Kreis der Rclmlc,
so wurde die Molodie clem Lobon, und ihre Ausbildung dem naturliclien
Gefulil der fiberlassen. j Bomerkonswortli ist indoss, class man,
nach. einor " Bemerkung v. "Wint erf eld's, auf diesem vernadiliiSHigten
Gebiete fniher m befriedigeudon LciBtiingon und zur Almung doa don
Tonen innowolmendcn GeisteB golangtc, aln in joncr Spliilro, wo cler
kunstlerische Sinn unterdriickt wurde.
Seit dem 12. und 1o, Jalirlnindort batten dio Lolioron Ktamlo wiorst
in der Provence angefangon, sicli mit VooHio uucl OoBang xu boscliflf-
tigen. Bald vcrbroitoto sich die Liobo tlaffir aticli bei tins in Doutnch-
land, wo, so wie dort die Tx^JllJAiloBi'B, welche vovKiigHwoino aln die
Beforderer jener Uichtung xu bozoicbnon sind, die Mjjyo^
nannt werclcn nifiswon. Die Zahl diegjor Dicliter und Sfingor vonnolirto
sicli ansserordcntlicli, und wir orblickon in den Keilien do.rHolbcn K(H
nige uud Fiii^tcn. So wircl unto.r Anderen ills oinor dor boriiluntoHion
Troubadours Tliibant, Ivonig von Navarra (gob. 1201, gMt. 1^1) ge-
nannt, von welcliom aucli Melodien aufgofnn(l( i .u wordon sind. Ifnglfu^
liclier Liobhal)or dor Konigiu Jiltinca von luisbilion, Aw Muttcu- des
heil. Ludwig, wurde ilnn geniilien, mr .BeHiinffcigung Kimior lu^ftigcm,
liotfnungsloscn Loidonadiaft sicli dem Ktudiiun dor Poosio nnd Mimik
m widnien; er that clion mit solcliom Glflclc, dasn or dio stJHMiBten Jae-
der und Melodien, die man jo golir,,u liatt(^, liorvorbrachio. Vorgloichou
wir cliese Melodien, von dcnon uu^ IvioHowotlor Proljen inittlioilt, inifc
jenou Htoifcu, unorquicklichon, liannoniHclion Vorsuclwn dornolbon Koit,
so bemerkou wir bald, wie jonon Trou]>adours gan% ditw^llxi Bodcm-
tung, die sie fur das Lobon uborliaupt tfowannon, auoli in Bowig auf
die Tonkunat Iieizulogon ist. w Sio warim o-s a , nagt. in d(,r orntcu-on Ho-
ziehung oin franxosisclier Sclmftstollor, ,,wolc ) li( > , ncliolaHtiHcho Xftnlcch
reien und tlblo Erxioliung vorbannt&i, das Hotragou verf(unort(vu , die
Regeln der Artigkoit- oinffilirtou, dio Untorlmltung l)olobii(^i und di
Galantorio der Einwolmer lauiorteu. Dio- 'JHOfliclikoifc, wolc.lio dio Kraii-
zosen vor den Volkern anderer LiinJor ansxoichnot , war dio Fvucht
ilirer Lieder, und wenn wir aucli oic.lil uosere Tugondon vou ibnon
17
lierleiton, so lehrfcen sie uns wenigstens, dieselbon liebenswurdig zu
machen." So schufen sie aucli in Bezug auf Musik freiere Bewegun-
gen und gef&Digere Wendungen; an die Stelle dor Berechnung und
einer bios verstiindigen Kunst, wie in jenen harmonisehen Versuchen,
trat bei ihnen Seele, Ausdruck, und wir sehen dalier an diesen leben-
dig hervorsprossenden Naturerzeugnissen Gefiihl fur die Seele der Ton-
weisen fruher in das Bowusstsein gerufen, als an jenem Grauen, Star-
ren. Von der urn diese Zeit orfundenon Mensur haben diese Siinger
noch keinen Gebrauch gemaclit; sie waron, im engeren Sinne, musika-
lisch niclit sohr unterriclitet und folgien nur der Eingebung ilires Ta-
lents. Bemerkcnswertli ist, dass sicli iu diesen Melodien sclion ziemlich
der Cliarakter der spater so selir beliebten franzosischen Chanson zeigt;
aucli das ist zu erwfihnen, dass dieselbcn sclion weit cntscliiedener, als
die damalige liannonisclie Musik, unsero modernen Dur- und Mollton-
leifcern, unsere modernen Ausweicliungen erkennen lassen. Der gesunde
Sinn jener Naturalisten liatte schueller das Eiclitige getroffen, als der
Scliarfsinn der gelelirten Hiiupter.
Icli beschliesse diese Skizze niit einer Ilindeutung auf das, was
auf dr am at i sch em Gebiet geschah. Audi die draraatischen und thea-
tralisclien Vorsuche des Mittelalters waren niclit ganz oline Musik, und
nainentlidi die Molodie fand liier ein Gebiet, wo sie unumsclirankte
Geltung genoss mul welches ihr zugleich Gelegenhoit zu weiterer Aus-
bildung darbot. Diese Darstellungen waren anfangs so rob und pobel-
liaft, dass wir ihrer luer nur Erwiilinung tliun, um anzudeuten, wie der
Sinn fur das Scenisehe frtih erwacht war. G. W. Fink in seiner ,,Ge-
schichte der Oper" spricht des Liingereu und Breiteren fiber diese den
Musik freund der Gegenwtrt wenig interessirenden Dinge, wahrend er,
wie dies so oft in alteren Werken der Pall war, die Neuxeit selir kurz
und nur ganz obenhin beliandelt. Wer sich demnach fiber jene Br-
Rehoinungen genauer unterrichten will, darf nur jene ausfiihrliche Dar-
stellung nachlesen. Bei steigender Cultur bildeten sich aus diesen rohe-
sten Anffmgen reifere und gesclimackvollero Erzeugnisse hervor. Sie
erhielten den Natnen Misterion und bestanden aus einer anstiiudige-
ren, ctwas gebildeteren Darstellung religioser Begebenheiten. Seit dem
12. und 13. Jahrlmndert insbesondere verbreiteten sich solche Spiele aus-
serordentlich, und im Jahre 1313 erbaute man in Paris ein eigenes Theater
dafiir. In den G$sfmgen zu diesen geistlichen Schauspielen lierrscMe an-
fangs der Mrchlich-rituale, clioralartige Ton vor ; spilter nahni, je mehr die
Auffiilirungen aus den Handen der Geistliclien in die der Laien ubergin-
gen, auch die Musik eine volksmiissigere Haltung an. An dem heiteren,
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_ -1ft
JLO " -
kunstliebenden Hofe der Provence finclen wir den Troubadour Adam
de la Hale (1240 1286) als Verfasser mehrerer sehr htibseher Lieder-
spiele mit weltlichem Inhalt wieder. Das Charaktoristische und Wo-
sentliche der spSteren Oper fohlto jenen Mlieston Versuchen nocli ganz-
Hch, aber 1m weiteren SInne als Vorstufen fur die spSter so machtige
Kunstgattung sind dieselben zu beachten, indem der Sinn fur das Dra-
naatische dadurcli geweckt und gesteigort wurde. Die Handlung 1st
noch ausserordentlicli einfach, aber wir bemerken eine Gewandtheit,
Rundung und Eleganz, die man ciner so frlihen Zeit kaum zutrauen
mochte, Der Dialog, bomerkt Kiese wetter, sei naiv und lebendig
und sprudle von ungesuchtem und troffendoni Wife. "Bines dieser Stilcke
ftihrt den Titel: ,,Eobin und Marion". Ich will den Gang dosaolbon
in Kflrze mittlieilen, um Thnon cine Anscliauung davon zu gobon: Ma-
rion tritt auf und singt ein Liedclien, in wolehom Bie ihre Liebe m
Eobin ausspricht. Junker Aubert, eben vom Tuvniorplartss kommond,
erscheint, einen Falken auf der Faust. Er sagt Marion Schraoiclxoloion,
sie antwortet, Bie liebe Eobin, und bittet den jungen Herrn, aie in Rulio
m lassen. Aber die Leidcnschaft Anbort's orwaclit darutn urn BO lief-
tiger; er stiirmt fort mit der VerBichenmg, auf dor Stelle Hich ernaufen
zu wollen. Statt aller Antwort Rpottct Marion Hoinor. "Itobin kommt
und plaudert von der bovoratohondon Hoclwcit. Jndem or fortgoJit, um
einen Sanger und die JTrcundo mm IfoHto xu bOHtellcn, orsclieint noch-
inals Aubert, der die Auttfulu'uiig H<unos KnfeolilussCH mr Xeit noch
ausgesetet hat; er sucht mit dem, xuruckkohrcnclon Robin Btreit, miter
dem Vorwando, tlieHor liabe semen Falken lioruhrt. Sio worrton luuidgo-
xnein, Hobin crhalt ttichtigo Sclilugo und bloibt auf dtmi Platee liogen,
wiihrend Marion von Aubert entftlhrt winl Ufutior, der bestellto Sftngor,
tritt auf, ist noch Zougo der Entftihnmg, bemtiht aich aber ssunSlchst,
den jammerlich klagendon Kobin wieder m nich, m bringou. Matt nielit
nicht ein, wie die Sache endon noil. Bald indoHH kohvt Aubert, von
Marion's Widerstand ermtidet, freiwillig zuriick und fiborgiobt liobin die
Brant. Allgemeiner Tanz und ein Oenang (Uvutior'H Hchlit^Ht daB Gauze,
Auch die in dioBem Singnpiole vorkommomlon Licdchon xoigwi inoiat
geMigo und flioaaenilo Mclodik und bcwog(^u Bich in zum Tlioil gan%
entschiodencr Weise in uiworor Dur- und Molltonalitilt. Hio wurden
ohne allo Begleitung goHungon. 'Fund cino Bolcho statt, BO konnto m
nur ini Einklango mit den Noton don GoHangon goHchoheiu
Walirond nun das Volk soiuo Liodor sang und boi fortBchreitondor
Civilisation die Gobildeton nich an don Woison dor TroubadourB und
Miuuosangor ergotzten, luitten die ycbulinaaHigon Munikor, die sicli solbat
19
vorzugsweise Cantores nannten, in ilirer Weise pedantisch fortgearbeitet,
ohne von dem, was das Leben bot, Notiz m nehmen. Ihnen war der
Gesang nicht eine schone Kunst zur Erlieiterung, sondern Gegenstand
eines muhsamen Stadiums. Harmonie und Melodie, die Arbeiten der
Schule, und die Bestrebungen des weltlichen, naturalistischen Sinnes
waren strong gescMeden. Die eigentliclien Musiker blickten init Stolz
auf das weltliclie Treiben lierab. So dauerten die Verhaltnisse geraume
Zeit Mnclurcli fort.
Dies ist der Standpunct der Musik bis ungefabr zum Jahre 1300.
Im Ganzen zeigt sich immer noch nur sehr wenig Befriedigendes. Be-
denken wir jedocli, woranf icli schon vorMn hindeutete, die Schwierig-
keiten, mit denen die sidh entwickelnde Tonkunst zu kampfen hatte, so
ersclieinen uns 'diese Versuche in einem weit gtinstigeren Lichte. Durch
das Bislierige sind nun aber auch die ersten Yersuche, die ersten und
unreifsten Bestrebungen fur imnier beseitigt. An Mchts fehlte es jetzt,
als dass das, was die Theorie gewonnen hatte, nun wirklich zur Aus-
fuhrung kam und in das Leben selbst eingefulirt wurde. Diese wei-
teren Portseliritte werden den Gegenstand meiner nachsten Yorlesung
bilden.
Zweite Vorlesung,
Die G-cschichte dcr Musik bci don Niodorliinclorn: Dufay. Ookcnlicim. Dcr
Zustand des Grgelspiels: Antonio degli Orgam imd Bornhard tier Deutsclie,
- Notendruck: Pelrucei, Josquin. Deutsche und italiouischo Tonsetaor.
Willaert. Orlandus Lassus. Emtheilung dor ttosclriclite dor Musik, dio all-
gemeine Entwicklung dcs Oteistes in dor Qoscbiclito, dio Stufonfolge der Kunste
und die \veltgcscliiclitliclio Stellung dcr Toukunsfc.
Bie Darstollung cler Antange uiisoror Musilc in don orsten 'Christ-
lichen Zeiten und den Jalirhuntlovtcn dcs MittelalteiB boBcIiaftigto micli
in der vorigon Vorlosiing. Wir salncn, nachdom das orsto Fundament
diircli Aufetellung von Tonleitern gclogt war, wio allmaiilicli oin Qnmd-
stein nach dom andcron zu dorn Rpfitcron grossen Gobdudo horbeigescliafpfc
ward, und verlioBBon die Entwicklung an dom Puncte, wo zuorst bofrio-
digendoro Uogeln fur hannoniseho Combination gogobon waron, Icli
scliloss mit der Bomerkung, dass eB jotsst gait, das Gowonnono in das
Leben einzufflhron.
IJener UmBtand, dass die Tonhmst bis (lahin mohr oino Wisson-
schaft,/in dor That nodi kaunx oino Kunst m nennon war, darf nlcht
befremden. Wir orblickon die Haiiptthiitigkoit bis tlaliin auf dio all-
mahliehe Ausbildung^dor Harmonic, dio Auffiuduug Hirer Gosotzo ge-
richtet, weil nur auf dieso "Woiso das Material ftir dio IfmHtlcrisclie
Darstdlung gewonnen ivcrdon konnto. |l)io pootinchc Soito dor Kunst,
soweit in jonor Zoit davon dio licde soiu kann, ward ropraBontirt durch
den woltliclion Gosang, fund im Volksliedo, in dor Molodio iliron AUB*
drncLJ So bcdoutsam nun dioo Scitc int, HO wtlrdc man boi dor woi-
teren Verfolgung diosos WogcB aus dom blossonNaturalismus doclx
nicht herausgokommcn sein. Sollto dio Mnsik sich oinflt 7,11 jonor urn-
fassenden geistigen Bodeutung orhobon, die sio spater crlangte, BO war
eine lange Verstandesarboit notldg; man mussto in dio Tiofe lonabstei-
gen, urn fur jenes grosse Gcbaudo oincn ontsprcclicndon Grand m lo-
21
gen. Unter den angezeigten Umstanden war das Studium der Musik,
wie naturlich, immer nur Wenigen vorbehalten, und von derselben als
Kunst konnte fast nocli Mckts in der Welt hervortreten. In Italien
war der mehrstimmige Gesang damals und noeli geraurae Zeit spater
in die Kirche nieht aufgenommen. Bs ist kein Grand gegeben, ztt ver-
muthen, dass es in Spanien oder in England anders oder besser gewesen
sein sollte. Nur yon Frankreich hat man bestimmte Nachrichten von
dem Gebrauche eines mekrstimmigen Gesanges in den Kirchen; bei alle-
dem aber stand diese Eunst doch noch ajif der untersten Stufe. In
Deutschland findet man sogar noch bis spat im 15. Jahrkundert Nicits
von Harmonie; der Kirchengesang war durchaus nur ein eintoniger.
Jetzt endlieh klart sich die Scene aUmahlieh auf. ^Wenn bis daMn
die gebildeten Nationen Europas in ihren Bestrebungen Hand in Hand
gegangen waren, so dass bald tier bald da eine Erfindung gemacht, ein
Fortsclnitt bewirkt wurde, so concentrirt sich von nun an die Entwick-
lung, und wir sell en jetzt ein Yolk, was musikalische Kunst betrifffc,
gross und gewaltig auftreten, so selir, class dasselbe weit liber ein Jatr-
liundert Mnaus sick der unbedingtesten musikalisclien Herrschaft in Eu-
ropa erfreute* Die Lehren der frffiher genannten Theoretiker liatten
zunachst Eingang und heimisclien Boden bei den Niederlandern
gefunden, einem Volke, das bei seiner ausserordentlielien Woilhaben-
heit, bltthend durcli Manufacturen und Gewerbe, Handel, Scliifffahrt und
ttichtiges Gemeinwesen, einer materiellen Betaglichkeit des Daseins sich
tiberlassen konnte. Die contrapunctische Kunst gelangte hier zuerst
naliezu in Vollkommenlieit, und zwar in froMichen geselligen Kreisen
zu praktischer Geltung, und beliebte Volkslieder pflegte man auf dlese
Weise zu singen. Dann gewann dieselbe Zutritt zu den Hofen, j;ur
Unterlialtung der Grossen, und bald offneten sieh. nun auck die Tliore
der Kirclie der neuen Kunst, urn ihr einen siegreiclien Einzug zu ge-
statten. Die Kirehe hatte stets die musikaliscken Bestrebungen begtin-
stigt. Wie dieselben zuerst aus ikrem Sclioosse hervorgegangen waren,
so ahnto sie wohl, dass ikr durcli die Tonkunst spater die grosste Yer-
herrliclaung kommen werde.
Nacli dem Zeugnisse des papstlichen Kapellmeisters Baini waren
es Niederl&nder , welcke die ersten contrapunctiscli gesclariebenen Messen
nacb, Eoin brachten. Yom Jakre 1380 ab findet sich., wie vorhandene
Eechnungen nachweisen, der Name des nachraals beriihnit gewordenen
Wilkelm Dufay aus Chimay im Hennegau in dem Yerzeickniss der
Sanger der papstlichen Kapelle, der Name des Mannes, den Baini als
den ersten eigentlichen Tonsetzer und Contrapunctisten , nicht allein
jener Kapelle, sondern der modernen Zoit iiberhaupt bezeichnot. Dm
papstliche Archiv 1st im Alleinbesitz der Werke dieses ersten Contra-
punctisten, und Baini war es daher vorbehalton , tins zuorst mit ilim
bekannt zu machen. Keiner war so sehr wie diesor Sclxriftstoller durcli
seine aussere Stellung in den Stand gesetet, fiber jene Anfftngo geregelter
Earmonie Aufscliluss zu geben, uncl auf diese Weiso einen siclieron Aus-
gangspnnct fur die GescMclite der Musilc festzusteUon. Kiosewetter
hat in seinem grosser en Werke niir einige Bruchsfriicko mitgothoilt und
thut sich, wie er selbst sagt, etwas auf diese Bekanntmachimg m Gute.
Im Uebrigen wissen wir ausserordentlicli wenig yon dem gcnannten
Tonsetzer; er lebte bis zum Jaliro 1432 liocligeachtet in der piipstliclien
Kapelle. Dies ist die einzige Nacluiclit, die wir liber ilm besitzon. Die
Compositionen dieses Mannes xeigon in jeder Boziohung schon eine
vollkommen fertige Kunst. | Die Harmonio iat rein. ] Dies ist das "Wesont-
licbe; dieser grosao Sclnitt isfc jctzt vollbraclit; auHSordem isfc froilicli
nicht viol Bfilimensworthos zu sagon. jDio Tonsotaor dieser Zoit benutzten
kircliliche, gregoriamsche Melodion als die Gnaullago iliror ausgoffilirbon
kircLlichen Compositionen, solcho Melodien bilden clou Kern nnd worden
gewolinlicli von dom Tenor in langon, ennudenden Noton vorgotragou.
Die Tonarton sind die grogorianisclion. VerseteiingHzoichen linden sioli
nirgends. Indess ist gewiss, dasB die damals in dor Ctompositiouslohro
stets wolil imterriclitoton Stinger dioso cliromatiBclien Vorilnderungen boim
Vortrag aus eigener Eiusiolit liiimigeftigt liabon. Die Anuahmo, tlas
die Compositionen in dor Gostalt, in der wir sie verzeiclmefc ftnclon, go-
sungen worden waron, ist niclit walirBclieinlicli ; es war jcclon falls nnr
Sitte , die YersetzungHzeichon wogxulassoii. ,1 Die Oomponitionon Hind ohno
al^i Melodic, Bchwerfiillig und hart, gomoinliin fur vier Stamen, Boltener
fiir drei odor funf gesetzt. I Alle gleichen sicli im Ausdruck , mOgon die
Textesworte nocli so vorschiodon soin, odor richtiger, aio sind doBwogon
allo gleioh, weil Ausdmck fiborliaupt riocli folilt unrl dor Verntancl dio
allein hervortretende Thatigkoit ist. Eigontlieli fugirton, Stil findot man
in Dufay's Compositionen nocb niclit. Von den Toxten sind nur die
ersten Worte am Anfang cles Stfickos Hngcsclulcbon ; man sotzto voraus,
dass dieselben don Siingern bekannt waxen, und von diesen sogioich den
Noten wlirden untergelegt werdon konnon.
Naclidem jotzt ein soldier Grand gologt worclen war, konnto von
den Naclifolgern weiter fortgeacliritton warden, "Wonn eB bislior vor-
zugsweiso daranf angokominon war, oinfacho, molirsliminigo Siifeo m
Stande zu bringen, im sogonannton oinfachcn Contrapunct, BO nlhort
man sicli jetzt schon der kiinstleriBclion SateweiBO, dem doppoltoa Con-
23
trapunct, und es 1st insbesondere die Form des Canons, welche zuerst
zur Geltung koinmt: man n&hert sict dieser kunstlichen Satzweise so
sehr, dass man sich bald in gelelirte musilraliselie Grubeleien versenkt
und diese Kiclitung, dies ist das Bemerkenswertheste, in den Nieder-
landen iiberliaupt zur herrschenden wird. Bald begegnet uns der Name
eines Mannes, der, liber Dufay Mnausgehend, den Kiinsten des doppelten
Contrapunctes ilire Ausbildung gab, der zu seiner Zeit sehr berflhmte
Name Johannes Okeghem, gcwolmlicli Ockenlieim, geb. im Eennegau
urn 1430, gest. urns Jahr 1513. Ockenheim genoss die ausgezeioli-
netste Hoehaclitung seiner Zeitgenossen, sowohl wegen seiner Composi-
tionen, wegen der Fortsclnitte , die ihn fiber seine Vorganger Mnaus
ftilirten, als auch wegen seines Lelirtalents, das ihn in den Stand setzte,
die vorzuglichsten Meister, die zu seiner Zeit und nacli ihm glanzten,
zu bilden. Die sclion bei Dufay erwalinten charakteristisolen Eigen-
scliaften: Mangel an Melodie, Unsangbarkeit, Ausdruckslosigkeit, dauern.
fort. Neu kommt hinzu eine etwas planinassigere Anlage ; Ockenheim's
Arbeiten sind, wie Kiesewetter bemerkt, niclit melir so ganz und
gar bios unvorlierbereclmetes Brgebniss der contrapunctisclien Operation*,
sondern meistcns sclion sinnig niit irgend einer bostimmten Absicht an-
gelegt. Man flndet .ferner bei Ockenheim eine grossero Qewandthoit
in der Handhabung contrapunetischer Forinen, zugleich ist aber aucli
damit eine Yerirrung ins Abstruse gegeben. Die Form des Canons wurcle,
wie sclion erwalmt, am hiiufigsten und zwar in deu verscMedensten, kiinst-
lichston Gestaltungen angewendet. Man notirte denselben in einer Zeile
und liesB den Sanger die Auflosung aus beigeschriobenen symbolischen
Sprficlien orrathen. Aucli die Taktverhaltnisse wurden Gegenstand grtible-
rwclier Eiperimente; es gab Canons, in welchen die verschiedenen Stim-
men untcr verscMedonen Taktzeiclien sangen. Der Satz war insgemein
vierstimmig, man vermehrte jedocli zuweilen die Stimmenzabl ins Ueber-
triebene.
Es wurde zu weit fuhren, wenn icli diose Bestrebungen im Ein-
zelnon verfolgen wollte. Zuclem ist dieser Absclmitt der GeschicMe der
am wenigsten interessante. Soviet auch gescbieht, im Ganzen ist doch
Alles noch mittelalterlicli unerpicklieL Die Mederlander , namentlich
die jotzt genannten Manner, liaben die bescliwerliclie Arbeit ubernommen,
im hfiheren Sinne das Fundament fur die spatere Kunst zu legen. ?J Was
liatfcoa"^ fragt Ulibisch off sehr riclitig, ,,die grossen Tonkfinstter der
Harmonie, Bach, Handel, Mozart, angefangen, wonn nicht geschickte
und ausdauerncle Arbeiter Jak'hunderte lang die Steinbrticlie ausgebrochen,
die Minen ausgobeutet, und das solide Material hergerichtet , behauen,
geformt imd gesclimiedet Mtten? "Was sie gomaclxt Mttcn? Hfibsclie
Gartenhauselien von gemaltein Holze, cleren Karnicse aus Gesangsver-
zierungen imd deren Friese aus Bonladen bestanden Mtton; frisch und
glanzend fitr eine Stunde, woranf die Mode darflbor weggoblasen, und
Alles bis auf die letzte Spur verwisdxt Mtte." Dicse tiefsinnige Ver-
standesarbeit, bemerkte ich schon vorhin, war nothwendig, urn cler spiiteren
grossen Kunst eine wiirdige Grundlage zu boreiten. Das ist das grosso
Verdienst jener fruhesten Meistcr; in das Eeicli der schonen Kxmst
selbst einzutreten , war ilmen, sowie iiberliaupt den Meclerliindern, nicbt
beschieden. In diesem Zoitabschnitt, den ick bis jetzt bosproclien habo,
er nmfasst das Jalirlamidert von 1380 bis 1480 ist dcr Grund
zu dem Bulm golegt wordon, desson sicb. die Moderlander in der nun
folgenden Zeit in der ganzcn civilisirtcn Welt erfreuten. Durcb. Ockon-
heim's Schulo wurde die Kunst in alle Lander vorpllan^t, und nacb.
einer Beiucrlmng Kiosowcttor's soil aicli gonoalogisch nachweisen
lassen, class Ockenlicim cler Stammvater aller Schuloii dor spatoron
Zeit gewesen ist. Nock sei erwiilmt, class in diesem Zoitraiuu die Or gel
die bodoutendston. Vcrbosserungon in der Stmctur und dona Mcclianis-
nitis erfalu-on luit. Die altesten Orgoln aus den Zoitou dos MittelalterB
zeigten nodi die rolieste und imgoscliicktosto Bescliaflonlioit. Die Tauten
waren oiuon lialbou Schuli broit, (lurch cinon morkliclion Zwiselienrauiu
von eiiiandor gesondert, und imiBsten itiit don Ptiusten odor mit clou
Ellenbogcn in Bowcgung goHofet wordcu. Die allnuililiclie Ausbildung
dankt dieses Instrument, d:is wiclitigsto in jener Zoit, doin tlontrapiuxct,
und os beganu jetzt ditiHOiiii dio fruhereu Dienste rciclilicli m vorgolton.
Die Kimstgoscliiclito nmnit zwcsi KfuiHtlor: Antonio Sguarcialupo,
aucli Antonio dogli Organ! gonannt, zu Floronx, imd Bornhard,
mit clem Boinanion tier Deutnche, xu Vonodig*
Das liShoro GoiHtonlobon, woklios sicli jetet in Europa alhniililicli
/it vorbreitcn bogann, inuHto don gfinsligston Einlluss JuBHorn auch auf
Fortbildung/lor Tonkiuwt und Vorbroitiuig dornolben in weiteren Krei-
sen. Wie dio LioWiaborei fur die Irildcndou KfniBto nmchr und niolir
zunalun , begannon die GroHHou aucli Tiir Muaik nicli 7Ai iiitorossircu, uncl
die Tonsote orliioltou di( nachdnlckliclisto Aufnmntorung uud gfmstigsto
Voranlaflsung , ilir Talent zu ontfaltciu An den KOfon ontntanden Ka-
pollon, xu clonen niodeiii'imlischo Musikor uiitor froigobigon Bodingxin-
gen horufen wurcleu, Lelirsttilile fiir Munik wurdon errichtet in dor
zwoifceii Hiilfte cles 15, Jahrhunflovb* /AiNoapol, Mailand xotd an andoron
Orten Ttalions* | Insbeadndoro abor, ala zu Anfang don 1C. Jahvlmndorto
clie rapste Julius 11, uncl Leo X. jouo fflunzondo Bapliaol'solxo Zeit
25
fiir Italien herbeiftlhrten , erreichte die niederlandiscke Musik in Italien,
Spanien , Frankreich und Detitschland ikre hochste Anerkenmmg. | Als
endlich im Jalire 1502 der Italiener Ottaviano dei Petrucci aus
Fossembrone im Kirchenstaate den Notendruck nut bewegEchen Tjgen,
erfand, war for den erfolgreichsten Aufschwung der Tonkunst die wich-
tigste Anregung gegeben. Ockenheim's grosster Schuler, Joscpiin de
Pres, oder Jodocus Pratensis, oderaPrafto genannt, geb. kochst-
wahrsoheinlicli zu Cond<5 urn 1445, war der erste jener "Mederlftnder,
in dem die Kunst sick unter den bezeickneten Einfiussen von der frukeren
bis dahin lierrsclienden Steiflieit, SchweriSJEgkeit und Harte einiger-
maassen befreite; er wurde der Hanptreprasentant der nun folgenden
Epoche, und zu seiner Zeit war es namentlicli , wo seine Landsleute
sich der unbedingtesten musikalisclien Herrscliaft in Buropa erfreuten.
Sclion Luther, das Wesen Josquin's richtig erfassend, hat irgend-
wo liber ihn und zugleicli die Wendung, die durch denselben in
der Kunst hervorgebracht wiu-de, das treffende Urtheil gegeben:
,,Josquin ist der Noten Meister, die habens mussen maclien, wie
er wollt; die andern Sangmeister mtissens n^clien, wie es die Noten
wollen haben". |Baini aber bemerkt, dass in den gelungeneren Wer-
ken dieses Mannes zum orsten Male die Morgenrotlie des spateren Pale-
st rin a- Stils dSminere. Sehr jung begab er sich zu Ockenheim in
die Lehre. Unter Six t us IV,, urn das Jalir 1480, finden wir ihn als
ganger der papstlichen Kapelle, spater, in der Zeit zwisclien 1484 und
1490, gegen Erwarten (da er zu Eom in grossem Ansehen stand) in
der Dmgebung Lorenzo's des Prachtigen in Plorenz, dann am Hofe
Konig Lud wig's XII. (dessen Regiening in die Jalire 1498 1515
fallt). Seine letzto Lebenszeit verbrachte er in seiner Heimath, in
Cond<5, wo er am 27. August 1521 als Propst des dortigen Domcapitek
gestorbon ist. Kiesewetter nennt J o s q u i n cines der grossten musika-
lisclien Genies allor Zeiten. Macht man es ilim nicht ohne Gnmd zuni
Vorwurf, class er die musikalischen Witze und Ktinsteleien auf eine
ubenmissigo Hoke getrieben habe, so ist doeh gewiss, bemerkt er, dass
jeder seiner Satze in den ktinstlichsten , wie iu den anspruchslosereii
Compositionsgattungen sich durch irgend einen Zug des Genies von
den xahllosen Arbciten seiner Kunstgenossen und Nachaknaer unter-
sclieidet.
J Bis clahin hatten die NiedorlSnder allein und unumsehrankt im
oicho"der Tonkunst gelierrscliij Jetzt begannen auch andere Nationen
ihnon allmahlich niolit zwar den Rang, aber doch ikre biskerige Allein-
horrschaft streitig zu machen. In Deutschland traten sckon in der zwei-
. 26
ten HSlfte dcs 15. Jalirhiinderts einigo treffliche Tonsetzer auf, Adam
deFulda, Stephan Malm, HeinrichFinck, Heinrich Isaac,
von denen besonders dor Letetere mit Auszoichnung zu nonnen ist. In
Frankreich orlangto Eloazar Genet, gonannt il Oarpontrasso (von
seiner Vatorstadt Carpontras) , Mitgliod dor piipstliehen Kapollo, sohr
grosses Ansehen, und wurdo doslialb von soinein Conner Leo X. mit
der Bischofswfirde bokloidot. Spanior warcu als Sangor sohr boliobt in
der papstliclien Kapellc. Unter den oinliohnischon Mitgliodorn daselbst
wird Cos tan 7,0 Feat a als dor crsto bodoutoudo Uompomat mid Vor-
laufer Palestrina's gonannt.
Die bisherige Darstcllung, die Besprecliung dor Thatigkoit der Ton-
setzer, hat Sie orratlien lassen, wolclieB die Mittel waren, die donsol-
ben m Grobote standen. Ich cvwahnto schon frtilior, wie dor einstimmige,
weltlicho OoHang von den Arbeiton dor Contrapunctiston skeng gosc.Mo-
den war. Es leuchtot ein, dans der orstoro uin HO inolir zxiificktrat , jo
niehr die Kunst der Letzteren zu liolicrer litufo wicli entwiclfelte, Bs
gal) jetzt allein mohrstimmigon GoHang. IiiHtnunonto kannto man zwar
Hohon in grosnor Zalil; an eine oigentliclie IcnnHtnuiHHige und HoJbst-
atandigo IiwtranontnJmuHik war tiber bis jetzt noc-li niht ontfovnt zu
dcnkon, lioclistens wnrden zur Verstiirkung otlor UntorHtilknng des
Chores Ziiikou, Powuinon und allenfallH Tvotnpoton angowondot, wolc.ho
mit den Stiinmen unisono giiigon. |l)ie (Joigo and die Louir warou den
Handon dor wandeniilen MuHikanlon flborlasHon, nnd ebon so wenig
wio diese goachtot; man berief nie, damit sie zwn Taiwe aufij])iolton,!
Die Orgcl ist alw das einzige in dor allgenieinen Adilaing lioluu* gentellte
Instrument m bozoichnou. Die luHtnmioutirtton waron von dm (ugont-
liclion wiHsoiwdiaftlidi eraogenen MiiHikorn, tl h. den Siingern, gauxlic/h
geBchiodeu und bilileton oino eigeiie Xunft unter dem Nani<in von Sfcadt-
pfoifern, Kunstpfoifevn od<* Tbflnnoni. DIOHO liatton auc.li ilire eigene
Art, far iliro Instninioulo zu notiroii, din sog'onannto deutsclie Tabu-
lator. Das Clavier ersdioint alloin fur d<m Imuslidion Oolmuich, did
Harfe war zur Zeit nocli kanin gcnannl. Hin und wiedor tliaten wicl
abor doch scliou Virtuosen auf cinzolnou fnstninumten liorvor, so
blinde Oonrsul 'Pauinann aiw Nlirnborg, der ini Jalire I47;5 ntarb.
Icli lube Helton Ixnnovkt, dasH oino mis full rl ichor o Parstollung* die-
or Vorgoscliiclito niclit in inoiuont Plane liogt; es koimnt lediglich
davauf an, TImoii die HauptiMiuoto m boxoidinon. Aus dioaoiu (Irundo
boflchilinko icli micli auf Erwrilmung- dor widitignton Kunntler/ welebo
als Itoprasontaiitou z\i botradit(m nind, oline die Krzahlung rait einer
uberfltiBBigon Mongo von Nanien m bolastou. Jetet nintl nodi
oh'
4>(
Manner zu Hennen, mit denen icli die Bespreehung des gegenwartigen
Absclinitts beschliesse.
Unter den Mederlandern, welclie, tlieils berufen,. theils um ihr Gluck
in Italien zu machen, dort einwanderten, war auch Hadrian Wlllaert,
1480 zu Brugge geboren. Als junger Mann von etwa 26 Jaliren sehon
im Heimathlande beriihmt, kam er um das Jahr 1516 nacli Kom. Dort
in der papstliclien Kapelle wurde eine Motette seiner Composition, die
in grossem Anselien stand, aber denNamen Josquin's trug, gesungen.
Als er sein Keclit auf dieses Work geltend maclite , beleidigte er damit
die Stinger, die als genaue Kenner Josq inn's doch augenscheinlicli
getauscht waren, so selir, dass die Motette von dem Augenblicke an
zuruckgelegt wurde und Willaert's Gluck in Kom verscherzt war. Er
wendete sich in Folge davon nach Venedig, wo er sclaon im Jalire i 527
die Stelle eines Kapellmeisters am Com cles lieiligen Marcus, eine Stelle,
die in der Folge als eine Art von musikalischer Grosswiirde gait, erhielt.
Hier, in Venedig, erlangte Willaert sehr naclilialtigen Einfluss; er
wurde der Stifter der naclmials sehr bedeutenclen und bertihmten vene-
tianisclien Scliule, die im Laufe der naclifolgenden Jalirhunderte eine
grosse Zalil vorziigliclier Componisten gebildet hat, raid namentlich auch
fur tins von Interesse ist, da sie einen lebendigen Einfluss auf deutsche
Kunst iiusserte. Er starb am 7. December 1562. Willaert war der
Brste, soviel man welss, der fur eine grossere Anzahl von Stimmen,
als bisher gewohnlich war, ftir sechs und sieben, componirte; auch wird
er als der Brfinder der Composition fiir zwei und drei Chore bezeiclmot,
eine Satzweise, die durch die grossartigo Wirkung, welclie sie hervor-
zurufen im Stancle ist, mit Eecht bald Nachahmung fand. Bbenso ist
Willaert der eigentliclie Schopfer des Madrigals, jenor musikalisclien
Form, die in den nachsten Jahrhunderten die ausgebreitetste Herrschaft
erlangen sollte, *
In Allom, was zur Vorschule der hoheren Tonkunst gerechnet
worden kann, gingen die sammtlichen gebildeten Natioiien Europas
Hand in Hand. Spater zeigte sich bei den verschiodenen Volkern eine
stets wachsende lebendigere Betheiligung. Ueberall wurde indess immer
noch im niedorlandischen Stile gearbeitet, -und nationale Eigentliiimlich-
kcit bemerken wir noch an keinem Orte. Nun endlich tlieilt sich der
Hauptstrom,- und es wird nothig, denselben in seinen verschiedenen
Wendungen zu verfolgen; jetzt endlich boginnen auch andere Lander
den Faden der Entwicklung aufzunehmen. In den Niederlanden , in
Prankreich, Deutschland und Italien waren zwar auch zu dieser Zeit
immer noch niederlandische Musiker in fast unglaublicher Anzahl in
28
Thatigkeit; aber der EInfluss derselben wurde schwacher, 30 mehr die
verschiedenen Volker em eigenthiimliches musikalisches Leben entfalteten.
Als Sanger der papstlichen Kapelle lebte um 1540 in Kom der Spanier
Cristofano Morales, geb. zu Sevilla, beruhmt als Componist. In
Frankreich traten Compositeurs anf, der en Werke durch die seit 1530
eroffneten Druckereien von Paris und Lyon verbreitet wurden* In
Deutschland rief die kirchliche Information Sehopfungen hervor, die,
einer neueren Geistesrichtung angehorig, fur die Tonkunst eino neue
Welt eroffneten. Johann Waltlier und Luclwig Senfl werdenhier
spater noch zu besprechen sein. Auch Palfestrina, durch welchen
die italienische Kirelienmusik zu classisclier BBhe geluhrt wurde, fallt
in diese Zeit.
Bevor ich jetzt die Weiterbildung der Tonkunst in den einzelnen
Landom verfolge, will icb zuvor, wonn aucli dor Zeit olwas vorgreifend,
die Periode der Niedorlander zum Abschluss bringen. Noch oinen Mei-
ster liaben die Niederlande liervorgebraclit , der, wolil der grOssto und
horvorragondHto von alien, das bis daliin Geleistete ssusammonfassto, der
diesc Eiclitung, soweit es auf dieser Stufo iiberhaupt nioglicli war, zur
Yollendung fulirte. Es ist dies Orlandus do lassus, Roland Las SUB,
in Ttalien Orlando Lasso, in Frankroich Eoland Lass 6 genannt,
aus Mons im Hennogau, geb. 1520. Sein urspriingliclier niederlandisclier
Name war Kolaud do Lattro; als abor sein Vator, der FalHchmfluzoroi
iiberwiesen, m der Ehronstvafo verurtlioilt wurde, init einer Eoibo
falsclier Munzen um clen Hals drei Mai um das IFocligoricht m gohon,
findorte er seinen urspilingliclion Namen, vorlioHH Kin Vatorland und
ging nach ftalien. In seinein 1.S, Jahro lawn or nach Noapel und vor-
woilto danolbst zwei Jahro. Im Jahro :I54J wurde or von doin Oardinal-
Erzbischof von Floronz, der sich obou in Kom bofand, soljr wohlwollencl
anfgenommon und orhiolt die KapellraeiBterstolle am Latoran, die er
aber nur sechB Monato vorwaltoto, wcil or, um seine todkrankou Eltorn
noch ein ,Mal m sehon, sclmell in soin Vatorland zuruckeilto. J3ei
seiner Anktmft clioso jodoch nicht Biolir am "Lobon fmdend, bliob er in
soinom Vafcerlando nicht lango, ging nach England, dann nach Frank-
roich, unit HOSH sidi zulct/.t in Antworpen niodor. Him* lobto er im
Umgaugo writ don auHgozoichnoteton, golohrtoBton und vornohmston Mftn-
nern, von Allen soin OH grosson TalontoB, wio soinos ollenen CharaktorH
wogon aufs Hochsto goohrt mid goliobt. Im Jahro 'lf)57 orhiolt er
von Hcrzog Albert V, oiuon Kuf nach Miinchen, als Leitor der dortigon
berfihnxtou Kapolle, zugleich mit dom Auftrage, die vorzflglichston nie-
dorlandischon Musikov zu werbeu und mitzubringon. Im Jahro 1562
trat Lass us in seine Stellung in Munchen ein; Mer, an der Haupfr-
statte seiner Wirksamkeit, gewann er bald ein bedeutendes Ansehen,
einen Ruhm, der sicli allmahlich liber die ganze civilisirte Welt ver-
breitete, nnd einen bedentenden Einfluss auf die Ausbildung deutscher
Musik. "Wie der bald naher zu besprechende Palestrina von den
Italienern der Furst der Musik genannt wurde, so Lassus von den
Niederlandern und Deutschen. Die Auszeichnungen , die ilini m Theil
wurden, waren zahlreich. Der Konig von Frankreich ernannte Dm
zum Maltheserritter, der deutsche Kaiser Maximilian hatte ihm frfiher
schon den Reichsadel verlielien ; der Papst ernannte ilin zum Bitter vom
goldnen Sporn ; das sehr schnieichelhafte Wortspiel : Sic ille est Lassus,
lasswn qui recreat orlem (das ist der Lassus , der die lasse , die nitide
Welt erquickt) zeigt eine auf ihn gepragte Denkmiinze. Auch in Paris
verweilte er eine Zeit lang. Einem spateren Rufe Carl's IX. folgend,
unteraahin Lassus eine zweite Reise nact Paris, erfuhr aber auf
dem""Wege den sclinell erfolgten Tod des . Konigs und fcehrte des-
h/b nacb. Mtinclien zuruck, wo er am 15. Juni ^ISQij^SlsJS^fePJ 1 I, n
europaiscliera Rufe starb. Dort in Munclxen befinden sicli auch seine
gesammelten, grossentlieils nocli nicM veroffentlicliten Werke, zusammen,
wie erzalilt wircl, 2337 Compositionen entlialtencl. Lassus wircl ge-
schildert als ein schlichter deutscher Masa, der die schraeichelhaften
Aeusserungen der Grossen und seinen Rulim durcli ganz Europa in be-
sclieidener Zuriickgezogenheit nicM sowohl genossen, als vielmehr ge-
tragen liabe. Seine Werke sind ilireii Texten und der Bestimmung
eines jeden geinass selir mannigfaltig und so verschieden in der
Schreibart, als dies damals moglicli war. Diese Vielseitigkeit, diese
grossere Mannigfaltigkeit des Ausdrucks hat Lassus, wie es seheint,
vor seinen Vorgangern voraus; sie ist Resultat der schon gereifteren
Kunst und der giinstigeren iiusseren Bedingungen. Ganz sich frei
m machen von den einst angostaunten Ktinsteleien seiner Vater ver
jnochte jedoch auch dieser lotzte Meister nicht, von jener schwerM-
ligen, oft ausdruckslosen Trockenheit, und in das Reich der schonen
Kunst selbst einzutreten, war ihm nicht bescMeden. Obschon er der
Zeit nach der nachstfolgenden Periode angehort, wurzelt er doch geistig
in der vorangegangenen. Die Zeit der MederMider ist die Morgen-
dammerung der Tonkunst: das aufgehende Licht wircl geahnt; in ein-
zelnen Erscheinungen ist es wahrnehmbar , aber fiber die Dammerung
hinaus ist man nicht gekommen. I Lassus
Mederlander, die in einem Zeitraum von 200 Jahren der "Welt wohl
an 300 Tonsetzer geliefert hatte. J Die Musik, dutch dieses Volk in
30
ganz Europa verbreitet, begann jetzt, namentlich in Italien und Deutsch-
land, eine einheimisclie Kunst m warden, und wie einst die Nioder-
lande, so sendete ItaJion bald nun schon seine Sobno in alle kunstlieben-
den Lander ans, und errang jene Oberherrschaft , die es bis weit
Herein in das yorigp Jakbundert belmuptet hat^Bei vermindertcr Nacli-
frago nach niederlandisclien Tonkiinstlern vermindcrte sicli dor Antriob,
sich einer Kunst zu widmen, welche niclit mehr wie sonst Rulrni und
Ileiclitlium im Auslande versprach. Die Nieclcrlander batten iliro go-
scliiehtliclie Bostinnnung erffllt und treten nun fto immer zurttck von
clem Schauplafczj
" Hiermit ist die VorgescMclite iinseror Kunst, sind die Lolir- nncl
Wanderjahre derselben boschlossen, und icli bin auf dom Puncto angc-
langt, wo ieh Ilmen die Bintheilung dcs gesammten Stoffes vovlogon
kann. Ueberblicken Sie den bislior durclilaufonon Zoitraum, so be-
merken Sie drei Hauptentwicklungsstufon , drci Hauptabschnitto,
in die sicli derselbe zeiiegt^er^orste wird gobildot dadurch, dasH ftir
die Tonkunst durcli das Christentlium fiberliaupt oin geeignotor Bo(%n
gewonnon ist ; * wir orblicken die ersten Anfange dor neuen Musifc und
den ersten Schritt zu ihrer Eegclimg dureli AufBtellung von Tonleltorn;
die $5 weit o, Mliere Stufe beginnt da, wo die Haiiptoigontliuraliohlcoit
des Neuen, weitn auch noch in rolioster Qostalt, wo die ersten liar-
monisclien Vorsuclio heTVortreton;] durcli dioson Schritt sind zugloicli
cine Mengo anderer bedingt, welche als nothwentligo Folgo dieses orsto-
ren crscheinon ; jdor dritto Absclinitt wird auHgofiillt durcli dio Bpoolio
dor Niodorlandor , duroli die orsto geiungeue pniktinclio Anwoudung des
bis dahin durcli thoorotischo Untersuclmngen Gewonneuen.) Hionnit
scliliesst, wio bemorkt, die Vorgeschiclite unserer Kunst, die orsto
grosse Hauptporiode, und wir betreten die xwoito, welclie dio
Meisterjahre, dio elassisclio Zeit dor Tonkunst, die GoseMclite dor Musik
bis auf unsere Tage onthslt.
Bevor ieh mich jedocli m dor Darstollung (lor mm folgondon wicli-
tigcn Thatsachcn weude, ist es nofchwondig, dioson Kintritt dor Ton-
kunst in das Lobon, dioson ersten grosHWi Aufsdiwung, von dem an
sicli dio Herracluift dornolbon datirt, unter allgomoiuon Gesiclitspuncten
zu betraekten , an diosom Wondopuncto cine umfassondo Oriontirung tibor
den zurftckgelogton Wog sowol, wie tiber clen nooh bevorstolienden oin-
troton m lasson, Jch muss otwas weit ausholen; icli muss Einigos aus
der Plulosophio dor QoscMchto ontlolinon, sow|e aus tier allgomoinon
Aosthotit; die Eesultate diosor Botraclitung abor sind wiebtig, sie be-
zeiclinon tins die woltgoscluclitlicbo Stollung der Tonkunst, ihr Vorhfilt-
niss zu den Schwesterkunsten, sowie die geistige und culturgeschichtliche
Bedeutung derselben.
Die Entwicklung des Menschengeschlechts zeigt uns das interes-
sante Scliauspiel der Befreiung des Geistes aus den Banden des Natur-
lichen, welche ihn anfangs fesselten; sie zeigt uns die Erhebung des
menschlichen Bewusstseins aus seiner friiliesten Versunkenlieit in das
Natflrliclie zur Existenz des Geistes in Geistesgestalt. "Wir haben bei
dieser Entwicklung die Anschauung, wie der Hensch sich aus den
thierisclien Zustanden, mit welchen seine Geschichte beginnt, mehr und
mehr horausarbeitet und sicli als Mensch erfassen lernt, und erblicten in
diesem Fortgange ein rastloses Weiterschreiten von dem Unvollkomm-
nen zum mehr Vollkommenen, so dass Diejenigen irren, welclie ineinen,
dass die Geschichte, wie die Natur, in einformigein Kreislauf sich drehe.
Die Geschichte ist ein prachtvoller , zum Himmel emporstrebender Bau,
dem die welfcgeschichtlichen Volker und die grossen Individuen als Bau-
steine dienen, ein Bau, welclien jedes spater folgende, bei dem Fort-
schritt betheiligte Volk hoher emporthurmt
Der Orient ist der Anfangspunct dieser Entwicklung, der Sonnen-
aufgang der Geschichte; der Orient eroffnet dieso.grosse Gallerie der
Volker und Individuen. Hier ist es, wo das Bewusstsein, anfangs nock
ganz von dem Natilrliclien gefesselt, in den Staaten hoherer Gestaltung
aus dieser Versunkenlieit sich emporzuarboiten und einer hohereu geistigen
Existenz zuzustreben beginnt. Aegypten wird von der modernen Wissen-
schaft als dasjenige Land in der friiliesten Entwicklung der Qeschichte
bezeichnet, welches am entschiedensten das Erwachen zu selbststtodiger
Geistigkeit, das Hinarbeiten zum menschlichen Bewusstsein, das Heraus-
arbeiten aus den thierischen Sympathien zur Erscheinung bringt. Die
Sphinx kommt von Aegypten nach Griechenland und giebt dort das
bekannte Bathsel auf, dessen Losung der Mensch ist; sie stiirzt sich
ins Meer, als Oedipus dasselbe deutet; das Geheiinniss, welches sie
bewahrte, ist offenbar, der Hohepunct ihres Bewusstseins ist Gemeingut
geworden, und ihre besondere Existent ist vernichtet. In Griechenlands
schonen Tagen leuchtet zum ersten Male der helle Tag eines rein mensch-
lichen Bewusstseins; hier beginnt die hohere Geschichte des Mensehen-
geschleclits; die Vorstufon sincl iiberwunden, und die geistige Arbeit
nimmt ihren Anfang. So sehr aber auch der^Geist mit der ganzen
jugendlichen Klarheit und Energie sich zu erfassen, so sehr er sich frei
auf sich selbst zu steflen vormochte, die tiefste Einkehr in das Innero,
die tiefste Selbsterfassung war jener Stufe des Bewusstseins noch nicht
gegeben. Oedipus todtet, ohne dass er es-wei^s, seinen Vater, und
on
0,0
heirathet, mit seiner Abstammung unbekannt, gleichfalls olme Vorwis-
sen, seine Mutter. KToch in dor Darstellung des Sophokles, auf der
Stufe der hochsten Ctiltur Grieehenlands demnach, eraclitot er sich die-
ser Verbrechen. sclinldig: was dieser Monsdi Oodipus in seiner sinn-
lichen Erscheiuung begangen bat, daflir glanbt er einstelien m mfissen,
ohne class seln Bewusstsein davon Etwas weiss; was nacU clmstlichen
Begriffen ilnn niclit zngerechnet werden konnte , das lastot auf ilnn mit
solclier Schwere, dass es seine Existent vernichtet. Erst das Chrislen-
thnm hat den Geist in solcho Tiefen hinabgeffihrt, dass er sich rein als
solclier erfassen konnte ; erst Mer ist dieser innerste Mittolpunct orBchlos-
sen; erst im Christentlmm erkennt sich dorselbc als dor Hen* der Welt,
als die Macht, welcho alles Natflrlicho be^wingt, ,,Qott ist ein (Joist,
und die Din anbeten, mussen ilm im Goist nnd in (lor Walirlioit
anbeten"; und welter: ,,Solig Hind, die reines "I [croons niud". Burcli
die Reinlieit des Heracns, durch die Ausselieidung alloB Natiirliclien
wird diesc Erhobung bewirkt; das mensclilidie fnnore ist an die
Spitze gostcllt, die Fiillo dos Goistcs ist aufgoBchlosHcn ; die Vorsoli-
nung mit Gott dnrch die Eoinhoit dos Herxons, die Ldsung allor
Widorsprticho im Geisto, (las Princip ftir die gosammto nac^lifolgondo
GeiBtesentwicklung ist gogol)on. Das (Jluistentlmin ist dor groHHO Wendo-
punet in dor Goschiclito; bis m ihm Inn orstrookt Rich dioHolbo, von
ilim aus beginnt sic. In Ivanipf trotend iudess mit der lieiduiKclion Welt,
Wurzel fasscnd zunachst in Lfindoni, wolclie, wio Grioohonlaiul , don
Geint nnr erst in soinor nnmittelbaron Kmhoit mit dom Natiirliclion xtir
Erscheinung m Iningon vonooclitoii , koimto O,H nodi ni(*.lit. sogloidi in
seiner gansson GroHso nnd Rolnlieifc xur (loltung golungou. Audi os ssaigt
sich an fangs mit Sinnlichom boliaftet, und im woitovon Vorlauf dor Jahr-
hnndorto dos Mittolaltors orschoint in Folgo davon, statt oinor tibor-
wiogond goistigen Welt, die fnnorlidikoit dos clniHtlichou "FriucipH' im
KatliolicisinuB wiodor nacli aiWHOii gowoiulot und vorwoltlic^t. Dor nSlclmto
woliigoschiclitlieho Sclvritt war die durc.h don ProtostautiHuniH gowounouo
Yertiefung, und durch ilm sohou wir jotet dio roicho GoiHtoswolt in
PbiloHophio, PocHie und Kunst horvorgorufi^i , wolclio dio lotom Jalir-
tandorto verhoniicht liat, Dio tiftfwlo Kinkolir don (Jointon in nidi Holbnt,
im Hiubliok auf dio gosammto voraitHgt^gaugono Entwid<luug, int liier
erreicht, ein 55iol, wdfrauf dio Bewogung dor GoHcliichto YOU Anbogiun
lunarboitoto.
Dom entsprochond gostaltot Rich, dor Fortgang in d<m KQiiHten.
Audi dio Ktinsto xcigon in ihror gosclticlitlichou Folgo don FortHchritt
vom Aoussoron mm Tnncron, von schworor, Kauin orffiUomlor Matorio,
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vom Uebcrgewicht des Aeusseren zuin Hinabsteigen in die Tiefen cles
Geistes, der dadurch immer mehr in der ilim angemessenen Gestalt
erscheint. So wie zwar nur ein Inhalt die Natur in ihrer unendlichen
Mannigfaltigkeit durchdringt, so wie die Natur in ihrem tiefsten Grande
nur als der vcrschiedon gestaltete Ausdruck eines Lebensprincips zu
lasscn 1st, so ist es auch nur ein Geist, ein In ha It, der in den ver-
scliiedenen Iviinsten seine aussere Erscheiming findet. So wie jeiloch die
vcrscliiedencn Reich e der Natur bald nielir bald weniger vollkommene
Offenbarungsstufen des ein en Geistes sind, bald mehr bald weniger
geeignet erseheinen, das Ganze des Weltinhalts zur Erscheiming zu
bringen, so wind auch die verscliiedenen Kiinste bald melir bald minder
angemessene Ausdrucksweisen fur die Unendlichkeit ties Geistes. Diose
Angemostfonheit der kunstleriscben Ausdrucksmittel dafur, die grossero
oder goringere Fiihigkeit der einzelnen liunste, diese Unendlichkeit zur
Erschoinung zu bringen, thro grossere oder geringere Unfiihigkeit , die
Totalitat cles Geistes darzustellen, bestimmt die Eangordnung derselben.
Diejonige Ivunst ist die hochste, umfassendste , wolcbe den Geist in ent-
sprochendstor Weise zur Erschcinung zu bringen vermag, deren Mate-
rial ihn in seiner ganzon Ffille aufzimehmen faliig ist, diejenige die nie-
drigste, die dies am wenigsten erreicht und noch am meisten mit dem,
Materiellen zu kSnipfen hat. Die Poesie ist die hochste, die Baukunst
die nieclrigste Kunst, denn hier ist der Geist noch in die Materie ver-
soukt, dort erscbeint die Matorie vorflfichtigt , und in den Geist aufge-
noniinon. Sculptur, Malerei und Musik liegen zwischen den genann-
tou heiden Endpuncten und bilden die Vgrmittlung clerselben. Der
Baukunst am niichsten steht die Sculptur, an diese schliesst sich die
Malerei, an diese die Musik, und das Ganze kront und vollenclet
die Poesie als die hochste, allumfassendo Kunst, die universelle,
welche die Eigenthflmlichkeit tier anderen Kunste, soweit es ihr Ma-
terial gestattot, in sich aufnimmt, die Darstellung der Stimmungen
des Herzens mit der Musik gemeinschaftlich hat, und in iliren Scbil-
derungen die plastische Anschaulichkeit der bildenden Kunst zu erreichen
bemtilit ist.
Baukunst und Sculptur kampfen noch mit der schweren , Eaum er-
ftillenden Materie. Hierzu kommt, dass das Werk der Baukunst noch
nicht vollstandig in sich abgeschloHsen erscheint, da es, auf ein Anderes,
auHser ihm Befindlichos hinweisend, noch nicht sich selbst Zweck ist.
Der Tempcl bezeichnet, so zu sagen, nur erst die Wohnung der Gott-
hcit, er ist nicht an sich selbst schon die Erscheinung des Gflttlichon.
Als btirgeiliche Baukunst aber dieut dieselbe noch endlichen Zwecken
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und Mngfc mit clem geniclnon Leben zusammen. llmfassendor ist das
Material dcr Setilptur, fiihiger fiir die Darstollung der Totalitiit des
Geistes; die Kunst erwackt in ihr zu grosseror iudividuoller Lebendig-
keit; clas Werk der Sculp tur ist em in sicb abgesclilossones Gauzes, sich
selbst Zweck, und das Unorganised , Elcmentarische dor Baukunst ist
versclrwunden ; die menscliliche Gostalt ist der nachste Ausdruck des
Geistes. Aber es felilt der Bildhauorlcunst der bolebte Blick, der Blitz
des Auges, und soinit Dasjenige, was auf sinnliclicm Gebiot don Geist
am Angernessensten zur Erschoinung zu bringen vovnuig. Der Mangel
des Blicks ist liier nur darmn kein Mangel, well anf der Stufo
wenigstens, welche diese Kunst bei den Grieclien ohmahm - aller Aus-
druck nocli in die Gesammtheit dos Korpcrs golegt, und das Antlite mit
diesem obenmaasig beliandelt, niclit" aber einneitig bevoraigt nnd alloin
2um Organ des AusdrneJb gemaclit ist. A us diosom Grundo int ancb der
nackte mensclilic.ho Korper der wichbigMlc Gego.nntand all<^r Darstollungon
in dioser Knnst. Die Malorei beschriinkt sicli anf dio Fldcho, indein
sie den Scheiu der riiumlichen Ausdolimmg nacli alien Seiten an die
Stelle der wirklicben vollon liamnorfnllung sotzt. Das Materiollo ist
sclion zum Theil veiilticlitigt , und der Geist bat Exintouz in einor ihm
entspreclienclercn Sphiiro gowonnen. So vorBoliwindet ancli das Nackte
insoweit, class es nur nocli eiu Gegenwtand ncben anderon int, obne dass
der Accent ausschlicHHlicli darauf rulit. Abor der Gowt ist dessenunge-
achtet nocli an das Materiello gebumlon. Ho Bcdoutendes das Ange zu
oifonbarcu vonnag, inmier ist os oin rnin siimlic.lies Ausdrucksmittol,
mid in der Kunst wcnigstoBs unveruiogond, dio Fiillo der Uogungon des
Herzena und seine wecbselndeu Stimmungoax zur Darstelluug m bringen.
Die Malorei ist zwar iiu Htande, das hinoro Loben desselbcvu, die Sfcim-
mungon und Leidenscbaften, die Situationon dor Soolo in (josfcalten, Pby-
siognomien und Blick aus/Aidrfwkcn, OH Hind abor tlooli immer fiberwiegend
nur die imicbtigor und deutliclier borvortrotondon , don gesanunten Oha-
raktor des Jndividuuins bcstinnnondou Kigons(*.luifton, w(^lcbo sio zur Dar-
stollung bringt, niclit dio inoliv iiu 'Inn(u*ou V(^rschlossonon , zartoron,
loiclitor voruberscliwobendoa Regungon. KH giobt Kinpiindungen und
Zustande, wolclio sicli im Aeussercn dos MonHtilion gar niclifc ausprslgon,
und fiir dieso hat dann tlio Maloroi koin Organ. Diose tiofston, vorbor-
gensten Itegungen datvAistollon , ist gauss oigontlicb dio Aufgabo dor
Tonkunst. Sio hat das Material gcfundon, wolcbos die Tiofon dor
Soele mmnttolbar zum Ausdriu* bringon kanu, Dies ist die ilohoit, dio
GrGsso dor Musik, dioser Kimst d(U" Scol<s worin sio von koinor andoron
orreicht wirci Dass sio jedocli, uud iuBbosondoro dio roino Tnstrmnontal-
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musik, nicht vermag, ihren Inhalt zur Deutliehkeit der Yorstellung heraus-
zuarbeiten, dass sie den Geist nur erst in Stimmungen der Seele erscheinen
lasst, 1st als ilire Beschranktheit, als ihr Hauptniangel zit bezeichnen, und
sie muss darum den Preis, die hochste Stufe des Kunstgebiets, der Poesie
iiberlassen, welche, universeller, die Tiefe der Empfindung und die Klar-
heit des Gedankens zu einen, den Geist am vollstandigsten zu offenbaren
vermag. In der Poesie ist das Aeussere, Sinnliche ganzlich verfliiclitigt ;
der Schall des Wortes ist nicht mehr umnittelbarer Ausdruck des Geistes,
wie in der Tonkunst der Ton, sondern erscheint herabgesetzt zu einer
willkurlichen Bezeichnung fur einen darin verborgenen Inhalt.
Es erhellt - aus dem Gesagten , wie jede Kunst eine hervorstechende
Eigenthiimliclikeit besitzt, in der sie alle ubrigen tibertrifft, wie sie aber
auch eben so sehr der nachstfolgenden stets den Preis iiberlassen muss;
diese biisst die Yorziige der vorangegangenen zum Theil ein, entschadigt
aber daflir wieder durch neue, bisher nicht gekannte Eigensctaften. Wenn
wir daher sehen, wie die verschiedenen Ktlnstler, Musiker und Dichter,
Maler und Bildhauer, oft genieint sind, die Kunst, die sie speciell ver-
treten, an die Spitze aller ubrigen zu stellen, so wie die Ktinstler im
Allgemeinen wieder gern sich als Herrscher im Eeiche des Geistes iiber-
haupt betrachten, und eine Neben- oder wol gar Unterordnung im Yer-
haltniss zur Wissenschaft nicht gern "dulden, so ist das ein verzeihlicher
Irrthum, den wir tiberall da selien, wo die Vertiefung in eine Specialitat
den Blick fur das Allgemeine triibt. So sehr aber auch dem oben Dar-
gestellten zufolge die Grenzen der einzelnen Kunste in einander ver-
laufen, und diese Manches gemeinschaftlich besitzen, so scheiden sich
doch auf diese Weise die Kunstgebiete, und es ist darum hier der Ort,
wenigstens was Musik und die Nachbarktinste betrifft, im Voriibergehen
die Grenzen noch etwas genauer anzudeuten.
Die Malerei hat nicht mehr die Aufgabe der Plastik, fast aus-
schliesslich die menschliche Gestalt sich zum Vorwurf zu wahlen, und
den Geist so weit darzustellen, als er in diese einzudringen fahig ist.
Sie geht iiber die Schranken des KOrpers hinaus, indem'sie ihren Aus-
druck hauptsachlich im Gesicht concentrirt und die ubrigen Korpertheile
als untergeordnete hinstellt. Das Nackte tritt darum zuruck, clem Ge-
sichtsausdruck, sowie uberhaupt einer complicirten Composition weichend.
Im Vergleich mit der Musik aber ist sie auf einen engeren Kreis von
Eegungen der Seelc beschrankt, und es entgeht ihr das fliichtig Yer-
schwebende, es entgehen ihr alle zarteren Bewegungen des Inneren.
Beide indess begegnen sich in der Darstellung von Stimmungen. Die
Musik lasst dieselben umnittelbar erklingen, die Malerei bemachtigt sich
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ausserer Gregenstiindo, imi diesclben dadurcli zur Anscliauung zu bringen.
Jene geratli auf einon Abweg, wenn sie den Boden Hirer Tnnerliclikeit
verlSsst, nncl, soweit sie es vermag, durcli ausschliossliche Nacli-
bildung von Acusserlichkeiten , duroli sogenannte Malevoi, die Stini-
mung in uns lorvorrufon will; diesc iiborscliroijbot iliro Grenzcn und
niiliert sicli der Musik, wenn sio zur Darstollung wiiblt, was niclit in
dieser wirldicli aufgelit, sondern, dariVber Mnaus liogond, niohr nur
gealmt und errathen werdcn kaim. Die Malovoi irrt, wenn sio sicli,
statt im Bilde Alles zu conccntriren, in Stimniungen verliiut't, wolclie
die scliarfen Umrisse der Qostalton vorachwiimnon lasscn ; die Musik gelit
fohl, wenn sic die Objectivitiit der Malorei erroiclien, durcli gotreuo
Nachbildung von Aeusserliohkeiten all o in das Jnnoro wocken will.
Ein Orgolspioler in gvossartigor Kh'clio boi abondlichor Bcleuclilung
gemalt, icli sail ein soldier Bild kann uns wol crratliou lasaen,
uin was es sicli liaiulolt, abor das Gomiilde woist ubor sioli liinaus auf
Etwas, das aussorhalb seiner Oronzoii liogt, vonumgoselzt, tlass dasselbo
nicht bios Arclutektursttlck soin soil, und der OrgolHpiolor allein oiuo
niclit gliicldicli gewiililto Stadage xn Widen besthnmt ist. Ko schweifen
niancho Gomiilde der Dusseldorfor ScluJo ebenfalls fiber diese Qronzo
Mnaus, briugo.n mis Stimmungcu zur Anscliauung, ffir woloho das J)ar-
gestellte nur eine Andeutung ist, und OH Hchoint luer das erste (Jruud-
gesetz tiberselien, dass dan, was die JVhiloroi malt, wirklidb aticli in ilir
Bereich eingelie. Die Musik golit folil, wenn mo NatureindnuAe, Sicbt-
baros und HOrbares, ausserlidi alloiii nabbil<loiii will, statfc diesolben in
don Brennpunct dor kftnstloriHohon Kini)fhuluiijjf ziwannnon/Aifasson, und
nur das auszusproclien, w a s d u r o b j o n o E i n tl r ii c k e in u o r 1 i c b g o -
weckt wurdo. Hie vormag* dies wat: auf keino aiuloro Woiso, alB
indem sio die liussere Erscbeinung* naclil)iltlot; d(n; grosso UntorHcliiod
abor ist, ob dies auf nur ausHOrliclie WOIHO gOHcliiobt, ob der Kfuwtlor
mil don Augon dos Naturforscliors, niifc doin Verstaudo, beobachtet,
odor ob durdi das Nacligcbildoto dio ytiiinuung durchklingt, d. b. ob
clor luinsfclor kiinstleriscb , inifc dor ,1 Mi a n t a B i o , soinon ( I egonstand
crfasst liat.
Wiclitiger gostaUtik sicli dan Vtu'luiitniss dor MuHik zur POOHIO und
das Inoiiiandorsoliwoilon b(jitlor (3el)ioto; wir boniorkon iibiU'baupt woit
mebr oin Votwfirtsgroifen der oinon Kunst in dio uilohrtfcfolgondo, als
oinen lliickgang dersolben; so schwciffc dio Malovoi in M,usik, dioso in
dio Poosie binuher, seltoner abor dioso in jouo, odor dio Musik in dio
Malorei.
Dio Pooaio bat init der Tonlciuwfc, wie diose juifc dor Malovci, das
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Reich der Stimmungen gemeinschaftlich ; wahrend aber die Musik darauf
beschrankt ist, gelit jene, die Einlieit der Stimmung iiberschreitend,
fort zu grosseren Gegensatzen, die sie clurch das Band des Gedankens
zu verbinden vermag, fort zur Deutlichkeit der Vorstellung uncl zu
scharfster Besthnmtheit des Ausdrucks. Die Musik unternimmt, wie uns
einzelne misslungene Beispiele der neueren Instrumentalmusik lehren,
einen vergeblichen Mug, wenii, sie die Poesie in dieser Deutlichkeit
erreichen, weriu sie den Ausdrucfc zu solder Bestimmtheit fortfuhren
will,, clas unmittelbar in Worte zu ubersetzen, was sie meint; sie giebt
dainit gerade ihre grosste Eigenthiimlichkeit, das Unsagbare auszuspre-
clien, aiif. Andererseits freilich vermag dieselbe ihre Grenzen viel welter
auszudelmen, als die Beschrtaktheit einselien imd zugestehen wiU. Zwar
ist sie niclit im Stande, zu Gegensatzen fortzuschreiten, welcte in der
Poesie nur nock durcli die wirkEche Einlieit des Qedankens ihre Ver-
sohnimg finden. Audi darf die Musik niclit zu solcien losgerissenen
Besonderheiton, welche das Band einheitlicher Stiinmung nicht umschlin-
gen kann, sich steigem, wenn sie nicht sich selbst untreu werden will
Wurzelnd in der Empfindung, vennag sie irn AUgemeinen nur bis an die
Grenzen dieses Keiches vorzuschreiten ; will sie mit dem Wort an Be-
stimmtheit wettoifern, so verlasst sie ihren Boclen, so bringt sie lauter
Bcsonderhciten, besondere Seelenzustande zur Darstellung, ftir welche
die Binheit nicht mehr in der Grundstinunung, sondern in dem dartlber
schwebenden, musikalisch nicht dargestellten, abstracten Gedanken liegt,
und die Harmonie des Kunstwerks ist zerrissen. Beispiele aus der
neuesten Kunstentwickelung aber haben uns gelehrt, class trotz der An-
naherung an den Gedanken, selbst clen abstracten, diese Einheit der
Stimmung sich bewahren lasst, dass eine solche nicht bios durch das
ausschliessliche Verweilen in der Region der Empfindung, sondern durch
die Totalitat des Geistes herzustellen ist.
Es bleibt mir noch tibrig, die beiden Betrachtungsreihen, welche
ich bisher getrennt verfolgte, zusammenzufassen.
Der Entwicklung cles allgemeinen Geistes in der Geschichte und
der soeben bezeichneten EigentMmlichkeit der einzelnen Klinste entspricht
die geschichtliche Aufeinanderfolge derselben, die abwechselncle Er-
hebung derselben zu Tragerinnen des Zeitbowusstseins. Der Orient,
diese noch in das Naturliche versenkte Welt, beginnt mit cler Bau-
kunst. Die Werke derselben gincl in das Abenteuerliche verzerrt, oder
sie streben ins Ungeheuere, ohne das Maass der Schonheit, und die
Sculptur, wo sie auftritt, bringt es noch nicht zur reinen menschlichen
Gestalt, sondern nur zu einem dammernden Ahnen, zu Anfangen, die
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bald, wie in Indien, in das Monstrose sicli veiiieren, bald, wie in
Aegypten, mit TMergestalten verwachsen sind. In dassischer Vollendung
erscheinen Baukonst und Sculptur zum ersten Male in Griechenland ;
zum ersten Male tritt, entsprechend dor Stufe ernes rein menschlichen
Bewusstseins, welche jetzt erroicht war, die menschlicho Gestalt auf in
ihrer Reinheit, und das Thierische, das in Aegypten nocli cin Wesent-
liches war, erscheint zum Attribut der Getter herabgesotzt. Ntir weil
den Griechen innerlich das Bewusstsoia dor Menschonnatur aufgegangen
war, vermochten sie cntsprechende aussero Gebilde hinzustollon ; denn
der Menscli vermag mir ' u clas in der thn umgebondon Wolt wahrzuneh-
men, wofiir das geistige Verstandniss schon orwacht ist, w3.hr end alles
Andere, obschon wahrnebmbar, niclit in sein Bewussteein fallt. Etir das
Clmstenthnm gentigten diese Ktinste nicht melir ; das Chrwtenthum for-
dorte ein hoheres Material zum Ausdruck fur seinen Tnlialt. Die Malerei
flbernahm zunadist die Offonbarung cles fortgesclnittenen Geistes, Gei-
stiger als die Sculptur und zugleich noch sinnlicli gonug, urn oinerseits
dom noch mit Sinnlichem bohaftoten, noch nicht in seiner Roinheit or-
scheinenden Christenthum , anderersoits der noch hoidniach - plastische
Elemente in sich tragenden Individualitat der Ttaliener und Grioohen
Gentige zu leisten, golangto in ilir der christliche Goist zunadist zum
gegenstandlidien Bewusstsoin seiner selbst. Audi die Baulmnst, dom
neuen Prindp gemfiss umgestaltet, foiorto eine erneuto Blfitho, aber jotzt
vergeistigt, so class das Matoriollo moglichst verMchtigt orschoint, Bnd-
lioh erblicfcon wir, hervorgcrufen clurch die gottesdienBtlichen Vorsamm-
lungon der Christen, die ersten Anfiingo unserer Musik. Dio Kunst,
welche dem holier ontwickolton Bowusstsoin spfttor als hQchstes Organ
des Ausdmckfl dionon sollto, mussto hier zugleich, boi den ersten An-
ISngen veilinclerter "Woltansdiauung, ihre erste Entstehung findon.
Die Tloformation fiihrte das in dor Welt und in looron Aeusserlich-
keiten untergegangono Ohristonthum zunadist zu seiner ursprtlnglichon
Eeinheit zurflck; dor grosso Schritt aus dor Aoussorliohkoit des Katho-
lidsmus in die innoro Welt des Goistes wurde durch sie voEbracht, und
das religiose Bewusstsoin gewann aussorordontlich an Vertiefung, Aber
auch im Katholicismus wurde miter der Einwirkung der Keformation
eine Ernouerung des religiosen Lobens angostrobt. Die Papste, wio
Julius 1L und Loo X., in Sinulichkoit, woltliche Pracht und Luxus
versunken, orgriffen in der woiton HSlfto clos 16. Jahrhunderts in diesem
Sinne onorgischo Maassregoln. Dioso'grosson Bowogungonwaron
die weltgosohichtlicho Goburtsstundo dor Tonkunst als
hoherer Kunst, ihnon verdankt sie ihren Kintritt in das
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Leben, und ilire Befreiung von den scliolastischen Spitz-
fin dig keit en der Schule. Jetzt wurde die Musik die herrschende
Kunst und dies bis herab auf die Gegenwart, Organ des neuen Geistes,
so dass sie in den Jahrhunderten der Neuzeit die kunstlerisclae Spitze
des Bewusstseins bildet. Oder genauer wenn dies den grossen Lei-
stungen auf dem Gebiet der Poesie gegentiber als zuviel gesagt erschei-
nen sollte: sie wurde diejenige Kunst, welclie, der ausgebreitetsten
Sympatliie sicli erfreuend, das in der Tiefe des Bewusstseins Selilurn-
mernde, Allen Gemeinsarne, zum Ausdruck braclite.
So gewaliren wir die Stufenfolge der Kiinste, wie sie ihrem inneren
Wesen nacli sicli darstellt, zugleicli verwirklicM in der zeitlichen Er-
sclicinung. Die Poesie aber hat aucli Her eine eigentMimliclie Stellung.
Umfassender als alle ttbrigen Kitnste und nicht an ein beschranktes
Material gebunden, fur dessen Handhabimg eine besondere Begabung,
eine besondere Organisation nothwendig ist, tm Gegentheil sich des alien
Menschen eigenen Ausdrucksmittels bedienend, begleitet sie, die alteste
zugleich und die neueste Eunst, alle Oulturzustiinde, niclit stehend oder
fallcnd init einer besonderen Epoclie, deren Wesen gerade dem ilirigen
besonders entsprecliend ware, wie wir das bei den anderen Kunsten er-
blicken, obsclion naturlich. aucla bei ilir Hebungen und Senkungen in der
Entwicklung zu unterselieiden sind.
Dritte Vorlesung,
GrORcldcMc dcr Musik iu Ualicn: Ilomiseho Scvliulo, PalcHtrina. "Nauini, Allo#vi.
Yitloria, Baj.
Nachdem wir die Vorgoscliiclito loll nannto Bio die Lolir- und
Waudorjahro dor TonluuiBt kennen golornt liabon, troton wir doin
orston Aiifsehwungc tlcrtfolbon xu clusHischor HOlio niilior. Die Niodor-
lando vcTHclrwindon fur immer von dom Scliauplatz ; Jlalion, DoutHch-
lancl und JPrankroicli iibornohiuoai dio Woitorontwicldung, mid wordon
bis liorab auf die Gogoawart ilio fur MuBik bodouttmdBton Lfindor Kuropas.
In England xoigten sich /Avar Anfingc oinor oigonou Munik, abcr dio
Kunst 1st boi diosen AuCiugen gobliebon, olino 7Ai oinor wirklichon und
umfassondon Entwickluug m golangon, und OH sind doHlialb imv vor-
oinzdto ErBclioinungou m ncnncn. Tliomaw Tallin und donnon 8cluilor
Bird, Beido OrganiHton dor Kdnigin Kliaabotli, Hind dit^ wonigon Ton-
sotzor, dio sicli tun di(^o Zoit dort uuHgoxoicIiiK^ liabon. Was Spanion
beferiJTt, so liabo icli Bchon in dor Itfelon VorloHung oinoB'horvorragon-
don Nainens orwalmt, oinon andoron wordo icli naohlior godonkon. EB
Bind in dioaoni Lando aucli nur voroinxolli(i J^rHc^ioinunjjfon, wolclu^ dio
GoBcldclito /at nennou liat ; Iriorai kouunt nodi, daH dioH( wouigon licr-
vovragondon TonHct/AU" in Ifcalion lobton, dort iliro .Hildung orlialton liatton,
und also gointig oinom andoron Uodon angtdidron* Fra,nkroicli tritfc (ivtit
spatov in dio Kntwicklnng oin, in dtun gogcuiwilrtigon 55oital)Hclmifct or-
Bolioiut Boirio luuiHt obonlalln nodi nolir unbodcuitoud.
l)outacliland und ftalion Hind dio Lilndor, woldio /Ainlu'lint - - und
wir kfmnon Bogloich IiijwuCugon: au<^li ITiv allo Polgoxoit inunikaliBcli
grotffl und bodoutond auffcnilKui.
Jokt infc os xiiiuldlisi; T tali on, mit doHHon Goschic.'hlo wir UUB aua-
fiilniiclior 7Ai boKclififfcigon liabon,
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Icli wies schon in der vorigen Vorlesung auf die grossen weltge-
schichtlichen Bewegungen bin, deren Schauplatz das 16. Jahrhundert
war : ein lebliafter Drang nacli Erneuerung cles religiosen Lebens, nach
Neugestaltung desselben aus dem Innern heraus, das Bedurfniss, nicM
(lurch Vermittelung bios verstandesmassig erfasster Dogmen (wie im
Mittelalter) , sondern rein im Geist imd unmittelbar mit der Gottheit
sieh eins zu wissen, machte sich geltend. Auch die Mrchliehe Tonkunst
war yon diesen Bewegungen nicht unberuhrt geblieben, rnehr imd rnehr
hatte sic sich im Laufe der Zeit aus den Banden einer verstandes-
massigen Kunstelei befreit, mehr imd mehr sich zur Sprache des un-
mittelbaren Gefiilils erhoben. Aber noch fehlte es an einer entscheiden-
den That, in welcher der neue Geist schlackenlos imcl rein zur Erschei-
nung gekommen ware, gewissennaassen sich selbst mit Bewnsstsein erfasst
hatte. Die unter der Einwirkung der Keformation sich vollziehende
Restauration cles Katholicismus, welche in clem Concil zu Trient ausser-
licli ihren Abschluss fand, rief diese That ins Leben. Palest rina war
der Genius, in welchem der nene Geist wie yerklart aufleuchtete, der
Genius, dor mit unmittelbarer Gewalt Alles ergriff als der beredte Ver-
kfludiger dcssen, was in den Herzen seiner Mitwelt lebte imd nach
Ausdruck gerungen hatte. Die katholische Kirche selbst erkannte auf
dem erwahnten Concile Pa lest rina als den Tonlmnstler an, (lurch
wclchon ihr religioses Bewusstsein den vollstandig entsprechenden Aus-
druck gefuuden habe.
Ich muss der naheren Umstancle dieser letzteren Tliatsache ausftihr-
lichor geclenken, da dieselbe wenigstens fur das aussere Schicksal der
katholischen Kirchenmusik entscheidencl gewesen ist.
Auf dem Tridentinischen Concil (iin Jahre 1562) , in welchern die
Katholiken ihre Reformation erblickten, warden, wie Sic wissen, die
dofinitiven Grundlagen der katholischen Kirche gelegt; das gesammte
dogmatische Gebaude des Katholicismus sowohl, wie seine aussere Dar-
stellung im IdrcMichen Cultus wurcle einer Revision unterzogen, nm
dann cine enclgtiltige Feststellung 211 erhalten. Es war natlirlich, class
aucli die Musik, als ein integrirender Bestandtheil des Cultus, bei den
Verhandlungen mr Sprache kam, uncl die Frage aufgeworfen wurde,
ob sie in ihrem dermaligen Zustande ihrem Zwecke entsprache. Zwei
Puncte waren os hauptsachlich, an denen man Anstoss nahm: zunachst
die Aufuahme weltlicher Liecler in die kirchlichen Tonwerke. Zur
Erliiuterung dessen muss ich bomerken, dass die bisherigen Tonsetzer
ftir ihre Messon nicht HUT den gregorianischen Kirchengesang, sondern
auch Volksmelodien zur Grundlage genommen hatten. Zu diesem ganz
gewohnlichen xmd allverbreiteten Verfahren mag anfangs die Unfahig-
keit cler Tonsetzer, im Melodisclien ebenso erfinderiscli aufzutreten, wie
in der contrapunetischen Behandlung, Voranlassung gegeben haben. Es
dachte jedoch dabei Memancl an Profanation; Kireblicbes uncl Welt-
liches war in jener Zeit (iberhaupt nictt strong geschioden, das Kirch-
liclie war vielmelir das Allumfassende. Die Tonsetzer betracliteten die
Yolksmelodien in domsolbon Sinne als rolien Stoff itir ihre contra-
punctisclien Tongewebo, wie die kirchliclien Ritualmotivc. Zudem er-
innerten die fiber Volkslieder aufgobauten kirclilicb.cn Compositionon in
ihrer ganzen Haltung in Niclits an den weltliclicn Urspmng dor Themen.
Beclenldicli konnte hOclistons die Benennnng cler Mossen nacli den An-
fangsworten cler weltliclien Lieder sein, clurcli wolcho allerdings mit-
imter liochst wuncleiiiclie Contrasfco mm Vorschcdn kamen. Es kann
nicht befremdcn, class die katbolisclie Kircbo, in iliroii radical on Reform-
bestrebungen, in ibrem Eifer, jodo Spur des Weltlichen von dom Cultus
fernzubalten, an dieseiu Puncte als an einem Missbrauclio Anstoss nalim
und auf Boseitigung desselbon draug. - Ein xwoitcr Puiicjt der gegen
die Kircliemnusik orliobenen Anklage bctraf die TJnvorstiindlicbkcit der
Textesworte in deni contrapunctischen Gefloclito, weblie oino eindring-
liclie, unmittolbare Wirktmg cler boiligen Musik verliindere,
So wurde clenn im Hinblick auf diese Uobolstando in cler 22. Rite-
ting von dor Kirclaenversammlung cine licinigung cler goistliclion Musik
bescblossen ; sie ei aus cler lurch o zu ycrbamion, kam man tiberein,
sofern sie sei es im Gesange oder im Orgolspiol ~ irgond oino JJoi-
iniscbung cles Frochen, Unroiuou zoigo, damit dan Hans don Horrn walir-
haft ein Botliaus sein uncl lieissen konnc. Diosor BeschluBB wurde Mitte
September 1562 gefasBt. Der Untomcht dor Jugond in clem gregoria-
nischen Gesange wurcle ausclnicldicli vorordnet, jedo anclcre Musik aber
bei Seite gosotzt. Es war nahe daran, class die polypbone Musik ganz
aus der Kircho vorbannt worclon ware. Nur clio Schuterodon oiniger
Mitglieder uncl eine Vorstollung, woicho Kaiser Ferdinand L, ein
grosser Musikfround, durch seinen Gcsandten machen lioss, clio Figural-
musik joner Missbriiuclio wegon nicht vollig m vorbajinou, da sic, roclit
angewondot, das wirksamste Mittel sein konne, das Qoinflth in AndacM
211 orb ebon, mildorton die Stimmtmg der Kirchonvorsammlung, uncl cs
wurdo nur verordnot, nalicre Erortcrungcn anzustcflon. DasB alien go-
rtigtcn Mangeln cntscliiedon entgogengotroton wordon miisse, darin war
man einvorstandon* Die Vollstrookung dor gofassten Besclillisso, die
nahero Bostimmung war das GescMft cles Papstos. Die Ausfulirung
vorschob sich aber bis zum Jahre 1564, weil Pius IV* bis claMn anderc,
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dringendere Sorgen besehaftigt batten. Am 2. August des Jahres 1564
ernannte derselbe eine Commission von acbt Cardinalen, die mit seiner
Zustimmung wieder zweien aus ibrer Mitte die weitere Erorterung der
Sache (ibertrugen. Der ML Carl Borromeo und Vitellozzo Vi-
tellozzi waren diese Beauftragten, die mit acht zu diesem Zweck er-
wahlten Mitgliedern der papstlichen Kapelle zu einer Beratbung sich yer-
einigten. Die Verstandigung fiber die AusscTaliessung von Messen mit
profanen Tbemen verursachte nur geringe Mfihe, Qrosse Scbwierigkeit
dagegen fafid die Forderung der Cardinale, dass die lieiligeu Worte des
Gesanges unausgesetzt und deutlicli mussten vernommen werden konnen.
Die Sanger bemerkten, dass solche Verstandlicbkeit nicht immer m
erreichen sei. Das "Wesen der barmoniscben Musik bestehe in Nacb-
ahmimgen iind Fugen; ilir diese nehnien, ware so viel, als sie ver-
nichten; bei langeren Satzen namentlich sei jene Forderung unerreicb-
bar. "Wenn die Hannonie der wfirdigste Schmuck der MrcHiclien Peier
sei, oline jene kunstreiche Ausfthrung und Gestaltung aber nicbt be-
steben konne, so dfirfe auf Verstandlicbkeit der Worte nicht zu streng
gedrungen werden. Man vereinigte sicb endKch, einen Versucb zu
machen, eine Probe einfacb edlen Stils zu veranstalten, einen Gompo-
nisten zur Ausfuhmng dieser Aufgabe zu veranlassen, urn zu erfahren,
ob die Forderung wirklich realisirt werden konne. Man waHte hierzu
den bereits allgernein gekannten Palestrina und iibertrug ihm die Aus-
flihrung der Aufgabe.
GriOYanni Pierluigi war geboren zu Palestrina, einer Heinen
Stadt in der Nalae von Eom, im Jabre 1514*); von diesem' seinen Ge-
burtsort hat er den Namen Palestrina, mit dem er gewohnlich be-
zeichnet wird, erbalten. Die Stadt Palestrina ist das alte Praneste, und
wo daher des berttbmten Tonsetzers Name ins Lateinische fibersetzt vor-
kommt, beisst er Praenestinus. Pierluigi ist im Deutsclien mit
einem Wort nicbt wiederzugeben. Der Name entspricbt dem deutsclien :
Peter Aloys; daher beisst auch Palestrina im Lateiniscben voll-
standig: Johannes Petrus Aloysius Praenestinus.
*) Wie Schelle constatirt hat (vergl. Neue JZeitschrift fiir Musik, Jakrgang
1864, Band 60, Nr. 10, S. 80). Derselbe beweist aueh, dass das Leben Pale-
strina'Sy wie es uns vorliege, zum grossen Thei] in. den Kreis der musikalischea
Legende gehore. Sein eigentliclier Parailienname sei Saute gewesen. Baini alber
babe sicb, nicht ein einziges Mai die Millie geriommen, das wenige Stunden von
Eom entfernto Palestrina zu besuclien und dort NacMorschungen anzustellen. Aus
daselbst aufgefundenen Urkunden gehe hervor, dass Palestrina im Jahre J544
Organist und Kapellmeister an der Kathedrale seiner Geburtstadt gewesen sei.
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Von seinen frtiheren Lebensumstanden ist nur wenig bekannt. Eg
wird bericMet, dass tier Knabe, einstmals von seinen Aeltern nach Kom
gescMckt, auf der Strasse Santa Maria Maggiore hinsehlendernd, vor
sich Mn gesungen babe und yon dein Kapellmeister von Maria Maggiore
zufallig gehort worden sei. Dieser babe ilm, da Strmme tind Art zu
singon ihm gefallen, in seinen Unteniclit genommen. Diese Angabe
jedocli, erst l 1 /^ Jahrhundert spator niedergeschrieben, hatfce, wie Baini
sagt, des Boweises sehr vonnothen. Glaublicher sei es, dass die armen
Aeltern Palestrina's, durch die Betrachtung der grossen Vortheile
ermuntert, deren sich die Tonkiinstlor jener Zeit orfrouten, bald 7Ai clem
Entscliluss gekommen waren, das frtili sicli ontwickelnde Geriie dieses
Solines clem Dicnste irgend oiner grosseren Kirch e zu wiclmon, urn so
mehr, als sie dadurch zugleich der Sorge fur soino woitoro Ausbildung
enthoben waren. Nachdem er den crsten Mxisikunterriclit in seiner Vater-
stadt erhalten hatte, wurde or (540 nach Kom goscliickt, dort seine weitere
Ausbildung zu suchen. Die Schule ties Niodoriandora Claudius Gou-
dimel war die bcrttlmiteste ; ilir wurdo Johannes tibergoben zugleich
mit mehrcren Ancleren, namentlich dem naclimals im Vorein rait ihm
wirkenden Giovanni Maria Nanini, mid bier logto or den ersten
Grand zu seiner kunstlerischen Ausbildung. Schon urn das Jalir 1551
finden wir ihn an der (lurch Papst Julius IT. boi der Vaticanischen Ba-
silika von St. Peter gostiftoton, nach iLrom Begnindor die Juliscbe
genannten Kapelle in Thiitigkcit, an fangs unter dem Titel oinos Magister
puerorum, dann als MagixUr capellae. Hier verhoiratheto or sich mit
einer gowisson Lucretia. EH war dioa em Act, dor spator sohr ontscbei-
clend ftir die Gostaltung seines Lebens wurde. Hier auch gab er Boino
ersten Compositionen heraus. Er gewann sich cladurch die Achtung und
Gunst des Papstes Julius I FT,, dem sie gowidmot waren, und eino
gltassoiido, froilicli nur kurze Zoit dauorudo, bald vorderbHcho Auszoich-
nung. Dor Papst hot ibm eino Stollo unter seinen ftangern an, und
Pale sir in a folgto cliesem ehrenvollon llufo, logto noin Kapolhneistor-
anit bei St. Peter niodor und wurde 1555 in seine nouo Stollung oiu-
gcfiilirt. Allein xwci Monato npiitor starb dionor Papnt. Der Nachfolgor
desselbon, Marcellus, Palostrina's grosner OOunor, oroflhoto dom-
selbon im Gcisto seines Vorgiingors AiiBsicht auf oino nooh ohronvollore,
mial)hangigo, piorgonfroio Stellung. Nichts Hcliion das Glflck den Kfinst-
lors zu trubon. Schou war ein Band aiouor OompOBttionon dazu boHtimmt,
clem nouon. Horrschor clargobiiu^ht m wordon, Alloin Marcellus starb
nach einer Regiorung von 21 Tagon, bovor die gegobonon Vorspreclmn-
gon fur Palest rina realisirt waron, und CB bogann in Mgo davon 'fur
diesen jetzt eine Epoclie kummerlicher Existenz. Paul IV., der nachste
Papst, hatte kaiun den papstlichen Stuhl bestiegen, als er die Deputirten
des Sanger-Collegiums zu sicli berief uncl sie fragte, ob alle Voi'gSage
und Eimlchtungen In der KapeUe nach den Beschlussen und letzten Be-
formen der Kirchenversammlung stattfanden. Man antwortete inifc Ja.
Der Papst fragte welter, ob die Sittenreinlieit der geistlichen Sanger
wirklich nach deft vorliandenen strengen Yorschriffcen verbttrgt werclen
konne, nnd beraerkte, er habe gehort, dass einige Sanger im Collegium
waren, welche dem geistlichen Stande nicht angehorten. Man antwortete
verlegen, es befanden sieh allerdings drei verheiratliete Mitglieder clar-
unter, aber sie waren auf Lebenszeit arigenoininen und nach den beste-
henden Gesetzen konnten dieselben nur wegen schwerer Yergehungen
ausgestossen werden. Unter diesen befand sicli Palest r in a. Per Papst
billigte, was sie sagten, entliess sie mit seinem Segen, und am 30. Juli
1555 erschien die Verordnimg, dass die drei verlieiratlieten Mitglieder,
welclie zum Skandal des Gottesdienstes und der Kircliengesetze in dor
ZapeUe lebten, ausgestossen werden soflten. Palest rina, mit Familie
belastet, verfiel, als er diese Nachricht, die ilin auf monatlich 6 Scudi
beschrankte, erbielt, in eine schwere, langer als zwei Monate dauernde
Kranldieit. Docli das Gllick wollte ilim woliL Die Kapellnieisterstelle
an der Lateranensisclien Hofkirclie war eben offen. Palestrina erhielt
von dem Domherrn dieser Kirclie eine Einladung, diesolbe anzunehmen.
Er folgte dem Rufe, obschon karglich besoldet, und trat den I, October
1555 ein. In dieser Stellung weilte er seclis Jalire, wo dann sein Ge-
schick wieder eine gunstigere Wendung nahin. Fur seine Studien aber
waren diese sechs Jalire von der grossten "Wiclitigkeit ; er arbeitete
ausserordentlicli fleissig, und das Erwachen seines Genies datirt sieh aus
dieser Epoche seines Lebens. Eines seiner Werke, welches fur alles Spa-
tore von entscheiclencler Wiclitigkeit geworden ist und don Grund zu
Palestrina's nachnialigem Eulime gelegt hat, faflt in diese Zeit. Es ist
eine Composition fur die Passionswoclie , bekannt unter dem Nanien
Lnproyeria, folgende Worte enthaltend : Was habe ich die getlian, mein
Yolk, oder womit habe ich dich betrubt ? Antworte mir. Aus Aegypten
habe ich dich gefithrt, und du hast deinem Heiland das Kreuz bereitet.
Was k5nnte ich dir Mehreres thun und hatte es nicht gethan? Als
meinen auserwahlten Woinberg habe ich dich gepflanzt, aber bitter hast
du mir vergolten. Mit Galle und Essig hast du meinen Durst gestillt,
mit dem Speore deines Heilandes Seite durchbohrt. Heiliger Gott,
heiliger starker Gott, heiliger ewiger Gott, erbarme dich unser". Die
Schlussworto werclen abwechsclnd griechisch und lateinisch gesungen. Sie
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ftihren den Namen Trisagion. Als zur Zeit des Kaisers Tlieodosius,
so berichfcet dies beilaufig zu erwalmen die Legende, Oonstanti-
nopel YOU einem furchtbaren Erdbeben und einem heftigen Sturmo heim-
gesucht war, wurde ein Heiner Knabe mit fortgorissen und in die Ltifte
erhoben. Der Kaiser und der Patriarch Proclus waron zugegen mit
einer nngelieuern Menschenmenge uncl riefen alle laut in der gewohn-
lichen Bittformel: Herr, erbanne dich unser. Der Knabe kam unbe-
schadigt wieder auf die Erdc herunter und rief jctzt mit lauter Stimme
den Anwesenden jenes Trisagion: Hoiliger, starker, ewigor zu, mit
dem Befehl, sich dieser Worte fortan bei ihren Goboton zu bodienen.
Kamn aber liatte er dieses gosprochcn, so sank er todt zur Erdc" zuriick.
Auf diese Weise sollen jcne Worte in die Liturgio der Kirclie gokommon
sein. Die musikalische Bebanillung des mitgotheilton Textes orregte
allgemeiu einen solchon Enthusiasmus, und machto einon so tiefon Ein-
druck, dass der Papst Pius IY. sich davon ezne Absehrift ausbat, und
sie in seiner Kapelle auszufiihren befalil. Zirai ersten Male wurde das
Werk am Cliarfreitage des Jahres 1560 aufgofulirt und ist soit dieser
Zeit bis auf die Gegenwart herab alljShrlich in der hoiligen Woche in
der papstlichen Kapelle wiederholt worden. Palest r in a liess zu jenen,
ein tiefes Geheimniss klindenden Worten die einfachsten, scHichtesten
Tonverbindungon erklingon, wie sie clem sanften, aber ornston Vorwurfo
iincl dor innigen Reue geziemtcn. Zur niiheren Veranschauliehung ge-
denke icli Mor noch einiger Aousserliclikoiten. Bei dor Ausliihrung
namlicli werden die Altfce und alles Uobrigo von dem Thronhimmol bis
auf die FussbOdon auch noch ihror taglichen gewolinliclien Bedockung
entlcleidet. Die Cardinal e erscheinen einzig an diosem Tago statt in
Seide in Sarscho gokloidot; die ganzo Liturgio veniith den (Jharakter
von Verwirnmg und Unvollstaudigkoit ; koine Weihrauchwolken, koin
KerzenscMimner. Alle Bilder sind sclion Tags zuvor verhullt. Jetzt
wird, bovor der Priester dio Donneratags gowoihto, in das hoiligo Grab
niedcrgelegte Hostie erliebt und goniosBt, nur das Krouz enthullt, als
Gegonstand der Vorolirung. Paarweiso nahon Rich ilou dio Glflubigon,
sich clavor nioderwcrfend. UnterclesB ertont jonor Ohorgoaang von der
HOlio dor Kapolle. Wie nun die Umgobung boi der gamen lacier jedes
Schmuckcs und Glanssos entldeidet in iliror ernsten Tranor das Gonuith
um so mehr zu einor innorliclion, goistigon Andacht stimrat, so vornali-
men in dem Werko Palostrina's dio H5ror statt cles bisherigen
Prunkes mit den Kunstmittoln zum orsten Male nur die Tone dos Ge-
ftihls. Der grosso Schritt aus don Vorstufou der Kunat in das inner e
Heiliglhum dorselbon war gethan.
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Jetzt nun, als die Verbesserung* cler Kirchennausik zur Sprache kam,
erinnerte man sich Palest rina's und seines soeben besprochenen
Werkes, sowie anderer, ahnlicher Compositionen, die er in der nachst-
folgenden Zeit dem Papste uberreicht hatte. Die Cardinale machten
den Sangern bernerklich, class jene als eine Hauptbedingung ausge-
sprocliene Forderung Her erreicht sei, dass die heiligen "Worte klar und
deutlicli gehort wtirden. Es wurde indess erwidert: kurze Stiicke dieser
Art konnten niclit entsclieiden ; bei langeren Gesangen bleibe die ge-
stellte Forderung, wenn man sie nicht beschranke, unerreichbar. Man
vereinigte sich endlicli, wie selion bemerkt, dahin, es auf eine Probe
ankommen zu lassen, und Palestrina die Composition einer ganzen
Messe aufzutragen. ISTeben volltonender Harmonie, Beichthum und kunst-
voller Verfleclitung, Abwesenheit aller bereits verworfenen Ausscliwei-
JFungen, solle wiirdiger, andachtiger Ausdruck, vollkommene Verstandlicli-
keit der Worte die verlangte Messe auszeichnen. Gelinge es, diesen
Forderungen zu genugen, so solle in KtieksicM der geistliehen Tonkunst
keine Aenderung eintreten. Palestrina wurde durch den Cardinal
JBorromeo personlicli von diesein Auftrage unterrichtet, und er schrieb
nun ini Geiste cler ihm gewordenen Aufgabe nicht eine, sondem drei
Messen, jede zu seclis Stiimnen. Baini erlautert ausftilirliclier , vie
weise und wohlbedacM die Zahl dieser Stimmen genannt werden miisse,
Durch doppelte Basse wollte er grosseren Spielraum in der Ausfiihrung
gewinnen, oline die Grundstimme zu selir anstrengen zu dtirfen; neben
kunstlicher Verfleclitung sollte ihm so die Moglichkeit bleiben, die
Stimmen in zwei Chore vertheilt gegen einander wirken zu lassen, ohne
die Stimmenzahl zu selir zu vervielfachen, wodurch der IQaiiieit Eintrag
geschehen ware; es sollte Mannigfaltigkeit und stete Verstandlichkeit
erreicht werden. Die erste Messe, bemerkt jener Schriftsteller, tragt das
Gepriige des Ernstes und der Andacht und erfullt das Gemtitb mit
heiligem Schauer. Der Handschrift fand man nach Palestrina's Tode
auf dem Titel beigefugt: illwnina oculos meos (Herr, erleuchte meine
Augen), als sicheres Zeichen, dass er die Hlilfe des Hochsten vor Beginn
seines schweren Werkes angefleht hatte. Bewegter und mehr voll Aus-
druck kindlichen Vertrauens war die zweite Messe; aber beide trugen
doch mrnier noeli einen Beischmack des alten niederlandischen Stils.
Priift man beide genau, sagt Baini, so findet man den Stil des Jos-
quin, ein anderes Mai den des Costanzo Festa und Anderer. Man
giaubt hier einen Mann zu sehen, der die Wahrheit zwar in der Feme
erblickt und ihr nacheilt, wenn er sie aber erreicht zu haben giaubt,
nur ihren Schatten in den Handen halt. Ein Werk der reinsten Be-
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geistenmg, vollkoimnon frei von jocler 'Schwcrfiilligkoit, war erst die
dritte Mossc. Andachtig und clocli belebt 1st dor Gosang dor Stimmen,
ergreifond die Harmonie, von dor hochsten Mannigfaltigkeit die Anord-
nung dos Einzolnen. Die Worto sind iiberall vollkonunen vorstandlich,
die Schonholfc des Ganxen inl oino heilige, niclit auf dom Trunk dor
Ivunstraittel beruhende. Am 28. April drrtif) begaben sich sfunintliche
papstliehc Siinger auf Befelil des Cardinals Vitclloz^i in He-inon Palast,
wo ssugleicli die ubrigen Curdiniilo yicli oinfanden. Die dritto Messe
trug vor alien den Prois davon und orstritt dor Figuraliinwik oino blei-
bende Stelle in dor rdmischen Kirclie. Die papstliclien Siingor ompftngon
den erfrenlidien Boscheid, class in dor goiHtlickm Miwik Niclita goaml(,rt
werden tsollo, aber auc.li die driugoudo Malmung, nur Gosangc, ibrtan
auszuftihron, wolclio den Jloiliglluinia gloic.h wiirdi^ wiiren, -\vio, die drei
goLorton Mearion. Xwei Monato njiiltor wnrde dio I'roiHniOHHo mn\ ei'Kten
Male Lei dem Gultesdionste in Gc^onwart don Papstc^ vorgotragon.
Pius IV. soil ausgorufon liabon: ,,llior glelit ein Joluumen in dom
irdisclien Jerusalem UHB eine Kinpiiiidung von jenom (SoHango, den dor
hoiligo Apontel Joluinnen in dom liinmiliHclion JeniHalem oiimt in 'pro-
plietJBclior Enfafurkmig vornahiu." Baini al>or soluxubt: ,,Aln diono Tone
mm oraton Male in dor SixtiiuHclton Kapelle erklang'on, in jonein Jleilig-
thiiine, welclies Baukunnt xiud Muloroi nic/ht lango vorher orst vor-
herrlicht hatton, nprangen dioso Kunste von ihron Hiteen, innanntoti die
Tonkunst aln iliro obonbiirkigo HoliwoHfcor, und ^rdHBeros linteiicken ei-
griil die Anwonwidon, alw /air Xloit Grioc.honlaudrf jomaln tlu^ llorer dor
beriilnntosten Tonkfnmtler O([(\Y diclitorischon Hfui^er oinpCandou."
So iBt, durch diono That, Palentrina der Uegrunder dor itali(Uii-
Bchen KirdicnniuHik, (hu; JJogrtlndor OI'IIOH nationalon KunntHiilH filr ftalien
geworclen. Zugloicli wurdo durcli ilui auf dioBe WiHt die daHHinohe
?oit dor chriBtlieheii Miwik, (lie Epoc.he dor hf>heren Ktnwt eroffnet.
Allo fnllieren ScliriftHtollcr, nodi vor .USiiO, vorlotfkm das jekt bo-
sprochono Ereignisn in die itogiorungHiago den Papnten MaroclluH, und
glaubton, dasn durcli dionon die Kolbrni (let; KirolionniuHik veranhiHBt uncl
durchgenetet worden Bel EH wax (lion ein Irrthuni, dor ovnt durcli die
nenoron ForHcliniigou H(un,o UoMoiLiguiig 1 gefundon hat. Bald nach jononi
Vorgange, jonor PrciHortheilung niianlich, wurdo I^ilentrina oroffnot,
dasB Vliilipp JL von Spanion die "Widnvung jeiuu 1 b'orulunton .Preimue^o
gem annolnuon wordo. Palestrina ginfj dariibor 3 nit ncineni Gunner,
dem Cardinal Vitollossfli, m Jiutlu Ha orgiib sich, daHH OH am go-
oignetston nein wiirde, dimi Konig* einen gamen Band Moswon, xintor
tlenen nich atieh die gokronto bofindon intiBHe, m tlodicirt^u; die Mliro
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aber der Hervorrufung dieses grossen Werkes mtisse Eom bleiben. Ihrem
Titel zufolge solle sie einem Papste als sclion friiher zugeeignet er-
sclieinen: so moge sie denn nach Papst MarcellusIL, Palestrina's
frQherem Gonner, genannt warden: Missa papae MarcellL Hieraus
ist die Entstehung des Namens, ist die Entstebung spaterer Missver-
standnisse zu erklaren.
Icli muss von nun an, nachdem icli in Etieksicht auf die Wiebtig-
keit des Gegenstandes absiclitlich -fiber die bedeutendste That Pale-
strina's, die Eettung der heiligen Tonkunst, ausfukiicber berichtet
liabe, die Erzalilung von den spateren Lebensumstanden und kunst-
lerisclien Leistnngen des Meisters melir zusammendrangen. Ira Jabre
1561 wurde er zum Kapellmeister an der liberianischen Hauptldrche,
Santa Maria Haggiore, 1565 zum Tonsetzer der papstlichen Eapelle
ernannt. Im Jalire 1571 endlich erliielt er jene Kapellmeisterstelle yon
St. Peter im Vatican, die er sclion fraher eimnal innegebabt iatte,
wieder zurtick. 1580 traf ihn ein herber Yerlust; seine Gattin wurde
ilim dnrcb den Tod entrissen. Dies blieb nicht obne Einfluss auf seine
Werke. Die traurige Gemtitlisstimmung, die ibn lange Zeit iindurcfi
belierrsclite, finclet sich deujtlicli ausgepragt in den ein Jabr spater ver-
Dffentlicbten Compositionen. Palest rina war tief gebeugt, und nur
die Kunst in Gemeinscliaft mit der beiligen Scbiift ricbtete itn wieder
auf. Neben dem Grabe der geliebten Gattin, so war anfangs sein Ent-
scbluss, sollte sein Gesang zum letzten Male ertonen, und dann ftir
iinmer verstummen. In diesem Sinne componirte er die Worte : An den
Wassern zu Babel sassen wir und weinten, wenn wir an Zion gedacbten,
unsere Harfen Mngen wir auf an die Weiden, die darinnen sind", Dann
in der Sebnsuclit nacb dem Tode, der iin mit der Entschlafenen ver-
einigen sollte, sclieint die Furclit ewiger Trennung von ihr durcb seine
Siinde ibn tief ergriffen zu baben: ,,Herr, wenn du konunen wirst zu
ricbten die Welt, wie werde icb bestelien vor dem Antlitz deines Zornes ;
icb erbebe, welie rnir, meine Seele ist betrubt". Sehnsuclit nach lieiligem
Troste erwacbte dann in seinem Gemutb. : ,,"W"ie der Hirscb sclireit nacb.
der friscben Quelle, so schreiet meine Seele nacli dir, o Ilerr!" Endlicb
getrostet und wieder gekraftigt, componirte er eine grossere Zabl ?on
Psalmen, u. a.: ,,Icb rufe zu dem Herrn, er erhoret mich; icli bebe meine
Augen auf zu dir, der du irn Himmel sitzest" u. s. w. Im Jabre 1584
widmete er dem Papst Greg or XIIL ein Work, welcbes durcl die
Neubeit cler Bebandlung und Tiefe der Auffassung einen Beifall gewann,
wie sonst keines seiner frtiheren. Es sind 29 Motetten aus dem hohen
Liede Salomons. Die Zueignung legt eine kurze Eccbenscbaft ab von
4
dem bisherigen. Leben und Scliaffen des Klinstlers. Er liabe, sagt er,
in fraheren Jahren seine Tone an Lieder unheiliger, abgottischer Liebe
vergeudet und Keue und Scham dariiber empfunden. Darum habe er
der heiligen Tonlcunst sicli zugewendet, das Lob Christi und seiner
jungfraulichen Mutter gesungen, und endlicli Salomons Lied sich erlesen,
das die hcilige Liebo Uhristi m seiner Braut, der Seele, feiere, wo er
denn Veranlassung gefunden, nach lebhaftcrem Ausdruck zu streben,
urn die ganze Gluth und Innigkcit des Qedichts m erroichen, eine Ver-
siclierung, die sicb, wie Konnor dor Composition bezcugen, durcli das
ganze Werk bewiihrt. Der Sehmorz urn den Vorlust seiner Qattin 1st
bier in reino, hoilige Sehnsucht und ireudige Hoflhung des Wiedersehens
aufgelost; die friihoren lierben Totlesgcdanken Hind zu mildom Ernste
verMiirt. Die Zeit wiirdo os mir nic.ht gestation, die wiclitigsten
Worko Pales trina's allc, wenn auch uur im Vovuborgohon, z\i erwiibnen.
Er hat wie Orlandus Las BUS aussorordontlich iloisnig gearbeitet.
12 Bande Messen, i Buck aclitetimmigor Moswon, 7 BiicJior Motetten,
2 Bticlier Offertorien, 2 Biichcr Litaneien, und noch sohr violes Andere
findot sich aufgezeiclinot. Nur die piipstliclio Kapollo bosifat eine voll-
stajidigo Saminlung seiner Worko. IJns sind am moisten ftugiinglieh die
Siitzc in der vom Froilierrn von Tuchor horausgegobouon Saimnlung:
Kirclicngosringo der berfihintoHton italionischouMoistor (2Hofte, Wien, Dia-
bolli) und die unter dom Titol: Mmiva sacra (Leipzig, Peters) veran-
staltote Ausgabo uller der Compositiouen, welche in der heiligen Woche
in Eom aufgefilhrt "vverclen; das fnihov orwfihnto grosse Qoschichtswerk
von Pr. RoehlitH onthiilt gloicli falls anohroro. Nouovdings ist auch
die Mma papue MareeMi und .eine grossere Sammlung seiner Worko boi
Breitlcopf &Hartel in Leipzig (horauHgogobon vonTh. do Witt) und in
den ,,Den]aiuilorn der Tonkunnt" (Borgedorf boi Hamburg) im Druck or-
scluenen.
Palostrina starb am 2. Februar 1594, in demnolbon Jahve demnach,
in welchein Orlandus LasHiiB vorschiod; die boidon groHHten Toinnoistor
dos J(). Jahrhunderts traten gloiclwoitig ab von dem Schauplatz* Schon
am Abend soinos Todostagos wurde soino ontsoolto lltillo zu ihror Kuhe-
statto nach dor Petorskircho gobnicht. Die Mitgliedor der pSpstliclien
Kapelle nicht allein, alle Kunntler Roms und cine grosso Kongo Volkos
folgton clem Hugo. Wftlirond der Procession und in dor Kircho wurtlon
Werke seiner Composition geHimgon. An dem allgemeinon Bogrilbniss-
orte, in der notion Kapelle dor H( v aligen Simon und Judas in St. Peter
ruht sein Leichnam im einfaeJion Sargo, der atif oinor Bloiplatto die Tn-
schrift ftihrt: Joannes Petrus Aloysius Praenestiuus musicae
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prineeps. Weder eh abgesondertes Grabgewolbe, noch ein Denkstein
wurde ihm zu Theil Er erhielt diese, Kuhestatte nicht als eine Aus~
zeichnung, sondern, -wie Baini sagt, in Folge seiner Wohnung. Heut-
zutage werden in St. Peter nur Papste beigesetzt.
Italienische nnd andere Scliriftsteller der alteren und neueren Zeit
erscliopfen sich in Lobspruchen fiber Palestrina. Der eine nennt ihn
das Liclit und den Glanz der Musik, ein anderer den Fursten, wieder
anclere den Vator der Musik. Man erzahlt, sein Ansehen sei schon bei
seinem Leben so bedeutend gewesen, dass vierzelin der vorziiglichsten
italienischen Tonsetzer eine zu diesem Zweeke veranstaltete Sammlung
von^Psalmen ilirer Composition in Druck gaben und ihm zueigneten,
urn ihm auf diese Weise ihre Verehrung zu bezeigen. Er eiiebte es,
' dass man den von ihm gescliaffenen Stil nach seinem Namen benannte.
Alle Schriftsteller im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte haben sich
bemuht, zu Palestriua's Preis und Verherrlichung beizutragen. Ii. C.
F. Krause in seinen ,,DarsteUungen aus der Geschiclite der Musik" be-
merkt: ,,ls[ach meiner Ueberzeugung hat dieser StU einen bleibenden
Werth fiir alle Zeiteu, als erne in ihrer Art voUendete, ini Geist und
Gemtith des Menschen tief begriindete Kunstgattung. Daher tann auch
,der Sinn daftir und die Erregbarkeit auf Erden nie yerloschen. Die
grossten Kunstkenner der neueren und neuesten Zeit sind die grossten
Verehrer des Palestrinastils". Sfehr YorziigHch hat Thibaut in
seiner schon in der ersten Yorlesung genannten Schrift liber ihn gesprochen,
und ich bedauere, dass sich Einzelnes daraus nicht mittheilen lasst, da
die Benxerlmngen nur zerstreut sich vorfinden. Aber Thibaut erscheint
genahrt von dem Geiste Palestrina's, und die ganze Schrift ist wol
als dasjenige Werk zu bezeichnen, welches vorzugsweise geeignet ist,
zu eineni tieferen Verstandniss dieser gesammten Kunst hinzufiihi*en.
Thibaut nennt Palestrina tiefsinniger alsLassus, und so durchaus
Meister der Kirchentonarten und des Satzes im reinen Dreiklange, dass
Ruhe und Seligkeit bei ihm vielleicht mehr, als bei irgend einem anderen
Meister zu linden sei. Baini, alle Kriifte zur Verheniichung des aus-
serordentlichen Mannes aufbietend, hat die Stufenfolge der "Werke, die
allmaliliche Entwicklung und Weiterbildung , die sich darin zeigt, einer
genauen Erdrterung unterworfen. Zehn Stile, vom Beginn bis zu Ende
der kiinstlerischen Thatigkeit Palestrina's, unterscheidet er. Es kann
indess, wie auch v. Winterfeld bemerkt ? keinem Zweifel unterliegen,
class Baini der Eifer, alle Vortrefflichkeiten seines Helden hervorzu-
lieben , Her zu weit geftihrt, allzusehr ins Specielle gehende Unterschei-
clungen hat machen lassen. Der Hauptpunct, auf den es bei der Wtir-
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digung des Meiyters ankommt und den auch Kochlitz hervorhebt, ist,
dass die Formen des kiinstlichen Satzes aufgehort haben, Selbstzweck,
Zweck des Tonwerks zu sein, dass Palest rina dieselbon mm Mittel
des Ansdrucks herabgesetzt bat. Alles Uebrige ergiebt sich Meraus von
selbst. Nur das ist zu erwahnen, dass Palest rina allerdings von den
Eomstmitteln einen bald freieren, bald strengeren Gebrauch gemacbt hat,
je nachdem es Inhalt und Bestimnmng des Werkes geboton. Vollkom-
men im Besitze aller Gelohrsamkeit und aucli der Grubeleien der vori-
gen Periode, bemorkt Roclilitz, mochte or der Anwendung dieses Be-
slfees sich nicht uberall entiiussorn. Abor er unterschiod Musik fur
Gelehrte und Kunstkennor und Musik fur die Gemoinde beim Gottes-
dienst. Tn den Werken der ersten Gattting zeigt er sieb noch innner
den Mederlaudern vorwandt; die zwoite Gattung ist es, die sein Ver-
dienst mn die Welt bezoiclmet Hier schriob or gecliimgt, leicht lasslich,
klar, durchsichtig, zugleicli aber aucli den grosson Anspnichon gelehrter
Kimstwissenschaft gemilss, mtr dass diese Seite hior weniger hervor-
tritt; Her sclirieb er zugleieli mit Scliwung und Begoistorung in grosser,
ernster Haltung. Wo sein Ausdruck webmlithig und niedergebougt sicb.
darstellt, ist clocli nirgends eine Anwandlung von Weichlichkeit und
imedlcr Empfindsamkeit zu spiiren; ebensowenig in Gesiingen entgegon-,
gesotzten Inhalts boi aller Enorgie Etwas von Leidenschaftliclikoit und
Gewaltsamkeit. Es ist dies das Charaktoristischo aller Worko dieser
Kunststufe, der Epoc]ie des erliabenon Stils, diose grossartigo Haltimg,
dieser Ernst, dioso Wiirde. Jene Worko sind ebon so weit von der
Scliwerfalligkoit und Stan-licit einer Yorstnfe der Kunst, wie von der An-
mtith, LieblichkeitundWoicliheifc spatorerEpochen entfornt, violloicht, wenn
wir einen Gesicbtspunct aug der Diclitkunst entlelinen wollen, im Ohavak-
ter am meiston clem Epos vorwandt. Tbibaut vorgleicht in der That
Palestrina mit Homer. Das Epos ist Kesultat dor orsten Entwick-
langsBtufe oines Volkoa, jouor Stufo, wo das Individuollo soin Kocht noch
niclit in Anspruoh gouoiumon hat, dor Einxolno noch nicht einon abgosclilos-
senen Krois, eino besondoro Welt fflr sich bildot, sonclern in dor Gesammt-
heit aufgoht, und nur das ssnin Inlialt hat, was das Gemoinsarno Aller ist.
So komnat auch hior gum alloin die Sadie xuv DarBtollung , dor kirch-
lich religiose Inhalt oline allo aulyoctivo BeiniiBchung und Modification.
Empfmdungen, die das Subject ffir sich hat, die es m oinom besonderen
Subject machen, sincl liier noch gar nicht vovhantlon. Aller Ausdruck
geht oinssig und allein HUB dem Gaiizeu dor OompOHitiou liorvor, weit
versehioden von tier Musik der spfitoven Koit, ja dieser ontgogongosotzt.
Nicht durcli ihro Mannigfaltigkeit und ihren Keiis, wie die Werke der
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Stufe des schonen Stils, vermogen uns diese Conipositionen zu bezau-
bern; sie sincl bedeutend durch ihren Gehalt, ihren Ernst, ihre Wurde,
durch das Ungetheilte , Ganze cler Stimmung, das sich in ihnen aus-
spricht. Nur in der Totalitat jies Stiickes 1st der Ausdruck zu sucheu ;
Alles, was Affect lieissen konnte, fehlt ganzlich. Audi an ein Hin-
arbeiten auf Einganglichkeit oder wol gar auf Effect ist noch nicht ent-
fernt zu denken. Die meisten jener Werke warden an Sonn- und
Festtagen regelmassig wiederholt ; die Zuhorer liatten Zeit, sich mit ilinen
vertraut zu maclien; Effectcompositionen aber sind das Zeichen sinken-
der Kunst. Urn so weniger diirfen wir verlangen, sogleicli und nacli
eimnaligein Horen mit jenen alten "Werken vertraut zu werden ; in cler
That zeigen dieselben for uns ganz anders Gewohnte beim ersten Blick
eine gewisse Starrheit Hierzu kommt, dass sie wesentlich auf eine
bestimmte Umgebung berechnet sind, und auch das tragt dazu bei ? an
Ort und Stelle ihre Eindringlichkeit zu erhohen, fur uns aber das Ver-
stanclniss zu erschweren. Brlauben Sie, dass ich hierbei noch einen
Augenblick yerweile. Die gottesdienstlichen Handlungen und Gebrauche
der romischen Kirche namlich sind ein grosses Ganzes, wo jeder Theil
nothwendig, wesentlich beitragt, die Wirkung des anderen zu erhohen;
sie versetzen schon in die Stimmnng, welch e die Musik als die passende
wunschen muss, und umgekehrt eint wieder die Musik jene verschiedenen
Einclrlicke zu einem grossen Ganzen. Der Charakter der liturgischen
Handlungen der romischen Kirche uberhaupt ist durchaus ein drataa-
tischer. Hauptgedanke ist, dass Geist und Herz der versammelten Ge-
meinde zurtick auf das Originalereigniss geftihrt werden soil, dass dieses
als sich wiederholend vorgefuhrt wird, z. B. in der Passionswoche Ge-
danken und Gefiihle auf die letzten Lebenstage Christi sieh so concen-
triren, als wCLrden jene Vorgange noch einmal in cler Wirklichkeit ge-
schaut. Ich erinnere an das , was ich schon vorhin bei Gelegenheit der
ersten Composition Pales trina's, die Aufsehen machte, sagte und theile
Ilinen noch zur Veranschauliehung die Schilderung eines alteren italie-
nischen Eeisenden mit, welche ein nachher noch zu erwahnendes "Werk,
die Aufftihrung des Miserere, betrifft. Jener Keisende erzahlt: 5 ,Gegen
4 Uhr begaben wir uns in die Sixtina und sassen dem jtingsten Ge-
richt von Michelangelo, das die untergeliende Sonne eben heleuchtete,
gogen"iiber ? in gcspannter Erwartung des durch ganz Europa beriihmten
Gesanges, der oft schon die Sirenenkraft gehabt haben soil, Anders-
glaubige in den Schoos der Kirche zuruckzufuhren. Der fur die Frauen
bestimmte Platz Mite sich mit schwarz geHeideten Danaen. Endlich
kamen die Cardinale in violetten Kleidern mit ungeheuren Schleppen
einliergegangen , und wahread sie schnell vorwarts cilten, hatte der
Sehleppentrager alle Hande voll zu tlmn, urn den zusamnaengerollten
Schweif Mnterlier zu entwickeln. Alle Sitze fullten sicli endlicli mit
diesen und anderen vornehmen Geistlich&n. Die Korzea wurclen ange-
ztindet; man erwartete in feierlicher Stille den Papst, Nach dessen
Eintritt wurdo das Signal ziun Anfang gegeben. Die Psalmon begannen ;
man singt deren etwa j3 nach der "Weise des gregoriaaischoa Gesangcs
und loscM bei jedem eins der J3 pyramidaJisoli aufgcstellten Lichter aus.
Nun beginnen die Klagelieder des Propheten. Einigo Stinimen Idagen
liber clen Tod des gottliclien Solanes in so wehmutlisvollcn Tonen, dass
selbst ein eisernes Gemtitli in Bangigfcoit und Almung zerfliesson wurde.
Sielie, die LicMer verloschen, nur eins, die wachsamo Muttorliobo dor
Madonna, brennt noch, man intonirt zum Miserere, die SSngor oinigen
ihre Stimnaen. Endlicli eiiosclit aucli die letzte Korzo, und Allos liegt
in Dammerung versenkfc. Nur die Gestalten der Cardinale und weissen
Pralaten, unbeweglich wie Bilclsiiulen sitzond, loucUton durcli das Dunkel ;
alle Sinne yergelien, nur Tone kana unsoro Seole auffasson. Ta-dioBOia
Augenblicke erliebt der Chor der unsiclitbaren Siingcr kraftvoll und
durclidringend seine Stimmo: Herr, orbarmo dicli uasor. Acli, welch
banges Sehnen besttirmt miser lierz. Wir wollon m don Ftlsaoa dos
Heilands fallen und sie mit tausend Tliriinen hoissor Liobo benetzen.
Wie wair lat Der geredet, welclicr zum Hcil seiner Seele Niclits sohn-
lici'er wiinsclitc, als dass in der Stuncle des Tocles diese sflsson Tone
ilin umklingen inochten; dona wahrlich, unsoro Socle quillt in ilinen
zumHrmmel. Aber schoa sind sie vorhallt an don Wfiadoa, die Michel-
angelo's Eiesengeist tibertonclite. Wir ziohon durch die Hollebarclen
und langen Scliwerter der altertlramlielion Schwoizer in doa Bolmnmorn-
clen Saal vor der Sixtiaa. Vorscliloiorto KSiaoriaaon wallon fiber dio
von Fackeln boleuchtoto Konigstroppe liinab, die in unondlicher Forao
sich in den Saulengtingen des St. Peter vorlierk Welch ein Nachtgo-
malde! kraftige Schattea, hoho Gewolbe, stolzo Sduloa, woito IVaoa
und magisclie SchOahoit uberall." Sio entnehmen aua dioson Worton
die Grosse nntl Macht des Miadrucka; Sio oataohiuou aber aucli darariB?
wie die Musik dort als Tlioil dor goaarmnton gottosdioaHtli<jlioa Handlung
auftritt uncl an ihrer Eiadriaglic/hkoit verliert, wonn BIO von diosor los-
gerissea wird. Joao Worke miisson in iliror aatfirlichou Umgolnuig go-
hort werden, wenn sio ihro voile Kraft und, Wirlamg angora nollon.
Warden dieselben von clom Uodoa, dom sio ursprunglidi angolulren, los-
gerissea, so gloiclien sio oiaor sfldlichon, in ein fromdos, rauhoros Klhua
versetztea Pflaaze,
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Durct die von Pales trina gestiftete ScMe, die in der Mge sict
setr ausdetnte und lange Zeit tindurct erhielt, durct das grosse An-
seten, in welctem der Meister stand, dadurct, dass seine "Werke vor
allem beim offentlicten Gottesdienste eingefiitrt wurden, kam es daMn,
dass in seinem Stile zu sctreiben fttr nottwendig eracttet, und dann
selir lange Zeit tindurct als nactatmungswertte Sitte und guter Ton
beibetalten wurde , so dass auf diese "Weise der personlieli bescteidene
Mann Herrscher ward im Eeiclie der Tonkunst Jatrtunderte tinduret,
und einer grossen AnzaH trefflicter Talente die Batn vorgezeichnet tat.
let will jetzt noct einige der bedeutenderen Manner , welcte tteils
umnittelbar der Sctule des Meisters angetoren, tteils, in spaterer Zeit
lebend, der YOU itm gebroetenen Batn folgten, namtaft machen.
Keben Palest rina wirkte der sehon vorhin genannte GioTanni
Maria Nanini, ein vorziiglicter Mann, dessen Kulim aber durch den
schnell und uberall Mn verbreiteten des Meisters versctlungeft ward.
Von seinen Werken ist nur wenig bekannt geworden, jeclenfalls ans
demselben Grande; sie sind denen Palest rina's sehr atnlieli, metr
jedoct den sanften und zarten, als den feierlicten und den ertabenen.
Sein Geburtsjatr ist unbekannt. Im Jaliie 1577 wurde er als ein vor-
trefflicter Tenorist in die papstliche KapeUe aufgeaommen ; Goudimel,
im tohen Alter, soil aucli iln gebildet haben; dann aber wendete sich.
Nanini mit ganzliclier Hingebung an Palest rina. Er wurde nach
dem Tode desselben dessen Amtsnachfolger und Compositions- und
Musikletrer in der romischen Sctule, der er als Director vorstand.
Ein Z5gling seiner letzten Lebensjatre war der durct sein Miserere
weltberutmte Gregorio Allegi% geb. urn das Jatr 1590 und seit 1629
Mitglied der papstlichen EapeHe, zunactst als Sanger, dann als Erchen-
componist, gest. im Jatre 1652, ein nater Verwandter des rutmgekron-
ten Malers Antonio Allegri, genannt Correggio. Von den zatl-
reicten, gelehrten, weitausgeftitrten Werken dieses Mannes, welcte Rom
besitzt, ist uns Nictts bekannt. Desto metr aber ist jenes soeben er-
watnte Werk gekannt und verbreitet, welctes im Auslande seinen Ruf
feststellte. B u r n e y , der von dem papstlicten Sanger Santarelli eine
Absctrift ertielt, tat es bekannt geinactt. Officielle Absctriften auf
papstlicten Befetl sind nur zwei davon genomnien worden; die eine
wurde an^einen Konig von Portugal, die andere an den. Kaiser Leo-
pold I. gesctickl Bekannt ist, dass Mozart bei seiner Anwesenteit
in Eom dasselbe nach zweimaligem Antoren aus dem Gedacttnisse auf-
sctrieb. Die Composition ist fur zwei Ctore gesetzt, von denen der eine
flinfstimmig, dor andere vierstimmig betandelt ist; sie bestett aus
mehreren kurzen, einandcr sehr ahnlichen Satzen, die in Rom durcli
liturgische Handlungcn unterbrochen "werden. Von dem ersclititternden
Eindruck, den sie bei aller Einfachheit hervorzurufcn vermag, 1st schon
oben gesproclien worden. Es ist nieht so leicht fur uns, sicli diesor
Stumming zu bemachtigen ; ist dies aber golungen, so wirkt sie iiber-
waltigcnd, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man'cher Horer be-
richtet, er sei bis zu Thranen geriihrt worden. ,,Der Sinn der Worte",
sagt W. Heinse in seiner ,,Hildcgard von Hohenthal", ,,geht in die
Zuhorer mit seiner ganzon Starke und Ftille fiber, ohno class man die
Musik, ja sogar die "Worte merkt, da man in lautor reine Empflndung
versenkt ist. Schauder der Keue, Auf- und Niederwallen boklommener
Zarflichkeit, Hoffnung und Scliwermutli , Seufzer und Klagon einor lie-
benden Seele. Das Zusammenscbnelzen uncl Vorfliossen der reinen
Tone offenbart das innero Gofuhl eines hinunlischon Wosons, welches
sich mlt der ursprunglichon Schonhcit wieder vereinigen mochte, von
der es clurch seine Siinde gotronnt ist". Ich nonne forner den Spanier
Tommaso Lodovico da Yittoria^ gob. um das Jahr 1550, ein Zogling
der romisclien Schulo und clann Mitglied der papstlichen Kapelle. Koch-
litz bezeichnet ilm als einon ernston, strengen Mann, der sich Pale-
strina zum Vorbild gonommen habe, aber melir in clem Tiefeinnigen
und Kltnstlichen, als in clem Binfachen und Eithrenden; Thibaut sagt,
dass er das spanische Feuer mit geistlichor Demuth auf herrliche Woise
vereinige. In dor Sammlung von Tucker befindot sich ein vortrefflicher-
Satz von ihm: 3 ,0 vos omne,$". Ich nonne endlich noch cinon Kiinstler,
der zwar spater lobto, clem Geiato nach aber noch der alien Sclmle an-
gehort: Tommaso Baj, gob. in tier weiton Hiilfte des 17. Jalirhundorts,
gest. im Jahro 1714 zu Rom. Baj vordankt, wio Allegri, soinon Ituhm
oinem Miserere, das, noch jetzt am Griindonnorstago alljiihrlich gesungon,
nach dem Muster des Allegri 'schon Werkes goarboitot ist, Es ist dieses
neuo Miserere clio einsdgo Composition dor spStoron Zoit mit Ausnaluno
einor Tonschopfung Baini's , welchor die Bhre m Thoil gowordon
ist, untor die Musifcstftcko aufgenommen zu worclon, die aUjfthrlich an
beslimmtcn Fosttagon wiodorholt wordon. Man setzto ]5aj's Miserere
an die Stello oines von A.Scarlatti, welches bci Soite gologt wurdo.
Um Sie nicht m ormfitlen, scLliesso ich, hiormit clio heutige Mitthei-
lung, die jetzt schon eino ctwas grSssere Aufldohmmg gewonnon hat.
Einigo Naiiien aus apaterer Zoit, die noch gonannt werden konnten,
iibergohe ich Her, da sich, im Vorlauf der naclifolgenden Darstollung
noch Gologonheit finden wircl, dorselbon m gedonken. Palestrina
und seine Schulo bezeiclmen oino Epoche und fallen dioselbo aus. Was
KM
(
sonst nodi aus diesein Zeitabsclinitte aus anderen Eacliern der Ton-
kunst zu erwahnen ist, wird in der nachsten Vorlesung seine Stelle
finden; nur die eine Bemerkung gestatten Sie rair noch, dass es eine
grosse Einseitigkeit unseres Musiklebens genannt werden inusste, wenn
die Mer besprochenen Werke dem Genusse cles musikalisclien Publicums
so ganzlicli entrtickt blieben, wie es in neuerer Zeit uncl bis vor Kur-
zem bei uns der Fall war. Die Gegenwart hat allerdings aucli Mer
Manches angeregt, was wir vor einer Eeihe von Jahren kaiim noct er-
warten durften. Hoffen wir daher, dass die besprochenen Werke, so-
weit es bei einer scion vorflbergegangenen geschichtlichen Erscheinung
flberhaupt moglicli ist, mehr und melir wieder zum Leben erwachen.
Vierte Vorlesung,
Die weltliclie Husik dieser Zeit in Italian, Allgomeinor ITmscliwtmpr fox (\^{ m
stes. Ersto Anfango dor Opor. Caccint Bardi, Graf von Vcruio. Galilei. Perl
Corsi Rmuccmi. E. del Cavalierc. Das Oralorium, "Wosou uud gesclxicht-
licho Bedoutung dor iioucu Erfiudungcn.
Durch Palest rina win-do cler Grand gelogt ssu dor gesammton
nadifolgentlen Entwicklung; die Werko Paldstrina's und seiner Sclmlo
sihd das Fundament, auf welchem das spatcre Gobfmdo aufgoltihrt wurdo;
zugleicli aber ist damit die orste Epocho cler italionisclion Musilc be-
scHossen, die Bpoclie dos orhabonon Stils im Gogonsatx HU dor des
schonen, welclio jetzt folgt.
Sie erinnern sicli der Andeutungon, welclio icli fiber (lie toclmischo
sowol wie goistigo Bescliaffonhoit (lor Tonkunnt, aowoit diosolbo bis
dahin in ihrer Aunbildung goiliohon war, gogcbon habo. Instrumental-
musik gab es nodi niclit, man kanntc allein den molirstiimnigen, den
Ohorgesang; wir liabon die Anscliauung von grossen, broiton MaBBon
in don Gompositionon jener Zeit; die Worke Palostrina's sind ans
Quaclerstoinen anfgetuhrto, imposanto Gebiiude, strongo Hohoit ist der
Yorwaltondo Cliaraktor, allor Ausdruclc ist auf claB Andiiclitigo, Foierliclie
gorichtet; Melodie in uiisorom Sinne fohlt ganzlieli; obonso wonig war
das goaanunto Koiclx der Accordo scliou ovsclilowBon. DroikMnge Bind
die fiborwiogondou Bostandllioilo. Sio erinnorn nidi fornor aus dor
orston VorloBung dor Mitthoihmgon, wololio icli llinon fiber die molodi-
Bclxcn Bostrobungon, fiber don weltlidion Qosang im Mittolalter gab.
AusHorordontlicli boliobt in don luioltnton und niodrigBton Kroison, sahon
wir an diosen lobendlg und unmittelbar aus pootischor Eingobung ont-
sprmigonon Gosangon Empfindung frtilior zum Ausdruck gelangen, als in
don Worlcen dor golohrton Musikor, donon dio Kimst bin daMn fiber-
wiegond oiu Gegonstancl vorBtandigor Arbeit war; wir sahon abor aucb.,
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wie die Letzfceren von clem weltlichen Gesange sich abwendeten und auf
denselben mit Verachtung herabblickten.
Betrachtet man die fraheren contrapunctischen Versuche im Mattel-
alter, bei den ersten Niedeiiandern und in Italien, erwagt man das
Barbarische, Steife, GeschmacHose derselben: so begreift man leicht,
dass Leute von Geschmack und Gehor, von gesundem Sinn und Gefuhl
nur wenig davon erbaut sein konnten, und muss es natfirlich finden,
wenn insbesondere die Italiener, denen die Neigung fur Melodie ange-
boren ist, kein sonderliches Veiiangen nach der neuen Weisheit ein-
pfanden, und darum wider Erwarten spat erst diese Kunst sieh aneig-
neten. Andererseits konnte es.aber ebensowenig feHen, dass die Har-
monie eine so gewaltige, folgenreiche Entdeckung, die, wie Chr
H. Weiss e in seiner Aestlietik bemerkt, mitEeclit den anderen gleich-
zeitigen Entdeckungen von weltgescMchtlicher Bedeutung beigezahlt zu
werden verdient Eingang bei alien ftir Musik begabten Nationen,
insbesondere bei den Italienern und Deutschen, finden niusste, sobald
dieselbe einmal zu grosserer Ausbildung gedieken war und die Tonsetzer
niclit melir bios fur das Auge der Kunstkenner arbeiteten, sondern die
Wirkung auf das Olir zu berucksichtigen anfingen. Im 15. und 16.
Jahrhundert war der Sieg des Contrapuncts entscMeden ; die Harmonie
trat aus der Kirch e heraus in die "Welt, und erliielt mm auch irn ge-
selligen Leben melir und melir Anerkennung und Burgerreclit. Da es
zuerst nur wenige Sanger gab, welche einen mehrstimmigen Gesang vor-
zutragen wussten, so erliellt, dass nm* die Keichsten anfangs sich. einen
solchen Genuss verscliaffen konnten, und es trug dies dazu bei, der
neuen Eunst langere Zeit Hndurch das Anselien eines besonders Kost-
baren, Wunschenswertlien zu geben. Die Harmonie wurde Gegenstand
des feinen Tones in der vornelimen Welt, Gegenstand der Mode; die
Melodie trat immer mehr zurfick, wurde vernaclilassigt und gerietli bald
ganzlich in Vergessenheit. Um der immer gesteigerten NacMrage des
Publiciuns zu gentigen, bildete sich eino grosse Anzah.1 von Sangern for
den vierstimmigen Gesang aus. Die Liedersanger, die friiher Bevor-
zugten, ja allein Herrschenden , saben sicli bald auf Meine hausliclie
Kreise, oder die Zusammenkunfte lustiger Gesellen besohrankt. Der
Kampf der Harmonie und Melodie endigte rait einer volligen Unter-
drfickung der letzteren; sie gerietli ganzlich in Vergessenheit, und der
einstimmige Gesang musste, so unglaublich dies klingt, um das Jalir
1600 in der That neu erfunden werden. Wenn friiher der Contrapimct
auf den Kreis der Schule beschrankt gewesen war, ulid in der Welt
allein die Melodie sich Geltung erworben hatte, so finden wir im 15.
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iind 16. Jahrhundert gerade das TJmgekehrte. Die Melodic geht ver-
loren, oder 1st auf ganz unbemerkte, xmteigeordnete Erase bcschrankt,
walirend die Harmonic in den weitesten Kroisen Bingang gewinnt nnd,
alle Herrschaft an sieh reissend, der kunstvollen, wcltlichen Musik Ursprung
mid Entstehung giebt. Unter den eigentliclien Freunden xmd Beschfitzern
dor Kunst gab es ausser dem vierstimmigen jotzt keinen ande-
ren Gesang mehr. Neben den grossen kirchlichen Worken schen wir
daher sowol for die lioheren Stando, als auch fur das Yolk verschiedene
Musikgattungen auftreten, welche das nun schon grosso allgemoine Yer-
langen befnedigten.
Wir finden Mer Veranlassung, wenn aucli nur im Voriibergelien,
die Blicke mm ersten Male auf Neap el zu ricliton, jenes Noapol, wel-
ches in den folgenden Jakiiunderten die mnsikalischo Weltliorrscliaft
erlangen sollte, wiewol es sicb in diosom Zeitraum wedor durch Ton-
setzer von Euf auszoiclmete, nodi eine neapolitanische ScMo iiberliaupt
schon bestand. In der zweitcn Halfte clos 15. Jahrhundorts aber, unter
Ferdinand von Aragonien, Konig von Neapel, der, solbst wissen-
scliaftlicli gebildet, Wissenschaft und Kunst oltrte uncl fordorte, liatto
Neapel schon ausgezeichnete Manner in alien Ffichorn. Meliroro niodor-
landische Meister lob ton und wirkten dori Von Orlandus Lassus
liabe ich dies ausdrucklicli erwahnt. Aus spSLteror Keit wird als ganz
besonders schatzenswertlier Forderor um dies sogloidi m bomorken
der Pfirst Gesualdo daVonosa, urns Jalir 1600, gonannt. Dieser
grundete solbst eine Akademie in soincm Schlosso; or war von Jugond
auf fur Musik erzogon worden. Seine weltliolion Oompositionon tiber-
scliritton bald die Gronzen von Italien, so allgomein war die Beliebtkeit
und Verbreitung dorsolbon, uncl noeh Handol soil in oinigo seiner
"Werko, wie erzahlt wird, naolirero Modulationou diesos Mamios aiifge-
nommon liaben, sowie auch dor golchrto P. Martini dieselbon fiber
die Maasson pries. Der schono Himmel Neapels und die reicliston Gabon
der Natur, die daraus hervorgehonde Hoitorkoik, Bowoglichkoit, Schon-
heit und Sorglosigkeit dos Lobens vorsetzon clort in oino dauorude poeti-
sclie Stimmung. Das gesanmto Dasoin ist eingotauclit in oino pootischo
Atmosphfire, und es orklfirt sicli hioraus, wio dor woltliclio Gesang clort
oinen bosondors gilnstigon Bodon, tliiB untordrliokto jnelotlischo Element
wieder einige Anerkonnung finden, konnto.
Piir Prounde oinos leicliteren, auch loicWertigen Gosangos entstan-
den die sogonannten Canzoni vUlanesche* Villanollen oder Villoton,
eigentlich Bauernliedor, obschon wodor dom Toxto noch cler Melodie
nach wirkliclio Yelkslieder. Der Text einor solchon Yillanolla, dor, wio
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es scheint, einem deutschen Landskneeht in den Mund gelegt wird, ist
folgender: , 5 Ich trinke gem Malvasier, ieh triiike nie anderen Wein;
urn Mitternacht stelie icli auf, dann gelie ieli und driicke das Fass, und
trinke bis mm fruhen Morgan. Der Wein ist theuer, lieber Vetter, aber
er macht mir Lust zum Tanzen. Icli trinke gern Malvasier" u. s. w.
Die Gattung der Poesie sowol, als der Gesellschaft, far welche solche
Gesange passend waren, ist Mermit bezeichnet. Etwas feiner, initunter
auch frivoler, sind die sogenannten Villote alia, Napoletana, worm nea-
politanisclie Singmeister vorgestellt werden, welche jnngen Damen die
Anfangsgriinde der Musik leliren wollen. ,,"Wer von euch Frauen will
die Gagliarde lernen? Komnit zu uns, die wir feine Lehrer sind, welche
des Abends und Morgans nie verfehlen zu spielen: tan tan tan tarira"
u. s. w. ist der wundeiiiche Text eines solchen Stucks. Fur die vor-
nelimeren und gebildeteren Kreise der Gesellseliaffc wurden, von der
venetianischen Schule um das Jahr i530 ausgeliend, Madrigale ge-
dichtet und componirt. In neuerer Zeit bezeiclinet man mit dem Namen
Madiigal ein kurzes, acht- bis zwolfzeiliges Gedicht, welcies die LieBe
oder den Naturgenuss zum Gegenstand hat und mit einem witzigen
oder auci zarten Gedanken schliesst. Weit ausgedehnter war die Be-
deutung des Madiigals damals. Man verstand unter diesem ISTainen
tiberliaupt ein kurzes Gedicbt weltlichen Inhalts, melir oder minder
contrapunctisch behandelt und fur drei, vier bis sieben Stimmen gesetzt.
Das Madrigal war in seiner Blfitheperiode nicht bios das, was jetzt
Kammermusik genannt wird, sondern es bildete aucli in dramatisclien
Vorstellungen aller Art, Tragodien, Komodien, Schafergedichten, in Bur-
lesken und Maskeraden, bei Festaufzugen und bei alien anderen aim-
lichen Gelegenlieiten den Chor. Die Wichtigkeit dieser Compositions-
gattung geht hieraus hervor. Sie war die einzige, die wichtigste welt-
liehe Form, die Hauptgattung, welche der Kirchenmusik gegentiberstand.
Den Tonsetzern, die vor Einfahrung derselben ihre Gelehrsamkeit und
ihr Talent kirchlichen Werken gewidmet batten, wobei es nur auf Aus-
druck im Grossen und Ganzen, auf Darstellung der Gesamnitempfindung
ankam, ohne dass ein Streben nach besonderem Ausdruck der Speciali-
taten des Textes sichtbar gewesen ware, gab die Anwendung ilirer
Kunst auf geistreiehe Worte weltlichen Inhalts zuerst den Gedanken,
dass die Musik bestimmt sein konne, die Textesworte im Einzelnen zu
begleiten und eindringlicher zu machen, so den Gesammtausdruck zu
nuanciren und naher zu bestimnien. Die Einfuhrung des Madrigalstils
war der wichtigste Schritt zur Verfeinerung des Geschmacks sowol der
Tonsetzer, als auch des Publicums. Die zweite Epoche der italienischen
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Musik, die des sclioneif <Stils, wurcle insbesondere dadurch vorbereitet
mid eingeleitet, ein fur die gesammte KunstgescMclite iiusserst wicli-
tiger Fund Das Madrigal wurde niemals, wie es bei der Kircbenmusik
frflher stets und spater nodi Mn und wiedor ublich war, fiber eino sclion
vorhandene Melodie, einen Tenor, eomponirt, sondern humor froi erfun-
den, und gestattcto daruin die grosste Mannigfaltigkeit der "Form und
Behandlung. Wir finden es oft im einfaclisten Stil, eben so oft im holieron,
Mnstlicheren Contrapunct componirt. Die Tausendo von Madrigalen,
die ein gansses Jalirhundert hindurch und noch fiber diese Zeit liinaus
im Druck orscMenon sind, bowoisou die ausserordontliclie Tlieilnalime
des Publicums, die kaum jemals bofriodigto Naclifrago nacli diosou Com-
poaitionen, die von Jeclem, der Bich (iberluiupt fiiv Miwik mtorosHirte,
geaucht wnrden. C. F. Becker in seiner Scliriffc: ,,T)io Tonwerke des
16. und 17. Jalirliunderfa" giobt S. 1 ( J1 big 2I6 eino Uoborwcht der in
diesor Zeit godruckton Worko dioHor Gattung, welclio oiuo Anscliauung
des ausserordentlielien RoichtbmnB und der groayou Fniclitbarkeit der
Tonsetzor gewiibron kann. Einor der bodoutondHton Moistor in dieser
Gattung war Luca Maronzio, Sflnger der papsilichou Kapollo, geb.
um 1550, gest. im Jahre 1599. Dio Rrfindimgen dionoa Ooiuponiston
sind fur die damaligo Zeit mannigfaltig, singbar, trellbnd im Ausdrucko.
Waro zu seiner Zeit die Molodio eben so gokanut und goBuclit gowosou,
als OB die iiberwiogend harmoniHclion Maflrigale waron, or wurdo jeden-
falls oin Muster aucli in der Melodio fur noiuo Zoit geworden seiiu Man
nannte ilin dioser Eigonschaftou wcgen ,,dou fiboraus sfisseu Soli wan
Italious (il pih dolce ciyno (Ml 7 Ii<di<t) <(
Dies sind die Zustaude dor italienisclion Musik im 16. Jahrlmndert
Die liatmonischo Kunst hatto in don weitosten Kroison Bingang gewon-
nen, clas Gobliudo dor KirchonmuBilc insbosondoro stand fost gogrundot
Kaum abor, daBH alle dioso BoBtrobungon mm Al)Bchlus und ssur Vollon-
dimg gelangt waron, so beroifoto sich aucli Bclion oin machtigor Um-
scliwimg vor. Ein fiischor lYflhlingshanch, oin Haucli doB froion, sidi
alien Fessoln dor Autoritat ontwindoudou OowtoH durchssog die Welt,
Don Monschon ging in dor Sohonlipit, in dor Hingabo an dio Wolt und
die sinnliclio Erschoinuug, wolcho dom fnlluiuou roligiOHon Goiato als
sundliaft orseMenon war, iiach laugon Jalirhundorton wiodor dan BowuBBt-
soin ilirer oingeboronon HerrlicWkoit auf. Dio Blicko, dio bis dahin mu
auf don Himmol goriclitot gowoson waron, wondoton sicli dom IrdincliOK
y,u und gowakrten init EtHtaiuion dosson Horrlichkoit. Dio groswon
Malor ttalions hatton frulicr sclion aln dio Musikor dioHo Umgoetaltung
vollbracht, und dio Maloroi von don kircliliclien, Foasolu boiroit. ! Sclioi
9
UO
im Jahre 1518 hatte, wie f F. Kugler in seiner n Qeschichte der Malerei"
erzablt, Correggio ich erwabne beispielsweise diesen charakteri-
stiscben Umstand den Nonnen eines Klosters in Parma beidnische
Gegenstande gemalt, Gegenstande, deren Bezielinng zu einem jSTonnen-
Hoster allerdings nicht sebr einleuchtet, deren Wahl aber far jene Zeit
bezeicbnend genannt werden muss. An der Hauptwand des Saales stellte
er Diana vor, welcbe auf einem von weissen Hindinnen gezogenen
Wagen von der Jagd zuriickkekrt ; die leichte Bekleidung der Gottin
verbiillt Her nur wenig die Formen einer vollkommenen Jugend. An
clem Gewolbe ist eine Weinlaube gemalt, mit 16 ovalen Oeffnungen, in
welcben man Gruppen der reizendsten Genien erblickt. Diese haben
meist Attribute der Jagd bei sicli, Horner, Hunde, den Kopf eines
Hirsches u. s. w., ocler sie liebkosen einander, oder pflucken FrticMe
von den Handera der Laube. Man kann nicMs Anmuthvolleres, kein
sflsseres, holderes Spiel selien, als in cliesen Kindern. Darunter sincl
j 6 Lunetten, deren Grund, gran in grau gemalt, mit anderen mythischen
Darstellungen ausgefullt ist: den Grazien, der Fortuna, den Parzen,
Satyrn u. s. w. Die italienisclien Nonnen lebten um diese Zeit in
grosstmogliclier Freilieit, ohne Clausur, und die Aebtissinnen oft in fiirst-
licher Pracht und Ueppigkeit. Das Stadium der PhilosopMe sowie
der Naturwissenscbaften trug gleich sebr bei, die Geister, obscbon unter
beftigem Widerstreben der Earche ich erinnere an Galilei und den
lierrlicben Giordano Bruno, der im Jabre 1600 als Ketzer in Eom
verbrannt wurde von der dogmatiscben Gebundenbeit der friiberen
Zeit zu befreien. Im Protestantismus war das Princip der Neuzeit auf-
gestellt worden, und die Lebenskraft der katboliscben Kircbe begann
zu scbwinden. Die Bescbaftigung mit der griecliscben Literatur endlicb
hatte die letzte Finsterniss aus den Kopfen entfernt und fur die Welt
und ibre Lust die Augen geoffnet. Florenz namentlicb war ein Mittel-
punct fur derartige Bestrebungen, und wir selien daher aucb, wie die
der bezeicbneten neuen Geistesricbtung entsprecbende Kunstgattung,
welcbe das Gebaude der grossen Kircbenmusik erschutteiie, zum Wanken
und endlich zum Sturze bracbte, dort zuerst bervortrat.
Die BetracMung ist jetzt bis zu dena Puncte gefubrt, wo jene grosse,
durcbgreifende tlmgestaltung der Tonkunst in Europa erfolgte, welche
eine bis dabin ungeabnte Welt aufscbloss und die moderne Zeit unmittel-
bar einleitete; eine Umgestaltung, so gross und bedeutend, dass in der
gosammten GescMcbte der Musik damit allein das Entstehen der Instru-
mentalmusik in Deutscbland, was kunstgeschichtliebe Bedeutung betrifft,
einigermaassen verglicben werden kann : die Betraclitung ist bis zu dem
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Zeitabschnitt gefiihrt, wo die Oper, diejenige Kunstgattung, aus welcher
die gesammte neuere Musik hervorgegangen 1st, geschaffen wurde. "Wir
stehen jetzt, Mem wir diese Umbildung im Keiclie der Tonkunst vor
uns haben, an der Grenzscheide der alien und neuen Zeit.
Sie erinnern sicli aus der ersten Vorlesung der Bemerkungen, welclie
ich liber die dramatischen und theatralischen Versuclie des Mittelaltera
machte: jener rohen Volksfeste, danu der etwas gebildeteren Darstellun-
gen in den Misterien, endlich der Liederspiele Adam's cle la Hale.
Icli will jetzt, bevor ich zur Hauptsaclie komme, Tlmen noch Einiges
tiber die weiteren VorgSnge auf diesoni Gebiete in den oben besproche-
nen Jahrhunderten mittMlen, Das Intorosso fur scenische Darstellungen
dauerte fort; dieso selbst warden gebildoier, je mclir iiberliaupt Bildung
Eingang gewann. Doch gelioren alle diese Darstollungon nur im weito-
sten Sinne zu den Vorstufen der Oper, die eine viel spiitere Erlindung
ist. Die friilieren Geschichtsclireiber der Oper gobon Nachrioht von
glanzenden Hoffesten in Italien, sconisclxen Darstellungon, bei clenen
auch gesungen wurde, und reclanen diese Unterlialtungon sclion m den
Vorstufen der Oper. So wurde im Jalire 1388 Mr Vermahlung des
Herzogs Galeazzo Sforza roit der Prinzoasin Isabella von Ara-
gonien in Mailand ein dramatisches Spectakel voranstaltet, dem auch
noch link in seiner Geschichte der Oper eine bosondore Bedeutung
beilegt. In der Mitte eines pracMigon, von oinor licrrliclien Galleria
umgebenen Saales, auf der eine grosse Menge vorschiodonor Justrumon-
talisten verfheilt waren so wird orzaiilt , sail man eine grosse
Tafel, die fur das ftirstliclie Paar und die Gaste beBtimmt war, oline
irgend eine Art von Zubereitung* Sobald dor Herzog tind die Herzogin
erschienen, naLm das Fest seinon Anfang, Jason erOffnete die Scene
mit den Argonauten, welche mit einer drolienden Miene umherschritten,
das berflhmto goldene Vliess mit sicli ffihrend, welches sic auf (lor Tafel
als ein Geschenk zurfickliessen, nacladem sie ein Ballet 8 go fcanzt hatton,
welches ihre Bewimderung der scli^nen Braut ausdriiekte. Hierauf er-
sehien Mercur und erzahlte, wie or dem Apollo, damaligen Hirton des
KMgs Admet in Thessalien, das sclionste, fettosto Kalb von der ganzoa
Heerde woggestohlon liabo, um es den Nouvormahlton als Geschenk dar-
zubringen. Nachdem or dassolbe auf der Tafel niodorgologt hatto, trat
Diana auf, als Jftgerin gosclmiiickt und von iliren Nymphon bogloitet,
welche unter dem Klange von Waklinstrumenten auf oiner vergoldoten
und mit laub geschmuckton Tragbahre oinon selir soliflnon Hirsch trugen,
So ging die Sache mit Unterbrochungou in verschiodonou Al)theilungen
eine lango Zoit hindurch fort. Kieeewotter hat gozoigt, dass das
Ganze welter Mchts war, als eine Maskerade, um die Gerichte auf die
Tafel zu bringen, ein dramatischer Versuch, wo der Speisezettel den In-
halt bildete. Bemerkenswerther scheint, was fiber einen Vorgang in
Kom berichtet wird* Hier hatte der Cardinal EaphaelBiario ein
Misterium, die 5 ,Bekehrung des heiligen Paulus", gedichtet. Baulustig,
liess er nach seiner Angabe zu Eom ein bewegliches, zienilich glanzen-
des Theater errichten, wo das Stuck wirklieh zurn grossen Ergotzen der
Menge ini Jahre 1480 aufgefuhrt wurde. Der Autor der Musik soil ein
gewisser Francesco Beverini gewesen sein. Ueber die nahere Be-
schaffenheit derselben aber ist Mchts bekannt, und es lasst sich dem-
nach der cladurch etwa bewirkte Fortschritt nicht naher bezeichnen. Solche
Auffiihrungen indess, wenn auch noch fur die Eunst ohne Bedeutung,
hatten doch das Kesultat, dass scenische Darstellungen mit Musik immer
beliebter wurden. Die Neigung daffir nahm in nachster Zeit im Laufe
des 15. und 16. Jahrhunderts in Italien immer mehr zu; namentlich
wetteiferten die Fursten in Oberitalien, derartige Auffuhrungen an ihren
Hofen zu veranstalten. Mcht mehr allein Augenlust sucMe man zu be-
friedigen, auch der Musik wurde mehr und mehr gedacht. Besonders
bei festlichen Gelegenheiten waren solche Vorstellungen bald unentbehr-
Hcli, und dann auch meist mit Musik und Gesang verbunden. Vor alien
^eichnete sich in Kunstliebe und Pracht der gelehrte Hof der Mediceer
"KIS. Florenz war wahrend der Kegierungsperiode clieser Fursten das
Athen ItaUens, und Florenz wuide auch der Ort, wo die Oper ihre Ent-
stehung fand. Die contrapunctische Kunst hatte, wie bemerkt, in den
Kreisen der hoheren Stande bereits Geltung gewonnen, und der fruhere
einfache, einstimmige Gesang war, wie es schien, fur immer verloren
gegangen. Der musikalische Theil jener scenischen Darstellungen bestand
uaher jetzt aus Choren im Stile des Madrigals, der Dialog der Fabel
vwde nur gesprochen. Die Gesange, die Chore erschienen nur in soge-
B>nnten ,,Intennezzi a , welche selbst in besonderen, von dem Drama oder
der Komodie geschiedenen Fabeln bestanden und zwischen den Acten
aufgefuhrt wurden; oft auch wurcle die Musik oder irgend ein Madrigal
den Acten nur als zur Erholung von der anstrengenden Auf-
keit auf die Fabel dienend betrachtet. Das Hauptdrama selbst
totand nur aus dem Dialog; Chore waren beigefupt je nach der Forde-
rung des Gedichts, vorzuglich am Schluss der Acte. Von dieser Be-
schaffenheit sind alle grosseren Drarnen auch noeh im 16. Jahrhundert
gewesen: ein Stuck z. B., welches Alfonso della Viola, einer der
Zoglinge aus "Willaert's Schule, im Jahre 1560 fur den
von Ferrara in Musik gesetzt hatte; ein Stuck, welches 1564 zu
5
Bologua in dem Palaste des vornehmen Hausos Bontivoglio aufgefiihrt
wurde: s ,Vi<ne.ostansa della fortuna"-, eine Tragodie ,,0rfoo", welche die
Bepublik Venedig zur Unterhaltung Heinrich's TIL von Frankreich
im Jahre 1574 hatte auffuhren lassen, und melirere anderc. Es war
dies Alles auch noch nicht entfernt die wirldiclio Oper; man hatto sick
derselben aber dadurch jedenfalls urn cinen Scliritt geniiliert. Es ist von
Wichtigkeit, genauer zu betraehten, wie jene Sfcftcko, besondors in Florenz,
in ihrem Detail beschaffen gewesen sind, indcm nur durch Vergleiclumg
desjenigen, was im 16. Jahrhundort liblicli gewesen, mit dem, was in
den letzten Jahren desselben und zu Anfang dos nachfolgondon Jahr-
hnnderts entstand, sioh das walirliaft Noue, das Wesentliclie dos groBSon
Uinscliwungs anf dem Gebict dor Musik, die Zeit dor Brftndimg dor
Oper ennitteln lasst. tn oinom Stucko, welches in dor Mitte don
16. Jahrhunderts in Floronz anfgeiiilitt wnrdo, ssoigt sicli in einer vom
Himrnel herabsdiwebonden Wolko Vonus, das Qonpann dor wowson
Schwane aus ihrem Muscliolwagon lenkend, in ihrom Gefolge die dvoi
Grazien und die Jalireszoiton. Indom sich die Wolko aonkt, erblickt
man in dem offenon Himmolsraum Jupiter, Juno, Mars und die fibrigon
GOtter. Von ilinen gelit, wie bericlitot wird; eine ,,wnnderBtiBse llarmouio
aus, welche melir Gottern als Monschen anyAigolioren nolieint", mul OH
verbreitet sich zugleioh ,,ein kostbarer Duft, dor den ganzou Saal or-
ffillt". Von der anderen Seite der Bitlmo orsclxoint, als auf Krtlen wa^
lend, Amor, in seinem Gefolge die Hollhung, die urclit, die , Erolilicli-
keit und der Schmerz. Es beginnt oiu Taiw, und zugloich orklingt oin
Gesang zwischen Venus und Amor. Man aollto orwarton, dans dieso
Strophen von Venus und Amor, wenu uiolit als Duett, so dock lied- odor
arienniassig wiiren gosuugon worclen, Dies war aber koiueswogs der
Fall. In der Besclireibung dieses Sttioks wircl ausdrueldicli orzalilt, dass
"die Strophen der Venus achtstimmig , die Amors liinfstinmng gewesci^
dass dieselben auf der Btilme durch Sthnmen gosungen uud hintor d^
Scene mit Instrumenten begleitet worclori wiiren. Noch an keinem Orto
und bei keiner Gelegenheit zeigt sich eine Spur von einstimrnigem Ge-
sang. Bei einem Feste aber, welches bei Gelegonheit einer VermahlungB-
feier in Elorenz im Jahro 1539 statfcfand, war Jemantl auf den Binfijjj
gekommen, die Oberstimme oines Madrigals von einer Person allein ftia-
gen, und die ubrigen Stimnaen von Tiistrumonten ausftihrcn m lassen.
Der Sanger sang in der Itolle dos Silen die Oberstimme und bogloitoto
sieh selbst mit einem Violone (Viola grOssoror Gattung), wahrond die
anderen beiden Stimnaen auf Blasinstrumenten ausgefuhrt warden. 1^
Text enthalt das Lob des goldenen Zeitalters, dessen Wiederkehr cffir
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Sanger dein neuvermalilten furstlichen Paare wunsclit, obschon der traurige
Singsang, wie Kiesewetter sagt, die Hoffnung Heraufnicht selir ent-
schieden auszudriicken scheint. So bedeutungslos an sicli, muss indess
rl ieser selfeanae Versuch dock als erster, unreifster Anfang, als erster,
wenu aucli geringfiigiger Anstoss, als die Basis betrachtet werden, auf
welclier sick gegen Ende des Jakrhunderts ein ausgeftikrterer einstim-
miger Gesang erkob. Es zeigte sick Mer wieder das erste Wagniss
eines soleken. Das Verfakren, die Oberstimme eincs Madrigals von einer
Person singen und die tibrigen Stiinmen clurck Instrumente ausfuhren
zu lassen, land bald Nackakmung und es sind aus jener Zeit melirere
derartige Compositionen vorlianden. Zngleich begann Meraus die kohere
Gesangskunst sick zu entwickeln; man versuclite jene langgekaltenen
Noten der Oberstimme eines Madrigals init allerlei Coloraturen zu ver-
bramen, man sucbte mehr Bewegung und Mannigfaltigkeit in den Gang
der Stimme zu bringen, und der erste Schritt zur Ausbildung des Einzel-
gesanges war damit gethan. Icli sage: der erste Schritt, denn wunder-
bar ist es, wie jene Sanger, zum Tbeil selbst Tonsetzer, niclit gleicli
darauf vern^len, eigentliclie Cantilenen, Melodien zu erfinden und zu
diesen eine passende Begleitung zu ersinuen, sondern sicli fortwahrend
damit abqualten, die bedeutungslose Oberstimme eines Madrigals durch
Piguren bis zur Unkenntliehkeit zu verzieren. Langere Zeit indess noeli
verging, bevor aus diesem bald sehr figurenreicli werdenden Bravour-
gesang die eigentliche Oantilene wieder liervorging. So ist es zu er-
klaren, wenn beriehtet wird, dass der berulnnte Sanger Caccini bei
der VermaHung des Grossherzogs Franz rnit Bianca Capello im
Jalire 1579 die Kol|e der Nacht in einem Intermezzo mit Begleitung
von Yiolen gesungen habe. Wir finden denselben Gebraucb bei Festen,
welche ebenfalls zu Florenz im Jahi*e 1589 gefeiert wui'den. Die Hofe
Oberitaliens hatten sclion jetzt mehrere eigentliche Kunstsanger in ihren
Diensten. Der genannte Caccini, ein gewisser Jacopo Peri und
eine Sangerin Vittoria ArcMlei werden als die beruhrntesten unter
denen zu Florenz genannt. Castraten waren darnals weder in den Ka-
pellen nocb. an den HSfen eingefubrt, wie es scheint, zur Zeit eine noch
ganz unbekannte Sache.
Jls konnte niclit fehlen, dass man jetzt bei dieser neuen "Wendung
der Dinge, und bei so viel gegebenen Mitteln, endlieli doch. darauf ver-
fallen musste, Cantilenen von einem bestimniten Ausdruck,
also Sologesang im eigentKclien Sinne, zu erfinden. Von den Sangern
am Hofe zu Morenz, bemerkt Kiesewetter, war zur Verwirklichung
der Idee eines selbstst&ncligen, auf den Ausdruck bestimmter
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Empfindungen und Zustande abzwecfcenden Gcsangcs keiner so
berufen, als Giulio Caccini, auch YOU seiner Geburtsstadt Griulio Ro-
mano genannt. Weim zwar kein grosser Meiater in der Knnst des Con-
trapuncts, hatte er docli darin einlge Studien gemaclit und war nicht
nur ein guter ganger im Gesehmack der Zeit, sondern aucli, mid vor-
zflglicli, als GesangMrer ausgezeichnet. Seine Gesiingo gab or in oinor
Sammlimg unter dem bedouteamen Titel: L move vmwhe im Jaliro
1601 berans. Er bezeichnet sich in dor Yorrede selbst als den Ersten,
der solclxe GesSnge erclaclit, und erzahlt, class or vor mebreren Jahron
verschiedene derselben bei einona Besuclie In seiner Vatorstadt vor Liob-
babern und Kennern niifc nngenacinem Beifall liabo lioron lasson; dioBO
Herren batten ihm versicLei't, dasB sie bifl dahin nock nio oinen aiiu-
lidien Gesang gehort, da man soust nur die Oborstimmo oinos Madrigals
gesungen habe, wobei an don Ausdruck irgond oinor Kmplindung nicht
zu denken gewesen sei. In der cnvalinton Sclirift bat Oaccini Bolno
neuen Alien mit alien Singraanioron zuorst voroilbntliclit. Bs golit dar-
aus hervor, dass der Kimstgesang, was Kolilfortigkoit betriJrt, Hclioii oiiion
holien Grad von Annbildimg crreiciit Iiatto.
In Florenz lebto damals, imtor Violen, oiii ftuflsorst tlitttigor Bo-
scMtzer und Liebhaber der Ktiusto und WisBonsohafton, Giovanni ItardjU
Graf von Veraio* Als Mitgliod gelelirter GosollHchafton, angovogt von
dein Beispiele des Hofos und aus oigcnor Noigung, bosprach sih dor-
gelbe am liebsten til)or BildnngHgogouHifiudo, und mom TIaus wurdo bald
der Mittel- und Sanmielpunct fur Allo, wolclio von oinout liirtiorou Tutor-
esse beseelt waren. G. B. Doni, ein geBcliiitetor Hcluiftstollor fiber
griechisclio Musik, Socrotar am (/avdiuabcoUogiuin in Koiu, gob. xu
Florenz 1616, gout. JG(59, bat cine Abliaudlimg fiber jono wiBBcnHcliafV
liclion und tflnstloriscliou lioatrobungou, weldio datnaln in Floronx BO viol
Anklang fanclon, goschriobou, die ^ugloich mit oiuigon Vorrodcn dor Ton-
setzor als Hauptquollo liir die KonntnisB diesor Vorgilngo xu botraclitou
isfc. Hieraus will ich oin Bruclistiick mittlieilou. Dor VorJtiHHor eraiililt :
,,Diesor vortreftlichc Cavalier, Bardi, Graf von Vor uio, war gauss bo-
sonders dem Studium dos Altortluuua urul doux dor Thoorio und .Praxis
der Musik orgobon, dio or molirorc Jalir<s hmdttrdi ao cxiwig Htudict
liatte, dass or fur soino Jlcit oin gtitcr und corrector TouBofcxor gowor-
den war. Soin Haus war dor bontaudigo Vorsanmilungsort aller Por-
sonen von Talent und oino Art blfthondor Akadomio, wo dio jfmgoron
Louto vom Adel siclx oft vorsanunolton, um iluro MiiBHOHtumlou in Iflb-
lichen Uobungen und gololvrfcou G(^Hpraclion m vorbriugou, vorxiiglich
liber QogeuBtanclo der Musilf, iudoin os dor WuuBch tlor ganscon (iosoll-
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schaft war, jene Kunst, YOU welcher die Alien solche Wunder erzahlen,
wieder zu entdecken, so wie dies mit manclien anderen, dnrch die Ein-
falle der Barbaren verloren gegangenen Kenntnissen bereits cler Pall war.
Im Laufe dieser Erorterungen war man allgemein dartiber einig, dass
die neuere Musik an Anmutli und im Ausdruck der Worte sehr mangel-
haft sei s und dass, um. ibren Mangeln abzuhelfen, irgend eine andere
Art von Cantilene oder Gesangsweise versucht werden iniisse, bei welcher
die Textesworte nicht unverstandlicli gemacht, noch der Vers zerstdrt
wurde. Yincenzo Gfalilei" es ist dies der Vater des beruhmten
Naturforschers Galileo Galilei ,,war zujenerZeit unter den Ton-
kiinstlern und Kunstkennern in einigem Anselien, uncl verfolgte, liier-
durcli geschmeichelt, seine musikalisclien Studien mit solchem Eifer, dass
er bald zn der Reife der Einsicht gedielien war, ein Werk tiber die
Missbrauche der neueren Musik liefern m konnen. Angeeifert durch
den Beifall, den dieses Bucli fand, versucMe Galilei neue Dinge, und
war unter dern Beistande des Grafen Bardi cler Erste, welcher Me-
lodien fur eine Stimme setzte, indem er jene pathetiscbe Scene
des Ugolino nacli der DicMung von Dante in Musik brachte, und
selbst sehr Eeblich mit Begleitung einer Viola vortrug. Dieser Versuoh
gefiel ini Allgemeinen Qberaus woH, obgleieh es Leute gab, welche das
Wagsttick belachten. Nichtsdestoweniger setzte or fernef ia demselben
Stil einige Praginente der Klagelieder des Jeremias, welclie vor einer
frommen Versammlung aufgeffihrt wurden. Um eben diese Zeit war
Ca.soini, ein feiner und gebildeter Siinger aus Kom, dort
pflegte den Zusammenkimften im Hause des Grafen Vernio
beizuwolnen. Eingenommen von einer leidenscliaftliclien Neigung fttr
jene neue Gattung, studirte er dieselbe mit grossem Heisse, indem er
eigene Compositionen mit Begleitung eines einzelnen Instruments sang,
"welclies gewOhnlich die Theorbe oder grosse Laute war, die von dem
lufaffig eben auch zu Florenz anwesenden Bar dill a gespielt wurde.
Caccinfalso setzieTfe Galilei nachahmend, wiewohl in einom schS-
neren und gefalligeren Stile, viele Canzonetten und Sonette, welclie von
den vortrefflichsten Dichtern lierrtilirten, und nicht von sold en elenden
Eeimschmieden, deren man sonst wohl sich bedient hatte, und welche
juch noch jetzt nicht selten die Lieblinge unserer Musikor sind. Man
kan^Ton ihrn^sagen,"* 'dass er der Erste gewesen ist, welclier diesen
Petler eingesehen hat und zur Erkenntniss daruber gekommen ist, dass
die Kunst des Contrapuncts allein noch nicht die Erziehung des Compo-
nisten vollendet, wie man sich. insgemein eingebildet. Caccini gestand
in der Folge selbst, dass die in dem Hause Vernio 's gepflogenen Unter-
W^,
redungen ilim von grSsserem Nutzen gewege^ waren, als dreissig Jalire
der Uebung nnd cles Stadiums seiner Eamst. ) Man muss gestehen , dass
wir Caceini zum" "grSssten 'Theil die neue und anmuthvolle Singart
verdanken, welche sick eben daraals fiber ganz Italien ausbreitete, in-
dem er eine grosse Zahl von Arien componirte, deren Vortragsweise
er unzahligen Schfilern beibrachte, nnter diesen auch seiner Tochter,
welche eine berfihmte Sangerin wurcle, und noch jetzt rait diesem
Talente glanzt. Im Kecitativ-Stil hatte Caceini einen furchtbaren
Nebenbuhler an Jacopo Peri, einem Florentine!*, welcher nicht nur
ein guter Coniponist, sondern auch ein berfihmter Sanger, zndein in der
Ausfuhrung der Tasteninstrumente besonders gescMcbt war; derselbe
verlegte sicli mit grossem Pleiss und Enthusiasinus auf jene neue Singart,
worin er bewunderungswfirdigen Fortgang maclite und allgeineinen Beifall
hatte. w Dies sind die Worte Doni's; sie enthalten das Wichtigste fiber
die ersten Anfange cles neuen Stils, fiber die nachsten Schritte zur Oper.
Es geht aus denselben liervor, welches der Grand und Boden war, aus
dem das Neue hervorging; sie zeigen die Motive, welche zu der Auf-
findung desselben Veranlassung gab en.
Gelehrte, geistreiche Literaten, musikalische Dilettanten, Sanger,
Dichter waren es, von denen die Erfindung ausging. Die eigentliclien
Musiker waren* wie so oft, zu sehr befangen in clem, was gait, in der
liergebracMen Weise, als dass sie auf etwas so ganz Abweicliencles
Mtten eingelien konnen. Die Erfincler der Oper liessen dalier die eigent-
liclien Musiker ganz aus dem Spiele. Die grosse Einseitigkeit der bis
daMn vorhandenen Musik war ilinen deutlicli zum Bewusstsein gekom-
men, der sicb aasbildende Einzelgesang hatte entscMeden auf die Mog-
liclikeit einer nocli ganz anderen Kunst Mngedeutet. Die immer beliebter
werdenden mit Musik verbundenen scenischen Darstellungen lenkten
den Blick auf die Blilme. Das Studium der griechischen Literate end-
licb erinnerte an die problematische Beschaffenlieit der griechischen
Musik r veranlasste zu Untersuchungen fiber die Art, wie im griechischen
Drama Tonkunst und Poesie verbunden gewesen sein mogen. Jetzt kam
es darauf an, eine Musikart ausfindig zu maclien, in welcher ganze,
zusammenhangende , poetisch wohlgeordnete Scliatispiele auch musika-
liscli zusammenMngend bohandelt, und bei der theatralischen Darstel-
lung auf solche Weise gesungen werden konnten; es kam darauf an,
das Schauspiel vollig in eine hohere, ideale Welt zu erheben, in eine
Welt, worin die auftretenden Personen fur das, was sie zu sagen hatten,
keine andere Spraclie besassen, als die des Gesanges. Die Griechen,
'-war die Ansicht jener Manner, liaben eine solche Musik besessen, aber
fiA .
leider ist sie vollig untergegangen, und die Nachrichten, welche wir be-
sitzen, reichen nicht aus, urn uns eine Mare Anschauung zu gewahren.
Diese Musik muss neu geschaffen werden. Jetzt gait es auch, den Dialog
musikalisch zu behandeln, es handelte sicli um Erfindung des Eecitativs,
um da^Ganze zum Absehluss zu bringen, nm alle Mttel, das Schau-
spiel in Musik unazusetzen, in den Handen zu haben, und diese Erfin-
dung ging urns Jahr 1600 von jener bliihenden Akademie aus; dies
war der lange geahnte Stil, den die gelehrten Kunstliebhaber beabsichtig-
ten, nacli ihrer Ansicht eke Erneuerung der musikalischen Eecitation
in den Tragodien der alten Griechen. Dies war im eigentliclien Sinne
eine in der modernen Musik noch nicht dagewesene Erfindung, wennschon
die ersten Versuche nur erst selir unvollkommen gelungen waren; dies
ist das grosse Verdienst, welches sicli jene Dilettanten erworben haben.
"Wie grosses Gewicht man auf diese Neuerung legte, wie inachtig der
Einfluss der Grieclien war, wie selir man sich bemtihte, diesera Ideal
treu zu bleiben, erhellt namentlich aus dein Umstand, dass in den er-
sten opernmassigen "Werken arioser Gesang, eigentliclie Cantilene, nur
nocli ausserst selten yorkani, ja fast ganz ausgeschlossen war, dass jene
Compositionen fast nur noch aus Eecitativen und Choren bestanden.
""Als der Graf von Vernio von seinem Gonner Clemens VDI. als
Maestro di camera nacli Eoni berufen wurcle, ubernahm ein gewisser
Jacopo Corsi die Akademie und setzte in seinem Hauso die Versamnx-
lungen und Besprechungen im Sinne des Griinders fort. Der aus Frank-
reich zuruckgekehrte Dichter Ottavio Kinuccini, ein Preund Cor si's,
trat der Gesellschaft bei. An Mchts fehlte es nach so vielfachen Be-
miiliungen und Versuchen, um alles bisher Erfundene zusammenzufas-
sen, um die Oper in das Leben einzufiiliren , als an einern passenden
Gediclite. Einuccini war so gefallig, ein Hirtengedicht ^Dafne" zu
liefern, dessen Composition Peri ubernalim. Das Werk kam im Jahre
1594 oder 95 in dem Hause Cor si's zur Auffiihrung und erregte allge-
meines Aufsehen. Auch nach Deutschland um dies sogleich Mer
zu bemerken gelangte der Text desselben; der damals boriihmte
Dicliter Martin Opitz von Boberfeld tibersetzte ikn, und der sach-
sisclie Kapellmeister Heinrich Schiitz lieferte die Musik. Hatte indess
die ?) Dafne u Aufsehen erregt, so konnte sich der Erfolg derselben doch
nicht inessen mit dem Enthusiasmus , welchen ein anderes Werk von
Einuccini hervorrief, die Oper ,,Euridice", die erste eigentliche grossere
Oper, durch die fur ganz Europa die Bahn gebrochen wurde. Sie wurde
von Peri in Musik gesetzt, bei der Auffiihrung aber waren mehrere
Stiicke von Caccini's Composition eingelegt. Spater erganzte Peri
72
sein Werk, uncl auch Caccini schrieb dann die ganze Oper fur sich
allein. Beide Bearbeitungen sind im Druek erschienen. Veranlassung
zu der Auffiihrung gab eine bedeutende Feierlichkeit am florentinischen
Hofe, die Vermahlung Heinrich's IV. yon Frankreich mit Maria yon
Medici im Jahre 1600. Es war natlirlich, dass man ein solches Pest
dureli die moglicbste Pracht zu yerherrlichen suchte, natiirlich, dass
die zahlreiclien Gaste den Kulim des Gesehauten und Gehorten bald
in alien Landern verbreiteten. Die Balin war jetzt gebrochen, die Oper
in das Leben eingefuhrt, und es zeigt sich yon nun an ein stetiger
Fortgang. Bald folgten andere italienisehe Stadte dem yon Plorenz
gegebenen Beispiel, und bracMen dieses und ahnliche Stiicke zur Auf-
fiihrung. In der 5 ,Euridice" zeigte sicli nun zuerst eine yollstandigere,
schon etwas gelungenere Anwendung der neu gewonnenen Kunstmittel.
Die gewolinliclie Recitation ist ganz yerdrangt, der Dialog von Anfang
bis zu Ende recitativiscli behandelt, kleinere, bewegtere Chore finden
sich dazwisclien. Das ist aber aucli das Hauptsachlichste , was dartiber
zu sagen ist. Diese langgedelmten Eecitative ohne melodische Sclionlieiten,
mit arraliclier harmonischer Begleitung, sind for uns langweilig. Das Inter-
esse der Neuheit und die aussere scenische Pracbt nur konnten damals der
Sacbe so grosse Erfolge verschaffen. Die Composition war lange Zeit
Hndurch yerloren; Kiese wetter hat sie wieder aufgefundeu und einige
Bruchstttcke mitgetlieilt*).
Ich habe diese Vorgange etwas ausfuhrlicher behandelfc. Wie in
der letzten Vorlesung, hatte icli Ihnen Mer einen der wichtigsten Ab-
scbuitte der Gescliiclite der Musik darzustellen. Die Erfindung der Oper
ist, wie schon beinerkt, der folgenreichste Wendepunct in dem gesarnm-
ten Veiiauf der Begebenlieiten. Icli habe incless bis jetzt nur der Be-
strebungen der Florentine!* gedacht, iim die Darstellung nicht zu unter-
brechen, gleichzeitige yerwandte Leistnngen an anderen Orten nicht
namhaft gemaclit. Dieser will icli jetzt noch in Eurze erwahnen.
Gleichzeitig mit den Plorentinern , ja ihnen noch zuvorkommend , hatte
ein gewisser Emilio del Caraliere, ein Eomer, bis zum Jahre 1596
aber Intendant der grossherzoglichen Hofmusik zu Plorenz, und dem-
nach mit den Bestrebungen der dasigen Eunstfreunde vertraut, einige
Schaferspiele, gleichfalls in der neuen Weise, gleiclifalls in der Absieht,
*) Man vergleiche iiber das Mer Dargestellte S oh e lie's Abhandlraig in der
J5 Neuen Zeitschrift fur Musik", Jahrgang 1863, Bd. 59, Nr. 3, S. 21. Dort wird die
Oper nach Seite ilirer musikalischen Pactur als ein Umschlag 1 der kirchlichen
Musik in die weltHche bezeichnet.
73
die Musik der alten Griechen wieder aufleben. m machen, componirt,
die der Ansiclit der gelelirten Hellenisten sclion ziemlicb. nahegekomxnen
sein raussten, da dieselben sogar dem Jacopo Peri als naehahmungs-
wtirdig bei der Composition der , ? Dafne" empfohlen werden konnten.
Gleiehzeitig mit der ,,Euridice u hatte Emilio im Februar des Jahres
1600 ein grosseres Werk, ein moraliseh-allegorisclies Drama: DelP
anima e delf corpo", in Eom, in der Kirche della Vdicella, und zwar
in der Betstiibe, welclie den Namen Oratorio fdlirt, auf einer Btiline mit
Scenen nnd Decorationen , durch handelnde Personen, auch mit einge-
webten Tanzen, zur Auffuhrung gebraclit, und damit fur das spatere
Oratorium den ersten Anstoss gegeben 44 ). Der englische Geschicht-
schreiber Burney Bat eine Beschreibung des wunderliclien Sticks ge-
geben : als Einleitung soil ein Madrigal gesungen werden, mit verdoppel-
ten Stimmen, und mit Instnonenten verstarkt, welclie die Singstimmen
mitspielen. Wenn der Vorhang aufgezogen ist, erscheinen zwei Jiing-
liuge, welclie den Prolog recitiren. Sobald diese abgetreten sind, er-
sclieint, als handelnder Gharakter, die Zeit; ihr wird der Ton von den
Instrumenten Mnter der Scene angegeben. Dann ersclieint das Ver-
gntigen und seine Gefalirten, welclie Instrumente in der Hand haben,
um ihren Gesang zu begleiten. Der Korper, welcher nun auftritt, mag
bei Ausstossung besonders charakteristisclier "Worte etwas von seinem
Eleiderputz oder Schmuck von sicli werfen, die goldene Halskette, die
Eedern von dem Hut. Die Welt und das menschliclie Leben sollen
insbesondere bunt und reich gekleidet sein; wenn sie aber nacther von
ihren Hullen entblosst sind, sollen sie armselig und elend erscheinen,
*) In Bezug auf diesen Vorgang bemerkt Sc lie lie, ,,Heue Zeitsclirift' fiir
Musik", Jahrgang 1864, BcL 60, No. 10, S. 79:
)5 In das Bereicii der bodenlosen Sagen gehort ferner die Ableitung des Aus-
drucks Oratorium von dem Betsaale des heil. Neri, Santa Maria in Valicella,
wo man die bekanntea geistlicli dramatischen Yorstellungen w'ahrend der Car-
nevalswoche abhalten lasst. "Wer indess je das dortige Oratorio geselien hat,
dem muss sclion die Eauomliclikeit als solche die Unmoglichkeit derartiger Auf-
fuhrimgen an Ort und Stelle vor die Augen bringen. Dazu erwalmen weder die
Acten der Congregation, noch die weitscMclitige und bis ins kleinste Detail ge-
nende Biographie des neiligen Neri, in dem dortigen Archive befindlich, auch
nur das Geringste, welches zu dieser Annahme berechtigte; vielmehr geht aus
ihnen hervor, dass jene Y orstellungen , wie noch heutigen Tages, in eineni Saale
des dritten Stockwerks vor sich gingen. J2um Ueberfluss ist noch darauf auf-
merksam zu machen, dass der Name Oratorio fiir eine Compositionsgattung nie
in der italienischen Sprache gebrauchlich gewesen ist. Man wird sich daher die
Miihe nehmen miissen, diesen Ausdruck auf andere Weise abzuleiten."
71
i <>jk
endlich gar wie todte Gerippe. Ich glaube, diese Notizen reichen
ans, ura Ihnen eine Anschauung von dem unerquickliehen Cliarakter
des Q-anzen zu geben. Was die Musik betrifft, so 1st das Wichtigste,
class die neuen Kunstmittel darin zur Anwendung gekommen sind.
Gleichzeitig waren diese Werke entstanden, und es ergiebt sicli daraus,
wie die Ehre der Erfindung des neuen Stils den vorhin genannten Mannern
nicht allein beigelegt werden kann. Der neue Musikstil war eine von
der Zeifc, von den inneren Entwicklungsgesetzen der Kunst geforderte
xiufgabe, und wir selien dalier, wie Versuche zur Losung derselben von
Melireren zugleich unternommen warden.
Hiermit sind nun diese grossen, far die Folgezeit so ausserordent-
lich wiclitigen Erfindimgen ins Leben getreten, anfangs Mnsichtlich ihres
kunstlerischen Werthes nicMssagend, in ihren lolgen von unermesslicher
Bedeutung. Das lyrisehe Element gelangt jetzt zur Herrscliaffc, im Gegen-
satz zu dem epischen der Vorzeit; sich auszusprechen, seine Besonder-
lieit, seine besonderen Gemiithszustancle , wird jeijzt die Hauptaafgabe.
Das freie Sicli-ergelien des Subjects, das Vereinzelte der Situation und der
Gegenstande, die Art und Weise, wie das Indmduum in seiner subjec-
tiven Freude , in seinem subjectiven Schmerz sicli aussert , kommt jetzt
zur Herrschaft, und sonait ist das Eingangstlior fur die spateren Jabr-
hunderte eroffnel
Man hat zimi Theil die Beimiliungen jener Manner, die Musik des
griecMsohen Trauerspiels wieder aufleben zu niacben, als eine seltsame
Liebhaberei, als eine Grille, beinalie als eine Thorheit betraclitet, welche
nur zufallig und ganz beilaufig jenes grosse Eesnltat, die 'Erfindung der
Oper, zur Polge hatte; man bat damit die allem Christlichen tiefeinge-
borene Sehnsueht nach Griecbenland , die iim innewohnende Ahnung,
dass es dort seine Erganzung m suclien hat, man hat den Genieblitz
des Jahres 1600 auf musikalischern Gebiet vollig verkannt. G. W. Fink
in seiner ,,Geschichte der Oper" ist es insbesondere , der von dieser
trivialen Anscbauung nicht loszukomnaen vermag, und somit, wie tiber-
haupt in seiner Schriffc, aucli Her die wicbtigsten Gesichtspuncte , die
Erfassung des Princips, sich entgehen lasst. Bin dunkler Instinct, eine
Ahnung , dass der clristlichen bis dahin vorzugsweise auf die Kirche
beschrankten Musik Etwas fehlte, was nur in Griechenland zu erlangen
soi, trieb und leitete jene Manner, welche die Oper erfanden. Derselbe
Geist, welclier alle Erscheinungen des modernen Lebens gestaltete, hat
auf gleiche Weise in der Tonkunst welter bildend und schaffend gewirkt,
und hier durch diese Wendung jenen Gebilden entsprechende GestalteE
hervorgerufen. So wie das Alterthum einseitig seine Befriedigung vor-
75
zugsweise in der Sinnenwelt fand, so huldigte mngekehrt das Christen-
thnm einem einseitigen Spiritualismus , einer Verfliichtigung des Sinn-
lichen, nnd nur erst die Durchdringung beider Seiten zu einem hoheren
Ganzen hat ein Yollkommen Befriedigendes, hat die hochsten Schopfungen
heiTorgemfen. Das Princip der neueren Zeit ist die Ineinsbildnng der
griechischen nnd der friiheren christlichen Weltanschauung. Diese Durch-
dringung beider Seiten ist es, welche in Raphael's Werken bezaubert,
diese Dnrchdringung war es, welche Goethe nach seiner italienischen
Eeise auf den Hohepunct seines Schaffens fuhrte nnd eine vollige Um-
wandlung seines Wesens bewirkte, so dass es ihm schien, als habe er
erst mit dieser Epoche zu leben begonnen. Die politische und sociale
Umgestaltung der Gegenwart ist ebenfalls zum Theil in diesem Sinne
anfznfassen. Anch das moderne Leben strebt noch fortwahrend dahin,
sich durch Elemente des griechischen zu erganz&j, nnd wir werden, be-
vor diese Anfgabe erreieht ist, zn einem befriedigenden Abschlitss nicht
gelangen. Griechenland nun hat genau denselben Einfluss, welchen es
auf die allgemeine geistige Gestalfcmg des Abendlandes erlangt hat,
auf nnsere Musik geaussert; auch unsere Tonkunst ist erst durch grie-
chische Einfliisse, duich die Bemiihungen jener Manner, sich das Wesen
der antiken Musik deutlich zu machen, zu hoherer Eeife gelangt. Wie
in der Malerei durch die Einwirkung der griechischen Scnlptur jene
frllhere Magerkeit der-Gestalten, jene spiritualistische Verfliichtigung
des Leiblichen beseitigt wurde, so dass Eaphael nnd die spateren
M 4er Madonnen und Busserinnen in bltihender Korperftille malen konnten,
und diese tief geistigen Charaktere zngleich durch sinnliche Anniuth
entzticken; wie in der deutschen Poesie, wie bei Goethe erst durch das
Stndium Griechenlands jene Pormlosigkeit und versehwimmende Senti-
mejalifcat in Gotz und Werther, das Wilde und Eegellosa, welches die
Manner der Stiran- und Drang -Periode zeigen, tiberwunden wurcle,
und Vollendung der ausseren Erscheinung, Pracht des Ausdrucks und
Geschlossenheit der Form an deren Stelle trat: so hat auch die Musik
erst durch die Ausbildung der weltlichen Pornien, dui*ch Erfindung des
Eecitativs und der Arie , die jenen griechischen Studien wenigstens mit-
telbar ihre Entstehung danken, Vollendung erlangt. Die Musik der
papstlichen Kapelle im 16. Jahrhundert entspricht jenen vor-Eaphael'-
schen Werken der Malerei, welche clas Leibliche noch nicht vollig zu
seinem Eechte kommen lassen; der durch Erfindung der Oper hervorge-
rufene Eunststil zeigt die bluhende Korperfiille Eaphael'scher Gestalten.
Man hat das anfangs einseitige Atiftreten der grossen weltgeschichtlichen
Principien, ihi*e spatere Yerkntipfung, ihre organische Einigung in ande-
76
ren Gebieten der Wissenschaft und Kunst erkannt. Die Tonkunst allein
erscMen bisher immer als etwas Abgesondertes , welches, in seiner Enfc
wicklung auf sicli beschraukt, nirgends Mn passte, und keinen Theil
an der allgemeinen Bewegung zu haben schion. Ich habe angedeutet,
wie das Princip, welches alien Gestalten abendlanclisclier Kunst zuni
Grande liegt, auch in der Tonkunst sich wirksam erwiesen hat, und
damit den Hauptwendepunct der Geschiclite der Mnsik Mneingelioben
in das Eeicli des allgemeinen Geisteslebens, Bs kam in jener Bpoche
darauf an, das rein Menschliche in seiner Bereclitigung geltend m ma-
chen, dem tiberwiegend Geistigen der Kirchenmusik cine sclione Sinn-
lichkeit gegenflberzustellen, diese im Altertlium zur Erscheinung gekom-
mene Seite fflr die Tonkunst zu erwerben, und es goschah dies durch
die Erfindung der Oper und alles das, was an diese sich knflpft. Der
bis dahin tiberwiegend geistigen Tonkunst die sinnlichc xSeite Mnzuge-
fugt m haben, ist hauptsiiclilich die Bedeutung clen orstou Auftretens
der Oper in Italian. Hierdurdi gelangte zugleich der fortwalirondo Kampf
des Grieehisclien und cles Cbristliclien ich machto sclion in dor er~
sten Vorlesung auf diesen Umsfcand und jawor mit der Bemorkung auf-
merksam, dass derselbo spater nock cine ontsprochondo Wtirdiguug fin-
den werde zu eiuem bofriodigondon AbscliluBRO. Die Autoritat
Grieclienlands und die Beroclitigung , wcleUe soinom Woson iunewohnt,
kam mi- Qeltnng, wcnn auch niclit auf dom vorkohrton Wego der
Wiecleroinftikung seines Tonsystoms, don die Musiker dor ifltostcm 55eit
zu betroten strebten. Friibor hatto Grieclienland das Kmporkohnon dor
cliristliclien Musik nur goliemmt, jotzt war der Mtpuuct gokommen,
wo nicht mehr cine Seito auf Kosten dor ancleron sioh geltend inaclien
konnte, sondern beide, gloicliboroelitigt , in innigor Durclidringung cine
neue Epoche bogriindeton.
Fflnfte Vorlesung,
Zustand der Instrumentalmusik, Fortgang der Oper: Giacobbi. Quagliati.
llonteyerde. Marco de Gagliano. Tonsetzer im Stile Palestrina's: Benevoli
und Bernabei. Spatere Meister: Viadana und Carlssimi; Cavalli und Cesti.
Neapolitanische Scliule: A. Scarlatti. Durante. Leo. Greco. Astorga. Spatere
Tonsetzer: Jomelli. Teradeglias, Pergolese.
Geistreiche Kunstfreunde , Alterthumsforscher , Dilettanten, Sanger
waren die Erflnder der Oper; die Musiker von Each, besassen in Folge
ihrer gesammten Bildung und Richtung nocli keine Einpfanglichkeit fur
die neuen Bestrebungen , welche, so grosses Interesse sie bei der Mebr-
zahl erweckten, von jeneu belaeht wurden. Noch immer bestand die
schon er^valinte Trennung von Kirclieiimusik und weltlicheni Gesang,
die Kluffc zwischen Harmonie und Melodie, Dies hatte einen grossen
Uebelstand zur Folge. Die Dilettanten, weniger eingeengt durch die
Vorurfheile der Schule, vennochten zwar mit grosserer Leichtigkeifc eine
neue Idee zu fassen, aber es fehlten ihnen die hoheren, ktinstlerischen
Erfordernisse , es fehlte ilinen die Gewandtheit in der Handlaabung der
kunstlerisclien Mittel, die naeMialtige Kraft, der Eeiclithum der Brfin-
dung, urn grossere Schopfungen wagen zu konnen, und wir selien dalier
in der nachsten Zeit nacli Erfindung der Oper verlialtnissmassig nur
geringe Fortschritte. Jene Erfinder waren woH faHg gewesen, den ersten
Anstoss zu geben, nicht aber, ilire Schopfung zu hsherer Vollendung
und Gediegenheit fortzufuhren ; die Oper fuhrte im Ganzen ein kflmmer-
liches Dasein und wurde mebx nur durch. aussere Pracht und Glanz
getragen und gestfitzt. Erinnern Sie sicli, dass die ersten "Werke der
neuen Gattung nur aus Eecitativen und Choren bestanden, so erhellt
schon Heraus die Aermlichkeit ihrer Beschaffenheit. Wahrscheinlich,
um dem Vorbilde der antiken Tragodie ganz treu zu bleiben, war darin
arioser Gesang ? den man doch durch Caecini schon kannte, noch ganz
ausgeschlosssen. Auch die Eimichtung des Orchestra entsprach. der
. 78 -.
gesammten musikalisehen Beschaffenheit jener Werke. Unsere heutigen
Instrumente waren zum Tkeil schon erfunden und ausserdem mehrere,
jetzt ausser Anwendung gekommene, nodi vorhanden, aber man wnsste
davon noch keinen Gebraucli zu machen, und die Kunst, die Instru-
mente zu spielen, stand auf der unterston Stufe der Ausbildung. Fur
das in der letzten Yorlesung genannte Oratorimn des Emilio del
Cavaliere wird statt einer Einleitung ein ,,Madrigal" empfohlen mit ver-
doppelten Stiinnieii, und mit Instnunenten verstSrkt; die Instrumente
sollen liinier der Scene aufgestellt warden, und zwar: eine Lira doppia
(eine grosse Art Viola, Viola da gaviba), ein Clavicembalo , ein Cltitar-
rone, zwei Flauti odor Tilie aW antica. ZaUreiclier waren die Instru-
mente, welclie man in Florenz kannte und gebrauclite. Schon bei don
Darstellungen im 16. Jahrhundert warden genannt: Gravkwnlalo, Orga-
netti a varii registri, 3 Trawse, 1 Violone, 4 Trombone, Storte (Kruinm-
Mrner?) und 4 Cornetti (Zinken). Ein oigonor Tart war inclcBS liir sie
niclit geschrieben. Aus etwas spSterer Zeit warden aufgozablt: 2 Gra-
vicembali, 4 Violini, 1 Leuto mezzcino, i Cornetto rnuto, 4 Trwriboni,
2 Flauti diritti, 4 Traverse, 1 Leuto grosso, 1 Sotto Basso di Viola,
i Sopran di Viola, 4 Leuti, i Viola d'awo, 1 Jjiwne, i Traverse
Contralto, 1 Flauto grande Tenore, i Trombone JBasso, 5 Storte, i Stor-
ima, 2 Cornetti or dinar ii, i Cornetto grosso , 1 Dolsaina, Lira,
1 RileccJdno , 2 Tamburi u. s. w. Die Instrumonto liatton mohrere
Tanze, Vor- und Isfaclispiele und Zwiscliensiltzo vorzutrageii ; die Com-
positionen aber waren von den mehrstimmigen Gosangen jonor Zeit
niclit verschieden, fast ganz so beschajffen wie die kleinen Chore, welche
in den Opern vorkominen. Bei diesen Choren wurden die Instru-
mente nur zur Yerstarkung des Tones benutzt, so dass vide derselben
vereint eine Stimme zu spielen batten im Einklange mit den Sangern;
bei den Solos war fitters die Begleitung nicht einmal in Noton vorgo-
schrieben, sondern der eigenen Erfindung, dem Goscbnack und guton
Gelior des Spielers uberlassen. An eine kmistvollore Vertheilung der
Instrumente wurde auch noch niclit im Entfornteston gedacht ; im Gegen-
theil, die Instrnmentalmusik befand sich noch auf der imtersten Stufe
der Ausbildung, und es ist aus jener Zeit hochstons von grossem Unfug,
der mit den Instrumenten getrieben wurde, m borichten.
Bald nach Erfindung der Oper beeiferten sich nun zwar die gros-
sen italienischen Stadte, die Hofe, die Keiclien, dersolbon eine Statfco zn
bereiten und sie bei sich einzuffihren, aber man begniigte sicli, mit Wie-
derholung der vorhandenen Werke, und neuen, iilmlichcn Schopfungen
wurde nicht der Beifall zu Theil, der die fruheron gehoben und go-
79
tragen hatte. So wurde die J} Euridice" des Peri schon im Jahre 1601 zu
Bologna zur Auffuhrung gebracht, die >,Dafae" desselben zu Parrna 1604.
Der nachher noch zu besprecliende Cl audio Monteverde betrat
zunachst die dramatische Laufbahn; er schrieb fur den Hof zu Mantua
im Jahre 1607 die Tragodie ,,0rfeo", im. Jahre 1608 die ,,Arianna" und
die Tanz-Oper ,,12 hallo delle ingrate". Der Bologneser Girolanio
Giacobbi setzte im Jalire 1610 eine Oper Andromeda", und im Jahre
1616 in Gemeinschaft mit dein Bomer Quagliati und dein Florentine!*
Marco da Gagliano die 5 ,Euridice" des Kinuccini, der Letztere in dem-
selben Jahre die ,,Dafne u desselben, sainintlich fur Bologna. Noch im
Jahre 1640 aber wurde die ,,Arianna" des Monteverde in Venedig
wieder auf die Buhne gebracht. Er&i urn die Mitte des Jahrhunderts,
als das musikalische Drama, welches im Ganzen bis dahin doch nur
als eine seltene Erscheinung bei besonders feierlichen Gelegenlieiten,
auf Kosten der Hofe , Eepubliken und reicher Privatleute gehort worden
war, die Lieblingsunterhaltung des grossen Publicums zu werden begann,
durch dessen Beikage die Kosten der Aufflilirung bestritten wurden,
und als nun eigene Gebaude, grosse offentliclae Theater entstanden waren,
erst da wurde mit zunehmender Thatigkeit im lache der Oper gearbeitet,
und von da an waren auch die Fortschritte , welche die di*amatisclie
Musik machte, ausserordentlich schnell. Jetzt erst treffen wir auch den
Namen ,,0per", der weit spater, meirere Jalirzehnte nach Erfindung
derselben, aufgekommen ist, und sich, soviel man weiss, zuerst in einer
1681 erschienenen Schrift vorfindet. Nur wenige bedeutencle Tonsetzer
betraten, wie Sie schon aus den eben gernachten Angaben entnehmen,
die dramatische Laufbahn. Ciaiadio MomteTerde, geb. 1568 zu Cre-
mona, seit 1613 bis zu seinena 1643 erfolgten Tode Kapellmeister an
der MarcusMrche in Venedig, ist zunaehst als Derjenige zu bezeielmen,
der in der eingeschlagenen Eichtung welter fortschritt. Ausser den
schon genannten Werken schiieb er spater noch. die Opera: Proser-
pina rapita" (1630), l*Adone (1639), E ritorno cVUlisse in patria"
(1641) und L'mcoronazione di Poppea" (1642)* Monteverde ver-
guchte mehr Abwecislung , rhythmischen Schwung, Leidenschaft in den
Ausdruck dramatischer Werke m bringen er selbst hat sich in
der Vorrede zu einem 1638 zu Venedig gedruckten Madrigalwerk als
den Erfinder des leidenschaftsvollen Stils in der musikalischen Com-
position bezeichnet , er ordnete und erweiterte das Orchester, so
dass es jetzt nothig war, for jedes Instrument die Noten genau vor-
zuschi'eiben , und suchte es durch eigenthumliche Behandlung der ein-
zelnen Instrurnente zu charakteristischen Wirkungen zu befahigen. Seiu
80
Orclestex bestand aus: 2 Gmvicembali, 2 Contrabassi da Viola 9
10 Viole da Irazzo, 1 Arpa doppia, 2 Violini piccioli alia Francese,
2 Ckitarroni, 2 Or yam di legno , 3 -Sam" da gram&a, 4 Tromloni,
1 jR^aZ 3 2 CvrnM, I Flautino alia vigesima seconda, 1 Clarino und
3 ZWm&e aordiwe. Am bemerkenswerthesten 1st er woM deshalb, well er
neue , yor iim von Niemand gewagte Combinationen in Accorden, beson-
ders ungewohnte Dissonanzen ohne Vorbereitung 211 gebrauchen ange-
fangen , obsclion er deswegen von seinen gelehrfen Kunstgenossen lieftig
angefocliten wurde ; er trug aber dadurch wesentlich dazn bei, die grosse
Umbilrlung in den Mitteln der Tonkunst, welche jetzt begonnen hatte,
dea erweiterfcen Gebraucli derselben, znr Geltung zu bringe%_,^
"^"So wenig ergiebig sich aber auch. die erste Halite des 17. Jahr-
liunderts zeigt, so ist docli diese Zeit, wie aucli sclion ans dem bisher
Gesagten erliellt, far die gesammte Tonkunst von grosster Bedeutung
gewesen; nicht durch das, was wirldicli geleistet wurde, durch. wirkliclie
Eunstschopfungen, wohl aber, indem Mer der Grund zu all den For-
men und Kunstgattungen gelegt wurde, die nock jetzt das Wesen
unserer Musik ausmachen. Ausser der Entstehung des Binzelgesangs,
ausser der Aufnalime der Instiumente, die frulier, wie Sie wissen, von aller
Mlieren, tunstvolleren Musik ganz ausgeschlossen waren, bemerken wir
jetzt znerst eine Scheidung der gesammten Tonkunst in Eaichen-, Kam-
mer- und Tlieatermusik und Ausbildung verscliiedener Stile dafiir. Eine
Menge neuer Formen wurde gescliaffen: die Ausbildung der Instrumen-
talvirtuositat, sowie der h5heren Gesangskunst , endlicb. aucli der naoder-
nen Harmonisimng, der modernen Tonleitern, war eine nothwendige Folge
der neuen. RicMung, und ieli darf Mer niclit unterlassen ausdrticklicli
darauf auftnerksam. zu machen, wie dieser grosse Umschwung in der
Musik der letzten beiden Jahrhunderte lecliglicb. von Italien ausgegangen
ist, und Deutsehland deslialb sehr UnrecM thut, wenn es die Leistun-
gen desselben vergisst und im Besitz aller ScMpferkraft zu sein wahnt.
DentscHands Verdienst ist, das Gegebene weiter entwickelt, zu einer
Holie und Vollendung gesteigert zu haben, wolclie Italien nicM alinte,
Italiens Eulmi aber, erfindend vorangegangen zu sein.
Icli deutete vorhin darauf Mn, wie der Fortgang ia der allmaMclien
Ausbildung der Oper anfangs nur ein sehr langsamor war; Sie werden
benaerkt haben, wie bei diesen fruliesten Versuclien ein Alles gestalten-
der, schopferischer Mittelpunct fehlt. Es werden allerdings Fortscbritte
gemacht, und ini Laufe der Zeit gewinnen die Tonsotzer an Gewandt-
lieit, aber es fehlt docli imnier der tiefere musikalischo Geist, eine um-
fassende Scliopferkraft. Dass dies der Fall, lag in den YerMltnissen,
- 81
hatte in clem dilettantischen Charakter cler ersten Yersuche seinen Grund.
Wo siiul demnaeh, entsteht jetzt die Frage, die Krafte zu suchen, welcho
die classisehe Zeit dieser * zweiten Periode der italienisehen Musik , das
goldene Zeitalter der Oper, sowie die neue Bluthe der Kirchenmusik
lierYorgemfen haben? In Eom bestand die alte strenge ScMe des
Kirchenstils , und YOU den Tonsetzem dieser Kichtung war kerne Bin-
wirkung auf die neuen Bestrebungen zu erwarten. Das war auch keines-
wegs der Fall; im Gegentheil, diese Schule hat sich, unberiihrt von den
Bewegungen der Zeit mid den Sttirmen derselben trotzend, bis lierab
auf die Gegenwart in urspriinglieher Gestalt erhalten, so dass aus alien
Epoelien hervorragende Tonsetzer jenes Stils zu nennen sind. leli gedenke
Mar im YorQbergehen des Orazio Benevoli, der seit dem Jabre 1050
das Eapellmeisteramt bei St. Peter im Yatikan inue hatte, und eines
SehSIers desselben, des Giuseppe Bernabei, der 1672 seinem Lehrer
in dieser Stellung folgte. Beide waren ausgezeichnet durcli ihre gros-
sen, melirchorigen, oft 16- bis 24stinimigen Mrchlichen Wevke. Das
Nene aber hatte nach und nach inuner grOssere Yerbreitung gefunden
und sich zu der Anerkennung seiner Berechtigung durcligekampft. So
manehe der schuImSssig gebildeten Musiker, welch e anfangs dem welt-
lichen Treiben feme gestanden hatten, konnten sich den Einfllissen des-
selben nicht mehr entziehen; die hoher Begabten unter ihnen mussten
die grosse Zukunft, welche in jenen lonnen der weltlichen Musik lag,
ahnen. Dort ist demnach der eigentliche schopferische Mittelpunct zu
suchen, wo Altes und Neues in schonster Hannonie sich zu vereinigen
begann; von dem Zeitpunct an, wo die griuidlich gebildeten Musiker
die neuen Ponnen aufnahinen, durch ihre lumst adelten und yervoll-
kommneten, datirt der hohere Aufschwung. Jetzt wurden die neuen
Kimstmittel imtl Pormen auch in die Earche aufgenomnien und erhielten
hier ihre Weihe; yon dort aus vermochten sie ruckwirkend die Oper zu
hoherer Yollkommenheit zu bringen, so wie sie selbstrerstandlich auch
auf die ESrehenmusik ihren Einfiuss ausserten, diese mngestalteten, ins-
besondere die Tonsetzer nothigten, von den alten Tonarten abzugehen
und Inskumentalbegleitung aufzunelnnen.
Manner, welche nie eine Oper geschrieben haben, waren daher im
weiteren Verlauf kraftigere Forderer derselben, als diejenigen, welche sich
anfangs ausschliesslich dem neuen Kunstzweige gewidmet hatten. Hier
ist eg Yorzliglich ein Name, der unsere Aufmerksamkeit fesselt, der des
Gfiacomo Carissimi, Kapellmeisters an der Kirche S. Apollinare zu
Eom. Zuvor gedenke ich noch des ludorico Yiadana, der ebenfalls
hier eine Erwahnung verdient. Er war uin die Mitte der 90er Jahre des
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16. Jahrhitnderts cler Erfinder cler Kirchenconcerte , teiner (Jonipositions-
gattung T in welclier er, gegenfiber dem bisherigen haufigen, zu aller-
lei Unzutraglichkeiten fohrenden Qebrauohe, ein-, zwei- oder dreistim-
mige Gesangstiicke Bait Orgelbegleitung dutch Auswahl der betreffen-
den Anzahl von Stimmen ans fiinf-, sechs-, sieben- oder mehrstimraigen
Tonsatzen herzustellen, auf die Erfindung selbststandiger , melodisch frei
gefuhi'ter Cantilenen ausging. Zur Yervollstandigung der Harmonie
diente eiu durchgehender Instrumental- oder Orgelbass, der -Basso conti-
nue } auch Bassus c/eneralis, Generalbass genannt. (Erfinder der Be-
ziffernng war Via dan a keineswegs; dieselbe war schon vor ilnn
gebrauclilicli ; eigentMimlicli ist ilim nur die Art und Weise der An-
wendiing des Instrumentalbasses.) Das Bemerkenswertheste in Via-
d ana's Bestrebungen , weslialb er Mer genannt zu werden verdient,
ist, dass in seinen Werken zura ersten Male eigentliche Melodie
wahrzunehmen ist. Yiadana's Melodien sind for sich frei und selbst-
standig erfunden, niclit Eesultafc cler harmonisclion Combination. So
gewakren Trir bald Iiier bald dorfc vereinzelt die Materialien, welche
die spateren Meister zu einem Ganzen zusammenzufassen liatten.
Yon noch -weit grosserer Bedeutung far die lioliere kunstlerisdie
Ausbildung der neuen Formen war der vorliin genannte Carissimi,
der es sich zur Hauptaufgabe seines Lebens gemaclit hatte, die neue,
Tom Contrapunctischen and Strengen abgeliende, nacli Wort- und Situa-
tionsausdruck strebende Sclreibart hclieren kfinstlerischen Anforderungen
entsprecliend zu gestalten. Man bezeichnet ihn als den Erfinder der
Eamnier-Cantate, einer Compositionsgattung , in welclier dramatiscliCL.
Eecitation und dramatisclie Melodie wie in der Oper einMimiscli sind,
von deren Fornien sie sich nur wenig untersclaeidet. Ebenso wird er
als der erste Verbesserer des Recitativs betrachtet, wie man ilnn auch
die erste Ausbildung der clraniatiscken Melodie, welche nacli dem Muster
seiner Cantaten auf die Oper iibertragen werden konnte, zuschreibt.
Die Inskurnente benutzte er, einer der Ersten, in seinen Cantaten beson-
ders zu EitorneUen und Zwiscliensatzen. Hatte bis^auf ihn das Madrigal
in hauslichen Kreisen fast uniunschrankt geherrscht und die einzige
Unterhalttoig der Dilettanten gebUdet, so verdriingte Carissimi jetet
durch seine Cantaten diese Qattung. Da er der ausgesprochenste Lieb-
ling seiner Zeit war, so tiberbot man sich bald in seinem Lobe uud
gewohnte sich daran, den yon ihm geschaffenen Kunststil auch ffir die
Kii*che YortreffHch zu finden. So ist dieser Ktinstler eine hochst beclou-
tende Erscheinung in der Geschichte, Derjenige, in welchem sic\ mm
ersten Male Altes und Neues yortrefflich vereinigt findet, und der daram
auch gleieh sehr auf Theater und Kirclie elnwirkte. Ir war geboren
urn das Jalir 1600, stand voin Jahre 1635 ab auf dern Hohepunct seiner
Wirksanikeit und 1st um 1680 in hohena Alter gestorben. Eochlitzin
deni frulier erwalinten Geschichtswerke theilt Proben axis seineni Oratoriuin
Jephtha" mit, welche in der That als sehr vorzuglich bezeichnet werden
roussen, so dass man noch gegenwartig auf dieselben mit Interesse ein-
gehen kann. In dieselbe Zeit fallt auch der neuerdings durch die Oper
gleichen Namens wiecler bekannt gewordene Neapolitaner Alessandro
Stradella, einer der tuchtigsten Meister dieser Zeit, dessen romanhafte
LebensscHcksale Stoff zu jener Oper gaben.
Am frtihesten gedieh die Oper in Yenedig, wo schon vona Jahre
1637 an unausgesetzt Aufftihrungen stattfanden. Kiesewetter zahlt
in der Zeit von da bis zum Jahre 1700, also in dera Zeitraum von
64 Jahren, nicht weniger als 357 Opern/ welche yon ungefahr 40 Ton-
setzern daselbst zur Auffiilirung kainen. Auch Bologna stand nicht sehr
ztiruck, wenn daselbst seit 1641 bis 1700 30 Tonsetzer genannt werden.
In den 1640 er bis 60 er Jahren sind insbesondere die Opern des Car alii
und Cesti zu nennen; Kiesewetter bemerkt daruber: das Eeeitativ
fangt an, sich clem naturlichen Accent der Declamation zu nahern, und
erlaubt sich sehon einige Modulation in der begleitenden Harmonie. Die
Arie, wenn man ihr diese Benennung schon beilegen will, da sie haufig
noch mit dera Eeeitativ znsainmenfliesst, enthalt wirklich schon eine an-
genehnie, ausdrucksvolle Cantilene, und es kommen sogar, und nicht
selten, auch Coloraturen, in der Art jener spater entstandenen Bravour-
Arie, zum Vorschein. Die Begleitung besteht in einem blossen Basso
continuo; was wir Eitornell nennen, findet sich (mit Violinen) am
Schlusse der Arie, oder in Zwischensatzen. Chore konmien selten, und
dann am Schlusse der Aete vor. Yon dieser Beschaffenheit war die
Oper und auch das Oratoriuin. Auch die Cantate ging mit der Oper
gleichen Schritt ; sie war in Privatcirkeln sehr^jMiiv' Lm i-fifig, allmiih-
lich an, das Madrigal zu verdrangen. /In der Erchenmusik trat dem
Palestrina-Stil die neue Schreibart als eine zweite, berechtigte ent-
gegen. Mit dieser fing man zugleich an, auch den Bogeninstrumenten
in der Kirche Eingang zu gestatten, wahrencl man frtiher, wie erwahnt,
nur Zinken und Posaunen zur Yerstarkung des Chores zugelassen hat^
Wie gross aber auch das Yerzeichniss der Operncomponisten des 17.
Jahrhunderts sich darstellt, so sind doch von den rneisten nicht mehr
als Namen und Titel auf uns gekommen, und nur wenige Bibliotheken,
wie die Wiener, sind so glticldich, Sammlungen zu besiteen, da es sich
die Tonsetzer zur Ehre rechneten, den kunstsinnigen Kaisern ihre "Werte
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in piiehtigen Exemplaren zu iiberseiiden. Die Seltenlieit der friiheren
Opern erklart sich, wenn rnan bedenkt, dass Bait Ansnalmie der ersten
Schopftingen dieser Gattung, welehe durcli den Eeiz der Neuheit an-
zogen, nur wenige gedruckt warden. Aehnliehes Schicksal hatten in
Italien auch die Oratorien, deren Erseheinimg fast nodi mehr local und
vorflbergeliend blieb. Zu grosserer Eeife aber, ich wiederliole es, ist die
neue Kunst nun sclion gediehen, raid Kiesewetter bemerkt, dass
Schunheiten sich vorfinden, die nocli jetzt den Beifall, oft die Bewunderung
des Kenners gewinnen wiinlen. Die erste Halfte des 17. Jalirliunderts
enthalt die Entstehung tmd allmaliliclie Ausbildung des nenen Stils,
unserer heutigen Musit. Erst in der zweiten Halfte dcsselben zeigeu
sicli befriedigendere Eesultate, und erst zu Ende und iin folgenden Jalir-
hundert erstieg die italienische Musik tier sclionen Periode ihre grosste
Holie, und crreicMe eine Stufe der Ausbildung und Vollendung, die im
16. Jahrhundert nocli nicbt gealint wurcle.
Nach solchen Leistongen, naeh so viel gegebenen Mitteln konnte
es nicM fehlen, dass ein neuer grosser Aufscliwung erfolgte, dass jetzt
ein zweiter grosser, alle bislierigeh Bestrebungen einonder Mittelpunct,
eine Schule sicli bildete, weldae die Epoclie des sclionen Stils reprii-
sentirt. Alle Anzeichen verktincleten nun jene grosse Zeit Italiens, in
welcher die reiclistbegabten Manner so zahlreicli, wie nie vordem und
nachher, neben einander wirkten, jene Zeit, in welcher sich Italien einer
iinbesehrankten musikalischen Herrschaft fiber ganz Europa erfreute.
Neap el wird der Mittelpunct ffir diese neue Ktmstrichtung, die neapo-
litanisclie die zweite grosse Schule Ttaliens.
Uier ist es zunachst der grosse, vielseitig gebildote, in alien musi-
kalischen Gattungen thatige und bahnbrechende Alessandro Scar-
latti, der uns entgegentritt, ein Ktinstler, gleich ausgozeiclinot in seiner
Thatigkeit far die Kirche, wie fur das Theater, der Grander der nea-
politanischen Schule, jener musikalischen Bildungsanstalt, aus der die
vorzuglichsten Meister der naclifolgenden Zeit liervorgegangen sincl.
Scarlatti war geboren zu Neapel, nach anderen Angaben in Sicilien,
im Jahre 1650. Der ausserordentliche Euf, clessen sicli der Eomer
Car is si mi erfreute, hatte den Jiingling, der vor Verlangen gluhte,
sich unter diesexn Meister auszubilden, nach Eora gefuhrt. Er gewann
bald die Gunst Carissimi's, so dass dieser ihm die sorgfaltigste
Leitung angedeihen liess, und Scarlatti hier den Grund zu seiner nach-
roaligen so herrlichen Eunstbildimg legen konnte. Spater begab er sich
auf Eeisen, besuchte alle grosseren Theater Italiens, waadte sich nach
Deutsehland, Melt sich l&ngere Zeit in Mtinchen und Wien auf, wo seine
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ersten Opern und Kirchensachen ungemeinen Beifall fanden, und liess
sicli endlich, mit Erfahrungen und Kenntnissen ausgerfistet, wie selten
ein Kiinstler, in Neapel nieder, wo er als Oberkapellnieister angestellt
wurde, und sich der Bildung der talentreichsten Schiller bis an seinen
Tod im Jahre 1725 widmete. Dass Scarlatti auf der von Carissimi
gebrochenen Balm weitergehen musste, ist sclion aus seinem Yerhaltniss
zu diesem Meister zu entnehnien. Scarlatti liat in der That zuerst
vollendet nnd auf das Theater (ibertragen, was Carissimi begonnen
hatte. Beide Meister bezeichnen die Morgenrotlie des glanzenden Tages,
den die naclifolgenden lierrliclien Kiinstler herauffuhrten. Gleich selir
befahigt fur die alte, strenge Schreibart, wie fur das dramatische Eecitativ,
die Erfindung von Melodien und die Instriimentalmusik, wendete er doch
liauptsachlici. dein modernen Stil seine Tliatigkeit, seine scliopferisclien
Krafte zu, in der Ueberzeugung, class auf der Ausbildung der neuen
Fonnen hauptsaehlicli alles fernere Gedeihen und Emporbltilien der
musikalisclien Eunst benihen werde. In kirchliclien Werken allein
inaclite er, nainentlicli in spaterer Zeit, eine Ansnabne. Hier gebrauclite
er die Instrumente, in frfiherer Zeit nur ausserst massig, in spaterer
Zeit gar nicht. Hier naliert er sich in seinem Stil der friiheren grossen
Ku'chemmisik, Her erscheint er zuweilen fast den Niederlandern ver-
wandt. Abgesehen aber von diesein bestimmten Zweck, liuldigte er
vollstanclig dem ISFeuen. Beinahe in jecler der musikalisclien Gattungen
Reformator, gelang es ikn zunachst, das Eecitativ immer mehr auszu-
bilden und Wahrheit des Ausdrucks darin zu enreichen, gelang es ilnn
insbesondere, das Kecitativ und das Arioso zu scheiden, die Arie zu einer
selbststandigen Kunstfonn zu erheben, und derselben eine Gestalt zu
verleihen, die^sicli fast ein ganzes Jahrhimdert hindurch, bisauf Gluck,
erhalten hat. ; Die Form der Arie, wonacli dieselbe aus zwei Theilen uud
einem Dacapo des ersten besteht, pragte er entschiedener aus. Er war es,
der die Instramentalbegleitung zu grosserer Eigenthiimliclikeit und Selbst-
stanctigkeit emporhob, den Gebrauch der Bogeninstruniente erweiterte,
wie er denn iiberhaupt als der Erfinder des jjegleiteten, des obligaten
Eecitativs angesehen wird. ^Er^gab der- Opern-Ouverture eine bestiinmte
Form, wonach dieselbe im Gegensatz zu der damaligen franzosischen,
dm*ch Lully festgestellten Ouverture, bei welcher zwei langsame Theile
ein Allegro umschliessen, aus zwei durch ein Grave unterbrochenen
j4/%fo-Satzen besteht. Scarlatti ist bahnbrechendes Genie. 'Die
geschichtliche Stdllung, in welche er eintrat, hat ihm nicht gestattet,
das Hochste des neuen Stils zu erreichen; erst seine grossen Schuler
haben die KriLnze errungen, zu deren Gewinnung er die Bahn eroffnet
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hatte. Er 1st in cler gesehichtlichen Kette als dasjenige Glied zu be-
zeichnen, welches die alte Zeit mit der neuen verbindet. Dass ein soldier
Umschwung, wie ihn Scarlatti fast in alien musikalischen Gebieten
bewirkte, den erstannliclisten Fleiss voraussetzte, ist kaum nothig zu
bemerken. Er hat liber 100 Opera, 200 Messen, fast ebensoviel Mo-
tetten, nielirere Oratories, gegen 500 Cantaten geschrieben. Von den
letzteren besass der englische Gesehichtschreiber Burney 35, welclie
Scarlatti wahrend eines Besuchs bei einem seiner Freunde zu Tivoli
in der Zeit vom October 1704 bis zum Marz 1705 componirt hat.
Ueber jeder Cantate ist Tag und Dauer cler Arbeit bemerkt, und es gelit
daraus hervor, dass er nicht langer als einen Tag an einem solclien
"Werke gearbeitet hat, Audi als Lehrer war er becleutend; mehrere der
mm folgenden Meister waren umnittelbar seine Schuler, auch der Dresdner
Kapellmeister Hasse, welcher in ihm seinen vaterlichen Freund und
"Wohlthater yerehrte. Kochlitz rlihmt Scarlatti's Selbstbeherr-
sdiung und Massigung seinen Schulern gegentiber. Weun (lessen un-
geachtet MissTerhaltnisse mit einem der bedeutendsten derselben entstanden,
so lag der Grund weniger in dem Benehmen beider Manner, als vielniehr
in den Zeitverhaltnissen, in der Stimmung des Pubficiuns, welches die
entschiedenen Vertreter des Neuen einem Manne des Ueberganges gegen-
fiber bevorzugen mnsste. Der Mann, welcher Scarlatti's spatere
lebensjakre trflbte, war Francesco Durante, derjenige, dem Scarlatti
eine allzugrosse Hinneigung zmn Neuen Schuld gab, indein derselbe die
Mrchliche Strenge milderte (lurch schone Weltlichlreit, und so gleichzeitig
mit ihm verwandten Meistern den Sieg des neuen Stils auch ftir die
Kirche entschied. Durante, nm Vieles jtinger, war bald der vergotterte
liebling der Italiener. Das Publicum begrusste in spateren Jahren
Scarlatti mit kaltem Eespect, Jenen mit ungeniessenem Jubel. Scar-
latti zog sich jetzt vom Hofe und vom Publicuin moglichst zunick,
und soil sich, nacli der Ansicht yon Kochlitz, zuletzt einer grtiblerisch-
injstischen Eeligiositat und trfiben Ascetik hingegeben haben, wahrend
er frulier ein heiterer, l^bensfroher, weltgebildeter Mann war. Durante
ist geboren zu Fratta maggiore im Konigreich Neapel, nach der Angabe
Schmid's in der Schrift: W 0hr. "W. von Gluck, dessen Leben u. s. w.",
im Jahre 1684, und 1755 im 71. Jahre seines ruhnivollen Lobens gestorben.
Schon als Knabe trat er in (las Conservatorium S. Onofrio, die Bildungs-
anstalt ein, Welch er er spater als Director vorstand, und die er zur
bertihintesten und einflussreichsten der Welt machte. Der neue Musik-
stil war tier schon der herrschende, so dass er unter den Einfliissen
desselben heranwuchs. Spater studirte er in Eom tmd machto sich hier
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mit der fruheren kirchlichen Eunst vertraut. Er blieb indess dem,
wozu friihe Gewohnung ilm gefuhrt hatte, treu, und Hess sich es ange-
legen sein, sobald er nach Veiiauf einiger Jalire zuriickgekehrt war und
in ISTeapel eine feste Stellung erworben hatte, seine Bichtung durch
zahlreiche eigene "Werke und sorgsam angeleitete Schiller zu verbreiten.
Merkwtirdig indess ist, dass er bei aller Hingebung an das Neue doch
nicht for die Oper gearbeitet hat. N"eben Durante wirkte der
zweite grosse luinstler dieser Scliule, Leonardo leo, geboren im
Jalire 1694, gestorben im Jahre 1742, naji einer anderen Angabe 1746.
Er war Director der soeben erwahnten niusikalischen Bildungsanstalt
und yerwaltete dieses Amt bis an seinen Tod. ttm folgte Durante,
der bis dahin neben ihm thatig gewesen war. Bin Schiller Scarlatti's,
wurde auch er, wie Durante, diesem im. Mrdiliclien Stile untreu, und
widmete sicli vollstandig der neuen Schreibart. An Eeichthunx ange-
neliiner, gesangreiclier Melodien ist er von Keinem zu seiner Zeit fiber-
troffen worden. Pliessender far alle Stimmen und einer jeden ange-
messener, benierkt Eochlitz, vermag man gar nicht zu schreiben.
Wer dies lernen will, kann es von Keinem besser, als von ihm. N au-
ra a nn nainentlicli liat ilin sicli zuni Muster genommen und seinen
sclionen Gesang durch diesen Meister gebildet. Keicliardt sagt:
Keiner hat so allgemein auf sein Jahrhundert gewirkt, als Leo. In
seinen Werkeu findet man alle Foraen, welclie unsere Tonkunstler
bis jetzt bearbeitet haben. ""Piccini aber, derbekannte Operncomponist
und Gegner G luck's in Paris, schreibt: Leo lib ertraf alle Meister, und
kann, weil er alle Arten von Musik in sicli vereinigt, mit Eeclit fur den
grossten tmter ihnen gelialten werden. Durante hat, wie bemerkfc, nie
fur das Theater gearbeitet; Leo dagegen ist selir tliatig fur dasselbe
gewesen und schrieb auch schon koniische Opern, obschon dieselben
mehr Parodien der ernsten Oper, auch im Stil der Musik, genannt werden
miissen. Durch die genannten Manner, sowie durch einen anderen
Schiller Scarlatti's, Gaetano Greco (geb. 1680), der denselben noch
beizuzahlen ist, erreichte die italienische Musik der zweiten Epoche ihre
grosste Hohe. In alien harmonischen und contrapunctigchen Keimtnissen,
in der Achtung der alten Kunst erzogen, vennochten diese Tonsetzer
nicht nui" uber die gesanimten Errungenschaften der damaligen Tonkunst
zu gebieten, sondern sie brachten nun noch jene neuen Hulfsmittel in
Anwendung, welche sich ihnen in dem Kunstgesang und der allmahlich
entwickelten Instrumentalvrrtuositat darboten. Sie stelien darum in der
Mitte zwischen der alten Strenge und der spateren Sentimentalitat, Zer-
fahrenheit, Haltungslosigkeit, Leidenschaftlichkeit, clen Gipfelpunct be-
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zeichnend. Die fhihere Herblieit ist zu sckoner Milde verklart, der spatere
Leichtsinn nocli durcli Ernst und Gediegenheit ferngehalten, iind wir sehen
hier das Ideal italienischer Tonkunsfc verwirHicht. Plastische Schonheit,
Ebemnaass, arcliltektonisclier Verstand in der Gruppirung, uberall ein
feiner Sinn fur das reclite Maass, Grazie, der schonste, fliessendste, sicli
einsckmeichelnde Gesang. Die wesentliche Verbesserung , welche aus
der neapolitanischen Schule hervorging, sagt Kiesewetter, bestand in
der Regelung des rhetorisclien Theiles der Melodie und der besseren
Gestaltung der Arie. Die Biythinopoie insbesondere war bisher noch
wenig geordnet, die musikalische Phrase, als Glied einer musikaKsclien
Periode gedaclit, war gewohnlich zu kurz, claher die Cadenzen zu haufig
und ausser dem Ebeninaasse; die Arie selbst war zu kurz, dalier zu
scbnell rortibergeliencL Die neueren Neapolitaner, indem sie die Phrase
sowolil als die Arie selbst verlangerten, sclieinen zugleich den Plan zu
deren Eeforni von der Baukunst entnonunen zu haben, in welcher niclit
bios Schonheit der Umrisse und der Formen jedes einzelnen Theiles,
sondern auch Symnaetrie in der Stellung der auf einander beziiglichen
einzelnen Theile nothwendig gefordert wircL Die schon vorhin erw;^ite
Gestalt der Arie erlangte jetzt ihre eigentliche Ausbildung^^icbt %s_c!ie-
welche nur noch ein kunsthistorisehes Interesse beafispruchen konnen,
dili'fen Sie daher yon diesen Meistern erwarten, sie haben, wie Pale-
strina in der ersten Epoche, so nun in der zweiten das Hochste und
Herrlichste geleistet, was die gesamnite Tonkungt auf deni Gebiet der
katholischen Eirchenmusik zu nennen weiss. Leicler sind tins nur wenige
Werke zuganglich. Auf eine wenig kostspielige Ausgabe in sechs Heften
(Halle, Kumrnel), welche Conipositionen von Leo, Durante, deni nach-
her zu erwahnenden Astorga, im Clavierauszug enthalt, mache ich
aufmerksam. Unter diesen Werken ist insbesondere die Litanei von
Durante ausgezeichnet durch die eben genannten Eigenschaften. Von
Leo besitzen wir ein grosses aclitstimmiges Miserere im alteren Stil;
es gehort zu clem Vortrefflichsten , was die italienische Kirchenmusik
besitzt. Heinse in seiner ,,Hildegard von Hohenthal" hat davon eine
ausfiilirliche Beschreibung gegeben.
Anders gestaltet sich freilich das TJrfcheil, wenn wir die Opern jener
Manner, so z. B. Leo's,* betrachten. Bedarf es zwar nicht erst der
Versicherung, dass hier die fruhere Kargheit, Steifheit vollstandig tiber-
wunden ist, so bestatigt es sich doch zugleich, dass noch. damals immer
nur die Elrchenmusik das Bleibende ; unwandelbar Feststeliende, Unsterb-
liche entlialt. Dieselben Manner, welche gross auf kirchlichein Gebiet
gewesen sind, erscheinen weniger bedeutend, erscheinen veraltet in welt-
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lichen Schopfungen. Man traut semen Augen kaiim, wenn man cliese
langen, diirftig begleiteten Eecitative und Sopranarien betrachtet, welclie
selten von einem kleinen Chore unterbroclien werden. Grossere, ausge-
breitetere Musikstucke, insbesondere Finales, fehlen noeh ganz. Von
Anfang~bis zu Ende zeigt sich nur eine langweilige Folge von Alien
und Eecitativen. Dass sicli im Einzelnen grosse Schonheiten finden, ist
clamit niclit in Abrede gestellt. Im Ganzen aber ist die weltliche Musik,
ist die Oper als Kunstschopfung noch ausserordentlicli weit von clem
Ziele, welches sie spater, welches sie namentlieh in Deutschland er-
reichte, entfernt. Schwach erscheint insbesondere die Instramentalnmsik,
welche wir in der That hier noch auf der untersten Stufe der Entwick-
lung erblicken, obschon im Orchester den Bogeninstriunenten, welche
bis dahin fast allein geherrscht hatten, Hoboen nnd Horner, aueh wol
Floten, Fagotte und Trompeten bleibend beigesellt sind. Ich kann
nicht umhin, in diesem Zusammenhange noch eines Kunstlers zu ge-
denken, dessen Andenken erst Fi\ Eochlitz wieder erneut hat: es ist
dies Emanuele d'Astorga* Eochlitz hat mit besonderer Liebe ge-
rade dieses vergessenen Ktinstlers sich angenommen und die interessante
Biographie desselben ausfiihrlicher mitgetheilt, Uebersck*eite ich nun
auch in der Wiederholung des Wichtigsten daraus das mir gesteckte
Haass der Ausfiihrlichkeit, so glaube ich cloch darnit Hre Aufmerksam-
keit zu fesseln, insbesondere da der Genannte als der Ersten Einer be-
zeichnet werden muss. Em. d'Astorga war der Sohn eines der an-
gesehensten sicilianischen Eeichsbarone , der abwechselnd in Palermo
und auf seinen Besitzungen gelebt zu haben scheint. Hier wurde E m a-
nuel im Jahre 1681 geboren. Der Tater, ein kiihner, rauher Eriegs-
mann, stand auf bedeutendein Posten in Kriegsdiensten. In dem nach
clem Aussterben des spanischen Konigshauses, dem Neapel und Sicilien
als eine Nebenprovinz unterworfen war, ansgebrochenen spanischen Erb-
folgekriege, und den mannigfachen Parteiungen des sicilianischen Adels
in Folge dieses Krieges, trat er auf als Kampfer gegen die Monarchic,
als Hauptling eines jener wiisten, in der alteren italienischen Geschichte
oft vorkommenden Soldatenhaufen, welche den Erieg als ein Handwerk
trieben und dem Meistbietenden folgten, Der Sohn Emanuel scheint
der Erziehung cler Mutter tibeiiassen gewesen zu sein, und dies kann
vorzuglich als Ursache betrachtet werden, dass sich in ihm, bei feurigem
Geiste, ein ungemein zarter und frommer Sinn frith ausbildete. Der
Vater Emanuel's war in die Verschworung des sicilianischen Adels
verwickelt. Verwegen und trotzig alle Versohnungsmittel verschmahend,
woUte er kampfend fallen. Aber er ward von seinen eigenen Soldaten
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deren Forderungen er nicht mehr befriedigen konnte, verrathen, ausge-
liefert, und, urn die Anderen durch Schreek niederzuhalten, zu Anfang
des 18. Jahrhunderts in Neapel offentlich hingerichtet. Mutter und
Sohn wurden verurtheilt, dabei gegenwartig zu sein. Die Mutter starb
unter Zuckungen des Entsetzens, der Sohn verfiel in einen Zustand
dumpfer Bewusstlosigkeit ; die Grfitei der Familie warden confiscirt, alle
Glieder derselben verbannt. Nur Emanuel war nicht von deni Orte
zu entfernen, wo er Vater und Mutter nnter so grasslichen VerMltnissen
hatfce verscheiden sehen. Das Yolk erbannte sieh seiner, beschfitzte und
versorgte ihn. Endlich wurde er auf Veranlassung einer Prinzessin
Drsini, der Oberhofmeisterin der Eonigin der Gemahlin Philipp's V.
entfernt und in ein spanisches Kloster zu Astorga, einer Mittelstadt
des EMgreichs Leon, gebracht. Ton dieser Stadt hat Emanuel, statt
des geachteten. den Narrten Astorga angenommen. Dort, in Idoster-
licher Einsamkeit, war er so glitcklich, von seiner Geisteszerruttung, von
dem dumpfen Braten, in das er versunken war, geheilt zu werden
und einen Lehrer der Tonkunst zu finden, der die jedenfalls schon friili
bedeutend ausgebildeten musikalischen Fahigfceiten des ScMlers weiter
entwickelte und zur Meisterschaffc steigerte. So beruliigt, wieder ge-
nesen, gelioben als Mensch und Ktinstler, trat Astorga nach einigen
Jahren wieder in die Welt. Er begegnet uns zunaclist am Hofe des
Herzogs Franz von Parma, wo er, jedoch nicht in fester Stellung,
die Kaimnemiusik geleitefc zu haben sclieint, und sich hochst tliatig im
Componiren zeigte. Eine Menge kleiner Cantaten und Duette fur Sopran
und Tenor (der Katalog des bertihmten Sammlers Santini in Eom zeigt
nicht weniger als 44 Cantaten fur eine Stimme und 44 Duette)
danken diesem Aufenthalte ihre Bntstehung. Sie waren fur seine Scliu-
lerin, die Herzogin, und ihn selbst gesehrieben. Der Herzog durchschaute
bald das zarte Verhaltniss, das gemeinschaftliche Kunstiibung zwischen
Beiden hervorgerufen hatte, entfernte ihn vom Hofe und sendete ihn,
jedoch liebreich und forsorgend, mit Empfehlungen, der Eochlitz'schen
Angabe nach, an den Kaiser Leopold L nach Wien. Es ist indess
wahrscheinlicher, dass dieser Kaiser zu jener Zeit schon gestorben war
und Astorga von Joseph I. (im Jahre 1705) empfangen wurde. Nur
kiu^ze Zeit dauerte dieser Aufenthalt. Astorga verliess Wien, wenn
auch nicht fur inrnier, da er es im Jahre 1720 wieder besuchte und zu
Kaiser Carl VI. in Beziehungen stand. Im Laufe der naehsten Jahre
erblicken wir ihn in den meisten Hauptstadten Europas und an mehreren
Hofen, in Lissabon, Madrid, Paris, London, iiberall willkommen und aus
gezeichnet, Auch Italien besuchte er wieder, ntir Neapel verrnied er
lebenslang, Eine Pension, welclie man ihm auszahlen liess, setzte ihn
in den Stand, cliese Eeisen zu unternehmen. Endlich ersclieint er in
Prag, und jetzt verschwindet er fur iminer aus unseren Blieken. Wahr-
sclieinlicli, bemerkt Eoclilitz, dass* er in Bohinen das fand, dessen er
bedurfte: friedliche, in seiner Weise religiose, in seiner Kunst ausge-
zeichnete Menschen, und class er darum hier in klosterlicher Zuruck-
gezogenheit seine Tage beschloss. Er war gewohnt, in seinem Beneh-
nien eine gewisse "Wltrde und ;Ziirfiekhaltung zu behattpten; man will
nie ein unedles, unfeines Wort von ihm vernommen haben. Wie er
seine Oornpositionen nur handschriftlich mittheilte, so sang er sie auch,
sicli selbst auf clem Clavier begleitencl, nur ansgewahlten Cirkeln vor.
Eoclilitz erinnert rnitEecht an Goethe's 5 ,Tasso". Astorga'sLebens-
verhaltnisse haben Aehnlichkeit mit denen Tasso's, wie sie namlicli cler
Dichter darstellt. Auch seine Compositionen tragen dieses Geprage, und
sind vielleieht mit Goethe's Tasso zu vergleichen, was das Feine, Ge-
messene, die aristobatische Farbung cles Ganzen bei grSsster Tiefe und
Warme der Empfindung betrifft. Sein uns l)ekanntes Hauptwerk ist ein
Stalat mater", welches ebenfalls, wie schon erwahnt, in cler vorliin ge-
nannten, in Halle herausgegebenen Saninilung erschienen ist; Bnich-
stucke claraus theilt auch Fr. Eochlitz mit; von tiefsteni Ansdruck
clurchdrungen erscheint darin namentlich ein Terzett: ,,0 quam tristis"
etc. Eine Oper 55 Dafne" hat Astorga 1709 fur Barcelona geschrieben.
Es soil dieselbe noch im Jahre 1726 zu Breslau wiecler aufgefuhrt wor-
clen sein.
Frtiher hatte die moglichste Pracht der Decorationen und der Auf-
ziige in der Oper den hauptsachlichsten Eeiz gebildet. Die Maschinisten
waren die Ersten im Eeiche der Oper, die Tanzer folgten, die Poesie
nrasste sich vorziiglich an die Mythe halten, well diese dem Mensch-
lichen und cler naturgetreuen Schilderung desselben am weitesten entfernt
stand und die grosste Buntheit erlaubte. Augenlust herrschte tiberwie-
gend, die Musik war unbedeutencL Die hoheren Leistungen, welche
spater hervorgetreten waren, inussten die Oper dem Ziele einer wahr-
haften Kunstschopfung einigermaassen naher bringen. Hierzu kam,
class cler ausserordentliche Aufwand, den die fruhere scenische Pracht
verursacht hatte, wohl von Hofen und Eepubliken, nicht aber von
Privatunternehmern, welche bald ziemlich zahlreich hervortraten , zu
bestreiten war. Diesen musste vor alien Dingen daran liegen, die Oper
von dem ungeheueren Pomp zu befreien, und sie naturgemasser zu ?er-
edeln. Die Yerbessenmg der Operntexte wurcle Gegenstand vielfacher
Ueberlegung. Man fand den Olymp, den Tartarus und die ubrigen
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Zaubereien aus der alien Mythologie endlich kunstwidrig und ver-
bannte sie. Die .Oper wurde in eine rein menscliliclie Spliare versetzt,
and aucli das k*omische Element, das ja vorzugsweise auf dieses Gebiet
angewiesen ist, fand melir Eingang. Alle diese Umstande znsammen
hatten dem inusikalischen Drama eine wurdigo Gestalt verleilien konnen.
Die Eerrschaft aber, welehe die allerdings vortrefflichen Sanger sehr
bald zu erlangen wussten, war Ursache, dass die italienische Oper fur
immer Ton diesem Ziele abgelenkt wurde iind sicli nie zu einem so ge-
schlossenen, in alien Theilen gleichmassig durchgearbeiteten Ganzen hat
erlieben konnen, wie in DentsclilancL Hieraus erldart sicli die Kichtimg,
welche dieselbe genorarnen hat, das unverhaltnissmassige Uebergewicht
der Arien, das Veraltete, Dngentigende und Unbefiriedigende dersolben;
hlerans erMart sicli 7 dass immer nnr Hauptscenen rait vorzftglichem
Pleiss behandelt, Chore und grSssere melirstimmige Musikstucke auf der
Stufe der loclisten Bliitlie der italienisclien Oper ziemlicli selten sind.
Was der Menge in Bezug auf scenisclie Pracht entzogen wurde, das
ersetzte bald der Brayourgesang der Castraten. Italian gewolmte sicli,
an ihnen yorzngsweise Interesse zu finden, tiefere psycliologische Ent-
wicklung der Cliaraktere aber und dramatisehe Wahrlieit niclit zu ver-
langen. Von elnem tieferen Kunstbewusstsein geleitet als Deutschland,
wenn es foiderte, dass in der Oper Alles gesungen werden soEe, hat es
die Seite, worin dieses das Hqcliste erreicMe, ganzlich vernachlassigt.
Selien wir nun auch eine Fulle der herrlichsten Talente aus der
neapolitanischen Schnle liervorgelien, in einor Anzahl, wie kaum jemals
wieder neben einander wirken, so nalit clock bald sclion die Zeit, wo
der gediegene, emste Hintergrund der Vorzeit den Tonsetzern zu ont-
schwinden begann und moderne Sentimentalitat und Weichheit die Stelle
desselben einnahin, wo einschmeiclielnde Lieblichkeit der heirschende
Charakter wurde. Je mehr die Oper In der naclisten Zeit fortwahrencl
grossere Geltimg, allgeineinere Verbreitung und holiere Ausbildung er-
langte, um so mehr trat die Kirchenmusik zuriick. Bald seh en wir die
letztere fur immer Yerschwinden, wahrend die siegreicho Oper allcs mu-
sikalische Interesse fflr sieli allein in Anspruch nimmt Die bekanntesten
Namen aus dieser, urigefalir die erste Halfte des vorigcn Jahrlmnderts
umfassenden Epoche sincl : Porpora, Vinci, Porgolose, Duni, Tera-
deglias, Feo; aus etwas spfiterer Zeit: Traetta, Jonaelli; aus der
zweiten Halfte des yorigen Jahrhunderts : Sacehini, Piccini; ondlioh
Cimarosa, Paesiello u. A. Der Schnle beizuzSJblen ist auch der
Deutsche Hasse, welcher 1724 Scarlatti's vaterliche Leitung genoss.
Alle diese Talente wendeten sich mehr oder weniger der Oper zu. Bald
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karn es dahin, dass em Jeder Opein geschrieben und durcli sie lantei
Beifall errungen haben musste, bevor er hoffen clurfte, man werde aucl
dem, was er fur die Kirche oder Eammer lieferte, einige Beachtung
schenien. Die ganze Nation, bemerkt Rochlitz, zeigt im weiterei
Verlauf niclit mehr das , was sie fruher gewesen war. Scheu vor Ernsl
und Beharrlichkeit, Hangen am Augenblick imd was ihm dient, Befrie-
digung verfeinerter Sinne wird immer mehr dor herrscliende Charaktei
Italiens. Tor alien Dingen augenblicklich ansprechende, hochst gefalligc
Melodien, welche sogleich nachgesungen werden konnten, verlangte mail
von den Componisten. Die Tone der ganger einzusangen, sicli eineni
siissen Schwelgen und Selbstvergessen zu uberlassen, beginnt bald clei
eigentliche musikalische Genuss zu werden und den friiheren Ernst zu
verdrangen, so wie man sicli dichterische Werke vorlesen liess, nament-
Kch die des Tasso, oline den Malt zu beachten, einzig sicli ergotzend
an der Bilderpraclit und dem WoMlaut der Verse. Bei immer gestei-
gerter Theilnalime an der Tonkunst war die Herrschaft des Dilettantis-
nius eine unausbleibliclie Tolge. So sclion nun aber aueli der Entliusias-
mus einer ganzen Nation fur einen wflrdigen Gegenstand ist, so liegt
clocli darin zugleicli die nielit abzuwendeude Gefakr, dass die Menge ton-
angebend wird und die Eiiustler, statt deni Kunstideale zu folgen, den
Forderungen des Tages sicli beqtieinen.
Es liegt ausser den Grenzen dieser Darstellung, die bezeichneten
Zustande im Einzelnen weiter zu scMldern; ebenso wtirde es zu weit
fiiliren, die grosse Zahl der jetzt auftretenden Kunstler in ibrem Wirken
Ihnen specieller zu charakterisiren. Nur zwei Biographien erlaube
icli mir zum ScHuss der lieutigen Vorlesung Ihnen nocli mitzutlieilen.
Sie betreffen zwei der bekanntesten Namen, und sind bezeicluiend fur
die Wendung, welclie jetzt in Italien eingetreten war. Sowolil Pergo-
lese als aucli Jomelli dies sind die Mnstler, welche ich Ihnen
vorfiihren will spiegeln in ihren LebensscMcksalen die Dmgestaltung
der Verhaltnisse wieder. Mcolo Jomellij geb. 1714, machte den An-
fang seiner hoheren Ausbildung in Neapel unter Durante, Feo und
anderen dortigen Meistern. Zwei Opern von ihm, die er walirend der
Zeit dieses Aufenthaltes schrieb, fanden grossen Beifall, und veranlassten
seine Berufung nach Eom im Jahre 1740. Hier imponirte er deni Pu-
blicum und feierte die gi-ossten Trinmphe. Er schrieb im Geschmack
der Menge, iiberraschte aber durch einzelne originelle Ziige. Die Eomer
waren so enthusiasmirt fur ihn, dass sie den Maestro einstmals auf
seinein Sitze im Orchester auf die Buhne trugen, unter einem Jubel,
welclier nicht enden wollte. Noch in demselben Jahre erHelt er einen
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Euf nach Bologna, sehrieb dorfc eine Oper und benutzte bei dieser Ge-
legenheit die Unterweisung des gelehrten Paters Martini. Nach Koin
zuriickgekehrt, setzte er eine grosse AnzaH von Opera. Man fand seine
Melodien so geistreich, edel und einsehmeichelnd, class man ihn niclit
bios ; ,den Keizenden" nannte, sondern ihn tiberhaupt zum grossten mu-
sikalischen Genie seiner Zeit erhob. Seine Instnnnentalbegleitung war
fur jene Zeit reieh zu nennen. Besonders wirkte er durch das Piano
und Forte des Orehesters, sowie durcli ein sorgfaltiges Crescendo und
Diminuendo. Diese Vervollkommnung fiel so sehr auf, dass man Dun
die Erfindung derselben zuschrieb. Yergotterte man ihn nun auch un-
gemein, so bildete sich doch eine Gegenpartei, welche sich urn den
22jaJirigen Portugiesen Teradeglias schaarte. Dieser, ernster und griind-
licher. wusste bald die Eenner und besseren Dilettanten auf seine Seite
zu bringeii. Teradeglias war ausgezeiclmet durch Tiefe harmonischer
Kenntniss, sowie durch den Ernst und die Wahrheit seines Strebens,
das er den Launen der S'anger nicht unterorclnete. Insbesondere wurde
er im Kecitatiy und der Begleitung desselben bewundert. Diese beiden
Gegner standen sich 1747 in der Carnevalszeit niit neuen Werken offent-
licli gegenubei*. \JDeradeglias trug den Sieg davon und Joinelli's Oper
wurde auggepfiffen^ Man pragte, wie erzahlt wird, eine Denkmtinze fur
den Ersteren, auf welcher Jomelli den Sieger im Triumphwagen zieht.
Bald darauf fand man Teradeglias' Korper erdolcht in der Tiber.
Es ist indess mindestens zweifelhaft, ob Jo nielli die Mitschuld an dieser
ruchlosen That trifft; clenn derselbe lebte noch sieben Jahre in ange-
sehener Stellung als Yicekapelhneister an der St. Peterskirche in Bom.
Im Jahre 1754 erhielt er vom Herzog Carl von Wurttemberg einen
Euf nach Stuttgart, wo er als Ob'erkapellmeister angestellt wurclc, uncl
eiuen jak'lichen Gehalt von 10,000 Gulden bezog. Der Preund uud
Yertraute des Herzogs, war sein Einfluss hier ein sehr ausgedehnter.
Die Aufflihrungen in Stuttgart werclen zu den glanzendsten der daniali-
gen Zeit gezahlt Er vermochte dies, durch die Gunst des Herzogs
geschlltzt, indem er vollkommene Gewalt liber seine Untergebenen besass ;
als Director roll Geist und Leben soil er aber auch in jener Zeit kaum
seines Gleichen gehabt haben. Man bewunderte die grosste Ptoctlich-
keit-und Genauigkeit in den Schattirungen, so dass der Herzog dcm
Kaiser, dem er auf Verlangen eine Partitur Jomelli's zum Geschenk
gemacht hatte, auf die Anfrage: ob ihm der Herzog wirldich dieselbo
Oper geschickt, die doch in Stuttgart anders geklungen habo, als in
Wien? antworten konnte: der Herzog habe dem Kaiser zwar die Par-
titur, nicht aber zugleich sein Orchester gegeben. Jomelli blieb bis
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ziun Jahre 1765, so lange, als das Heine Land im Stande war, die
grossen Summen fiir Sfinger, Instrunientisten und llnzer aufzubringen.
Er ging sodann zuruek nach Neapel und brachte dort mehrere Opern
auf die Buhne, die er auf dem Landsitz, welchen er sicli gekauft hatte,
geschrieben oder umgearbeitet hatte. WShread seines langjshrigen Auf-
enthaltes in Deutschland, die Einflusse desselben nicht von der Hand
weisend, war aber sein Stil ein anderer geworden. Er hatte insbeson-
diere eine grtindliehere Harmonie sich angeeignet. Diese sagte den Ita-
lienern niclit zu, und so musste er es erleben, dass sein drittes Werk
far Neapel bald yon der Bfihne yerschwand, und auch spater mir yon
Zennern am Clavier theilweise zu Gehor gebraelit wurde. Einen sol-
chen Gluckswechsel yermochte der ehrgeizige Mann niclit zu ertragen.
Von einein Sclilagfluss, der ilin betroffen, erholte er sieh allniahlicli,
und schrieb 1773 nocli eine Cantate zu einer festlichen Gelegenlieit
Sein Scliwanengesang war ein Miserere fur 2 Soprane und SkeicMn-
steumente. Er starb im Jalire 1774. Nan yeranstaltete man ihm eine
glanzende Todtenfeier. Jomelli hatte aucli inehrere Mrcliliche Werke
gesclirieben, Mozart aber uiilieilt: ,,Der Mann hat sein Fach, worin
er glanzt, so dass wir es wohl bleiben lassen mussen, ilin bei dem , der
es versteht, claraus zu yerdrangen. Nnr hatte er sich nicht aus diesem
herausmachen, und z. B. Ejrchensaohen im alten Stil schreiben sollen".
Er war jedenfalls ein grosses, reichbegabtes Talent, ausgezeichaet ins-
besonclere durch schwungyolle Melodie. Im Ganzen aber zeigen seine
Opern nur die damals ubliche Gestalt. Auch hier sind die Alien Hanpt-
bestandtheile. In der musikalischen PriyatbibHothek des Eonigs yon
Saclisen finden sich einige seiner bedeutendsten Werke. GriOTannl
Battista Pergolese, der letzte Ktinstler, dessen ich heute gedenke, war
geboren zu Jesi im Jahre 1710. Er inachte seine ersten Studien in
Neapel, zuerst imter Greco, dann unter Durante, spater unter Feo.
Als Tonsetzer trat er zuerst, im Jahre 1731, mit einein geistlichen
Drama auf, bald darauf indess liess er inehrere Opern und Kirclien-
stucte folgen. Wenig gliicklieh in der ernsten Oper, gewann er desto
grosseren Beifall mit deni Intermezzo 3 ,La serva fadrona". Im Jahre
1735 erhielt er einen Euf nach Kom. Neben ihm hatte unterdess sein
Schulfreund Duni, geb. 1709, ein schnelles Gluck gemacht Beide wur-
den beauftragt, ftir denselben Carneval zwei grosse Opern zu schreiben.
Pergolese's Oper fiel entschieden durch, wahrend die yon Duni stflr-
mischen Beifall errang. Der Letztere, ehrlich und wahrhaft, erklarte
offentlich: er verdiene niclit diesen Beifall, er miisse sich desselben
schamen, des Freundes Oper sei bei weitem vorzuglicher. Man laehte
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iiber diese offene Erklarung, die nur das dem beabsichtigten entgegen-
gesetzte Eesultat zur Folge hatte: dass Pergoleso's Werk gar nieht
nielir geduldet wurde. Pergolese kehrte nach N"eapel zuruck und schrieb
noeh die Cantate n Orfeo", ein ^Salve regina" imd sein beruhintes n Stalat
mater", aber er vermochte das erlittene MissgescMck niclit zu verwinden.
Seine olmedies angegriffene Gesundheit schwand, seine Krafte nahmen
taglich melir ab. Auf BefeU der Aerzte begab er sicli nach Pozzuoli
bei Neapel. Trotz der rasclien Fortschritfce seiner Ivranklieit setzte er
die Arbeit an seinem n Stabat mater" fort; wenige Tage nacli Vollendung
desselben starb er im Jalire 1736. Von dem Augeublicke seines Todes
begann sein bis daliiri nnr auf kleine Kreise eingeschrankter Kulim sicli
weiter imd welter zu verbreiten; alle Theater und Kirchen ertonten von
seinen Werken. In Eoni gab man jene Oper, welche frulier Fiasco
geniaclit hatte, niit der grossten Praeht. Ancli neuerdings ist seine
^Serva padrona" in Paris wieder ziu^ Anffnlirnng gekoinmen. Per-
golese's Stabat mater" geliort zu den bekanntesten "Werken der ita-
lienisclien lurclieiunusik "aus der Epoche des sclionen Stils. Eine tiber-
aus lierrliclie, Mnreissende Weicliheit und Zartheit ist dartiber ausge-
gossen; ebenso selir aber mangelt Tiefe und Energie. Das Werk ist nur
fur Frauenstimmen mit Quartettbegleitung gesclirieben, in seinem Cha-
rakter bezeiclinend fur die Wendung der Kunst in Italien. Das Gefallige
und Anmutliige siegt fiber das Grossartige, Ernste und Feierliche. Dnter
diesem GesicMspunct verdient Pergolese's ^Stabat mater" kaurn die
Auszeiclinung, welclie ilm zu Theil geworden.
So yiel, iini Ihnen einige Andeutungen von dem weifceren Fortgang
innerhalb dieser Scliule zu geben. Leider hat bis jetzt dieser Abschnitt
der Gesehiclite der Musifc noch keinen Monograph en gef unden, wahrend
andere Epochen und die hervorragenden Ersclieinungen in ihr inletzter
Zeit, wie Ihnen aus der bisherigen Darstellung bereits bekannt, neuer-
dings eine grundliclie und eingehende Darstellung erfahren haben.
Sechste Vorles'ung.
Die Gresangskunst in Italien : Perri. Farinelli. Porpora. Pistocchi. Bernacchi Erste
Ausbildung der Kunst des Yiolinspiels : Corelli. Tartini. Locatelll. Pianoforte
und Orgel : Dom. Scarlatti. Frescobaldi. Die venetianische Schule : A. u. Gr. Grabrieli.
Lotti. Marcello. Caldara. Die bolognesische Schule: Colonna. Clari.
NacMem wir in der letzten Vorlesung das Wichtigste, die Fort-
schritte und Erweiterungen in der Composition, die durch Erfindung der
Oper hervorgerufene grosse Urngestaltung des gesainmten Gebietes der
Tonkunst kennen gelernt haben, bleibt uns jetzt noch tibrig, auch das
ins Auge zu fassen, was sich an jene bedeutungsvolle Thatsache an-
scliliesst, was unmittelbar als eine Folge derselben auftrat: die weitere
Ausbildung der Technik sowol ini Gesang, wie im InstrunientenspieL
Die Einfuhrung des Sologesangs maehte naturlicli das Bedurfniss
sclioner Stinanaen und eines gebildeten Vortrags fuhlbar; in der Oper
war der Erfolg ebenso sehr Yon den Sangern, wie von den Componis-
ten aHiangig. FrtUier, vor dem Jalire 1600, konnte der "Werth des
Sangers allein in seinen theoretiselien Kenntnissen und in seiner Fertig-
keit, yom Blatte zu singen, bestehen; war er zugleicli ini Besitz einer
sclionen Stimme, so ward dadurcli sein Wertli niclit in solclier Weise
erholit, wie dies jetzt der Fall sein imisste. Icli habe erwalint, wie wir
schon in der zweiten Halfte des 16. Jahrhunderts, seit man auf den
Einfall gekommen war, die Oberstimme eines Madrigals von einer Stimme
allein singen zu lassen, den Anfangen eines eigentliclien Kunstgesanges
begegnen; icli babe der Verdienste Caccini's gedaclii Als die Oper ins
Leben getreten war, gait es, auf der von ihm gebrochenen Balm vor-
warts m sclireiten, und so entstanden nacli und nacli jene beriilunten
Singseliulen, welche so viel zur Bluthe und iminer weiter verbreiteten
HeiTSchaft der Tonkunst in Italien beigetragen haben.
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Icli gebe Dmen in dein Nachfolgenden einige Andeutungen fiber die
wichtigsten Thatsaclien auf diesem Gebiet, zu dem Zwecke Einiges aus
der Schrift von H. F. Mannstein: Geschichte, Geist und Ausiibung
des Gesanges n. s. w. entlehnend. Dieses Werk ist in seiner Zusam-
xnenstellung des Thatsachlichen zu benutzen, wenn man auch die Grund-
anschauung des Verfassers, some die Folgerungen, die er darans her-
leitet, als durchaus nict stichhaltig von der Hand weisen muss.
Mannstein, voizugsweise der Gesangskunst huldigend, erblickt dies
beilaufig erwahut in dieser nicht nm* das Hochste der gesammten
Musik, sondern ordnet aueh, wie eg die Italiener thun, den Tonsetzer
dem Sanger unter. Er verkennt auf diese Weise die Stellung der Vir-
tuositat zur scliaffenden Kunst im Allgemeinen, sowie im Besonderen
die Bedeutung und den Wertli des Gcsanges. In der angefulirten Schrift
heisst es: ,,Der Gesang konnte seine WesenLeit nur durcli das Zusain-
inenivirken vieler tochbegabter Menschen erlangen, indem diese nacli
und nach auf pliilosophischem und poetischem "Wege folgende Principe
des reinen Geschmackes aus clem Innersten der Kunstnatur abzogen.
Der Gesang so pMlosopliirte man darf die Poesie niclit verstfim-
meln, well er sonst auf den erhabenen Vorzug VerzicM leistet, die
vollkominenste Spraclie mit dem^ Tollkommensten Ton und der aus-
drueksvollsten Declamation, folglicli die Eigenschaften des Dichtors, Ton-
ktinstlers und Eedners in hocbster Potenz in sicb. zu vereinigen. Der natiir-
liche Accent und Ausdruck der Leidenscliaften, nachdem man den
sell on en Ton gefunden hatte, inusste also Hauptstudimn der San-
ger sein, welches wieder in ein pliilosophisches und musikalisches zer-
fallen musste. Bevor die Sanger an die Malerei der Leidenschaften
gehen konnten, mussten sie erst cleren Natur und Wesen nach innen
und aussen mnfassend studirt, und clas darstellcnde Material vollkSiumen
georclnet, gesiehtet und geistig erfasst haben. So fanden sie denn mit
dem Charakter der verschiedenen Leidenschaften auch den pathetischen,
koinisehen, emsten und bravourmassigen Stil, und erkannten, dass vor
alien Dingen eine vollkommene Intonation das erste Hauptstuck zum
Vortrage der Melodie sei ; sie abstrahirten aus der Beobachtung der
Leidenschaften ferner das Ziehen und Moduliren der Stimme, sowie die
Abstufungsweise ihrer StSrke und ihrer Klangfarben; sie erfanden das
An- und Abschwellen einzelncr Tone, sowie das sanfte Tragen, Binden
und Sehwellea ganzer Tonreihen; andererseits abor auch ihren gostossenen
und htipfenden Vortrag. Die Passagen, der meisterhafte Vortrag der-
selben von Note zu Note, ihre Steigerung und Minderung nach den ver-
schiedenen Schattirungen und Inflerionen der Leidenschaften und Era-
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pfindungen, die psychologisclie Vertheilung des Naehdrueks und des
leichteren Hinweggleitens der Stimme liber einzelne Noten und ganze
Partien der Melodie warden erfunden; die Manieren oder freien Aus-
schmuekungeiL des Gesanges wurden geordnet und stilisirt, die Gesetze
der Cadenz gegeben, die Verzierungen des Trillers, des Lfiufers und
Mordent gebildet, und die Regeln fur die Technik der Ausiibung be-
stimmt, worauf iauptsacilieli eine gute Scliule mit beruht." Diese "Worte
geben Ihnen ein Bild dessen, worauf es vor alien Dingen ankam, um
der Kunst des Gesanges jene Vollkommenlieit zu erringen, welche das
herrliche Italien befaMgte, auch in dieser SphSre bald ein Muster fur alle
Lander zu sein. Dass dazu die umfassendsten Studien geliorten, bedarf
kaum einer Bemerkung. Die Sanger jener Zeit waren durcliaus niclit
eine Art woUeingerichteter Singmasciinen, nnwissend, ungebildet und
aninaassend, wie es in der Gegenwart oftmals der Fall ist, sondern
bei Talent, wol gar Genialitat, trefflicli unteniehtete, erfahrungsreiclie,
ernstfleissige Eunstler, und mitunter sogar auch nach einer Bemer-
kung von Rochlitz verniinftige Leute, was in der Gegenwart
gleieMalls seltener der Fall sein soil. Sclaon in der ersfcen Halffce des
17. Jahrhunderts waren ilire Studien grundlich, vielseitig, woHgeordnet.
Der erwahnte Yerfasser tbeilt eine Stelle eines italienisclien Sclrift-
stellers mit, die icli in dieser Bezieliung ebenfalls Her anfutre: ,,Die
ScMilef der romischen Schule" heisst es ,,waren verbunden, sich
taglich eine Stunde in schweren Intonationen zu ubeD, um Leiehtigkeit
in der Ausfiilirung zu erlangen; eine andere Stunde wandten sie zur
Uebung des Trillers an, eine andere zu geschwinden Passagen, eine
andere zur Erlernung der Literatur und noch eine andere zur Bildung
des Geschmacks und Ausdrucks, Alles in Gegenwart des Meisters, der
sie anliielt, vor einem Spiegel zu singen, um jede Art von Grimasse
ocler uascliickliclier Bewegung der Muskeln ? entweder im Kunzelziehen
der Stirn, Blinzeln der Augenlider, oder im Verzerren des Mundes zu
vermeiden. Alles dies war nur die Beschaftigung des Morgens. Nach-
mittags wandten sie eine halbe Stunde auf die Theorie des Schalles,
eine andere auf den einfaelien Contrapunct, eine Stunde auf Erlernung
der Eegeln, welche ihnen der Meister von der Composition gab, und
auf die Austibung derselben auf dem Papier; eine andere auf die Lite-
ratnr, und die flbrige Zeit des Tages auf das Clavierspielen oder auf die
Verfertigung einer Composition. Und dies waren die gewoMichen
Uebungen an den Tagen, wo es den Studirenden niclit erlaubt war,
die Sclmle zu verlassen. Wenn sie Mngegen Erlaubniss batten, auszu-
gehen, so gingen sie oft vor die Pprtn angelica, unweit des Berges
7*
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Matins, um gegen das Echo zu singen nnd an den Antworten dessel-
ben ihre eigenen Feller kennen zu lernen. Zu anderer Zeit wurden s sie
entweder in den Kirchen zu Rom zrnn Singen bei den offentlichen
Musiken gebraucht, oder es war ihnen wenigstens erlaubt, dahin zu
gehen, um die Tielen grossen Meister zu horen, welche unter der papst-
lichen Eegierung Urban's Yffl. (16241644) bluhten. Wenn sie
zuriick in das Collegium kamen, wandten sie ihre Nebenstunden dazu an,
nach diesem Muster zu arbeiten und dem Meister von dem, was sie
machten, Keehensehaft zu geben." Nothigt uns diese naive Mittheilung
vielleiclit ein LacMn ab, und miissen wir auch einige Zweifel hegen, ob
wirHich derartige VorscMften punctlicli befolgt wurden, so gewinnen
wir docli eine Anscliauung von dem Ernst und der Gewissenliaftigkeit,
init der diese Studien sclion frulizeitig betrieben wurden. Die Kunst des
Gesanges stieg, da ihr eine grosse Menge bedeutender Talente unauf-
horlich zustromte, gelockt durch Aussicht auf Ehre und Gewinn, ini
Laufe des 17. Jahrhunderts ausserordentlich schnell. Innerhalb eines
Jahrhunderfcs , in der Zeit von 1590 bis 1700, erhielt dieselbe in der
Hauptsache ihre voile AusMldung, so dass das 18. Jahrlundert als die
Zeit der Bluthe zu bezeiclinen 1st, Voin Ausgange des vorigen und vom
Anfang des gegenwartigen endlich datirt der VerfalL
Bevor ich weitergehe, muss ich Mer nocli eine Bemerkung ein-
sctalten. Ich erwalinte sclion in der vierten Yorlesung, dass in der
ersten Epoclie der italienischen Musik Castraten noch nicht tiblich ge-
weseu seien. Knaben, deren Brauchbarkeit auf wenige Jakre beschrankt
ist, konnten nach dem damaligen Stande der praktischen Musik die
Taugliclteit fiir Zapellengesang nicht erreichen; Frauen waren durch
die Mrchliche Etiquette ausgeschlossen ; die Kapellen waren daher nur
mit Mfinnern besetzt, und die Sopran- und Altpartien wurden von Pal-
settisten ausgefiihrt, unter denen besonders die Spanicr in der pilpstlichen
Kapelle beruhnit waren. L. Viadana sagt in der Vorrede zu seiuen
Concerti (1602), dass diese seine Gesange bosser von Falsettiston als von
Knaben auszufthren seien, weil diese zu scliwach, auch sehr'lassig und
ohne Auedruck sangen. Jetzt, bei dem Aufschwunge der Gesangskunst,
erscheinen zuerst die Castraten, mid wir wissen ausdrucklich, dass der
erste derselben nieht friiher als 1625 in die papstliche Kapelle kam.
Wie sich spater diese Sitte trainer mehr und in immor weiteren Kreisen
verbreitete, so dass es erst der Gegenwart vorbehalten war, dieselbe
wieder ganzlich-zu beseitigeii, ist bekannt.
Unter den ersten grossen Eepr3sentanten des Gesanges in Italien
begegnet uns sogleich ein Sopranist, der Bitter Baldassare Ferri aus
A r\A
1U1
Perugia, geb. 1610, gest. 1680. Die Ausbildung seiner Stimme war
die ausserordentlichste ; in einem Atliem lief er mit Kettentrillern durch
zwei voile Octaven atif und ab, und traf alle ehromatischen Stufen auch
ohne Begleitung vollkoimnen richtig. Wenn er aus deni Theater kam,
wo er gesungen hatte, wurde sein Wagen bisweilen mit Eosen bestreut.
Als er nach Florenz berufen wurde, ging ihm eine grosse Menge von
Cavalieren nnd Danien wol drei Meilen weit entgegen und empfing ilin
ebenso, wie man bislier Ftirsten zu empfangen pflegte. Als der grosste
Sanger Italiens wird in der Eegel Carlo Broschi, genannt Farinelli,
bezeichnet. Seine korperlichen Mittel waren so gross, wie sie die Natur
selteu an einen Menschen verscliwendet, denn er sang ohne die mindeste
Anstrengung und mit gleichem Wohlklange yon dem ungestrichenen a
bis zum dreigestrichenen d. Farinelli war geb. im Jahre 1705 zu
Neapel, und studirte unter Porpora. Spater wandte er sich nach Rom.
Hier war in der Oper ein Wettstreit zwischen ihm und einem Trompeter,
der eine Arie mit seinein Instrumente zn begleiten hatte. Dieser Streit
schien anfangs freundschaftlich und bios scherzhaft, bis die Zuhorer
anfingen Theil daran und Partei zu nehrnen. Nachdem Beide verschie-
dene Male Noten angehalten hatten, worin Jeder die Kraft seiner Lunge
zeigte, und sich vor clem. Anderen an glanzender Fertigkeit und Starke
hervorzuthun suchte, bekainen Beide zusammen eine ausgelialtene Note
und einen Doppeltriller in der Terz, welchen sie so lange fortschlugen,
bis Beide erschopft zu sein schienen. Eer Trompeter, der gam athem-
los war, gab ihn in der That auch ganz auf und daclite, dass seiu Neben-
buhler ebenso ermuclet sein wurde, wie er selbst war, dass somit der
Sieg unentschieden ware. Earinelli aber, mit einer lachelnden Miene,
um dem Trompeter zu zeigen, dass er bisher nur mit ihm gespasst habe,
brach auf einmal in demsdben Athemzuge mit neuer Starke los, hielt
nicht nur die Note schwellend aus und trillerte, sondern liess sich aucli
in die schnellsten und schwierigsten Laufe ein, worin er nur durch. das
Zujauchzen der Zuhorer unterbrochen wurde. Yon Kom ging er nach
Bologna; hier hatte er das Gluck, den Bernacchi, einen Schuler des
berlihmten, in dieser Stadt geborenen Pistoecki, zu horen, von da nach
Venedig, endlich nach Wien, wo ihm vom Kaiser Carl YL die grosste
Aufinerksamkeit erwiesen wurde. Das TJrtheil dieses Monarchen war es
sogar, welches eine grosse Yeranderung in seiner Singart hervorbracMe,
und ihn jetzt erst der hochsten Stufe der Yollendung zuftihrte, indem er
dem Kuhnen und Blendenden das Ausdrucksvolle Mnzufugen lernte. Im
Jahre 173-i kam er nach England, und auch hier begleiteten ihn die
ausserordentlichsten Erfolge. Zugleich daselbst mit dem grossen Sanger
Senesino engagirt, hatte doch noch Keiner den Anderen gehort, weil
Beide auf verschiedenen Theatern zufallig immer gleichzeitig zu singen
batten, Eine Theaterrevolution fuhrte Beide auf einem Theater zusammen.
Senesino hatte die Eolle eines wuthenden Tyrannen, und Farinelli
einen ungliicklichen Helden in Ketten darzustellen. Allein gleich bei
der ersten Arie erweichte er das harte Herz des ztirnenden Wuthrichs
so sehr, dass Senesino seine Theaterrolle Yergass, Farinelli entgegen-
sturzte und ihn umarinte. ,,Er hatte Vorzuge", sagt sein Biograph
Burney, jjdergleichen man weder vor noch nach ihni bei irgend einem
Menschen zusammen antraf, Vorzuge, cleren Kraft man nicht wider-
stehen konnte, und die jeden Zuhorer, Kenner und Nichtkenner, Freuncle
und Feinde besiegen mussten." Spater finden wir ihn in Madrid mit
den hochsten "Wurden bekleidet. Er war Grand von Spanien, Bitter
cles grossen Ordens von Calatrava, General-Intendant aller Opern, und
hatte als solcher nicht bios auf die Kunstangelegenheiten, sonclern zu-
gleich als allniachtiger Giinstling auch auf die politischen Verhaltnisse
den grossten Einfluss. An ihn wandten sich die Gesandten der frernden
Hofe ebenso sehr wie die Eegenten selbst, und Maria Theresia
trostete sich, als sie der Fran von Pompadour freundliche Briefe schreiben
musste, damit, dass sie dasselbe bei Farinelli habe thun mtissen.
Als Director der Oper machte er sie zur glanzendsten Anstalt in Europa.
Er bezog in den Jahren 1737 bis 1761 in Madrid als Jahrgehalt eine
Summe von 2000 Pfund Sterling. Geruhmt aber wird, und dies cltirfen
wir nicht vergessen zu erwahnen, seine atisserordentliche Miissigung
und Pflichttreue, so dass er nicht cin einziges Mai seine Gewalt miss-
brauchte, und selbst von den Spaniern allgemein geliebt wimle. Schlosser
in seiner , 5 GescHchte des 18. Jahrhunderts" tadelt daher aucli Maria
Theresia, dass sie Farinelli mit Frau von Pompadour in eine
Kategorie gestellt habe.
Ich bemerkte bei dem zuletzt erwahnten Sanger schon, dass er
in Neapel seine Bildung erhalten hatte. Nicht allein in der Compo-
sition war jene Schule ausgezeichnet, sie besitzt zugleich den Buhm,
grosse Gesanglehrer besessen ich nenne hier nur Nicolo Porpora,
geb. um das Jahr 1685, gest. 1767 und die grossten Sanger Italiens
gebildet zu haben. Bald aber entstanden auch an anderen Orten Schulen
ftir Gesang, und endlich gab es fast keine grossere Stadt Ttaliens, die
nicht Ausgezeichnetes hierin geleistet hatte. Besondere Bedeutung or-
langte Bologna durch die beiden schon vorhin genannten Meister Fran-
cesco Antonio PistoccM (geb. 1659) und Antonio BcrnaccM (geb. urn
1700). Pistocchi, gleichfalls ein Castrat, war urn 1700 der Grtincler
103
der bolognesischen Schule, von welcher der vorliin genannte Yerfasser
sagt, dass sie es gewesen sei, welclie alle Kunste des ansubenden Ge-
sanges zuerst in ein wissenphaftliebes System, zu bringen suchte, be-
sonders die Schonheit cles Tones veiiangte, und die Mannigfaltigkeit der
Stile als eine wesentliehe Bedingung der Kunst des Vortrags geltend
machte. Bernacclii folgte dem eben Genannten in der Leitung dieser
Sehule, und war so gliieklich, der Welt (lurch seinen TJnterricht eine be-
deutende Anzalil von Sangern ersten Eanges zu sclienken. Er selbst
hatte yon der Katur keine glucklichen Gesangsorgane erlialten, bildete
dieselben aber durch Studium dessenungeachtet so aus, dass er, einer der
berohmtesten Sanger seiner Zeit, von Handel und Graun der Konig
der Sanger genannt wurde. Neben dem Systematischen seines Unterrichfe
soil er die Bande der Scliule erleichtert haben, indem er eine freiere
Singweise einfuhrte. Seine Metliode ist diejenige, welclie sich bis in die
Gegenwart fortgeerbt hat und noch jetzt als die Grundlage des Unter-
richts im italienischen Gesange betrachtet wircl. Es kann natlirlich
Mer nicht der Zweck sein, so wenig als in deni Naclifolgenden hinsichtlich
der Instnunentalvirtuosen, diesen Gegenstand zu erschSpfen; ich beriihre
deuselben fliichtig, urn das Gesammtbild dieser Epoclie zu vervollstandigen.
Nur eine Stelle aus der angefuhrten Schrift erlaube ich mir noch mit-
zutheilen: }5 Allein die Zeit der grossen italienischen Malerschule lasst
sich mit der Glanzperiode italienischer Musik vergleichen, denn wie
einst fast jede kleine Stadt Italians grosse Maler aufzuweisen hatte, so
jetzt fast jedes Oertchen heniiche Musiker aller Branchen, und so allein
konnte Italien fast alle grosseren Stadte Europas rait trefflichen Opern
versorgen, wahrend das Mutterland dessenungeachtet noch mit Sehaaren
Yon musikalischen Talenten bedeckt war. Mit tiefem Staunen liest man
in den Keiseberichten jener Zeit, dass auf den Strassen, in den Wirths-
hausern und an Orten, wo wir nur die Hefe der Musiker suchen, da-
mals in Italien die lieblichste Musik ertonte, und alle Theater, Kirchen
und Concertsale mit den trefflichsten Sangern, Componisten und Instru-
mentisten besetzt waren. Die Kloster hatten diese in ihren Monchen
und Nonnen, jede grossere Kirche ihren Kapellmeister, ihre Sanger,
Organisten und Spieler, und die "Waisenhauser inancher grossen Stadte
stellten aus ihren Zoglingen, deren die grossten tausend und mek* er-
nahrten, Orchester Yon 50 60 trefflichen Sangern und Musikern, oft-
mals Madchen, welche in den Anstalten bis zu ihrer Verheirathung unter-
halten wurclen, oder bis sie als Sangerinnen zu den Theatern gingen."
Es liegt in der Natur der Sache, dass die an den Moment gefesselte,
schnell voruberrauschende Kunst des Darstellers dem Geschichtsschreiber
104
noct bei weitern grossere Scliwierigkeiten fur seine Aufzeicknungen
darbietet, als die Darlegung des inneren Ganges cler Kunstentwicklung
und der damit verbundenen Thatsacien, die Werke selbst das
sprecliendste Zeugniss fort und fort ablegen. Wir diirfen uns daher
nicM wundern, wenn jene Ersclieinungen bis jetzt nur erst eine wenig
eingehende Darstellung geftmden haben, und die Ansicliten daniber nocli
ganz ausserordentlich. differiren. Ckrysander in seinem Leben Han-
del's im 2. Bande, S. 28, inaclit deshalb initEecht darauf aufmerksam,
dass es das Sicherste sei, sicli ztun Zwecke tieferer Brfassung jener
vorubergegangenen Kunst an die- Schreibart der Tonsetzer zu halten,
weil die Kunst der Aiisffilirung dieser annaliernd entsprochen haben
muss. Er gelangt allerdings auf diesem Wege zu einer cler oben dar-
gestellten wenig confornien ScMlderung. Hierauf naher eiuzugelien,
wurde tins indess zu weit fiihren. Nur mochte icli niclit unteiiassen, Sie
darauf aufinerksam zu maclien, und Bmen das genannte Werk zum Nacli-
lesen zu empfehlen. Dasselbe entlialt niclit nur in der angefulirten Stelle,
sondern auch im weiteren Veiiauf viele bemerkenswertlie und interessante
Angaben aucli nacli der hier bezeiclineten Seite Hn.
Bei so grosser Anregung, bei solclien Yorbildern des Gesanges, konnte
die Kunst der Instrmnentisten niclit zuruckbleiben. Bald begegnen wir
auch. auf diesem Gebiet ausgezeichneten Leistungen. Die Eanst des
Instrumentenspiels liat sicli aus der des Gesanges entwickelt, wenigstens
aufaugs und so lange, als der Instrumentalmusik nocli niclit ein selbst-
standiges Ideal aufgegangen war. Es sincl Mer namentlicli die ersten
grossen Violinspieler, deren icli gedenkeu muss.
In der Mitte des 17. Jalirliunderts waren die Bogeninstrumente in
ihreni Bau bis zu jener Vollkommenlieit gediehen, die als untibertrefflicli
anerkannt ist. Stimmtmg wie Structur waren bis dahin geregelt, und
Cremona, Brescia und Innsbruck lieferten Instrumente, welclie nocli jetzt
die gesuchtesten sind. Unter solclien Verlialtnissen war es nattniicli,
wenn ausgezeichnete Virtuosen niclit lange auf sicli warten liessen.
Als der Grtinder der Mieren Kunst des Violinspiels in Italien wird
gewohnlieli Afctangelo Corelli bezeichnet, geb. im Jalu'e 1653 in
einer kleinen Stadt auf bolognesiscliem Gebiet, gest. 1713. Erst in
spateren Jaliren verbreitete sicli sein Ruf als Violinvirtuos. Corelli geliort
niclit unter die friilireifen Kiinstler. Noct wenig gekannt, trat er eine Eeise
nacli Deutschland an, liess sicli an mehreren Hofen mit Beifall lioren,
und nabm zuletzt Dienste in der Kapelle cles Herzogs von Bayern, wo
er zwei Jahre verweilte. Naclilier kelirte er nach "Rom ztiriick und gab
dort zwolf Sonaten ftir die Violine lieraus. Noch immer aber wurden
seine Leistungen nur wenig beaehtet. Erst als im Jahre 1686 die da-
mals in Kora sicli auflialtende Konigin Christine von Schweden zu
Ehren des englischen Gesandten ein grosses Concert veranstaltete,
welches Corelli an der Spitze yon 150 Musikern dirigirte, begann sein
Euf sicli schnell zu erhohen, so dass YOU diesem Zeitpunct an seine
einflussreicliere Thatigkeit daiirt werclen kann. Der Cardinal Ottoboni
ernannte ilin jetzt zum ersten Violinisten und Director seiner Haus-
kapelle, und Corelli blieb in dieser Stellung, wo er vorzuglich. forderlich
fur die Ausbildung der Instrumentalmusik sein konnte, bis an semen
Tod. Er brachte hier die Instrumentalmusik"" zu einer Hohe, wie man
sie bis auf ihn in Eoni nichfc gekannt hatte, und wird als der Erste be-
zeichnet, der clort ein regehnassiges Orcliester eingericlitet babe. Das
Gesangreiche seines Spiels gefiel so, dass man ihn sogar in den Kirehen
horen wollte, und class Yon ihm an sicli aucli die Ztilassung der Saiten-
instrumente bei der Kirehenmnsik in Rom datirt. Die clankbaren Roiner
erkannten seine Verdienste, und ihr Entliusiasmus zierte Corelli init
der Bezeiclinung : Virtuosixsimo Ji Yiolino e rero Orfeo de" nostri teitipi^
Nach seinem Tode wurde Yon dem Cardinal Ottoboni seine Biiste mit
einer ausserordentlich riilinienden Untersclirift aufgestellt. Corelli war
ausgezeichnet durcli tonreiches, gefttlvolles Spiel, weniger durch Fer-
tigkeit, die ilini in keinera hohen Grade zu Gebote stand. Das Gebiet,
auf welchem er sicli bewegte, war uberlmupt noch ein bescliranktes.
In einem Concert beim Cardinal Ottoboni machte er Handel's Be-
kanntschaft. Eine der Handel'sclien Opernouverturen wurde aufge-
fiilirt. Corelli hatte die Composition sanft und gefuMvoll aufgefasst,
wie es seine "Weise war, oline auf Handel's Feuer und Lebendigkeit
einzugelien. Heftig riss ilini dieser die Violine aus der Hand und sjjielte
die Stelle auf seine Weise. Corelli entgegnete ilim: ,,Aber, lieber Sachse,
^g^jj^gjg-^^gj "Ifanzosischen Stile, auf den verstehe icli micli nicM^.
AeLnliche Anekdoten werden niehrere erzablt, so YOU seinem Aufent-
halte in NeapeL Ton- und gesangreicher Yortrag war, wie gesagt, seine
Eigentlimnliclikeit. BraYOur besass er noch nieht, und die Benufczung
der holieren Lagen des Instruments war itai unbekannt. An seinen
Compositionen ist das Melodios-Fliessende, Verstandliche , UngesueMe
und Einfache zu rahmen. Er hat Yiele Sainmlungen von Sonaten und
Concerten herausgegeben. Am Hochsten werden die Sachen geschatzt,
welclie er Yon 1690 bis 1700 componirte. Wie weit er aber im Ver-
gleich zu anderen Landern immerhin voraus war, erhellt aus der An-
gabe, dass in Pranla-eich ini Jahre 1715 die Kunst des Violinspiels noch
so tief stand, dass sich in Paris Keiner fand, cler Corelli's Sonaten
106
zu spielen verstanden hatte. Gleichzeitig mit Corelli werden nocli die
Violinisten Geminiani, ein Luccheser, und Vivaldi, ein Venetianer,
genanni Grosseres aber nacli Aller Urtheil leistete Giuseppe Tar-
tini, dor erste Meister Ifcaliens zu seiner Zeit, geb. zu Pirano, einem
Lanilgute in Istrien, im Jahre 1692, gest. 1770. Ich theile Ihnen einige
Hauptpuncte aus der ziemlich romanhaften Biographic dieses Zunstlers
mit. Seine ELtern wiinseliten, dass er sich. dera geistlichen Stande widmen
xnoehte, nnd iibergaben ihn, da er grosse Fahigkeiten zeigte, einer Unter-
richtsanstalt, wo er die Humaniora absolvirte, und nebenbei ein wenig
Musik und Violinspiel erlemte. Sie liessen ihm, da sie verlangten, er
solle in den Franciscanerorden der Minoriten treten, ein paar Zellen in
einem Kloster gesclimackvoll auf eigene Kosten einricliten. Aber Tar -
tini, selir weltlich gesinnt, war nicht zu bereden. Er bezog 1710 die
Universitat zu Padua, urn Jurisprudenz zu studiren. Mehr als diese
Wissenschaffc aber und als die Violine interessirte ihn damals die FecM-
kunst, in der er es schon fruh zu einer bedeutenden Fertigkeit gebracht
hatte.^Unaufhorliche Duelle mit Studenten waren die Folge. Es war
sein vorsatz, als Fecbtmeister nacb Frankreicli zu geben. lEine junge
Dame jedoch, aus der Familie des Cardinals Cornaro, liatte sein Inter-
esse gefesselt. Er unterriclitete dieselbe und yeiiiebte sicb in sie so
leidensclaftlicli, dass er sie schneH heirathete, oline dass die beidersei-
tigen Eltern ein Wort erfuliren. Die seinigen waren so erziirnt, dass
sie ihm fur immer litre Unterstiitzung versagten ; nocli mehr der Cardinal,
der ihna naclistellen Hess, so dass Tar tini sich genotliigt sail, seine
Gattin in Padua zurucfczulassen und als Pilger verkleidet zu flieben.
Unstat und fliieMig irrte er nun von Ort zu Ort, bis er in das Minoriten-
kloster zu Assisi kam, wo er in clem Ktlster desselben einen Verwandten
fand, der ihn aufaahm und verbarg. Hier nun mehrere Jabre ge-,
notliigt zu verweilen, liatte er Zeit und Gelegenlieit, liber den Leiclit-
sinn seines Lebens nachzudenken ; ganzlich umgebildet in seinem Clia-
rakter, ging er spater wiecler aus clemselben hervor. Urn die Langeweile
des Elosters zu zerstreuen, nalim er die Violine zur Hand. Er liatte
einen tticMigen Lehror gefunden und machte, da er fleissig zu werden
anfing,' bald grosse Fortsehritte. Ziemlich bekannt ist die Anekdote,
welche sich. an die Entstehung seiner Teufelssonate, deren Composition
in diese Zeit fallt, kniipft. Mit der Ausarbeitung dieses Werkes be-
scliaftigt, erschien ibm einstinals im Traum der Teufel und bielt ihm,
seiae Leistungen als Violinist herabsetzend, eine Strafpredigt. Gewissens-
bisse, die ilin wachend und sclilafend beunruMgen mochten, batten sich
in die concrete Gestalt des Teufels geldeideL Tar tini war im Traum
107
mit seiner Sonate beschaftigt. Der Teufel verspottete ihn, nahm die
Violine zur Hand und zeigte ihra neckend Schwierigkeiten, welclie er
nicht tiberwinden tonne, erinnere ich micli recht, so war es nament-
licli ein Triller, mit deni zugleich eine selbststiindig sicli bewegende
Stimme verbunden ist. Der Traum war lebhaft gewesen, nnd Tartini
erinnerte sich beim Erwaclien genau des Hergangs, entziiekt fiber das
Kunststuck, das ihm der Teufel gezeigt hatte. Er nahm es in sein "Werk
auf und ubte sicli rastlos, bis ilun die yollkommene Ausfiihrung desselben
gelang. Noch immer war sein Aufenthalt der "Welt unbekannt. Einst,
bei einem Feste, spielte Tartini in der Kirche Violine. Bin heftiger
Windstoss liob den Vorhang, Mnter deni er verborgen war, auf. Er
wurde sogleich yon einem anwesenden Paduaner erkannt, der nichts
Eiligeres zu thun hatte, als die gemaclite Entdeckung zu verrathen. Tar-
tini's Gattin meldete ilini sogleich die Aussohnung des Cardinals und die
so ftr ilin yorhandene Moglichkeit der Kuckkehr. Jetzt wieder in die Welt
eintretend, wurde er bald der Gegenstand allgemeiner Bewunderung.
Im Jahre 1721 erhielt er die Stellung als erster Violinist an der Kirche
des heiligen Antonius zu Padua, an einer der besten Kapellen Italians.
1723 erging an ihn ein Euf nach Prag zur Kronung Kaiser Carl's VL
Dort weilte er drei Jahre bei einem Grafen Kin ski* Hier horte ihn
der deutsche Flotist Quanz. Dieser schreibt fiber sek Spiel: 55 Er war
in der That einer der grossten Violinspieler. Ei brachte einen schonen
Ton aus dem Instrumente; Finger und Bogen hatte er in gleicher Ge-
walt. Die grossten Schwierigkeiten flihrte er ohne sonderliche Mtihe
sehr rein aus. Triller, sogar Doppdtriller schlug er mit alien Fingern
gleich gut. Er mischte sowohl in geschwinden als langsamen Satzen
viele Doppelgriffe mit unter und spielte gern in der aussersten Hohe.
Allein sein Vorfaag war nicht roll-end und sein Gesebmack nicht edel,
yielmehr der guten Singart ganz entgegen". Spater hat er ohne Zweifel
auch diese Vorzuge sich noch anzueignen gewusst, er wurde sonst nicht,
wenn ein Violinist sich ntir durch Fertigkeit der Finger und cles Bogens
yor ihm gezeigt hatte, gewohnlich gesagt haben: ,,Das ist schon, das
ist schwierig, aber hier (wobei er die Hand auf die Brust legte) hat
es mir Nichts gesagt". Nach Verlauf jener drei Jahre ging er nach
Padua zuriick, schlug die glanzendsten Einladungen aus und errichtete
1728 seine grosse, hochst einflussreiche Musikschule, welche ihm den
Namen des Lehimeisters der Nationen il maestro delle nazloni ,
verschaffte und aus der jetzt die vorzuglichsten Violinisten aller Lander
heryorgingen. "Was ihm in eigener Person durch Eeisen allein zu
erreichen unmoglich war, Verbreitung seiner Kunst, das eiiangte er
108
jetzfc in ausgedehnter Weise clutch seine Schiller. Als die vomiglich-
sten derselben werden genannt: Pietro Nardini uncl Gaetano Pug-
nani; zu Naumann's, des Dresdner Kapellmeisters, Bildung trag er
wesentlich bei, wie dies spater an seinem Orte noeh erwahnt werden
wird. Aucli in andeier Hinsicht erwarb er sich urn Padua Verdienste.
Er unterstutzte vielfach arme "Wittwen und Waisen und liess Kinder
aimer Eltern auf seine Kosten in der Scliule unterricliten. Tartini
hat mehrere theoretische Werke, insbesondere eines von der Theorie
des Elanges, herausgegeben und sich darin als Entdecker bewiesen.
Dass er seine Satze in mathematische und algebraische Dunkelheiten
eingebullt hat, soil nach dem Urtheil eines Freundes von ihm daher
konmaen,, dass er ein schlechter Bechner und noch schlechterer Mathe-
matiker gewesen ist; er hatte sich bei seinen niusikalischen Rechnun-
gen eine ganz eigene, sonderbare Yerfahrungsweise ausgedacht, welche
ihm durch Uebung ganz leicht geworden war, wahrend sie Anderen
unverstandlich blieb. Burney, bei Beurtheilung derselben, bediente
sich der "Worte desSokrates, welche dieser von Heraklit gebraucht
hatte: ^Was ich verstanden habe, ist vortrefflich; ich schliesse daraus,
dass auch das von gleicher Yortrefflichkeit ist, was ich nicht verstan-
den habe". Die Kunst der Bogenffihrung , sagt Kiesewetter, ward
durch ihn zu einer fruher nicht geahnten Vollkommenheit gebracht.
Ich nenne zum Schluss dieser Darstellung noch einen Schiller des Corelli,
Pietro Locatelli, geb. 1693 zu Bergamo, und gegen die Mitte des
vorigen als einer der grossten Yiolinvirtuosen allgeinein bekannt. Er
durchreiste ganz Europa und wahlte endlich Amsterdam zu seinem blei-
benden Wohnsitz. Dort errichtete er ein stehendes Concert und starb da-
selbst 1764. Die Werke dieses Maunes haben mich bei der Durchsicht
lebhaft interessirt, Man findet hier schon eine hochgesteigerte Bravour,
in der That, wie es mir scheinen wollte, Elemente des ein Jahrhundert
spater kommenden Paganini.
Dasselbe, diese hochgesteigerte Bravour uncl vielfache Elemente der
spateren Yirtuositat, erblicken wir auch bei dem ersten grossen Piano-
fortespieler und -Componisten Italiens, Domenico Scarlatti. Es ist hier
der Ort, auch dieser Leistungen noch im Yorubergehen zu gedenken.
Domenico Scarlatti war der Sohn des Alcssandro Scarlatti,
geb. zu Neapel im Jahre 1683. Ein Schiller desselben in seiner musi-
kalischen Bildung tiberhaupt, erhielt er die Yorbereitung fSr seinen
spateren Beruf in Kom. Durch ihn setzte der Yater die begonnene
Yerselbststandigung der Instrumentalinusik durch, urn so leichter, als
der Sohn zur Yerbreitung dessen, was er schuf, durch seine grossen
1U9
Keisen wesentlieh beitrug. England, Frankreich, Spanien, Portugal batten
Gelegenheit, die Kunst dieses Mannes zu bewundern. Im Jabre 1719
trat derselbe unter anderen auch in London als Componist anf , doch
nicht mit gleichem Erfolg wie als Virtues. Nur nach Deutscbland ist
er nicht gekonrmen. Erst ein Enkel des alt en Scarlatti naclt an-
deren Angaben ein Sohn des Francesco Scarlatti, eines Binders
oder nahen Verwandten des eben Genannten Giuseppe Scarlatti,
welcber die grosste Zeit seines ^Lebens Mndurch in "Wien lebte, und
daselbst im Jahre 1771 gestorben ist, verpflanzte die Bestrebungen die-
ser Faniilie nach Deutschland, einer Familie, die in ibrer Stellung zur
italienischen Kunst vielfach Analoges zeigt mit der Sebastian Bach's
in DeutscHand. Wie Seb. Bacb bezeichnet A. Scarlatti in Italien
den "Wendepunet zwischen alter und neuer Zeit; wie Do in. Scarlatti
bezeichnet Eonannel Bach die entschiedenere Wendung zum Neuen,
die Verselbststandigung der Instrumental-, insbesondere der Pianoforte-
musik. Dom. Scarlatti war zuletzt Pianist des Konigs von Spanien,
und starb daselbst im Jahre 1757. Die Werke dieses Mannes baben
neuerdings wieder grosseren Eingang gefunden, und sincl nach. dera Vor-
gange yon Liszt und Clara Schumann vielfacli offentlich ziun Vor-
trag gebracht worden. C. Czerny bat eine Gesamnitausgabe derselben
veranstaltet und durch eine sehr ruhmende Vorrede dieselbe eingeleitet.
Aucli H. v. Btilow hat mehrere herausgegeben. Unter der grossen
Menge dieser Sonaten ist allerdings aucb inanches Veraltete; viele je-
docli behaupten far alle Zeiten iliren Wertli. Fur die Kenntniss der
GescMchte des Instruments, sowie zur Vervollstandigung des Bildes
von den damaligen grossen Eunstleistungen Italiens sind sie von ausser-
ordentlicher Bedeutung. Mit Erstaunen erblickt man diese liocbge-
steigerte Bravour, wennscbon die Ausfuhrung bei der Beschaffenheit
der damaligen Instrumente niclit die Scliwierigkeiten darbieten konnte,
wie gegenwartig.
Aucli das Orgelspiel bliihte in deni ganzen gegexrwartig besprocbenen
Zeitraum. In der ersten Halfte des 17. Jalrrhunderts hatte Italien den
hoch.beruh.mten Frescobaldi (1588 1653), zu welchem auch deutsche
Organisten kamen, um ihre Studien zu machen. Er war der Lehrer des
kaiserlichen Hoforganisten Froberger (geb. um 1605, gest. 1667).
Die Organisten waren von jeher die Vertreter der strengeren Kunst,
und so erblicken wir noch langere Zeit hindureh in Italien tuchtige
Ktinstler dieses Faches. Seit dem 17. Jahrhundert bildeten sich der
doppelte Contrapunct und die Fuge rnehr und mehr aus. Die letztere
erhielt indess erst in der Zeit A, Scarlatti's Ihre" Vollendung. Bald
110
traten in Italian und Deutschland Theoretiker auf , welche die Lehrsatze
entwickelten und feststellten , und so selien wii endlich auch dieses Ge-
biet zum ersten befriedigenden Absclluss gelangen. Zuletzt muss icli
Her noch der ersten virtuosenm&ssigen Leistungen auf den Blasinstru-
nienten gedenken. Das Hervortreten derselben nach dem Vorgange
der Saiteninstrumente fallt in die erste Halfte des vorigen Jahr-
hunderts. Blieb aueh in Italian die Oreliesternrasik innner nur eine
SaoTie von untergeordneter Bedeutung, so erscheint dieselbe doch nun
sehon bis zu einer Sttife ausgebildet, welche Deutschland in den Stand
setzte, darauf fortzubauen und spater das Hochste dieser Gattung zu
erreichen.
Das heitere, prachtige, farbengliiliende Venedig zieht jetzt nocli
unsere Blicke auf sicli. Eine dritte italienische Musikscliule ausser
anderen, indess weniger umfassenden und erfolgreiclien ist nocli zu
nennen, mit der roniischen und neapolitanisclten von der grossten Be-
deutung: die venetianisclie. In Venedig bestand eine eigene Scbule
der Tonkunst in dein gesammtan, bis jetzt besproclienen Zeitramn. Ich.
gedenke derselben erst an diesena Orte, weil es die Uebersiclit wesent-
licli erleiclitert, das Zusammengehorige in grosseren Gruppen zusainmen-
gestellt zu finden , walirend die blosse, Gegentiberstellung gleichzeitiger
Vorkonunnisse nur die untergeordnete Orientirung uber die Zeitfolge
gewShrt.
Die ersten Anregungen gingen auch Mer von den Niederlandern
aus; ich. bemerkte sclion, dass es Hadrian Willaert gewesen sei,
welder als der Grander der Schnle zu bezeichnen ist. Seine umnittel-
baren Amtsnaclifolger am Dome des lieiligen Marcus waren die Scliuler
dasselben, Cyprian de Bore (1516 1565), welcliem die entliusiastisclie
Verelirung der Italiener den Namen n il dimno u beilegte, und Zarlino
(1519 1590), der grosste Tlieoretiker cles Jahrhunderts. Ausser diesen
warden nocli mehrere andere Namen als seiner Schnle angehorig genannt,
der sclion einnial erwalinte Alfonso della Viola, Costan zo Porta
u. A. Die Yenetianer liaben einen eigentMimliclien Stil ausgebildet, ob-
sclion man sich ilire Schnle natfrrlieh niclit vollig getrennt und streng
gescMeden von den sclion erwahnten vorstellen clarf. YieEeicM sind
in itrer Musik verwandte Elemente mit denen der venetianischen Maler-
schule. Wenn wir bei den Eomern, beiKapliael, die sclione, classisclie
Form, die Strenge der Zeiclmung, den idealen Scliwung bewundern,
so ist dagegen bei den Venetianern die Farbe dasjenige Element, durcli
welches vorzugsweise ihre kunstlerisclien Bestrebungen Yollendung er-
langt liaben. Mit bewundernswertlier Meisterscbaft, sagtKugler, wissen
Ill
sie das warme Leben des Nackten, die Praclit und den Schimmer der
mannigfaltlgsten Stoffe nachzuahmen. Es 1st die Freude am Leben
und am Glanze des Lebens, was sicli in alien edleren Leistungen die-
ser Schule ausspricht so namentlich bei Tizian , das Leben in
seiner vollsten Potenz, es ist die Verklarung des irdisehen Daseins
oline Nimbus und cine Opferblut, die Befreiung der Knnst aus den
Banden Mrchlicher Dogmen. Venedig, ausgezeichnet durch Eeichthum,
politisclie und kriegerische Macht, genussliebend und genussbietend,
zeigte weniger Interesse far Eeligion, und es kam ihm weniger darauf
an , die kirchliche Strenge aufrecht zu erhalten. Die Oper fand, wie Sie
wissen, Mer sehr fruh Eingang, und auch dies trug dazu bei, der Mu-
sik der Eepublik einen abweichenden Character zu geben. "Wie nun
bei den Malern die Farbe das vorwaltende Element ist, so scheinen
die Musiker mehr Eucksiclit zu nelunen auf den Glanz der ausseren
Ersclieinung , mehr die Wirkung ins Auge zu fassen. Die Werke der
sogleich zu erwahnenden Meister, die Neigung derselben far Vollstimmig-
keit, diebeliebte Zusamrnenstellung melirerer Cliore nach. Willaert's
Yorgang spricht dafiir.
Zu den ausgezeichnetsten Meistern in der zweiten Halfte des 16.
Jahrkunderts gehoren Andreas Gabriel! und dessen Neffe Giovanni
Galbrieli, insbesondere der Letztere, Beide nach einander Organisten
am Dome des heiligen Marcus* GioTanni Gabrieli, aus der Pamilie
der Galilei, der aucli der Pliysiker angeh5rt, war ini Jahre 1557 ge-
boren. Yon dem gelehrten, zugleieh aber auch die Tonkunst liebenden
Vater fur die Wissenscliaften wie ffir Musik lierangebildet , wurde er,
da sein grosses Talent fruli sicli entwickelte, fiir die letztere bestimnit.
Er macMe die umfassendsten Studien und wurde einer der grossten
Orgelyirtuosen seiner Zeit. Im hohen Alter eiiebte er nock - er starb
im Jahre 1612 den Glanz und die Pracht der neu in die Welt ein-
ketenden Oper. Er selbst aber ist nicht eingegangen auf dieses Neue.
Seine Eichtung ist die des erlabenen Stils der Ejrcheninusik im 16.
Jahrliunderk Ausfohrliclieres JBndet man in der sohon fruher genann-
ten Schrift von Winter f eld. Eoclilitz in seinem Sammelwerk tlieilt
zwei Werke von Gabrieli mit; Mer ist es insbesondere eu n Benedictus u
fur drei Chore der erste far 3 Soprane und 1 Tenor, der zweite fur
die gewohnlichen 4 Stimmen, der dritte fur 1 Tenor und 3 Basse ,
welches die Aufinerksamkeit fesselt. Es ist, wie Sie schon aus dieser
Anordnung der Stimmen entnehinen konnen, ein uberaus glanzendes
Musikstuck. Pur uns ist Gabrieli, sowie uberliaupt die venetianische
Schule, interessant, da sie nicht oline Einfluss auf Deutschland geblieben
1J2
1st. Die geographische Nahe, die vielfachen engen Handelsverbindungen,
sowie aucli der weltlicliere Sinn Venedigs, der an Glaubensstreitigkeiten
weniger Interesse fand, waren jedenfalls Mervon die Ursache, wahrend
das strengere Eom gar nicht auf Deutschland einwirkte. Auch
deutsche Maler, so Albrecht Durer, besucMen Venedig, wennsclion
vielleiclit mit geringerem Erfolg fur ilire Ausbildung als die Musiker.
Die Letzteren erhielten sehr erfolgreiche Anregung durch Gabrieli und
dessen Schule, und wir werden nn weiteren Verlauf der DarsteUung
mehrere der vorzuglichsten deutschen Meister zu nennen haben, welche
dort ilire Ausbildung erHelten. Venedig liat dadureli wesentlicli einge-
wirkt auf die Gestalt der Kunst in unsereni Vaterlande und dazu beige-
tragen, dieselbe von der ihr innewohnenden Starrheit und Schwerfallig-
keit zu befreien. Ein zweiter grosser Tonsetzer dieser Scliule ist
Antonio Lotti, geboren im Jahre 1667. Dieser gehort vollstandig der
neuen Eichtung an, der durcli die Oper bewirkten Umgestaltung der
gesamniten Tonfainst, obsclion er derselben durcliaus noch niclit ein
tadelnswertlies UebergewicM gestattete; ini Gegentlieil: es ist die alte
Strenge und Gediegenheit bei ihm vorwaltend, aber verscliont durcli die
Grazie der Epoclie des sclionen Stils. Kiesewetter bezeicknet ilin als
einen Meister, welcher im sublimsten Contrapunct, wie im concertiren-
den oder solennen Kirclienstile , im geistlielien Drama, wie im Madri-
gal Keinern naclistand, und den kulinsten und zugleich regelmassigsten
Harmonisten aller Zeiten sicli anreilit. Seine Studien fallen in die Zeit
um das Jahr 1684. Spater wurcle er Organist an der Marcuskirclie.
Um das Jahr 1712 horte ihn und einige seiner Werke der danialige
Kuiprinz von Saclisen. In Polge des grossen Eindrucks, clen er auf
diesen gemacht hatte, ward er 1718 an den Hof zu Dresden berufeu,
wo seine Gattin als Sangerin auftrat. Er kehrte aber schon 1719 nacli
Venedig in sein voriges Amt zuriick und wurde J736 zum Kapellmei-
ster daselbst ernannt. Er starb im Jalire 1740. Audi Opera hat Lotti
in der Zeit von 1683 bis 1718 in grosser Zahl geschrieben, die in ganz
Italien gegeben wurclen. Hier accommodirte er sich der Menge. Was
semen Werth fur uns bezeichnet, sind, wie es nach allem Vorausge-
gangenen kauni erst eiuer Bemerkung bedarf, seine kirchlichen Werke.
Leider sind uns davon nicht viele bekannt. Rochlitz tlieilt einige Brucli-
stucke mit, unter diesen das zuorst in No. 50, Bd. XXI der Allgem. musik.
Zeitung veroffentlichte Cnidfixw , eines der lierrlichsten Werke der
itaHenischen Kirchenmusik tiberhaupt. Selbst Hasse, der als ein Scliuler
Scarlatti's sonst nicht gern einem anderen Meister Gercchtigkeit wider-
fahren liess uud nameutlich Durante, wo or konnto, herabsetzte, hat to
113
ihn, als er im Jahre 1727 ihn kennen lernte, hochschatzen gelernt:
aWelcher Ausclruck", rief er aus, als er erne Lotti'sche Composition horte,
,,welche Mannigfaltigkeit und doch welche Richfcigkeit und Wahrheit der
Ideen!" lot nenne endlicli einen der letzten bedeutenden ESnstler die-
ser Sehule, welcher zugleich der neuesten Zeit am nachsten steht : Bene-
detto Mareello, ein venetianischer Patricier und eigentlich Dilettant,
geb. 1686, gest. 1739. Er war Staatsmann , anfangs Eiehter in Vene-
dig unter den sogenannten Vierzigern der Kepublik, zuletzt Schatzrnei- "
ster in Brescia. Seine Neider und auch spatere Schriftsteller benutzten
diesen Unistand, wiewolil sehr mit Unrecht, urn seine musikalischen Lei-
stungen zu verdacMigen, sagend, dass das, was dem Musiker nieht ge-
lungen, die AuflEBhrung seiner Werke in vielen Hanptstadten Eiiropas,
durch den Einfluss des hoehstehenden Staatsbeainten bewirkt worden
sei. Dem Character seiner Werke nach steht Mar cello der neuesten
Zeit am naehsten, obschon er nie fur die Oper gearbeitet hat, Charakte-
ristiseh fur ihn 1st, dass er statt der bis daMn ublichen lateinischen Texte
ein ietalienische L T ebersetzung der Psalmen fur seine rausikalische Bear-
beitung wahlte, charakteristisch ferner, dass er sich den Textesworten |
weit mehr , als bis dahin ublich, im Binzelnen anbequemte, dass er nach J
dem Ausdi-uck der Einzelheiten des Textes strebte , wahrend es frflher 1
mehr auf den Ausdruck der Gesammtstimmung angekommen war ; eine i
nothwendige Folge dieses Strebens musste der haufige Weehsel des
Tempos und der-Tactart in demselben Stuck sein. Sein Hauptwerk
sind 50 David'sche Psalmen, welches in vielen Ausgaben erschienen
ist, so zu Anfang dieses Jahrhunderts in Venedig. In neuester Zeit sind
einzelne daraus in mehreren Ausgaben wieder gedruckt. Namhaft zu
machen.ist schliesslieh auch noch der Yenetianer Antonio Caldara
(1670 1736), wiewol derselbe ebenso sehr auch unter dem EMuss der
Heapolitaner gestanden hat und die Hauptzeit seines Lebens als Hofvice-
kapellmeister und Lehrer Carl's TL in Wien lebte. Er geh5rt zu den
besten Meistern jener Zeit.
Naehst der eben besprochenen venetianischen will ich im Voruber-
gehen noch der bolognesischen Schule gedenken. Paolo Colonna
(gegen 164095) war der Grander derselben, Giovanni Maria Clari, geb.
1669, ein ausgezeichneter Schuler desselben. In der schon ofters erwahnten
in Halle veroffenfclichten Sammlung ist uns nur ein trefflicher Psalm des-
selben: ^De profwidis", zuganglich. Im Archiv des Doms zu Pisa da-
gegen und in der Scuola daselbst befinden sich mehr als anderthalb hun-
dert Werke Clari's. Ueberhaupt gilt, was hier nur beilaufig und bei
einer besonders au^lligen Veranlassung erwahnt wurde, von der Mehr-
8
114
zahl der bis jetzt besprochenen Erscheinnngen. So viel auch in neuerer
Zeit gethan wurde, urn die Quellen zu eroffiien, uns die altere Kunst
wieder zuganglich zu machen, so 1st veiitaltnissiiiassig doch immer nur
erst seta wenig geschehen , und die Vorarbeiten ftir den jetzt behandel-
ten Abschnitt sind deninacli im Ganzen nooh ziemlicli gering. In den
Bibliotheken Italiens liegt die MehrzaH dieser Schatze aufgespeichert,
ohne noch den Kunstfreuntlen wieder zuganglich gemacht worden zu sein.
Wir slnd deshalb zur Zeit aucli ausser Stande, die EntwickMng der
einzelnen Meister durch eine ins Specielle zugespitzte Oharakteristik der-
selben zu geben. Es muss gentigen, wenn es uns gelingt, die Bedeutung
der YerscMedenen Epoclien und Kunstschulen im AUgemeinen festzustellen.
let beschliesse hiermit fur langere Zeit die Darstellung der Ge-
schiclite der italienischen Musik. Italien hat bis lierab in die Mitte des
vorigen Jaliiinmderts das Grosste geleistet; yon da an datirt der Ver-
fall seiner Kunst; nur auf dem Gebiete der Oper, insbosondere der
komisclien, ist spater noch Hervorragcndes gescliaffen worden. Wir
erblicken in den durcMattfenen Jahrhunderten die Bewegung von einem
Endpunet zum anderen, Yon der ausscHiesslichen Herrschaft der Kirclien-
inusik im 16. Jalirliundert bis zum Verschwinden derselben im IS. und 19.
Die Tonsetzer sclmeben zwar auch weiterhin noch kirchliche Werke,
doch liegt der Schwerpunet in dem, was sie ftir die Oper leisteten. So
sehen wir, wie die letztere, welche im 17. und 18. Jahrhundert der Eircheu-
musik nur gleichberechtigt gegeniiberstand , endlich alle Krafte an sicli
zieht; wir gewahren, wie dieselbe der sfcrengeren Kunst Verniclxtung
bringt, uin endlich, selbst des gediegeneren Haltes entbehrend, in Tri-
Yialitat unterzugehen. Auch yon der Kunst der Ausffihrung gilt Aehn-
liches- Aueh sie, sowol im Gesang als Instrumentenspiel, ist im weite-
ren Yerlauf dort zuruckgetreten, und Deutschland war es vorbehalten, die
von Italien gegebenen Anregungen aJlseitig weiter zu bilden. Nur die
Kunst des Gesanges macht in gewissem Sinne eine Ausnahme. Hier-
uber, sowie fiber die Bedeutung der Virtuositat und ilir Verhaltniss zur
freisehaffenden Kunst, ist weiterhin noch ausftihrlicher zu sprechen,
wenn -uns erst ein reicheres thatsachliches Material vorliegt. Genug,
dass wir bier das erste Auftreten der Virtuositat, die erste becleutsame
Entwicklung derselben bezeichnet haben. Was ihr Verhaltniss zur frei-
sehaffenden Kunst betrifft, so wircl dasselbe selten richtig erkannt, bald
wird sie tiber-, bald unterschatzt. Bald soil sie bahnbrechend voran-
schreiten, bald als dienende SclaYin in der Yollsten Abliangigkeit sich
befinden, wahrend das Eichtige allein in der Erfassung gegenseitiger
lebendiger Wechselbeziehung enthalten ist.
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Bevor ich jedoch weitergehe, 1st es nothwendig , die zurtickgelegte
Balin nocii einmal unter allgemeinen, kimstgescMchtlielien GesicMspuncten
zu betracliten. "Wie ich am Sehlusse der ersten, elnleitenden Periode
bestrebt war , Ilinen die culturgescMeMKGhe Bedeutung des Aufschwungs
der Tonkunst zu classischer Holie tiberliaupt darzulegen und den Moment
zu bezeiclinen , wo dieselbe Tragerin des fortsclireitenden Geistes wird,
so kommt es jetzt, uachdem wir schon einen grosseren EeicMlium des
Stoffes vpr uns haben , darauf an , die innere Entwicklung , die Gesetze,
welclie diese bestinunen, naher zu erortern und festzusteUen , urn auf
diese "Weise, mit den Tliatsaclaen Schritt haltend, zugleicli zu tieferer
Erkenntniss clerselben, nacli und nacli aber zu einer mnfassenden Orien-
tirung uber das grosse Gauze der Tonkunst mid die Gestaltung desselben
bis lierab auf die Gegenwart zu gelangen. Dies wird die Aufgabe der
nacbsten Vorlesung sein.
Siebente Vorlesung,
Die Hauptepochen der Kunst. Charakteristik der italienisclien und deutschen
Husik. Blick auf die Hauptentwicklungsstufcn der letzteren.
Alle Kiinste entspringen aus der Religion; Baukunst, Sciilptur,
Malerei, Musik, Poesie danken dem Eintritt des Gottlichen in die Welt,
der Hinwendung der Yolker zu demselben ihre Entstehung und Ent-
faltung bis fast zu dem hochsten Grad der Vollendung hin. Wir finden,
wenn wir den Ursprung und Fortgang der Kunst aucli nur fluchtig ins
Auge fassen, tiberall diese Wahrnelnnung bestatigt. In der ersten
Periode ihres Daseins namentlich weilen die Ktinste fast ausscliliesslicli
in den Hallen der Kirche als Dienerinnen des Gottlichen und Vermitt-
lerirmen seiner Herrlichkeit. Die Eunste erhalten die erste Pflege und
Nahrung Ton der Eeligion und haben dalier zunaclist auch einen ge-
meinscliaftliclien Inhalt mit dieser; die cliristliehe Kunst hat das Chri-
stentlium zuin Inhalt. Dies ist die Witrde und Grosse der Kunst, dies
ist es, was dieselbe mit Wissenscliaft und Eeligion auf den Gipfel
menschliclier Geistesthatigkeit stellt und die liocliste Weihe uber sie
ausstromt.
Zwar scheint die Kunst nur fur kfirzere Zeit die Eeligion sich zum
Inhalt zu wahlen, dieselbe nur kluger Weise zu benutzen, um an iln* und
durch. sie zu erstarken. Denn kaum gereift, kaum zu liolierein, selbst-
standigem Dasein entfaltet, verliisst sie die Hallen 'des Tempels und
eilt hiiiaus in die Welt, um sich der irdischen Ereude und dem irdischen
Schmerze des Menschen zuzugesellen , um Ersatz zu suchen in dem
bunten Wechsel des Weltlebens fur den Ernst und die Strenge ihrer
Jugend. Fast scheint es, als ob sie nur ihre eigene Erstarkung ab-
warte, um dann der Mutter, derKirche, fur immer untreu zu werden.
Aber auch jetzt, eingetreten in die Welt, bleibt sie die schonste Zeit
A 4*7
11 <
ihres Daseins Mndurch ihrem gottlichen Ursprung getreu und bewahrt
den eingeborenen Geist Die Kunst 1st keine Heuchlerin, keine Be-
trfigerin. Ihr0-dienende Stellung giebt sie zwar jetzt auf; sie wahlt'
nicht mehr ausschliesslich oder uberwiegend Gegenstande des kirch-
lichen Glaubens zum Object ; sie wircl sich selbst Zweck , und das
Schone ihr einziger Inhalt. Aber jetzt lernt der Menscli in ihr die ur-
sprfingliche Holieit seines Wesens empfinden; er gelangt zum Bewusst-
sein seiner eigenen UnendHchkeit , zu jenem Bewnsstsein, welches
Goethe schon in den einem alten Mystiker nachgebildeten Worten
ausspriclit :
War' niclit das Auge sonnenliaft,
Wie kormten wir das Liclat erbllckenl
"West 7 nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wle konnt' uns Grottliches entziicken!
Der Unterschied 1st, dass das Gottliclie niclit mehr in der iton eigenen
Form der Religion Inhalt der Kunst ist, sondern dasselbe als einge-
gangen in die inenschliche Natur erscheint. Wenn die Kunst friiher
im Dienst der Kirche das Irdisclie durch das Himmlische verHarte, die
Weltlichkeit hinaufhob in jene hohere Sphare, und vom Ueberirdischen
ihren Ausgangspunct nahm, so geht sie jetzt ein in die Welt, nimmt
Wohnung in ihr, durchdringt dieselbe aber mit ihrem gottlichen Inhalt.
Fruher stand sie auf der Seite des Ueberirdischen und zog das "Weltliche
in dieses herein; jetzt steht sie auf der Seite des Irdischen, erfullt dies
aber mit flem UnendHchen, und eint so von der entgegengesetzten Seite
beide Spharen.
Nur erst spat, zur Zeit ihi % es beginnenden Verfalls, vei^gisst die
Kunst ihren hoheren Ursprung, verHert ihre iiberirdisehe Basis, und
giebt sich hin an die Welt. Das schone Gleichgewieht beider Seiten
verschwindet, das Irdische ist nicht mehr von clem Gottlichen durch-
drungen und verklart, sondern nur noch all ein vorhanden. Jetzt ent-
faltet zwar die Kunst ihre ganze weltliche Pracht; jetzt erst wird sie
hauptsachlich die massenbezwingende, die hinreissende, aber sie vermag
dies nur, indem ^ie den Leidenschaften der Menge schmeichelt, und
diese in ihrer ganzen naturlichen Nacktheit ohne Verklarung und hohere
Weihe clarstellt. Ihren Beruf, das Himmlische und Irdische zu ver-
mitteln, die Erhabenheit des Gottlichen zu mildern durch ihre mensch-
liche Natur, hat sie vergessen ; sie ist nntergegangen in der Welt. Jetzt
endlich wird sie fahig, aueh den schlechtesten Inhalt in sich aufzuneh-
men, und, statt der Veredlung, der Frivolitat, Eitelkeit und Unsittliehkeit
zu dienen. Nicht allein Poesie und Malerei, nicht allein die mit Worten
118
verbundene Musik, auch die reine Instrumentalmusik kann diesem
ScMeksal unterliegen, und es bedarf nur einer Erinnerung an die Mode-
producte des Tages, urn die Wahrheit dieser Ansicht besitlfcigt zu finden.
Aber solche Leistungen gehoren allein der Stufe des Yerfalls an. Wesent-
lich ist der Irihalt der Kunst die Unendlichkeit des Geistes, und 1 clas
Hochste, was die Brust des Menschen zu bewegen vermag, ist ihr zur
Offenbarung fibergeben. Die Eeligion enthalt Mchts, was der Kunst in
ihrer Weise unerreichbar ware, und so wie jene feiert auch sie den
Triumph des menschgewordenen , in die irdische Welt eingetretenen
Gottlichen.
Betrachten Sie unter den eben aufgestellten Gesichtspuncten den
bis jetzt zurttckgelegten Weg, so ergiebt sich die Anwendung leicht.
Es sind die beiden ersten grossen Epochen, welche icli Tnnen dargestellt
und auch schon als die des erhabenen und schonen Stils bezeichnet liabe.
Das 16. Jahrhundert, die Schule Palestrina's, umfasst die ausschliess-
Hch Mrchliche Richtimg der itaKenischen Tonkunst; das 17. und 18.
Jahrhundert ist die Epoclie des scliQnen Stils; die Zeit des Verfalls be
ginnt in dein gegenwartigen Jahrhundert.
Noch unter anderen, obschon verwandten Kategorien lasst sich die
bezeiclinete Entwicklung begreifen. Alle Kunst nanalicli besteht in der
gegenseitigen Dmchdringung eines Geistigen und Stofflichen, eines Inne-
ren und Aeusseren, und das Uebergewicht einer dieser Seiten liber die
andere, some die Vereinigung zu volllcommenster Harmonie bezeichnet
die Hauptwendepuncte in der Qeschichte der Kunst. Alle Ktinste be-
ginnen mit dem Geist, mit dein Uebergewicht, mit dena Uebergreifen
desselben liber das sinnliche Material, und enden auf der ontgegcnge-
setzten Seite mit dem Uebergewicht des Materiellen. In der Mitte
zwischen diesen beiden Hauptpuncten , zwischen der Herrscliaft des
Geistes iin Anfang und dem Uebergewicht cles Materiellen am Encle,
ersoheint clas schonste Gleicligewicht beider Seiten, die vollkonimenste
Durclidrmgung von Geist und Materie in der sehonen, der eigentlich
classisolien Knnstepoche.
Handelt es sicli urn naliere Vcranschanlichung * dieser Entwicklung,
so glaube ich kein scklagenderes Beispiel wahlcn zu konnen, als die
bildende Kunst der Griechen und Eoiner, und urn dieser grossen An-
sehaulichkeit willen mogen Sie die Abscliweifung auf ein zwar vor-
wandtes, doch nicht unmittelbar liierlier gehSriges Gebiet entschuldigen.
Es ist uberhaupt von beiden Volkern, namentlicli dem erstgenannten,
in Bezug auf Kunst ausserordentlicb viel zu lornon. Urn wic viel tiefer
auch der Geist in der christlichen Zeit in den Schacht seines Inneron
Mnabgestiegen 1st, wir stehen zurfick an ungehemmter, naturgemasser,
rein und klar sich darstellender Entwicklung hinsichtlich des Grossen
uncl Ganzen sowol, als aucli der Individuen; wir stehen zurfick an
Gesundheit und Frische des Geistes, viel zu sehr beschwert nnd in
unserem Bewusstsein zersplittert clureli die Masse der Bildungsgegen-
stande und durch das complicate moderne Leben. Jene alien Volker
liaben ausserdem fur fast Alles, was in den nachfolgenclen Zeiten gross
und bedeutend werden sollte, die Balin gebrochen, und die spateren
Vervollkommnungen sind inehr nnr Eesultat des in sich vertieften Stand-
punctes, oline wahrhaften Fortschiitk Nur die Tonkunst, ganz allein
eift Resultat der modernen Zeit, macht eine Ausnahnie, ein Urastand,
von dem unsere Literattir- und CulturMstoriker bis jetzt fast kerne Ah-
nung batten, obsehon er geeignet 1st, nicht allein die grosse Bedeutung
der Musik uberhaupt zu beweisen, sondern aucli insbesondere das deut-
sche Leben recht in seinem Mttelpunct zu erfassen; die Tonkunst
ist das Eigenthuraliehste der modernen Zeit, die Grosse und der Stolz
derselben und in ihrer Stellung zu der allgemeinen geistigen Entwicklung
nocli lange niclit ausreicliend erkannt. *
Mit den griecMscben Gottern beginnen die gebildeten Kunstdar-
stellungen jenes Landes, wo sie verehrt wurden, und zwar mit dem
Kreise der obersten Gotter. In scliroffer Hoheit und Erliabenheit toeten
sie in die Welt ein. Die Gestalten baben einc rubige, wurdevolle Hal-
tang, die Ai'me und Fiisse sincl unbescbafbigt, von Kuhnlieit der Stel-
lungen und Bewegliclikeit des Korpers ist noch keine Eede. Der ge-
sammte Korper stellt sich uns meist bekleidet dar, und der Ausdraek
concentrirt sicli im geistigen Theile, dem Gesiclit. Man sieM, wie der
Geist mit Millie noch in die irdisclie Ersclieinuug eingeht, wie er noch
viel zu sehr fur sicli ist, urn sich des ganzen stoffliclien Eeichthums zu
beinachtigen, wie er in seiner Hoheit und Erhabenlieit die menschliche
Gestalt noch nicht vollig zum Ausdrucksniittel fur sich gebrauchen kann,
wie er noch fiber die sinnliche Erscheinung hinausragt. Ich erinnere
an die im Alterthmne so hochberiilimte Statue des Zeus von Phidias,
die durch Ab- uncl Nachbildung aucli auf uns gekommen ist. Der
Gott thront in wtirdevoller Erhabenheit, in Gewander gehtillt, auf einem
reichverzierten Sessel, inajestiitisch in der Linken das Scepter mit dem
Adler haltend. Diese Hoheit des olymperschutternden Zeus zur Erschei-
nung zu bringen, war das Ziel des Kunstlers, und die gesammte Dar-
stellungsweiBe inusste daher, mit Ausschliessung aller rnehr irdischen
Beziehungen , diesem Zweck dienen. PortraitahnMchkeit , und noch
dazu diese Aufgabe in ziemlich ftusserlicher Weise erfasst, schliesst die
120
Geschiehte der bildenden Kunst bei den Griechen und Romern. Die
ganz individuelle Wahrheit und Richtigkeit, Virtuositat in der Darstel-
lung ist es, worauf der Kunstler sein Hauptaugenmerk riehtet. Der
deni vorigen entgegengesetzte Standpunct, Uebergewicht des Materiellen
anf Kosten des hoheren Geistes, Versenkung in die Aeusserlichkeit,
sind das Charakteristische. Alle kunstlerischen Mittel sincl erkannt
und zur Virtuositat gesteigerfc; Eeflexion anf die Wirkung kommt Mnzu
und hat jene Mhere, nnr in der Saclie lebende Naivitat, jene weihevolle
Versenkung ganz vernichtet. So erblicken wir in der bernhmten Gruppe
des Laokoon bei aller Vortrefflichkeit des Werkes ein Znrschantragen
der Technik. und der Kunstler breitet seine Kenntniss des mensfeh-
lichen Korpers vor uns aus; so tritt der gleich hochberuhmte vati-
canische Apollo mit theatraEschem Anstand vor uns hin, coquettirend
mochte ich sagen, und lasst ein dem Modernen etwas yerwandtes Effect-
streben seines Schopfers dnrchblicken. Das ist die Stufe sinkender
Kunst, die an die Stelle der alien einfaclien Grosse und Weihe Aeusser-
lictkeiten treten lasst. In der Mitte zwisclien diesen jetzt gezeichneten
Endpuncten, in der sclionen, im engeren Sinne dassischen Epoche ist
es, wo das lierrlichste Gleichgewieht beider Seiten, des geistigen und
materiellen Elements, sich zeigt. Der Geist ist yoUstandig eingegangen
in die sinnliclie Erscheinung und durchdringt diese nach alien Seiten;
jder ganze Korper ist belebt, und die minder geistvollen Organe sind
Janfgenommen in die Idee des Ganzen und verldart von dieser. Wenn
fionst das Antlitz in Brhabenheit strahlte und die abrigen, nur dem
Gesammtausdruck dienenden, verhiillten Korpertlieile in den Hintergrund
traten, so ist jetzt der Geist eingegangen in die Gesammtheit des Kor-
pers. Das Nackte wird zum wiclitigsten Gegenstand der Kunst, und die
sinnliche, aber nocli niclit bis zu individnellen Zufalligkeiten der Ge-
stalt heransgearbeitete Seite in ihrem Reclit anerkannt. Der Geist der
Kunst ist aus jener frnheren Naivitat herausge treten, fortgeschritten zu
erweitertem Bewusstsein, ohne jeclocli in der Eticksicht anf das Aeussere
ganz sicli von der ursprflnglichen Basis zu verlieron. Beide Seiten
durchdringen sich zu einem untlieilbaren Ganzen, beido sincl im Gleich-
gewieht, beide decken sick Wenn frulier vorzngsweise die Gotter in
der Kunst zur Darstellimg kamen, clenen Hoheit tiberwiegend bei-
zulegen ist, Zeus, oder irgend Schroffheit und Hfirto der Eigenscliaften,
wie bei der Pallas, der en Standbild Phidias schuf, so sind jetzt
die Gotter der Grazie und Anmutli bevorzngt. Apollo und Venus wer-
den Mittelpunct der Darstellungen, und an dem an sich Gleichglilti-
gen der Beschaftigungen derselben, an den Situationcn des gewohn-
/IO/J
I/ol
lichen Lebens gilt es, die Herrlichkeit des menschlichen Korpers, und
seine Fahigkeit fur die Offenbarung der Dnenclliehkeit des Geistes dar-
zustellen.
Wie nun bei der bildenden Kunst in der ersten Epoche die sinn-
liclie Seite noch nicht vollstandig zu ihrem EecM gekommen war, so
tritt auch in derselben Bpoche der Tonkunst, bei Palestrina und
seinen Eachfolgern im 16. Jahrhundert, der Geist noch ubermachtig, in
schroffer Erhabenheit hervor, wahrend die sinnliclie, teehnische Seite
zu einer gleiclien Bereclitigung noch nicht durchzudringen vermoclite;
wie Zeus in jenei Statue noch fiber die mensehliche Erscheinung hinaus-
ragt! Die Schopfungen der Tonkunst besehranken sicli auf das ein-
facliste Material, die mensehliche Stirmne, und die Instrumente sind in
ihrer umfassenden Bedeutung nocli nicht erkannt. Die Beziehung auf
den Einzelnen im einstimmigen Gesang ist nocli gar niclit vorhanden,
denn der Sologesang musste erst spater erfunden werden. In grossen
breiten Massen erbauen sicli jene ausschliesslich kerrschenden Chorge-
sange vor unserer Anschauung. Endlich fehlt noch der umfassende
Gebrauci der Accorde, der Dissonanzen, fur welehe die spatere Zeit
eine immer grossere Geltung zu erringen wusste. Wie clort in der
zweiten Epoche die nackte menscbliche Gestalt in ihrer Totalitat Aus-
drucksmittel des Geistes wurcle. wie Sitnationen des gewobnliclien Lebens
an die Stelle der friilieren religiosen Hoheit traten, so ist aucli jetzt in
der Tonkunst das ganze Material in den Geist aufgenommen nnd von
ikm durcbdrungen, so verandert sicli jetzt im 17. unci in dem nacli-
folgenden Jahrhundert der Schauplatz, und die Oper beginnt alle
schopferisclien Xrafte auf ikrem Gebiet zu concentriren, die Kirchen-
musik dem Neu-Eingetretenen gemass umgestaltend und verweltlicliend.
Der Sologesang erlangt das Uebergewicht und die Instrumente eman-
cipiren sich. Wie dort in der dritten Epoche das Portrait, die Nachah-
mung der Natur, zur Herrschaft gelangte, so endet auch Her, in neuerer
und neuester Zeit, die Tonkunst niit der Hingebung an das Haterielle,
das Teclinische der Knnst und dessen Zuffllligkeiten, mit der Anbe-
quemung an die Natur der Instrumente durch Ausbildung der Gesangs-
und Instaumentalvirtuositat. Der im Inneren wirkende Geist jerschwindet
mehr tmcl mehr, und die Erfindnng zeigt sich vorzugsweise von Aeusser-
lichkeiten bestimmt; die Instrumentalbegleitung, die anfangs fast gar
nicht vorhandene, erlangt das Uebergewicht und erdruckt das Innere;
hinsichtlich des geistigen Inhalts aber kommen nnr noch die gewohn-
lichsten Alltagsstimmungen rnn nicht zu sagen krankhafte und gei-
stig unwiirdige zur Darstellung.
122
Bezeictoien wir dem entspreclend die wesentlichen Eigenschaften
der verschiedenen Epochen, so sind e auf der ersten Stufe Grosse und
Erhabenheit, Tiefe und Ernst, verbunden noit einer gewissen Harte und
Sciroffheit, welche Mer uberwiegend in ilirer vollendetsten Gestalt her-
vortreteii. - Der kiinstlerisclie Geist yersenkt sich ganz in den ihm ge-
gebenen hoheren Inlialt, und die tirchliche Kunst steht demzufolge auf
dem Holiepunct ilirer AusMdung. Die zweite Epoche besitzt jene
Erliabenheit nur noch als Eintergrund, und hat darum an strenger
Kfrcblicbkeit, an Grosse und Holieit verloren; sie findet iliren Mittel-
punct im Weltliclien, und ilire Grosse, wodurch sie a lies Vorausge-
gangene weit ubertrifft, ist die Darstellung des rein Mensclilichen
und der unendliclien Mannigfaltigkeit des Lebens. Aucb die dritte
Epoclie, die des Verfalls, besitzt noeli EigentMmliches. Jetzt gelangt
die sinaliclie Seite der Kunst, die Seite der Erscheinung, zu ihrem
EeeMe und zu ilirer Vollendung, und wenn aucli an geistiger Bedeutung
weit zorfickstehend und in Triyialitat versinkend, ware es docli durchaus
ungerecht, diesen Erweiterungen der Teclinik alien Wertli abzuspreclien.
Jede neue Kunststufe, indem sie Vorzlige der frtilieren einbusst, bringt
neue Steigerungcn hinzu; alle Stufen aber sind Momento eines einigen
Ganzen, welches nur in seinem Zusammenliange begriffen und wahrliaft
gewurdigt werden kann.
Die Feststellung dioser Sittze, die Hare Erfassung derselben ist von
der grossten Wichtigkeit fiir eine objective Wiirdigung der Hauptmo-
mente tier Zunstgescliichte. Noch bis auf den lieutigen Tag sind die
besten Kenner uneinig und schwanken in Bxtremen der Atiffassung, weil
diese Siitze zu wenig als die Grundlage einer jeden Beurthcilung der
Gcschiclito angeselien werden. Dies naraentlich ist ins Auge zu fassen
und ich bebe diesen Umstand bosondors horvor, weil er zu Imufig
ubersehen wird , dass, wie iin Leben der Natur und cles Geistes
uberhaupt jede Stufe, jedes Keicb, so bier jede Epoclie ilire besondere
Grosse, aber aucli lire bosonderen Mangel besitzt, dass niclit eine auf
Kosten tier anderen bevorzugt werden darf, im Gegentlieil jede in ilirer
Eigenthfimliebkeit erkannt Bein will So ist nicht Palestrina auf
Kosten der Spiiteren liervorzuheben, weil er dieselbeu an Hoheit fiber-
ragt, ebensowenig wie er, gegen diese zurftckstehend an melodiBcliem
Keiz, an sinnliclier Schonlieit, als den Vorstulen der Kunst angeliOrig
zurtickgesetzt werden darf.
Audi auf die Beurtlieilung der d outsell en Musik findet das Ge-
sagte seine voile Anwentlmig, und entsclieiclet Fragen, die nocli jetzt
iimner im entgegengesetzten Sinne beantwortet werden. Deutscbland
bat in seiner gesehichtlichen Entwicklung dieselben Stadien durchlaufen,
obschon, wie wir alsbald selien werdeu, Her nocli Anderes von ent-
scheidender Wiclitigkeit geworden ist auch in Deutschland miissen
wir zunachst Epoehen des erhabenen uncl des schonen Stils unterscheiden,
und demznfolge Bacli und Handel als die letzten Reprasentanten
jener ersteren, Gluck, Haydn und Mozart und' andere gleiehzeitige
uncl spatere Meister als die Manner der zweiten, in der Mitte des vo-
rigen Jahrhunderts beginnenden, bezeichnen. Mehr noch als dort aber
begegnen wir hier einer unaufhorlichen TJeberscMtzung Bach's und
Handel's im Hinblick aiif die grossen Naehfolger derselben, wir be-
gegnen Ansichten, welche, alien musikalischen Buhni auf den Sclieitel
jener Manner haufend. den Naehfolgern kaum die Ehre einer Steige-
rnng und Erweiterung lassen rnoehten, wahrend umgekelirt die aus-
schliesslichen Vertreter des Fortschritts, ebenso ungereeht, jene Heroen
der Vorzeit in die Vorstufen der Kimst znriickversetzen, nncl denselben
ofters keine liohere Bereclitignng einramnen wollen, als der syinbolischen
Kunst der Aeg}-pter im Vergleicli nait der classiscien Holie der Sculp-
tur in Griechenland. Auch. Her ist das Walire, die Eeprasentanten der
Epochen aus den Stufen der Entwicklung, welche sie bezeiehnen,. zu
begreifen, und ihre Vorzuge uncl Mangel nach den Principien, welelie
aller Kunstentfaltung zu Grande liegen. abzuinessen.
Inclem icli micli jetzt* zur Betrachtting der deutsclien Mus-ik
wende, sincl diese Bemerkungen geeignet, dieselbe einzuleiten und bei
diesern Wendepunct sowol ruckwarts wie vorwarts die Orientirung zu
erleiclitern.
Der erste Aufscliwung der deutschen Musik fallt in dieselbe Zeit
(nur ein weniges friiher) als in Italien* Wie dort Palest rina den
ersten grossen Mittelpunct bildete, so ward in Deutschland, wenn aucli
kein Musiker, so doch der ausgesprochenste Musikfreund Luther
Derjenige, von welchem unmittelbar die ersten Anregungeu zu einer
weitausgreifenden Kunstentwicklung ausgingen. Die erste grosse Epoche
der deutsehen Musik datirt von ihm an. Abweichend indess von Italien
ist hier die Epoche des erhabenen Stils eine weit unifassenclere, nicht
bios, was die zeitliche Ausdehnting betrifft, sondern auch Hnsichtlich
der inneren Gestaltung, und wir sind genothigt, diesen . Abschnitt in
Deutschland bit auf Bach und Handel anszudehnen. In Italien stellt
sich die erste Entwicklungsstufe fast rm Laufe eines Jahrhunderts als
abgescHossen dar, und ebensowenig haben innere wesentliche Umbil-
dungen in derselben stattgefunden ; Deutschland wurde zurtickgehalten
in seiner schnellen Entfaltung durch aussere Henimnisse, fand dafiir aber
124
GelegenMt, die in Italien unterdess neuentstandenen weltlichen Tormen
aufzunehmen, und so den eben geltenden Standpunct mannigfach zu
erweitern und umzug%stalten, weshalb wir innerhalb der ersten Stufe
wieder kleinere, durch v. "Winter fold vortrefflich dargestellte Ent-
wicklungskreise unterscheiden mfissen. Back und Handel haben
diese Epoche abgesdilossen, indem sie das TJeberkomnaene mit Eiesen-
kraft znsammenfassten und die Gesanunt-Vorzeit, den Gelialt der-
selben in sich aufhahmen ; sie haben das Alte abgesclilossen, das Neue
eroffhet, und sind deshalb als die grossen Wendepuncte in unserer
Gesehiehte zti bezeichnen. Die vorausgegangenen grossen Leistungen
auf dern Gebiet des evangelisclien Kircbengesanges nnd Bach und
Handel sind die Spitzen eines Gebirges, durch Abgrunde und Zeit-
kluffce getrennt, aber in der Wurzel eins. In beiden Musikern ist noch.
jener alte Lutlier'scbe Geist, jene weltbezwingende Zuversioht des
Gkubens; beide sind die letzfcen Denlcmale der maclitigen Glaubenshaft
der Vorfahren* Jetzt trat bei uns die Tonkunst in ihre zweite Bpoclie
ein, und die Oper gelangte zur Herrschaft. Kunstbegeisterung ver-
drangte den friiheren religiosen Aufscliwung, und wir erblicken die
Etiiistler erffillt yon einem rein weltlichen Inlialt. Die Fesseln wurden
zersprengt, und immer raelir zeigt sich uns statt jener alten dogmati-
sclien Gebundenlieit ein freies Waltenlassen des Genius, so dass jetzt in
Deutschland, nach dem Tiefsinn und der Erbabenheit, die hochste xnusi-
kalische Sclionheit zur Erselieinung koxnmen konnte. Wir liaben classelbe
Schauspiel wie in Italien im 17. Jahrhundert Bei uns aber Mer
der umgekelirte Fall wie in der letzten Epoclie mehr zusammenge-
drangt und concentrirt, weil Deutschland die Vorarbeiten Italiens jetzt
benutzen konnte. Wenn fralier Norddeutscliland vorzugsweise der Sitz
unserer Tonkunst gewesen war, so sehen wir sehr bedeutsam , wie
dieselbe jetzt 1m Stiden ihre Heimath findet. Der Boden fur jene tief-
geistigen Schopfnngen konnte nur Norddeutschland sein. Als jedoch,
im Gegensatz zu der frfiher tiberwiegenden Verstandesgewalt, das Herz,
das Gemflth sich emancipate, und die Kunst im Weltlichen ihren Mittel-
punct fand, als Phantasie und Empfindung inehr uncl mehr nach Ent-
fesselung rangcn, war Oesterreich der geeignete Boden. Gluck, Haydn
und Mozart wurden die Eeprasentanten dieses zweiten Zeitrauins, und
zugleich trat die Instrunaentahnusik, cliese modernste Ktnstgattuug, ins
Leben.
Es kam mir, wie sclion bemerkt, bier beini Beginn der Betrachtung
der deutschen Musik darauf an, voraus schon einen orientirenden Blick
zu richten auf die Bahn, welche wir zu durehlaufen haben, und die
125
Hauptwendepuncte, die Hauptepochen festzustellen, dies zunaehst, in-
dena ich das Analoge in der Eunstentwicklung beider Lander nachwies,
dieselben Gesiehtspuncte aueh fur Erfassung der deutsclien Musik gel-
tend machte. Aber in Deutschland ruhen noeh ganz andere Machte in
der Tiefe des Geistes, und der bis jetzt bezeichnete Weg kann daher
nur als die Grundrichtung, als die Basis bezeichnet werden, als der
erste Schritt, den vielfach verzweigten Wendungen deutscher Tonkunst
nachzugehen.
Treten wir daher in einer vergleichenden Charakteristik der Kunst
beider Lander auch der Verschiedenheit derselben naher, um so die ab-
weichenden, for Erfassung der deutschen Musik besonders festzuhaltenden
Gesichtspuncte zu gewinnen.
Die BMtlie Italiens war das Eesultat frulierer Zeit, die damit ihre
Vollendung erreielile und sich abschloss, das Kesultat der Jahrhunderte
des Mittelalters. Als Palest rina auftrat, war eine Eestauration in der
katholisclien Kirclie eingetreten. Die Mheren pracMiebenden, weltlichen
Papste liatteu es gesclielien lassen, dass Koni der Scliauplatz des seMnd-
licbsten, lascivsten Lebens, der Scliauplatz der grossten Verbrecten wurde.
Jetzt wirkte die fiefonnation zuriick auf die katliolisclie Kirclie, und die
Papste, sich besinnend, sucliten mit einem Male der alten Strenge und
dem alten Lebensernst Eingang zu verscliaffen. Palest rina's Schopf-
ungen fallen in diese Zeit; jene Kestauration war der Boden seiner
Wirksamkeil
DeutscHand eroffnet eine neue Zeit, und wird ZUDGL Trager des fort-
schreitenden Geistes ; es zeigt darum eine werdende, in die Zukunft liin-
ausgreifende, maclitig aus den Tiefen des Geistes kervordrangende Welt,
und darum, wie wir spater sehen werden, zu einer Zeit, wo Italien
in ErseHaffung sank, den macMigsten Aufscltwung. In Italien er-
blicken wir eine fertige Welt, auch. in der Tonkunst, eine gewisse
Sattigung und BeMedigung, eine Euhe der Vollendung, welche aUem
Kampf und Streben entsagt hat. Der alte katholische Bau war aus-
gezeichnet durch seine Ganzheit und Geschlossenheit, trotz aller Wider-
spruche im Inneren, die durch aussere Autoritat niedergedruckt wurden.
Die Kirche beherrsehte die Geister und betrachtete die Wahrheit als
ein Monopol; dem Einzelnen war nicht gestattet, eine abweichende Mei-
nung zu haben; ex trat ohne Selbststandigkeit ein in diese ausserlich
vollendete Weli
Im Protestantismus tritt der Einzelne aus dieser fertigen Welt her-
aus und stellt sich auf sich selbst; das Indiyiduum wird fiir sich ein
126
abgesehlossenes Gauzes, eine "Welt allein. Damit ist das zunachst aller-
dings ebenfalls einseitige Princip aufgestellt, welclies jener alten Welt
als das holier berechtigte entgegentritt. An die Stelle der Einlieit tritt
die Vielheit der Individuen imd Charaktere ; Manner, die in ilirem Inne-
ren allein die Welt tragen und unifassen, sind in Deutsehland hervorge-
treten, imd demzufolge ist em weit grosserer Beichthum an Stimmun-
gen, eine weit reichere, in sich vertiefte Gefiililswelt, eine weit grossere
Mannigfaltigkeit einzelner kiinstlerischer Individualitaten mi Erscheinung
gekomnien. - DentscHands Eeieli ist die Zukunft, und mit seinem ersten
selbststandigen Auftreten sclion erblicken wir die Perspective in eine un-
endliclie Geisteswelt. So ist, wahrend der Katholicismus nocli die ilusser-
lieliste, siniilicliste Erscheinung des Christenthunis ist, wahrend in Italien,
als dem Sitz desselben, ausserdem antiker Geist vielfiiltig nacliwirkt, und
darum dort das sinnliche Element als gleichmachtiges liervortritt, in
Deutschland der Schauplatz alles Thims und Handelns, wie alles Schaffens,
der Geist, und wir nitissen diesen Standpunct betreton, diese Erkenntniss
geworyien liaben, wenn Wir jetzt die eigenthumliche Entwicklung des
letzteren naher erfassen wollen.
In Italien erblicken wir bei der Gleichheit des Inhalts, von welcliem
Alle beseelt sind, bei der Unterordnung des Individuums unter das Be-
stehende, die Autoritat der Kirche, etwas Gemeinsames auch. in der
Kunst, einen grossen, a%erneinen Kunststil; Deutschland dagegen zeigt
uns einen weit grosseren Eeichthum von Individualitaten, und die deut-
sche Kunst bietet deni entsprechend bei aller Einheit itii Grossen und
Ganzen das Bild einer uneudlicli grosseren Mannigfaltigkeit. Der Katlio-
licismus zeigt uns Stufen, Grade und Unterschiede. Es sind nicht
Alle in gleicher Weise der Walirheit theilhaftig. Wesentlich insbeson-
dere ist der UnterscMed der Priester und Laien. Dies giebt der katho-
lisclien Kircheninusik etwas Esoterisches. Im protestantischen Glaubens-
bekenntniss sind Alle in gleicher Weise der Wahrheit theilhaftig, Alle
sind aufgenommen in die Gemeinschaft. Die Tilgung jener Unter-
schiede, welche der Katholicismus macht, verleiht unserer Kunst etwas
Populares. Dort klingt die Musik voni Himmel herab, hier steigt sie
als Gesang der Volker von der Erde zum Himmel empor. Dort ist
der religiose Inhalt dargestellt als ein ausserzeitlicher, ewig sich gleich-
bleibenoler, unberfihrt von dem Wechsel des Menschlichen, hier ist er
eingegangen in das Leben des Individuums; hier erscheint er darum
vorzugsweise subjectiv, dort objectiv. In Italien wirkte ausserdem,
wie schon bemerkt, antiker Geist vielfaltig nach. Die Sculptur war die
wesentliche Kunst des Alterthums, das Plastische das iiberwiegend Her-
127
vortretende. Anch die Musik der Italiener 1st plastisch; der Ausdruck
1st bestimmt imd Mar, wahrend die deutsche Kunst etwas Verschwbn-
mendes, eine die Hare Gestaltung iiberwaltigende romantisehe Sehn-
sucht zeigt. So ernst die katholischen Texte sind, nirgends konnen
die Italiener den Glanz und die Farbenpraeht ihres Vaterlandes, den
ewig blauen Hrmxnel Italians, die Lust und Heiterkeit des Daseins ver-
leugnen: aucli der Schmerz ist schon. Die deutsche Kunst vermag sel-
tener zu ungetriibter Heiterkeit, zur Verklarang des Schmerzes, sich zu
erheben. Correggio's heiliger Sebastian ist von Pfeilen durchbohrt,
und doch. spriclit sicli hocliste Freudigkeit in seinem Gesiclit aus; in
Deutschland vermag niclit einmal das Bewusstsein, den Heiland der
"Welt geboren zu haben, die Maria aus ihrer demuthigen Haltung em-
porzurichten.
Indem icli DeutscUand mit dem Protestantismus identificire, ist da-
mit niclit gesagt, class es nicM aucli bei uns eine katliolisehe Kunst ge-
geben hatte; nur die des ersteren aber war die Tragerin des fortschrei-
tenden Geistes, und die deutsche Kunst hat stets, namentlicli in der
ersten Periode, einen vorwiegend protestantischen Charakter gezeigt.
Ueberliaupt wurzelt alles hohere Geistesleben der letzten Jahrhunderte
in der Hauptsache im protestantischen Princip, denn der Katholicismus
hatte seit dem Auftreten des letzteren seine geschiehtliche Mission be-
endet. Es ist eine traurige Verirrung moclerner Umsturztheorien, dem
Katholicismus (oder wol gar der Kirche iiberhaupt) die Mhere Bereeh-
tigung zu bestreiten, und das gewaltige Gebaude desselben als nur auf
Betrag und Heuchelei gegrundet zu betrachten. Ein Blick auf das
Grosse und Herrliche, was der Katholicismus in alien Kunsten her-
vorgerufen hat, genugt, um die Unhaltbarkeit solcher Vorstellungen zu
zeigen; aber eben so sehr ist zu sagen, dass mit clem Auftreten des
protestantischen Princips das katholische in der Hauptsache seine Be-
rechtigung verloren hatte, so wie gegenwartig schon das erstere in seiner
unmittelbaren Gestalt nicht mehr die Spitze des Bewusstseins bildet,
sondern durch die Wissenschaft, die Philosophic, zur geschichtlichen Ent-
wicklungsstufe herabgesetzt erscheint.
Zu diesen confessionellen Unterschieden kommen die der gesammten
Bildung und Nationapat noch Mnzu. Das germanische und romanische
Element ist das in der europaischen Bildung am meisten hervortretende,
welches sieh aueh in den germanischen und romanischen Sprachen offen-
bart. Das germanische Element ist das subjective, in sich gekehrte,
beschauliche, das romanische das nach aussen strebende, sinnliche. Jenes
^st traumerischer, phantasiereicher, gestaltloser, dieses anschaubarer, in
fest begrenzten Umrissen zur Erscheinung kommend, plastischer. Jenes
ist das Charakteristische der deutschen, dieses das der italienischen Ton-
kunst Wie der Italiener in alien Lebensbeziehungen im engeren Zu
sammenhange mit der Natur lebt, der Deutsche sich mehr dem Ge-
danken Mngiebt, so ist dies auch in der Tonkunst zu bemerken. Im
Grefahl des Deutsclien behauptet die geistige, in dem des Italieners die
sinnliclie Gewalt die Herrscliaft. Jenes melir geistige Geftilil aussert
sich in den Kiinsten als Streben nacli Charakteristik, dieses mehr
sinnliclie als Streben nach ausserer Schonheit nnd Formvollen-
dnng. Die protestantische Andacht um noch einmal diese Unter-
schiede zu erwahnen ist eine geistigere, von der Intelligenz aus-
gehende, die katholische eine unmittelbarere, sinnlichere, vom Gefiilil
ausgehende.
Es kana mir bei dieser vergleichenden Charakteristik darauf an,
Ihre Blicke auf die unterscheidende EigentMmlichkeit beider Lander zu
lenken, mn so durch den Gegensatz die Erkenntniss deutscher Kunst
anzubahnen. Schon vorhin sprach ich aus, dass in der Tiefe des deut-
schen Geistes noch ganz andere Machte ruhen, und die vorhin bezeich-
nete, Italien analoge Entwicklung nur als der erste Schritt fur eine
tiefere Erfassung betrachtet werden konne. Die uberwiegend geistige
Eichtung Deutschlands ist die Ursache, dass seine Tonkunst nicht aus-
schliesslich jene vorhin bezeichneten Stadien des erhabenen und schonen
Stils, endlich die Epoche des Verfalls durehlaufen hat, nicht wie Italien
in der Gegenwart in Sinnlichkeit untergegangen ist, im Gegentheil
durch Beethoven einen neuen grossen Aufschwung genommen, fur
die Kunst der Zukunft eine neue grosse Perspective eroffnet hat. Diese
Uberwiegend geistige Natur hat Deutschlands Kunst stets emporgerissen
aus einem zeitweiligen Versinken in Trivialitat; sie ist es, welche uns
auch gegenwartig die Btirgschaft gewahrt fur fortgesetzte lebendige Pro-
ductivitat. Diese Unbegrenztheit der Entwicklung, begrundet in der Un-
endlichkeit des Geistes, hat Deutschland vor Italien, welches nur einen
bestimmten, streng abgemessenen Kreislauf zurtickgelegt hat, und dann
zurticksank, voraus. Sie ist es, welche uns als das erste unterscheidende
Merkmal deutscher Tonkunst entgegentritt.
Bin zweiter Umstand, von entscheidender Wichtigkeit fur die Auf-
fassung nnserer Musik, ist folgender.
Es ist bis jetzt die weltgeschichtliche Aufgabe Deutschlands gewe-
sen, alle anderen Volksgeister um den Thron seiner Universalmonarchie
zu versammeln. Wahrend die ubrigen Nationen allein ihre gesonderte
. 12 g
Individuality ausbildeten und in dieser verharrten, war es der Beruf
Deutschlancls, auf clem Grande seiner EigentMnilichkeit sich m einer
weithin scliauenclen Universalitat zu erheben, die Individuality der
anderen Volker in sicli aufzunehmen und zu einem grossen Ganzen zu-
sainmenzufassen. Beispiele bietet Ihnen unser gesanimtes Geistesleben,
unsere PhilosopMe, unsere Poesie, und ich brauche nur an Manner wie
Schelling, Hegel, Goethe, 'Ruckert zu erinnern, um Sie sogleich
von der Wahrheit des Gesagten zu uberzeugen. Unsere PMlosopMe hat
die ganze bislierige WeltentwicMung zu einem grossen Ganzen zusain-
mengefasst. Goetlie liat die griecMsche Welt nach Deutsehland ver-
pfianzt ich erwahnte diesen Umstand scion einmal bei anderer Ge-
legenheit , Ruckert deni deutschen Geiste die ganze orientalisehe
Welt angeeignet. Diese Bestiinmung Deutschlands giebt auch seiner
Tonkunst noch eine zweite Wendung. Deutselland besitzt nicht bios
eine nationale Tonkunst im engeren Sinne; es hat, die Stile Frankreiclis,
Italians mit seiner Eigenthtodichkeit verscliinelzend, eine Weltmusik
geschaffen, und zunachst dadurch schon den Gipfel der gesammten
musikalischen Entwicklung erstiegen. Es war zuerst die italienische
Richtung, welche wesentliclien Einfluss in Deutschland erlangte, und das
stets wiederholte, bis auf die neueste Zeit fortgehende, abweehselnde
Sich-anzielien und -abstossen des italienischen und deutschen Princips,
die stets wiederliolten Versuche naeh universeller Durchdiingung und
Einigung bilden eines der Haiiptentwicklungsgesetze unserer Tonkunst.
In der alteren Zeit erlangte die venetianische ScEule einen nicht unbe-
deutenden Einfluss auf Deutscbland, mehrere der grossten Meister stan-
den unter der Einwirkung derselben und waren in Yenedig gebildet.
Spater folgte Handel bis in sein hohes Manaesalter den Bahnen der
ItaHener, und vollbrachte damit die Einigtmg beider Principe schon auf
einer hoheren Stufe. Diese italienischen Einfltisse sind es, welche ihn
wesentHch von deni rein deutschen Bach unterscheiden. Gleichzeitig
herrschte die italienische Oper in Deutschland, und noch aus der zwei-
ten Halfte des vorigen Jahrhunderts sind mehrere Manner zu nennen,
welche dieser Richtung ausschliessHch huldigten, so namentlich der
Dresdener Kapellmeister Hasse. Weiter trat das Princip der franzosi-
schen grossen Oper, durch Gluck reprasentirt, in die Entwicklung ein.
Endlich, nachdem auch diese Seite angeeignet, auf deutschem Boden
zur Ausbildung gediehen, war die Moglichkeit einer umfassenden Eini-
gung aller Richtungen gegeben, konnte das bis dahin Yereinzelte zu
einem grossen Ganzen zusammengefasst werden. Dies war die That
Mozart's, welcher den universellen Beruf Deutschlands auf dem Ge-
9
130
blet der Tonkunst erfullte und in Polge dieser Stellung auf dieser Stufe
den Hohepunct der musikalischen Entwicklung bildet. Die deutsche
und italienisclie Musik sind Gegensatze, auf der abstracteren Natur des
Deutsclien und der mehr sinnlichen des Italieners beruhend, Gegensatze,
sici zu erganzen berufen. In Italien sehen wir deslialb iiberwiegend
das melodische Princip vertreten, wahrend Deutschland das Land der
Harmonie, der Polyphonie, des Mheren Contrapuncts 1st. Aucli Frank-
reich vertritt ein eigenthumliches Princip, obschon es zunachst nur die
Stellung zwischen diesen Gegensatzen einzunehmen scheint. Das Wesen
des Eranzosen ist auf der einen Seite niehr sinnliche Lebendigkeit, auf
der anderen eine abstracte Verstandigkeit, ohne dass diese Gegensatze
ihre liohere Einigung und Verschmelzung iinden. So sehen wir bei ilnn
niclit jenes Gleichgewiclit von Phantasie, Gefiilil und Verstand, wie in
Deutschland, wir Iiaben niclit jene plastisclie Schonlieit, wie in Italien.
Die franzosisclie Musik neigt aus diesem Grunde bald melir zur italie-
nisohen, bald zur deutschen Eichtung Mn; eigentliumlicli aber ist
derselben in Folge jener sinnliclien Lebendigkeit und abstracten Verstan-
digkeit das Vorwalten des rhytlimischen Elements. Die franzosische,
deutsche und italienisclie Musik sind als ein wesentlieli Zusammenge-
horiges zu betrachten. Jedes dieser Lander liat eine bestimmte Seite
der Tonkunst zur Darstellung gebracht, jedem ist eine bestimmte Auf-
gabe iibergeben, und wir Iiaben die Anschauung von sicli wechselseitig
erganzenden, zusammen ein grosses Ganzes bildenden Kunststilen in
der europaisclien Musik. Deutscliland aber, in Polge seiner Universalitat,
bietet uns dasselbe Bild im Besonderen, welches uns die BetracMung der
europaisclien Musik im Allgemeinen gewabrt.
Neben den im Eingang der heutigen Vorlesung charakterisirten
Hauptstadien der Entwicklung sind es daher bei uns zwei Momente
die tiberwiegencl geistige Natur Deutsclilands und die universelle Be-
stimmung desselben, die ihm vorschreibt, nacli Durchdringung und Er-
ffikmg durch andere Volksgeister zu streben ? welche unserer Kunst
einen wesentlich verscMedenen Cliarakter verleihen. Durcli die Ein-
wtrkimg Italiens liauptsachlicli wird bei uns der Schritt zur schonen
Periode vollbracht. Die deutsche Musik nimmt die Sinnliclikeit Italiens
in sick auf, sattigt sich an derselben, und es giebt Epochen, wo sie
scheinbar darin untergelit. Aber dap, stets sich. wieder geltend machende
geistige Element hebt dieselbe wieder aus dieser Versunkenheit hervor,
und jene Verschmelzung hat nur dazu gedient, das Hochste der Kunst
zu erreichen: Tiefe deutscher Charakteristik verbunden mit dem Zauber
italienischer Schonheit.
A 04
1O.L
Icli habe hente Ihre Aufmerksamkeit nur fur Betraehtungen in An-
spruch genonunen ; wollte icli dieselben nocli welter ausdehnen, so nxusste
ich furchten, Sie m ermuden. Icli breche daLer Mer ab. Im Yerlauf
cler Darstellung warden wir auf das Her Gesagte nocli ofters zuract-
kommen mussen, und es reiclit dalier aus, um, was icli bezweckte, beim
Eiugang Ihnen die witihtigsten Qesichtspuncte zu bezeiclinen. In der
nachsten Vorlesung konnen wir uns sogleich zur Betraclitung der deut-
sclien Musik wenden.
Achte Vorlesung,
Erste Anfange der deutschen ilusik. Luther. Der evangelische Gemeindegesang.
Quellen desselben. "Walther. Senfl. Allgemeine Eintlieiltmg.
Nachdem wir die vorige Vorlesung allein der Orientirung liber den
zurflckgelegten Weg sowol, wie iibor den noch bevorstehenden gewidmet
laben, konnen wir uns heute sogleich mi Betrachtung der deutschen
Musik wenden. Icli beginne die Darstellung derselben mit dem 16,
Jahrlmndert, mit demselben Zeitabschnitt demnacli, welder auch in
Italien nnseren Ausgangspnnct bildete. AUes, was Bedeutendes auf
deni Gebiet der Tonkunst in Deutscliland geleistet worden 1st, datirt
von diesem Zeitpunct an. AHerdings konnen in Deutscliland sclion
aus fruheren Jalirliunderten musikalisclie Bestrebungen namhaft gemacht
werden, aber es waren dies Alles nur zerstreute Anfange; der erste
grosse Aufscliwung fallt, wie in Italien, ins 16. Jalirhimderi Die
protestantische Kirclie war es, wie schon in der vorigen Stunde und
frulier bemerkt wurde, welche die Grundlage bildet fiir die Entwicklung
der deutschen Musik. Die Musik war die Kunst der Zeit, sie bot den
enfcspreclienden Ausdrucfc fur das erwachende hohere Bewusstsein, und
wir sehen sie daher mit der Kirche selbst sich gemeinschaftlich ent-
wickeln. IVie sehr das Erstere der Fall, wie sehr sie die entsprechende
Ktinsfc jener Zeit gewesen, besonders unter den Evangelischen,' erkennen
wir nicht allein aus ihr selbst, sondern aus vielen begeisterten Lob-
spruchen, welche ihr nach Luther's Vorgang gespendet wurden. In
einer Ton innen heraus gewaltig aufgeregten Zeit, sagt v. Winter-
feld, wie keine wol wieder gewesen, einer Zeit voll des lebendigsten
Dranges nach innerer und ausserer Erneuung, und deshalb auch der
hartnackigsten Karnpfe, der heftigsten Zerwiirfnisse und neben gesunder
und hoffnungsreicher Entfaltung eines neuen Lebens auch der wahn-<
133
sinnigsten Zerrbilder, wodurch dieses getrubt wurde; in einer solchen
Zeit war die Tonkunst, in der das VerscMedenartigste, scheinbar Wider-
strebendste in Wohllaut sich aufloste, imd je langer je mehr die tiefste
Seele des vereint Zusammenklingenden offenbarte, eine wahrhafte Er-
quickung und Starkung auf dem Lebenswege, ihrem innersten Wesen
nach die Verheissung einer schoneren, friedevollen, das Getrennte, ohne
des Einzelnen Eigentlitimliclikeit aufzuheben, vereinenden Znkunft. "Was
in Italien Palest rina und dessen Schule far die gesanmite Tonkunst
dieses Landes wurde, das ist in Deutschland Luther und die prote-
stantische Kirche, nattirlicli mit dem grossen Unterschiedj dass dort von
einem unmittelbaren, Mer nur von einem uaittelbaren Kunstwirken die
Eede sein kann ; sodann t auch weiter mit dem, class bei uns das Meiste
vom Volke ausging, wahrend es dort von den Eegierungen hervor-
genifen wurde. Die protestantisclie Kunst hat etwas entscMeden Po-
pulares, Volksmassiges, wie ich schon in der vorigen Stunde bernerkte,
und dies niclit bios in ilirem inneren Charakfcer, soadern auch nach
aussen bin. In Italien erblicken wir uberliaupt von Haus aus sogleicli
das kunstlerisclie Interesse mit dem religiosen gleich entscMeden lier-
vortretend, wahrend bei uns in der That das erstere gegen das letztere
zurackstand. So gross und reich auch die Entwicklung der Tonkunst
innerhalb des protestantischen Glaubensbekenntnisses sich darstellt, so
hat doch Eoclilitz durchaus nicht Unrecht, \venn er im engeren,
ktinstlerischen Sinne die Bedingungen in Deutschland als weit ungtin-
stiger bezeichnet. Italien bluhte zu Palest rina's Zeit im Qlanze
hoclister Cultur und feinsten geselligen Lebens. In alien Gebieten
geistiger Thatigkeit batten Manner von reicher schopferischer Kraft die
Nation verherrlieht. Das Geistreiche wurde von den Grossen bemerkt,
geschatzt, sie selbst rechneten es sich zur hochsten Ehre, Mitgenossen
desselben sein zu konnen. *Die Kiinstler lebten tiberwiegend in welt-
lichem Glanz und warden ausgezeichnet auf jede Weise. Was Musik
betrifft, so wendeten die Papste die eifrigste Sorgfalt an, urn die Aus-
bildung dieser Kunst zu befordern. Blfihende Musikschulen versam-
melten bald die Talente der Nation, und gemeinschaftliehes Streben
begeisterte die Einzelnen und steigerte die Kraft der Gesaxnnitheit.
Von Alledem war in Deutschland nicht die Eede; fast das Umgekehrte
flnden wir, wenn wir jene Zeit betrachten: eine niedergedriickte, storrige,
zum Theil noch. in Dumpfheit versunkene, durch aussere und imiere
Drangsale und rohe Bedruckungen zerruttete Nation; statt der italie-
nischen Eeinheit Starrheit, Unbeholfenheit, Rohheit; Ftirsten, welche
ihre Aufgabe nicht erkannten; Kunst und Wissenschaft nur als Eigen-
A Q
JOrfc
thum weniger durch das Gesehick Begunstigter. Bildungsanstalten fiir
Musik im Sinne Italiens gab es nicht, noch viel weniger waren die
Ktinstler der Melirzahl nacli in den Stand gesetzt, an wissenschaftlicher
Ausbildung theilzunehmen. Jeder arbeitet auf eigene Hand und erreieht,
was sich anf solche Weise erreichen lasst. Italien ist reicli, besitzt
die Mittel zu grSsseren Unternehinungen for die Kunst, Deutschland
ist arm, und die Ktinstler sind genothigt, mit den Muhseligkeiten des
Lebens zu kampfen; dort ruffc "wirksame Unterstutzung von oben die
Bluthe der Kunst ins Leben, in Deiitschland gelit das Neue aus den
untersten Classen des Volkes hervor.
Eragen Sie, welcbes die Zeit ist, in welcher wir den ersten An-
fangen der Tonktmst begegnen, so sind wir genothigt, wol zwei
Jahrhunderte zurltckzngelien. Die Niederlande , DeutscMand spracb,-,
stanrm- und geistesverwandt , ausserten bald ilire Einwirkung auf das
letztere, so dass auch Mer die neue Kunst scbon friibzeitig Pflege und Aus-
biJdung fand. Aus den letzten Jalirzehnten des 15. und dein Anfang des 16.
Jahriranderts aber sind schon mehrere trefflicbe Contrapunctisten zu nennen,
u. A. Adam de Fulda, Stephan Mab.u, Heinricl Finck undganz
besonders He in rich Isaac. Docb dies bezeicbnet alleiu die TMtigkeit
der Schule, dies begreiffc allein die steigende Ausbildung des Contrapuncts
in sick ISTeben dieser schulinassigen Tbatigkeit erblicken wir jeclocb
scion eine lebendige Kunsttibung. Der alte lateiniscbe, der gregori-
anisclie Kircbengesang war natiirlicb aucb in Deutscbland heimisch.
War derselbe auch zu Luther's Zeit tief gesunken (Luther stelltmit
Bezug Merauf eine schone, feine, lieblicbe Musica deni wiisten, wilden
Eselsgeschrei des Chorals unter welch em Worte man zu jener Zeit
nur " den eigentlich liturgischen, yon dem Priester- oder Sangerchor
Yorzutragenden, altkirchlichen, einstimmigen Gesang verstand enfr-
gegen), so war derselbe doch in seiner frSieren Eeinheit eine wtirdige
Grundlage fur jede spatere Entwicklung. Aber auch einen deutschen
religiSsen Gesang finden wir, wenn auch vereinzelt, schon seit mehreren
Jahrhunderten , und endlich war es das weltliche Lied, clas Volks-
liecl, dieses Erzeugniss eines unbewussten, instinctartigen Kunsttriebes,
welches den Beruf des deutschen Volkes ftir Tondichtung kundgab.
Ich habe nun auf die Sache selbst naher einzugehen, und folg^
hier der schon genannten ausgezeichneten Schrift v. Win t erf eld's
fiber den evangelischen Kirchengesang. Es ist durch diesen Forscher
das GrBsste und Herrlichste geleistet worden, und ich habe nur zu
bedauern, dass ieh mich in dieser Darstellung auf die Angabe eimger
Hauptpuncte beschranken muss.
A QX
JLOO ~
Wenngleich die Eeformation zunachst nicht von der Verbesserung
der gottesdienstlichen Uebungen und Gebrauche ausging, so standen
doch schon die beim Beginn festgestellten religiosen Grundsatze zu
selir in "Widerspruch mit dera Bestehefiden, und cles Mangelhaften und
Unzwechnassigen war ausserdein in dem bisher Geltenden zu viel, als
dass nicht alsbald Luther genothigt gewesen ware, seine Thatigkeit aucli
nach dieser Seite Mn zu wenden. Dass bei dieser Gelegenlieit aueh die Musik
und die Stellung derselben zran Gottesdienst zur Sprache kam, lag nake.
Einsicht und GefuH, ein reiches Talent for Poesie und Gesang, Selbst-
standigkeit des Drtheils und Achtung vor dem Yolks- und Alterthiirn-
lichen, Liebe zum Gesang und frtih schon erworbene Kenntniss des
Praktisclien Eigenschaften, welche sicli selten beisammen finden
zeichneten den grossen, weltbewegenden Mann aus, und setzten ilin in
den Stand, auch Refonnator des Erchengesanges zu werden. Eine
Menge der begeistertsten Lobspruche, welche er der Musik spendete,
findet sicli in seinen Werken: Musica habe ich aEzeit lieb gehabt; ich
wollte meine geringe Musica nicht um was Grosses dahin geben;
wer die Musicam verachtet, wie die meisten Schwarmer thun, mit deni
bin ich nicht zufrieden. Musica ist eine halbe Disciplin und Zucht-
meisterin, so die Leute gelinder und sanftmuthiger, sittsamer und ver-
ntinftiger inach^ Singen ist die beste Kunst und Uebung. Wer diese
Kimst kann, der ist guter Art, zu Alleni geschickt. Sanger sincl auch
nicht sorgfaltig, sondern sind frohlich und schlagen die Sorgen init
Singen aus und hinweg; es ist kein Zweifel, es steckt der Saame
vieler guten Tugenden in solchen Gemuthern, die der Musik ergeben
sind. Die aber nicht davon geruhrt werden, die halte ich den Stocken
und Steinefi. gleich; ich halte ganzlich dafiir, und schaine mich auch
nicht zu bejahen, dass nach der Theologie keine Kunst sei, welche mit
der Musik zu vergleichen ist, u. s. w. Eine wie grosse, einer solchen
Begeisterung entsprechende Empfanglichkeit for die Einwirkungen der
Musik Luther besessen haben mag, zeigt eine Aaekdote, welche ein
gewisser MatthausEatzebergerin seiner auf der Gothaischen Biblio-
thek befindlichen handschriffclichen Lebensbeschreibung des Eeformators
erzahlt und die hier im Vorubergehen eine Stelle finden mag: Nachdem
Luther im Anfange seines Kampfes wider die papstliehen Missbrauche
offentlich die vornehmsten Potentaten durchs ganze Keich zu befehclen
hatte, und auch sonst privatim yom Satanas grosse Anfechtungen aus-
stehen musste, begab sich's oftmals, dass ilin derselbe, wenn er sich
auf seine Schreibstube zuruckgezogen, auf mancherlei Weise und Wege
tobirte. Einst kam Lucas Edemberger, Praceptor Herzogs Ernst
136
m Saclisen, mit Mehreren, ran einen Besuch zu machen. Er erfuhr,
dass Luther sicli in seiner Sttibe verschlossen, langere Zeit hindureh
nicht geoffnet, auch Nahrangsniittel nicht verlangt babe. Die Tlifir
wnrde nach wiederholtem Klopfen nicht geoffnet;. endlicli schante
Edemberger durchs SchMsselloch, und erblickte Mer Luther ohn~
maclitig mit ausgebreiteten Arraen am Boden liegend. Er offnete die
TMr mit Gewalt, richtete Luther auf und fing mit seinen Begleitern
alsbald zu musiciren an. Da solelies geschah, kam Luther alsbald zu
sick, eg verging ihm sein Schwennuth und Traurigkeit, so dass er
anfing, alsbald selbst mit zu singen, gedachten Luc am und seine Ge-
sellen bat, sie wollten ilm ja oft besuchen, insonderheit wenn sie Lust
zu singen batten, und sich nicht irren und abweisen lassen, hatte er
auch zu schaffen, was er wolle. Tiefere Kenntniss der Musik in-
dess, welche roan ihm bisher beizulegen gewohnt^war, hat Luther,
nach Win t erf eld's Forschungen, nicht besessen, Seine eigene Thatig-
keit war im Ganzen eine mehr dilettantische, und nur das eine Lied:
Ein' feste Burg u. s. w. macht eine gewaltige Ansnahme, zum Zeug-
niss dafor, wie ein Genius wie Luther wol auch eimnal in einem
ihm nicht eigentlicli zugehorigen Gebiet .Etwas schaffen kann, was dann
auch sogleich die Leistungen des speciell dafttr befahigten Talents
weit iiberragt.
Zwei kleine Schriften aus den 20er Jahren cles 16. Jahrhundorts
sind es: )5 Von der Ordnung des Gottesdienst in der Gemeine", und: ,,Die
weyse der Mess, und die genyessung des Hochwirdigen Sacraments",
welche Luther's Willen enthalten in Bezug auf das Aeussere, tiber-
haupt afles das, was der gereinigten Kii'che Noth that in ihrem Gottes-
dienst, Die kirchliche Feier soil sich knupfen an die dor alten Kirche,
unter Abthuung der Heiligenfeste, mit Ausnahme der Eeinigung uud
Verkundigimg Maria, selbst ihrer Geburt und Aufnahme in den Himmel,
die eine Zeit lang noch bleiben durffcen u. s. w. ; aber die Summa sei,
dass es ja Alles geschehe, ,,dass das Wort in Schwang gelie und nicht
wieder ein Plarren und Tonen claraus werde, wie bisher gewesen 1st"
u. s. w, Luther geht mit grosser Schonung des Alten zu Werke.
Hauptbestimmung war, dass aller Gesang beim Gottesdienst deutsch
sein solle; nur fur die hohen Peste wurden die lateinischen Gesange
noch beibehalten, ,,bis man teutsch Gesang geimg dazu hat", Nur
das Morsche und Unhaltbare, das Schadliche und Seelenverderbliche '
sollte abgethan, dem Aergemisse gewehrt, dem Bossoren ttberall der
Veg gebahnt, nirgends abor gewaltsam eingerisson word en. ,,Es sind
unsere Kirehen" sagt er selbst im Jahre 1541 ,,Gottlob! so
137
zugeriehtet, dass ein Laye, oder Wallon, oder Spanier, der unsere Predigt
nicM verstehen konnte. wenn er sahe unsere Messe, Chor, Orgeln,
Glocken, Casein und dergleiehen, wiirde er mtissen sagen, es ware
eine rechte papstliche Kirche und kein Untersehied, oder gar wenig,
gegen die, so sie selbst unter einander haben", Eine natuiiiche Folge
dieser Schonung war, class er jetzt bei Erscliaffung des den protestan-
tisehen Kirchen eigenthtimlichen geistliclien Volksgesanges aus der
alten Kirclie aufnahni, was ihm nur irgend zweckmassig sehien. Er
trug kein Bedenken, dies zu thun. und liess es sicli nur angelegen
sein, der neuen Anscliauungsweise anstossige Texte zu entfernen: ,.Zu
dem haben wir auch", heisst es unter Anderem in einer Vorrede zu
einem Gesangbuch, ,.zum guten Exempel, die sclionen Musica oder Ge-
sange, so im Papstthuin, in Vigilien, Seelmessen und Begrabniss
gebraucht sind, genomnien. der etliche in dies BiicMein drucken lassen
und wollen mit der Zeit derselben meki* nehmen, oder wer es besser
verrnag denn wii* 3 nocli andere Texte darunter gesetzt, daxoit unseren
Artikel der Auferstehimg zu sckoiticken, niclit das Pegfeuer mit seiner
Pein und Genugfchuung, daffir ilire Verstorbene niclit schlafen noch
mhen konnen. Der Gesang und die Noten sind kostlicli. Schade
ware es, dass sie sollten untergehen, aber unchristlicb. und ungereimt
sind die Text und Wort, die sollten untergehen". Fassen wir die Ge-
sange znsammen, welclie im Laufe des 16. Jalirliunderts der romiscli-
katliolisclien Kirche auf diese "Weise entlehnt und der neuen evan-
gelischen Eoi-clie zngefthrt wurden, so bemerken wir unter diesen
besonders diejerdgen, welclie dem otne Zweifel altesten Scliatze der
fruheren Ejrche, den Hymnen, entnominen sind. Der erste Hymnus
dieser Art ist der weniger verbreitete: Pange lingua yloriosi corporis
mysterium, Mein' Zung' erkling' und frohHeh. sing*; der zweite: Veni
redemptor gentium^ Nun konim der Heiden Heiland, gewShnlicli dem
heil. Ambrosius zugeschrieben ; der dritte: -4 soils ortus cardine,
Christina, wir sollen loben schon, aus dem 5. Jahrhundert; der vierte:
Veni creator spiritus, Koimn Gott SchOpfer, heiliger Geist, aus dem
Encle des 8. Jahrlranderts ; der funfte: Christe qui IILS, Cbriste, der du
bist Tag und Licht; der sechste> Te Deum laudamm. Hen* Gott, dich
loben wir; endlicli der siebente und letzte: lux leata Trinitas, Der
Du bist Drei in Einigkeii Allein nicht bios dieser alteste Schate der
romisch-katholischen Kirche wurde zum erneuten Gebrauch in Anwen-
dung gebraclit, auch eine andere etwas spatere Hymnengattung, die
sogenannten Sequenzen oder Prosen, wurden benutzt und entspreehend
unigestaltet. Diese Sequenzen, welche ihren Ursprung von Notker
138
dem Stammler, einem Benedictinennoncli zu St. Gallen, gesi 912,
herleiten, wurden unmittelbar nach clem Alleluja, kurz vor der Ver-
kilndigung des Evangeliums eingeschaltet. Schon iin 9. Jahrhundert
erlaubte der Papst Nicola us, dieselben in der Kirche einzufuhren, und
sie verbreiteten sich in Folge des allgemeinen Beifalls, der ihnen zu
Iheil wurde, auch ausserhalb der Schweiz. Von dieser Gattung, deren
ziemlich. bedeutende Anzahl die romische Kirclie im Laufe der Zeit auf
ffiraf reducirte (darunter auch das Stabat mater) nalim die evangelisclie
Kirche drei in ilire Saininlungen auf: Salve festa dies, Also heilig ist
der Tag; Grates nunc ovmes reddamus Domino Deo, Lobt Gott, o
lieben Christen; Mittit ad rirpinem, Als der gtitige Gott vollenclen
wollt sein Wort. Dass der evangelisehe Gesang so an das schon in
der Yorzeit Gegebene ankniipfte, erhellt aus der bislierigen Darstellung.
Allein er nahm durch. das, was er schuf, nicht ein vollig neues, vor
ikm noch nichfc angebautes Gebiet in Besitz; schon vor der Kirehen-
verbesserung gab es deutschen geistlichen Gesang. Dieser war zugleich
fur den evangelisclien eine zweite Quelle. Es waren zuniichst nament-
licli Marienliecler, funf an der Zahl, welche aufgenoromen wiu*den; doch
diese versehwanden schon mit Anfang des 17. Jahrhunderts wieder.
Doppelt so viel sind jedoch zu nennen, welche .bis auf unsere Tage
geHieben sind. HierMn gehoren die bekannten: Christ ist erstanden,
aus der Mitfce des J2. Jahrhunderts, das Pfingstlied: Nun bitten wir
clen heil'gen Geist u. m, a. Alle diese trefflichen Gesange nahm
Luther mit weiser Miissigung getreu seinem Worte und seiner Ueber-
zeugimg. dass dieselben ,,kostlich" seien, in die evangelisehe Kirche
auf und gestaltete nur diejenigen auf zarte, oft nur wenige "Worte ver-
andernde Weise urn, deren Inhalt der neuon Lehi'e widersprechend sein
musste. Allein der Drang nach neuen Melodien, die Begeisterung
fitr den Mrchlichen Volksgesang konnte sich bei dem raschen Wachs-
thum der neuen Lehre nicht mit dem begniigen, was aus den schon
erwahnten Quellen floss, und man war daher, um dem rmmer ge-
steigerten Bedurfoiss nachzukommeu, genothigt, die Blicke noch auf
andere Gebiete zu richten, um auch Her Brauchbares for die Zwecke
der neuen Kirclie zu benufaen: es war dies der weltliche, der Volks-
gesang. Der Kirchengesang der Evangelischen war seiner Natur und
Bestiminung zufolge ein volksmiissigor ; er sollte Genang der ganzen
Gemeincle sein. Hier aber, bei der Benutzung des Volkslieds, gait es,
nicht clem woltlichen. Sinn zu schmeicheln, sondern das ursprtinglich
Weltliche hinwegzuthun, und was ihm bisher als Schmuck gedient und
aussere Zierde, fur einen hoheren Zweck zu weihon, zu heiligen. Da
139
tins Sammlungen von Volksliedern jener Zeit erhalten sind, so setzen
uns diese in den Stand, Yergleiehe anzustellen, und eine namhafte
AnzaH von Melodien zu entdeeken, welclie aufgenommen wurden. Ini
Allgemeinen sei bemerkt, dass dieses Verfahren, so befremdend es uns
im ersten Augenblick erscheinen mag, so wundeiiich die Contraste
zwischen den urspriinglichen Texten und den spfiteren, Mrchlichen sind,
doch nicht als ein anstossiges erscheinen darf. Yon den MederlSndern
her, wo ansser gregorianischen Melodien ebenfalls weltliche Weisen zur
Grundlage kirchlicher Conapositionen gemacht warden, kennen Sie schon
dieses Verfahren. Aber dieser Umstand for sich allein wiirde werdg
entscheiden, obschon es nalie lag, dass man, inn den Vorratli kirchlicher
Gesange zn bereichern, zu einem Mittel griff, welclies in clem verwandten
Kiinstgesange nicht nur schon weit und breit gebrauchlicli war, sondern
aucb den Vorzug liatte, dass die aus Volksliedern auf diese "Weise ent-
standenen Eirchengesange dein Volke leichter nahe gebracht werden
konnten. In jener Zeit aber war Geistliches und Weltliclies uberhaupt
weniger streng gescMeden, das Weltlicbe noch nicht ein far sich Be-
stehendes, getrennt von dem Kirehlichen, ira Gegentlieil das Letztere das
Alles Umfassende. Die YerseMedenheit zwisclien geistlichen imd welt-
lichen Weisen jener Zeit ist daher gar nicht so gross, und indem es
clarauf ankam, einen kii-chlichen Yolksgesang zn schaffen, konnte es kaura
etwas Forderliclieres geben, als gerade dieses Verfahi-en. Der Yolks-
gesang, von storenden Elementen befreit, wuchs in die Eirche hinein,
Mer immer festere Wnrzeln schlagend und zugleich diese auf popularer
Basis begrfindend. Finden wir daher auch Zusanimenstelliingen wie
folgende: Ach mein Gott, sprich mir freundlich zu Ein Magdlein
sprach mir freundlich zu; Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst
und Noth Venus, du und dein Kind, sind alle beide blind; Ich
anner Sunder klag mich selir Ich arro.es Magdlein klag mich sehrj
Jesu, der du rneine Seele Lachet nicht ihr Schaferinnen; Gott im
hochsten Throne, schau auf der Menschen Kind Schfrrz dich, Gretlein,
schtirz dich u. s, , so wissen wir, wie Derartiges zu nehmen,
und sind weit entfernt, eine Profanation darin zu erblicken. Der
eigenen Thatigkeit Luther's endlich fur Mehrung der Gesange seiner
Kirche wurde schon gedacht, und bemerkt, dass clieselbe nicht eine so
grosse gewesen ist, wie man friihef glaubte. Manches Lied fur den
Gesang der Gemeinde, bemerkt v. Winter fe Id, entstand ihm wolil
mit seiner Singweise zugleich, andere dichtete er auf sclione geistliche
Weisen der Yorzeit, damit der Schatz, den die alte Kirche an ihnen
besessen, nicht verloren gehe, sondern bedeutungsvoller, reiner aufe
140
Neue ins Leben trete. Ein Mai jedocli nur, soviel wir wissen, aus
tiefer, heiliger Begeisterung, sein eigenstes Wesen in das Wort, in den
Ton ergiessend, es in seiner ganzen Ffille ausstrahlend, gelang ihm,
wie sclion vorhin erwahnt, Lied und Weise yon der friscliesten, nicM
wieder erreicliten Kraft, und Beides wird unter uns nur mit seinem
Namen aufhoren konnen, fortzuleben. 'Aber es war aucli nur ein ein-
zebier Lichtpunct seines geistigen Sehaffens in einer einzelnen bestimmt
abgegrenzten Eichtiing. Denn dieses sein Scliaffen war nicht gleich
dem eines Tqumeisters im echten Sinne, dessen innerstes Leben sicli
eben niir in den Tonen erschliesst, eine fortgehende Tonschopfung.
Gott hatte ihm einen anderen, weiteren Kreis der Thatigkeit vorge-
zeiclinet, und gewiss war auf dem enger begrenzten Gebiet des geist-
liclien Sangers eine einzige hervorragende Leistung eines so hochge-
stellten, mit seinein Wirken so tief eingreifenden Mannes, wie er, Mn-
reichend, ein heiliges Peuer in Begabten anzuziinden, clenen jenes Ge-
biet als das ilire angewiesen war. Dies war in der That der Fall,
und Luther diente aucli Merin der nachfolgenden Zeit als Muster und
Vorbild ? zu eifriger Nachahmung anregend. Insbesondere im 16. Jahr-
liundert traten treffliche Ktinstler in seine Fusstapfen. Endlich ist
nocli zu erwahnen, dass die protestantische Kirche auch zu der der
bohmisch-mahrischen Bnider, cleren Lieder, soweit sie nicht Friiheres
aufaahmen, aus der 2. Halfte des 15. Jahrhunderts sich herschreiben,
in Bezieliungen getreten ist, dass beide von einander geborgt haben.
In der That hat die protestantische Kirche von dort viel entlehnt, aber
die Einwirkung jener Gemeinden war eine minder lebendige, schopfe-
risch-i-fictwiitende , neugestaltende , als bei den fruher bezeichneten
Quellen, da wir hier nur die Beruhrung von zwei benachbarten Ge-
bieten vor uns haben, die wol in anerkennender Neigung und Liebe,
aber okne innige Wechselwirlmng geschah. Auch was die harmonische
Bearbeitung, von der wir nachher noch zu sprechen haben, betrifft, so
konnte Her von fruchtbringender Anregung nicht die Eede sein, da es
melir als zweifelhaft ist, ob die Brflder tiberhaupt eine seiche gekannt
haben. Nur erst spatere Tonsetzer haben bolnnische Melodien har-
monisirt.
Sind nun in dem Bisherigen die Elemente des ovangelischen Kirchen-
gesanges bezeichnet worden, so liaben wir jetzt das inn ere Wesen
des neu Entstandenen, die besondere Eigenthtimlichkeit desselben naher
zu betrachten, die Art und Weise, wie aus jenen Elementen etwas
Neues geschaffen wurde.
Die liturgischen Gesange der romisch-katholischen Kirche liessen
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zwar weder Kkytkmus nocli Metrum wakrnekmen wenlgstens zu der
Zeit niclit, als sie von der protestantischen Kirckd atifgenommen
wurden, aber sie trugen dock ein Element in sich, welches auck in
die neue Gestalt tiberging, und auf dessen vollstandiger Entfaltung die
nachkerige Blutke des deutscken Chorals beruhte. Es waren dies die
aLten, sckon fruker erwaknten*Kirckentonarten. Es ist nattirlick Her
nickt der Ort zu ausfiihrlickerer Erorterung ^dieses verwickelten Gegen-
standes. Ick entlehne eine Stelle aus v. Winter fold's Werk, um
Iknen einigermaassen eine Ansckanung yon dem Wesen desselben zu
geben. Alle Kirckentone, keisst es dort, sind von einander eigentkim-
lick verscMeden. Sie sind es als Octavengattungen in ikrer melodiseken
Gliederung, sie sind es in den Gegenstanden ihrer karmoniscken Be-
ziekungen, und durck ikr Verkaltniss zu denselben; ja selbst aus jeder
sckeinbaren Uebereinstimmung einerseits tritt von der anderen Seite der
entsckiedenste Gegensatz keraus. Seken wir sie als Werfczeuge an,
mit denen, oder ricktiger vielleickt als Eeicke, Gebiete, in denen der
Tonmeister sckafft, so stekt er iknen nickt unbedingt als bestimmend,
kerrsckend gegenuber, er wird vidmehr vorzugsweise durck sie be-
stimmt, sobald er in das eine oder andere sick begiebt, das eine
oder andere, dem "Wesen seiner Aufgabe zufolge, ergreift. Gegenstand-
lickkeit (Objectivitat) also konnen wir als ihren Charakter im Verkalt-
niss gegen unsere modernen Tonarten bezeicknen. Denn unsere neue
Tonkunst hat, bis auf die weicke und karte Tonreike, weleke sie auf
kokeren und tieferen Klangstufen ubereinstimmend wiederkolt, alle
alteren Tonreiken ganzlick ausgeglicken, und einer jeden die Moglick-
keit gleicker Beziekungen zu alien anderen gewakrt. Durck Kunst-
tibung und Lekre kat sie allgemack gezeigt, wie auck das Entfernteste
auf leickteste Weise in Yerbindung gebrackt werden konne, wie auf
jeder gewaklten Tonkoke man dieselben Beziekungen wiederfinde. Die
altere Tonkunst brackte dem Tonmeister eigentkiimlick geordnete Ge-
biete mannigfack weckselnder Beziekungen entgegen, unter denen er
nack seiner Aufgabe zu waklen kaftte, dann aber durck die getroffene
Wakl sick auck bestimmt fand und begrenzt; die moderne bietet ikm
den gesckmeidigsten Stoff far seine Bildungen, und ikr gegenuber ist
er bei freiester Wakl auck allein der Bestimmende und der Be-
^renzende. Objectiv, typisck ist kiernack das Geprage der alteren, sub-
jectiv, sentimental das der neueren Tonkunst, Sckon im Laufe der
keutigen Darstellung wurde erwaknt, dass die Kunst des Tonsatzes
bereits seit beinake zwei Jakrkunderten in Deutsckland einkeimisck
war, wenn auck okne kokere kunstleriscke Bedeutung und vorzugsweise.
142
wie in anderen Landern, auf den Kreis der Scliiile besclrrankt. Die
Ausubimg der harmonisehen Kunst war, wie iiberall, zur Zeit der Ent-
steliung derselben mehr eine wissenseliaftliche Thatigkeit, eine Arbeit
des Yerstandes. Dies hatte eine uns jetzt sehr auffallende Erscheinung,
die Tremmng des Sangers mid Setzers, des Erfinders der Melodie und
des Bearbeiters derselben, zur Folge,* Die Erzeugnisse des Sangers,
die Hervorbringungen des unbewussten Kunsttriebes , waren fur den
Setzer, den mit "Wahl und Absicht Zusaimnenftigeuden, anfangs nur
eine Veranlassung, seine neue Kunst daran zu tiben, und er suchte
und schatzte an ilmen zumeist nur die Gelegenheit sinnreiclier Dar-
legiing derselben. Jetzt, im protestantischen Choral, gelangte flie hanno-
nisehe Kunst zum ersten Male in Deutschland zu frischerer kunstlerischer
Entfaltung und trat in das Leben heraus, der darin webende Geist kam
zum Bewusstsein. Jetzt gait es, die Setzkunst dexn allgemeinen Ter-
standnisse naher zu bringen, den Geist, der in den aufgenommenen
Melodien scHuminerte, durch diese Ivunst zu erwecken, jeden ilurer
Schritte seiner vollen Bedeutung nach zur Anschauung zu bringen,
ilinen und dadurch clem Sanger wahrhaft nalier zu treten, die ursprung-
liche Emlieit der Kunst desselben und des Tonsetzers lebendig zu
enipfinden, zu erkennen, und beide endlicli scliopferiscli zu vereinigen.
Jetzt gelangten die Kirclientone in der gedrungenen, volksmassigen
Gestalt des neuen heiligen Liecles erst zu lebendiger Anschauung. Jene
Zeit frommer Begeisterung, einpfanglicli wie sie war, und genugsam
vorbereitet for neue Scliopfungen der Tonkunst, bedurfte vor Allem
auf dern Gipfel der heiligen nur eines belebenden Hauclies, uin frische
Blutlien des Geistes zu zeitigen. Wie in Italien durch Palest rina's
MeisterschSpfungen, so erscliloss sich nun in Deutscliland das liobere
Wesen der Tonkunst; Keiner aber hat dieses neu gewonnene Bewusst-
sein besser ausgesprochen, als Luther, -wean er in seiner Lobrede
auf die Musik sagt: ,,Wo aber die naturliche Musica durch die Kunst
geseharft und polirt wird, da sieht und erkennt man erst zum Theil
denn giinzlich kanns nicht begriflbn noch verstanden werden mit
grosser Verwunderung die grosse und vollkommene Weisheit Gottes in
seinera wunderbarlichen Werke der Musica, in welcher vor Allem das
seltsarn und zu verwundera 1st, dass einer eine gchlechte Weise oder
Tenor (wie es die Musici heissen) hersinget, neben welcher drei, vier
oder funf andere Stimmen auch gesungen werdon, die um solche
schlechte, einfaltige Weise oder Tenor gleich als mit Jauchzen rings
herom spielen und springen, und mit mancherlei Art und Klang die-
selbige Weise wunderlich zieren und schmticken, und gleich wie einen
143
hiimnlischen Tanzreihen fahren, freundlieh einander begegnen, nncl slch
gleich herzen und lieblicli umfangen, also dass Diejenigen, so solches
ein wenig verstehen und dadurch bewegt werden, sich des heftig ver-
wiindern miissen, und nieinen, dass nicMs Seltsameres in der Welt sei ?
denn ein soldier Gesang mit viel Stimmen geschmuekt. Wer aber
clazu keine Lust und Liebe hat, und durcli solch lieblicli Wunderwerk
nicht bewegt wircl, das muss wahrlich ein grober Klotz sein, der nicht
werth ist, class er solch liebliche Musica, sondern das wilde, waste
Eselsgescbrei des Chorals, oder der Hunde oder Saue Gesang und
Musica hore." Diese eigenthiimliche Beschaffenheit der melodisclien
und harmonischen Verhaltnisse ist es zunachst, welclie dem alien Choral
die ganzlich von der spateren abweichencle Beschaffenheit yerleiht: die
Originalitat, das Sehwunghafte, Tiefergreifende, die Kraft und Fulle,
das Alttestamentarische mochte man wol sagen. Weiter sodann
trug die zweite Hauptquelle desselben, der Yolksgesang, dazu bei, das
zu vervollstandigen, was dem alten Kirchengesauge ganz abging, die
rhythmische Mannigfaltigkeit. Hier tritt uns der rhythmische Weehsel
auf eigenthiimliche Art ausgebEdet entgegen. Den graden und un-
graden Tact als Grundform der Melodie, das Nebeneinanderbestelien
beider Fonnen, den rhythmischen Wechsel sonacli, der, ohne das Haass
zu andern, dennoch einen symmetrischen Gegensatz beider Fonnen er-
zeugt, das finden wir in der Volksweise in hoheni Grade vorhanden und
auf den evangelischen Gemeindegesang ubertragen. Durch die innige
Verschmelzung dieser beiden Bestandtheile, des melodisch-harinonischen
Elements des alten Kirchengesanges, sowie der rhytlunischen Mannig-
faltigkeit des Voltsliedes, sehen wir so die neuen Tonscliopfungen
entstehen, in ihrem "Wesen ganzlich Yerschieden von dem ? was eine
spatere Zeit umbildend daraus gestaltet hat. Denn die wiehtigsten
Bestandtheile sind in dem, 'was gegenwartig far Choralgesang ' aus-
gegeben wird, nicht wahrzunehmen. Ein zwar wohlgesinnter T aber be-
schrankter Eifer hat die meisten Spuren des Alten fast ganzlich ver-
tilgt, indem er Yeraltetes zu beseitigen, Unzienslches zu entfernen
trachtete. Zu jenem gehorten ikn die Kirchentone, eine, wie er sie zu
verstehen glaubte, auf Yerlebtem Herkommen beruhende, willklirliche
Beschrankung nielodischer Ausgestaltung, harmonischer Entfaltung; zu
diesem die einem skengen Gleichmaass nicht unterzuordnende, dem
Mrchlichen Ernst angeblich widerskebende rhythmische Mannigfaltigkeit.
Der alte Choral war begeisterter Yolksgesang, der mit Kraft und Each-
druck Yorgetragen wurde ; jenes kraftlose, langausgedehnte Hinschleppen,
welches im letzten Jahrhundert beliebt wurde, war ihm fremd; der
144
alte Choral war ein in sich abgeschlossenes Musikstflck, wie jedes andere.
Die unschonen, nur mit dem Wechsel zwischen gewohnlicher Kecitation
und Gesang in der Oper an Widerwartigkeit zu vergleichenden Buhe-
puncte, jene das Q-anze zerstuckelnden Fermaten, welclie wir inachen,
waren ihm meist fraud. Vollgiiltige Zeugnisse von Schriftstellern
sincl vorhanden, welclie beweisen, dass der alte Choral in dieser kunst-
reichen Gestalt wirklich von den Gemeinden gesungen wurde. Das
Interesse der letzteren war damals grosser. In der Schule wurden den"
Kindern diese Gesiinge eingeiibt, so wie auch der Hansvater taglich mit
seinen Kindern sang. Diese Umstande konnen zum Theil erklaren,
wie es moglich war, dass man clas damals durchfuhren konnte, wozu
man gegenwartig kaum einen Versuch zn machen wagt. Auf die
Frage der Wiedereinfuhrung des alten Chorals in der Gegenwart werde
ich spater noch zu sprechen konimen. Nur so viel sei hier bemerkt,
dass sich in der Gegenwart Fur und Wider lebhafte Parteistreitig-
keiten erhoben haben. Die entschiedene Tendenz des grossen Winter-
feld'schen Werkes ist, auf eine solche erneute Belebung hinzuwirken.
So viel ist richtig und zweifellos, dass an wirklichem Kunstwerth der
gegenwartige Choral mit dem alten sich auch nicht entfernt messen
kann, dass das, was die Neuzeit als ein Besseres glaubte bieten zu
konnen, wirklich nur Verballhornisirtingen des Alten und Echten, sind,
obschon auch das Letztere nicht frei ist von modischen Bestandtheilen
jener Zeit.
Treten wir jetzt, nachdem wir die Beschaffenheit des damals neu-
entstandenen evangelischen Gemeindegesanges naher kennen gelernt haben,
dem historischen Verlauf, wenn auch nur andeutend, naher.
Als Luther seine ,,deutsche Messe anrichten wollte", erbat er
sich von dem Eurftirsten von Sachsen dessen alten Sangmeister, EJhrn
Conrad Bupff , sowie den UDI die Forderung des protestantischen Chorals
besonders verdienten Jolianises Waltlier, gleichfalls cluuf. siichs. Sanger-
meister, und Hess dieselben nach Wittenberg koramen. Wir bositzen
einen eigenen Bericht des Letztgenannten fiber diesen Vorgang.
Luther arbeitete gemeinschaftlich "mit diesen Mannern, namentlich
mit Walther. Dieser hatte die gewahl-ten Melodion zu harmonisiren,
und das Resultat war die Herausgabe des ersten lutherischen Gesaiig-
buches, welchem dann noch bei Lebzeiten Luther's mehrere audere
Ausgaben folgten, die dieser mit Vorreden begleitete; er habe, sagt
er bei Gelegenheit der ersten Ausgabe, mit einigen Anderen, zum
guten Anfang und Ursach zu geben, die es besser vermcjgen, etliche
geistliche Lieder zusammengebracht, da$ heilige Evangelium zu treiberi
145
und in Schwang zu bringen. 5 ,Und sind dazu auch in vier Stimmen
bracht, niclit aus anderer Ursache, denn dass ich gern wollte, die *Ju~
gend, die doch sonst soil und muss in der Musica und anderen rechten
Ktasten erzogen werden, etwas hatte, damit sie der Buhllieder und
fleischlichen Gesange los wurde, und an denselben etwas heilsames
lerae". Wie gross der Beifall war, welchen diese Gesange fanden,
wie bald Nachahmer hervortraten, erhellt aus einer Stelle einer spateren
Ausgabe: ,,Und haben sieh etliche wohl beweiset, und die Lieder ge-
mehret, also, dass sie mich weit ubertreffen, und in deni wohl meine
Meister sind. Aber daneben auch die Anderen wenig Gutes dazu ge~
than, Und weil ich sehe, dass des tagliclien Zuthuns ohne alien Unter-
scHed, wie es einem Jeglichen gut dunkt, will kein Maass werden,
auch die ersten tmserer Lieder, je langer, je falscher gedruckt werden,
hab ich Sorge, es werde diesem Buchlein die Lange gehen, wie es
alle Zeit guten Buchern ergangen ist, dass sie durch ttogeschickter
Kopfe Zusetzen so gar tiberschtittet und yerwustet sind, dass man das
Gute darunter verloren und allein das Unnutze im Branch behalten
hat". An anderen Stellen spricht er sich tiber die Aufnahme der
Melodien der katholischen Kirche aus, was ich iibergehe, da dies schon
ausreichend besprochen wurde. Endlich heisst es in der letzten, von
Valentin Bapst in Leipzig besorgten Ausgabe: ,,Gott hat unser Herz
und Muth firohlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er fur
uns gegeben hat zur Erlosung von Siinden, Tod und TeitfeL "Wer sol-
ches mit Ernst glaubet, der kanns nicht lassen, er muss firohlich und
mit Lust davon singen und sagen. Darum thun die Dracker sehr wohl
daran, dass sie gute Lieder fleissig drucken, und mit allerlei Zierde den
Leuten angenehm machen, datoit sie zu solcher Freude des G-laubens
gereizt werden und gerne singen, wie denn dieser Drucfc Valentin
Bapst's sehr lustig zugerichtet ist* Gott gebe, dass damit dem romi-
schen Papst, der nichts denn Heulen, Trauern und Leid in aller "Welt
hat angericht durch seine verdammte, unertragliche und leidige Gesetze,
grosser Abbruch und Schaden geschehe. Amen". Ueber *Walther"s
Lebensumstande ist uns nur wenig bekannt. Er war Magister der
Philosophie. Die erste Ausgabe seines Gesangbuches rom Jalore 1524
nennt ihn am Schlusse der Altstimme nur als Verfasser, olme sein Amt
zu bezeichnen. Erst in einer spateren Ausgabe (von 1537) bezeichnet
er sich als cjiurf. Sangermeister, Er stand also damals in den Diensten.
des Kurfursten^Johann Friedrich des Grossmuthigen. Alsnach
der Schlaeht bei Muhlberg die Landesherrschaft auf Moritz fiberging,
10
146
scheint er nicht wie Lucas Or ana ch bei seinem alten Herrn geblieben,
sondern in die Dienste des neuen getreten zu sein.
Bemerkte IcTi vorhin, dass im protesfcantischen Choral das tiefere
Wesen der Tonkunst namentlich nach Seite der harmonischen Entfaltung
hin zum ersten Mai zum Bewusstsein gekonimen sei, so sind nun aber
diese Worte nieht daMn zu verstehen, dass sogleicli beim Entstehen,
unter Walther's Handen demnach und bei Luther's Lebzeiten, das
Hoehste und Vollendetste geleistet worden ware; im Gegentheil, wir be-
gegnen hier nur den Anfangen, und Luther's herrliche Worte fiber
den Werth und die Bedeutung des vielstimmigen Tonsatzes konnen in
der That nur als propheiasche gelten. Bine langere Entwicldung war
noch m durcMaufen, bevor man zu der auf dieser Stufe m5gliclien
Classicltat gelangte, und ebenso konnen wir dann einen Etickgang und
ein Sinken walirnekmen. Ein Uebelstand namentlicli war es, welcher
damals noch eine freiere Gestaltung hemmte. Es war namlich die
Melodie in den Kirclienliedern in der Zeit von Beginn der Reformation
bis gegen Ende des Jahrhunderts nicht wie bei uns der hochsten Stimme,
sondera einer Mittelstunme, am haufigsten dem Tenor, zugetheilt. Dies
aus dem Kunstgesang entnommene Verfahren, dem wir schon bei den
Niederlandern begegnen, finden wir in alien Gesangbuchern jener Zeit,
und nur Ausnahnien zufalliger Art treten uns abweichend entgegen.
"Wie Mnderlich dies der Gemeinde in ihrem Gesange beim Gottesdienst
sein musste, wie sehr durcli die liber der Melodie angebrachten Stimmen,
die sick oft in selbststandigen inelodisclien Figuren ergingen, diese yer-
dunkelt und unkenntlicli gemacht werden musste, leuchtet ein, und viele
klagende Stimmen der damaligen Zeit bestatigen dies zur Genuge, In
den altesten Bearbeitungen von ,,Ein ? feste Burg" vom Jahre 1540 und
1544 findet man die Melodie im Basse, als Grundlage des Ganzen, eine
in jener Zeit seltene Stellung der Hauptinelodie, durcli die wol, wie
v. Winter feld bemerkt, im Sinne der damaligen Tonmeister bezeichnet
werden soil, dass ein fester Glaube, wie der in dem Liede webende,
walirhaft auf den Felsen bane, auf welchen die Kirche gegrtindet sei;
dass auf den Tonen, worin er so lebendig ausgesprochen sei, am Wur-
digsten ein Verein von Stimmen ruhe, der, von ilinen sicher getragen,
auch ihre Bedeutung wiederum auf das Treffendste kunde. Erst spater,
wie ich noch besonders erwahnen werde, wurde die Melodie nait Be-
wusstsein in die Oberstimxne verlegt, erst dann findet sich auch, was wir
uns als untrennbar vorzustellen gewohnt sind, die Thatigkeit des Sangers
und Setzers wirklich vereinigt, wahrend bis dahin die Art, wie Luther
mit Walther-arbeitete, lasst dies schon erkennen die Functionen
Beider immer noch geschieden waren. Als einem der firuliesten Ton-
meister der eyangelisclien Erehe, als Mitarbeiter Lu tier's, gebflhrt
Wai tier eine ehrenvolle Stellung in der Geschichte. Seltene Gaben,
hotter Geistesschwung konnen ihm jedoch niclit nachgeruhmt werden,
karan eine sinnreiclie Anordnung seiner Tonsatze. Er ist hochzuschatzen
als ein Solcher, welder Begabteren die Balm ebnete ; sein Strebert aber
war ein beschranktes, ein seiches, wozu Verstand, Fleiss, Kenntniss
den erfalirenen Ktostler befahigen. Walt her hat im Lanfe seiner
Thatigkeit von 26 Jahren Fortschritte gemacht, wie verschiedene Aus-
gaben der Gesangbticher beweisen; zn einer wirklichen Erfassung aber
des Hoheren ist er nicht gelangt. Bemerkenswerth ist, dass in den
spateren Ausgaben bei ihm mehr und mehr scion die Melodie ihr
Eecht in der Oberstimme erlangt, und es ist zu sagen, dass er aller-
dings schon eine Ahnung YOU einer solchen Entfaltung getabt hat, zu
wirklich klarer Gestaltung aber ist er trotz alledem nicht gelangt.
Ich gedenke jetzt eines anderen Tonsetzers, den man gewohnlich
ebenfalls unter Luther's Hitarbeitern auf dem Gebiete des Kirchen-
gesanges nennt, obschon bezwerfelt werden inuss, dass er direct fur die
protestantische Borche thatig gewesen ist. Ludwig Senfl^ dieser bei
weitem bedeutendere Meister, war aus Zurich, nacli Anderen aus Basel
geburtig. Seine erste Ausbildiing erhielt er in der letztgenannten Stadt,
trat von da in die Kapelle Kaiser Maximilian's I. zu Innsbruck
und fand dort an dem beruhmten Heinrich Isaac einen trefflichen
Lehrmeister. Spater kam er in die Dienste der Herzoge ?on Bayern,
wo wir ihn um das Jahr 1530 finden; um die Mitte des Jahrhunderts
scheint sein Tod erfolgt zu sein. Ueber sein Verhaltniss zn Luther
geben uns einzelne Aeusserungen desselben in seinen Tischreden Nach-
richt, sowie ein freundliehes Schreiben Luther's ac ihn, datirt Coburg,
den 4. October J530. In dessen Tischreden wird erzahlt, wie er, am
17. December 1539, da er die Stager zu Gast hatte, nachdem etliehe
Motetten Senfl's gesungen worden waren, sich sehr Yerwundert, diese
gelobt und geaussert habe: ,,Eine solche Mutetten Yermocht ich nicht
zu machen, wenn ich mich auch zureissen sollt, wie er denn wiederum
nicht einen Psalin predigen konnte, als ich. Darum sind die Gaben des
Geistes mancherlei, gleichwie auch in einem Leibe mancherlei Glieder
sind. Aber Memand ist zufrieden mit seiner Gabe, und lasst sich nicht
geniigen an dem, das ihm Gott gegeben hat; aHe wollen sie der ganze
Leib sein, nicht GliedmaassenP Senfl ist nach zwei Seiten hin Yon
Bedeutung. Er theilte die im 16. Jahrhundeit uberhaupt verbreitete
Neigung, die neue Ernst auch mit dem classischen Alteiihum in Ver-
10*
148
bindung m bringen, indem er Oden des Horaz in Musik setzte, sodann
durch das, was uns Mer zunachst interessirt: seine geistliclien Gesange.
Bestand doit die Hauptaufgabe mehr in dem engen Anschmiegen an den
Dichter, iind mussfce daher die Melodie einen iiberwiegend declamatori-
sehen Character zeigen, so war auf dem letztgenannten Gebiete dagegen
der fieieste Spiekaum fur die Entfaltung der neu gewonnenen Kunst-
mittel, und Mer konnte sieh daher Senfl insbesondere als Tonsetzer
zeigen, so dass ihn v. Winter f eld als den bedeutendsten Meister jener
Zeit bezeiehnet, seine Arbeiten als Muster, wenn auch nur for jene
Zeit: n genfl hat in den beiden EicMungen, in denen er schuf, die
Eigenthtunliehkeit seines Geistes bedeutsam ausgepragt, er hat in seinen
Werken Krafte entwickelt, Geheioinisse der Tonkunst offenbart, die bei
Nachfolgern und Schitlern in harmonischem Zusammenwirken, in stets
mekr atifgeschlossenem Verstandnisse, cine schonere Entfaltung der Me-
lodie anbahnten". Winterfeld ffigt hinzu: ,,Doch aller dieser
grossen Vorzuge ungeachtet,* die ihn auf die Hohe seiner Zeit stellen
in seiner Kunst, war er doch nur ein Vorlaufer, eine Weissagung dessen,
was erst spater sich erfullen sollte in echter harmonischer Entfaltung,
die auch deni sinnreichsten Baue eines Tonsatzes erst seine voile Be-
deutung gewahrt. Der grossartigen Anlage, des tiefen Geftihls der
jedesmaligen Aufgabe wegen konnen wir seine Werke als Muster nennen,
aber nur far seine Zeit, weil jene Entfaltung eben nur erst in ihnen
zu dammern und hervorzubrechen beginnt; die Vollendung der Kunst
war, bei aller Herrschaft fiber die Mittel, so w^nig in ihnen, als in
jenen alten Bildern, an denen die Tiefe und Wahrheit der Empfindung,
der fronone Ernst, die Eeinheit der Motive uns entztickt, wahrend die
Durftigkeit der Formen, die Unfreiheit der Bewegungen uns doch er-
innern, dass Geist und Form Mer einander noch nicht vollig durch-
drungen haben".
Es kann naturlich, wie auch schon im Eingange bemerkt, Mer nicht
der Zweck sein, nachdero. ich Ihnen diese wichtigsten Thatsachen vor-
geftilirt habe, noch welter in das Einzelne herabzusteigen, Ich ilber-
gehe darum die Namen aller der Tonsetzer zweiten und dritten Ranges,
welehe, dieser Stufe der Kunstentwicklung angehorend, in v. Winter-
f eld's Werk eine ausfuhrliche Darstellung gefunden haben. Mit dem
Mer Erwahnten ist die erste Epoche des evangelischen Gesanges, die
sich bis zum Tode Luther's erstreckt, abgescMossen. Das Streben
des zweiten Zeitraums ging jetzt dahin, die verworrenen Ahnungen des
ersten zu erfullen. Die kunstliche Stimmenverwebung soUte der ein-
fachen Fassliehkeit weichen, der im Tenor ruhende von anderen Stimmen
149
verdeckte Gesang in die Hangreichere, Allen vernehmliehe Qberstimme
verlegt, der Rhythmus entschiedener , die Entfaltung der Harmonie
lebendiger werden, inn das Ziel zu erreichen, welches in dem grossten
Tonktinstler dieser Zeit, Johannes Eccard, verkorpert erscheini
Eccard ist der Beprasentant der zweiten Epoche, welche die hochste
Blutlie und Vollendimg des evangelisehen Gesanges umfasst. Die dritte
Epoche wird sodann eroffnet durch die neuen Foraen der welffichen
Musik. Der grosse, durch Erfindnng der Oper hervorgerufene Umschwung
in der itaJienischen Musik beginnt allmahlich seine EMtisse auct auf
DeutscHand zu aussern, und die alte Mrchliche Eunst in ihrer Keinheit
zu zerstoren. Diese Epoche dauert bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
und findet ihr Ziel und ihre Vollendung in der vierten, die, am Ende
des 17. Jahrhunderts beginnend, bis auf Handel und Bach sich aus-
dehnt. Mit Seb. Bach ist diese gesammte Zeit vollig abgeschlossen ;
er bezeichnet den Endpunct dieser schon in der vorigen Vorlesung cha-
rakterisirten ersten grossen Hauptepoche der deutschen Musik, deren be-
sondere Stufen ich Dinen hier in einem Ueberblick gezeigt habe.
Die nahere Betraclitung derselben wird die Aufgabe der folgenden
Vorlesung sein.
Neunte Vorlesung,
Fortgang nacli Luther's Tocle. Osiander, Johannes Eccard. M. Pratorius. H. Schiitz.
Orgel- uncl Claviermusik: M. Pratorius. Scheldt. Pachelbel. Ammerbach. Die
Suite und die Senate. Kuhnau. Die Laute.
Eke gesehichtliche Entfaltung im eigentliclien Sinne, c! li. ein An-
wachsen, ein MeLren (lurch Benutzung des bereits Gewonnenen und
Hinzufiigung von neuen Erfindungen im Laufe der Zeiten konnen wir
nur dem lutlierisclien Ivirchengesange beimessen; nur ilm konnen wir
einen lebendigen Spiegel fortgeliender Entfaltung fronimen, evangelisclien
Sinnes nennen. Der calvinisclie Kirchengesang uni dies hier bei-
laufig zu erwahnen , einmal festgestellt, war niclit sowol eine Bluthe
des inueren, froinnien Lebens seiner Kirclie, als yielmehr ein zu deren
Ordnung ein ftir alle Mai Vorgescliriebenes, der Kunst, welche dort keine
Stelle fand, fortan Unzugangliches. Er bildet, wenn auch evangelisch,
clennoch iin Gegensatz zu der fiischen Entwicldungsfaliigkeit des luthe-
risclen, ein getrenntes, fremdes, hoeltstens ein bonachbartes Gebiet.
Die Hauptentwicldungsstufen des eben genannten, des lutherisclien
Kirchengesanges haben Sie schon in der letzten Vorlesung kennen ge-
lernt. Es 1st heute unsero Aufgabe, nacli Anleitung des v. Winter-
feld'schen Werkes, diese noch etwas naher zu betracMen.
Nach Luther's Tode, in der zweiten Halfte des .16. Jahrhunderts,
war eine Wendung von grosser Wichtigkeit in der protestantisclien
Kirche eingetreten. Der Katholicismus hafcte sich von den ersten ihin
beigebrachten Medeiiagen erholt und erhob sich wieder mit erneuter
Kraft. Auf dem ihm gegenuberstelienden Gebiet tlagegen waren innere
Spaltungen eingetreten, die neue Kirche war fur solcbe Angriffe durcli-
aus nicht gertistet, und viol des schon gewonnenen Terrains ging ilir
wieder verloren. Kampfte man aber frflher fiir das nacli langer Ver-
dunklung wieder klar liervorstralilende gofctliche Wort mit jugendliclier
151
Begeisterung , so yersehwand spater diese Glaubensfreudigkeit und
Kampfesrastigkeit immer mehr; man fuhlte sich bedrangt, gereizt, yer-
wirrt, zerstort, und Bitterkeit, Argwohn, Misstrauen, Hass verseheuchte
die Begeisterung* Unter den Glaubensgenossen selbst war die alte Zu-
yersieht, das feste Veiiassen auf einander gewichen; alle gehassigen Ee-
gungen der Leidenschaft hatten den Gegenstand des Kampfes, das hei-
lige "Wort selbst, den Streitenden immer mehr in die Feme gerueki
In der Verwirrung der Gemuther musste der Starrsinn far Glaubenskraft
gelten, der geistliche Hoehmuth for priesterliclie Wiirde. Was in frischer
Kraft begonnen, konnte unter solchen Umstanden, in einem solchen
Boden nicht weiter gedeihen. Das rege, empfindungsreiche leben ging
yerloren, und mit dem Lehi-streit nahm ein trockenes, lehrhaftes Geprage
iibeiiiand. In dem Erehenliede, demjenigen, worauf es uns tier ^umeist
ankommt, sehen wi^ wol noeli den ursprunglielien evangelischen Geist,
aber seine voile Offenbarung webt nicht mehr in ilirn, sie 1st uberge-
gangen auf eine andere, verwandte Kunst, die Tonkunst. Diese war
den hemmenden EInfltissen der Zeit entruckt, der Stoff, in welcliem sie
bildete, war dayon unberfihrt geblieben, in ihr strahlte daher jener Geist
zu Ende des Jahrhunderts am lebendigsten aus. Die Tonkunst ist daher
im yollsten Sinne die Eunst jener Zeit; die getrennten Geister finden
in ihr ein Band, das sie yerknupft; in ibr lebte jener Friede, in wel-
chem fur die begabtesten, edelsten Geister jeder Streit geschlichtet war*
Sie ist die Mscheste Bliithe jener Tage. So wurde dieselbe im Laufe
des Jahrhunderts eine immer freiere, selbststandigere Kunst, und am
Ende desselben erblicken wir sie uber die Dichtung herrschend auf der
hochsten Stufe ihrer Entwicklung,
Das Bezeichnende des Tonsatzes geistlicher Liedweisen uin die erste
Halfte des 16* Jahrhunderts war die kiinstliche Stiromenyerwebung,
welche anfangs die in der Tenorstimme erscheinende Kirchenmelodie
umgab, ini Fortgange der Zeit aber, je linger je niehr. von ihr in der
hochsten Strmme behen*scht wurde. Mit diesem Uebergange der Melodie
dahin, wo sie in den hellsten und klangreichsten Tonen am meisten
sich geltend maehen konnte, bahnte sich nach und nach eine neue Art
des Tonsatzes an, durch den spater jener altere kunstreiche erst seine
rechte Bedeutung gewann, Es war der einfache, auf harmonische Ent-
faltung der Singweise gerichtete. Nur dadurch, dass man den einfachen
harmonischen Tonsatz der kunstlichen Stimmenyerwebung yorzog, und
der Melodie die dauernde Stellung in der Oberstirnme anwies, konnte
die Tonkunst in ein wahrhaft forderliches Verhaltniss zu der Gesammt-
heit des Volkes treten.
152
Der Erste, der den entsclieidenden Schritt mit vollem Bewusstsein
that, war der wurttembergische Oberhofprediger Lucas Osiander in
seinem Werke: ,,Funfzig Geistliche Lieder und Psalmen mit vier Stim-
raen auf contrapunctsweise also gesetzet, dass ein' ganze Cliristliclie Ge-
meine durchaus mitsingen kann". In seiner ftir die nahere Kenntniss
des Zustandes des evangelischen Ghoralgesanges uberhaupt wichtigen
Znschrift an die Schulmeister Wurttembergs voni 1. Januar 1586 er-
Hart er ausdriickHch:] ,Jch zweifle aber nicht, es werden etliclie Compo-
nisten und Musici, ihnen diese ineine ringftige Arbeit Anfangs niclit aller-
dings gefallen lassen. Derowegen icli Heriiber kurzen Bericlit thun will,
wanonb ich diese Compositiones eben so, und nicht anderst, gemaclit
hab. Ich weiss wolil, dass die Coniponisten sonsten gewolinlicli den
Choral im Tenor fiihren. Wenn man aber das thut, so ist der Choral
unter anderen Stnnmen unkenntlich, der genaeine Mann verstehet nicht,
was es fur ein Psalm ist, und kann nicht mitsingen. Darum habe ich
den Choral in den Discant genommen, damit er ja kenntlich, und ein
jeder Laye mitsingen konne", Mit der Erfullung und Erreichung dieses
Hauptzweckes, dass ein jeder Christ mit einstimmen konne, war der
evangelische Kirchengesang unmittelbar dem hochsten Ziele seiner Aus-
bildung zugefuhrt* Osiander bestrebte sich, den einstimmigen Gesang
der Gemeinde mit dem kunstmassigea mehrstimmigen des Sangerchors
in lebendige Verbindung zu bringen, damit beide, der einstimmlge Ge-
sang der Gemeinde mit der Musica figuralis, wie man den Eunstgesang
(auch in der einfachen Gestalt, in welcher er in Osiancler's Choral-
bearbeitungen erscheint) nannte, ,,fein bei einander bleiben und beides
einen lieblichen Concentus (Harmonie) gebe", was zu der Annahme be-
rechtigt, dass eine derartige Verbindung beider Gattungen bis dahin
noch nicht gebrauchlich gewesen ist. Auch nicht einmpl der Gebrauch
der Orgel zur Begleitimg des Gemeindegesanges ist als wahrscheinlich
vorauszusetzen. Es seheint, den Andeutungen nach, ein zwischen San-
gerchor und Gemeinde mehr abwechselndes Singen stattgefunden zu
haben, so dass der Chor das kunstmassig gesetzte Lied zuerst vortrug
und die Gemeinde, von dem Cantor ader Vorsanger geleitet, die Melodie
nachsang. Dass aber in der That der alte Choral trotz seiner rbythmi-
sehen Mannigfaltigkeit von der Gemeinde gesungen worden, und nicht
dem Vortrage eines geschulten Sangerchors allein iiberlassen war, dar-
uber haben wir bestiminte Zeugnisse. Einer der bedeutondsten, nachher
noch zu erwahnenden Tonktinstler, Hans leo Hasler, sagt ausdriicklich
in der Vorrede zu seiner Sammlung von geistlichen Liedern, ,,dass er ge-
sucht habe, die in der Kirche gebrauchlichen Lieder in solche Harmonie
153
zu bringen, dass ? ,der Choral in Discantu, wie er an ihm selbst gehe,
deutlich gehort werden mochte itnd die Gerneine zugleich mit einsiammen
iind mitsingen konne".
Winter feld nennt nun in seiner Schrifl eine Anzahl von Mannern,
welche auf deni betretenen Wege fortgingen; zunachst Samuel M ar-
se hall zu Basel, sodann den wichtigeren Setli Calvisius, seit dern
Jahre 1594 Cantor an der Thomassehule m Leipzig. Das Choralwerk
desselben wurde zu seiner Zeit hochgeschatzt, und erlebte in 25 Jahren
funf Auflagen; ferner Bartholomaus Gesius, Hieronymus Prato-
rius, David Scheidemann, Hans Leo Easier, Gotthard Ery-
thraus und m. A. Ueber Easier will icli noch einige Worte beifugen,
da er zu den grossten Tonktinstlern seiner Zeit gehort. Er war zu
Nuraberg im Jahre 1564 geboren. Sein Vater Lucas Easier, ein
von JoacMmsthal in BOhmen nacli Nfirnberg eingewanderter Tonkfinsfler,
sandte den Solin in seinem zwanzigsten Jahre nach Venedig, urn dort
von dem beruhmten Andreas Gabrieliin der Setzkunst unterrichtet
zu werden, wo er clann mit dessen Neffen, Joliannes Gabrieli, sei-
nem Mitschfiler, eine enge Preundscliaft schloas, so dass er auch spater
mit ibn in stetem Verkehr bHeb. Ln Jahre 1585 stand er bereits als :
Organist im Dienst des Qrafen eta via n Fugger zu Augsburg.'
16021608 finden wir ihn in Prag, am Hofe des kunstliebenden Kai-
sers Eudolf E.; er trat dann wahrscheinlieh in die Dienste des Kur-
forsten Johann Georg von Saclisen und starb im Jahre 1612. Seine
Thatigkeit gehort uberwiegend noch dem 16. Jahrhundert an, derm im
Laufe desselben erschienen die meisten seiner Werke. Yon vorztiglicher
Wichtigkeit sind seine J5 E3rchengesang 9 Psalmen und geistliche Lieder,
auf die gemeinen Melodeyen mit vier Stimmen simpliciter gesetzt". (1608.)
In der Vorrede sagt er, nachdem er schon vor wenigen Jahren ?5 nur
etliche teutsche G-esang auf den eontrapumtum shnplicem mit vier Stim-
men solcher Art und Maassen gesetzet, dass dieselbigen auch in den
christliehen Versammlungen von dem gemeinen Manne neben dem Pigural
mitgesungen werden konnten", so habe er jetzt auch die anderen Ge-
sange und Psalmen nachfolgen lassen wollen, u. s. w. Ein anderes
Work desselben Tonsetzers: ? ,Psatoie und ehristliche Gesange mit vier
Stimmen, auf die Melodeyen fugweiss componirt" (1607), gab Kirnberger
170 Jahre spater auf Veranlassung der Prinzessin Amalie von Preussen
meder in Brack. Dieser sagt von demselben, ?5 es sei durchgangig be-
sonders schon, der Kunst gemass, erhaben und mit vielein Geschmack
behandelt", und spricht die Eoffimng aus, es werde dahin mitwirken
helfen, dass 7J die Kunst der Musik, welche heutzutage durch ungelehrte
154
Componisten so jammerlich misshandelt werde, vieUeicht wieder empor
komme mid aiis den "Wolken der IJnwissenheit und Geschmacklosigkeit
sich hervorthue".
Der bedeutendste Meister dieser Epoche, welche durch ilin zum Ab-
schluss und zur Vollendung kam, 1st Johannes Eceard, Er 1st wichtig
als Stager in doppelter Beziehung, indem er neben deinjenigen, was
er dadiirch fur den Gemeindegesang war, auch einen lebendigeren Zu-
sammenliang desselben begrfindete mit dern Kunstgesange ; als Setzer
zeigt er sich in ganz neuem Sinne, von der hervorstechendsten Bedeu-
tung; die Gabe des Sangers und Setzers 1st in damals hochster Weise
bei ihm vereinigt. EC card wnrde im Jahre 1553 in der thtiringischen
Eeiclisstadt Milhlhausen an der Unstrut geboren. Seine Eltern sendeten
ihn zu seiner Ausbildung nach Mttnclien, ihn der Leitung des bertihinten
Orlandus Lassus fibergebend, Dieser Aufenthalt fallt wahrscheinlicli
in die Zeit von 1571 bis 1574, in dieselbe Zeit, wo Lassus (im Jabre
1571) eine Eeise nacli Paris unternalim. Es ist wahrsclieinlicli, dass
der damals achtzehnjalirige EC card ilin auf dieser Reise begleitete, wo
ein GeMlfe, znmal ein tliatiger, lebensvoller, aufgeweckter, wie dieser
von Zeitgenossen gescliildert wird, ihm besonders erwlinscht sein musste.
Ein fimfstinimiges franzosisclies Lied Bccard's sclieint eine Prucht
dieser Reise, oder doch eine Erinnerung an dieselbe zu sein. Im Jalire
'J574 wiirde von Carl IX. des Lassus Gegenwart in Paris, ja sein
fortwahrender Dienst an seinem Hofe verlangt. Der Herzog von Bayem
willigte nicht allein in diese Reise ? er forderte jenen dazu auf. Lassus
unternalim dieselbe, kekrte aber, da er unterwegs den Tod des ESnigs
erfubr, wie icli sclion fruher bei der Besprecliung dieses Meisters er-
wahnte, sclinell wieder urn. Dies wurde jedenfalls fur Eccard eine
Veranlassung, sclion vor der Abreise von seinem Lehrer zu sclieiden, da
er dauernd ihm in die Fremde nicht zu folgen wlinschte. Sein erstes
Tonwerk veroffentliclite er 1574 zu MtiUliausen. Moglicli, dass er um
diese Zeit dort anwesencl war; wahrscheinlicli indess, dass er erst auf
Umwegen in seine Vaterstadt gelangte, fiber Augsburg nach Venedig
ging, dort die Bekanntschaft des Andreas Gabrieli inacbte, und erst
eiuige Monate nach seiner Abreise von Mtinchen in seiner Heimath, ein-
traf. Spafcer erblicken wir ihn in den Diensten des Grafen Fugger,
jeclonfalls durch. Lassus' Empfehlung. Von langer Dauer war indess
dieses Verhaltniss nicht. Der Ruf eines kunstliebenclen Fiirsten ent-
fernte ihn weit von seinem damaligen Aufenthalte und seiner Vater-
stadt, an einen Ort, wo er die frischeste, erfolgreichste Thatigkeit seines
Lebens entfalten sollte. Er ging in Polge erhaltener Binladung in den
155
SOer Jaliren nach EMgsberg, anfangs als Yicekapellmeister, und wurde
im Jahre 1599 zuro wirklichen Kapellmeister ernannt. Dorfe blieb er
bis zum Jahre 1608, wo er eiaem Eufe nacli Berlin als Kapellmeister
folgte. Sein Todesjahr ist das Jahr 1611. Schon im Jahre 1574 ist
Eccard, wie ich soeben erwahnt habe, mit einem Werke hervorge-
treten; es enthalt unter dem Titel: Odae sacrae, zwanzig desange zu
ffinf und melir Stimmen. Bin zweites erschien im Jahre J577, woran
jedoch noch ein anderer Tonsetzer sich betheiligt hatte. Ein anderes,
-der Familie Fugger gewidmet, entstand 1578, als er sich im Dienste
derselben befand. Im Jahre 1589 erschienen zu Konigsberg 25 theils
funf-, theils vierstimmige geistliche und weltliche Lieder EC card's.
Es folgten hierauf 20 lateinische Oden Ludwig Helmb old's, Muhl-
hausen 1596. Sein Fiirst hatte ihm im Jahre 1586 den Auftrag gege-
ben, iiber die Weisen der in Preussen gebrauchlichsten Kirchengesange
funfstimmige Tonsatze anzufertigen. Dies hatte er nach und nach ge-
than, und sie in zwei TheUe gebracht, deren erster 24 Tonsatze enthielt
fiber Zeit- und Festlieder, der zweite aber 31 uber Katechismuslieder,
Psalmlieder, Lehr-, Bet- und Lobgesange, so dass in beiden 55 Melo-
dien behanclelt waren. Beide erschienen zu Konigsberg im Jahi^e 1597.
In der Vorrede sagt er: Einige hatten wohl fruiter schon die Melodien
der gebrauchlichsten Kirch enlieder in eine solche Hannonie gebracht,
dass der Choral, wie er an sich selbst gehe, in der Oberstinmie deutlich
gehort werde. und die Gemeinde denselben zugleich mit einstinimen
und singen konne. Dies sei nur zu loben. Dennoch w ist doch noch
zur Zeit kein Cantional, darin nach musikalischer Art was anmuthiges
und der Kunst gemasses enthalten ware, zu uns anhero in Preussen ge-
langet". Er hoffe demnach mit der gegenwartigen Arbeit der christ-
lichen Gemeinde gedient zu haben, } ,welche die gewohnliche Kirchen-
Melodey aus dem Discantu wohl und verstandlich horen, und bei sich
selbst nach ihrer Andacht singende, iinitiren konne" ; aber auch erfahrene
Kunstler wiirden ,,ihnen solche Arbeit, angewendete Muhe und Fleiss
gunstig gefallen lassen", und sehliesst mit der Bemerkung, dass er sich
in Ftihrung des Chorals nach den preussischen Kirehen in Konigsberg,
wie derselbe darin gesungen werde, gerichtet habe. Ist nun in den
frfiheren "Werken Ee card's die Eigenthtimlichkeit desselben noch un-
entwickelt, erscheint daiin der Einfluss fremder Individualitaten iiber-
wiegend, deutet AJles nur auf einen Kunstler, der das Erlernte fortfibt,
so bezeichnen die zuletzt genannten funfstiminigen Choralsatze fiber 55
Kirchenmelodien, sowie ein zweites, ein Jahr spater (1598) erschienenes
Hauptwerk: 5J Preussische Festlieder durch's ganze Jahr, mit funf, sechs
156
bis aeht Stlmmen" die Stnfe seiner Meisterschaft, At>durch er bis
die Mitte des 17. Jahrhunderts Mnaus in der durcli ilin und durcla die
beiden genannten Werke gegrundeten preussischen Tonsclmle HShepunet
und Muster wurde. Durcli die Vereinigung der Gaben des Sangers und
Setzers war die Aufgabe allmahlich eine andere geworden; die Melodie
war nicht mehr ein von aussen her Bedingendes und Beschrankendes ;
durcli sie empfing die TMtigkeit des Setzers erst Gestalt, Bedeutung
und Lebeu. Die nothwendigen Eolgen dieser neuen Stellung des Ton-
ktinstlers waren namentlicL. zweierlei : der Uebergang des Hauptgesanges
in die Oberstimme, damit, was nun wahrliaft Gegenstand der Aufgabe
geworden war, vernelimbarer werde; sodann die grossere Vereinfacliung
des Satzes, die vermehrte Sorgfalt fur bedeutsames Verhaltniss der ein-
zelnen Zusamiaenldange, welclje in die Glieder der Melodie, als ihre
hochste Spitze, ausliefen; nur so konnte dern Sinne, in welchem der
Iliinstler jetzt zu scliaffen hatte, genttgt werden. Damit hatte sogleich
die Aufgabe mehrstimmiger Betonung aucb einer gegebenen, fremden
Melodie eine wesentlich veranderte Gestalt empfangen, es zeigte sicli
die Nothwendigkeit, dass aucli diese iiberall in die Oberstimme tiber-
geke, Sollte es aber bei jener Vereinfachung des Tonsatzes, die damit
so nahe zusammenMng, verbleiben, so stand zu beffirchten, dass die
Setzlomst in dem bisherigen Sinne daiiiber zu Grunde gelie. Denn das
blosse Ordnen und Erfinden angemessener Zusainmenklange fflr die ein-
zelnen Schritte der Melodie, oline eigenthfimliche melodische Aiisg^-
staltung der verbundenen Stinnnen, in denen jene dargestellfr-wurlen,
oline sinnreiclie Bezieliungen derselben zu einander, schieBr cliesen Nanien
nicht m yerdienen. Manclierlei Zweifel mussten die Tonsetzer beun-
ruhigen, auch Eccard konnten sie nicht fremd bleiben, und es ist
Nichts nattirliclier, als dass wir bei ihua neben dem Bilden auf dem
bisher betretenen Wege Versuche gewahr werden, eine neue Bahn zu
finlen, wo dem Sanger, wie dem Setzer, die in unserem Meister sich
verbanden, in gleicher Art Gentige geschehe. Derartige Bestrebungen
findet v. Winterfeld in dem 1589 erscbienenen Werke, und es wtirde
dies demnach als eine Vorstufe far die spateren Hauptwerke zu bezeich-
nen sein. Dies namentlich ist darin bemerkenswerth, dass Eccard hier
in gleicher Weise als Erfinder auftritt ; nur mit der schopferisch bilden-
dea Kraft konnte die in gleichem Sinne ausgestaltende erwachen und der
Ettnstler.befahigt werden, dann auch in das Gegebene, gleich einer
eigenen Sehopfung, sich belebend zu vertiefen. Jetzt erhielt er durcli
die Aufforderung seines Ftirsten, des Markgrafen Friedrich Georg,
eine aussere Veranlassung ; eine innere war ihm gegeben durch die Ver-
157
einigung des Sangers nnd Setzers in ihm, und die neuen Anforderungen
an seine Kunst T die ihm dafaus umnittelbar erwuchsen. Endlich kamen
aucli noch Anregungen durch Osiander, nnd diesena verwandte Be-
strebnngen. Osiander hatte die Ausgestaltung der einzelnen Stimm.en
der Tonfulle ihres ZusammenHingens nachgesetzt. EC card lobte die
fronune Absicht des Tonsetzers, die yerstandige Ausfiihrung, allein er
vermisste die Knnst im hoheren Sinne, die lebendige Gliederung des
Einzelnen zn einem Ganzen. Auf diesem "Wege des Forschens nnd Ver-
gleichens bildete sicli ihm, was bei Osiander als Ziel des Strebens er-
.scHenen war, zur Grnndlage des seinigen aus; ans Zweifeln, Erwagen,
Snclien der rechten Mittel, tun das Bild des mehrstinrmigen Kirchen-
liedes, wie es in seinein Inneren lebte, zu Marer Ansehauung zu bringen,
erwuchs endlieh schopferisches Gestalten. Die vornehmste Schwierigkeit
beruhte darin, dass in engera Kamn zusammengediangt werden musste,
was da, wo die Leitnng der Qemeinde, der Mrchliclie Gebraucli niclit
in der Aufgabe lag, nach Gefallen breiter ausgedehnt werden durfte.
Diese Gedrangtheit der Stiminenverwebnng musste erreichi werden, oline
dass sie Spnren irgend qines Zwanges an sicli trag. So dient nun bei
Eccard die knnstvolle Begleitnng stets nur der Hauptstinnne ; sie ist
ihr, was einem wolilgebauten Leibe seine innere Gliederung, in der
seine Sclionlieit yollkonnnen zur Ansclianung gelangt. Das Ganze er-
scheint nur als ein gewaltiger, doch Marer Strom einfaclier Hannonie,
in der Polyphonie die Homophonie, nnd auf diese "Weise wurde eine
neue Art in der Behandlung des Chorals gescliaffen. Auch auf das
Orgelspiel als Begleitung des Gemeindegesanges hat Eccard eine sehr
erhebliche Einwirkung geubt. Zur Zeit desselben fand noch nicht ein
solches Verhaltniss zum Eirchengesange statt, wie es gegenw^rtig be-
steht. Die Orgel diente frfiher nur zur Begleitung des Kunstgesanges,
sowie for selbststandige Leistungen des Organisten. Durch die Anre-
gung Eccard^s konnte die Anwendung der Orgel in spater iiblicher
Weise nicht lange melir ausbleiben. War es bisher die Absicht unse-
res Meisters, dem Gemeindegesange die Kunst zuzugeselleo, so wollte
er auch noch auf einem anderen Wege Aehnliches erreichen, damit die
Kunst, dem Eorchengesange sich naher anschliessend, als dessen hohere
Bluthe ersclieine und auch in ihren tiefsinnigsten, reichsten Erzeugnissen
Geist und Gemuth der Gemeinde in Ansprach nehme, nicht allein nach
dem Beifall der Kunstgelehrten ringe. Dies zu leisten, eine Mrcbliche
Kunst in echt eyangelischem Sinne zu schaffen, hat Eccard in seinen
preussischen Festliedern gestrebt. Die hohere Kunst sollte auch nicht
schroff dem Gemeindegesang gegenuberstehen, wie in dem alten kunst-
158
reiclien Motett, sie sollte aber auf der Grundlage beruten, die far evan-
gelischen Kirchengesang die allgemeine war, der des Liedes dalier
der Name , ? Festlieder" , also eine Vereinigung des Motetts und des
Liedes anstreben. Die Hauptaufgabe Ton EC card's kunstlerischein
Bilden war demnaeh die Liedform. Als Setzer hat er die MrcHiche,
dem Gemeindegesang angehorende Melodie des geistlichen Liedes, wie
er sie vorfand als ein Gegebenes, nach ihrem inneren BeicMtann, ihrer
harmordscben Bedeutsamkeit zur Anschauung gebracht, ohne deshalb auf
die Kunst der Stimmenverwebung- verzichten zu mussen, die er, wenn
iir aucb die Natur seiner Aufgabe nur beschrankten Eaum zu ge-
wahren scbien, dennoch mit Meisterschaft dabei entfaltete. Als Sanger
bat er den Schatz an Singweisen zwar um einige bereicbert, aber mit
viel grBsserem Erfolg fiir den Kimstgesang erfunden. Dies gescbab
in den Pestliedern, einer Form, in der Mannigfaltiges imd Einfacbes,
FSIle und Klarbeifc verscbraolz. So steht er auf der Hobe der Kunst,
nicbt allein seiner Zeit. Er bat Nacbfolger gefunden, aber keinen, von
dem er in seinem Sinne ubertroffen worden ware. Deshalb ist er von
grdsster Bedeutung far die Gescbicbte der evangeliscben Kircbe.
Ich babe versucbt, durcb Auszuge aus der Scbrift v. Wint erf eld's,
meist mit des Verfassers eigenen Worten, Ibnen die Hauptpttncte der
ersten beiden sicb bis in das 17. Jahrhundert erstreckenden Epocben
anzudeuten. Icb wende roicb jetzt der nun beginnenden Umbildung des
Kunststiles zu, muss micb aber, da icb in der eben beendeten Darstel-
lung sebon die mir gesteckten Grenzen der Aasfthrlicbkeit etwas tiber-
scbritten babe, hier um so kurzer fassen.
Jetzt ist es nicbt niehr eine stetig sicb entwickelnde Kicbitung, die
wir verfolgen konnen, es steben deren nun zwei nebeneinander. Lange
noch und krSftig waltet im 17. Jabrhundert die eben besprochene fort,
die wir bis dabin. zur bocbsten Blutbe entfaltet sahen; von Italien her
aber bahnt sicb eine neue an, wesentlicb yerschieden von der alteren da-
durcb, dass sie auf dem Kunstgesange, bewusster kunstlerisclier Absicbt
beruht, die Tonkunst zu einem lebendigen Werkzeug fur den Ausdruck
mannigfacher, wechselnder Bewegungen des Gemiitlis umbilclet, und die
zu grosser Hobe gesteigerte Ausbildung der Kunstmittel nach alien
Seiten bin fur die Ergotzung des Obres in Anspruch nimmt. Es enfc-
steht eine neue Art des kircblicben Kunstgesanges, ein neues Verbalfcniss
desselben zu dem der Gemeinde. Es ist nun aucb jene Zeit der erston
Begeisterung voruber, in der aus der Gemeinde selbst die Weisen ibrer
geistlicben Lieder hervorgingen ; die Erfindung derselben rubt jetzt in
der Hand begabter Kunstmeister. Winter feld im zweiten Bande
159
seines Werkes widmet beiden Richtungen einB ausffihrliche Betrachtnng.
Er macht, was die altere betrifft, noch versehiedene beachtenswerthe
Tonsetzer namhaffc, u. A. "Walliser, Bodenschatz, Moritz, Land-
graf yon Hessen, Melchior Prank, er bezeichnet eine preussische
Tonschiile unter den unoiittelbaren NacliwkkTingeii EC card's, bespricht,
unter anderen dieser zugehorigen Marmern, Johann Stobaus, He in-
rich Albert, auf den ich demnachst noch eimnal zuruckkommen
werde, und bezeichnet endlich auch noch mehrere Tonsetzer nnter der
allgemeinen Ueberschrift : die Berliner geistlichen Sanger. Hier jedocli
kommt es uns nicht mehr darauf, sondern ansscbliesslich auf die neu
hervortretenden Eiehtungen und deren Reprasentanten an.
Die neue Richtnng in Italian ausserte sieh dort zunachst dureli An-
kampfen gegen die Kunst simrreicher Stinnaenverwebung, gegen den
Contrapunct. Es gait, me Ibmen ans der fruheren Darstellung schon
bekannt, dem Worfce wie der Form des Dichters mehr Balm zu breehen.
Es entstand der Einzelgesang, das Reeitativ. In gleicher Weise trachtete
man, in den Tonen und ibren gegenseitigen Verhaltnissen nene Mittel
zu entdecken, um eine lebhafbere, tiefere Bewegung der Qemuther zu
erreiehen. So entstand die Chroinatik, nnd das allmahlicb.e Erloschen
der alten, auf Entwicklung des diatonisclien Systems in sich selbst be-
ruhenden Grundfonn des geistlichen Gesanges ergab sieh als Folge.
Endlich bemuMe man sich, die der Form des kunstgerechten mehrstim-
migen Satzes vorgeschriebenen Schranken zu lockern, ja sie aufzuheben.
So entstand, wie anch schon friiher erwahnt, der Generalbass, eine die
freiere Bewegung der iibrigen Stimmen sichernde Qrundstrmme, und mit
ihr die Form des Concerts; im Zusammenhange aber mit dieser Form
die Verbindung selbst^ndigen Inskumentspiels mit dem Gesange.
Der Erste, welcMr diesen "Weg betrat, war Meliael Prltorlns,
geb. in Thuringen im Jahre 1571, gesl 1621, Kapellmeister nnd Kam-
merorganist am Brannschweig-Wolfenbuttel'schen Hofe. Pratorius, einer
der thatigsten und strebsamsten Manner seiner Zeit, steht an der Grenz-
scheide des 16. und 17. Jahrhunderts, und wenn auch nicht von ihm
gesagt werden kann, dass er in der Kunstrichtung des einen oder des
anderen schaffend yorangegangen, so haben doch beide Richtungen in
ihm ein sinniges Verstandniss und eine kunstgeubte Hand gefunden.
Yon ungleich gr^sserer Wichtigkeit war der bedeutendste Tonmeister
dieser Zeit, Heinricli SeMtz 5 derselbe, von dem ich schon fruher er-
wahnte, dass er der Erste gewesen sei, welcher die Oper nach Deutsch-
land verpflanzte. Schutz war zu Kostritz im Voigtlande im* Jahre
1585 geboren. Dreizehn Jahr alt, kam er als Singknabe in die Hof-
160
kapelle des Landgrafen Horitz von Hessen-Cassel. Nach einigen
Jahren bezog er mit seinem Bruder auch fiir wissenschaftliche Aus-
bildung war in seiner Stellung gesorgt worden die Universitat Mar-
burg, sieli der Jurisprudent zu widmen. Der Landgraf indess, dem seine
xnusikalisehen Talente sehon bekannt waren, liess ihm den Vorschlag
machen, sidi nach Tenedig zu dem hochberiihmten, aber scion betagten
Johannes Gabrieli zn begeben, nm dnrch diesen in die hoheren
Geheimnisse der Tonkunst eingeweiht m werden. Dazu wurde ihm
ein Reisegelcl yon 200 Thalera jShrlich angeboten. Schiitz nahm den
Vorschlag an, ging im Jahre 1609 nach Venedig und widmete sich
dort mit grossem Meisse seinen musikalisclien Studien, wenn auch bis-
weilen schwankend, ob er diesen Weg welter verfolgen solle. Eine
Prucht dieser Studien war ein zn Venedig im Jahre 1611 herausgege-
benes funfstinimiges Madrigalenwerk, Nach dem Tode Gabrieli 's kehrte
er/iin Jak-e 1613, nach Gassel znrack. Bald darauf nach Dresden zu
einer Festliehkeit des Hofes berufen, wurde ihm dort der Antrag ge-
macht, das Directorimn der Kapelle des Kurftirsten Johann Georg I.
zn tbernehmen. In Folge vielfacher Verhandlungen des Letzteren und
des Landgrafen Moritz ertheilte ihm dieser fur einige Jahre die Er-
laubniss hierzu, die im Jahre 1616 zurtickgenoAiinen, endlich jedoch in
unbeschrankter Weise gegeben ward, so dass yon jetzt an Schtitz
ganzlich dem sachsischen Hofe angehorte. Hier entfaltete er nun eine
ausserst umfassende Thatigkeit. Er zog italienische Instrumentisten nach
Dresden, sorgte fiir gate italienische Instrumente, sowie fiir di^ Sendung
fahiger Inlander nach Italien, richtete iHjerhaupt die Kapelle Tiach dem
Muster derjenigen ein, welche er in Italien kennen gelernt hatte. Allein
nun trat fur Sachsen mit dem schwedischen Kriflge eine Zeit der Be-
drangniss ein. Sehiitz unternahm in Folge de*en mehrfache Eeisen;
im Jahre 1628 ging er zum zweiten Male nach Italien, um ,,nach der
inzwischen aufgebrachten neuen Manier der Musik sich zu erkundigen" ;
um 1634 linden wir ihn in Kopenhagen. Nach seiner Elickkehr die da-
maligen trostlosen Zustande noch unYerandert findend, verliess er Dres-
den auf s Neue und wandte sich 1638 nach Braunschweig und Luneburg,
1642 wieder nach Danemark ; erst seifc dem Jahre 1645 konnte eine er-
folgreichere Thatigkeit fur ihn wieder beginnen. Von da an blieb er
bis an seinen Tod im Jahre 1672 in der Stellung als sachs. Kapell-
.meister, Schtitz wurde schon vorhin als der bedeutendste Vermittler
des italienischen Einflusses in Deutschland bezeichnet. Namentlich waren
es die italienischen Concerto, welche er in der Hofkirche zu Dresden
zum grossen Beifall des Ffirstea und aller Horer einftihrte. Dnter seiaen
161
sa
Werken treten tins zuerst seine 1619 m Dresden gedruekten ,,Psaboaen
David's sammt etlichen Motetten und Concerten mit acht und melir
Stimmen" mit Begleitung eines Orgelbasses und yerstarkender Instni-
mente entgegen, ein Yersuch, die in Italian beliebt gewordene musi-
kalisch-declanaatorische Beliandlung auch auf grosse Choimassen anzu-
wenden. Ein anderes Werk, vierstimmige Ccmtiones sacrae, rait Qrgel-
bass, Freiberg 1625, zeigt den Versuch einer Yerschmelzung der alien,
in sich selbststandigen Form deg Motettensatzes mit der modernen des
Concerts, ebenso "me der rein diatonisclien Kirchentonarten mit den in
der Chromatik die Scliranken jener durchbrechenden, damals sclion Balin
gewinnenden neueren. Dem Aelteren ist fur das feierlicli Ernste, dem
Neueren fur das lebhaffcer Bewegte Eanm gegeben. Unser Tonsetzer
strebt, Jenes nnd Dieses, Deutscliland und Italien, Bines mit clem An-
deren 211 vermalilen. In Yenedig erscMen im Jahre 1629 der erste
Theil eines seiner Hauptwerke: Symphoniae mcrae. Er entMlt Gesange
fur erne, zwei odei drei Solostimmen, yon der Orgel und einem, zwei
oder drei obligaten Instrumenten begleitet. Hier treten die Kirchen-
tonarten irnrner rnelrr zuruck; wir begegnen einem sorgsainen Ausbilden
des Einzelnen, einer an wenige "Worte oder einzelne Zeilen gekntipften
breiteren musikalisclien Ausfiihritng. Jede Zeile einer langeren Sclnift-
stelle bietet ein besonders abgegrenztes, durcli eine gemeinsame melo-
disclie Gnmdwendung (Motiv), auch wol einen ilir yerkniipften Gegeu-
satz gestaltetes Bild; einen Gegensatz, der bald neb en sie gestellt, bald
mit ihr verflocliten ist. So bildet sich. nach und nach die concertirende
Arie, das begleitete Duett aus. Symphoniae lieissen die Satze, weil
weder die alte Benennung der Motetten, noch. die neuere der Concerts
auf sie passt, die gewahlte aber, als eine allgemeine, auch fur neuere
Formeu schicHicli erscheinen konnte. In den Jahren 163G und 1639
trat Schutz mit zwei Tlieilen geistlicher Concerte hervor. Es sind zwei-
bis ftinfstimmige Satze. Auch Gesange fur einzelne Stimmen finden wir,
nicht sowohl arienhaft als reeitativiscli ; nur Einzelnes in ihnen ge-
staltet sich. mehr nielodisch. Jeder auch mehrstimmige Tonsatz erlialt
erst durcli den beigeffigten Generalbass seine vollsklndige Harrnoiiie,
wie es die Art der italienischen Concerte mit sich bringt^ In diesen
beiden Theilen seines Werkes, dessen Titel den Namen einer in Italien
erfondenen Form des Satzes tragt, namentlich im zweiten Theil, sehen
wir Schutz, der sich zuvor fast allein an italienischen und lateinischen
Texten versucht hatte, fiir deutschen Gottesdienst der evangelischen
Kirche thatig, bemuht, die italienischen Formen des Eecitativs^ des
Concerts ihm anzueignen. Im Jahre 16-47 endlich folgte der zweite ?
11
162
1650 der diitte Theil der Symphoniae sacrae. Von besonderer Wich-
tigkeit, nanientlich durch ihren Eiufluss auf die MusikenfrwicHung, siad
die oratorischen Compositumen YOU Schfitz, die ,,Auferstehung des
Eerm'S die ,,Sieben Worte" und die vier Passionen. Das erstgenannte
Werk, welches im Jaire 1623 211 Dresden erschien, lehnt sich an das
urn die Zeit seines ersten Aufenthaltes in Venedig schon ia voller Bliithe
stehende musikalische Drama und die damals so vorziiglichen Beifall ge~
niessenden Concerte, andererseits aber aucli an den altkirchlichen Vor-
trag der Leidensgeschiehte Christi in der Charwoche an. "Wir h5ren,
referirt v. Win t erf eld, den Evangelisten seinen Bericht nacli Art
einer kirclilicken Intonation absingcn, durchgangig in langgezogenen
Tonen, entweder durcli ein Orgelwerk, oder eine Laute, oder aucli Ton
vier Yiolinen begleitet; die ScMussfalle seines Gesanges sind stets rhyth-
raiscli gebildet, in gleicher Art schliesst sich ilinen die Begleitung an,
bedentende Stellen heben sicli durch declamatorischen Vortrag liervor,
der sici, bis m vollig ausgebildeter, selbst durch Sylbendehnungen ge-
schmSckter Melodie steigert. Die Eeden Christi, der Bngel, der Mag-
dalena, einzelner Junger, der Hohenpriester, wie sie aus dem Bericht des
Evangelisten hervortreteu, finden wir naeh Art kleinea- Concerte behandelt ;
es sind nach Anzahl der redend eingefuhrten "Personen Gesange fur zwei
oder mehrere Sfchamen, die einander bald nachalimen, bald gleichen
Sclirittes mit einander fortgelien, durch einen Generalbass gestutzt
zweistiinrnig auch da, wo Einer alleiu reclet, wobei aber Schtitz den
Vortrag der einen dieser Stiinmen einem Instruniente zuzutheilen erlaubt
hat. Ein sechsstimmiger, ein achtstiinniiger Doppelchor stehen, jener
am Anfange, dieser am Schlusse des Ganzeu; in der Mitte befindet sich
ein einziger sechsstinimiger Chor, declamatorisch gehalten. Der im
psalniodirenden Tone gehalteue Vortrag des Evangelisten bildet die
Grundlage des Gaiizen. Wo er sich langer auf einem Tone bewegt,
soil, damit die Einformigkeit verrnieden und der angemessene Effect er-
reiclit werde, entweder der Organist ,,mit der Hand immer zierliche und
appropriate Liiufe oder passaggi darunter niachen", oder, wenn die
Violen statt der Orgel begleiteu, ,,eine Viola unter dem Haufen pas-
seggiren". Dieser Vortrag wird aber auch zn einem recitativischen, ja
arienliaften, dem die Begleitung ausdriicklich yorgescluieben ist, es treten
dann modern concertirende Stellen aus ihm liervor; so unterscheidet er
sich von dem alterer, mehrstimmiger Passionen, denen eine Art dar-
stellenclen Vortrags in der friiheren Kirche eigen war. Endlich lasst
eine liber die Grenzen des Strengkirchlichen hinausgeliende Steigerung,
die Gelegenheit giebt, neue in Italieu entstandene Darstellungsformen
183
und iiblich gewordene Zierliehkeiten einzufuhren. uns deutlicli erkennen,
welelier Sehule der Melster angehorte, und dass er forfcgehend in deren
Sinne gewirkt habe. Einen wichtigen Fortschritt gegen die ,,Aufer-
stehung" zeigen die w Sieben Worte" (welehe urn das Jahr 1645 ent-
standen sein mogen), insofern in diesem TFerke an die SteUe des psal-
modirenden Yortrags des Evangelisten das ariose Eecitativ getreten
ist, die Einzelpersonen der Seh&cher aucli nur durch Einzelstimnieii aus-
gedruckt sincl und die Partie des Jesus ausdrueklieh vorgesclniebene
dreistimirdge Insthunentalbegleitung hat. Audi hier ist das Ganze durch
Chore eingerahmt, welehe von der eigentlichen Handlung durch Instru-
mentalsatze getrennt sind. In seinen in das Jahr 1665 fallenden vier
Passionen kehrt Sehfitz, was die Behandlung der Partie des Evange-
listen, sowie der redend eingeffthrten einzelnen Personen betrifft, zu dem
psahnodirenden Yortrage zurfiek, auch fehlt die Instramentalbegleitung ;
dagegen sind diese Werke bedeutungsvoll dadurch, dass sie zuni ersten
Mai in die Handlung eingreifende Chore in wahrem Oratorienstil ent-
halten, Chore von uberraschender Schlagkraft der dramatischen Cliarak-
teristik. Ich erwuhne beilaufig, dass von den zuletzt besprochenen,
kunstgeschichtlich so bedeutsamen Werken die r Sieben Worte" sowie
die Passionen (letztere, mit den erforderlichen Einweglassungen, in ein
Qanzes zusammengezogen) neuerdings durch Carl Eieclel herausgegeben
worden sind (Leipzig, E. W. Fritzseh). Fur den Eunstgesang in der
evangelischen Kirclie hat Schutz wahrhaft furdernd gewirkfc, wir durfen
ihn den Erfinder einer netien Art geistlicher Musik fur deren Gottes-
dienst nennen. Was vor ihm geschaffen wurde, erscheint vorzugsweise
an die Liedform geknupft; Schiltz dagegen, der sein Yorbild aus Italien
entnahm, blieb die Eticksicht auf den Gemeindegesang fremd, und so
strebte er, auf anderen Bahnen das, was ihm als das Hochste erschien,
zu erreichen. Der Einfluss Italiens war fur den Kunstgesang in der
evangelischen Kirche ein lebendiger, fur den Gemeindegesang ein storen-
der. Mannigfache Lebenskeime fur jene wunlen durch ihn geweckt, die
erst spilter Hire voile Entfaltung erfuhren, aber die thatige Theilnahnie
der Gemeinde an dem Gottesdienste litt darunter, der Zusamnienhang
zwischen ihrem Gesange und dem des Sangerchors wurde dadurch ge-
lockert. Es ist ein aus einem frischen Keime machtig aufsprossender
"Wuchs, der sich uns hier zeigt; schon ist seine Bluthe gezeitigt, aber
noch nicht vollstandig entfaltet. Diese vollstandige Entfaltung sollte erst
am Qchlusse dieser ersten grossen Periode kommen.
Ich habe bis jetzt, heute sowol wie in der letzten Yorlesung, Ihre
Blicke allein auf die hervorragenclsten Spitzen aus der Zeit jener grossen
11*
164
KunstentwieHung innerhalb der evangelisehen Kirche gelenkt; noch
Handles ware zu sagen, tun das Bild zu vervollstandigen, doch 1st an-
derer, wena aucli untergeordneter Gebiete noch gar nicht gedacht, und so
breehe icli Mer ab, zum Tlieil auch, um clem EnnMenclen der fortge-
setzten Betraclitting eines und desselben Gegenstandes auszuweichen, zu-
naclist Einiges fiber den Zustand des Orgelspiels in jener Zeit bernerkend
und die bedentendsten Manner uamliaft machend. Icli lasse^sodann, wie
icli e$ sclion bei der Darstellung der GeseMclite der italienisclien Kirchen-
musik that, eine kurze Uebersiclit der Leistungen aaf dem Gebiet der
weltliehen Musik folgen und 'kehre imcli Beendigung dieser Einsclialtung
zu clem Hauptgegenstancl der gegenwiirtigen Betraclitung zuruck, urn damit
diesen Zeitranm abzusehliessen.
Was wir von Orgelsaclien aus clem 10. Jahrhundert kennen, zeigt
uns das gesammte Orgelwesen noch auf einer untergeordneten Stufe, als
eine noch niclit selbststSndig entwickelte Kunst. Das Orgelspiel war da-
mals, wie das Instrumentspiel tiberhaupt, nur ein Nachhall cleg Gesanges.
Der Organist setzte aus den einzelnen Stiminl)ucliern clamals erscliienener
geistlicher Gesunge die beliebtesten sicb. ab und fiilirto sie dann als
Tor- oder Zwischenspiele, ocler am Schlusse bei dem Gottesdienste aus.
Die erste Hinneigung zu eincm von der Gesangsart sich losenden und
selbststaudig ausbildenden Orgelspiel war das sogenannte Diminuiren
oder Goloriren: die Ueberkleidung der einzelnon Schritte einer Melodie
durcli eine Ftille rasch daliineilender Tone, jedoch so, daws die von ihnen
wenn aucli verhullte Wendung des mclodischen Fortbewcgons doch er-
kennbar bleibe, indem innerhalb jener ausyehinuckenden Kguren immer
diejenigen Tone durch ihre Stellung als der rechte Kern bczeichnet wurden,
auf denen dieser Fortschritt berulite. Wir flnden dies z. B. in einem
Werke des spater nodi zu erwahnenden Ammerbach vom Jalire J571.
Aehnlichenx begegnen wir in einem Werke von Bernhard Schmid
vom Jalire 1577.) Einen Fortschritt zeigt uns Michael PrStorins. Er
ist jedenfalls der erste doutscho Organist, welch or Heine Kunstfertigkeit
nicht in handgerechtein Absetzen und mannigfachom Ooloriron eines schon
fertig gegebenen Tonstficks bewahrtc, sondorn eine cinfacLe Melodie als
Aufgabe fiir neue, selbststandige,' scbon ursprunglich orgelrechte SiLtze
benutzte, Zu grosserer EigentlnimlieMeit ontfaltet findon wir cliese Kunst
in der ersten HSlfte des J7. Jahrliunderts durcli Samuel Scheldt, geb.
m Halle imi das Jahr 1587, gest. I (154. Seit ungefalir 1620 stand er
als Organist und Kapellmeister im Dienst Christian "Wilhel^m's,
Markgrafen von Brandenburg. Sein Wolmort blieb indoss seine Vater-
stadt Halle. In seinem Hauptwerk, der Talulatum nova, welche im
165
Jahre 1624 in drei Theilen erscMen, sehen wir das Orgelspiel bereits zu
einer selbststandigen Kunst erhoben; es ging nicht clem Tonsatze fur Ge-
sang mehr nach; ini Gegentheil war jetzt die Hauptaufgabe das Sehaf-
fen neuer, iin Geiste der Orgel erfundener Satze. "Wir erblicken ein
unmittelbares Eingreifen der Orgel bei dem Gottesdienst, so z. B., wenn
dem Gesange des Geistliclien am Altar die Orgel antwortet, und nun
Vers urn Vers der Geistiiehe oder auch die Qemeinde rait der
Orgel weehseln, bis zuletzt Orgel und Gesang zusammentOnen. Den Ge-
brauch der unmittelbaren Begleifciing des Qemeindegesanges durcli den
Organisten konnen wir, als allgeniein verbreitet, seit dem Jahre 1637
annelunen. Von Scheidt erschien imi 1650 zuerst ein Werfc, welches
zu diesem Zweck gearbeitet war. Ein zweifcer bedeutender Orgelmeister
aus der zweiten Halfte des Jahrhunderts ist Johami Pachelbel^ geb.
zu Nurnberg im Jahre 16,53, gest. 1706. Sclion friih zeigte derselbe
Sinn iind Anlage, wie fur afles Wissenswiirdige tiberlianpt, so insbeson-
dere fin- die Tonkunst. Er be^uchte die Universitat Altdorf, dort zugleicli
den Organistendienst verseliend, begab sicb dann nach Eegensburg, wo
er wegen seiner vorzfiglichen Gaben und ties hohen Grades ilirer Aus-
biklung als Mitglied des poetisehen Gymnasiums fiber die gewohnte ZaH
der Alumnen aufgenommeu wurde, und verweilte daselbst drei Jahre, den
Wissenschaften sowie der Tonkunst mit gewohntem Fleisse obliegend.
Nach dieser Zeifc widmete er sicli der Tonkunst, als seinem Lebensberuf.
Er bekleidete zu Wien drei Jake lang, bis 1075, das Ami eines Ge-
liiilfen und Stellvertreters des berfihmten Organisten zu St. Stephan,
Johann Caspar Kerl, wurde dann als Hoforganist nacli Eisenach be-
rufen, 1678 als Organist nach Erfurt, wo er zwiilf Jahre blieb, bis er
auf vortheilhafte Anerbietungen 7,11 einem gleichen Dienst in Stuttgart
eingiug. Von dorfc wurde er durch die Pranzosen yertrieben, man uber-
trug ikn jedoch bald wieder, im Jahre J692, das Organistenamt an der
Hauptkirclie zu Gotha, dein er bis 1695 vorstand. Endlich erhielt er
eine Einladung nach Nurnberg als Organist an die Sebalcluskirche, wo-
selbst er Ms zum Ende seines Lebens blieb. Pachelbel ist einer der
yorziiglichsten Organisten seiner Zeit, er war aber auch ein im Pache
des geistliclien Gesanges hochgeschatzter Tonsetzer und gehort, nach
v. "Wi nt erf eld's Bemerkung, zu den Eunstlern, deren Spiel mehr durch
ihi*e gluckliche Begabung fur den Gesang geregelfc wird, als zu den aller-
dings viel haufigeren, bei welchen der Sangnieister unter der Obmacht
des Orgelfcunstlers steht. Er hat Toccaten, Fantasien, Pngen, Eicercari
geschrieben. Jene erstgenannten Stiicke zeigen meist die Eichtung auf
Pingerfertigkeit, die Pantasien ftihren die Benennung, weil in ihnen ketne
166
Form des Satzes strong festgehalten wird, die letztgenannten sind fugirte
Satze YOU besoiulerer Ktinstlichkeit. Wichtiger nodi sind seine Arbeiten
fiber Choralmelodien, als Vorspiele beim Gottesdienst dienend. Ebenso
sind von ihm, wie YOU Sclieidt, Arbeiten zum Zweck der Begleitung
des Gemeindegesanges vorhanden. Betrachten wir das Verlialtniss beider
Meister zu einander, so ersclieint der Erstgenannte als der bahnbrechende,
der Zweite als der auf der Grandlage des sclion Geleisteten gliicklich
gestaltende.
Die BetracMung des Orgelspiels fulirt micli sofort zur Betraclitung
der Klaviere, der Klavieianusik. Orgel- und Elaviermusik war iiberhaupt
damals nocli wenig getrennt, und immer finden wir in einem und dem-
selben Werke beide Zwecke berucksichtigt. Tcli folge Mer der sclion
genannten Schrift YOU C. F. Becker: Die Hausmusik in Deutschland
im 16., 17. und 18. Jalirhundert.
Selir frtih sclion sind Tasteninstrmnente im Gebrauch gewesen, uncl
der Ursprung derselben kCinnte fast bis in die Yorchristliclie Zeit ver-
folgt werden. Aber die Eimlchtung derselben war hochst unYollkommen,
so dass nur die einfachste Melodie auf denselben vorgetragen werden
konnte. Erst als die Hannonie melir und mehr zur Ausbildung gelangte,
erkannte man, wie nniraiganglich nothwendig ein Instrument sei f wel-
ches allein eine vollstandige Harmonie zur Darstellung bringen konne.
Die Orgeln gelangten, wie sclion fruher erwShnt, in Folge davon zuerst
zu einer toheren Stufe der Ausbildung, und auch was die Klaviere be-
trifft, wurden jetzt vielf<tge Versuche angestellt, da man natftrlicli das,
was man in der Earche besass, im Hause ebenfalls, lyid dies niclit allein
in Orgelinstrmnenten kleineren Umfangs , Eegalen , Positiven , haben
wollte. Jetzt wurden die yielfachsten Versuche gemaclit; bald wendete
man Pfeifen, bald Saiten, bald Bogen von Pfordehaaren an. Elaviere
mit zwei und drei Tastaturen wurden verfertigt Einige bauten Instru-
mente von grossem Umfang, Andere seiche, welclie auf clem kleinsten Tische
Eaum fanden. Bald wurcle die Schrankform, bald aucli die Pliigelfoim
gewahlfc. Noch vorhandene Schriften lassen uns mit Sichorheit fiber die
Art der Behandlung iu;theilen. So ist ein Klavierwerk vona Jahre -J571
vorhanden, welches uns volktandig fiber das, was damals erreicht war,
in Kenntniss setzt. Es ffihrt don Titol : Orgel o der Instrument Tabulate.
Ein nfitzlichs Biiehlein, in welchem notwendige erklerung der Orgel oder
Instrument Tabulator, sampt der Application, Aucli froliche deutsche
Stticldein vnnd Muteten, etliche mit Coloraturon abgesatzt, Desgleichen
schone deutsche Tentze, Galliarden vnnd "Welsche Passometzen zu befin-
den etc. durch Eli am Nicola um, sonst Antnuerlbacli genandt,
167
Organisten zu Leipzig in S. Thomas Erchen". Das erste Capitel handelt
YOU den Namen, der Bezeichmmg nnd Lage der Tasten. Zwei Um-
stande sind Mer bemerkenswertli, zunaehst der dainalige nocli sehr geringe
Umfang der Tastatux. Der Tonumfang eines Klaviers war damals noch
nicht vier voile Octaven; fur die Orgeln war derselbe nocli beschrankter.
Bekannt 1st, dass unsere Pianofortes auch erst in neuester Zeit die jetzt
ubl&he grosse Ausdehnung erhalten haben, und dass vor nicht allzu
langen Jahren nocli erne ganze Octave fehlte. Sodann ist cine sonder-
bare Grille zu erwahnen, die narnlieh, class in der untersten Octave bei
den Orgeln die Tone nicht in der riatftrlichen Eeilienfolge sich befanden,
sondern versetzt erscheinen, aueh einige g'anz ausgelassen waren, z. B.
in dieser Weise: C, Pis, D, G, E, Gis, A. Man nannte eine solclie
Octave die kurze, und nocli jetzt soil sich an den meisten Orgeln Bohmens
und Oesterreichs diese sinnlose Einrichtung vorfinden. In einem der fol-
genden Capitel hanclelt unser Autor von der Fingersetzung. Die Sache
ist sehr drollig, und ich will Einiges davon erwahnen. Die Finger-
setzung ist bei den meisten Inskumenten durdi die natuiiiche Beschaffen-
heit derselben bestimmt, bei den Tasteninstrumenten am wenigsten, da
die Lage der Tasten so beschaffen ist, dass sie von jedem Finger nie-
dergediiickt werden kormen. Die Kunst des Fingersatzes ist claher far
den gegenwartigen Havierspieler Gegenstand eines besonderen Stadiums.
Wenn nun jetzt als oberster Grundsatz far alle Fingersetzung gilt, dass
die moglicbst bequeme Applicatur, diejenige, welclie die geringste Be-
wegung und Eiickung dei Hande verarsacM, die beste, -wenn es ins-
besondere Hauptbestreben bei dem gegenwartigen Pianofortespiel ist, die
Finger so zu walilen, dass alle Tone gebnnden werden tonnen, und ge-
sund und ki*aftig zur Darsteilung kommen, so scbeinen unsere Vorfahren
von der entgegengesetzten Ansicht ausgegangen zu sein, indem man
sicb nichts Verkelirteres und Unpraktischeres, als die Fingersetzung der-
selben vorstellen iann. Was spatere Zeiten in Bezug auf Applicatur
festgesetzt haben, und was ? wie es scheint, nicht einfaclier sein kann,
blieb ibnen vollig fremd und unzuganglich, und das Naturwidrige war
bei ibnen das Gewolinliclie. Die dur-Tonleiter wurde in der rechten
Hand aufsteigend mit dem zweiten und dritten Finger, absteigend gleicli-
falls allein mit dem zweiten und dritten Finger gespielt, nur dass Her bei
der Taste, wo man umkelirte, einmal der vierte Finger gebrauclit wurde.
In der linken Hand ^nirde die Gdur-Tonleiter aufsteigend mit den Fingern
4, 3, 2, 1, absteigend aber wieder allein mit dem zweiten und dritten
gespielt. Der ffinfte Finger und der Daumen, gerade die wichtigsten,
wurden fast gar nicht benutzt Terzen wurden in beiden Handen mit
168
den Fingern 2 und 4 gegriffen, Quarten, Quinten und Sexten mit 2 und
5, Septimen, Getaven, Nonen, Decimen mit i und 5. Vollige 150 Jahre
hat sich, wie man for gewiss annelimen kann, diese abscheuliche Finger-
setzung erhalten, denn bis zum Jahre 1730 wd man keinen Dnterschied
gewahr, Der Qegenstand wurcle mit grosser Nachlassigkeit behandeli
Michael Pratorius aussert sich clamber: ,,Ihrer Viele lassen sich
etwas sonderliches bediinken und wollen daher etliche Organisteu ver-
achten, wegen dessen, class sie nicht dieser oder jener Application mit
den Fingern sich gebrauehen. Welches aber meines eraclitens der Eede
nicht werth isfc: denn es lauffe einer mit den foddern, mitlern ocler
Hinderfingern hinab oder herauff, ja, wenn er auch mit der Nasen darzu
helffen kondte, und maclite uncl brechte alles fein, just und anmuthig
ins Gefaor; so ist nicht gross daran gelegen, wie oder auf was Maass
und Weise er solches zu Wege bringe". Diese Ansicht fallt in das Jahr
1619. Noch zu Anfang des 18. Jahrlmnclerts wircl die C clur-Tonleiter
in der rechten Hand aufsteigend rait den Fingern 2, 3, 4, 3, 4, 3, 4
u. s. 1, absteigend mit 4, 3, 2, 3, 2, 3, 2 u. s. f. gelehrt, in der linken
Hand aufsteigend mit 4, 3, 2, 4, 3, 2, 1, 2, 1, 2 u. s. f., absteigend
mit 1, 2, 3, 4, 3, 4, 3, 4 u. s. f. Um diese Zeit traten zwar die ersten
bedeutenden Elavierspieler hervor, D* Scarlatti, Franjois Couperin,
Gottlieb Muffat, Handel, Joh. Mattheson, allein der Letztere,
der selbst von Handel als Ivlavierspieler riibmlich anerkannt wurcle,
lehrt 1735 die C dur-Tonlcitor in der rechten Hand aufsteigend 3, 4, 3,
4 lu s. w. 3, 4, 5, absteigend 5, 4, 3, 2, 3, 2 u. s. f. 3, 2, J ; in cler
linken Hand aufsteigend 3, 2, 1, 2, 1, 2, 1 u. s. f., absteigend 2, 3, 2,
3 u. s. f., 2 ? 3, 4. Bin gewisser Mizler besclireibt im Jahre 1740
den Fingersatz niehr unseren Ansichten ontspreehend, cloch kommen bei
ilim auch noch wunclerliche Sachen vor, z. B. sollen in der rechten Hand
die Tone d, c, b, a niit clen Fingern 3, 2, 4, 3 gespielt werden, und
erst Sebastian Bach verdanken wir die Begrflndung des spater TJeb-
lichen, insbesondere atich den Gebrauch des ersten uncl ftinften Fingers.
Der praktische Theil des Aanmerbacli'scheii Workes enthalt in seinem
ersten Abschnitt 44 vierstimmige Chorale und heitere Lieder, der zweite
Abschnitt ,,gemeine gute deutsche Dentze". Zu einern jeden dieser Tanze
finclet sich ein Anhang in ungeradem Tact, wfthrend sie selbst in geradem
Tact gesetzt sind, Proportio genannt, unserem Trio iihnlich. Der dritte
Abschnitt bringt auslandische Tiinze, der vierte w colorirto Stticldein", der
letzte endlich mehrstimniige, grossere Tonstucko.
Dies ist eine Andeutung fiber den Zustand der Klaviermusik, zu-
nachst im 16. Jahrhunderi In cler unmittelbar folgenclen Zeit scheinen
169
wesentliche FortscMtte nicht gemacht worden m Bern. Erst in der
zweiten Halfte des folgenden Jahrhunderts erscheint eine Compositions-
form in der Klaviermusik, welche allgemeine Yerbreitung und Beliebt-
heit erlangte, die Suite, wqrtlich: eine Folge, eine Keihe, da sie aus
einer Anzahl, einer Aufeinanderfolge grosserer und kleinerer Tonstucke,
meistentheils Tanze, bestand, die fruher sehr genau beobachtet wnrde.
Sie entnehmen Meraus, wie in der Suite das Aneinanderreihen, Gegen-
fiberstellen vereinzelter und in dieser Yereinzelung theilweise abgeschlos-
sener Musitstflcke vorwaltend ist. Sclion der Name Suite deutet auf die
Entstehung dieser Kunstform in Frankreich, obschon dieser, der Name,
sich anfangs dort nicht vorfindet, sondern das, was spater Suite genannt
wurde, unter der Bezeiclmung Sonate vorkommt. Man unterscMed da-
selbst^ zwei Arten, Kirchen- und Kammersonaten. Die letztere bestand
aus einem Vorspiel, einer Mlemande, einer Pavane, Courante, Gigw, Pas-
sacaille, Gavotte, Menuet, Ghaeomie. Die Kirchensonate unterscMed sich
dadurch, dass die SStze derselben mit Fugen gemischt waren, wSJirend
die erstere Art eine festbesfdmmte Eeihenfolge liatte. Wer zuerst in
Deutschland sich in dieser Form versucht und Suiten herausgegeben hat,
lasst C. P. Becker unentschieden. Die frfihesten, welclie aufgefunden
wurden, datiren aiis den Jahren 16701680, docli ist anzunehmen, class
solche schon vor der zweiten Halfte des IT. Jalirliunderts, wenn auch
nicht unter dem Namen, doch in der angenoinmenen Form geliefert
wurden. Die Suite ist von grosser Bedeutung ffir jene Zeit gewesen;
sie hat sich fiber hundert Jalrre auf ihrem Gebiet als die bedeutendste
Kunstform bewithrfc, und die besten Tonseteer beeiferten sich, darin Vor-
ziigliches zu leisten. ^ooh 8 e b a s t i a n B a eh und H a n cl e 1 haben Beide
elerartige Werfce geKefert, welche als ansgezeichnet und von bleibendem
Eunstwerth anerkannt sind. Die Suite war das einzige KlaYierstuck
jener Zeit, welches dem Musikfreund eine interessante Unterhaltung bot
und die Ausbildung der technischen Fertigkeit beforderte. Der fest aus-
gepragte Charakter der einzelnen Satze derselben war der erste Sehritt
zu einer bedeuteameren, inhaltsvolleren Ihstrumentalmusik auf weltlichem
Gebiet. Denn unsere moderno Sonate ist eine spatere Erfindung. Dei-
Name derselben zwar ist alt und komrnt schon im 16. Jahrhunclert vor,
ohne dass ein bestimmter Begriff damit verbunden gewesen ware; or
wurde zu verschiedenen Zweeken gebraucht, wie u. A. auch aus dem
voi^rin Gesagten hervorgeht; die FeststeUung des Begriffs gehort einer
spateren Zeit an. Nach C. F. Becker's Untersuchungen ist die Sona-
tenfonn eine deutsche Erfindung, was urn so mehr hervorzuheben ist,
da aus dieser Form fast die ganze Insteumentaimusik sich herausbildebe.
__ 170
Joliaim Krahnan, Cantor an der Thomasschule zu Leipzig, Dienstvorfahr
Sebastian Bach's, geb. zu Geising 1667, gest. zu Leipzig 1722,
hat aller Wahrscheinlichkeit nach die ersten Sonaten geschrieben, seine
erste ersehien in Leipzig im Jahre 1695, und bald darauf folgten noch
mehrere. Audi Dom. Scarlatti nannte, wie Sie sich erinnern, seine
Klavierstiicke Sonaten; aber es war dies eben nur ein willkiirlicher
Gebrauch des Namens, ck bei ihm jedes Sttick nur aus ein em Satze
besteht und nur etwa init deni ersten unserer Sonatensatze verglichen
werden kann.
Zuni Schluss der heutigen Voiiesung gedenke ich noch eines Instru-
mentes, welches mehrere Jahrhimderte hindurch, bis auf Sebastian
Bach, der selbst noch dafur componirt hat, das beliebteste und fast all-
geniein verbreitete bei den Dilettanten gewesen ist; es war dies die Laute.
Nach der Angabe des M. Pratorius war sie das 5 ,Fundament und
Initiurn, von der man hernach auf alien dergleichen besaiteten Instru-
menten, als Pandoren, Theorben, Mandoren, Cithern, Harfen, auch Gei~
gen und Violen schlagen und gar leicht das seinige prasentiren kann,
wenn man zuvor etwas rechtschaffenes darauf gelernt und begriffen hat".
Jahrhimderte Mndurch war die Laute in Deutschland ein Lieblingsinstru-
ment der vornehmen Welt, auch der Damen, alle Gesange der Liebe
und Preude warden damit begleitet. In der ausseren Einrichtung der
Guitan*e ahnlich, imterschied sie sich u. A. dadurch, dass sie 24 Saiten
hatte, yon denen 10 nicht durch das Aufsetzen der Finger auf das Griff-
bret gegriffen, sondera nur gerissen warden. Die Grunde, dass sie all-
mahlich ausser Gebrauch gekommen ist, lagen theils in der Unvollkom-
menlieit des Baues, namentlich in der Schwierigkeit des Keinstimmens,
in der besonderen Art der Notirungsweise fur die Laute, theils in ausse-
ren Umstanden, in der immer grosseren Ausbildung der Tasteninstrumente
und dem Emporkommen der bequemer und leichter zu spielenden Guitarre.
Seit der Erfindung des Notendrucks ist eine Unzahl von Compositionen
dafiir veroffentlicht worden; im 16. Jahrhundert zunachst reine Instru-
mentalsatze ; dann wurde sie zur Begleitung des Gesanges in Anwendung
gebracht, und fand auch in den fruhesten Opernorchestern bald Eingang,
endlich begegnen wir ilir noch in der zweiten Halfte des vorigen Jahr-
hunderts. Hiller*s Operetton, ohne Worte fiir die Laute allein einge-
richtet, sind vielleichfc das Letzte gewesen, was fur sie bearbeitet wurde.
Beilaufig erwaline ich noch, dass fiber die Geschichte der Instrumen-
talmusik irn 16. Jahrhundert neuerdings eine verdienstliche Schrift gleichen
Titels von W. J. v. Wasielewski (Berlin, 1878) erschienen ist.
Zehnte Vorlesung,
Der weltliche Gresang. Albert. Yerpflanzung der Oper nach DeutscMand. H. ScMtz.
Die Oper in Hamburg. Heiser. Hattheson. Handel Telemann. Handel und
Sebastian Bach. GharaMeristik Beider von Bochlitz.
Sie entnehmen aus den Andeutungen am Sehlusse der letzten Vor-
lesung, dass die InstrnmentaJmusife, wenn aucli noeh auf selir unterge-
ordneter Stufe der Ausbildung, sehon Mh Eingang und Beliebtheit In
Deutscliland erlangt hatte. Sehon Mh gewahren wii* bei uns eine ftber-
wiegende Neigung for Instrumentalmusik, im Gegensatz zu Italien, wo
der Gesang stets vorzugsweise gegolten hat. Zu Anfang des 16. Jahr-
hunderts kannte man sehon gegen 50 Instriunente in Deutscliland, und
ein ,Jahrliundert spater beschreibt ST. Pratorius fiber 100 der ver-
scMedensten Art, welche alle im Gebrauch waren. Auch die in Stein
ausgefohrten Abbildungen an den Domen der Vorzeit gewahren uns eine
Anschauung YOU der Beschaffenieit der damals gebrauchliclien Instru-
mente und dem vorhandenen Eeiehthum.
Zeigt sich auf diese Weise in Deutschland eine uberwiegende Nei-
gung ffir Instrumentalmusik, so dtirfen wir uns trotzdem den weltlichen
Gesang durchaus nicht als vernachlassigt vorstellen. Schon mehrfaeh
habe ich. friiher der Schicksale der Melodie gedacht. In den Jahr-
hunderten des Mittelalters war der einstiminige Gesang allgemein ver-
breitet und beliebt gewesen. Wie in Italien Gesange Petrarca's zur
Laute gesiuigen wurden, so besass auch Deutschland seinen Minne-
und Meistergesang, seine Voltslieder. Die -"Wichtigkeit der letzteren
geht u. A. aus der Aufnahme derselben in den eyangelischen Gerneinde-
gesang hervor. Mt der steigenden Ausbildung der Harmonie jedoeli
trat auch in Deutschland der einstiminige Gesang zuriick. Einstimmige
Gesange der vorangegangenen Zeiten wurden jetzt harmonisirt, und
bildeten in dieser Gestalt den Gegenstand der geselligen Unterhaltung,
Aus diesen mehrsMmmigen Gesangen erst hat sich in Deutschland das
einstunmige Lied wieder herausgebildet, und es zeigt sich hier etwas
ganz Aehnliches, wie in Italien, indem man hier anfing, eine Stimme
allein singen, die anderen von Instrumenten ausfiihren zu lassen.
C. P. Beaker in dem schon genannten Werke hat eine grosse Zahl
deraridger Saninilungen namhaft gemacht, bemerkt aber dabei: ,,Der,
welch er hofft, dass die Harmonic mir als Tragerin der sanften Melodie
erscheine und so in Eins rait dieser verschmelze , als sei die erstere
gar nicht vorhanden, kann hier nur das Widerspiel erkennen. Fast
sammtlich tragen diese Tonstucke, auch die heifcersten, etwas Schwer-
falliges an sich, und sfcehen darin selbst den Gedichten nach. 1st auch
die Anlage ofters treffend and gut, so wird doch durck die fremdartigen
Harmonienschritte, die verwickelte Stimmenfuhrung, und das Ausclelinen
der Worte der Bindruck des Ganzen geschwacht, haufig sogar ganzlich
verwischt". Wir haben sonach, wie zu erwarten, dieselbe Erscheinung,
wie auf dem Gebiet des Kirchengesanges. Endlich begann man diese
unbequeme Vielstimmigkeit zu "vermeiden und setzte eine einfache Me-
lodie mit ehiem bezifterfcen Bass; so entstand allmahlich unser heutiges
Lied. Dnter den Liedercomponisten des 17. Jahrhunderts ist vorzugs-
weise der vor Kurzem schon einmal erwahnte Heinrich. Albert zu
nennen. Dieser Mann ist es, an den sich die bezeichnete Umbildung
knupft, und den vrir als den Schopfer des spateren Liedes betrachten
nifissen. Er war geboren zu Lobenstein im Voigtlande 1m Jahre 1604
am 28. Juni, studirte zu Leipzig Jurisprudent, spater die Musik zu
Dresden unter der Leitung seines Oheims Eeinrich Scliiitz, wandte
sich 1626 nach Konigsberg, erlielt flinf Jahre darauf die Organisten-
steUe an der Domkirche und starb daselbst am 6. October 1651. In
seinen Liedersammlungen finden wir zwar noch viele mehrstimmige
Sachen, aber sie sind so eingerichtet, dass z. B. bei den flinfstimmigen nur
eine Singstimine, dagegen Tier Instrumente erforderlich sind, obschon es
unbenommen bleibt, auch sarnnatliche Stimmen allein von menschlichen
Kehlen ausfuhren zu lassen. "Wichtiger in kunstgeschichtlicher Hinsicht
sind jene allein mit einer Generalbassbezifferung versehenen einstimmigen
Lieder. Auch das ist bemerkenswerth, dass sich bei Albert schon in
weltlichen, nicht eigentlich openimassigen Gesangen das aus Italien nach
Deutschland verpflanzte Eecitativ angewendet findet. Das 17. Jahr-
hundert war uberhaupt reich an weltlichen Liedern; selir viele Samm-
lungen sind noch vorhanden. Dass von diesen Compositionen indess nur
ausserst wenige sich langere Zeit wirldich lebendig erhalten haben,
besonders aus der zweiten Halfte cleg 17. und der ersten Halfte des
173
18. Jahrhunclerts, 1st der Unbedeutendheit der Texte, der Gesunkenheit
der deutschen Literator in jener Zeit zuzusehreiben. Die mit der Poesie
eng Yerbundene Tonkunst, hier speciell das Lied, tonnte erst dann
einen hoheren Aufschwung nehmen, als die classisehe Zeit der deutschen
Dichter herannahte.
Bevor icli niich nun dem Hauptgegenstand unserer Betraehtung
, innerhalb des gegenwartigen Absclinitts wieder zuwende, gedenke icli
-noch der bedeutendsten und machtigsten, auch an Folgen reichsten,
eingreifendsten, fur den erwahnten Hauptgegenstand selbst sehr wich-
tigen Kunstgattung: der Oper, und der ersten Versuche, diese in
Deutschland heimisch zu maehen. Dass es Sell fit 2 war, durch den
zuerst bei uns das musikaliscle Drama eingefnlirt wurde, und zwar
durch die ,,Dafne u des Einuccini, welclie im Jalire 1627 (der An-
gabe Chrygander's zufolge ini Jaln-e 1628) nacli der Uebersetzung
von Opitz in Torgau zur DarsteHung kam, ist sclion wiederliolt be-
inerkt worden. Mclit als ob Deutscliland fruher nicht anch schon
dramatisclie, mit Musik verljundene Darstellungen gehabt liatte; aber
es waren dies nur scenisclie Aiiffiiln-ungen, wie sie auch Italien yor Er-
findung der Oper besessen hatte. Nur einen einzlgea Titel eines solchen
in Deutscliland iibliclien Singspiels will icli Einen nennen: 5? Ein sehSnes
Singspiel von dreien bosen Weibern, denen weder Gott nodi ihre Manner
recht konnen tliun. Mit sechs Personen personlicli 211 agiren. Durch
weiland den ehrbaren und wohlgelalirten Hen*n Jacob uia Ayrer,
Notar publ. und Gerichtsprocuratoren zu Nurnberg seel NtSrnberg 1618".
Dergleiclien war fur das Volk. Glanzenderes, mit Gesangen und Tanzen ?
war auch gelegentlich an unseren Hofen dagewesen. Jetzt aber drang
die Kunde yon den prachtlgen VorsteUungen in Italien uber die Alpen,
und man war begierig, Aehnliches bei uns kennen zu lernen. Schiitz
unternahm es. Leider ist uns die Musik dessdben nicht erhalten wor-
den. Der Text befindet sich in den Werken des Dichters Opitz und
gewalni uns wenigstens von dieser Seite her eine Anschauung der Be-
schaffenheit und Einrichtung des Ganzen, leh gebe Ihnen eine Beschrei-
bung naeh der Schilderung, welclie Fink in seiner GescMchte der Oper
mitgetbeilt hat: Zuerst tritt 0?id auf, als Vorredner, und spricht den
Prolog. Dann koinmen drei Hirten, klagend, dass der Draehe irn schonen
Walde blutgetrankt sehnaubt. Echo, womit man damals haufig in der
Musik zu spielen pflegte, macht die Trosterin. Apollo singt sichern
Trost, da er den Drachen umgebracht habe. Der Chor der Hirten dankt
in vier achtzeiligen Strophen, Das ist der erste Act. Im zweiten singen
Amor und Venus und Apollo im Wechselgesprach. Apollo verspottet
174
Amor seines Bogens wegen, der keinen Drachen zu erlegen vermoge.
Amor verspricht Rache. Der Ghor der Hirten singt einen Preis Ainor's
in sechs Stroplien. Dies ist der zweite Act. Im dritten treten Daphne
und Apollo auf. Daphne ist auf der Jagd. Amor liat Eache genonimen,
denn ApoEo hat sich in Daphne yerliebt, mid macht ihr sein Gestand-
niss. Sie weist al)er seine Zartliehkeit ab und eilt fort. Apollo singt
ihr nach 5 dass sie warten soil, dass er ein Gott ist, ihr folgen werde
u. s. w. Der Chor der Hirten singt wieder ein Lied von sechs Stroplien
zujna Preis der Lielbe. Im vierten Act halten Amor und Venus "Wechsel-
gespraehe. Der Chor der Hirten preist aufs Neue die Liebe und be-
schreibt in mehreren Strophen, dass nicht einmal ein Fisch unverliebt
bleibe, und sogar die Xrauter und Elenieute unter Amor stehen. Im
funften Act selien wir nochmals Apollo und Daphne. Die Unerbittliche
raft ihren Vater Peneus, den Flussgott, an. Sie wird in einen Lorbeer-
baum verwandelt, was Apollo in langer Kede beldagt; er singt von der
Ehre, die er dem Lorbeerbaum gewahren will. Jetzt tanzen Nymphen
und Hirten inn den Baum und singen ein Lied in zehn sechszeiligen
Strophen. In der sechsten Strophe wendet Opitz die Fabel auf Sach-
sens Preis an, woraus sich, sowie aus dem Titel ,,an die hochfurstliche
Braut uud Brautigam, bei deren Beilager ,,Daphne" durch Heinrich
Schutzen musikalisch auf den Schauplatz gebracht ist worden" er-
giebt, dass das Ganze zur Feier der Vermahlung der Tochter des Kur-
fliisten von Sachsen, Johann Georg's L, mit dem Landgrafen von
Hessen- Darmstadt Georg II. bearbeitet worden ist. Jedenfalls war
auch in diesem Werke, wie in deii italienischen, von eigentlichen Alien,
Duetten, grosseren Musikstiicken nicht die Eede, sondern es kamen nur
recitativische Wecliselgesange und Heine liedmassige Schlusschore vor.
Hatten nun auch Opitz und Schtitz, dem bis jetzt Dargestellten
zufolge, w&hrend des dreissigjahrigen Krieges die Oper nach Deutschland
verpflanzt und Her eingefiihrt, so konnte doch innerhalb dieses Zeit-
ramns unmoglich etwas Namhaftes, "Weiterforderndes fur dieselbe ge-
schehen. Der erste Versuch, den Schutz rnachte, steht ziemlich ver-
einzelt; nur hier und da folgten ahnliche Werke; dem Volte war die
Sadie frenid geblieben. Die Oper .erschien allein an den Ftirstenhofen
zur Unterhaltung holier Gaste und bei besonderen Festlichkeiten. Er-
liolte sich nun auch Deutschland wunderbar schnell von jenen furcht-
baren Beditognissen, so waxen doch nach dem westphalischen Frieden
langere Zeit ganz andere Interessen vorherrschend, und eine stetige Ent-
wicklimg hatte darum keine entsprechenden ausseren Bedingungen ge-
fonden. Als aber die deutschen Hofe dem Theater ihre Aufmerksamkeit
entscMedener zuwendeten, waren ihre Blicke so sehr nach Italien ge~
richtet, dass sie mir yon dort her Componisten und Sanger verschrieben,
und die deutschen Kilnstler ganz vernaehlassigten. Je grosser uad
reicher die Furstenhauser waren ? desto grosseren Kuhm setzten sie darein,
italienische Kunstler zu besolden. Bald kam es dahin, dass man nieht
allein die italienischen Auffulmmgen an Pracht m erreichen, sondern
sogar zu uberbieten suchte. Wien, Dresden, Stuttgart u. a. Orte thaten
sich zu verscMedenen Zeiten hierin besonders liervor. Tor alien waren
es die deutsclien Kaiser Leopold I. von 1658 J 705 und die Naeli-
folger desselben, Joseph I. und Carl YL, welche, im hohen Grade
musikliebend, den Italienern ausserordentlicie Sunimen zukommen liessen.
Leopold erHarte, ani liebsten walirend eines Concerts seiner meist
italienisclien Musiker sterben zu wollen. Italien erkannte den Yortheil,
der aus dieser deutschen Auslanderei erwuehs, setr wohl, so dass man
eingestand, Italien sei den Deutschea viel schuldig, weil diese durcli
Unterstetzung italienische Talente in den Stand gesetzt Mtten, sich aus-
zubilden. Diese Mode ging auf die kleinsten Hofe fiber ; es wnrcle eke
Ehrensache, italienische Sanger und Kapellmeister zu besitzen, und
deutsche Tonkunstler, wollten sie irgend zur Geltung gelangen, mussfcen
sich nach ItaEen begebeH und dort ihre Studien inachen. Die Gesehichte
der Yerbreitung der Oper in Deutschland ist daher, weuigstens nach
einer Seite Mn, langere Zeit hindurch nur eine Forteetzmg der Geschichte
der italienischen Oper. Jene Bevorzugung Italiens war wenigstens das
beste Mittel, eine nationale deutsche Entwicklung auf diesem Gebiete
sogleich im Keime zu erstiekeu* Wie so oft aber in Deutschland Grosses
aus mehr zuMigen Yeranlassungen und, wie man zu sagen pflegt, unter
der Hand, wenigstens ohne Aufinunterung und Unterstutzung diirch die
Fursten, sich entwiekelt, so geschah es auch hier. Mehrere durch Han-
del yermogend gewordene Stadte begannen das Beispiel der Hofe naeh-
zuahnien, Theater zu erbauen, und musikalisclie Darstellungen zu ver-
anstalten. Hamburg insbesondeie ging hier mit seinem Beispiel voran
und steht unter diesen Stadten obenan. Dort bildete sich geraume Zeit
hindurch ein Mittelpunct far die yaterlandische Oper.
Diese fur die Geschichte der deutschen Musik sehr wiehtigen Vor-
gange, deren ich sogleich noch etwas speeieller gedenken werde, habeu
zum ersten Male eine ausfohrliche Darstellung erfahren in einer Schrift
von E. 0. Lindner unter dem Titel: Die erste stehende deutsche
Oper, Berlin, Schlesinger, 1855. Ich rnache bei dieser Gelegenheit
auf dieselbe aufmerksam , dort moge man auch des Geuauferen sich
unterrichten.
176
Es war zu Hamburg im Jahre 1678, dass zwei angesehene dortige
Gelehrte iind ein im geistlicben Amt stehender Tonktinstler daselbs-t eiae
stehende Opernbfihne grfindeten: die Licentiaten Gerhard Scliott
und Liitjens und der Organist Johann Adam Keinken oder Eei-
nike, wie er ebenfalls geschrieben wird. ,,Sie bauten (erzahlt der
spater noch zu erwahnende Mat the son) ein auf Grund-Hauer liegen-
des Haus dazu, und bracMen die musikalischen Schauspiele, deren
zwar scton vorhin eines und anderes bei gewissen Gelegenlieiten auf-
geMhrt worden, in einen ordentliehen Gang; da sie denn das Theatrum
zum Anfange niit einer geistliclien Materie offnen liessen, nanalich mit
der Opera, genannt !? Adam und Eva", in die Musik gebracht von
Herrn Kapellmeister Theile. Die Poesie war von dem Herrn Eicliter,
einem kaiserlich gekronten Poeten." Von Tlieile wissen wir, dass er
ein Schiller Schtitz's war nnd" im liolien Alter urns Jahr 1724 in
Xaumburg gestorben ist. Das Gedicht beginnt mit einem allegorisclien
Yorspiele, In welchem die vier Eleinente auftreten, ilire Macht und Be-
deutung gegen einander rfflimend, zuletzt den Hamburgern ilir Compli-
ment machend. Das nun folgende Spiel entfaltet sicli im Hinxmel, auf
der Erde, im Paradiese und im Abgrund der Holle. Seine erste Hand-
lung beginnt mit dem Sturze Lucifer's und seiner Genossen, dem
sodann die Sehopftmg Adam's und der Eva (lurch Jehovah, welchem
der Chor der Himmlischen allezeit zur Seite ist, folgt. Die zweite
fuhrt uns in die Holle, wo die Geister der Finsterniss, voll Neicles iiber
die dem Menschen eingeraumte hohe Stelle, seinen Fall bescliliessen,
der durch Sodi ? den listigsten unter ihnen, bewirkt werden soil. Diesen,
als Schlange verlarvt, schauen wir im dritten Acte, wie er Adam und
Eva beruckt. FroHockend fahrt er dann aus dem Garten Edens in
Teufelsgestalt herab zur Holle, wo er mit Lucifer und den Geistern
des Abgrunds Triuniphlieder - anstimmt. Jehovah erscheint nun in dem
vierten Acte. Gereehtigkeit und Gnade flihren vor seinem Gerichte die
Sadie der gefallenen Menschen. Der Scliluss ist, dass die Gereehtig-
keit ein Stihnopfer heische, ohne das der Mensch nieht zu Gnaden
konne angenommen werden. Die Engel trauern, weil NieBiand unter
ihnen dazu genuge. Jehovah deutet das Geheimniss dor Erlosung an.
Im ffinften Acte erfolgt das Gericht iiber Adam und Eva, sowie tiber
die Schlange, Jene werden aus Eden verstossen, und wir sehen sie
dann in ihrern Elend auf rauhem und dornigem Felde, Hagend, urn
Erlosung betend. Hier erscheint ihuen Christus und verkiindet Jehovahs
Rathschluss, den Gereehtigkeit und Gnade und die Heerschaaren des
Hinroaels mit jenen vereint preisen. Die Musik dieses Stuckes ist
177
uns ebenfalls niefat mehr erhalten; nur das zu Hamburg gedruckte Text-
bucli. Aus dem gereimten Dialog, den wir uns jeclenfalls recitativisck
beliandelt denken mussen, treten Chor, Duett, Arie in stropHsclier Lied-
forra heraus.
Nachdem soldier Gestalt ein Anfang geinaclit worden war, begeg-
nen wir im Laufe der naclifolgenden Jalire vielen ahuliehen Werken:
1679 ,.MicM und David" und ,,Die maceabaische Mutter"; 1680 ^Esther";
1681 ,,Die Qeburt Christi"; 1688 55 Die heilige Eugenia oder die Bekeh-
rung der Stadt Alexandria zum CMstentlimn"; 1689 ,,Kain und Abel
oder der verzweifelnde Brudermorder"; 1692 Die Zerstorung Jerusalems' :
u. s. w. Aucli Opern weltliohen Inhalts treflfen wir sogleich nach Er-
offhung des Theaters in fortgehender Polge, abwecliselnd mit den geist-
liclien Stucken, AJlerdings fehlte es nicht an Hindernissen, die zu be-
seitigen, an Scliwierigkeiten, die zu fiberwinden waren. So hatte nament-
licli ein Tieil der Geistlichkeit Aergerniss genoniDien an diesen Opern-
bestrebungen und eine Polemik dagegen eroflhet, obschon zu Anfang
die Erlaubniss des geistlicben Ministeriums dafar erlangt worden war:
der Pastor an einer Birdie Hamburgs, ein Dr. Reiser, schrieb 1681
ein Buch: n TIieatromania oder die Werke der Pinsterniss in den offent-
liclien Schauspielen, von den alten Eorchenlehrern und etliehen heid-
nisclien Scribenten yerdammt- 2 ; ein Cantor Pulirmann lieferte eine
Schrift: J5 Die an der Kirclie Gottes gebauete Satanskapelle", wogegen
sich die Textyerfasser mit spassliaften Versichernngen vertheidigten, der
Eine: er schreibe als Poet und glaube als Christ, ein Anderer: dass er
ein christliches Geinuth babe u. s. f.
Als indess die Uniyersitaten Wittenberg und Bost&gk um Gutachten
angegangen worden waren, und diese gilnstig ausfieleyauch den Mit-
gliedern der Oper dies beilaufig erwalmt der Zutritt zum Abend-
malil gestattet worden war, wurde dieser Opposition ein kraftiger Damm
entgegengestellt.
Im Jalire 1693 fibernahm ein Kapellmeister Joliaim Siegmund
Knsser die Operndirection. Dieser war bestrebt, der franzosischen und
italienischen Oper in Hamburg Eingang zu verschaffen, Letzteres ins-
besondere durcli Auffuhrung von Werken des Kapellmeisters Steffani
zu Hannover, eines der vorzuglielisten Meister jener Zeit. Die italienisclie
Manier war fur die Hamburger Operisten damals nocli etwas Unbekanntes,
und Kusser erwarb sich. auf diese Weise, sowie dnrch die hiermit ge-
botene praktische Befonn der Sanger und des Orchesters, grosse Ver-
dienste. Die Werke Steffani's, die liauptsachlich in die letzten
12
178
20 Jahre des 17. Jahrhunderts fallen, sind von unverkennbarem Bin-
fluss aiif die Bntwieklung der Hamburger Oper gewesen.
So Yorbereitet, konnte endlich der Mann heiTortreten, welcker jenen
Bestrebungen ihr bestimmtes Geprage verlieh, Eeinhard Reiser, der
Mozart der ersten Epoch e der deutschen Musik, wle ihn Lindner nennt.
Keiser war inn das Jalir 1673 in der Nalie von Leipzig geboren und
wnrde auf der dasigen Thomasscliule und Universitat gebildet. Er folgte
einem Kufe als Opemtonsetzer naeh. Wolfenbuttel, da er sckon in Leip-
zig durch seine niusikalischen Talente Aufselien erregt katte. Dort trat
er 1692 und 1693 mit zwei Opern auf, fand ungetlieilten Beifall, und
fasste deshalb den Beschluss, auf der Hamburger Biihne, deren Ruhra
scion sick zu verbreiten begann, mit alinliclien "Werken sich eine Lauf-
baha m eroffnen. Ums Jalir 1694 erscHen er dort rnit seinem ,,Basi-
lius", 1697 mit den Opern w lrene" und ,,Adonis u , und fesselte nun auf
lange Zeit durch den Zauber seiner Tone die Kundigen und die Menge,
sowol durcli geistliche wie dramatisclie Werke. 1703 tibernahm er die
Pacbt und die obere Leitung des Opernwesens. Er componirte in dieser
Stellung gegen 116 Opern, neben seinen Werken fur die Kirche und
anderen Arbeiten. Bin mekrjaliriger Aufentbalt in Eopenliagen. erwarb
ihm den Titel eines koniglich danisclien Eapellmeisters. Nach. seiner
Euckkunft nach Hamburg im Jahre 1728 beelirte man ihn mit der
Stelle eines Cantor cathedmlis und Canonicus minor am Dome daselbst.
Sein letztes thieatralisches TTerk fallt'in das Jalir 1734, sein letztes
geistliehes drei Jahre spater. Er starb 1739. Keiser hat auch nocli
ein paar geistliche Opern in der Slteren Weise geschrieben, doch macht
sich in diesen schon iiberwiegend Weltliches, zum Theil Frivoles geltend.
Sclion seit der^Jahre 1688 begannen die geistlichen Stticke dem Ge-
prage der weltlichen sich m nfihern, und in den ersten Jahren des
folgenden Jahrhunderts liatten sie aJles Unterscheidende vollig eingebtisst.
Keiser war ein reichbegabtes musikalisclies Talent, insbesondere, was
unter den Deutschen seltener 1st, nach der melodischen Seite bin, eine
eclite Kunstlernatur ; er entwickelte zuerst eine nattirlicbe Darstellung
der verschiedenen Gemflthsbewegungen , und war bemerkenswerth ins-
besondere auch dadurch, dass bei ihm der Schwerpunct des Schaffens in
seiner Thatigkeit fur die Oper liegt, wahrend gleichzeitige Tonsetzer
die Arbeiten weltlichen Stils immer noch mit einer gewissen Nachla
fceit behandelten. Gleichzeitige Schriftsteller schreiben ihm die
lidisten und lieblichsten Melodien zu, worin ihn Keiner ubertroffen ha
eine walire Unerschopflichkeit in Erfindungen, sie nennen ihn den grosstl
Geist seiner Zeit, eineu Setzer vou Geburt, bei dem nur Lust sei, kel
179
saurer Schweiss, der den Welschen manchen Ehrenkranz abgewonnen
iind den Gesang zum vollen Sehmuck gebraclit habe, nur dass ihm zu-
weilen Liebe und Wein in den Weg kamen w und die Lust, sich mehr
als ein Cavalier, denn als em Musicus aufzuffihren-, und ilim damm
auch die Fahigkeit abging, ,,mit der Kechnung fertig zu wertlen".
Keiser iibte seine Kunst als einen reichen Quell cles Genusses und Er-
werbes: sie gab ihm die Mittel, durcli leiclite Anstrengungen seinem
Fange m Prunk und WoHleben nachzugehen. Es that ihm wohl, sich
Je premier homme du monde" nennen zu horen, ,,mit verbramten
Eleidern, mit zwei Dienern in Aui'ora-Liberey u einherzugehen.
So dauerten die Verhaltnisse fort bis ungefalir zum Jahre 1728.
Endlich aber hatte sich diese erste Glanzepoche der dentschen Oper
uberlebt, so dass in den 40er Jahren des vorigen Jahi'hunderts in Ham-
burg davon nicht mehr die Rede sein konnte. Die ItaHener waren scion
langst tiberaH in Deutschland zur AUeinherrschaft gelangt, und jetzt
nahmen sie auch Besitz von dieser fruher ihnen so gefahrlich erseheinen-
den Statte. Nachtoaglich sei noch bemerkt, dass die oben angefuhrte
ScMft von Lindner in einer Beilage auch 9 faisher ungedruckte Com-
positionen von Keiser enthali Sie sind die einzigen neuerdings ge-
clruckten, mit Ausnahme zweier, die ich vor einer Eeihe von Jahren als
Beilage zur ,,Neuen Zeitsclrdft for Musik" veroffentlichte.
Es Bind jedoch aus der Zeit dieser Hamburger Opernbltithe noch
mehrere andere bedeutende Manner namhaft zu machen; diese kann
ich, ohne zwar der Entwicklung speciell zu folgei, Her nicht tiberge-
hen, theils weil die Thatigkeit dieser Tonsetzer an sich selbst wiehtig
und ein so reges, vereintes Steeben in Deutschland selten ist, theHs
auch weil diese OpernWerke den entschiedensten Einfluss auf den Mrch-
lichen Kunstgesang gehabt haben. Neben Keiser war es zunachst
der 1681 zu Hamburg geborene, also um 8 Jahre jungere Jthanp.
Mattlieson, welcher die Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Matt he-
son war ein friihreifes Talent und liess sich schon im neunten
in den Kirchen auf der Orgel, in Concerten mit eigenen Gesangen
die er auf dem Pltigel selbst begleitete. Seine SMmme gefiel dem
genannten Mtbegriinder der Oper, Gerhard Schott, so sehr, dasTer
ilm auf die Buhne brachte, wo er bis 1705, funfzehn Jahre lang, b^eb.
Im Jahre 1699 betrat er mit der Oper ,,Die Plejades" die Biihne als
Tonsetzer, nachdem er zuvor schon gelehrte Eirchenstucke gesetzt hatte.
ch wahrend seines Buhnenlebens ubertrug ihm der britische Gesandte
Untemcht seines ;Sohnes, md dies wurde die Veranlassung, dass
endlich jenes ganz \aufgab. \>eine Fertigkeit in neueren Sprachen,
12*
180
sowie seine Rechtskenntnisse, seine Gewandtlieit irnd iinermtldliclie Tha-
tigkeit erwarben ih.ni 170G die Stelle eines Legationssecretars, die ihm
nacli dem Tode des Gesandten ,die Pflicht auferlegte, die Stelle des
Besidenten selbststandig zu vertreten, was spater nocli sehr oft vorge-
kommen 1st. Daneben setzte er aber seine Thatigkeit als Tonsetzer
fort, trat als musikaliseher Scbriffcsteller und Eaitiker auf, and erMelt|
im Jabre 1715 das Dinctonum musieum 'und das damit verbundene
Canonicat am Dom. Dreizelin Jahre lang stand er in diesem Amte,
Welches ihm die Yerbindlichkeit auferlegte, mit einer ganzen Reihe kirch-
licber Werke. namentlich Oratorien, aufzutreten, vor, bis er endlicb das-
selbe wegen hartnackiger Scbwerborigkeit anfzugeben gezwungen ward.
Er starb, 83 Jahre alt, 1764, sein Andenken in seiner Yaterstadt ancli
dadnrdi lebendig erbaltend, dass er der Micbaelisldrcbe daselbst 44000
, Mark Hamb. C. zur Erbauung einer Orgel scbenkte. Ein dritter Mann
dieses Kreises 1st der bald naber zu besprecbende (Jeorg Friedricli
Handel, der jungste unter den Genannten, der 1703 nacb Hamburg
karn, 55 reicb an FaMgkeit und gntem "Willen", nur dass er ,,sehr lange,
knge Alien und schier unendlicbe Cantaten setzte, die docb nicbt das
recite GescMck oder den retMen Geschmack, obwol eine vollkommene
Harmanle batten", so dass Mattbeson, sicb seiner annehmend, Ver-
anlassung fand, ihn r durch die bohe Scbnle der Oper ganz anders zuzu-
statzen, gegen Eroffnnng einiger Contrapunctgriffe". Handel verweilte
in Hamburg drei Jabre, bis 1706, und neben vielen anderen Werken
ftlr Gesang und Elavier, welche er dort berausgab, bracbte er yier deut-
scbe Opern: w Almira-*, ?: Nero", ,,Florindo" und ,,Dapline" auf die
Buhae. Eine Eeibe von Jahren standen diese Meister in Hamburg
neben einander, in der That eine Zusannnenstellung voll der seltsamsten
Contrasts. Keiser, lebenslustig, leicbtbliitig und sinnlich; Mattheson
e|n Universalgenie, von Win t erf eld treffend verglichen mit Glaus
Zettel dem Weber in Shakespeare's 5 ,Somrnernachtstraum", welcher am
liebsten jede Kolle gespielt, geseufzt und als Lowe gebriillt liatte; Han-
del, seiner Kraft bewusst, nacb innen gekehrt, eine. Welt in sich tra-
gend, das Treiben der Anderen gutmiithig verspottend, bei der zweiten
Yioline im Orchester angestellt,^ 55 mit dfirrem Scherz sich stellend, als
ob er nicht auf fiinf zablen konue", aber auf einmal hervortretend mit
aUer Kraft, 55 ohne dass es Jemand veimuthet hatte", mit Ausnahme
natorEct des aUwissenden Mattheson, der dies schreibt, nicht eitel,
aber stok, voll enfcschiedener Haltung herabblickend auf das Treiben
Derer, denen es nur darum zu thun ist, ihre aussere Erscheinung in
der Welt geltend zu niachen; entschieden, rauh, zufabrend, wenn es gilt,
181
das Eoliere der Kunst m vertreien, mit treffendern Wife selbstgefellige
Eitelkeit strafencL Endlicli 1st noch, als diesem Kreise angehorig, ein
ylerter Genosse, Georg Pliilipp Telemann, m nennen. Dleser war zu
Magdeburg im Jalire 1681 geboren, wo sein Yater Prediger war. Er
verier diesen aber in zarter Jugend, und sein frfih sicli kundgebendes
musikalisches Talent mirde Yon cler Mutter bekSmpft und unterdrflekt,
ja diese sendete den Sohn, um ihn jeder kunstlerischen Verlockung zu
entziehen, auf die Sehule naeh Zellerfeld, in dem Giauben, w hinter dem
Blocksberge wehe kein musikalisclies Luftehea". TJnerwartet fand er
dort GSnner, welche seine Anlagen zu wurdigen wussten und die Aus-
Mldung derselben forderten. Endlicli bezog er die Tniversitat zu Leipzig.
In Halle Mtte er durcli ? 3ekanntscliaft mit dem sclion damals wichtigen
Herrn Georg Friedrich Handel beinalie wieder Notengift eingesogen" ;
er widmete sieh aber, dem \Vunsclie der Mutter gemass, beim Beginne
seiner Studien mit allem Fleisse der Jurisprudenz, bis endlich se musi-
kaJischenBestrebungen, welelie er sorgfaltig verlieimliclite, entdeckSrurden
und lebliafte Aufinuntenmg fanden. Durcli den Beifall, welclien er erntete,
wnrde seine Mutter versohnt; er versuohte sioh nun in dramatischen
Compositionen ftir die Buline von "\Veissenfels, uberliess sich uberhaupt
seiner Kunst und den Arbeiten in derselben mit durcli die lange Ent-
sagung yerdoppeltem Eifer, und die Folge dayan war, dass er spater
QES n l st an der NeuMrclie zu Leipzig wurde. 1708 nahm er einen Euf
nacli ESsenach an, nachdeni er sicli zuvor im Dienst des Grafen von
Promnitz in Sorau befunden hatte, und zeigte sich dort sehr thatig in
Compositionen far die Kirdie. Tier Jahre spater ging er als Kapellmeister
nach Frankfurt a. M., und lebte Mer langere Zeit in selir erwfinschter
Wirksamkeit, die Arbeiten ffir die Kirche fortsetzend, neue beginnend,
so die Compositionen eines damals beruknten Textes, der Passion des
Hamburger Eattsherrn Brock es, welelie unter ungelieurem Andrang
der Zuhorer in einer Eii*cbe aufgeftbrt mirde. Endlicb, im Jalire 1721,
rief ilin eine Einladung als Director des musikalischen Chores und Cantor
des Johanneums nach Hamburg in eine Stellung, die er bis an seinen
Tod bekleidete, obsehon aucli spater noch wiederholte Einladungen
von ?erscHedenen Orten aus an ihn ergingen. Er starb im Jatre 1767.
Telemann war einer der fruchtbarsten Tonsetzer. 44 Passionsrausikeij^
12 vollstandige Jakrgange von Erchemnusiken, 40 Opern, an 700 Arien,
600 Ouverturen und andere Instrnmentalwerke werden von ihm neben
yielen anderen Compositionen aufgezahlt. Aucli auf dem Sebiet der
Kunstlehre finden w ihn thatig, doch nicht mit gleicheni Erfolg wie
Mattheson.
So sehr mm auch jeder von den bis jetzt besprochenen Mannern
ein Anderer war, so verschieden das Ziel, welches sie verfolgten: die
Neigung fur das musikalische Drama und seine Forrnen verband die-
selben. Daruber war man einig, dass in der Opera, ,,dein galantesten
Stucke der Poesie, die gottlielie Musik ihre Vortrefflichkeit am besten
sehen lasse", und aus diesem Grunde sollte die Tonkunst in der Eirch
dureh Uebertragung der Opemforrnen auf den geistlichen Eunstgesangj*
einer gleichen Yortrefflichkeit, so viel als moglich, theilhaftig werden.
Aus diesem Yerfahren ging eine neue Gestalfc des Mrchliehen Eunstge-
sanges hervor, ran so erklarlicher, als die Oper in imxner weiteren Ereisen
sich zu yerbreiten begann, nicht allein auf Hamburg sich beschrankte,
und in Polge davon der Einfluss derselben sich mehr und mehr er-
weiterte. So finden wir z, B., abgesehen von einzelnen Yorstellungen,
die zu Halle selbst schon 1679, zu Merseburg 1681 vorkommen, am
Hofe ^u Weissenfels seifc 16S2 dieselbe in einer fortlaufenden Reihe.
* _w^xen^Jie^pj^:n_,zu ..jLeipzig^. nSior wurde nach
einzelnen Yorstellungen tin Jahre 1685, und spater, im Jahre 1693 bei
dem Zimmer|ofe. im Brahl aig. der Stadtmaiier ejn Qpernhaus in kurzer
Zeit erbaut und eine grosse Anzahl Opern, u. A. Werke von Keiser,
wabrend der dm Messen anfgefiihi'C^ Bis zuni Jahre 1720 laufen die
Nachriehien hieruber fort. Selbst auf den Gemeinclegesang blieb die
Oper, diese immer beliebter werdende Eunstgattung, in der man alle
Yortrefflichkeit vereinigt zu erblicken meinte, nicht ohne Einfluss, ge-
schweige denn auf die huhere, kunstreichere Eirchenmusik. Die Ein-
wirkuiig auf den Gemeindegesang war eine bedeutende, aber nur kurze
Zeit dauernde; bei weiteier Ausgestaltung der Oper gingen beide Ge-
biete zu sehr aus einander, um sich noch irgend berilhren zu konnen;
die Einwrriung auf den Kunstgesang dagegen war eine grosse, nach-
haltige. umgestaltende. Es wurde eine neue Bluthe dieser Kimst, wenn
auch in anderer Gestalfc und unter veranderten Verhaltnissen, hervorge-
rnfen, eine Bluthe, welche, dureh Manner wie Schfltz zuerst vorbereitet,
in den beiden diese Epoche beschliessenden Heroen ihre* Yollendung
erreichte. Eccard hatte Gebilde in wahrhaft evangelischem Sinne ge-
schaffen, Gebilde, hervorgerufen dureh die Entwicklung des Gemeinde-
gesanges. Dagegen erscheinen die Arbeiten von Schiitz als Eesultat
einer neuen Eichtung. Schiitz bedient sich nicht mehr der Form,
welche die Gemeinde dem allgemeinen Kunstgesange zugebracht hatte,
der Melodie des Volksliedes, die der Kunstgesang sodann als willkommene
Aufgabe ergriff;.es ist eine in ihrer concerthaften Ausbildung rein ton-
ktmstlerische, einem fremden Volke entlehnte, aus der lebendigen Ent-
183
wicklung der Tonkimst innerhalb der eyangelisehen Kirclie nicht Iier-
vorgegangene, wenn aueh jener Meister im eYangelisehen Sinne sicli
derselben bedient. Der Kunstgesang, um die Formen des musikalisehen
Dramas sich anzueignen, begann in den allgemeinen Umrissen seiner
Gestalt um den Beginn des 18. Jahrhunderts die Predigfc zuni Yorbilde
zu wahlen. Das Schriftwort, motetten- oder concerthaft gefasst, bildete
den Text, Kecitative, Arien, Duetten predigfcen daruber; als Vertreter
der Genieinde blieb das Kirchenlied stehen, im Verianfe der Zeit iimner
weniger lebendig eingreifend, im Satze auch bald vernaehlassigtf je
mebr die theatralischen Forrnen die Hauptsaehe wurden, und das Be-
streben daMn ging, durch Mannigfaltigkeit ihrer Ausbildung die HSrer
zu ergotzen und die eigene Erfindimgsgabe nud Eunstfertigkeit an den
Tag zu legen. Die genannten Hamburger Tonsetzer Lrachten das in
dieser Gestalt Begonnene zu weiterer Entfaltung ; man naherte sich immer
entschiedener der clramatischen Form, die mit dem Anfang des 18.
Jahrhunderts zu siegreicher Geltung gelangte. Der Name Oratoriuni
fur diese Werke begegnet mis schon, obgleieli man eine derartige Be-
zeiclinung in sehr allgemeiner und scliwankender Bedeutung gebrauchte.
Handel war in den Jahren seiner Anwesenheit in Hamburg in dieser
Weise thatig. Keiser machte zuerst den kuhnen TersueL, den eraali-
lenden Evangelisten wegzulassen und die Form so zu gestalten, r dass
alles auf einander "aus sicli setter fliesset, wie in den italienisclien so-
genannten Oratorien", also rein drarnatiseli ; ,,es ist ja verhoffefctEch keine^
Sunde, wenn einer im Nainen des Evangelisten nicht mitsinget, sondernl
statt dass dieser suget: die Junger spraclien den Lobgesang nach dem
Abendmahle, solclies die Junger selber tliun". Ein anderer wichtigei^
Fortschritt wurde durch Mattheson vollbracht. Er war es, der Frauen
zuerst bei den Aufffilirungen in der Kirehe beschaftigte, denn die damalige
Sitte hatte diese noch bei der Ausfuhrung gi*osser Musikwerke ausge-
schlossen, Friilier waren geschulte Sangerinnen nicht erforderlich, selbst
bis daliin, wo die Aide der Liedform nocli nahe stand. Ein Anderes
war es bei Aufgaben, wie sie diese Tonsetzer sich stellten; die Lei-
stungen von Knaben mussten als gandieh unzureichend erscheinen.
Datirt docla uberhaupt von der Hamburger Epoclie her ein Aufschwung
des deutschen Kunstgesanges. Mehrere Yorzugliehe Theatersanger und
Sangerinnen werden aus dieser Zeit schon genannt, so namentlich eine
Demoiselle Conradi aus Dresden, die spater einen Grafen Gruczewski
heirathete. Kein "Wunder, dass unter solchen Yerhaltnissen der Ge-
meindegesang immer mehr zurucktarat, dass der ilm gegenuberstehende
Kunstgesang ein sehr bedeutendes TJebergewicht erlangte, dass das Band,
184
welches beicle vorher verknupft hatte, mehr und mehr gelockert und ge-
lost mircle. Sprach doch Mattheson es offen aug, class der Gemeincte-
gesang nur efewas Eiiaubtes, ran der Schwachen und Unwissenden
willen GeMcletes sei.
Es bedarf wol kaum einer Erinnerung, was den Kunstwerth der
Werte jener vier Hamburger Qenosseu hetrifft. Ueber drei derselben
hat die Zeit schon* gerichtefc, nur Handel steht unsterblicli da, obschon
nattiiieh ebenfalls niclit diirch jene seiner ersten EntwicHung ange-
horenden Werke. Keiser zeigt sicli in semen Oratorien niclit anders,
wie in seinen Opera. Gleiclie Darstellungsformen, aticli eine ziemlicli
gleiche Instrumentation. Eeiclie ErfinJungsgahe, sinnige, melodiscke
Entfaltung, aber geringes Qescliiek, wo es gilt, glucHicli Ersonnenes
kunstgeinass zu verflectten. Meister in der Darstellung cles Liebliclien,
Aumuthigen, Qefalligen, in seinen kircliliclien "Werken fronime Gefiihle,
wie sie die Seele eines gebildeten, geistreichen, aber sinnliclien und
genussBticMigen Weltniannes bewegen, doch. durchaus keine Kirchen-
musik imalten, holien Sinne. Keiser erscheint also, nach dieser Seite
hin, als ein Mann von leiclit erregbareni Gefiihl, lebendigem Naturell,
aber ohne V iTiefe, ahnlicli Mehreren, welche die neueste Zeit anf deni
GeHet der .feirclieniniisik zu nennen hat. Mattheson's tonkunst-
lerische Beftabimg war eine geringe; er besass GescMck und die Ge-
wandtheib, Jclas, was er unteraalim, so auszuftihren, class es den Schein
deg Bedeiilenclen gewann. Die Znversicht, mit der er dies, sowic iiber-
liaupt seine Bestrebungen geltenil zu maclien wusste, tausclite seine
Seitgenossen, insbesondere auch, da er seine Werke als Schriftsteller
vertreten konnfce. Seine Werke sind dtirftig, und nur die Mode gewShrte
ibnen ein kiirzes Scheinleben. Bedentender wol 1st Tele maun. Er
besass Empfanglichfceit fur alle Eindrucke und ein seltenes Geschick,
des Empfangenen sicli zu bemeistern; im Wesentlichen war er ent-
scBieden der neuen Eichtung zngethan und verkannte die Vorzeit ; nur hin
und wieder zeigen sich, wie unbewusst, lichte, durchdringende Blicke in
diese Vorzeit, welche seinen Schopfungen eine eigentliflmliche Weihe
verleihen. Er besass grosse, in seiner Zeit ausserordentliche Macht fiber
die Kunstroittel, ungemeine Erfindungs- und Verknfipflingsgabe, beides
aber, bei entschiedenem Uebergewicht der Phantasie fiber das GefBOhl,
fur ihn oft missleitend, seinen sonst scharfen Blick fiber die Grenzen
seiner Eunst tausehend. Endlich, bei erklarter Vorliebe fur die Mrchliche
Tonkunst, finden wir doch kanm irgend ein Werk durchaus kirch-
lichen Sinnes. Es war die Aufgabe dieser Manner, die Vollendung
der neuen Kunstbliithe vorzubereiten ; durch die Aneignung der welt-
lichen Formen fur den geistlichen Kunstgesang aber wurclen sie tiefer
in das "Weltliche verstrickt, als dem Kirehlichen heilsarn war; erst Se-
bastian Bach und Handel, zu deren Betraclitimg ich mich nun wende,
wussten yon dieser Vertiefung in das Weltliche sich zu befreien und
die Holien fruiterer Kircblielilveit noch eimnal zu erHinmien.
leh gebe Ihnen zuerst eine Uebersicht des ausseren Lebens beider
Manner. Fur die Betraclitung des Letztgenannten ist nenerdings durch
das erst vor Kurzem Ihnen wieder genannte "Werk: G. F. Hand el von
Fr. CIi ry sander, von dem bis jetzt zwei Bande erscliienen sind, nieht
bios ein weit reicheres Material, als vorher zu Gebote stand, lierbei-
gescliaffi worden; es ist zugleich durch die in der Hauptsache lobens-
werthe Verarbeitung desselben ein Fortschritt in dem Yerstandniss und
der kritischon Wiirdigmig des Meisters geschehen. Als bokannt darf ich
Yoraussetzen, dass auch nach praktisclier Seite hin durch eine von der
deutschen Haadel-Gesellschaft veranstaltete Gesammtausgabe der Werke
desselben ein grossartiges Unternehmen begiiindet wurde (wie fruher
bereits durch die Bach-Gesellschaft bezuglich Bach's), geeignet, der
nachfolgenden Zeit das umfassendste Material zu tiefer oingelienden
Studien an die Hand zu geben. In nieiuen Angaben folge ich nafcur-
lich dem genannten Biographen, soweit derselbe bis jetzt seine For-
schungen veroffentlicht hat. Was das "Weitere betriflft, muss ich zur Zeit
noch die fruheren Daten beibehalten. Heine Saete ist es nicht, liier-
iiber Untersuchungen anzustellen, Ich habe das Material aufzunelnnen,
wie es vorliegt, und in kurzem Ueberblick Binen vorzulegen. Cliry-
s an der aber hat u. A/ auch das Verdienst, die verwirrte Chronologie
im Leben Handel's in Ordnung gebracht zu haben, ein Yerdienst TOE
Bedeutimg, wenn man weiss,* wie storend die Unsicherheit in den
Jahreszahleu auf dem Gebiete der MusikgescMchte clem Darsteller der-
selben ist. Denn wenn auch durch die neueren Forschungen bereits
Manches gethan ist, so bleibt cloch noch immer des Widersprechenden
yiel zurfick. Auch liber Sob. Bach haben wir nenerdings in den
Werken von C. H. Bitter und Ph. Spitta neue und unifangreiehe
Mittheilungen erhalten. Zum Schluss der heutigen Yorlesung mag dann
noch, nachdem ich Ihnen die Hauptumrisse des Lebens beider Manner
dargestellt habe, die vergleichende Cliarakteristik folgen, welche Fr. Eoch-
litz im 4. Bande seiner Schrift: w Fur Frennde der Tonkunst" aufgestellt
hat; ich will mir nicbt yersagen, diese Ihnea initzutheilen, da sie in
lebendiger, trefiender Sebilderung sowol das Verschiedenartige wie das
Yerwandte Beider sehr gut zeiehnet.
Friedricli Handel wurde geboren zu Halle am 23. Fe-
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bruar d685. Er war der Sohn ekes fiirstliehen Kammerdieners und
Amtschinirgus. Seine grosse Begabung und sein reger Eifer fur die
Tonkimst hatten sclion frflh sick Bahn gebrochen, oline jedoeh zu-
naeist AufmunteniBg zu finden. Es war des Vaters Lieblingswunsch,
der Sohn solle Jurist werden, und bereits hochbejahrt, als Dim derselbe
geboren wurde, Melt er eigenslnnig an dieser Grille fest. Erst die Vor-
stellungen des Herzogs von Sachsen-Weissenfels braehen diesen Starr-
sinn insoweit, als nun musikaliseher Unterricht erlaubt wurde, wala-
rend frfiher alle Uebungen geheinagehalten werden mussten. Der Vater
hatte erne Beise dahin unternoinnien, und war genotMgt gewesen, den
Solm, dei damals das 7. Jalir sclion zuruckgelegt hatte, wider seinen
Willen mitziinehmen, da dieser, auf seine Mheren Bitten abschlaglich
bescMeden, dem Wagen, worm der alte Handel sass, nachgelaufen war,
so dass dieser aim woM oder flbel aufnehinen niusste. In Weissenfels
liorte ihn der Herzog, und setete es durch, dass er jetzt bei deni Orga-
nisten Zaehau in Halle Unterricht erMelt. Chrysander giebt bei
dieser Gelegenlieit einige Details uber den Zustand der Weissenfelser
Musik. Der kunstsinnige Fiirst liess derselben eifrige Pflege augedeilien.
Die ETapefle nalnn den Enaben eines Sonntags mit auf das Orgelchor,
und hier fai^d der Furst Gelegenheit, ihn zu horen. Bald naeh seiner
Zurficfctunffc Jiaeli Halle ging der Vater zu Zachau, und jetzt begann
demziifolg^ein geregeltes Stadium. Im Jahre 169G sehen wir den jungen
Ha a del am kurftirstliclien Hofe in Berlin. Bin Freund des Vaters
ftlirte ilin daselbst ein. Man fand sein Klavierspiel bewundernswerth
iincl dies aicht bios in Betraclit seiner Jahre. Dort war es auch, wo er
file erste Betanntsclaffc mit italienischer Musik und mit Italienern machte.
Es waren dies Gi or. Bononcini, derbeste Coinponist, uiicl Pater Attilio
Ariosti, der beste Klavierspieler der musikalischen Eapelle. Der
Letztere protegirte ihn, der Erstere dagegeu, als er Handel's Begabung
erkanat hatte, zeigte Keid uud kalte Hoflichkeit, und es wurde sonaeh
hier sclion der Grand zu jener Feindschaft gelegt, die spater in London
zurischen beiden Mannern bestancl. Handel nahm eine Einladung, am
kiufurstlichen Hofe m bleiben, nicht an, und ging zuriick nach Halle.
Bald darauf, irn Jahre 1697, starb auch sein Vater, Die folgenden
Jahre vergingen unter Studien mancherlei Art. Getreu den Wimschen
des Vaters, bezog er im Jahre 1702 die Universitat, in der Absicht,
dem Stadium der Jurisprudenz sich zu widmen. Natiirlich war dabei
die Musik niemals vernachlassigt worden. Handel componirte fleissig
imd bekleidete demzufolge auch eine Zeit lang eine Stellung als Organist
in Halle, obsehon nur provisorisch, da es keineswegs seine Absicht war,
187
in Halle sich festzusetzen. Seine Wunsche und Neigungen waren zunachst
darauf gerichtet, in der "Welt sich umzusehen. So verliess er Halle, die
juristische Perlode war zu Ende ? und er begab sich nacli Hamburg. Dies
geschah im Jahre 1703, im 19. Jahre seines Alters. Die Hamburger
Bfflme erfreute sich eines weitverbreiteten Eufes, und hier war es daher,
wo Handel zunachst seine weitere Ausbildung suchte. Drei Jahre
dauerte der Aufenthalt daselbst, bis zum Jahre J706. Es wurcle dies
bereits erwahnt, als ich vor Eurzem diesen Gegenstand belaandelte. Dort
auch machte ich bereits seine wichtigsten Werke, welche in diese Zeit
fallen, im Vorubergehen nanihaft Der Dichter Post el schrieb eine
Passion fur ihn im Jahre 1704. In das Jahr 1705 fallen seine Opern
,,Akoira" bei welcher Postel und Mattheson ilnn berathend
zur Seite standen und ,,Nero". Die zweitheilige Oper ,,FIorindo und
Daphne", gegen Ende des Jahres 1706 geschrieben, kani erst zur Auf-
fiihrang, als er Hamburg wieder verlassen hatte, und sich bereits ein
Jahr in Italien befand. Handel kam nach Hamburg, als eine Fiille
von Talenten daselbst thatig war; die Zeit der ersten frischen Bluthe
war indess schon vorflber. Seine ausgezeichnete Begabung als Com-
ponist, sowie seine Leistungen als Virtues gewannen ihm viele Freunde
und Gonner. Wurden doch die Musiker iiberhaupt dort in Ehren gehal-
ten, mehr als an den meisten anderen Orten in Deutsehland, mehr auch
als grosstentheils an den Hofen. Die Pflege der Kunsfc war dort in
die Hande des Bfirgersfcandes iibergegangen, und auch das niochfce^bei
Handel's Sinn nach Unabhangigkeit , ein Grund mehr gewesen seiii,
Hamburg zu wahlen. Indess musste er doch auch, wie dies bei dem
dortigen Kunstleben und dem Charakter desselben entsprechend nicht aus-
bleiben konnte, allerlei Widerwartigkeiten erfahren, so dass er sich spSter
zuruckzog, und sich hauptsachlich mit Lectionen beschaftigte. So reifte
allerdings in ihm der Entschluss, Hamburg wieder zu verlassen. TJnter
seinen Gonnern befand sich auch der Prinz von Toscana, Bruder des
Grossherzogs von Florenz, GiovanniGaston da Medici, ein grosser
Musikfreund und Einer von den Vielen, die damals auf Grand dieser
Neigung Hamburg besuchten. Dieser lud ihn dringend ein, Italien zu
besuchen, und bot ihm sogar die Mittel zur Eeise an. Handel indess
wartete, bis er selbst im Stande war, dieselben zu bestreiten, und fuhrte
erst dann, als dies der Fall, den angeregten Plan aus. Hamburg trat
dainit fur ihn auf immer in den Hintergrund. Er hatte gelernt, was
m lernen, und die dort zur Ausbildung gelangte Stufe heimischen Kunst-
lebens iiberwunclen. Im Marz des Jahres 1707 sehen wir ihn bereitp in
Florenz. Hier wie tiberall diente der Yirtuos dem Componisten zur Ein-
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Mining, docli war er sofort auch als soldier thatig. In den Anfang
seines Aufenthaltes fiillt eine ZaU Yon Solocantaten. Zu Ostern wollte
er auf alle Falle in Bom sein, und er bereitete sich dafur dnrcli die
Composition des Psalms ^Dixit domimts" yor, die er in Koin vollendete.
Sein Aufenthalt daselbst dauerte be! seiner ersten Anwesenlieit melirere
Monate, und nocli eine Eeilie von ahnlichen Werken fand Her ihre Ent-
stehung oder wurd.e wenigstens umgearbeitet. Die erste Oper, welche
er im Herbst des Jahres 1707 'fur Florenz setzte, war ,,Eodrigo". Die
Aufnahrne war eine aussernt gunstige nnd fur Handel gewinnbringende.
In Yenedig weilte er zu Anfang des Jalires 1708 nnd setzte dort die
Oper r Agrlppina :4 . Er gewann mit dieseni Werke den anderen Com-
ponisten einen bedeutcnden Yorsprung ab, sclion mit der Ouverture. Eine
solche Eingangsmusik inusste den Zuliorern ganz nen sein, da sie dnrcli
die einheimiselien Tonsetzer an eine minder gewiclitige Art gewolmt
waren; H an del uberrasclite durcli die Macht nnd Qrossheit des Ans-
dracks m iliesera Falle wie uberhaupfc. Spater ging er wieder nacli Rora.
Weil Ostera lierannalite, arbeitete er ein grosseres Werk fiir dieses Pest,
ein Oratoiinm vRe&urredone", das, als ein Muster der italienisclien Ora-
torienfonn in jener Zeit, gescliiclitlidi wiclitig, kltnstleriscla von geringerer
BeJeutung ist- "Wie selir man aber seine Fahigkeit fur oratorische Com-
position zu pi-Mtzen wusste, zeigt die Aufforderung zu einem anderen
Werte Slnilcher Arfe, r ll trionfo del tempo e del disinganno*, grosser
imd^io^nftiifi^iieiier als das vorhergehende, obsclon ebenfalls kein blei-
b^ades lumstwerk, weslialb er auch in viel spateren Jahren zu melireren
Ijtalen mnarbeitend auf dasselbe zuriickkam. Der Aufenthalt in Italien
4finte Handel zugleicli dazu, ihn mit den vorzfiglicbsten Kunstlern
jSes Landes in Bertilirung zu bringen. In Yenedig verkehrte er mit
Lotti, in Rom machte er die Bekanntscliaft der beiden Scarlatti,
und bestand mit dem Sohne Domenico einen musikalischen Wettstreit
als Yirtaos. Mit Core Hi kani er, wie bereits erwalint, ebenfalls in Be-
riiliiTmg, und so mit Tielen anderen. Spater, im Juli des Jalires 1708,
begab er sich nach Neapel, wie zu vermiitlien stelit, in Gesellschaft der
jzuletzt genannten Ktinstler, yon denen Alessandro Scarlatti sich
bleibend jetzt dort niederliess, und daselbst bis an seinen Tod im Jalire
1725 seine Hauptwirksamkeit entfaltete, wie ebenfalls bereits erwalint
wurde. Handel war inuner sehr fleissig; auch Cantaten fur ZWBI und
melir Singstimmen, sowie Chansons, franzosische Gesange, welche, durch
einen damals heftig gefuhrteu Streit iiber die Yorziige der italienisclien
untUder franzosischen Musik veranlasst, fur ihn die Bedeutung von Studien
batten, arbeitete er in Italien* In Yenedig zur Carnevalszeit 1710 er-
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neuerte er die alien Bekanntschaften nncl machte neue mit mehreren auge-
selienen Hofleuten, Eiinstlern und Kunstfreunden aus London und Han-
nover. Seine Absieht war, nach London zu gelien. Der Baron Kiel-
mannsegge und der Kapellmeister Steffani aber nalimen ilia mit
nacli Hannover. Hannoveraner und Englander betraehteten sich bei der
bevorstehenden Erhebmig des Kurfursten anf den englisclien Thron alB
ein Volk, nncl man machte ilroi bemerklich, dass es vorfheilhaft sein
wiirde, vor einer Uebersiedelung naeb England Verbindiingen in Han-
nover anzuknupfen. So verliess Handel, 25 Jahre alt. Italien, wo er
seine zweite, lioliere, kfmstleriscli bedeutsame Jugend verlebt und den
Grund zu der spateren Eeife gelegt hatte, und begab sich naeh Han-
nover, nacMem er den genannten Freunden das Wort gegeben hatte,
nocli ehe das Jabr vergangen sei, in London einzutreffen. In Hannover
crHelt er die Stellnng als Kapellmeister. Ini Spfttherbst cles Jahres
1710 langte er in London an, wo er eine ennunternde Aufnahme fand.
Was die musikaliselien Zustande betrifft, so waren diese im Clanzen nocb.
ziemlich unentwickeli Er fand weder Yirtuosen, mit denen er sicli wie
in Deutscbland und Italien in einen Wettstreit liatte einlassen T nock
Gomponisten, die ihni den Eang batten streitig machen konnen, obschon
achtongswfirdige Talente nnter ibnen sicb. beianden. England, bemerkt
Chrysander, batte eine selbststandige, zum Theil grosse musikalische
Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Die Anfange des musikaliselien
Theaters waren bier denen in Deutschland ziemlich gleieli, liatten aber
einen scbnelleren Fortscbritt und gingen tiefer ins Volksthnm ein. Zu-
erst holte man aus Italien und fiibrte auf, was moglich war, blieb aber
weit hinter den Yorbildern zuruck. Sehon" im Jabre 1656 kam eine
derartige Auffuk-ung vor. Aucb die franzosische Oper liatte Eingang
gewonnen und fand an Carl EL einen eifrigen ScMtzer. Der bedeu- .
tendste engliscte Tonsetzer, der als Vorlaufer HanflePs betrachtet
werden muss, war Henry Pur cell, der von 1658 bis 1695 lebte.
Der italienisclien und der sie verdrangenden franzosiscben Musik gegen-
tiber verkat dieser den Qeschmack seines Volkes. Man ging auf Shake-
speare zuriiek und holte sieb dort die Stoffe, wie bei tins aus der BibeL
Pur cell setzte eine Beibe solcher Stucke in Musik. Freilicb waren
es keine eigentlieben Opern, was er gab, sondern gesproeliene Drarnen
mit musikaliseben Scenen. (Die erste Oper ? welcbe dui'cbweg gesiingen
wurde, kam erst im lafare 1705 in London zum Vorschein.) Chry-
sander nenntPureell eiuen selbststandigen Geist, wieunseren Scliutz,
wiewol er ebenfalls auf daB Vorbild der Italiener binwies. Obscton in
den einzelnen Formen der Oper niclit so geschult wie diese, war er
190
ihnen doch uberlegen durch den tiefdramatisehen Geist und die einheit-
liche Gesainmtwirkung seiner Werke. Frtiher hatte England sich tiber-
wiegend nocli mit eigenen Mitteln versorgt, aueh was Spieler und Sanger
betrifft Seit 1690 kamen die Italiener in grosserer Zahl, und wie bei
uns wnrde jefczt das Rationale und das Fremde durcli einander gemengt,
so dass in denselben Werken engliscli und zugleich italienisch gesungen
wurde. Endlieh im Jahre 1710 liatten sieh so viele Italiener in London
angesammelt und so viele Englander sich die italienisehe Spraehe ange-
eignet, dass man es wagen konnte, Opern ganz in italienischer Sprache
zu singen. Jetzt nun, wo das Interesse an der Oper ein so allgemeines,
lioch gesteigertes war, trat Handel auf den Schauplatz, und man
empfing ihn, dessen Ruf bereits nach England gedrungen war, bei der
Oper mit offenen Annen. Sein erstes Werk fur die englisclie Bitline
war die Oper 5 ,Einaldo" im Jahre 1711. Die ganze Arbeit wurde in
14 Tagen Ibeendet, maclite aber einen ausserordentlichen Eindruck. Trotz
der italienischen Oper Hng die Menge doch an Pur cell. Erst Han-
del war im Stande, sie diesem abwendig zu naachen, und wir haben tier
ein flmliches Schanspiel, wie wir es spater in Prankreich sidi wieder-
liolen sehen warden. Aucli in JTeapel wurde die Oper im Jahre 1718
i irater Hitwirkong L e o *s aufgefohrt. Naeh Beendigung der Saison reiste
'Handel ab raid begab sich zuruck nach HannoTer. Auch seine Vater-
siadt besiiefate er 5 und tibernahm dort in seiner Pamilie eine Pathen-
sfcelle. J&. Hannover war es der schon einigemal genannte Kapellmeister
iSteffani gewesen, der dort fflr die Kunst eine erfolgreiche Thatigkeit
entwickelt hatte. Chrysander hat demselben eine atisfiihrliche Be-
trachtung gewidmet, und auf cliesen beinahe vergessenen Ktinstler uncl
Staatsmann die Blieke von Neuem hingelenkt. Seine Kunst, bemerkt
er bilde das Mttelglied, durch welches die italienische der des grossen
Deutschen die Hand reicht. Steffani war im Venetianischen im Jahre
1655 geboren und starb auf einer Eeise im Jahre 1730. Ein Stalat
mater und eine grosse Zahl von Kammerduetten, welche Kunstgattung
durch Ihn zu holier AusbMung gebracht wnrde, werden unter seinen
Werken vorzugsweise genannt. Handel schrieb in Hannover mehrere
derartige Compositionen und auch eine Anzahl deutscher Lieder. Seine
Kapellmeister-Thatigkeit war auf Kammermusik beschrankt, da Opern-
auffuhrungen nur zeitweilig stattfanden* Was Instrumentalmusik betrifft,
so kamen fast ausschliesslich Werke von Lully ^ur Aufflihrung. Ausser
der Yioline war im Orchester zu Hannover auch die Oboe gut besetzt.
Beide Instramente waren damals unter denen des Orchesters die am
weitesten in ihrer Behandlungsweise vorgeschrittenen, und Handel fand
191
deshalb Veranlassiing, seine ersten Oboenconcerte zu componiren.
Ende November des Jahres 1712 erscheint sein Name wieder in den
Londoner Zeitungen, nnd zwar bei der Anzeige seiner nenen Oper y ,H
pastor fido". An diese schloss sich am 10. Januar des folgenden Jahres
die Oper ,,Theseus", die ebenfalls in kurzer Zeit componirt wurde. Mr
den Geburtstag der Konigin Anna am 6. Pebruar 1713 componirte er
eine Ode und gleichzeitig das Utrechter Te deum und Jubilate in D, das
letztere in Deutscbland unter der Bezeichnung des 100. Psalms bekannt.
Die Konigin setzte ilnn dafttr ein Jahrgehalt von 200 Pfond aus. Drin-
gend aufgefordert, in England zu bleiben, hatte er die Kuekkehr nacli
Hannover ganz vergessen ; sein Urlanb war ubersehritten. Zugleich hatte
er mit clem Te deum seiner Dienst- nnd Unterthanenpflieht zuwider ge-
handelt. Da bestieg sein bisheriger Gebieter, der Kurfurst Georg, als
Georg I. den engHschen Thron; Handel kara dadurch in eine keines-
wegs angenelame Lage, musste sich zuruckziehen inid verbergen. Der
dienstvergessene Kapellmeister wusste indess auf heitere Weise den Konig
zu versohnen, als er zu einer Wasserfahrt auf der Themse am 22. August
1715 eine ,,Wasser-Musik" componirte, welche clem Konig gefiel, so dass
Handel wieder zu Gnaden angenommen, und sein Gehalt mit einer
Zulage vermetrt wurde. Die folgenden Jahre wolinte er meist bei
englischen Grossen auf dem Lande in der Nate von London und wurde
von diesen mit Auftragen bescliaftigt. Docli fallt in diese Zeit aucli
eine Keise nacli DeutscHand, die er im Gefolge des Konigs unternahm.
Diese Reise sollte ilm zugleich mit der deutschen Musik nocli einmal
in unmittelbare Berizkrang bringen. Er componirte eine Passionsmusik
nach den sclion einmal erwahnten Worten von Barttold Heinricli
Brockes, die bereits Keiser, und, wie selion neulioh bemerkt, auelt
Telemann bearbeitet batten. Mit diesem Werke setzte er seinen Fuss f
bemerkt Chrysander, auf deutscb.es Gebiet, zog ihn aber schneU.
wieder zuruck. Bald erliob er sieli auf einen anderen Standpunct, einen
unendlicli hoheren, der fur den Gehalt seiner Kunst entscheidend war,
indem er zugleich uber die stisslicli-sentimentalen deutscben Teste Mnaus-
sehritt, und an das Bibelwort sicli anscMoss. Ende des Jahres 1716
erfolgte seine Euekreise nact London. Er lebte hierauf langere Zeit als
Musikdirector zu Cannons bei dem Herzog von Chandos, jedoch in durcli-
aus freier Stellung. Dieser Aufenthalt ist wiclitig, weil er Mer (im
Jahre 1717 20) seine 12 Anthems componirte, die eine Vorstufe zu
seinen spateren Oratorien bilden. Der Fame Anthem (entstanden aus
ant-hymn) weist darauf Mn, dass ursprunglieh mit ihm der Wechsel-
gesang des Priesters und der Gemeinde bezeichnet wurde. Spater fiel
192
der Begriff cles "Wechselgesangartigen ganz weg, und es entwickelte sich
eine niotettenartige Choi-form, die durcli Pur cell und Handel durcli
Emfuhrung TOR Sologesangen zwischen die Chore zur Cantate ausgebildet
wurde. Ala Texte sind Psalmen zu Grande gelegt. Bald darauf, im
Jahre 1720, selien wir Handel denn auch mit seineni Oratoriuni
^Esther" hervortreten, das erste Werk dieser Art in England und zu
englisclien "Worten. Vieles aus seiner Passionsmusik nalnn er in dieses
Werk auf, eine Yerfahrungsweise, die Handel tiberhaupt charakterisirt
und die zuin Theft tiberraschend selinelle Abfassung vieler seiner Coni-
positionen erklaii. Er hob aus nur voriibergehenden Zwecken gewid-
meten Werken das Bedeutendere heraus, urn demselben eine grossere
Dane- zu verMhen. Dieses Oratorium bildet den Uebergang zu den
spateren "Wei-ken dieser Art; es ist, wie eine Oper, nodi in Scenen ab-
getheilt und stellenweise dramatiseh und opermnassig gebaut. Zu der-
selben Zeit und unter clenselben YerMltnissen zu Cannons schuf er auch
noch ein zweites Oratorium, clas Schaferspiel ,,Ads und Galathea".
Hiermit scUiesst der erste Hauptabsclinitt im Leben Handel's.
Die gauze erste Halfte desselben ist damit abgethan. Sie stelit der
grosseren mid becleutenderen zweiten Halfte gegenuber, die dadurch noeh
merkwfirdiger und anzieliender wird, dass- der innere Fortgang mit
der ausseren Wanderung durcli die musikalischen Culturlander gleichen
Schritt halt.
Der zweite Band des Chrysander'schen Werfces behandelt die
Jak-e von 1720 bis 1740, die Zeit der TMtigkeit Handel's bei der
ifcalienisdien Oper in London. Dieser gewinnt dadurch einen neuen Boden
fur seine kunstlerisclie Thatigkeifc, er tritt dem Gesammtpublicum naher,
wie sich denn uberhaupt durcli diese seine Thatigkeit erst eine musika-
lische Oeffentlichkeit in England bildet.
Um die soeben bezeichnete Zeit wurde durch Subscription cles Konigs
und Adels die konigliehe Akademie der Musik errichtet, welche die Be-
stimmiiDg hatte, stets eine Auswahl der besten Opern auf dem Haynaarket-
Tlieater nioglichst vollendet darzustellen, und Handel mit der Direction
sowie mit deni Engagement eines vorzuglichen Personals beauftragt.
Die Yorbereitungen zu dieseni Unternehmen fallen in den Winter von
1718 19, und Handel begab sich schon 1719 zu diesem Zwecke auf
den Continent. In Dusseldorf gewann er den Sanger Bal das sari. In
Dresden fand er im Herbst des Jahres 1719 fast alle Beruhmtheiten der
italienischen Sangerwelt versammelt, doch vermochte er die betreffenden
Kunstler und Kunstlerinnen niclit zu einem sofortigen Antritt eines
Engagements zu gewinnen, da dieselben noch contractlich gebunden waren,
193
bios mit Ausnahme der Sangerin Durastanti, welclie far den Augen-
blick besonders erwunscit kam. Die Uebrigen, unter diesen der ausge-
zeichnete Sanger S en e si no, warden vom 1. October 1721 an iur die
Akademie gewonnen. Mt der soeben schon bezeickneten Tendenz der
Akademie, Alles zu vereinigen, was im Faehe der Buhnenmusik zu leisten
sei, war engster Anschluss an die italienische Oper von selbst geboten.
Bin nationaler Gedanke lag ihr fern. In diesem Sinne wahlte man ancli
noch neben Handel die musikalisclien Leiter der Akademie, die Italiener
Bononcini, sowie spater Attilio Ariosti, dieselben, denen Han-
del schon in Berlin begegnet war. Diese traten zugleieh in Gemein-
schaft mit ikm. als Componisten auf, nnd es war dadurch gleich anfangs
Veranlassung zu mannigfaclien Elfersuchteleien und in Polge clavon zu
den spateren lieftigen Streitigkeiten nnd Parteikampfen gegeben. Werke
anderer italienischer Tonsetzer wurden ebenfalls mehrfach aufgefoJirt.
So natanen die Vorstellungen im April des Jalires 1720 iliren Anfang.
Handel begann seine TMtigkeit mit der Oper ..Rhadamist^, in der
Senesino sich durch die Arie :y Oinbra eara" den grossten Beifall er-
rang. Handel war jetzt fortwabrend far die Oper tMtig, und es folg-
ten im Laufe der Jahje neue Werke dieser Gattnng in grosser Zahl,
^Ploridant", J7 0tto a , 5 ,JuKus Casar u ? u. a. Yon der Oper ,.Mucitis Sca-
vola ;c componirte Handel den letzten Act, Bononcini den zweiten
und der Violoncellspieler der Akademie, Pilippo Mattei, "genannt
Pippo, den ersten. Handel gewann den Preis liber seine Gegner,
trotz der Anfeindungen, denen er ausgesetzt war. Was den kiinstleri-
schen Werth dieser Werke betriffit, so unterscheiden sicli dieselben aus-
serlich rdcht von dein, was damals in der italienisefen Oper Brauch war.
Es sind, wie Clirysander sagt, Arienbiindel durch Eecitativfeden zu-
sammengelialten. Dramatische Concertmusik ist der bezeiclinende Aus-
druck daftir, nur dass Handel schon damals Bedeutenderes in solcher
Weise gab, als seine Zeitgenossen meist zu leisten vennocMen. Nicht
aber eine tiefere Anscliauung voro. "\Vesen der Oper charakterisirt Han-
del's Werke, es ist mehr die innere Durchbildung, welclie denselben
eine erhoMe Bedeutung verleiht, und dieselben nicht als blosse Mode-
producte von vorubergehendem Interesse, sondern in der That als Vor-
stufe fur seine spateren Oratorien erseheinen lasst. Es war, wie schon
bemerkt, bei der Verbindung go vieler fremdartiger, zum Tlieil wider-
spruchsvoller Eleraente natMieh, dass Kanipfe mancherlei Art nicM aus-
bleiben konnten, die endlicli in die heftigsten Parteiungen ausarten
mussten. Die Italiener arbeiteten gegen Handel, in gleicher Weise
trat eine nationalgesinnte, englische Partei gegen ihn auf. Insbesondere
13
194
arg wurde die Saclie, als nun ancli unter den Sangern nnd Sangerinnen
ZerwtirMsse ausbraclien imd Hof iind Publicnin leblaaften Antkeil an den-
selben nalrmen. FrancescaCuzzoni, wlcke 1722 ankam, sowie spater
Faustina Hasse gekoren mit dem sckon genannten Senesino zu
den Hatiptcelebrifcaten, uni die sicTi die Parteien haupts&chlich gruppirten.
Beide Sangerinnen waren Toiler Capricen, namentlicli die Erstgenannte,
deren Weigerung, eine fur sie von Handel componirte Arie m singen,
diesen In den hoehsten Zorn versetzte, so dass er jeder Selbstbeherrschung
nnfthig ausrief : r Dass Sie ein leibliaftiger Teufel sind, weiss ick, aber
Sie sollen wissen, class ieh Beelzebub bin, der Teufel Oberster". Dabei
ergriff Handel sie, hob sie auf und Melt sie, zitternd TOT Wnth, in
das offene Fenster, in dem er schmir, sie unfehlbar liinunterzuwerfen,
wcnn sie nicbt gehorche, was zur Folge hatte, class sie schreiend, in
Todesangst, Alles versprach, und kiinftig musterhaft geliorsani gegen
Handel war. Ein Streit der beiden Danien, der zu einem Handgeinenge
auf offener Scene wurde, war es denn scliHesslicli auch, welcher der
Saison ein Ende maclite. Diese erste Opernepoche umfasst die Jalire
1720 1T28. Die Danien Cuzzoni und Hasse wurden zwar spater
wieder so weit versolint, dass sie neben einancler singen wollten, aber die
Theilnahme des Publictims war erialtet, und die regelmassige Jalires-
subscription kam in der letzten Saison nicht wieder zu Stande. Es war
zu spat, dass Handel die Zugel der Oper jetzt allein wieder in die
Hande bekam, da seine Kiralen, imfahig, sich ilim gegenflber zu behaupten,
sick batten znruckziehen mtissen.
Handel hatte in diesem Zeitraiun 12 Op em gescbieben, die fiber-
all in DeutscHand , Italian, den Mederlanden gegeben wurden. Selbst
Frankreick gestattete ilinen, wenn auch nur auf knrze Zeit, Eingang.
In dieselbe Zeit fallt auch der Tod des Konigs Georg I. Mr die Ttiron-
besteigung seines Sohnes Georg II. erhielt Handel den Auftrag, die
Chore liber die Kronungstexte neu zu setzen. Er componirte vier dieser
Kronungsanthems. -
In die Zeit des Aufhorens der Akademie fallt eine Episode, deren
try sancler in einem besonderen Abschnitt ausfukrlicker gedenkt: die
Entstehung der sogenannten Bettler-Opern und Balladen-Singspiele, welche
der italieniscben Oper und fiberhatipt der Tonkunst im hoheren Sinne fur
einen Augenblick Halt geboten, indem sie eine bedeutende Concurrenz
hervoniefen. Sie waren, wie der angeftihrte Schriffcsteller bemerkt,
ein Glied in der Kette oppositioneller Schriften, und mit den grossten
satiiisclien Leistungen der engiischeri Literatur eng verfochten. So
gi^oss war die Beliebtkeit derselben, dass in den nachsten zwolf Jahren
195
mehr als hundert Stucke dieser Art entstanden. Der Bettler-Oper
gegeniiber hatte sich die italienisehe geleert. Eine neue Akademie wurde
gebiidet, obsclion dieselbe von der Mheren wesentlicli abwich. Die
neue Akademie bestand nur aus Mitgliedern, welehe sicli m einer mehr-
jahrigen Subscription verpfiichtet hatten. im Uebrigen jedocli, wie es
bei der ersteren geschehen war, weder Tonsetzer nocli ganger ver-
schrieben, weder die Werke bestellten. noch die Auffthrungen be~
stimmten. Das Unternehnaen ging wesentlict vom Hofe und von dem
zuin Hofe sicli haltenden Adel aus. Handel hatte alles Musika-
lische zu leiten, und so trat er ini Spatsommer des Jahres 1728 seine
zweite italienisclie Eeise an, mn Engagements einzuleiten. Unter den
Sangern, welche er gewann, befand sich Bernacchi, der allerdings nacli
Ohrysander's Angabe mit S e n e s i n o sicli nidit messen konnte. Ein
Hinen fruher fiber diesen Sanger mitgetheiltes Urtheil lautete freilich
gfinstiger. Die beste Acquisition machte er mit der Signora S trad a.
Die Vorstellungen begannen Ende des Jahres 1729, und Handel
trat jetzt abemials mit einer Anzafal neuer "Werte auf. Er componirte
in den vier Jaliren des Bestehens dieses Unternelimens sechs Opern.
Auch Senesino kam spater wieder nach London.
Nach und naeh wiu-cle der Drang nact dem Besseren ein imnier
allgemeinerer. Das nausikalische Altengland erwachte wieder. Han
erkannte die Unbedeutendbeit der italienisclien Texte und wiinsclite
bessere und cliese zugleicli in englisclier Sprache. Ein nationaler. mit
einer liolieren Anschauung verbundener Kiinsttrieb beginnt Eaum zu
gewinnen. Bestrebungen soldier Art waren niclit bios von Einfluss
auf das Erwaehen des Handel'sclien Genius inggeiner ganzen Grosse,
Handel im Gegentheil war denselben bereits voraiisgescliritten, Man
hatte die Ueberraschung, dass das, was zu leisten versuehte,
eigentlich schon gethan war, dass Handel in ..Esther 4 und ,,Aeis und
G-alathea i4 zwei Werke geliefert hatte, an Diehtung und Musik vOUig
neu, die nur aufgefuhrt zu werden brauchten, um die Ueberzeugung
davon allgemein zu verbreiten. Man zog also diese Werke wieder
hervor, zugleich aber auch durch scenische Action auf ein ihnen fremdes
Gebiet. Von verschiedenen Unternehmern wurden anfangs mehrfache
AuffBhrungen derselben ins Leben gerufen. Handel nahna die Sache
in die Hand, trat an die Spitze dieser neuen Bewegung, und wurde
dadurch auf die Bahn des Oratoriums hingeleitet. Er selbst veranstaltete
wiederholt Aufftihrungen, und trug den Anforderungen der Biihne inso-
weit Rechnung, als zwar eine eigentliche Action nicht stattfand, die
Scene aber in malerischer "Weise einen passenden Hintergmnd darstellte,
13*
196
und Eleider imcl alle sonstigen Deeorationen dem Gegenstand ent-
sprechencl gewahlt warden. So wurde im Jahre 1732 ,,Esther", das
andere der in Cannoiis entstandenen grossen Werke, im Hause eines
Hrn. Bernliard Gates von den Knaben der koniglichen Eapelle mit
Action aufgefehrl Der Ohor, bestehend aus den Eirchensangern und
den Mtgliedern der koniglichen Eapelle, war nacli der Weise der Alten
zwischen der Btihne und dem Orchester aufgestelll Darauf wurde es
von demselben Personal in dem Gasthause zur Krone und zum Anker
wiederholt. Una dieselbe Zeit fand zu einem wohlthatigen Zweck
eine Auffahrung der seit dem Jahre 1714 niclit wieder zu Gehor
gebrachten Utreehter Friedensmusik statt, was sick spater ebenfalls
wiederholte. Eine andere wichtige Veranderung, die ebenfalls im Gefolge
solcher Auffiihrungen Platz griff, verdient Merbei nocli eine besondere
Erwahnung. Die Solosanger namlich waren theils Englander, theils
Italiener, waren aber jetzt genotMgt ? sammtlich engliscli zu singen.
Der Zug zum Erhabenen war jetzt in Handel wie aucli auf einen
Augenblick in der Mehrzahl der Musikfreunde vorwaltend, und so
schritt er auf dem durch ,,Esther" gebahnten Wege schnell zu einem
nenen Werke und componirte 5 ,Debora a , welches im Jahre 1733 mit
engiischem Text aufgefohrt wurde. Es war dies ein neuer Schritt zur
Befreinng yon den italienischen Banden. Abgesehen hierYon ? so liegt
die Bedeutung dieses Werkes wesentlich in den Choren. Das wirklich
Neue in ,,Debora f{ , den Portschritt zu einer grosseren Vollendung des
oratorischen Baues, sieht Chrysander in der chormassigen Charak-
teristik der feindlichen Volksmassen. In , 5 Esther" erhebt sich die Be-
deutung des Karnpfe^ noch nicht fiber das Personliche ; in ,,Debora"
dagegen kommt uberall nur das Allgemeine zur Geltung. Der Schau-
platz des Handel'schfiwirkens fiir die nachste Zeit war nicht London,
sondern Oxford, wo er bei Gelegenheit eines feierlichen offentlichen
Actes im Jahre 1733 ^Athalia" auffuhrte, wahrend das Werk in London
erst zwei Jahre spater zu Gehor gebracht wurde. Ein Trauungsan-
them componirte Handel im Jahre 1734 zur VermaMung der Princess
Koyal mit dem Prinzen Yon Oranien.
Jetzt folgt eine Epoche, wo zwei italienische Operntheater in
London neben einander besfcanden, ein Zeitraum, welcher die Jahre
von 1733 bis 1737 tunfasst. Durch die Ihnen soeben bezeichnete
grosse TJmgestaltung trat die Bedeutung der Solosanger und Sangerinnen
mehr und mehr in den Hintergrund. Die Italiener waren genothigt,
englisch zu singen, und mit der vorwiegenden Bedeutung der Chore
und dem Zurticktreten der Action musste natiirlich die fruhere Buhnen-
197
herrlichkeit der Ausfiihrenden mehr und mehr schwinden. Dies empfand
namentlich Senesino. Als daher Italiener und englisehe Patiioten
vereint immer entscMedener gegen Handel In die Schranken traten,
fasste Senesino den Mufli, offen gegen Handel sicli aufzulehnen,
und die Folge war, dass der Letztere ihm sofort kundigte. Auch
Franceses Cuzzoni wurde wieder gewonnen, und ergriff begierig die
Gelegenheit, sich an Handel, der sich bestandig geweigert liatte, sie
wieder zu engagiren , zu lichen. Beide warden jetzt die Hauptstutzen
des neuen Unternehmens, und die Folge war, dass sich Handel's Ge-
sellschaft aufloste. Die Mitglieder derselhen gingen zum Theil zu den
Feinden liber. Porpora wurde als Componist uud Dlrigent des Or-
chesters gewonnen. AueliHasse stand unter Handel's Gegnern. Im
Sommer 1733 ente daher Handel aufe Nene nacli Italien. Er wagte jetzt
in Haymarket eine Oper auf eigene Eeehnung za unternehmen. Handel
war so glficklich, neben der Signora Strada den ausgezeichneten
Sanger Giovanni Carestini m gewinnen. Auch die Signora Dur a-
stanti tarn nach zehnjahriger Abwesenheit wieder, obschon dieselbe
den Hohepunct Hirer Ktinstlerscbaft faereits ubersclnitten hatfce, und
Handel eroffnete sein Theater nun am 30. October 1733. Im Januar
1734 folgte ein neues Werk von ihm, die Oper w Ariadne". Es erscMen
wunschenswerth , beide Unternehmungen wieder zu vereinigen, da man
der Gegenoper ein baldiges Ende weissagte, Indess waren die darauf
gerichteten Bemuhungen vergeblicli. Aber auch Handel's Umstande
verschlinimerten sich fortwahrend , namentlich als der weltberuhmte
Farinelli, mitdemAdel an der Spitze, dem gegnerisohen Unternehmen
erhobten Glanz verlieh, und auch der Hof, durch Farnilienzwiste veian-
lasst, fortwahrend eine Parteistellung einnahm. Handel verliess Hay-
market, und gab seine Vorstellungen in Lincolns-Inn-Fields , spater In
Coventgarden. Aber mit der Uebersiedelung dahin verschlimmerte sich
seine Lage noch bedeutend mehr, da man Haymarket als das recht-
massige konigliche Operntheater anzusehen gewoint war. Er bracite,
ura noch andere Stutzpunete zu ge^innen, in der Fastenzeit seine
Oratorien zur Auffiihrung, und um auch Her eine Steigerung eintreten
zu lassen, fahrte er offentliche Orgelconcerte ein. Es geschah dies
zuna ersten Male zwischen den Abtheilungen der ,,Esther w im Jahre
1735. Seine Auffiihrungen wie fraher zu fallen, war ihm freilich nicht
moglich. Ueberhaupt ist es ein Irrthum, wenn man meint, dass er
auch in den spateren Jahren einen durchgreifenden allseitigen Sieg
errungen babe. Die Feindschaffcen von Seite der Italiener und der
altenglischen Partei horten auch spater nicht auf. Ein weiterer Ver-
198
lust erwuchs Handel aus dem Abgange Carestini's, weleher sich
durch Parinelli in clen Scliatten gestellt sail, und nacli beendigter
Saison England verliess. Aucli zwischen ihm und Handel soil es
niclit friedlieh abgegangen sein, da Cares tint ebenfalls anfanglich
sich geweigert hatte, eine Arie, mit der er nachlier den grussten Beifall
erlangte, zu singen. Handel soU ihm bei dieser Gelegenlieit u. A.
zugerufen. haben: ,,Sie Esel, muss ich nicht besser wissen als Sie, was
am hasten fin* Sie zu singen ist. Venn Sie nicht alle Gesange singen
wollen, die ich Ihnen gebe, so zahle ich keinen Heller". Es wurde zu
weit fiihren," die Details nock weiter zu verfolgen. Han-del verharrte
in seiner Opposition, velcha seine Yerarniung zur Folge hatte. Die
traurigen Erfahruiigen , welche er liatte machen miissen, die enormeu
Anstrengungen , batten schliesslich seine Gesundheit zerriittet. Der
Schlag riihrte ilin, lahnite seine ganze rechte Seite, und auch sogar
seine Terstandeskriifte waren niomentan in Mitleidenschaft gezogen.
Der Gebraucli der Bader zu Aachen im Sommer des Jahreg 1737 stellte
ihn -wieder her, so dass er mit erneuter Kraft auftreten konnte; aber
in den ausseren Verhaltnissen wurde dadurch keine Umanderung be-
\rirkt. Der Streit endete in allseitiger Ermattung. Uebersattigung,
ErintidiiBg hatte sich auch des Publicunis bemachtigt. Handel blieb
zivar der eigentliche Sieger, aber es konnte ihm dies jetzt wenig nutzen.
Seit 1737 hat er keine selbststiindige Opernleitung niehr ubemommen.
Zuletzt arbeitete er auf Bestellung , ohne directe Bezieliung zu den Un-
ternehinungen, hauptsiiehlich in Eucksicht auf das zu erzielende Honorar.
Auch entschloss er sich, obschon nacli langeni Widerstreben, ejn Benefiz-
concert fur sich zu veranstalten, welches ihm eine gute Einnahnie brachte.
In diese Jahre aber Mlt zugleich sein entschiedenes Lossteuern auf sein
hochstes ZieL Den epochemachenden Wendepunct bezeichnet die Com-
position seines r Alexanderfestes-' im Jahre 1736, dessen Aufflihrung auch
ein voiles Haus gewahrte, und das bei dem grossen Erfolg, welchen es
gefunden hatte, schnell allgemeine Verbreitung fand und viele Wieder-
holungen erlebte. In das Jahr 1737 geliort auch noch das Begrabniss-
antliein for die Kouigin Caroline, ebenfalls eine Yorstufe fiir seine
spatere Wirksamkeit.
Hiemiit endet dieser Abschnitt. Handel verliess die BiUme. Er
ging zwar nicht von derselben ab, er ging nur wie Chrysande'r
benierkt, HIE den Zusammenhang der fritheren Schopfungen mit den
spateren zu bezeichnen, daruber h in a us. Aber die bisherige Epoche
war doch damit "abgeschlossen. Hierniit endet zugleich der zweite
Band des Werkes, dem ich in meinen Angaben gefolgt bin. "Was das
199 -
Weitere betrifffc, muss ich mich deinnaeh nocli auf die fruheren Angaben
beschranken.
Den Gipfel seiner Meisterscliaft erreichte Handel in der Sphare,
welclier fortan bis an seinen Tod seine ganze Kraft zugewendet blieb
von diesem Zeitabschnitt an. Der ,,Messias* (1741) eroffnet die Eeihe
der grossten Scliopfungen, von denen Samson" (1742), ^Semele" (1743),
r Judas Maceabiius^ (1746), s: Josua tt (1747) vorzugsweise m betonen
sind. Die Erfolge waren jedoch anfangs auch bier diesen Leistungen,
der Bedeutung derselben nicht entsprechend; oft waren die Concerte
nur selir wenig besucM. Bei der zweiten Auffthrung des ,,Messias*
war das Hans leer. Der Konig nnd Einige seiner Umgebung sollen
die einzigen Zuhorer gewesen sein. ,,Desto besser wird's schallen' 4 ,
rneinte HaiyJ.eL Aber seine Gasse litfc darunter sehr. Jetzt wendeie
er sicli nacli Mand. In Dublin wurde der n Messias** mit Bewnnderung
aufgenornmen. Ueber acht Monate verweilte Hilndel daselbst niit
gluctlichem Erfolg, imd kehrte dann nacli London zuruck, wo er von
1742 an nocb. 17 Oratorien und Cantaten auflEuhrte. Sein letztes Ora-
torium ,,Jeplitha M setzte er 1751 als ein sclion ganzlicli Erblindeter,
acht Jahre vor seinem am Gharfreitag den 14., nacli "Winter f eld's
Angabe am 13. April 1759, erfolgten Tode. Hoch eine "Woche vorher
war die Auffutoiing eines seiner "Werke von ihni selbst geleitet worden ;
seinem Arzte batte er wenige Tage vor seinem Ende den "Wnnscli aus-
gedruckt , dass es Preitags sein moge , damit er seinem Herrn und Br-
loser am Tage seiner Auferstehung begegne. Er rulit in Westminster
unter den Grossen der Nation; seine Statte ist mit einem Mannordenk-
mal bezeicbnet.
Handel unterlag in seiner "Wirksarnkeit fur die Buhne zurn Tlieil
unwiirdigen, zura Tlieil wenigstens Gegnern, welclie sicb an kunsflerischer
Kraft nicht mit ihm messen konnten. Dessenungeachtet ist sein Fall
als eine Nothwendigkeit , als ein verdienter, niindestens als ein nicht
bios durch aussere Ereignisse bedingter, zufalliger zn bezeiclmen. Es
lebte in ihm keine hshere Idee von dein Wesen der Oper, als die da-
mals gewolinliclie, welclie durch Italien zur Geltung gebracht war.
Auch seine Opern, wie die seiner Zeitgenossen, sind, wie sclion erwahnt,
eine Eette von Arien und Kecitativen, im Ganzen obne tiefere drama-
tisclie Bedeutung. Er hatte danials allein die personliclie liohere Ge-
walt des Genies voraus, nicht eine tiefere Anschauung von dem Wesen
der Oper. Diese personliehe Gewalt des Genies allein war es, welche
ibn in einzelnen Leistungen, in einzelnen Alien hoch emporhob und
Bedeutenderes aussprechen liess, als seine Zeitgenossen vennochten.
200
Im Wesenflichen, wie gesagt, bekannte er sicli zu der danialigen
Bichtung, welche die Yirtuositat des Sangers zum Mittelpunct des
Kunstwerkes machte. Sein Fall war aueh ein Gliick fur die Ktmst
Wie melrere der spater noch zu nennenden Meister scliuf er das
Grosste und Tiefste erst im hoheren Alter, nachdem er in seiner Jugend
in der Hauptsaehe der Kichtung der Zeit, wenn schon imnaer mit
iiberwiegend edlerem Streben , Kaum gegeben hatte. Es war nicht ein
ausserer Zufall, es war innere ISfothwendigkeit , welclie diese Wendung
hervorrief. Aueli die Uebersiedelung nach England ist nicht als ein
aiisseiiiehes tuid gleicligttltiges Breigniss zu betrachten. Deutschland
war zu eng und kleinburgerHch. Handel bedtirfte dieser grossartigen
Crngebung in England, uni seine Krafte zu entfalten; England bot da-
mals Yorzugsweise den geeigneten Boden fur seine Wirksajrikeit. Gross
mid niacbtig. wie er war, liber das Gewuhnliclie hinausgehend, kolossal,
wenn auch niitunter etwas barenhaft, konnten ihm verkfimmerte Naturen,
wie sie das deutsclie Leben gewobnlicli zeigt, konnte ibm deutsclie
Englierzigkeit nicht zusagen. Dabei ist auch das religiose Moment
nicht ausser Acht zu lassen. Aiich in dieser Beziehung bot England
gerade damals das ihm Entsprechende.
Joliann Sebastian Back war geboren am 21. Marz 1685 zu
Eisenach, ein Sohn des dasigen Eof- und Stadtmusikus Johann Ain-
brosius Bach. Obgleich diese Pamilie durch mehrere Generationen
der Tonkunst zugethan gewesen, treten uns doch hervorstechende Er-
scheinungen darin nieht entgegen. Als Curiositat wird berichtet, class
der Vater Bach's einen Zwillingsbruder von so ausserordentlicher Aehn-
lichkeit hatte, dass Beider Prauen nur an der Kleidung die Manner
iinterscheiden konnten. Schon im zarten Alter, als der Knabe kaum
das zehnte Jahr erreieht hatte, traf ihn das Geschick, die Eltern zu
verlieren. Er wurde der Obhut seines altesten Bruders, Johann
Christoph, Organisten zu Ohrdruff, anvertraut, und erhielt von diesem
die erste Anleitung zuin Elavierspiel. Bald hatte er sich aller ersten
Uebungsstucke bemeistert, an denen sein Bruder ihn heranzubilden hoffte,
und wunschte Grosseres. Allein sein Bruder versagte ihm dies, insbe-
sondere ein Buch, das Ziel seiner Wunsche, worin sich Orgel- und Klavier-
stflcke yon Proberger, Kerl, Pachelbel befanden. Zwar wusste
der Kleine Bath zu schaffen. Das Buch war nur in Papier geheftet, \
und befand sich in einem mit Gitterthiiren verschlossenen Schranke;
seine Handchen langten leicht hindurch, er ergriff das Buch und schrieb
es in der" Zeit von sechs Monaten in mondhellen Nachten ab; aber
kaum hatte er seine Arbeit beendet, als der Bruder die List entdeckte,
201
und ihm die Abschrift grausamer Weise wleder wegnahm. Seine An-
strengung hatte ihm nieht nur Niehts genutzt, sondern legte aucli wahr-
scheinlich den Grand zu seiner spateren Augenkrankheit und dein da-
mit zusammenhangenden Tode. Die hauslichen Verhaltnisse seines
Bruders gestalteten sicli bald so, dass es Sebastian wunschenswerth
erseheinen "musste , sich selbststandig ein Fortkommen zn suchen. Bs
fugte sicli, dass er, im Besitze eiuer ungemein schonen Sopranstimme,
im Jalire 1700 im Chor der ilichaelisschule zn Ltaeburg Aufnahnie fand.
Doch kundigte sieh bald darauf der Bruch der Stimnae durch das eigen-
thumliche Phanonien an, dass nrit seinen Soprantonen gleichzeitig die
tiefere Octave sich horen liess. Aclit Tage lang, bei Reden und Singen,
dauerte diese Doppelstimme. dann war niclit allein sein Sopran, sondern
die Singstimme uberliaupt verloren. Wol mochte dies eine Veranlassung
sein, jetzt deni Klavier und der Orgel verdoppelten Eifer zn widmen,
Von-nicht unerheblicliem Einfluss auf Bacli's nmsikalisclien Bildungs-
gang wurde Georg Boliin, Organist an der Johanniskirche in Lime-
burg. TJin den Organist J. A. Keinken zu horen, wanderte Bach zu~
weilen nacli Hamburg, und die herzogliche Kapelle zu Celle, nieist aus
Franzosen bestehend, gab ikni Gelegenheit, den damaligen franzosisehen
Gesclimack kennen zu lernen. Im Jalire 1703 finden wir ilm als Hof-
inusikus in Weimar, im Somrner desselben Jahres als Organist in Arn-
stadt, Mer zuerst in Besitz eines Instrtimentes, welches itoi einen Spiel-
raum for sein Genie gewatrte. Sein Eifer wurde natflrlich dadurcli nodi
mehr entzundet, um so mehr, da er docli hauptsacMich auf Selbststudimn
angewiesen war. Um den lioctgescliatzten Organisten Bustehude in
Lubeck zu horen, nahm er einen Yierwochentlichen Urlaub und scheute sich
niclii, den Weg in raulier Jahreszeit, 50 Meilen weit, zu Fuss zu machen,
blieb auch langer als ihm gestattet war, fiber ein Yierteljahr lang, im
Verborgenen Zuhorer desselben, dann erst nach Arnstadt zuruckkehrend.
1707 berief ihn die thuringische Eeichsstadt Muhlhausen als Organist.
An beiden Orten war er bestrebt, die Kbrcherimusik im Geiste des ihm
vorschwebenden hoheren Ideals zu reformiren , stiess jedoch dabei. auch
vielfach auf Widersprueh, so dass Conflicte, selbst mit den vorgesetzten
Behorden, nieht ausblieben. Ton Muhlhausen reiste er im folgenden
Jahre nach Weimar, und fand Gelegenheit, sich bei Hofe horen zu lassen.
AUgemeine Bewunderung und der Antrag einer Stelle als Hof- und
Eamrnerorganist, die er sofort annahm, war die Folge. Dort verweilte
er neun Jahre, seit 1715 mit dem Titel eines herzoglichen Concert-
meisters. Auch mit HaJle wurden eine Zeitlang Unterhandlungen gepflogen,
die sich jedoch zerschlugen. Sein Ruhm als Orgelkunstier war jetzt schon
202
ein weit verbreiteter ; ein Vorfall im Jahr 1717 trag dazu bei, diesen
noch zu erliohen. Um diese Zeit befaad sich der koniglich franzosische
Hoforganist J. L. March and in Dresden, und war bei Hof als Klavier-
spieler mit so grossem Beifall aufgetreten, dass ilroi ein Engagement
mit bedeutender Besoldung angeboten wtirde. Bei einein zufalligen Aufent-
halte in Dresden hatte auch Bach Gelegenheit, vor Kunstlern'und Kunst-
freunden sicli lioren zu lassen. Es entspann sicli ein lebhafter Stroit,
weleher von Beiden der Grossere seL Eine starke Partei aus den Hof-
kreisen stand, da der Kurfiirst franzosische Kunst sehr liebte, auf
March and's Seite, wahrend fur Bach vorzngsweise die deutschen
Kunstler der Hofkapelle eintraten. Dieser wurde endlich dureli seine
Freunde angegangen, March and zu einera "\Vettstreite herauszufordern.
Er that dies, nachdem ihm Gelegenheit yerschafft war, seinen bei Hofe
spielenden Gegner imbemerkt zu liuren, auf schriftlichem Wege, indem
er sich bereit erklarte, auf jede ihm von March and gestellte Aufgabe
einzugehen, vorausgesetzt, dass dieser seinerseits ein Gleiches verspreche.
Marchand nahm die Ausforderung an, Tag und Stundo wurden fesfc-
gesetzt, eine glanzende Gesellschaft hatte sich in dem Hause eines
nicht genannten angesehenen Mannes '(wahrscheinlich des musikliebenden
Ministers Grafen E lemming) versammelt. Bach war gegenwiirtig,
March a Ed dagegen erschien nicht; man erkundigte sich und erfuhr,
dass derselbe 5 ,bei friiher Tageszeit mit der geschwinden Post aus Dres-
den Yerschwnnden sei". Er war im sieheren Vorgefuhl seiner Nieder-
lage dem Kampfe aus dem "\Vege gegangen; Bach spielte nun allein.
Um eben diese Zeit erhielt er eine Einladung von dem Fursten von Anhalt-
Cothen, eineni grossen Musikfreund, als Kapellmeister. Er nahm dieselbe
an, und blieb in "dieser Stellung sechs Jahre, nur mit der Unterbrechung
einer Eeise nach Hamburg iin Jahre 1720, wo er zu aUgenfeiner Be-
wunderung als Orgelspieler auftrat. Endlich, im Jahre 1723, trat Bach in
das Amt ein, in welch em. er bis an seinen Tod verharrte. Der vor Kurzem
geflannte Kuhnau war am 25. Juni 1722 gestorben; Bach folgte ihm
am 30. Mai 1723 als Cantor und Musikdirector zu Leipzig. An diesem
Tage fuhrte er die erste Musik in der Mcolaikirche auf; zugleich wurde
ihm, wenn auch nur theilweise, das Directorium der Musik in der akade-
ndschen Eirclie iibertra'gen. Bald naeh dem Antritt des neuen Amtes
starb auch der Ftirst von Gothen; das frtihere, trotz Bach's ortlicher Ent-
fernung von Cothen noch bestehende Verhaltniss hatte also jedenfalls
eine Stoning erlitten. Hier in Leipzig entfaltete nun Bach bekanntlich
die Hauptthatigkeit seines Lebens. Eine kraftige Unterstutzung seiner
"Wirksarnkeit fand er durch den Superintendent Salomon Deyling, einen
203
Mann, dessen von den Zeitgenossen rfihmlichst gedacht wird. Dieser und
Bach waren 27 Jahre Mndurch bestrebt, soviel sie vermocliten, die kirch-
liclie Peier zu beleben, Predigt und Eunstgesang in Yerbindung zu bringen,
uberhaupt den Gottesdienst zn schmucken. Das Yerhaltniss an der Tlionias-
scliule zu den Eectoren derselben war dagegen nur kurzere Zeit ein giin-
stiges. Einer derselben, Joliann Matthias Gessner, war sein Freund,
der spatere Joliann August Ernesti jedoch scliatzte die Tonkunst
gering. Mannigfaclie Eeibungen, wie sie in solchen Yerhaltnissen an
Scliulen sich haufig und aueh nocli gegenwartig find en, niogen vorge-
kommen sein. Es scheint, dass der sachsische Hof in der Absieht ihni
1736 den Titel eines koniglich polnisehen und turfurstlich sSchsischen
Hofcompositeurs beilegte, um^ Bach in seiner Stellung deni Rector
gegenuber zu heben. Unser Meister war nach alien Seiten Mn thatig.
Im Jahre 1727 fuhrte er ein TVerk zmn Geburtstage des Kurfursfcen, der
in Leipzig anwesend war, auf. Die Peier der Uebergabe der Augsburgi-
schen Confession 1730 gab ihm ebenfalls Gelegenheit, init seiner Eunst
hervorzutreten. Uin das Jahr 1736 finden wir wochentlich zwei Concerte
in Leipzig, deren einem, welches an jedeni Preitag Abends von 8 10
Uhr, wahrend der Messen auch Dienstags, im Zimmermann'schen Kaffee-
hause auf der Eatharinenstrasse statthatte, Bach vorstand. Die Aus-
ftihrenden waren meist Studirende, deren Rohlieit man durct Kunstubung
zu inildern suchte. Die Mitwirkung derselben war aber aucli nothwendig,
denn mit den tibrigen Kraften, welche zu Gebote standen, sah es sein-
misslich aus. In deni ? ,Entwuif einer wohlbestallten Kirchenniusik*%
einer Eingabe, welche Bach 1730 rnaehte, fordert er zu einer voll-
standigen Eorehenniusik 56 Personen, 36 Sanger und 20 Instrumen-
tisten. Unter seinen Thonianern befanden sich jedoch nur 17 als Sanger
zu Gebrauchende , und Instramentisten hatte er nur 8, 4 Stadtpfeifer,
3 Kunstgeiger und 1 Gesellen, ,.von deren Qualitaten und musika-
lischen Wissenschaften etwas nach der "Wahrheit zu erwahnen" ihm
die Bescheidenheit nicht gestattefce. Bach konnte nur wirken durch
ehrenden Beifall, Zuvorkomnaenheit, Eifer for die Saelie, denn die Mattel,
welche die Stadt aufwandte, waren sehr gering. Aucli Conflicts mit
der vorgesetzten Behorde, wie sie in ahnlicher Weise schon friiher vorge-
konmien waren, wiederholten sich. Bach's Streben war eben ein hoheres,
das nicht ausreichend verstanden und gewiirdigt wurde, der Endzweck
desselben, den Forderungen der Kirche an* die Musik ini weitesten Sinne
Gentige zu leisten. Noch will ich erwahnen, dass danials In Leipzig
eine musikalische Gesellschaft bestand, welcher Bach als Mtglied bei-
trat. Der Grunder derselben war Lorenz Ghristoph Mizler, der seit
004 .
1738 Mer feine musikalisehe Zeitschrift imter dem Titel ,,MusikaIiscIie
Bibliothek" herausgab. fin Jahre 1747 erfulir Bach erne Auszeich-
nung, welclie seine letzten Lebensjahre verschonte. Er wurde vonFrie-
drich dem Grossen nach Potsdam eingeladen. Der Kordg hatte
wiecleiiiolt seinen Wunsch, ilin kennen zu lernen, gegen Bach's zweiten
Soln Pliilipp Emanuel, der in dessen Diensten stand, geaussert.
Friedrich empfing Ilm sogielch bei seiner Ankunffc, ffihrte ihn iin
Schlosse herum, und zeigte ilmi die aufgestellten Silbermann'schen
Pianofortes; Sebastian musste alle 'versuehen und sich in freier Phan-
tasie auf ilinen horen lassen, in Gegenwart der Kapellisten, welche sicl
der "Wanderung angesctlossen batten, aucli ein ihm gegebenes Fugen-
tliema musste er bearbeiten, dessen naliere Ansfiilirang er dem Konig in
Jem Werke ,.Musikalisclies Opfer- f darbrachte, Diese Keise war der
letzte Lichtpunct in seinem Leben ; clenn nun folgten Kummer und Leid.
Dass seine Augen sekon in firuher Jugend gelitten batten, liabe ieb er-
wahnt ; spater war diese Schwache noch durch. aulialtendes Arbeiten, na-
mentlicli durch eigenes Graviren seiner "Werke in Kupfer, verinehrt
worden. Erblindung war zu beflircliten, und so musste zu einer Ope-
ration gescliritten warden, welche zweimal missgluckte, wirkKche Erblin-
dung ZHT Folge hatte, und aucli die feste Gestmdheit Bach's durch
tlen Gebrauch gewaltsamer Arzneroiittel erschutterte. Ein sechsmonat-
llches Siechthum folgte, und endlich der Tod, am 30. Juli 1750, nach
anderen Angaben am 28. desselben llonats, Abends ein Viertel auf neun
Ulir. Bis zu seinem Lebenseude war er untmterbrochen thatig gewesen,
raid hatte, wie Handel, die Ideen, die ihn bescbaffcigten, in die Feder
dictirt Bach hatte in zwei Ehen gelebt und zwanzig Kinder erzeugt;
in Jer ersten Ehe zwei Tocliter und ftinf Sohne, darunter Wilhelm
Frieclemann und Carl Philipp Emanuel, bekannt unter den
Nam en des Halleschen und Hamburger Bach; in der zweiten Bite sieben
Tochter und sechs Soline, darunter Johann Christoph Friedrich,
der Buckeburger, und Johann Christian, der "Londoner.
Ich beschliesse die heutige Vorlesung mit der sclion erwahnten
Charakteristik Handel's und Bach's von Fr. Rochlitz.
,,Die Lebensgeschichte Handel's und Bach's, auch nur so ge-
schrieben, wie wir die erste von Burney, die zweite von Fork el be-
sitzen, gewahrt, besonders die eine der anderen gegenubergestellt, ein
grosses Interesse; sie gewahii es selbst Denen, die sonst an Musik und
Musikern wenig Antheil nebinen, wenn sie nur mit Sinn zu lesen wissen,
was nicht inuner mit Sinn ausgesprochen , sondern nur ehrlieh und
fleissig berichtet wordenist.
205
Handel und Bach, geboren fast -in einem Momenta, Beide in
hohen Mannesjahren verstorben, kraftig und thatig fast bis znm letzten
Lebenshauche, Beide Sachsen, Beide auch an Korper grosse, gewaltige,
eisenfeste Manner. Bei Beiden drangt sich das emlnente Musiktalent
schon in fruhen Einderjahren unwiderstehlich hervor; Beide eiiangen
schon in der Knabenzeit, und gar nicht naeh dem gewohnlichen Gange
raenschlicher Dinge, einen grundfichen und strengen Untenicht im Theo-
retischen und Praktischen ihrer Eunst, Beide von ausgezeichneten Orga-
nisten, und Beide, um gleichfalls ausgezeichnete Organisten m werden.
Beide gelangen spater, und wieder nicht nacli gewdhniichem Lauf der
Dinge, zu einem viel mehr umfassenden, hoheren Beruf, werden weit
und breit bertthmt, auch von verschiedenen der grossten Fiirsten iirer
Zeit aehtungsvoll ausgezeichnet; Beide erkennen das danibar, lassen sich
aber dadurcli auch nicht um eia Haar yon der Art ihrer rorlaerigen
Kunstthatigkeit verlocken. Beide zieht es nach alien wtirdigen, damals
flblichen Gattungen und Ponnen iln*er Eunst f Beide arbeiten auch ffir
alle, aber Beide eignen und widmen sich vor AHem dem Brhabenen,
Grossen, Keichen ? Vollgesattigten, und zwar am liebsten, dieses ange-
wandt auf religiose Gegenstande und for religiose Zwecke. Beide siad
Manner streng rechtlich, gradans, und mit Geist und Seele auch
ihrein Chilstenglauben anhangend, Beide sogar Letztes in hoheren Lebens-
jahren nach gewissen halbdunkeln, aber grossartigen Ansichten dieses
Glaubens, doch aber entziehen sich Beide darum keineswegs ihren welt-
lichen oder btii-gerlichen Verhaltnissen und Geschaften. Beide erblinden
im Alter, ohne deshalb ihrer Eunst. sogar auch dichtend, untreu zu
werden ; Beide entschlafen ruhig und gottergeben, von ihren Zeitgenossen
wenig verstanden, aber geehrt und respectirt, erst von der Nachwelt
gefasst und gehuldigt nicht wenig Aehnliches; und doch so ginz-
lich verschieden.
Handel's unruhiger, leidenschaftlcher Geist , der von fruh an
Mnaus zum Weit en und Fremden di'angte, warf ihn schon aly Jungling
ins Gewuhl der Welt, und er gefiel sich daiin bis fiber die Halfte seines
Lebens; er gefiel sich dark, mochte es da zu streiten oder zu lieben,
zu erobern oder zu behaupten gelten. Ales, was iiber das Gewohnliehe
MnauBgeht, was Menschen ergreift, Menschen beherrscht, wollte er kennen
lernen, wie im Leben, BO in seiner Eunst ; von AHem Gewinn ziehen fur
Geist und Charakter, ohne sich irgend Einem zu unterwerfen. Er mochte
immer am liebsten mit Massen des Yolks, miter dem er lebte, zu thun
haben; gera auch mit Grossen, die ein Yolk regieren; ihn selbst regie-
ren sollten aber weder die Einen noch die Anderen ; dafur wollte er jedoch
206
freiwillig ihnen mit aller Treue dienen. An Allem und mit Allem wollte
er sich yersuchen, im Leben und in seiner Kunst; Alles in eigene Er-
fateing bringen. Er liess nicht ab und setzte es (lurch, wie kaum
irgend Einer seines Gleichen: er machte die vielfaltigsten Erfahrungen,
hochst freudige und liochst schmerzliche. Nun erst, in gesattigter Fulle
der Manneskraft, fing er an, Abreclinung zu halten, Abrechnung mit
sich und den Dingen ; und nun wahlte er, was seinein. gesammten "Wesen
am volltonimensten sich eignete, und blieb fortan ihm treu bis zuin Tode,
erreichte aber aucli darin, nur sicli selbst gleicli, was Keiner, weder
vor nodi naeli ihm, erreicht hat. Er blieb unvermahlt, starb reich und
rulit in der Westroinsterabtei unter prachtvollem Monuraente. Sein Leben
hat durchaus etwas Heroisclies.
Dagegen Bach! Seit diesem nur erst das Gluck widerfahren, als
Organist angestellt zu sein in Arnstadt, mit siebenzig bis achtzig
Thalern jahrlichen Gehalts, so fand er seine Ansprtiche erfiillt Er be-
warb sich urn teinen hoheren Posten, sondern folgte nur jedeni Eufe,
der ungesucht ihm zukam, um ihn als ein Geschenk der Vorsehung an-
sehen zu konnen. In jedem neu erlangten Amte war nur sein Streben,
es anfs MSgliehste zu erfullen. Diesem bequemte er sogar seine dichte-
rischen Gaben an. So schrieb er als Organist Orgelstucke, als weima-
rischer Eirchencompositeur Psalmen und geistliche Cantaten, als Musik-
director der Hauptkirehen Leipzigs seine grossen yielstiinmigen, schwie-
rigen, gelekien TTerke; jene Werke, welche so oft uns in den Fall
setzen, dass der Sussere Sinn, durch welchen diese Kunst eingeht
ist er auch ausserst getibt nicht mehr ausreicht, sondern dass wir,
soil Jeiles an ihnen gefasst und gewurdigt werden, wie bei den Haupfr-
werken antiker Bildhauerei einen zweiten zu Htilfe nehmen mtissen
hier den Tast-, dort den Gesichtssinn. Nicht selten verlangten Konige
und Ftrsten ihn zu horen: dann ging er hin, bescheidentlich, that ihren
"Willen, und kehrte ebenso bescheidentlich, auch vollkonunen zufrieden,
in sein enges Haus zuriick. Dass er der grosste Orgelvirtuos der Welt
sei, musste er wol wissen: es war allzu offenbar und auch liberal! ein-
gestanden; dass Yirtuositat auf der Orgel damals eben das war, was
vom Praktischen in der Musik hervorzulieben und reich zu belohnen,
besonders in Frankreich, England und Holland, zu guter Sitte und feinem
Ton gelorte, das wusste Jedemiann ohne alien Zweifel er auch,
gleichwol ist ihm niemals auch nur der Gedanke oder Wunsch gekom-
men, einen Fuss liber sein Vaterland hinauszusetzen. Er lebte von frflh
an verhekathet, erzeugte eine ganze Colonie von Kindern, starb arm und
207
ruM auf unserein Friedhofe, Memand weiss, wo? Sein Leben hat
clurcliaus etwas Patriarehalisches*'.
Die Versehiedenlieit Beider als Kunstler ini Grossen und Ganzen
bezeichnet Eoclilitz selir treffend mit folgenden "Worten:
Was Handel zu bearbeiten slch vorgesetzt, das ward vor ilim.
iin vollesten Maasse lebendig; er sah es, als eben In cler Welt vor-
geliend: und wie es sowar, wie es so verging, in Tonen darzustellen;
dass es aueli vor dem empfanglichen und achtsamen Zuhorer lebendig,
anschaulich, vorgehend wiirde, und der Zuliorer es gleiehsana mitdiirch-
lebte: das war sein regstes Bestreben, das sein herrlichstes Eigentlium,
wie es Eeiner ilim gleicli, ja aucli nur ahnlich, besessen hat. Dieses
sein Eigenthmn vollkommen geltend zu inaclien und durcli die "Wirkung
bewalrt zu sein, gelang Han del' n auch dadurch, dass er daran genug
liatte nichts weiter hinznthat, nicht daran kunstelte, sondern nur
atifs Treffendste und Entschiedenste es darlegen wollte; dass er lieber
z. B. all seine* Kunstgelehrsamkeit veiieugnete, um nicht etwa durcli
Ueberladung des BEcles oder durcli Zerstreuung der Interessen des Zu-
liorers seinem Hauptstreben zu scliaclen. 1st dieses Yerleugnen scliwierig
fiberall, und eine Art Opfer, der guten Sadie dargebracht: so ist es
aucli um so verdienstlicher, und gescMelit es bei solclien Ausinalungen
in Tonen nur allzuleiclit, dass man des Einzelnen niclit satt wird und
sich im Kleinen verliert: so ist es ion so preiswfirdiger, class Handel,
was er ergreift, stets im Grossen fas&i und also, docli aber oline Einkag
der Bestimmtheit, ausbreitet. Dagegen, was Bach zu bearbeiten fiber-
nahm, wurde allerdings aucli lebendig aber in ilim; er fiih.lt e es
in seiiuem bewegten Geniuth; und wie er es da fuilte eben Er, wie
er war , also in Tonen es auszudrucken, dass es auch in dem
Gemnthe des empfangliehen, achtsamen Zuiorers lebendig wtirde und
er es mitfuhlte: das war sein regstes Bestreben. Hieraus ergab sieh
nun ganz naturlich, dass er fur diesen seinen Zweck gar niclit genug
oder doch nie zu viel glaubte thun zu konnen; ausser, wo ganz beson-
dere Veranlassungen ihn zu Abweichungen und Beschrankungen seiner
selbst bewogen."
Dies sind die Worte von Eochlitz. Sie sind geeignet, wie ge-
sagt, durch ihre Anschaulichkeit Ihnen das Bild b eider Manner naher
vor xiugen zu sfcellen.
In der nachsten Vorlesung haben wir Beiden und den "Werken der-
selben noch. eine etwas eingehendere Betraclitung zu widrneru
Elfte Vorlesung,
Handel und Sebastian Bach, Charakteristik Beider. Allgenieine Betrachtungen iiber
das richtige Verstandniss insbesondere Bach's und die moderne Ueberarbeitung
'alterer Werke. Der Wendepunct in der Geschichte der deutsclien Husik.
Nachdem ich in der letzten Stunde das Bild Bach's und Handel's
in den allgemeinsten Umrissen Dinen gezeiclinet habe, kommt es heute
tlarauf an, demselben noch eine etwas genauere Ausfahmng zu geben.
Sclion wahrend der Zeit seines Hamburger Aufenthaltes hatte sich
Handel, wie Sie wissen, in der dramatischen Bearbeitung geistlicher
Stoffe versuclit Zwischen diesen ersten Anfengen und den spateren
Meisterschopfongen Kegt eine langere Eeihe yon Jabien, welche Handel
fast ausschliesslich seiner Thatigkeit im Pache der Oper widinete. Es
war dies ein Durcligangspnnct fur ilin, es war eine Entwicklungsstufe,
welche er clurchlaufen musste, um ausreicliend vorbereitet nnd mit Er-
fak'ungen ausgerflstet seine Lebensaufgabe zu erfassen. Auch nicM mit
einem Male hat Handel die spatere Eiclitung eingeschlagen ; seine ersten
Oratorien stehen nodi in naierem Zusammenhange mit seinen theatra-
lischen Arbeiten. Dieser Umstand ist von entscheidendster WicMigkeit
fur die Auffassung und Benrtheilung der Handel'sclien Werke sowol,
wie cles Oratoriums uberhaupt. Das Oratorium ist, meiner Ansicht nacli,
entscMeden als eine Vorstufe for die spatere Oper zu betrachten. Es
entstand zu einer Zeit, wo die Oper zmn hoheren, bleibenden Kunstwerth
Bich nocli nicM emporgeschwungen hatte, wo dieselbe nur ein flflchtiges
Product der Mode war. Der tiefere Geist nun bemachtigte sich dieser
Form, ton das, was auf der Biilme auszusprechen noch "unmoglich war,
Mer zur Erscheinung zu bringen. Nehmen wir Mnzu, dass damals noch
die religiose Anschauung das gesammte Dasein durchdrang, dass alles
Grossere und Tiefere diesem Boden entkeimte, so erhellt zugleich, warum
209
vorzugsweise bibllsche Gegenstande seinen Inhalt bildeten. Man sucMe
alles iiber das Gewohnliclie Hinausgeliende yorzugsweise in dieser Sphare ;
der freie, weltliclte Standpunct for das musikaliselie Drama war noci.
nicM gefunden, jener Standpunct, auf welchem das heitere Biihnenspfel
zugleich eine eben so entsprecliende Offenbarung des absoluten Geistes
1st. Die Oratorien, als geistliche musikaKscbe Dramen der Bfihne be-
stimmt, sollten durcli erMMe Wirksamkeit des Chores einen Ernst, eine
Feierliclikeit erhalten, die sie von den Prodncten der Mode auf diesem
Gebiet, Yon den Darstellungen weltllehen Inhalts, so grossartige einzelne
Scenen darin sieh ancli bin nnd wieder, nainentlieh bei Handel, vor-
fanden, unterselieide , zugleich der Tragodie der Alten nahere. Die
Oratorien vertraten in jener Zeit, wo es nocli kelne grosse, beroiscte
Oper gab, diese Gattung. Una das Buinenspiel zu ersetzen, bemerkt
v. "Winter feld, wurde es nun Aufgabe des Tomneisters, seine Ton-
bilder um so scharfer, anscbaulicber auszugestalten, wobei ilim nebenher
zu Statten kam, dass er, in den Choren zumal, Manches nun kunstreiclier
und breiter ausfubxen durfte, als es die Raseliheit einer Bulinenauf-
fiilirung erlaubt haben wurde, als es uberbaupt auch in soldier Gestalt
in dein Gedaclitniss der Sanger und Spieler hatte haften konnen. Daher
in Handel's folgenclen, wenn aucb durcli seine Dicbter dramatisch
gefassten Oratorien, bei vielen Choren und anderen Gesangen jene
episcbe Breite, ein Wort, das hier keineswegs als Tadel ausgesprochen
sein, sondern eine wabrhaft neue Art yon Scbopfangen , eine neue
Gattung, bezeichnen soil, die In rein musikalisclier Beziehung natfirlicli
nun ein weit Grosseres gewabxt, als bei dem Znsannnenwirken aller
Kiinste moglicb. gewesen ware, und dadurci fur die feblende Bulmen-
malerei, den Prank der Aufzuge und Heidungen, den Zauber der
grosseren Mannigfaltigkeit entscMdigen muss. Handel wurde so nach
einer Seite bin gedrangt, welehe ibni nrsprunglich nocli ziemlicb fern
gelegen hatte. Diese Oratorien waren aueh etwas ganz Anderes, als
was man fruher unter diesero. Nainen bezeiclmete. Die Melirzabl der
HandeTscben Werke stellt uns Begebenlaeiten aus den Bucliera des
Alten Testaments in dramatischer Form dar; anclere, wie ? ,Semele i ,
5) Acis und Galathea", ,,Hercules", neigen sich der Oper zu; wieder andere,
wie das , 5 Alexanderfest'% bEden eine Mittelgattung ; zwei Werke aber
treten der Form zufolge or alien anderen Haeraus : .,Israel in Aegypten"
und die Krone seiner ScMpfungen : der 5 ,Messias a . Diese Werke ruhen
nicM auf freien Dichtungen, sondern besteben aus einer Eeihe grossartig
zusammengestellter Schriffcspruche. Hier bat sieh Handel am weitesten
Ton dern opernartigen Ursprung des Oratoriums entfenit, Her bat er
14
210
am EntscHedensten das kirchlicl- religiose Gebiet betreten, Her hat er
auf das Bestnnmteste das "Wesen der neuen, urspriinglich ihm ferner
liegenden Riehtung ergriffen.
Betracliten wir jetzt das Bild Handel's, wie es sieh uns dem
eben Mitgetheilten zufolge darstellt, so erblicken wir eine Personlichkeit
Toll gewaltiger Kraft, wesentlich zugewendet dem Grossen und Erhabe-
aen, wie es in den Geschichten des Alten und Neuen Testaments zur
Erseheinung gekoramen ist; eine Personlichkeyr aber, die nicht melir
urngrenzt wird YOU dem kirchlich-religiosen Standpunct im engeren Stone,
niclit ausschliessHch diesem sicli hingiebt, im Gegentlieil eine rein
menscliliche Personliehkeit, for die das kirchlich- religiose Element
nur nocli den Hintergrund bildet. Alle hohere menschliclie Kraft ruht
auf jener Basis. Dies der Grand der zuin Tlxeil nocli vorhandenen
ktrclilichen Parbung. Aucli die Gescliicliten des Alten Testaments mit
iibervriegend weltlicliem Inlialt nmgab damals nocli ein gewisser religioser
Nimbus. Handel schritt jedoch innerlicli schon aus dieser Spliare "her-
ans und hat darum keine Kirclienniusik im engeren, specielleren Sinne ge-
schrieben. Er ftihxte die Tonkunst lieraus aus dieser ihrer Abgesclilos-
senlieit, und machte das dort Gewonnene zum Ausdrucksmittel fiir eine
edlere "\Veltlichkeit. So, moclite man sagen, leilit er der ganzen aus
den kirchliclien Scliranken befreiten, in freier Anbetung sich neigenden
MenschMt seine Stimnie. Daher das Gesunde und Urkraftige in ilina,
das Grosse und ilachtige, das Typische; es ist, als ob sicli die Brust
erweitere bei seinen Tonen. Das augeblicb. Earchliclie liegt in der Grosse
und Geimlt, womlt er seinen Gegenstand erfasst, in der Holieit, womit
er auch rein Weltliclies ergreift, es ist die Inhere Wabrheit des "Welt-
lichen, die er zur Geltung bringt, das Ewige darin, wahrend vorher
dieses Gebiet (iberwiegend nur das Vergangliche, Modische abgespiegelt
hatte. Handel liatte durcli die eigentliumliclien Phasen seiner Ent-
wicklung hindurcb endlieli den ibni gemassen Ausdruck gefunden; diese
Form ist ilini eigenthumlich. ; sie ist die Offenbarung seiner Personlich-
keit. Selbst im ,,Messias" ist er niclit streng Mrclilich ; wolil aber darf
man sagen, aus keinem anderen Grunde, als well er die enger gezogenen
Grenzen sfcrenger Kirchlicbkeit darin schon durchbrochen, well er eine
Hoke der Anschauung erreicht hat, Yor der jede Schranke fallt. Es ist
die ewige That der Erlosung dargestellt in ewigen Tonen, in einer
Weise, die YOU jeder Besonderheit der Auffassung befreit, sich tiber die
Beschranktheit einer Zeitepoche erhebt t eine ? ,Cantate des gesammten
Menschengeschlechts", fur alle Zeit dieselbe. Wir erblicken sonach die
Eigenthiinilichkeit Handel's in dieser Weltliches und Geistliches ver-
soknenden Richtung, wir sehen durch ilin den ScMtt vollbracht zur
wahrhaft grossen Oper Mn ? aber wir finden ihn durch. aussere Veran-
lassung auf einen anderen Weg gedrangt, wodureh er sich eine ebenfalls
neue und einzige Stellung erringt. Was ihm in Hinblick auf seine
grossen Nachfolger, zunachst auf Glue k, feHt, das ersetzt er durch
den sicli zum Epos Mnneigenden Stil seiner Werke, durch die iiber alle
Buhnenschranken weit hinausragende Erhabenheit seiner DarsteHung.
Welche Folgerungen sich an diese Bestimmungen knupfen, dies
Mer auszusprechen, ist noch nicht der Ort. Nur so viel sei erwakat,
dass icli allerdings das Oratorium als eine Kunstgattung betrachte,
welcher, wenigstens in der Mheren Gestalt, eine Zukunft nicht bevor-
steht. Das Oratorium hat die Bestimniung, in der Oper aufzugehen,
wie es auch im gesehichtlichen Fortgang der Fall gewesen ist. Soil
diese mehr epische Kichtung der dramatischen der Oper gegenuber
noch bestehen, so hat die alte Form wesentliehe Umgestaltungen zu
erleiden, bedingt durch den rein weltlichen Inhalt, den das Oratorium
in der Gegenwart Torzugsweise sich zu eigen machen muss. Ich deute
dies bier nur an, da ich spater noch einmal darauf zu sprechen komme.
Betrachten wir jetzt, bevor ich welter ghe, zunachst Bach.
Zeigte sich der eben besprocliene Meister zu der ikm vorausgegan-
genen Entwicklung auf dem Gebiet der protestantischen Errchenmusik
in einer bei weitem freieren, auch j&remde Einfiusse in sieh aufnehmen-
den Stellung, so erblicken wir bei seinem grossen ISiebennianne, der uns
jetzt beschaftigt, im Gegensatz hierzu, einen irmigen Anschluss an das
Vorausgegangene, nicht bios insoweit ? als er fremde Einwirkungen von
sich abweist, nicht bios insoweit, als er von dem Geiste der deut-
schen Yorzeit ausschliesslich genahrt erscheint; Bach beschliesst die
bislier besprochene Entfaltung, er ist als letztes Glied dieser Kette zu
betrachten, er tritt unmittelbar ein in die Entwieklung, und dies nieht
aUein als kunstreich auggestaltender Tonsetzer, nach welcher Seite Ilin
er vorzugsweise gekarmt ist, auch als SSnger geistlicher Liedweisen,
und erfasste demnaeh die Aufgabe ganz im Geiste der Mheren Kunstier
auf dem Gebiet des evangelisehen Eorchengesanges. v. Winter f eld im
dritten Bande seines Werkes hat daruber ausfuhrliche Untersuchungen
angestellt, und bezeichnet ihn als den Urheber einer grossen Anzahl yon
Singweisen, die, wenn sie auch nicht mehr das Yolksmassige, wie in den
fruheren Jahrhunderten, besitzen, doch das Streben nach allgemeiner
Verstandlichkeit zeigen, ein das Gemeingefahl Yieler ansprechendes,
die Yerbreitung der Weisen sicherndes Element enthalten. Yon seiner
Thatigkeit als Setzer giebt er in seinen ^Yierstimmigen Choralgesangen 44 ,
welche ain fruhesten, in den Jahren 1765 und 1769, ersebienen, zu-
letzt im Jahre 1843 von C. P. Becker wieder lierausgegeben worden
sind, einen Beleg. Hier, bei der harmonischen Entfaltung geistlicher
liedweisen, gewinnen wir ebenfalls die Ansebauung, ?5 in welch mrk-
samera Zusammenhange er mit seiner Yorzeit gestanden, dass er sie
kunstlerisch durchschaut, mit Preiheit auf ihren Vorbildern fortgebaut
hat", so dass Z alter mit Kecht gegen Goethe sagen konnte, dass
von Luther bis auf Sebastian Bach die echte Tradition der Kir-
chentone sicli fortgepflanzt habe. Nur nach Seite der rhythniischen Aus-
gestaltung liin lasst sich nicht ein Gleiches sagen; w Mer erweckt er
niclit, wie dort, den Geist seiner Yorzeit, zugleich der reichen Mannig-
faltigkeit der Mittel sich bedienend, die ihm seine Gegenwart bietet;
er empfSngt die auf ihn forfcgeerbten Melodien als ein Qegebenes, wie der
Geschniack seiner immittelbaren YorgSnger sie zugestutzt hat, doch mit
dem Yorbehalte, selbst iin Geschniack seiner Zeit und nach Maassgabe
eigener Knnstzwecke an ihnen zu modeln. Bis m seinen Tagen bin
war der yormalige Keichthnin rhythniischer Verhaltnisse in den alten
geistlichen Melodien ganz dem Gedachtniss der Mitlebenden entschwun-
den, zranal jener rhythmsche Weehsel, der ein so eigenthurnliches
Leben ihnen rerliehen hatte". Bach dichtete, was diese Anfgaben
betrifft, nach v. "Winterfeld's Ausdruck, im Geiste einer ihm schon
fremden Zeit, in einem Geiste, der nicht ein zuerst in ihm erwachter,
ein schon angeeigneter war; er steht diesen Anfgaben gegentiber mit
reicheren Kunstmitteln , dem Gewinn eines Jahrhunderts, aber nicht
mehr in dem friiheren lebendigen Zusammenliange. Bemerkenswerth
aber ist, dass er weit mehr als yiele seiner Yorganger auch in seinen
kimstreicheren Werken dem Choral Zugang gestattete, nnd es deutet
auch dies auf ein wieder uberwiegendes innigeres Yerstandniss der
Yorzeit. Ich habe im Yerhaltniss zu den mir gesteckten Grenzen
dieser Thatigkeit Bach's etwas ausftihiiicher gedacht, weil sie die am
wenigsten gekannte, diese Kesultate des oft genannten ausgezeichneten
Forschers weiteren Kreisen noch gar nicht zuganglich sind. Ein
Gebiet, worauf die Meisten bei weitem heimischer, betreten wir, wenn
wir Bach's allgemeine "Wirksamkeit auf dem Gebiete der protestan-
tischen Kirclienmusik betrachten. Hier siud es zimachst dessen acht-
und ftrafstimmige Motetten, seine Cantaten fur verschiedene Sonn und
Festtage, diese in so grosser Anzahl, dass mehrere Jahrgange aus den-
selben zusainmengestellt werden konnten, seine erst in neuerer Zeit
allgemeiner bekannt gewordenen grossen Passionsmusiken nach Mat-
thaus und Johannes, endlich seine funfstimmige Messe in H-Moll, ob-
213
Diese Hesse ist unter alien derartigen Wei-ken das grdsste, eines der
grossten des Meisters uberhaupi Leipzig hatte in jener Zeit Manclies
aus dem Gottesdienste der alten Erche beibehalten, und so erklart
sich wol, wie Bacli zu dem lateimselien Text der ilesse kam, obsehon
die Composition bei ihrem grossen Umfang kaum zur Auffuhrung beim
Gottesdienst geeignet war. Das Kyrie und Gloria liat er ausserdem
1733 for den Dresdner Eof componirt, urn den Titel eines kurfl sachs.
Hofcompositeurs zu erlangen, und dieser Umstand war demnach eine
zweite Yeranlassnng far ihn. Bei weitem mehr als Handel aber ist
Bach in alien Gattnngen tbatig gewesen, in einer Ausdehnung, dass
uns erst in neuerer und neuester Zeit diese Pulle melir nnd mehr zu-
ganglich geworden ist. Handel besclirankte sieb in seiner reiferen
Zeit vorzngsweise auf das Oratorium; wir besitzen aucl treffHclie
Instrumentalwerke von ihm. aber doch Ton weit geringerer Ausdehnung.
Bach bat sicli nacb alien Seiten bin wirksam erwiesen, uberall gross
nnd bedeutend, das Alte abscbliessend, far Xenes die Babn brecliend.
In alien Gebieten ist er von Einfluss und thatig gewesen. Wir besitzen
von ilim Werke for Klavier, Orgel, Yioline, Klavier und Yioline,
Orcbester, Concerte far einen, zwei, drei Mugel, Siiiten far Orchester
u. s. w. Deni Instrnmentbaii sogar wendete er seine Aufnierksamkeit
zu, so wie aucli an seinen Werken sicli zuerst in mnfassenderer Weise
die musikalisclie Tlieorie entwickelt hat. Was die Passionsmusiken
betrifft, so sind diese durcb das musikalische Drama jener Zeit enfc-
standen, sie baben sich an ihm lieraufgebildet, obschon lange vor Bach
derartige Werke Eingang geftmden batten. Hier aber linden wir unter
dem Einfluss des neu Entstandenen die Fortbildimg der alteren Form,
Die ersten Passionsmusiken datiren - aus der zweiten Halfte des
16- Jahrbunderts. v. Winterfeld giebt die Beschreibung eines derartigen
Werkes von einem gewissen Bartholomftus Gese voin Jahre 1588.
Die Passion desselben nacli Johannes beginnt mit einem funfstiromigea
Chor: ,,Erhebet eure Herzen zu Gott, und horet das Leiden unsers
Herrn Cbristij we es St. Johannes beschrieben bat", worauf dann die
evangelische Erzahlung im Ghoralkrae, einstimmig durch den Tenor
vorgetragen, folgfc. Aus ihr treten selbststandig hervor die Eeden
Christi, von den gewohnlichen vier Chorstinnnen vorgetragen, die Worte
des Petrus und Pilatus dreistimmig, die der Magde und Knechte zwei-
stimmig, durch zwei Soprane, durch Alt und Tenor, die VoDcschore ffinf-
stimmig; ein ffinfstiniiiiiger Chor schliesst das Ganze. Welter schon.
war, wie Sie sich erinnern, Heinrich Schiltz gegangen. Noch in
clem Todesjahre desselben, 1672, erschien ein Passionswerk von dem
214: ;
preussischen Kapellmeister Johann Sebastian!, in welchem wir zum
ersten Male geistliche Lieder in den biblischen Bericht eingeflocliten sehen.
Endlich erscheinen, anf diese Weise vorbereitet, Bach's Werke dieser
Ark Die Passion nach Ma titans ist die reifere nnd vollendetere.
Schon vorausgegangea war dieser hocbst wahrscheinlich die nach Johannes.
Jene wnrde am Gharfreitage des Jahres 1729 zum ersten Male in Leipzig
aufgefohrfc, und Bach zeigfc sich darin in einer Hoheit, dass dieses
Werk als der Culminationspnnct des protestantischen Bewusstseins zn
betraeliten ist. Es ist der Ernst nnd die Tiefe der Ueberzengnng darin,
die Macht und Energie des Charakters, das Erftilltsein von der Saehe,
in einem Grade, dass diese Eigenschaffcen wol bei keinem anderen
Tonkiinstler , roit Ansnahme Beethoven's, bei dem Letzteren
natfirlieh auf weltliehem Gebiet in solclier Grosse zur Ersclieinung
gekonnnen sind. Ancli Bach's Passionsmusik zwar erscheint nicht
ganzlich frei von niodischen Bestandtheilen jener Zeit, sie zeigt anch
die Mangel der Stnfe der EunstentwicHung, der sie angehort; liberall
aber bricht der Geist siegreich hindurch, das Vergangliche in das Eeich
des Ewigen emporhebend.
Tntersnchen TO, wie ich es schon bei Handel gethan habe, jetzt
zunaehst die allgemeinste Bezeichnnng des Bach'schen Wesens, so ge-
wahren wir, dem weltlicheren Handel gegentiber, des Ersteren ent-
schiedenere Eirchlichkeit. Wahrencl dort zwar das religiose Element
stets den Mittelpunct der gesanimten Personlichkeit bildet, tritt es doch
nicht so sehr hervor, dass sich Handel ansschliesslich darauf beschrankt
zeigt. Bach gehort entsclriedener diesem Kreise an; es ist vorzugs-
weise das Mrchlich-religiose Element, welches bei ilim vorwaltet. Bach,
bertihrt vielleicht von jenen religiosen Bewegnngen, die kurz vor ihm
und ganz in seiner Nahe von Spener und dessen Genossen ansgegangen
waren, durchlebt in sich den Process des religiosen Bewusstseins, das,
was den Glaubigen beschaftigt, wenn er durchdrungen ist von dem ewigen
Inhalt des Ohristenthums, wenn er nach der Wiedergeburt im Glauben
ringt; das "Weltliche , das wir bei ihm gewahren, erscheint an ihm
ausserlicher, nicht niit dem innersten Mittelpnnct seiner Personlichkeit
verschmolzen ; es erscheint nicht, wie bei Handel, in seiner Wahrheit
nnd Berechtigung, im Gegentheil nur als ein verganglicher, modischer
Bestandtheil. Bach, diese ureigene Natur, unterlag hierin den Bin-
flussen seiner Zeit, und zwar fast mehr als Handel, es ist jene alt-
franMsche Zierlichkeit und Galanterie, jene Mode vergangener Tage, es
sind zum Theil franzosische Einfliisse, welche bemerkbar sind. Bach
hat, wie schon erwahnt wurde, jene grosse Epoche beschlossen, er ist
215
das letzte Denkmal der machtigen Glaubenskraffc der Vorfalireru Seine
gesehichtlichG Stellung aber als letztes GEed dieser Ketfce lasst ilin kaum
noeh als vollstandigen, ganz entsprechenden Ausdruek jenes alien, in
ursprunglicher Kraft hervorgetretenen religiosen Gemeingeistes be-
trachten. Bach ist zu subjeetiy, als dass er ein treuer Spiegel der Ge-
sannntheit sein konnte, auch zu wenig popular; er hat den alien Geist
znr Ersclieinung gebracht, soweit dies in einer im Ganzen nicht gun-
stigen Zeit moglich war, in einer Zeit, welche zu viel Gemachtes, aller
UrsprungHchkeit Entfremdetes besass, um der Boden fur Schopfungen zu
sein, welehe nach jeder Seite Mn eine ewige Jugend sich bewaliren sollen.
Handel hatte Tor Baeh den grossen Yortheil Toraus, dass er in der
Nation, in deren Schoosse er seine unsterbliclien TTerke sclinf, gestindere
Elemente vorfand, nictt das pMlisterhaft Beengte, in trockenem Fonna-
lismus TJntergegangene, "wie damals in Deutseliland. Bach ist eine
Nachblfithe anf dem gewalMgen Stanom der Yorzeii; aber er liat die
Elemente, welche ihm die Yorzeit bot, fiberwiegend nur in seine mach-
tige Personlichkeit aufgenommen, diese damit erfiillend, nahrend, er
zeigt sich der GesammtMt entfremdet, durcliaus esoterisch; er ist der
Schlussstein der Entwicklung, aber auf dem Boden ausscbliessKcher
Kunst, und einen objectiven Inhalt in fiberwiegend subjective! Weise
aussprecliend.
Nachdem ich so, wie ich glaube, das Bntscheidendste im Charakter
beicler Manner vergleichend angegeben babe, koinmt es darauf an, ihnen
im Einzelnen nocli etwas naher zu treten.
Bach hat an der Orgel sicli herangebildet, von dieser seinen Aus-
gangspunct genommen ; dies verleiht seinen gesammten Znnstleisfcnngen
ihren bestimmten Charakter. Handel hat zwar gleichfalls diesen Atis-
gangspunct genommen, bald aber ganz entgegengesetzten Einflussen sich
Mngegeben. Bach's Thatigkeit war dem entsprechend eine mehr nach
innen gekehrte, seine vorwaltende ^Teigung eine grublerische Versenkung;
sein Leben ein innere^ Handel wendeie sich fruh nach aussen, den
Menschen und der B^)achtung derselben zu, ringend und kampfend,
die mannigfaltigsten Eindracke in sich aufnehnaend. Bach's Yerstand-
niss erschliesst sich daher nur von innen heraus. Es ist nieht die
aussere, sinnliche Klangwirkung, welche fur sich allein zu fesseln ver-
mag. Dem inneren Sinn erst geht das Grossartige der Gestaltung auf,
durch das Innere hindurch geht der Weg zum Aeusseren. Handel ist
plastiscli, er gewahrt der sinnlichen Seite der Kunst ihr Kecht, und von
dem Aeusseren gelangen wir zum Inneren. Bach, als achter Deutscher,
war dem instrumentalen Element fiberwiegend zugeneigt, er schrieb
216
spater for seinen Thomanerchor, fur zwar musikalisch, aber nicht eigent-
lich kunstgebildete Sanger. Handel widmete sich friih scion dem
Gesange, und verkelrte bald mit den grossten Sangern und SSngerinnen
der Welt. Danun erblicken -wir bei Handel als hervorstechenden
Grundzug jene Popxilaritat im grossen und hohen Sinne, die Fahigkeit,
auf Massen m wirken, die mehr augenblicHiche Einganglichkeit und
Eindringlichkeit Bach, zeigt sich als Gegensatz; er ist nicht eingang-
lich, minder sangbar, er ist der am wenigsten populare aller Tonsetzer.
In Bach gelangte jane, einst von den Mederlandern begriindete, in
Deutschland fortgebildete Eiclitung zu ihrem AbscHuss, sein Geist er-
wachte unter dem Tongewebe contrapunctisch verbundener Stimmen;
er bezeielmet die Spitze dieser Entwicklung. Handel steht mit dem
einen Fusse in Italien; er ist innerhalb dieser Epoclie die Spitze der
schon fralier eliarakterisirten italienisch-deutschen Eicliking. Bach cha-
rakterisirt darum der Mangel ausserer Sclionlieit, wie sie Italien besitzt,
Handel zeigt sich beruhrt von dem Zauber dieses Landes. Bach und
Handel sind die Culminationspuncte ihrer Zeit innerhalb ihrer Kunst,
nach den entgegengesetzten Seiten gewendet, der line das Hanpt des
Nationalen, der Andere Eeprasentant jener uniyersellen Verschmelzung
der Stile, auf die ich schon in der die Geschichte der deutschen Musik
eroffnenden Betrachtung als eine Hauptbestiinmung zur Brfassung des
deutschen Geistes hinwies. Handel bewegt sich in allgemein mensch-
lichen Stimmungen , in den Stinimungen der Massen; was in der Brust
eines religiosen, aber gesunden, freisinnig inannlichen Volkes sich regt,
das hat er ausgesprochen , mit einer Urkraftigkeit uncl Gesundheit, dass
es dnrch die Jahrhunderte schallt; Bach spricht nur sich aus, sein rdi-
gioses Gemiith, er yergrabt sich inuner tiefer in sich hinein, und kann
sich nicht genug than, um diese Tiefe zu erschopfen. Handel leiht
der ganzen Menschheit seine Stimme, Bach ist nur insoweit allgemein,
als Jeder diesen Process des ^eligiosen Bewusstseins in sich durchlebt.
Handel in seinen Gestaltungen zeigt schon eineij^orahnung des spateren
Kunstideals, Bach hat nur religiose Zwecke vor Augen, und die Kunst
steht bei ihm noch ausschliesslich im Dienst der Kirche. Handel ist
objectiv, episch, Bach subjectiv, lyrisch. Bach's Natur neigt tiber-
wiegend dahin, zur abgeschlossensten Besonderheit sich auszubilden, das
Gewohnliche, zur Hand Liegende abzuweisen, ein jedes Werk bis in das
Kleinste und Einzelnste Mn auszugestalten. Handel arbeitet mehi
aus dem Vollen und Ganzen, richtet seine Blicke iiberwiegend auf die
Gesammtwirkung. Das eigenthltmliche Verhalten aller Derer, welche an
den "Werken Beider Antheil nehmen, liegt zum Theil hierin begriindet.
217
Der Verehrer Bach's fthlt sieh m immer neuem Forschen angeregfc, in
einen Ereis nie endender Thatigkeit Mneingezogen, alle seine Krafte
sind in Ansprueh genommen, iromer Tieferes glaubt er zu entdecken,
und so geschieht es leicht, dass einem Solchen das Bihfache und
Populare seicht und geringhaltig erscheint, veil es fasslich ihm ent~
gegentritt, weil er das Yerstandniss nicht m emngen braucht: dass ein
Solclier demnacli in ein durehaus scMefes Yerhaltniss der gesammten
Kunst gegenftber gerath. Handel bietet zu solchen Yerirningen keine
Veranlassung. Wie ihn selbst die lebendige Wechselbeziehung zu einer
grossartigen Umgebung, in der er stand, vor solclier Einseitigteit schfitzte,
so gewahrt er auch dem Horer einen unmittelbaren, aHgemeineren, viel-
seitigeren Kunstgenuss. Inch die Stellnng beider Meisier bei ihjen
Lebzeiten scbeint eine dem entsprechende gewesen zn sein. Bach war
ftberwiegend doct wol nnr als Orgelspieler bewnndert; seine grossen
Gesangswerke haben jedenfalls nnr eine geringere Yerbreitung nnd An-
erkennung, ausser bei dem kleinen Kreise der Eingeweihten, gefunden;
dem Volke ist er stefe fremd gebHeben. Handel stand schon in
frflheren Jaliren der Gesammtlieit des Pnblieunis gegentber, und als er
spater mit seineti Oratorien einmal durchgednmgen war, wnrde er metr
und melir der Gegenstand der Verehrung des gesammten Englands.
Beide Manner endlich sind Meister ihrer Knnst, Beide in eminenter
Weise. Beiden aber ist diese gewaltige Kunst nie Zweck, stets nur
Mittel znm Zweck. Sie sind so weit entfernt, damit zn prunken, dass
sie aJlein damit Iiervortreten , wo es die Notliwendigkeit der Saetie er-
fordert, und es sind Mssverstandnisse einer spateren Zeit, einer Zeit,
welclie diesen Geist nicM zu fassen vennocMe, wenn insbesondere Bact
als Mann der Krnstgeleirsamkeit, als trockener Contrapimetist, betrachtet
wurcle. Bach besitzt Alles. In der Gewohnteit dieses Besitzes ergreiffe
er tiberall nur das Gehorige " und NotMge. Jene Kunst war der notli-
wendige und entsprediende Ausdraek fux den Geist jener Zeit, und es
ist deshalb eine ganz unstattliafte Thatigkeit der Abstraction, Foim und
Inhalt trennen zu wollen.
Auch in den Schicksalen beider Meister nach ihrem Tode zeigt sicli
bemerkenswerthe Aehnlichkeit. Erst der neueren und neuesten Zeit war
es vorbehalten , Beide in ihrer unennesslichen Bedeutung erkennen und
schatzen zu lernen. Handel wurde durch die Bemuhungen Hi Her 'a
und Mozart's in DeutscHand zuerst allgemeiner bekannt und eiiangte
seit dieser Zeit eine imnier weiter verbreitete Anerkennung. Bach s
einer ganz anderen "WeltansehauuBg angehorig, als die war, welclie bald
nach seinem Tode Geltung gewann, hat erst in neuester Zeit in weiteren
Kreisen ein besseres VerstSndniss, eine mehr entsprechende Auffassung
geftmden. TFie es eine Zeit gab, wo die Dome des Mttelalters als
Erzeugnisse eines barbariselien Kunststandpunctes vollig ignorirt wurden,
so gesehah es auch Bad, dessen Werke mit jenen Domen viel Ge-
meinschaftliehes haben, dass man seiner nicht inehr gedachte. Den
Bemuhungen von Marx uncl Mendelssohn insbesondere haben wir
es zu danken, wena die Gegenwart eine alte Ungerechtigkeit wiecler gut
zu maehen angefangen hat; diese Manner *sind unermudlich thatig ge-
wesen, durch Auffuknzngen , ernente oder erste Ausgaben, sowie durcli
die Schrift das aUgemeinere Verstandniss zu yermitteln.
Id bescliliesse Mermit die Charakteristik Bach's imd Handel's.
Unmoglich wurcle es sein, einen Reiclithum, wie ihn beicle Eiinstler uns
vor Augen legen, in clieser gedrangten Darstellung zn erschSpfen. Die
Hauptpuncte jedoeli, auf die es bei der Wurdigung derselben ankommt,
glanbe ich Hinen bezeiclinet zu haben. Jetzt soil es zunachst noch
meine Anfgabe sein, verscMedene durch das Bisherige gebotene Betrach-
tnngen anzuschliessen, auf die Losung einiger sich uns darbietenden
Fragen Mnzuarbeiten.
Im Portgang der Geschichte geschiebt es stets, dass die folgende
Epoclie, in ihrem Wesen oft sehi verscMeden, ja entgegengesetzt, die
nnmittelbar voransgegangene negirt, und es erst einer spateren, abermals
erhohten Stufe vorbehalten bleibt, die Extreme ausztigleichen, jecles der-
selben als Entwicklungsmoment zu begreifen. So lange noch im Leben
der Yolker, *wie des Einzelnen, in rascher Folge der Bewegung ein im
Schoosse der Zukunft verhulltes Ziel zu erstreben ist, wird Alles, was
dahin fuhrt, zuructgesetzt, vergessen; erst bei Erreichung des Zieles,
erst da, wo die geschichtliche Bewegung, wenigstens augenblicklich, Halt
macht, erscheint die Moglichkeit, den durchlaufenen Weg zu iiberblicken,
die einzelnen Stadien abzugrenzen, ihre Bedeutung zu eimessen. Die
Gegenwart bezeichnet, was Musft betrifft, einen solchen Moment, einen
solchen Halt- und Wendepunct So ist Jetzt wenigstens in Bezug auf
Bach und Handel das erreicht, dass alle tiefer gebildeten Musiker
und Mtisikfreunde die Bedeutung derselben im AUgemeinen anerkennen.
Geschieht dies, was den Ersteren betrifft, zur Zeit noch bald in tiber-
wiegend hohem Grade, bald wieder in nicht ausreichender, denmach
iinmer noch schwankender Weise, so liegt der Grund davon in der be-
zeichneten Eigenthitalichkeit des Meisters, und auch die Ursachen einer
einseitigen Yertieftmg uncl Ueberschatzung sind schon angegeben. Ich
trete damit den ausserordentlichen Leistungen Bach's nicht entfernt
zu nahe ? ich tadle aJlein jene ausschliessliche Versenkung in die Eunst-
219
sehopfnngen dieses Mannes, welche, in dem Streben, aUen Ruhm anf
den Scheitel eines Einzigen zu hanfen, den Blick trfibt nnd befangen
macht, nnd die Verdienste anderer gleieh grosser Meister verfceanen
lasst. Bach 1st gross nnd nnsterblich in der vorhin bezeichneten
Stellnng, was aber die freie Entfesselung des Geistes betrifft, wie sie
dureh die spateren Meister hezeichnet wird, so ist er nicM fiber die
ersten Anfange Mnansgekommen, nnd in diesem Sinne, auf weltliehem
Gebiet, ist es richtig, wenn sein Yerhaltniss zum nachfolgenden Jahr-
hundert, wie schon einmal erwahnt wurde, dnrcli das der agyptischen
znr griecMsclien Kunst bezeichnet mrd. Eine weitere Ursache solcier
Einseitigkeit, dass die Bedentnng des Meisters wol in den allgemeinsten
Umrissen festgestellt ist, die nahere Bestimmnng aber liaufig Termisst
wird, Kegt in dem Dnrcheinander der Ansichten auf mnsikaliscliein
Gebiet, anf das wir spater noch. ansfthrlicher werden zn spreclien
kommen, in der so ganz heterogenen Bildnng der Mnsiker, der alles
Gemeinscliaftliclie so gar selir fehlt. Da nirgends nocli die Principien
der Beurtbeilnng festgestellt sind, so 1st es eine nattoliclie Folge, wenn
die Ansichten Hber die wichtigsten Knnstersclieinnngen so weit ausein-
andergehen. Auct die Anerkennnng Bach's beim grossen Publienm
ist eine noch sehr schwankende, nahere Yertrantheit wii-d selbst bei den
emsteren Frennden der Knnst vennisst, nnd man begnugt sich meistens
mit jenem kalten Eespect, der die Sache anf sich berahen lasst. Anch
hier liegen die Ursachen znm Theil in der Eigenthumlichkeit Bach's,
znm Then aber in einem Vorurtheil, welches die Musiker immer genahrt
haben ? ohne zu wissen, wie sehr sie nicht bios Bach ? wie sehr sie der
Stellung der Tonknnst uberhaupt, der Gesamnitheit gegeniiber, schadeten.
Noch immer gilt Bach ilberwiegend als gelehrter Contrapuucidst, noeh
immer sprechen die Musiker es ans, dass ohne nahere Yertrantheit mit
jenen kunstlichen Fonnen so wie uberhanpt der Tonknnst, so znmelst
Bach nicht nahe getreten werden konne. Ist nun auch dieser Ansieht
eine einseitige "Wahrheit nnd Berechtignng dnrchaus nicht abzustreiten,
so bernht dieselbe, in dieser Ansschliesslichkeit gefasst, doch wesentlich
anf einern Yerkennen des Yerhaltnisses der Technik eines Tonstficks zum
Geist desselben, anf einem Yerkennen des Verhaltnisses der Form znm
Inhali Yon den Mnsikern wird leicht die Form mit dem Inhalt ver-
wechselt, wird leicht die Form znr Hauptsache gemacht nnd der Geist
ganz vernachlassigt, das Yerstandniss der Form als das einzig den Bin-
gang Vermittelnde gefasst. Solcher Einseitigkeit gegenuber ist zn sagen,
dass das Yerstandniss des Musikers durchans nicht ein specif is ch ver-
schiedenes ist, wie die Dilettanten glanben und wie so yiele Musiker,
220
nm sich in einen gelehrten Nimbus zu hiillen, absiclitlicli verbreiten ; das
Yerstandniss des Musikers 1st ein bewussteres durch die Einsicht in die
Mittel des Ausdrucks, durch die Einsicht in die Art und Weise, wie
ein bestrmmter Inhalt zur Darstellung gekominen ist; so wenig aber
die Sehofiheit des menschliehen Korpers firr den Empfanglichen eine
geringere ist, weil er mit der Knoclien-" und Muskelstructur, wodurch
diese wunderbaren Biegungen und Linien hervorgebracht werden, nicht
ganz vertraut, ebenso wenig darf das Yerstandniss des Tonwerks durch
eine iricht ganz specielle Eenntniss seiner Technik leiden. Der Geist
ist das Ursprungliche , den Ausdruek, wodnrch er zur Ersclieinung
kommt, seine Form, Schaffende; die Form ist das Secundare, und kann
erschopfend eigentlich nur aus dem Inhalt erkannt werden. Jedenfalls
hat es (iemnach seine eben so grosse Berechtigung, wie die hier in
ilrer Einseiiigkeit bestrittene Ansicht, wenn ich sage, dass es haupt-
saehlich der Geist Bach's selbst ist, welcher das Verstandniss erschwert,
dass es sich eben so sehr um eine alJgeniein geistige Yorbereitung
handelt, um ihm nahe zu treten. Es ist diese tiefe, vergangenen Zeiten
angehSrende Eeligiositat , welche einem im Weltliehen anfgehenden Ge-
sehlecht, bei einem zerstreuten und unruhYollen Leben, nur als ein
verschlossenes Buch vorliegt; es ist dieser grossartige Ernst, diese
Strenge, welche bei so Yielen kaiun noch ein Organ des Verstandnisses
6 ndet. Mit dernselben Eecht, mit dem clalier technische Vorbildung bei
selbeL yerlangt wircl und veiiangt werden muss, darf auch eine allgemein
der V olty or i )ere j[j ;un g gefordert werden. Man hat sich mit dem religiosen
Sehoosse^ r Yorzeit yertrauter zu machen, man hat diese Entwicklung
clahin fuhi\ en Bewusstseins in sich zu reproduciren, um Bmpfanglichkeit
erst da, woq-jng^^ Beide Seiten iniissen gleich sehr beriicksichtigt
maclit, ersclnjj yollstandige Vertrautheit erzielt werden soil. So lange
die einzelneueb nur das contrapunctische Gertist sieht, wird auch das
Gegenwart b>nirtheil nicht schwinden. Die Musiker aber haben, wie
solchen Hal; geror a en fli c ] 1 geschadet, indem sie, statt die Leute zur Be-
Bach undfleg Bildes einzuladen, dasselbe nur noch mehr in die Feme
und Musit
Geschiebju-enfl ^ bisher eine Yergangenheit Ihnen clarstellte, welche
wie ei l'sna]imsweise in der Gegenwart wieder zitoi Leben erweckt wird,
inrnife^Q ^ ^^ zum ers t en ]\/f a j e Kiinstler, die dem Leben der Gegen-
zei !ft nahe stehen, deren Werke noch einen integrirenden Bestandtheil
e inserer offentlichen Musikauffiihrungen bilden. Noch mehrere andere
Fragen bieten sich uns in Folge davon dar, welche hier zimi ersten Male
ihre Eiiedigung fordern. Dies Alles zugegeben, erwidert man, zugegeben
221 -
auch, dass man nnser schnell bewegtes, unruhvolles, leicht anfgereiztes
Leben und Wesen auf Momente beseitigt, dass man sieh in die episclie
Breite Handel *g, in den mysfcisclien Tiefsinn Bach's, in diese, schnell
wechselnde Affecte ganzlich ausschliessende Welt versenkt habe; liegt
nieht dessenungeaehtet in den Werken Bach's und Handel's selbst
Etwas, was sie uns mit EecM entfremdet ; enthalten sie nielit Veraltetes,
nur der Mode jener Zeit Angehdriges, was uns zurackstosst ; sind wir
wirklich aflein im Unreeht, wenn wir uns nielit damit befieunden konnen;
mussen wir uns nielit zum Theil der Errungenschaften eines hoheren
Standpunctes entaussern, urn auf sie eingehen zu konnen, und erscheint
es nicht gerechtfertigt, wenn wir jene "\Verke zum Theil umgestalten,
verandem, um sie unserer Zeit entsprechend zu machen? Hierauf diene
Polgendes zur Antwort: Die Frage nacli dem Yeralten oder Mchtver-
alten frflherer Tonwerke ist eine auf unserem Gebiet vielfach angeregte,
selten genugend beantwortete, eine Frage, welche eine grosse Eolle spielt,
so dass jeden Augenblick von dem Veralten einer frfiheren Tonsehopfiing
gesproclien wird. Auch die Frage nach der tlaeilweisen Umgestaltung
fruherer "Werke ist vielfach aufgeworfen und ganz verschiedenartig, ja
entgegengesetzt beantwortet worden. Icli versuche Folgendes festzustellen:
Bleibend sind aEe Werke der Kunst, in denen die Epoclie derselben
ihren auf dieser Stufe nioglichen, yollendeten Ausdruck gefunden, in
denen das Walire, was sie anstrebte, das Beste, was sie besass, seinen
CuLninationspunct enreicht hat. Dies ist das Wesen der Glassicitat, dies
ist charakteristisch for Werke, welche, einer nothwendigen Entwicklungs-
stufe des MenschengescMeehts angehorig, for ewige Zeiten als von glei-
cher Gultigkeit bezeichnet werden mussen. Im Gegensatz Merzu tlieilen
alle Schopfungen das ScMcksal des Yeraltens, welche nicht den Culmi-
nationspunct einer Epoche bezeiclmen, welche zu ihmhin- oder von dem-
selben herabfiitren, Werke demnach, welehe den Vorstufen der Kjinst
angehoren, oder als eine JTachbluthe zu betoachten sind, Werke, denen
das Ziel nur erst ein gealintes ist, welche die Erreichung nui* vermitteln,
oder solche, in denen sehon die hochste Aufgabe einer Epoche uber-
schritten wurde, die das schon Geloste durch Ueberhaufung der Mittel
noch ein Mai losen wollen. DerarMge Schopfungen sind allein for die
Kunstgeschichte von Bedeutung; sie haben allein fur den Geschichts-
schreiber Interesse ? uni die Epochen des Aufbluhens und des Verfalls zu
erkennen, und den wirHichen Hohepunct nach seinem wahren "Wesen zu
erfassen. Dies sind die allgemeinsten Gesichtspuncte. Mher aber
bedarf die Katur des Classischen der Bestimmung, dass die Epoche, aus
der es hervorgeht, selbst sehon die Stellung der hochsten Bluthe in der
gesckichtlicken Entwicklung eines Volkes einnekmen muss. Auck vor-
ubergekende Werke konnen der kockste Ausdruck einer Zeit sein, tind
doch eben nur yoruBergekende Bedeutung kaben, wenn diese Zeit selbst
nur einen Durckgangspunct bezeicknet, wenn diese Zeit selbst nur den
Vorstufen angekort, oder als eine Nackblutke im Leben eines Volkes zu
betrackten ist. Jede Zeit findet denmacli zwar iliren kocksten Ausdruck
in irgend einer Erscheimzng der Kunst oder Wissensckaft, aber diese
Ersekeinungen sind yersckieden, je nack dem Werth der Epoclien, welcke
sie abspiegeln. Das Classische ist dies dann, wenn es, als der kockste
Ausdruck seiner Zeit, eine solcke zur Darstellung bringt, die das Leben
und die geistige Entfaltung eines Volkes in den kocksten und gesteigert-
sten Monienten in sick birgt ; das classisclie Kunstwerk entkalt den Kern
einer Nation, die geistige Substanz derselben, und bringt diese in Hirer
vollendetsten Gestalt zur Ersckeinung. So sind die classiscken Werke
aller Zeiten die Denkmale der geistigen Entwicklung des Mensckenge-
sckleckts, die Qrenzsteine, welcke die Stadien derselben abmarken. Alles
dasjenige aber gekt unter im Strome der Zeiten, was solcke Hokepuncte
vennittdt; nur die Spitzen der fernen Gebirge sind dem Auge sicktbar,
nickt das, was zu iknen kinauf- oder yon iknen kerabfiikrt. Nock
eine Bestiininung ist dem Gesagten kinzuzufugen, um dasselbe ziini Ab-
scbluss zu bringen. Wurde bis jetzt yon dem Classiscken im Gegen-
satz zu dem vorfibergehenden Ckarakter aller Uebergangsmomente ewige
Dauer ausgesagt, so ist die Bezeicknung insoweit einzusckranken, als auck
das Classiscke nickt fur alle Zeiten einer gleicken Lebendigkeit in dem
allgemeinen Bewusstsein tkeilkaftig bleibt. Auck das Classiscke wird
flberwunden, wird zur blossen Entwicklungsstufe kerabgesetzt, wird im
Fortgang der Gesckickte als iiberwundener Standpunct betracktet. Diese
Bestiminung ist nickt olme Sckwierigkeit, sie ist in neuester Zeit yiel-
fack missverstaoiden worden, und ick wakle daker sogleick ein Beispiel.
Homer, Sopkokles sind classisck, sie bezeicknen nack yersckiedenen
Seiten kin das Hockste in der Entwicklung des grieckiscken Geistes.
Alle naclifolgenden Gesckleckter kekren zu iknen zurtick als zu der ersten,
kerrlicksten Blutke clesjenigen Volkes, welckes in seiner gesckicktlicken
Stellung selbst einen solchen Hokepunct der Entwicklung bezeicknet. Die
Werke der Genannten sind SchSpfungen yon ewiger Dauer, sie sind der
vollendetste Ausdruek des menschlicken Geistes auf einer bestimmten
Sfcufe seiner Entfaltung ; sie bezeicknen eine Stufe, welcke alle Spateren
wiecler durcklaufen, in sick reproduciren mtissen. Aber diese Werke sind
durckaus nickt mekr der adaquate Ausdi-uck un seres Bewusstseins, wir
3ind durckaus nickt rnebr im Stande, in iknen ganzlick aufzugeken, und
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darin unsere hochste Befriedigung zufinden; unser Bewusstsein ist durch
den Beichthum der nachfolgenden Entwicklung ein unendlich vertiefteres,
und jene Werke gehoren in diesem Sinne einein tlberwundenen Stand-
punct an. Der grosse UnterscMed besteht demnach darin, dass das Clas-
sische im Fortgang der Zeiten zwar ebenfalls zur Entwieklungsstufe
lierabgesetzt erscheint, als solche aber ein nothwendiges und ewiges
Glied in der Geschichte des menschlichen Fortschritts bezeichnet, das
wirklieh Veraltende dagegen dem allgemeinen Bewusstsein entzogen 1st,
und nur fur den Forseher vorubergehendes Leben und vorubergehende
Bedeutung gewinni "Wenden wir das Gesagte auf Handel und Bach
an, so ergiebt sich uns leieht. dass die Werke derselben in dem be-
zeiahneten Sinne als classisch zu betraeMen sind. Handel und Bach
sind die Spitzen, sind die Yollender einer ganzen, grossen Epoclie, welche
in ilinen ihren Mchsten Ausdruck gefunden hat. Sind sie dies vielleicht
nicht in dem ganz eminenten Sinne, wie die TorMn genarmten Diclifcer,
so liegt der Grand zum Theil in dem Wesen ilirer Zeit, den danialigen
Terhaltnissen, namentlich in DeutscHand, welche ilinen nicht so allseitig
gimstige Bedingungen darboten, wie es in Griechenland oder in England
zu Shakespeare's Zeit der Fall war, zum Theil in dem Umstand,
dass italienisclie Einflusse im 17. Jahrhundert sich geltend gemacht und
die protestantische Eunst von ihrem ursprunglichen Ziele abgelenkt hat-
ten, zum Theil endlich in der Stellung der Tonkunst zum Leben iiber-
haupt. Mehr fast als alle anderen Eunste hat die Musik bisher yon den
Einfliissen der Mode zu leiden gehabt, und nur selten ist es ilir gelungen,
ganz unabhangig von derselben das Ewige rein und ungetrfibt zur Bar-
stellung bringen zu konnen. Aber Bach und Handel als Classiker
theilen das Schicksal auch des Classischen, spater zur EntwicMungsstnfe
herabgesetzt zu werden, und Merin liegt der Grund, wenn sie der Gegea-
wart als nicht mehr unmittelbar angehorig betrachtet werden mussen,
Auch in ihnen findet das gegenwartige Bewusstsein nicht mehr seinen
hochsten adaquaten Ausdruck, und das letztere ist darum nicht durehaus
rechtlos, im Gegentheil gar sehr berechtigfc, wenn es nicht sogleich in
ihnen zu Hause ist, nicht sogleich und unmittelbar sich mit ihnen be-
freunden kann. Schon muss das gegenwartige Bewusstsein zu ihnen als
zu einer friiheren Entwicklungsstufe zuructkehren, und eine lebendige
Anschauung ihres Geistes reproducirend vennitteln. Sind wir auch nieht
BO weit entfernt, dass das, was diese Manner erfullte, uns ganzlich
fL^emd ware es bildet in der That gegenwartig noch ein wesentliches
Moment unseres Inneren , so mht doch unser Ideal auf ganz anderen
Grundlagen ; das, was ihnen das Hochste war, ist erreicht, und auf neuen
Wegeu wurde schon langst die Losung neuer Aufgaben unternonrmen.
Untersuclien wir endlicli die Frage nacli der Bereclitigung einer Moder-
nisiriiDg jener Werke, so ergiebt sicb. uns nach dem Vorausgegangenen
mit LeicMigkeit die Antwort. Nur dann wurde eine Modernisirung zu-
lassig ersclieinen, wenn das betreffende Werk noeli unserem eigenen
Standpunct angeliort, wenn wir uns auf der Spitze der EntwicHung be-
finden und eine zu dieser Mnfiilirende ScMpfung Mheren Anforderungen
gemass umgestaltet warden soil. Bach, und Handel dagegen bezeichnen
Beide eine abgesdilossene, von der unserigen weit verschiedene Epoche,
und treten uns mit der BerecMigung als Classiker, als der vollendetste
Ausdruck ihrer Zeit entgegen. Sind sie niclit liberal! frei von den da-
maligen Einflussen, yon Einwirkungen der Mode, so tiberwiegt docli das
Ewige in ihnen in so Iioliera Grade, dass jenes cliesem gegenflber ver-
scliwindet. Eine Modernisirung ihrer "Werke muss darum, streng ge-
nommen, als eine Barbarei bezeiclinefc werden; niclit das kann Mer er-
reicM werden, dass man, wie in dern zuvor angegebenen Falle, zur Er-
sclieinung bringt, was ein Kiinstler beabsicttigte, in Folge der Mangel
seiner Zeit aber niclit erreiclite, im Gegentheil, man leiht ilmen nur
einen der durcli sie bezeicltneten Stufe ganzlich fremden Ausdruck. Tom
Princip aus- sind demnacli derartige Bearbeitungen, wenn sie das Wesen
und die EigentMmlicIikeit des Werkes angreifen, ganzlich von der Hand
zu weisen. Ein Anderes aber ist es, mit Vorsicht und Gescb.mack-j)ffen-
bar nur der Mode Angehoiiges abzustreifen, oder zu erganzen, wenn dies,
wie z. B. bei Handel, durcli Nichtbenutzung der Orgel geboten er-
sclieint. Aucli die Eiicksicht auf aussere Verhaltnisse kann Manches
entschuldigen. Zeigt sich ein Publicum so durcliaus anders gewolmt,
so durchaus fliichtig und frivol, dass oline bedeutende Kurzungen und
Auslassung-en ein solches Werk gar niclit zur Auffuhrung gebracM
werden konnte, so sind diese entschieden vorzuziehen. Es ist besser,
eine Tondiclitung unter derartigen TJmstanden, als gar nicM zu Gehor
zu bringen, nur babe man stets das Bewusstsein gegenwartig, dass dies
niclit Verbesserungen, sondern nur Accommodationen, der Schwaclie gegen-
fiber, sind. Das Holiere bleibt immer, die Denkmale der Vorzeit unan-
getastet zu lassen, und aus dem Geiste ilirer Zeit zu begreifen. Einem
uberwiegend gebildeten Publicum gegenuber, einena Publicum, welches
im Stande ist, sicli seiner umnittelbaren Subjectivitat zu entaussern, ist
dieser Standpunct geltend zu machen; fur die grosse Menge, die nur im
Augenblicke lebt, die Mchts kennt, als was ihre Zeit ihr bietet, sind
Concessionen am Orte. Dies ist, wie icli glaube, die entsclieidende
Losung der Frage.
. 005
Wir befinden tins jetzt am Schlusse der ersten grossen Epoclie der
deutsehen Musik. Schon in der siefaenten Vorlesung, ais icli Ihnen einen
voriaufigen Ueberblick fiber das noch m durchlaufende Gebiet gab, den-
tete ich darauf Mn, dass jetzt bei uns derselbe Wendepunct eintrat, wie
in Italien nach den Zeiten Palest rina's um das Jakr 1600. Die
Epoclie des erhabenen StUs erreicht ilire Endschaft, die des sehonen be-
ginni Auch das habe ich scion ausgesproehen, dass an Sebastian
Bach und die Familie desselben, ahnlich wie in Italien an A. und D.
Scarlatti, vorzugsweise dieser Umschwung sfeh knupft. Bald naht
die Zeit, wo anf alien Gebieten, in Wissenschaft, Poesie und Kunst,
Staat und Leben, eine grosse Umgestaltung sich geltend machte. Bin
hoheres Geistesleben erwaclite in DeutscUand. Friedrich der Grosse
und J o s ep h E., genahrt durch die nanaentlich in Frankrelch aufteimenden
neuen Ideen, bemuhten sicli, an die Stelle des Mstorisci. Gewordenen,
Princlplosen, an die Stele der alien Unordnung im Staat aHgemein ver-
ntinftige, rechtliclie Bestimmungen treten zu lassen, und Deutschland aus
seiner Erstarrung und Verknoclierung zu belreien. Die weltumgestaltende
That der franzGsischen Eeyolution, dieses Weltgericlit fiber die Yer-
gangenheit, folgte m Ende des Jahiiranderts, und fuhrte auf weltHehem
Gebiet das duroh, was der Protestantisnius auf Mrchlicliem geflian hatte.
Die alte Eeligiositat verschwand alhniililich. Kant, der grosse Vor-
kainpfer des Eatioiialisnius ; erschien. Das gesammte innere Lebeii wurde
ein anderes. BKeb firfiher jede Empfindung auf den TJmkreis des Kirch-
lichen beschrankt, und zeigten sich die Herzen ausschliesslieh erfullt von
reKgiosen Gefuhlen, so trat jetzt ein freier bewegtes Leben, traten freiere,
weltliche Regungen an die Stelle. Die Mrchliehen Schranken wurden
durchbrochen, der alte Dogmatismus gestiirzt, der Mensch lerate sich als
Mensch erfassen. Tor Allen waren es die Manner der Sturm- und
Drangperiode, die Manner jener Sehule, aus der endlich Goethe fiber-
waltigend, siegreich hervortrat, die theils durch eigene Schopftmgen,
theils durch das tiefere Yerstandniss Shakespeare's, welches sie ver-
breiteten, das so lange dureh starre Formen geknechtete deutsclie Herz
entfesselten, die winterliche Eisdecke, welche jede rein menschliche, jede
warme Fruhlingsempfindung unterdrucfcie, sprengfcen. Wissenschaffliche,
kiinstlerische Begeisterung trat an die Stelle der religiosen. War bis
dahin der Protestantisnius Trager des fortschreitenden Geistes gewesen,
so warden es jetzt Eunst und Wissenschaft. An die Stelle dogmatischer
Gebundenheit trat ein freies Waltenlassen des Genius auch in der Eunst ?
an die Stelle des Dogmatismus Sebastian Bach's die freie Genialitat
der spateren Meister. Die Tonkunst folgte dieser TJmbildung der allge-
15
226
meinen Weltanschauung, die classisclie Oper Glnck's, ermSglicht vor-
bereitet dnroh die grossen ScMpfungen Handel's, trat m das Leben,
die modeme Instaumentalmusik ma-de geboren. AJles Vorausgegangene
hatte Mngedrangt anf diese dramatische Entfaltung; die epische Wurde
und Haltung. die epische Ganzheit, me wir sie noch be,! Handel er-
blicken, loste sieh aitf in ein mannigfaeh raancii-tes, Tielfach bewegtes
affectvoUeres Seelenleben. An die Stelle dec ObjectivWat der Vorzer
trat die Subjeetivitat der Neuzeit. Die Epoche der kirchlichen Tonkunst
ist damit im WesentKclien beschlossen ; die Herrschaft der welthchen
Musik beginnt. So lioeh die vorausgegangenen Jahrhunderte im Kirch-
Hchen das letzte Jahrlmndert uberragen, so hocli ateht das letztere auf
veltlichem Gebiet uber jenen.
Wir crelangen jetzt zu den wichtigsten Gegenstanden unserer Be-
tracb.tung, & zii d & er Gegenwart und dem, was in immittelbarem Zusammen-
liano-e mit derselben steht, zu dem, woftr aUes Bisherige als Vorbe-
reitog und Einleitung diente. Meine Betracatung wd aus diesem
Gnmde aueli bei dem ReicMhnm des aufzunehmenden Materials -
eine andere. Gait es bisher, in grosseren Gmppen Ihnen die hemr-
stechendsten Erseaeiiiungen- Torzuf&aren, so verfolge ich in den nachsten
Yorlesungen zuerst nur die Spitzen der EntwicHung bis herab auf die
Gegenwarfc, und lasse sodann diesen Hauptwendepuncten das Speciellere,
auf Mozart und Beethoyen die Schulen Beider, folgen.
Zwolfte Vorlesung.
Ersfe Anfange der franzoslschen Muslk: die franzoslselie Oper. Gambert. Lully.
"Weiterer Eortgang: Grluck raid Picciai.
Beyor ich micli zn den in der letzten Yorlesung bezeiehneten Gegen-
standen wende, 1st es nothwendig, unsere Blicke nacli Frankreieh zu
rich ten, urn jetzt auch dieses Land in den Kreis der Darstellung aufzu-
nehmen.
Frankreich hat nicht, wie Italien und DeutseUand, eine gleicli uni-
fassende und geordnete EntwicHnng dnrchlatifen; es tritt bei weitem
spiiter mit selbststandiger Bedeutung auf, "Wenn jene Lander mit der
Blutlie der Earchenmusik begannen, so nnterscheldet sich Franfcreicli da-
dui-cli wesentlich, dass ihm eine MrcUiche Tonbmst yon holierem Werth
fast ganzlicli mangelte. In der Epoche Josqnin's, um das Jalir 1500,
zeichneten sich einige Sctuler desselben ans, doch. fanden dieselben ihre
Heimatli fiberwiegend in Italien. Seit dem Jahre 1530 waren in Paris
nnd Lyon grosse Druckereien thatig, und es traten jetzt Compordsten
auf, deren Chansons, Hotetten und Messen an diesen Orten gedruckt
wurden. Auch aus spaterer Zeit i^erden nocli viele Titel und Namen
genannt, ohne dass jedocli ein grosserer Euf und grossere Kunstbedeutung
sicli daran knupfte; es scheint sogar, als habe die Tonkunst dort Eiick-
schritte gemacht. So dauerten die Yerlialtnisse fort bis in das 17. Jahr
hundert. Man war von der alten Schule des lioheren Conkapuncts langst
abgefallen, ohne in den neuentstandenen Gattungen den Italienern nach-
zueifem. Nur etwas Eigenthuniliclies besass der franzosisclie Hof scion
seit Ludwig SHI., es waren dies die n Vingt-quatre Violons du Roy",
(Violinen und Violen von verscMedenen Dimensionen), far welche einige
Tonsetzer eine Art von Kannnerstucken geliefert liatten, Werke indess,
welche nur die Kindheit der Eammermusik unter eineni wenig piusika-
lisclien Volke bewelsen konnen. Ergt nacli Erfindung der Oper finden
15*
wir GelegenMt, von Frankreicb "Wesentliclaeres zu beriebten. Die Oper
liatte daselbst spater als* in DeutscMand Eingang gewonnen. Der Car-
dinal-Minister Mazarin war der Erste, der dieselbe nacli Frankreicl
verpflanzte. Es gescliali dies im Jahre" 1645 , wo zum ersten Male vor
dem Hofe von einer italienisclien Operngesellscliaft eine Auffulirung
veranstaltet wurde. Lange zuvor schon latte man zwar theatralische
Aufflhrungen gekanni Insbesondere war es eine Gattung unter dem
Namen: Ballet, in welchem neben der Hauptsache, dem Tanze, auch
gesungen und gesprodien wurde; es war dies aber AUes so unkunst-
lerisct wie moglicli, oline alien Gesclimack bunt Zusammengestelltes
enthaltend. Selbst diese Belustigungen des Hofes after niussten erst
von einem Italiener einigennaassen in Ordnung gebracM werden. Die*
erste OpernauffQhrung wurde in dem bezeiehneten Jalire YOU einer ita-
lienisclien GeseUsdiaft vor dem Hofe in Petit -Bourbon Yeranstaltet.
Das Stuck Mess J? La finta Pazza", Text von Giulio Strozzi. } ,Man
kann sich jedoch", sagt S elm id in dem im Emgange dieser Vortrage
genannten Werke fiber Gluck, ,,von dem damaligen Gesclmack einen
Begriif rnachen, wenn man erfalrt, dass der erste Act dieses Singspiels
mit einem Tanze Yon Affen und Baren, der zweite von Straussen und
der dritte von Papageien gescllossen wurde." Zwei Jahre spater gab
eine bessere, ebenfalls von Mazarin versciriebene Gesellschaft die
Oper Orpheus und Eurydice" von Peri, mit ausserordentlicliem Beifall.
Dieser Erfolg der Italiener spomte einige Franzosen an, Aehnliehes zu
versuelien, doch so, class man sich streng an das von den Ersteren
gegebene Yorbild Melt. Ein gewisser Abbe Perrin diclitete in franzo-
sisclier Spraehe ein Hirtenspiel La Pastorale", ein gewisser Eolbert
Cambert, Organist an der Kirclie St. Honore und spater Surintendant
der Musii der Konigin Anna von Oesterreich, der Mutter Lud-
wig's XIV., unterzog sicli der Composition desselben, und wurde
dadurch der erste Franzose, der eine eigentliclie Oper in Musik
setzte. Es gescliah dies im Jalire 1659. Mazarin, der diese neue
Gattung sehr liebte, liess das Stuck mehnnals vor Ludwig XIV. in
Vincennes auffuhren und ermunterte die Verfasser zu weiterer Tliatig-
keit. Erfreut liber den gluckliclien Erfolg ihres ersten Versuclies schrit-
ten Perrin und Cambert zur Composition der Oper Ariadne".
Durch den Tod Mazarin's indess wurden die Fortschritte des lyri-
schen Dramas urn zehn Jalire anfgehalten. Perrin erliielt endlich
iin Jaln^e 1669 ein konigKehes Privilegium, welches ilim gestattete,
offentliche Musik- und Opernvorstellungen zu geben. Er verband
sich. mit Cambert, dem Marquis de Sourdeac, welclier dem
229
Masckinenwesen vorstand, uncl einera Finanzmeister , ricktete ein offent-
lickes Theater in der Mazarinstrasse ein, und engagirte Mnsiker, Sanger
und Tanzer; Tanzerinnen gab es noch nicht, man verfcleidete die
Jiingsten als Frauen. Im Marz 1671 braekten dicse Manner die erste
offentlicke Vorstellung vor dem Tolke zu Stande. Die Oper Mess
w Pomone u , und war nicktssagend , mit leeren "Wortspielen und Zwei-
deutigkeiten angeMlt, maclite aber so grosses Gluck, class sie aclit
Monate hinter einander taglieh gegeben wurde, und dem Dichter allein
einen Gewinn yon 30,000 Fr. einbrackte. Uneinigkeiten indess ent-
standen bald unter diesen ersten Opernimternelimern. Dies benntzte
ein sehlauer Italiener, Lully, der schon fruher in Paris angekonunen
war, sick bei Hofe einztisclnneiclieln gewusst katte, und iinterdess konigl.
Oberkapellmeister geworden war, so class es ilim gelang, das Opern-
privilegram auf sick zu ubertragen, indem er P err in, den Beleidigten.
beredete, dasselbe an ikn abzutreten. Lully Hess ein anderes Theater
einrickten, engagirte einen anderen Dickter uncl begann seine Vorstel-
lungen schon im November Jes Jak-es 1672. Cainbert war daraber so
entrustet, class er Trankreick ganz verliess uncl sick mit seinen Werken
nack England wendete.
Jean Baptiste (Giovanni Battista) Lully war geboreu im
Jakre 1633 zu Florenz, wurde aber 1644 von dem Herzog von Guise
mit nack Paris genonimen, mm Dienst bei der Jfichte cles Eonigs,
die sick indess wenig fur ikn interessirte uncl ikn beini Ktlcken-
personal als Ktickenjunge besckaffcigen liess. Der intelligente Snabe
jeclock, der sckon. in Florenz auf der Guitarre zu Himpern liebte;
lernte fur sick Lieder und Tanze auf der Violine, erregte dadurck die
Aufinerksainkeit , und erkielt nun ordenflicken Unterricht; bald mackte
er sick durek Heine Tonstucke. welcke er componirfce. beliebt. Lud-
wig XIV., der ikn begfmstigte , gab ikni znerst eine Stelle in der
Kapelle, und yertraute ikm clann die Leitung einer neu far ikn ge-
stifteten Musikertruppe an , die man n les petits Vicious" nannte , zum
Untersckied von jenen sckon erwaknten alteren berubmten ^vinyt-quat^e
Violons". Sogleick entbrannte auck sein Ekrgeiz, und sein Streben war
darauf gericktet, es diesen vorzutkun, iki*en Rukm zu verloschen. Er
coinponirte fur seine Leute Sympkonien, Trios, suckte uberkaupt Alles
kervor, woclurck diese glanzen konnten. Im Jakre 1658 trat er in einen
kokeren Wirkungskreis. Er mackte Musik zu einem der Ballette, welcke
far den Hof erfiinden warden, in denen der Konig selbst tanzte und zu
denen selbst Mo Here Texte liefern niusste. So wusste er nack und
nack immer mehr die Aufinerksarakeit auf sick zu zieken, und so konnte
230
es bei seinem Natiirell nieht fehlen, dass er allmahlich zu den hochsten
Ehrenstellen gelangte, und endlich GeneraHntendant der koniglichen
Musik wurde.
Lully "war listig, yerscHagen, einschmeichelnd und keck verwegen,
von Ehrgeiz angespornt; alle Mifctel galten ihm reclit, wenn es sich
darum handelte, seine Plane dtirehzusetzen. Ein seltsames Geniisch
widerspredjender Eigenscliaften zeigt sich in seinem Charakter : Bedienten-
natur, Medrigkeit, Harte, Gemeinheit, und auf der anderen Seite wieder
nicht allein Talent, sondern auch Geist. Er wircl von einem Zeitgenossen
als ein kleiner Mann gescbildert von iiblen Ziigen und vernachlassigtem
Aeusseren, mit kleinen, rothgeranderten Augen, die man zuerst kaum
linden konnte, die aber in dusterem Feuer gluhten und Funken von
Geist und BosMt spnihten, ini Qesicht Spassliaftigkeit und liber die
ganze Figur etwas Bizarres und stets Unrulie verbreitet. Derselbe Mann,
der den Ersten des Hofes unverscltanit gegenubertreten konnte, wenn
er den Konig auf seiner Seite wusste, der sich. von seinem Uebermuth
zu den keeksten Streiclien hinreisscn liess, derselbe trug einst, als er
des Konigs Gunst schwanken sah, kein Bedenken, in Mo Here's ,,ein-
gebilcletem Kranken" die Kolle des Pourceaugnac zu spielen, vor Aerzten
und Apothekern am Ende die FlucM zu ergreifen und endlich, uin den
Eonig zuin Laclieu zu reizen, in den im Orchester befindlicheu Fliigel
zu springen, so dass dieser.in Stticke ging, trug kein Bedenken, die
Eolle des gemeinsten Possenreissers zu tiberneknien. In welcher Weise
er ein solclies Benehmen entschuldigte , zeigt eine Antwort, welche er
dem Kriegsminister gab, als er ziun Secretar des Konigs ernannt wor-
den war. Louvois tadelte ibn, dass er sich in Wtirclen drange, die
ihm nicht geblihrten, cla er doch Nichts sei als ein Possenreisser, Mchts
habe als das Talent eines Lustigmachers. ,,Wie gern wiirden Sie ein
solcher sein", erwiderte er, ,,wenn Sie. das Talent dazu hatten, oder
wurden Sie sich als Kriegsminister weigern , auf den Befehl des Konigs
zu tanzen?" Dabei war er heftig und tyrannisch; spielte ein Violinist
falsch , so geschah es wol. class er wtithencl auf ihn zurannte, ihm
das Instrument aus den Handen riss und ihm auf dem Eticken zerschlug.
Kara er dann wieder zu sich und erkannte seine Uebereilung, so bat
er den Beleidigteu hoflich um Entschuldigung , lud ihn zu Tische und
bezahlte das Instrument fiber clen Werth. Auch noch in spateren Jahren
gab er einen traurigen Beweis von derselben Haltungslosigkeit. Mile,
le Eochois, die grosste theatralische Ktinstlerin der damaligen Zeit,
Melt dureh Unpasslichkeit die Auffiihrung einer seiner letzten Opern
,,Armide u auf. Gedrangt und eingeschiichtert durch Lully, musste
231
sie gestehen, dass sie Mutter sei; sie zeigte zur Entschuldigung em
Eheversprechen yor, welches ihr der Geliebte auf eine Spielkarte ge-
schrieben hatte. Ein Fusstritt war die far die UnglficHiche nur zu folgen-
reiche Antwort des Mer sich in seiner ganzen Bohheit zeigenden Directors.
Lully heirathete die Toehter des damals noeli inlioheni Anselien stehen-
den Cambert, und dieser Huge ScMtt war ihm sehr forderlich zur
Eireichung seiner Absichten und Plane. Ich liabe schon erwahnt, dass
er das Opernprivilegium auf sich zu ubertragen wusste; zugleieh erhielt
er die konigliche Vergiinstigtmg, welehe den iibrigen Pariser Tlieatern
verbot, mehr als zwei Strmmen und sechs Geigenspieler zu gebrauchen.
Er eroffnete das neue Theater nut dein Stucke Les fetes de P Amour
et de Bacchus*; das Gedicht war von Philippe Quinault. Jetzt ver-
band er sich mit dem Genannten, der ihni die Dichtungen zu seinen
Opern lieferte. Pfir jedes Textbuch zahlte er ihni 4000 Litres. Ge-
hoben von glticklichen Erfolgen, arbeitete Lully mit Quinault die
Oper ,,Kadmus und Hermione", die erste 1673 aufgefuirte Tragedie
lyri^M des franzosischen Theaters. Da zu dieser Zeit Mo Here ge-
storben war und die Truppe desselben nicht beisammen blieb, so
erhielt Lully das Theater irn Palais royal. Die erste Oper von
Quinault und Lully auf demselben war w Alceste". Hierauf folg-
ten ,,Theseus", ,,Le carnaval", J? Atys"S 5J Isis ;i , 5 ,Psyche u , 5 ,Bellero-
phon" u. m, a., im Ganzen 19 Opern. Als er noch an seiner letztec
Oper arbeitete, erkrankte er. Der Beichtvater erschien und kundigte\
ihni sogleich an, class er nicht eher Absolution seiner Siinden erwarten
diirfe, bevor er nicht wenigstens seine neueste Oper ins Peuer ge-
worfen habe. Lully uberlegte eine Zeit lang, liess die Stimmen seiner
letzten Oper bringen und vor den Augen des Beichtvaters yerbrennen. Als
er sich, jecloch nur auf kurze Zeit, wieder erholt hatte, besuchte ihn
ein Preund und redete ihn an: ,,Ei, ei, Baptist, ich hore, dass Du
Deine neue, schone Oper ins Peuer geworfen! Du bist ein Narr
gewesen, dass Du Dich YOU einem traumenden Jansenisten hast be-
wegen lassen, das schone Werk zu Ternichten!" ,,Still tf , antwortete
Lully, ,,ich wusste, was ich that; dort im Scliranke daneben liegtnoch
unverletzt die Partitur." Beim Dirigiren hatte er sich einst die Puss-
spitze verwundet. Diese an sich unbedeutende Verletzung zog, bei
seinem vielfach aufgeregten und ausschweifenden Leben, den Tod nach
sich. Eine Entziindung hatte sieh eingestellt, die sich endlich fiber den
ganzen Korper verbreitete. Lully liess sich, so wird erzahlt, aus dem
Bett bringen und auf Asehe legen, hing eine Schnur um den Hals und
declaniirte dabei, was nur yon eiuem reuigen Sunder, der Busse thut,
erwartet werden kann, sang sein Sterbelied atif das Welimiithigste
imd endete so, ira letzten Augenblick noch Scliauspieler , am 22.
Marz cles Jalires 1687. Lully hatte sicli selbst eine Kapelle und ein
Marmordenknial erricMen lassen, und Mnterliess ein VermOgen von
630,000 Lv.
Dies ist cler seltsame Grander der franzosisehen grossen Oper,
jedenfalls fur Frankreich von grosser- Bedeutung, obsehon seine Lei-
stungeii einen. hoheren Werth durcliaus niclit beanspruchen konnen.
Eigenthunilich ist denselben die Yerbindung von Tanzen und Choren
mit der Handlnng, ein Vorzug, dessen die italienisclie Oper entbehrte,
eigenthfimlich die declamatorische Behandlung der Singstimme , obschon
dieselbe eigentlieh melir eine Psalmodie als Recitation 211 nemien ist,
und nur selten durdi kiirze, auf keinerlei Weise ausgeffihrte ariose
Satze oder durcli kurze Eitornelle sich unterbrochen zeigt, im Ganzen
ohne Geist iind Leben. Draniatisclier Ausdruck und Cliarakteristik ist
darin nicht zu finden. Lully las wiederholt seine Texte, so class er
sie auswendig lernte, declamirte dieselben,-bis die musikaKschen Accente
horbar wurclen, und ging dann erst an das Havier. Hier spielte er
nun so lange, bis er glaubte, das Eechte gefunden zu liaben; er dic-
iiite dann meist das so Gefmidene einem seiner Mitarbeiter und Scbtiler
irf die Feder. Diese Art des Compocirens lasst das Uebergewiclit,
welches er deni Text einrauinte, erkennen. Bei AUedem war er im
iOelisten Grade eigensinnig gegen seine Dichter; immer und immer
wieder mussten ganze Scenen umgearbeitet werden; so konnte es niclit
fehlen, class clock encllicli aus dem vielfaclien Probiren und Suchen ein Ke-
sultat herrorging. Eine seiner wiclatigsten Neuerungen bestand aucli clariu,
dass er statt der bislier gewolinliclien Knaben TOnzerinnen auftreten
liess; es geschali dies im Jahre 1681 ; Aucli das ist bemerkenswerth,
dass er zuerst die Blasinstrumente in das Opernorehester eingeftthrt hat.
Quinault brachte in seine Teite, obschon er an cler ganzen Ein-
richtung cler italienischen Oper im Wesentlichen des Inhalts, der Wahl
der Gegenstande und der Oekonomie Mclits geandert hatte, eine bessere
HaJtimg, einen sinnreicheren Zusaroinenliang. Bei Alledem war es
Lully mit seinen Bestrebtingen clurchaus Ernst, so Widersprechendes
aueh von iim auszusagen ist ; nicht bios mit seinen eigenen Arbeiten
qualte er sich unablassig, in seiner gesammten Thatigkeit zeigte er den
grossten Eifer und die grosste SorgMt. Die Zeitgeschichte spricht sich
darflber in folgender Wcise aus: Lully war niclit nur in der Kunst,
Opera zu setzen, sehr ausgezeichnet , sondera er verstand auch voll-
kommen die Kunst, sie zur Darstellung zu bringen und die Auffuhrung
233
zu leiten. Sobald ihm jugendlidie , mit guter Stimxne begabte Talente,
von deren Ausbildung sieh Etwas erwarten liess, begegneten, sorgte er
sogleicli mit bewundenmgswiirdiger Voiiiebe zuerst fiir iliren Unter-
richt; dann lehrte or ihnen selbst, wie sie eintreten, iind auf dem
Theater gehen sollten, und dann, wle sie iliren Qeberden und Bewe-
gungen den gehorigen Anstand zu geben hatten. So hat er die grossten
Schauspieler und die beriihmtesten Schauspielerinnen gebildet, als die
Beamnavielle, die Du'mesny, die Mile, de Saint-Christoplie und
die beriihmte Kocliois, welclie das eigentlicli wahre Muster aller
gross en Scliauspielerinnen gewesen ist, die man seither auf deni Pariser
Operntheater geselien hatte. Ferner wollte er, (lass die Sanger in den
Eecitativen ohne afle Liiufe tmd Vevzierungen sangen, und uberlmnpt
in den Darstellungen seiner Opern zeigen sollten, class er sie dem
franzCsischen Lustspiele, und zwar in der Weise der Champ mode ,
nacliznbilden beabsichtige. Naclidem er diese berfihmte Schauspielerin
ihre Eollen vortragen geliort und seinem Gedaclitnisse tief eingepragt
hatte , lehrfce er seine Zoglinge die Vortlieile kennen , wie sie ihrer
Stiinme Anmutli , IVolilklang und Kraft, Eigenselaften, welclie man Ton
der Kelile eines gangers erwartet, abgewinnen kGnnten, nm dem Zwecke,
welchera er sie ^zu widmen gesonnen sei , vollkommen zu enfesprechen.
Bei den Proben, die er selbst vornatm, duldete er nur die notMgen
Personen, nainlicli den Dichter, den Tonsetzer und ahnliclie, Br rfigte
die Eehler seiner Schauspieler , trat nahe vor dieselben Mn und Melt
die Hand fiber die Augen, ran seiner Kurzsiclitigkeit nachzuhelfen und ja
Mclits zu tiberselien, was seinen Tadel verdiene und einer Verbesserun||
bedurfe. Fur sein Oreliester besass er ein so feines Ok", dass er tm
fernsten Hintergrunde des Theaters jeden Violinspieler , der einen fal-
sclien Griff gethan hatte, sogleicli herauskannte. Wenn er derartige
Ungelioiigkeiten vernahm, sagte er sogleieh: 7? Das waren Sie, so steht
es nicht in Ihrein Parte". Bei semen Vorstellungen wurden fast eben-
soviel Tanzstticke als andere Musikstftcke eingesclialtet. Br anderte
den Eingang des Ballets, erfand Schritte und Qruppirungen, wie sie
gerade dem Gegenstande entsprachen und wie es der Ausdruck ver-
langte, ocler inwiefera es die Nothwendigkeit erfordejte. Er tanzte
nicht selten seinen Tanzern selbst vor, UDI ihnen das Begreifen seiner
Absichten zu erleichtern. Endlich wusste es Lully aucli dahin zu
bringen, dass seine Schauspieler ihn sowol liebten als fBrchteteii. Er
niachte sie verMndlich, ohne Widerrede jede Eolle anzunehmen , die er
ihnen zutheilte, und genoss wirklich ein fast bewunderungswilrdiges An-
sehen in diesera tonktinstlerischen Staate.
234
Um Lully als Tonsetzer ricMlg zu beurtheilen, muss man. die
ZeitverMltnisse , muss man seine Umgebung in Anschlag bringen. Die
Oper konnte damals Nichts sein als eine Hoffestlichkeit. An hohere,
kunstlerisclie Bedetitung, an Wahrheit des Ausdrucks wurde niclit ge-
dacht. Sie ztun wahrhaften Kunstwerk zu erheben, war erst einer
spateren Zeit vorbehalten; am Hofe Lud wig's XIV. war sie McMs als
eine geistreielie Maskerade, deren Hauptzweck die Verherrlichung der
Fursten. Bei alien Mangeln Lully's jedocli lebte in ilim die Grund-
richtung der franzosisclien Nation, die er, wenn auch nocli in hochst
unvoHkommener Weise, zum Atisdruck brachte. Noch lange Zeit nacli
seinem Tode belierrscliten seine Opern das franzosische Theater, und
wol ein voiles Jahrhunclert hindurch stand er im hochsten Anselien.
King war es von ilini, class er sicli offcers beliebter Tanz- und Liecl-
weisen -bediente und sie in Tanzen und Choren verwendete; er wurde
dadureli popular und trat dem allgemeinen Verstandniss naher. Seine
Ouverturen. wurden so gescMtzt, class sie selbst in ItaJiea Eingang
fanden. Die moderne Ouverture, beinerkt So lie lie in seiner Schrift:
5 ,Der Tannhauser in Paris und der dritte musikalische Krieg", liatte da-
tlurch ilii'e erste Anlage gewonnen. Auch, in ' Deutschland waren
dieselben beliebt, und an inanehen Orten, wie z. B. in Hannover, gab
es Kapdlcn, welche vorzugsweise diese Werke zur Darstellung brachten.
Pink in seiner GescMcMe der Oper giebt davon eine ausfOhrliche Be-
schreibung. Des Kuhmlichen ist freilich nicht viel m berichten; die
Instriimentaliniisik befand sicli damals liberbaupt noch auf der Stufe der
Ipnclheit Beilaufig sei erwahnt, dass Lully in spateren Jahren auch
Kirchensachen geschrieben hat. Eassen wir das Gesagte zusammen, so
ist nicht zu verkennen, dass trotz alles ausserlicli Berechneten durch
Lully eine neue Eichtung der clramatischen Musik angebahnt wurde.
Es war, clem freien melodischen Brgelien der Singstimme in Italien
gegenHber, die Eichkmg auf Wortausdruek. Die Aufgabe der italieni-
schen Oper war es, den musikalisclien Stoff in seinem ganzen Umfange
durchzubilden. Die franzosische Schule hatte das Musikdrania im
engeren Sinne zu ilirem Gegenstand. Das Eecitativ gewann an decla-
matorisclier Wahrheit und Mannigfaltigkeit der Ausdrucf sweisc, die Arie
an eigentlichem Charakier. Hier musste das Wort in den Vordergrund
treten. Gesehah es auch in hochst untergeordneter "Weise, so wurden
in Wahrheit doch die Bestrebungen Gl tick's dadurch vorbereitet.
Schon das war ein grosser Gewinn, dass auf die Texte melir, als bis
ilahin gewohnlieh, Eticksicht genommen wurde, class dor dramatische
Tonsetzer nicht mehr als der ausschliesslich Herrschende erschien, im
235
Gegentheil die Aufgabe jetzt in einem engeren Anschluss an den Dichter
bestand. Bewusstlos und zum Theil wol nur in Eolge seiner Schwaehe
^als Tonsetzer liat Lully der italienisehen Oper gegenuber eine neue
RicMung der tneatralisclien Musik, die eigentlicli dramatische, dadurcli
eingeleitet. So, wie gesagt, wurcle er und sein Nachfolger Kameau,
auf den ich nachher nocli znrnckkomme, auf lange Zeit Mnaus Herrscher
ini Gebiet der Oper, Ms spater die Italiener und Gluek eine neus
Wendung -herbeifuhrten.
BetracMen wir jetzt die Entwieklung der Oper, soweit dieselbe Ms
zu dem Zeitmoment, wo wir uns befinden, in Europa gediehen war.
Italien liatte im Laufe yon beinahe zwei Jalirliiinderten das, wozu
dureli die erste Erfindung der Grand gelegt war, weiter entfaltet, anfangs
langsam, dann in immer rascherem Laufe der Stufe der Vollendung
zufahrend, welclie auf diesern Standpuncfc der Kunstentwieklung ilber-
haupt und bei diesem Princip nioglich war. EB ist selir Bedeutenrles
auf diesem Gebiet geleistet vorden, aber ale jene "Werke sind jetzt ver-
gessen, und die Scliopfer derselben kaiun noch dem N"amen nacli gekannt ;
die ranfaSsendere und tiefere Losung der Aufgabe, welclie Deutsehland
vollbraclit, hat jene Anfange, allerdings zum Theil mit Unrectt, derVer-
gessenheit uberliefert. Sie wissen, dass der allgemeine Charakter der
modemen itaEenisclien Oper aucli in jenen Werken wiederznfinden ist.
Italien ist sich im Wesentlicben sehr gleich gebKeben, und dasselbe
Princip, welches in den gegenwSriagen Kiuistseblpfungen dieses Landes
zur Erscheinung kornnit, hat aucli jene frulieren Werke herrorgerafen.
Nm* im Aeusseren, in der Haufung der Orchestermassen, in dem Gebraueh
grosserer, complickterer Eormen sind grosse Umgestaltungen dureli die
spatere Ktickwirkung Deutschlanda hervorgerufen warden; was das Wesent-
liche betrifft, so ist in der italienischen Oper immter ein lyrisches, drama-
tischeni Portschritt Mnderliches Atisstromen der Enipflndung, ist schone
kttnstlerisclie Sinnlichkeit im Gegensatze zu der tiberwiegend geistigen
Kiclitung der deutschen Musik lierrscliend gewesen.
Die Oper auf einen freieren gescliicMlichen Standpunet zu heben
und von den engen nationellen Schranken Italians zu befreien, die
Losung der Aufgabe auf einer liolieren Stufe m vollbringen, war, nacli
deni Vorgange Prankreichs, die Bestiminimg DeutscHands. Italien ist
gross gewesen dadurch, dass eg alien ancleren Volkern eine Zeit lang
erfindend voranging, Deutsehland immer dureli die umfassendere und
tiefere Ausbildung, welclie es diesen Erfindungen angedeilien Mess.
Unser Vaterlancl batten die Grauel des dreissigjalirigen Krieges zu
selir niedergedr&ckt, als dass es gleielizeitig mit Italien einer TMtigkeit,
deren Gedeihen die Iieiterste Behaglichkeit voraussetzt, sici hafcte zu-
wenden komien ; es versaiunte, wie Dmen aus der vor Kurzem gegebenen
Darstellung sclion bekannt, anfangs die selbststandige Entwicklung der
neuen Erfindung und uausste sicli rait einigen Versuchen begnugeru
Als aber die deutsclien Hofe sicli wiecler zu erholen begannen, war ikr
Augenmerk so selir auf Italien geriehtet, class sie nur von dorther
SSflger und CompoBisten beriefen, und die dentsclien Ktinstler ganz
vernacLMssigten. Man wollte das Neue unmittelbar fertig und voEendet
besitzen, niclit erst im eigenen Vaterlande mtflisam heraubilden ; holiere
Kunstzwecke iiberliaupt konnten da niclit Geltung erhalten, wo man nnr
an Zerskeuimg und Sinnenlust tlaclite. So konnte es gesclielien, dass
die italienisclie Oper langere Zeit Mnclnrch zur ausscliliesslichen HeiTschaft
in DeutscHand gelangte, Mer vollig heimiscli wurde und das Nationale
niederdriiekte tmd Yenlrangfce, dass in unserer Knnstentwicldimg ein
fremdes Element wesentliclier Bestandtheil wurde. Icli habe indess schon
YOIL eigentlitlnilielien Anfangen auch bei nns bericMet, welche, wesentlicli
aueli auf "die Kirclieninusik von Einfluss, aUmflhlicli eine Unigestaltnng
bei nns tervorriefen. Jetzt, nacli so yiel gegebenen Mitteln,* bedurfte
es nur eines allgemeinen geistigen Aufschwunges, uni die nationale Oper
inii einera Male ins Leben treten zu selien.
Diesen Aufsclnvung braclite die zweite Halffce cles vorigen Jahr-
hunderts, bracliten die neuen Heen, welclie yon Frankreich lieraber
kamen, brachte die beginnende Staatsuniwalzung, dieser grosse Sonnen-
aufgang in der GescMclite, brachte Klop stock, der zwar in seinen
grosseren Diclitungen flk nns jetzt langweilig, in seinen Ereilieitsoden
ein Heros, eine unsterbKche Gestalt ist, bracliten iiberliaupt jene grossen
Manner, welclie jetzt selinell nacli einander erschienen. So wurde es
moglich, dass alle Strahlen in einein neuen Brennpnnct sich concen-
traten, dass Dentsclland sicli znsammenfassen und seine EigentMimlicli-
keit nun auck in der Oper auspragen konnte. Italien hatte den Anfang
gemacht, hatte einer herbea, kirchliclien Erliabenlieit gegentiber die
Eunst in die Welt eingefuhrt und eine sclione Sinnliclikeit zur Er-
sclieinung gebraclit. Jetzt gait es, auf diesem Boden und mit solclier
Errangenscliaft in die Tiefen des Geistes Mnabzusteigen, uncl jenen
blulienden Fonnen, jener sclionen Sinnliclikeit, Wahrheit des Ausdrucks
charakteristisclies und drainatisclies Leben einzubilclen, und so die Auf-
gabe auf Mherer Stofe, mit umfassenderen Mitteln, flberhaupt univer-
seller zu wiederholen; es gait zunachst, das, was bis daliin nocli
mangelte, das Neue, Italien energiscli gegenifterzustellen. Dies war
die That Gluck's.
237
Christopli WillibaM Bitter y. Gluclc war geboren am 2. Mi 17 J 4
zu Weidenwang in der Obeipfalz. Seine Erziehung war nur eine ge-
wohnliche, wie sie bei den YerMltnissen seiner Farnilie an einem Heinen
Orte nicht anders sein konnte. Die Begabung for Musik aber sprach
sicli schon friih ans, und so kam es, dass er bald zienilich gut vom
Blatte singen lernte, ja dass er spater anch die Yioline und das Yiolon-
cell besonders fertig nnd geseLmaekvoll zu spielen verstand. Als Gluck
fur die Gymnasialstudien herangereift war, schickte ilin der Vater,
dainals Porstmeister auf der ftirsti Lobkowitz'schen Herrschaft Eisen-
berg, nacli dem ftifern gelegenen Stadtchen Kominotau, wo der junge
Christoph. zwisclien den Jahren 1726 und 1732 den. Studien oblag.
Dort war es auch, wo er einigen Untenicht im Klavier- nnd Orgelspiel
empfing. Von Her begab sicli Gluck naeh Prag, um sich in den ver-
scliiedenen Fachern welter auszubilden. Da jedodi die Unterstutzung
seines Vaters immer sparliclier wurde, so sail er sicli bald in der Lage,
seinen Unterlialt durch die Tonkunst allein zu suchen. Er ertheilte
Unterricht im Gesang und auf dem Yioloncell und sang und spielte in
den verschiedenen Kirclien der Hauptstadt. Spater besuchte er auek
die grosseren Stadte des Landes und gab Concerte auf dem Yioloncell.
Im Jahre 1736 selien wir ihn in Wien. Hier fand er in clem Hause
der furstl. Lobkowitz'schen Familie gastliclie Aiifiialime und Unter-
stutzung. Der lombardische Purst von Melzi, der ihn singen uad
spielen gehort hatte, ernannte ihn zu seinem Kammermusikus, nahm ilm
init nacli Mailand und ubergab ihn dort dem Kapellmeister Giovanni
Battista Samrnartini ziu* weiteren musikalisclien Ausbildung. Nacli
einem vierjfthrigen eifrigen Stadium trat Gluck als Operntonsetzer aui
Seine erste Oper war ,,Artaserse" yon Metastasio, die 1741 in Mai-
land zur Anffulirung gelangte. Der Erfolg, den dieselbe gewonnen hatte,
wurde Ursache, dass nun bald zalilreielie Einladungen an ihn ergingen.
So schrieb er in der Zeit von Tier Jahren noeh drei Opera fur MaEand,
zwei fur Venedig, andere fur Cremona, Turin. Iin Jahre 1745 begab
sich Gluck in Gesellsehaft seines Gonners, des Mrsten F. Ph. v. Lob-
kowitz, uber Paris nach London, von wo er eine Einladung erhalten
hatte. Dort kam am 7. Januar 1746 seine Oper n La cadvta de 7
Giffanti u zur Auffuhrung, die indess kein ungewohnliches Gluck machte
und nur fiinf Vorstellungen erlebte. Handel trostete Gluck, indeni
er ihm sagte: ,,Ihr habt Euch mit der Oper nur zu viel Muhe gegeben;
das ist aber hier nicht wohl angebracht; fur die Englander niusst Ihr
auf irgend etwas Schlagendes und so recht auf das TrommelfelHYirkendes
sinnen". Dieser Eath soil Gluck auf den Einfall gebracht haben, zu
den GbOren dieser Oper Posaunen zu setzen, imd nun soil auch dieselbe
grosseren Beifall geerntet baben. Bald darauf, am 4. Marz desselben
Jabres, kam ein fruheres Werk, die Oper ,,Artamene", roit bei weitem
grosserem Erfolg zur Auffubrang. Gegen Ende des Jabres 1746 kebrte
Gluck fiber Hamburg nach Deutschland zuruck, und wurde, jedocli nur
fur kurze Zeit, mit einem ansehnliclien Gehalt in die kurfarstliche
Eapelle zu Dresden aufgenornnaen. YerscMedene Ursachen bestimmten
ibn, seine Stellung zu verlassen und nacli Wien uberzusiedeln. Diese
Stadt wahlte er von nun an zu seinem bleibenden Aufenthaltsort.
Sein korzer AufentMt in London und vorher inCaris liatte far ilm
die heilsamsten PrucMe getragen. Sclion frulier hatte er Hn und wieder
in seinen Opera nacli einer den Zeitgenossen fremden, hSheren Wahrheit
des Ausdi'ucks gestrebt. Machtig angeregt yon H a n d e 1's und E a m e a u 1 s
"Werken, begannen jetzt mehr und mehr jene Ideen in ibm zu keimen,
welclie ihn spfiter befaMgen sollten, die ersten unsterblichen Leistungen
auf dem Gebiet der Oper zu geben. Eiae eigentliQmliclie Brfahrung in
London hatte vorzugsweise noch dazu beigetragen. Er war aufgefordert
worden, ein Pasticcio, d. L ausgesuclite Musikstucke aus schon compo-
nirten Werken zu einem neuen lyrisch-dramatisclien Gedicht zusanamen-
zustellen. Gluck kam dieser Aufforderung nacli und walilte zu diesem
Zweck diejenigen Stucke aus seinen Opera aus, die stets mit dem grossten
Beifall waren aufgenommen worden. Allein sclion bei der ersten Vor-
stellung dieses Quodlibets musste er mit Erstaunen wahmelimen, dass
dieselben Gesange, welclie in den Opern, fur die sie gescMeben waren,
die grosste Wirkung hervorgebracht batten, Mer, in Yerbindung mit an-
deren "\Vorten, ganz wirkungslos blieben. Diese Tliatsache zwang ilm
zu dem Schlusse, dass jedem woHgelungenen Tonstiicke ein der Situation
enteprechender Charakter innewolme, und dass nur in diesem Cliarakter
der Grand der liolieren Wirkung liege. So bereitete sich- in Gluck
allmahlicli die spatere Urnwandlung vor.
Zu Anfang des Jaha*es 1748 treffen wir ibn bereits in Wien. Hier
zeigt er sicli verscliiedenartig bescbSftigt, eine Reihe von Jabren hin-
diu'cb aucb in der Tliatigkeit als Kapellmeister, von bier aus imter-
nalmi er seine zahlreicben Eeisen, bier verheirathete er sich aucb, Er
war endlich zu der Ueberzeugung gelangt, dass Metastasio's Werke,
obgleich ausgestattet mit dicbterischen SchSnheiten, dennoch niclit
geeignet waren, jene Wirkungen hervorzubringen, deren ein musikaliscbes
Drama fShig sein . rntisse, insbesondere aucb, so lange den Clioren kein
grosserer Antlieil an der Handlung zuerkannt werde. Gluck er~
offiaete seine Ideen einem damals in Wien lebenden begabten Dicbter
239
und Freunde, der Gelst und Kenntnisse genug besass, auf dieselben
mit Leiehtigkeit eingehen zu konnen. Es war dies Baniero di Cal-
zabigi aus Lirorno, damals L k. Eatk Glnekfand bei ihm ein ent-
gegenkommendes Yerstandniss. Es gait, dramatise! e "Wahrheit nnd
Folgerichtigkeit, dramatische Charakterzelclinioig zu ermogliclien, es
kam darauf an. soweit eg fur jene Zeit nnd auf jeneni Standpunct zu
eiTeiclien war, die Oper zum einheitsrolleren poetiscli -musikalisclien
Kunstwerk zu erfieben, tiberliaupt das zu vollbringen, was man bei
Erfindung der Oper eigenflich erstrebt, aber nicht ins "VFerk zu setzen
vennocht hatte. Lange Jahre des Irrens waren nothwendig gewesen,
um endlich die neue Einsiclit reifen zu lassen; G-luek wtirde frtlier
niefrt diese Energie der reifsten Manneskraft besessen haben, nicht diese
eiserne Beharrlichkeit des Willens. Hatte er aucli Mher sclion nach
Holierem gestrebt, so haftete er doch Ms daMn im Ganzen a# der
stereotyp gewordenen Opernfonn der Italiener, er wandelte in den Fuss-
tapfen Jomelli's und Pergolese's. Wir erklaren uns Meraus, wie
bis daMn der ^ame Gluek unter der Menge der Tonsetzer zwar mit
grosser Anerkennung genannt mirde, aber oline jene lioliere Geltnng,
die er spater erringen sollte; wir erklaren uns Meraus, wie G-Iuck
spater selbst sein jBruheres Leben als vollig verloren und niclitig be-
zeicinen konnte: mit Eecht allerdings den spateren grossen Leistungen
gegenuber, mit Unrecht, da er erst die Veiirrung grundlich kennen ge-
lernt haben musste, bevor er als Eeformator auffcreten konnte.
Ich habe Ihnen die Betteiligung Gl nek's dargestellt entspreclend
der bisher allgemein verbreiteten Ansicht Ich darf indess Dicht ver-
sciweigen, dass Sc he lie dem Dichter Calzabigi einen grosseren An-
theil an der Eeform beimisst, als Gluek, bemerkend, dass Letzterer
erst viel spater sich klar geworden sei. Der erste Anstoss sei sonaeli
von einem Literaten und DicMer ausgegangen, der Eulm des Musikers
aber liabe spater den des Librettisten Terschlungen. Gewiss sei es indess,
dass Gluek trefflich mitgewirkt habe.
Jetzt kam es darauf an, nicht mit einem Male allem bis daMn
Uebliclien den Erieg zu erklaren, im Gegentheil, mit VQrsicht die neue
Balm zu betreten, um das Publieum an die Eeform zu gewohnen.
57 0rpheus und Eurydiee" bot Merzu eken glueklielien Stoff. Den Ms
dahin anerkannten Vorrecltten der Sanger konnten bei der Natur dieses
StoflEs noch Concessionen gemacht werden. Calzabigi bearbeitete des-
halb denselben. Die Oper wurde am 5. October 1762 zum ersten Male
in "Wien aufgefflrrt, zuerst itafienisch, spater aucli deutscli. Anfangs
mit getlieiltem, spater mit entseMedenerem Beifell. In den Clioren nament-
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licli tritt das neue Princip entscMeden liervor. Es 1st ein ausserordent-
Helier Untersehied zwischen diesen Ghoren iind denen cler dainaligen
italienischen Oper. Bei Glue k 1st Alles schlagend, charakteristisch, von
einer Wahrheit, wie sie die erstaunte Welt bis daMn in cler Oper noch
nidit vemommen. liatte. Auf diese Weise wusste Gluck zu yermitteln,
den Widersprueh der entschiedenen Freunde des itaKenischen Princips
zu mildern mid sich Balm zu breehen fur die grossen Leistiingen, welclie
nun folgen. sollten. Zunachst folgten zwar nur einige kleinere Arbeiten,
vorzngsweise fur den Hof, u. A. ein Stuck, worin die Erzherzoginnen
auftraten. Aber er konnte nun sclion entscMeclener sein Princip geltend
maclien. Er verband sicli aufs Neue mit Calzabigi und componirte
die Oper ,.Aleeste :i , die, Ende des Jalires 1767 aufgefiihrt, anfangs zwar
nur einen getheilten Beifall erhielt, spater aber allgemein anerkannt
wurft. tni Jalire 1169 erschien die Partitur dieser Oper im Druck.
Grluck stellte derselben eine Dedication an den Grossherzog von Tos-
cana Toran, und es zeigt dieselbe, dass er sich. des neuen Princips jetzt
vollstSndig bemfichtigt liatte. Er hat clarin das, was er zu erreiclien
bestrebt war, mit einer Klarlieit ausgesprochen, wie selten ein Ktinstler
vennoclit hat.
,;Als icli es unternahm", schreibt Gluck, ,,die Oper ,,Alceste"
in Musik zu setzen, war meine Absicht, alle die Missbrauclie, welclie
die falsch angebrachte Eitelkeit der ganger und die allzu grosse Ge-
falligkeit der Componisten in die italienisclie Oper eingefuhrt liatten,
sorgfaltig zu yenneiden; Missbrauclie, die eines der sclionsten und
praclitigsten Schauspiele zum langweiligsten und lacherliclisten herab-
gewtirdigt haben. leh suchte daher die Musik zu ibrer wahren Be-
stimmung zurflckzufflhren, das ist: die DieMung zu unterstiitzen, um
den Ausdruck der Gefuhle und das Interesse der Situationen zu ver-
starken, ohne die Handlung zu nnterbrechen, oder durch. unntitze Ver-
zierungen zu entsteflen. Icli glaubte, die Musik mtisse fur die Poesie
das sein, was die Lebhaftigkeit der Farben und eine gliickHclie
Miscliung von Scliatten und Lieht fttr eine fehlerfreie ^uncl wohlgeordnete
Zeiclmung sinil, welclie nur dazu dienen, die Figuren zu beleben,
ohne die Umrisse zu zerstoren. Icli habe mich demnacli gehutet, den
Schauspieler im freuer des Dialogs zu unterbreclien, und ihn ein lang-
weiliges Ritornell abwarten zu lassen oder ihn plotzlich mitten in einer
Phrase bei einem gtinstigen Yocale aufzuhalten, damit er entweder
in einer langen Passage die Beweglichkeit seiner schonen Stimme
zeigen konne, oder abzuwarten, bis das Orchester ihrn Zeit lasse, Luft
zu einer langen Fermate zu schopfen. Auch glaubte ich nicht fiber
241
die zweite Halffce einer Arie rascli hinweggehen zu dtirfen, wenn gerade
diese vielleieht die leidenschaftlichste und wiclitigste 1st, nur um regel-
massig viermal die Worte der Arie wiederholen zu konnen; eben
so wenig erlaubte ich mir die Arie dort zu schliessen, wo der Sinn
nieht sehliesst, nur um dem Sanger Gelegenheit zu verschaffen, seine
Fertigkeit im Variiren einer Stelle zeigen zu konnen. Genug, ich
wollte alle jene Mssbrauche verbannen, gegen welche der gesunde
Mensehenverstand und der wahre Geschinack schon so lange vergebens
kampften. Icli bin der Meinung, dass die Ouyerture den Zuhorer auf
den Charakter der Handlung, die man darzusteflen gedenkt, vorbereiten
und ilm den Inialt derselben andeuten solle; class die Instnunente
inroier nur im Yerhaltniss mit dem Grade des Interesses und der Leiden-
schaft angewendet werden mussen, und dass man vermeiden solle, im
Dialog einen so grossen Zwischenraum zwischen Eecitativ und der
Arie zu lassen, um nicht, dem Sinn entgegen, die Periode zu unter-
brechen und den Gang und das Feuer der Scene am unrecMen Orte zu
storen. Ferner glaubte ich einen grossen Theil meiner Bemuhungen
auf die Erzielung einer edlen EmfaetJieit verwenden zu mussen; daher
vermied ich es auch, auf Kosten der Klarlieit mit Schwierigkeifcen zu
prunken; ich. habe niemals auf die Erfindrmg eines neuen Gedankens
irgend einen Werth gelegt, wenn er nicht von der Situation selbst her-
beigefuhrt und dem Ausdruck angemessen war. Endlich glaubte ich zu
Gunsten des Effects selbst die Eegel opfern zu mussen. Dies sind die
Grundsatze, die mich geleitet haben! Glucklicher Weise entsprach die
Dichtung meinem Vorhaben aufs Herrlichste. Als der beruhmte Ver-
fasser der 5 ,Alceste { S Herr v. Galzahigi, meinen Plan eines lyrischen
Dramas dtirchfiihrte, hat er aEe bliihenden Schilderungen, alle unnutzen
Bilder, alle kalten und wortreiehen Sittenspruche durch kraftige Leiden-
schaften und anziehende SituaMonen, durch die Sprache des Herzens
und eine stets abwechselnde Handlung ersetzt Der Erfolg rechtfertigte
meine Ansichten, und der allgemeine Beifall in einer Stadt, wie Wien,
fuhrte mich zu der Ueberzeugung, dass Einfalt und Wahrheit die einzigen
richtigen Grundlagen des Schonen in den Werken der Kunste sind.
Ich habe uberdies, ungeachtet des wiederholten Ansinnens der ausge-
zeichnetsten Personen, den Druck der w Alceste" zu beschleunigen, das
ganze "Wagniss meines UnternehmeBS, mit den tief eingewurzelten Vor-
urtheilen in offenen Kampf zu treten, sehr lebhaft empfonden, und des-
halb den Entschluss gefasst, mich mit dem machtigen Schutz Eurer
Koniglichen Hoheit zu waffiuen und nm die Gnade zu bitten, rneiner
Arbeit HSchstdero erlauchten Namen, welcher schon langst alle Stimmen
16
242
des erleuchteten Europa for sich gewonnen hat, voraussetzen zu durfen.
Der grosse ScMtzer der scbonen Ktinste, der Beherrscher eines Volkes,
das mit ihm den Rubm theilt, niclt nur jene der Unterdruckung ent-
rissen zu baben, sondern aucb selbst die grossten Muster in einer Stadt
Ixervorzubriugen, welclie zuerst das Joch des gemeinen Vorurtbeiles
gebrochen hat, um sicb den Weg zur YoUkommenlieit zu balmen: nur
ein solcher Turst kann die Reform des edelsten der Schauspiele, in
welcbem alle scbonen Kunste gleiclien Antlieil liaben, erfolgreicb unter-
nekmen. Sollte dieses gelingen, so wird aucli mir der Rubin erbluben,
den ersten Stein zum grossen Bau gelegt zu liaben. Mit diesem
offentlichen Zeugnisse des erhabenen Scbutzes liabe ich die Ebre"
etc. etc.
Nacb der r ,Alceste' 4 , im Jahre 1769, lieferte Gluck die Musik zu
der Oper ,.Paris und Helena", welche jedocli keinen so machtigen und
nachhaltigen Eindruck in dea Gemutbern der Zuborer Mnterliess, anch.
wegen der Natur des Gegenstandes nicbt binterlassen konnte. Den ein-
mal angenommenen Grundsatzen indess ist er aucb in diesein Werke
gefolgfe. Gluck liess ein Jalir spater aucb die Partitur dieser Oper im
Brack erscheinen und widmete sie dem Herzog von Braganza. Er
hatte, insbesondere von Norddeutscbland aus, sebr viel bittere Kritiken
erfahren miissen, well man nocb unfaMg war, seine Ideen zu fassen.
Sein Erfolg war bis dahin imnier nur noch ein getlieilter, weit entfernt
yon einern Tollstandigon Siege, Aiiok in Wien liatte er eine macbtige
Opposition an H a s s e und Metastasio. Er nalim dalier Veranlassung,
in dieser Dedication sich daruber auszusprecben.
w Wenn icb Eurer Hobeit", heisst es dort, ,,diese ineine Arbeit
widme, bin icb weniger bemubt, einen Scbiitzer, als einen Ricbter zu
finden. Nur ein gegen die Vorurtheile der Gewobnbeit bewaffneter Geist,
eine zufeicbende Kenntniss der erliabenen Lehxen der Kunst, ein sowol
nacli grossen Mustern als nacb den unveranderlicben Grundsatzen des
Sclionen und des Waliren gebildeter Gescbmack sind es, die icb in mei-
nern Maecenas suche, und in Eurer Hobeit vereinigt antreffe. Nur in
der Hoffnung, Nachahmer m finden, entscbloss ich micb, die Musik der
,jAlceste tf berauszugeben, urid glaubte mir scbmeicbeln zu diirfen, dass
man sieb beeifern wtirde, die ?on inir eroffliete Babn zu verfolgen, um
die Missbrauebe zu zerstoren, die sicb in die italienische Oper einge-
scWichen und sie entwurdigt baben. Icb babe micb jedoch uberzeugt,
dass meine Hoffnung vergeblicb gewesen ist. Die Halbgelehrten, die
Kunstrichter und Tonangeber, eine Classe von Menschen, die ungluck-
licber Weise sebr zaHreieh ist, und zu alien Zeiten dem Fortschritte
243
der Kunste tausendmal nachtheiliger war, als die Unwissenden, wuthen
gegen eine Methode, welehe, wenn sie sich begrundet, ilire eigene An-
rnaassung zu verniehten droht. Man hat geglanbt, nach unvoEkommen
einstudirten, schlecht geleiteten und noeh sehlechter ausgefuhrten Proben
sogleieh abspreehen zu konnen ; man hat in einein Zimmer die Wirkung
berechnet, welehe die Oper auf der Btihne hervorbringen konnte! 1st
das nicht der Scharfsinn jener griechischen Stadt, welehe ganz in der
Nahe die Tfirkung mehrerer Bildsaulen, die for hohe Saulen bestimint
waren, berechnen wollte? Einer dieser uberspannten Kunstfreunde,
deren Seele ihren Sitz nur in den Ohren hat, wild manche meiner Arien
zu rauh, manche Passage zu hart oder zu werdg vorbereitet fiaden; er
bedenkt aber nicht, dass, in Beziehung auf die Situation, eine Arie oder
Passage gerade diesen erhabenen Ausdruck verlangte und dadurch den
glucklichsten Gegensatz bildete. Bin Pedant in der Hannonie wird ferner
Me und da eine geniale Nachlassigkeit oder einen falschen Eindrack be-
merken wollen und sich fur berufen halten, das Eine wie das Andere
als unverzeihliche Stinden gegen die Greheimnisse der Harmonie zu er-
klaren, worauf sich bald eine Menge vereinigen wird, diese Musik als
barbarisch, wild und uberspannt zu verdammen. Den ubrigen Kiinsten
geht es in dieser Hinsicht nicht viel besser; man urtheilt uber sie mit
eben so wenig Gerechtigkeit und Einsieht, und Etire Hoheit werden da-
von leicht den Grand errathen : denn je mehr man nach Yollkommenheit
und Wahrheit strebt, clesto nothwendiger werden die Eigenschaften der
Richtigkeit und Genauigkeit. Die Zuge, welehe Eaphael von den
ubrigen Malern unterscheiden, sind in manchen Fallen kaum bemerkbar.
Leichte AbweichuDgen in den Unnissen zerstoren die AehnHchfceit eines
Caricaturkopfes nicht, aber sie verunstalfcen das Antlitz einer schonen
Gestalt ganzlich. In der Musik will ich nur ein Beispiel anfiihren, es
ist die Arie aus der Oper M 0reo" : Che farb senza JEuridice".
Nahme man damit nur die geringste Yeranderung entweder in der Be-
wegung oder in der Art des Ausdruckes vor, so wurde sie eine Arie for
das Marionetten-Theater werden. In einem Stiicke dieser Gattung kann
eine mehr oder weniger gehaltene Note, eine Yerstarkung des Tons, eine
Vernacblassigung des Zeiinnaasses, ein TiiHer, eine Passage u. dergl. den
Effect einer Scene ganzlich zerstoren. Wenn es sich' nun darum handelt,
eine Musik nach den YOU mir aufgestellten Grundsatzen durchzutuhren,
so ist die Gegenwart des Tonsetzers eben so nothig, als die Sonne den
Schopfungen der Natur. Er ist die Seele und das Leben ^derselben ; ohne
ihn bleibt Alles in Unordnung und Verwirrung: allein er muss gefasst
sein, alien Hindernissen zu begegnen, wie man Menschen begegnet,
16*
244
welehe, irngeaclitet sie Augen und Ohren liaben, dennoch unbekiimmert
um die Begchaffenlieit derselben sich berufen fuhlen, fiber die schonen
Kunste zu urtheilen, bios, well sie nur mit Augen und Ohren begabt
sind: denn die Wutb, gerade fiber Dinge, die man am wenigsten ver-
steht, schaell abzusprechen, ist ein gewobalicher Fehler der Menschen.
Ja, einer der grSssten Philosopher! dieses Jalirliunderts hat es in jiingster
Zeit gewagt, fiber die Musik zn schreibea und seine Ideen als Orakel-
spruche mit der Ueberschrift zu veroffentlichen : 3 ,Sogni di Ciechi e Pole
di Romanzi". Eure Hoheit werden das Drama des ,,Paris" bereits ge-
lesen und dabei bemerkt liaben, dass es der Binbildungskraft des Ton-
setzers jene starken Leidenschaften, jene grossartigen Gemalde, jene
tragischen Situationen nicht darbietet, welche in der 7r Alceste" die Ge-
mfither der Zuschauer erschfittern und zu ernsten Affeeten Gelegenheit
bieten. ffier wird man dieselbe Kraft und Starke in der Musik^ eben
so wenig eiwarten, als man in einem im hellen Licht gemalten Bilde
weder dieselbe Kraft des Halbdimkels, noch dieselben grellen Gegensatze
fordern wurde, die der Maler nur bei einem Gegenstande anwenden kann,
der ilim zur Wall eines beschrankten Lichtes allein Eaum gewahrl In
der r Alceste u handelt es sich um ein Weib, das nahe daran ist, ibren
GemaM zu yerlieren, den zu retten sie Muth genug besifet, um unter
den scbwarzen Schatten der Nacht in einem schauerlichen Haine die
Geister der Unterwelt lieraiifzubesctworen, und die nocli in ihrem letzten
Todeskampfe ffir das ScHcksal ihrer Kinder zittera und von einem an-
gebeteten Gatten sich gewaltsain trennen muss. Im ,,Paride" handelt es
sich jedocli um einen liebenden Jungling, der mit der Sprodigkeit eines
zwar edlen, aber stolzen Weibes zu kampfen hat, und diese endlich mit
alien Kunsten erfinderischer Leidenscliaft besiegi Darum habe ich mir
Mfihe gegeben, einen Farbenweclisel zu ersinnen, den ich in den ver-
schiedenen Charakteren des Plirygischen und Spartanisclaen Yolksstanimes
aufsuchte, indem ich dem unbeugsamen und rauhen Sinn des Einen den
zarten und weichen des Anderen gegeniiberstellte. Darum glaubte ich,
dass der Gesang, der in meiner Oper lediglich die Sfcelle der Declamation
vertritt, in der Helena der Hirer Nation angeborenen Eauhheit nachahmen
musse; ebenso dachte ich, dass, well ich diesen Charakter in der Musik
festzuhalten suchte, man mir es nicbt zum Pehler anreclmen wtirde, wenn
ich mich je zuweilen bis zum Trivialen herabgelassen habe. Will man
die Spur der Wahrheifc verfolgen, so darf man nie vergessen, dass nach
Maassgabe des jorliegenden Gegenstandes selbst die grossten Schonheiten
der Melodie und Harmonie zu Mangeln und Unvollkommenheiten werden
konnen, wenn man sie am unrechten Orte gebraucht. Ich erwarte von
24:5
meinem , 5 Paride" keinen besseren Erfolg, als von meiner 5 .Alceste", in-
s ofern es die Absicht betrifft, in den Tonsetzern die gewunschte Ver-
anderung hervorzubringen ; doeli alle schon langst vorhergesehenen Hin-
dernisse sollen mich keineswegs abschreeken, zur Erreiclumg meines giiten
Zweckes aeue Versuche zu machen. Erhalte ieh nur die Zustimmung
Eurer Hoheit, dann werde ich mit zufiriedenein Gemuthe mir stets sagen
konnen: )9 Tolle Syparium\ suffidt mild uum Plato pro cintcto populo".
Ich babe die Ehre mit tiefster Ehrfttrcht zu sein" etc. etc.
Im Jahre 1769 wurde Gluck nach Parma zu einer furstlichen
VennShlungsfeier berufen und yerherrliclite diese durcli seine Kunst In
demselben Jahre lernte S a 1 i e r i ihn kennen. Unter G I u c k *s Protection
kam die eiste Oper desselben zur Auffiitrung. Sie gefiel und Salieri's
Gluck war gegrundet. Von nun an unterbreitete derselbe jedes seiner
Werke dem Urtheile Gluck 's. Jetzt, nach diesem Aufsehwunge kunst-
lerisclier Thatigkeit, lebte der Letztere einige Jahre hindnrch in mog-
lichster Zuruckgezogenheit. Er componirte Liecler und Oden von Klop-
stock, aucli einige Scenen aus dessen 55 Hermannsschlaclit is , eines seiner
Hauptwerke, das leider der Kachwelt entzogen ist, well es der Tonsetzer
nicht niedergeschrieben hat. Aber sclion war er mit netien Planen be-
schaftigt, da die Erfolge seiner letzten "Werke ihn keineswegs zufriedenge-
stellt batten, Er sail ein, dass er seine Plane menials ganz verwirklichen
wurde, wenn er dazu nicht ein vortreffliches tragisches Gedieht, ein
prachtvolles Theater und vorzugliche Darsteller benutzen konnte. Dies
Alles hoffte er in Paris zu finden. Er besprach sieh deshalb mit dem
Attache der franzosischen Gesandtschaft in Wien, B a illy du Eollet,
einem kunstsinnigen Manne, der G luck's Bekanntschaft schon vor Jahren
geinacht und nun in Wien die besten Opera desselben gehort hatte.
B a illy du Eollet wahlte im Einverstandniss mit dem Tonsetzer Ea-
cine's ,,Iphigenie in Aulis" und bearbeitete dieselbe als Operngedicht
Jetzt wendete sieh Gluck nach Paris und erreichte endlich, wiewol
nach vielen vergeblichen Bemuhungen, (lurch Yermittlung der Dauphine
Marie Antoinette, unterstutzt auch durch die Bemifliungen Maria
Theresia's und Joseph's, seine Absicht Im Spatsommer des
Jahres 1773 begab sieh Gluck mit seiner ? ,Iphigenie in Aulis" nach
Paris. Seine Gattin und seine AdojjMvtochter und Nichte Marianna
begleiteten ihn. Dort angekommen, erschrak er zwar nicht wenig fiber
die barbarische Beschaffenheit des franzosischen Gesanges, fiber jene zahl-
losen Mangel und tiblen Gewohnheiten, die auch Anderen schon zum
Bewusstsein gekommen, u. A. von Jean Jacques Eousseau schon
fruher hart getadelt worden waren. Aehnliches begegnete ihm in Bezug
246
auf die Orchesterkrafte. Er musste die grosste Muhe anwenden, nm die
Ausfahrenden seinen Zwecken dienstbar zu machen. Ausgertstet indess
mit unerscMtterliclier That- und Willenskraft, wusste er alle Hinder-
nisse zu beseitigen, so dass endBch die erste Auffuhrung am 19* April
.1774 stattfinden konnte. Bei der ersten Vorstellung wurden viele Stticke
mit rauschendem Beifall begrflsst, der Schluss jedocli kalt aufgenomnien.
Dock schon naeh der zweiten Torstellung erfreute die Oper sich eines
gunstigeren Erfolges, der sicli fortwahrend steigerte, obschon Partei-
ungen entstanden und hartnackige Kampfe sich vorbereiteten. Gluck
schritt nun sogleieli zui Umarbeitung seines Orpheus", der am 2. August
desselben Jahres aufgefuhrt und mit Entzucken aufgenonamen wurde.
Mit Ruhm belohnt und mit Gold liberMuft kehrte Gluck nach Wien
zuruck, um auch seine ubrigen Opern fur die fi'anzosische Btiline einzu-
richten. Er reiste liber Strassburg, wo er die Preude hatte, eine kurze
Zeit inKlopstock's Sesellschaffc zu yeiieben. Bei diesem Zusannnen-
treffen horte der Letztere Gluck's Mchte und mehrere Compositionen
aus seiner 75 HermannsscTilaclit a . Es geschah dies zu Anfang des Jataes
1775. Am 11. August desselben Jahres wurde G luck's Operette ,,La
Cytliere assiegee" in Paris aufgefiihrt. Dieses Stuck brachte indess nur
eine geringe Wirkung hervor; walirscheinlich hatte man in des Ton-
setzers Abwesenheit nicht den zur Auffiihrung desselben nothwendigen
Heiss angewendet.
Gluck hatte in Paris die Dichtung zu der Oper ,,Roland" von
Quinault empfangen, nm sie in Musik zu setzen. Nach Wien zurucfc-
gekehrt. arbeitete er nicht nur fleissig an cliesem Werke, sondern auch
an desselben Dichters ,,Arrnida", ebenso richtete er seine Oper ,,Alceste"
fur die Paiiser Akademie der Musik ein. Spater ging er wieder nach
Paris und brachte seine ,,Alceste" am 23. April 1776 zur Auffuhrung.
Bei der ersten Vorstellung fiel indess diese Oper nicht nur ganzlich
durch, sie wurde geradezu ausgezischt. Um dieselbe Zeit empflng Gluck
aus Wien die Nachricht, dass seine Mchte einen Tag vor der Auffuhrung
gestorhen sei. Der schlimme Erfolg der ,,Alceste" war indess nur ein
momentaner, die Einsichtsvolleren schrieben die Ursachen der linMschen
Dichtung, insbesondere der Unbedeutendheit der Entwicklung zu. Man
suchte das Unpassende ein wenig zu entfernen, und das Werk fand dann
einen gleichen Erfolg wie die friiheren.
Eine Eeihe von Jahren war auf diese Weise verflossen, und Gluck
hatte in Paris festen Puss gefasst Trotz alleclem aber war er noch
keineswegs der unumschrankte Herrscher im Reiche der Tonkunst. Es
gab dazumal drei Parteien in Paris.
247
Auf Lully war in Frankreich Jean Philippe Bamean, geboren
zu Dijon am 25. September 1683 5 gefolgt. ,*Er war schon mehr als ein
reifer Mann", bemerkt Sehelle in seiner vorhin genannten Schrift,
,,ein Funfziger, als ihm der Zutritt zur Btihne gestattet wurde. Ein
gescMckter Meister auf Kkvier und Geige, ein tnchtiger Orgelspieler,
vor allem aber berubnt als erster Theoretiker seines Landes, war er
im Besitz aller technisehen Mittel, die ihm sein Jalirhimdert darbot.
Seine reichen Kenntnisse. verbunden mit einer bedeutenden Phantasie
nnd festein Charafcter, setzten ihn in den Stand, die Oper naeh alien
ihren Beziehungen grandlich durchzubilden. Sclion seine ersten Ver-
suche auf dem Gebiet der dramatischen Musik, 3 . Samson 41 mid ^Hifpo-
lyte et Aride", zeigen nach Form und Conception einen iinendliclien
Abstand zwischen den Opern seiner Vorganger. Dasjenige Feld indess,
auf welchexn der Fortscluitt am sichtbarsten hervortrat, waren die Arie
tmd der Instrumentalsatz. Grossartig namentlicli tritt sein "Wirken auf
clem Gebiet des letzteren hervor, dessen Yater er im watren Sion cles
"Worts genannt werden kann." Eameau hatfce die dtircli Lully be-
grundete Eichtung fortgesetzt, obschon er bereits den Stil und zwar niclit
selten auf Kosten des Worts musikalisch erweitert hatte, so dass sich.
selbst ausgedehntere Coloraturen bei ilim vorfinden, wiewol er eigent-
lich gegen das Italienisdie gestimmt war.
Er schrieb, von einer Eeise nach. Italien zuruckgekehrt, die vorMn
genannte Oper ^Hippolyte et Aricie", welche mit Beifall aufgenommen
wurde. Dadurch aufgemuntert, liess er, der ein totes Alter erreichte,
eine grosse AnzaH abnlicher Werke, nnter diesen r Zoroaster" und Castor
und Pollux", folgen. Im Jaire 1752 musste er es indess erleben, dass
eine italienische Operngesellschaft ihm seine Erfolge streitig machte, so
dass eine grosse Partei sieh jetzt der italienisclen Oper zuwendete.
Auch. firfiber batten bereits Parteiungen bestanden. Sclion seit dem Tode
L ullj's hatte sicli in den Schichten der guten Gesellschaft eine Partei
zu Gunsten des italienischen Gescimacks gebildet, welcher yon nationaler
Seite her mit dem liartnackigsten Widerstancle begegnet wurde. Sobald
jedocl, Eameau in der Oper festenFuss gefasst hatte, nalnn der Streit
eine coteriehafte, personliclie Farbung an. Lully 's und E a mean's
Anlianger, die bis dahin zum Theil einander aucl gegentibergestanden
batten, vereinigten sich jetzt, indem dieselben gemeinschaftlicli gegen
die Italiener Opposition machten. Sclion jetzt begann demnach der be-
rtihmte Musikstreit, der spater durch Gluck und Piccini noch gesteigert
werden sollte. Die Parteien erMelten die Namen dfer Buffonisten
und Antibuffonisten. Eke Gesellschaft italieniseher Sanger hatte in
248
Paris die Brlaubniss erhalten, im Saale der Grossen Oper komische Opern
aufeufiihren, mid wurde deshalb >,Les Bouffons" genannt. Sie versammel-
ten sich allabendlich im Opernsaale, wo die Einen standhaft verdamm-
ten, was die Anderen in den Himmel erhoben. Der Brfolg indess war
lange Zeit Mndiuch ein scliwankender , so dass jede der Parteien ab-
wechselnd sicli eines momentanen Sieges erfreuen konnte. Die Franzosen
hatten eben einen Vortheil emmgen, als Rousseau auftrat und sich
entscMeden auf die Seite der Italiener stellte, indem er mit Eecht
die Mangel der franzosischen Musik bekampfte. Dies hatte zur Folge,
dass dadurch die letztere gefordert, dass mannigfache Fortschritte an-
gebahnt wurden. Es erschienen jetzt die vorzuglicheren , gelauterten
Schopfungen eines Dnni, Philidor, Monsigny,. Gretry u. s. w.,
den Sinn for gute Musik im Bereiche des Franzosisch-Nationalen weekend.
Es gab demnach dazumal drei Parteien in Paris, die Anhanger
Lully's und Kameau's, die ItaJiener, endKcb die Anhanger Grluck's.
Gluck stand sclion auf der Hohe seines Euhmes, als die Preunde des
ItaUeniscten, die ComtesseDu Barry, die Geliebte des Dauphins, an
der Spitze, es durctgesetzt hatten, dasB einer der gefeiertsten italienischen
Operntonsetzer, Piccini, nach Paris berufen wurde. Dieser, ein Nea-
politaner und Schliler des neapolitanischen Conservatoriums, L. Leo's
und Dur ante's, war einer der bedeutendsten Meister jener Zeit. Seine
Opern, deren er eine grosse Anzahl geschileben, wurden in alien Haupt-
stadten Europas gegeben. Nachdem er das Conservatorium verlassen
hatte, weilte er vorzugsweise in Eom und ISTeapel, der Liebling des
PubMcums. Als er nach Paris kam, war ihm ein grosser Euf schon
Yorausgegangen. Die glanzenclen Erfolge eines seiner "Werke, seiner
njBonne fille", der Umstand, dass Gretry sich seinen Schuler nannte,
hatten ihn besonders gehoben. So betrat er im Jahre 1776 Paris. Man
libergab ihin dasselbe Gedicht, welches auch Gluck in Musik zu setzen
tibernommen hatte, die Oper ,,Eoland" von Quinault. Dies wurde daher der
Grand, dass Gluck von der Ausfuhnmg dieser Aufgabe absah. Piccini fand,
protegirt vom Konig, grosse Erfolge mit seinen Werken, so nanientlich so-
gleich mit seiner ersten Oper ,,Eoland", und die nattirliche Folge war, dass
der alteSfcreit nun erst recht erwachte, nun erst in sein hochstes Stadium trat.
Am 23. September 1777 fand die ersfce Aufflihrung der Gluck'schen
? ,Araida a statt. Auch Mer wurden die ersten Vorstellungen gleich-
gtiltig aufgenommen, nach und nach aber gewann das Werk einen immer
gunstigeren Boden.
Endlich aber sollte der entscheiclende Moment kommen. Dies war
der Fall im Jahre 1779. Schon am 30. November 1778 war Gluck
249
wieder in Paris angelangt, um seine ,,Iphigenie in Tauris" zur Auf-
fuhrung zu bringen. Am 18. Mai cles folgenden Jalires wurde diese
Oper zum ersten Male gegeben und gewann einen so grossen Erfolg,
wie keines der Miberen Werke Gl uck's in Frankreicb. Gluck liatte
mit seiner 55 Ipl]igenie in Tauris 4 ' nocb eine andere Operndiclitung n E<fio
et Narcisse" zur Composition mit nach Paris genornrnen. Dieses Werk
wurde funf Monate spater aufgefukrt, erhielt aber nur einen geringen
BeifalL Die Aufhalime des yorausgegangenen war der glanzendste
Moment, so dass sicb diesem gegeniiber eine ,,IpMgenie" von Pie-
cini, welche am 23. Januar 1781 zur DarsteUung kam, nicbt bal-
ten konnte.
^-^'So liatte, sagt .Set ell e, wabrend ganz Europa sicb den Sirenen-
klangen der italienisclien Musik beugte, diese in Paris das Bollwerk
gefunden, an dem sicb. ilire Macht brecben sollte, und der genannte
Autor findet clarin einen Beweis fur die eigene Mission der franzosiscben
Kunst. Aucli die Bedeutung des Bouffonenkriegs,- bemerkt derselbe, be-
ruhe auf dem Wesen und der Mission der franzosiseheii Oper.
Die letzte Zeit seines Lebens verbracMe Gluck wieder in Wien.
Er litt an den ungltickliclien Folgen eines Scblagflusses. Im Jabre 1783
wurde er von der Pariser Akadeinie der Musik aufgefordert, einen Com-
ponisten vorzuscblagen , der die Faliigkeit besitze, nacb den von iluii
aufgestellten Grundsatzen zu arbeiten. Gluck sclilug Salieri vor,
und dieser scbrieb demzufolge fur Paris die Oper n Les Itanaldes", welcle
Gluck zu componiren abgelebnt batte. Das Werk wurde 1784 gegeben,
und als Verfasser desselben erscMenen anfengs Gluck und Salieri
gemeinscbaftlich auf dem TiteL Spater, nacb einer bedeutenden Anzalil
von Vorstellungen, erklarte Gluck in einem Pariser Joui'nal, dass Salieri
der alleinige Verfasser sei.
Gluck starb am 15. November 1787 in Folge eines Diatfehlers und
binterliess seiner ihn liberlebenden Gattin ein grosses VermQgen.
Vielfacb. bat man gefragt, wie es gekommen, dass Gluck so ausser-
ordentliebten Beifall in Paris gefunden bat, und die erHarenden Ursacben
in Nebenumstanden gesucbt. Die nacbsten Ursach.en liegen ohne Zweifel
theils in dem Grossen, in dem Ausserordentticben der Kunstscbopfongen
selbst, theils in den eigenthumlich gestalteten, scion .angedeuteten Ver-
lialtnissen, in die er mit der entscbeidenden That eintreten konnte, Wie
der Vogel in den Zweigen singt, um zu singen, so liatte Italien gesungen
in einem freien, melodiscben Ergeben der Singstimme, obne Eticksicbt
auf besonderen, cliarakteristiscben Ausdruck, und Italien batte so der
Melodie eine formelle, sinnlich sclione Vollendung gegeben. Gluck,
250
seinem allgemeinen Standpunete, seinem Princip dramatisclier Wahrheit
im Ausdrucke zufolge, musste den Inlialt der Worte in ihrer Besonder-
lieit selnen Melodien einpragen und den Verlauf derselben demzufolge
bestimmen, musste clieselben zwischen jene frei fur sich bestehende Ge-
sangsmelodie, welche nur die Grrundstimmung in sich aufnimmt und dann
unabMngig yom Texte sich ergeht, und die gewohnliche Declamation
stolen, musste den rhetorisclien Accent in seinen musikalischen Schaf-
fensprocess aufnehmen. Dies aber war es, was dem franzosischen Wesen
gemass war, was sclion Lully zur Geltung gebracht hatte. Lully
hatte in ahnlicher Weise Gluck in Frankreicli vorgearbeitet, wie Purcell
in England Handel's VorgSnger geworden ist. Es war niclit nur ein
Kampf um Personlichkeiten, es liandelte sich niclit wie auf dem Ge-
biet der Tonkunst so oft um personliche Eitelkeit und Amnaassung.
Wenn das Publicmn kein anderes Interesse zu haben scHen, als sicli
uber Gluck und Piccini zu streiten, so war dies ein Kampf um
Principe, ein Kampf um die Weltlierrscbaft des Italienischen auf der
einen und des Deutsch-Franzosisclien auf der anderen Seite. Dem bis
dalin allein geltenden italienisclien Princip trat jetzt ein neues, geistig
bedeutenderes, welches den Aufschwung der Oper zu walirhafter Kunst-
bedentung zur Folge hatte, gegenuber. "Was wir spater yereinigt er-
blicken, und was in dieser Vereinigung den ersten grossen Hohepunct
auf dem Gebiet der Oper bezeichnet, trat hier zunachst nocli geschieden,
ja feindlicli gesondert auf. Es gait zunachst der bis daMn allein berr-
sclienden italienisclien RicMung gegenuber die deutscli-franzSsische selbst-
standig herauszuarbeiten, in 'ihrer Geschiedenheit und Sonderung geltend
zu machen. G 1 a c k war berufen, dieser Aufgabe sich zu unterziehen,
und dieselbe zu losen. Er steht mit dem einen Fusse in Frankreicli,
mit dem anderen in Deutschland, und hat dem entsprechend auf den
Fortgang der Oper in beiden Landern den machtigsten Einfluss gehabt.
Was seit der Erfindung der Oper nur eine Tauschung gewesen war,
wurde durch ihn zum ersten Male zur Wahrheit, die Oper ward zum
Kunstwerk erhoben, das griechische Drama ein bis clahin immer
unisonst Erstrebtes zum ersten Male auf diesem Gebiet lebendig,
wenn aucli immer nocli nicht im sfcrengen und eigentlichen, im hochsten
.Sinne, so doch wenigstens insoweit, als es jener Zeit tiberhaupt mog-
lich war.
Hat man dies anerkannt, dann ist es aUerdings auch erlaubt, auf
Nebenumstande hinzudeuten. Schon hatte in Frankreicli jene Umbildung
der Ansicliten begonnen, welche in wenigen Jahren zur weltumgestal-
tenden That werden sollte, und G luck's heroische Schopfungen fanden
251
darum einen yerwandteren Boden. Die grossen Dichter der franzosischen
Nation batten ausserdem das Interesse an heroischen Stoffen, wie sie
Gluck bearbeitete, geweckt, uncl auf diese Weise mittelbar die neue
Eichtung angebahnt.
Auch vom Glftck -~ man hat dieses Wortspiel gemacht wurde
Gluck begunstigt, und man kann Mnzufugen, dass der Sieg ihm ohne
die Vereinignng mehrerer gliicklicber Umstande schwerer geworden sein
wurde. Ein Gliick war es ftr ilm, dass die Konigin Marie Antoi-
nette, die als Erzherzogin in Wien seine ScMlerin gewesen war, seine
Partei nahin, ein Gluck, dass J. J. Eousseau fur ilin kampfte, bekennend,
Gluck babe seine ganze Theorie zerstort imd alle seine Ideen geandert,
ein Gluck, dass iiberhaupt die geistreicbsten Manner imd Frauen, so die
Grafinv. Genlis, Yoltaire, sicb lebhaft interessirten, nicht, wie es so
haufig noch bis herab anf die neueste Zeit geschehen ist, das Musikalische,
als ibrer unwtrdig, zur Seite liegen liessen. "Was Eousseau betrifffc, so
wurde sclion vorhin zwei Mai anf diesen TJmstand Mngedeutet Eousseau
batte fruber der franzosiscben Spracbe sowol wie der Nation alles Musika-
lische abgesprochen; Gluck dagegen schatzte das Franzosisclie lioch, h5her
als das Italienisclie. Das letztere Melt er bei der Haufung der Vocale mehr
als jede andere Sprache geeignet, Passagen und reiche Gesangsfiguren zu
tragen ; in dem Franzosischen fand er mehr Klarheit und Kraft ? grossere
Angemessenheit fur dramatischen Ausdruck. Eousseau war durcb die
That widerlegt, und ehrlich genug, dies einzugestehen.
Anders verhielt es sich mit der Au&ahine der Glue k'schen Werke
in jener Zeit in Deutschland. Es kamen dieselben zwar auch bier
keineswegs ohne alien Brfolg zur Auffiihrung. So wurde z. B. 5? Iphi-
genie in Tauris" im Jahre .1781 zum erst en Male in Wien mit dem
ausserordentlichsten Beifall gegeben; diese Siege waren im Ganzen aber
doch mehr nur vereinzelter Natur, uncl in Berlin z. B* bedurffce es weit
lingerer Zeit, bevor Gluck's Schdpfungen und das darin ausgesprochene
Princip zur Geltung kamen. Der norddeutschen Opposition gedachte
ich schon welter oben im Vorubergehen. Insbesondere war es der als
Geschichtschreiber bekannte Fork el, welcher durch die bornirte Kritik,
welche er lieferte, seinen ubrigen Verdiensten wesentlich Eintrag gethan
hat. Das Verdienst, in Deufcschland tiber Gluck zuerst die Augen
geoffnet zu haben, gebtilirt namentlich J. F. Eeichardt. Bemerkens-
werth aber ist es, dass die grossen Dichter und Schriftsteller jener
Zeit Gluck's Verdienste fruber zu schatzen imd in ilirem ganzen Um-
fange anzuerkennen verstanden, als die Musiker, und es ist diese That-
sache ein neuer, trauriger Beleg fur die nur zu haufig wahrnebmbare
252
Unlust de* Letzteren, auf Neues einzugehen. S eh mid in dem ange-
fubrten Werke giebt mehrere interessante Mittheilungen, was die Urtlieile
damaliger Schriftsteller liber Gluck betrifft. Kl op stock war es, der
den Ausspruch zu dem seinigen machte, Gluck sei der einzige Poet
unter den Musikern. Gluck aber war es auch, der von sich selbst
sagte, dass er, sobald er componire, zu vergessen suche, dass er Musiker
sei. Aehnliche Urtlieile , wie das von Klopstock, besitzen wir u. A.
von Herder und Wie land, und was die Sache an sicli obne weitere
Beziehung auf Gluck betrifft, aucli von Lessing. Die Ausspruche
sind von grosser Wichtigkeit, und Sie erlauben mir daber, Ihnen die-
selben mitzutheilen. Horen wir zunaehst Wie land: ,,Endlicli haben
wir die Epoche erlebt, wo der inachtige Genius eines Gluck das grosse
Werk der musikalischen Eeform unternonunen bat, das, wofern es jemals
zu Stande kommen kann, nur durch einen Feuergeist, wie der seinige,
bewirkt warden musste. Der grosse Success seines Orpheus", seiner
,,Iphigenia" wirde Alles hoffen lassen, wenn nicbt unuberwindliche
Ursacben gerade in jenen Hauptstadten Europas, wo die schonen Ktinste
ibre vornehmsten Tempel baben, sicli seinem Unternebmen entgegen-
setzten. Eunste, die der grosse Haufe bios als Werkzeuge sinnlicher
Wolluste anzusehen gewobnt ist, in ibre ursprunglicbe Wtirde wieder
einzusetzen und die Natur auf einena Tbrone zu befestigen, der so
lange von der willkiiiiicben Gewalt der Mode, des Luxus und der
iippigsten Sinnlichkeit usurpirt worden: ist ein grosses und kuhnes
Unternehmen! Aber zu almHcb dem grossen Unternebmen Alexander's
und Clsar's, aus den Trinnmern der alten Welt eine neue zu scbaffen,
um niclit ein gleicbes GescHck zu baben! Eine Eeihe von Glucken
(so wie zum Project einer Univergal-Monarcbie eine Reibe von Ale x an-
dern und Casarn) wurde dazu erfordert, uni diese Oberberrschaft der
unverdorbenen Natur tiber die Musik, diesen einfachen Qesang, der,
wie Mercur's Scblangenstab, die Leidenscbaften erweckt oder einscblafert
und die Seelen ins Elysium oder in den Tartarus fiibrt, diese Verban-
nung aller Sirenenkunste , diese scbone Zusammenstimmung aller Tbeile
zur grossen Einheit des Ganzen auf dem lyrischen Scbauplatze berrschend
und fortdauernd zu macben. Gluck selbst, bei allem seinen Entbusi-
asmus, kennt die Menscben und den Lauf der Dinge unter dem Monde
zu gut, um so Etwas zu hoffen! Schon genug, dass er uns gezeigt hat,
was die Musik tftun konnte, wenn in diesen unseren Tagen irgendwo
in Europa ein A then ware, und in diesem Atben ein Per ikies auf-
trate, der flir das Singspiel tlum wollte, was jener fiir die Tragodien
des Sopbokles und Euripides that!" Herder spricht sich in
Beziehung auf G luck's Prineip wie folgt aus: ,,Der Fortgang des
Jahrhunderts wird uns auf einen Mann fuhren, der diesen Trodler-
krana werthloser Tone verachtend die Nothwendigkeit einer innigen
Verknupfung rein menscHiclier Empfindungen und der Fabel selbst mifc
seinen Tonen einsah. Von jener Herrscherhohe , auf welch er sich der
gemeine Musicus brustet, dass die Poesie seiner Kunst diene, stieg er
hinab und liess, soweit es der Geschmaek der Nation, fur die er in
Tonen dichtete, zuliess, den "Worten, der Empfindung , der Handlung
selbst seine Tone nur dienen. Er hat Nacheiferer , und vielleiclit eiferfc
ihm bald Jemand vor: dass er namlich die ganze Bude des zerschnittenen
und zerfetzten Opem-Klingklanges mnwirft, und ein Odeum aufrichtet,
eiu zusammenhangend lyrisches Gebaude, in welchem Poesie, Musik,
Action, Decoration Eines sind".
Entschiedener ferner, als es Les*sing in den nachstehend mitgetheil-
ten "Worten thut, kann man das Gluck'sche Prineip nicht anerkennen.
Er sagt: ,,Die Vereinigung willkurlicher auf einander folgender Zeiclien
mit naturlichen auf einander folgenden horbaren Zeiclien ist unstreitig
unter alien moglielien die vollkommenste , besonders wenn noch dieses
Mnzukommt , dass beiderlei Zeichen nicht allein far einerlei Sinn sind,
sondern auch von ebendemselben Organe zu gleicher Zeit gefasst und
hervorgebracht werden konnen. Von dieser Art ist die Verbindung der
Poesie und Musik, so dass die Natur selbst sie nicht sowol zur Ver-
bindung, als vielmehr zu einer und derselben Kunst bestimmt zu haben
scheint. Es hat auch wirHich eine Zeit gegeben, wo sie beide zusam-
raen nur eine Kunst ausmachten. Ich will indess nicht leugnen, dass
die Trennung nicht natiirlich erfolgt sei, noch weniger will ich die
Ausubung der einen ohne die andere tadeln; aber ich darf doch be-
dauern, dass durch diese Trennung man an die Verbindung fast gar
nicht mehr denkt , oder wenn man ja noch daran denkt , man die eine
Kunst nur noch zu einer Hulfskunst der anderen macht, und von einer
gemeinschaftlichen Wirknng, welclie beide zu gleichen Theilen hervor-
bringen, gar Mchts rnehr weiss". - Sie sehen, jene Manner hatten
eine viel deutlichere Einsicht in die Aufgabe der dramatischen Musik,
als die Tonsetzer, und dies bis herab auf die neueste Zeit; eine deut-
lichere Einsicht auch, als jene franzosischen bei dem Kampfe in Paris
betheiligten Schriftsteller, denen der Kernpunct der grossen hierher ge~
horigen Pragen nicht zum Bewusstsein gekommen ist.
Gluck gehort auf dem Gebiete der dramatischen Tonkunst zu den
Mannern, welche die hdchste Auszeichnung verdienen. Fast keiner
seinen grossen Nachfolger E. Wagner ausgenommen hat so wie er
254
seine Blicke ernzig und allein auf das Ewige geriehtet, und, jede Mode
yerachtend, nur das fur alle Zeiten Gultige zur Darstellung zu bringen
gesucht Fast bei keinem Tonkimstler ausser ihm zeigt sich eine solche
energische Consequenz , eine solche eiserne Beharrlichkeifc des Willens,
ein solch hohes, bewusstes Kunststreben , und es ist grossentheils nur
dem stets erneuten Andringen des alten Opernprincips, dem Umstande,
dass man bald nach ihm den von ihm betretenen Weg ^ wieder zu ver-
lassen begaim, zuznschreiben , wenn Glnck noch nicht allgemein hn
grosseren Publicmn die Stellung einninimfc, welche ihm gebithrt, die
Stellung eines der grossten Ktinstler aller Zeiten.
Mt eiaer BeMedigung, welche spatere Opern nur selten zu ge-
wahren yermSgen, mit dem Bewusstsein , wirklich ein Kunstwerk yor
tins zu haben, konnen wir noch jetzt der Auffiilirung Gluck'scher
Opern beiwolmen. Der grosse Verstand Gluck's ist es, sein Alles
uberschauender Blick ? welch er diese Befriedigung erweckt. Wenn die
spateren grosseu Operneoinponisten weit mehr als G 1 u c k Phantasie und
Empfindung beschaftigen , so ist doch fast keiner, welcher diese Massi-
gung. diese Beherrschung, .diesen stets auf das Ganze gerichteten Blick,
^lege verstandige Klarheit zeigte. Gluck hat zuerst Chaxaktere geschaf-
fen im dicliterisehen Sinne, durch bestimnite Umrisse begrenzte Ge-
stalten musikaliseh dargesteflt, und die Musik zu solcher Scharfe der
Charakteristik ^ugespitzt. Mit grosser Meisterschaft weiss er gleich beim
Beginn seiner Diamen das Wesentiiche, den inneren Kern jeder Person-
lichkeit zur Darstellung* zu bringen, durch das gauze Stuck hindurch
diese Eigenthtiinlichkeit consequent zu entfalten und bis zur Vollendung *
zu entwiekeln. Mit grosser Meisterschaft weiss er die Instrmnente zu
vertheilen, und den verschiedenen Charakteren ihrer Eigenthfirnlichkeit
geiniiss beizuordnen , so dass, wahrend spatere Oomponisten von dem
ganzen Orchester fortwahrend mehr oder weniger Gebrauch machen, hier
bei Gluck im Gegentheil eine kunstvolle Vertheilung, ein kunstvolles
Anfsparen bis zum rechten Moment sieh zeigt, eine Massigung, welche
nicht ruhmend ^nug heryorgehoben werden kann, Mit grosser Meister-
schaft endlich gestaltet Gluck jede Erfindung, jede Instrumentalfigur
dem Plane des Ganzen gemass. Aus Allem spricht eine grosse, tiber-
schauende, das ganze Werk bis in jede Einzelheit durchdringende
Intelligenz, eine unerschutteiiiche Consequenz. Hatten die Opernformetf
vor Gluck eine feste, unbewegliche , von dem Inhalt unaBhangige Ge-
stalt gewonnen, so dass die innere Seele der Dichtung nicht mehr zur
Erscheinung kommen konnte, so hat Gluck darin eine neue Wendung
herbeigefiihrt , indern er uber Manier und Formalismus hinaus schritt
255
und die Q-estaltung lediglich von dem Gange der Saclie abhangig maehte.
In jenem fruheren bios musikalischen Rahinen clramatisches Leben zu
entwickeln, war unmoglich; Gluek erkannte die Nothwendigkeit, Alles
in*Fluss zu bringen, mit Arien, Reeitativen, Ghoren zu wechseln, wie
es der Augenblick gebot, ohne erst jeden Satz rein musikalisch auszu-
fuhren, und zu einem bestimmten Abschluss zu bringen. Gluck end-
licli hat sich nicht auf die Trivialitaten gewohnlieher Operntexte be-
schrankt; er hat sorgfaltig gewahlt, und machtige Leidenscliafteri von
wirklich substantiellem Gelialt, Yater-, Mutter-, Gatten-, Gescliwister-
liebe, mannlichen Muth, Kulinheit, Zorn zur Darstellung gebracM. Er
hat alle diese Seelenregungen, diese Leidenschaften mit einer Raturwalu-
heit dargestellt, dass der Sinn und das Interesse fur seine Sclopfungen
nie untergehen kann.
Es ist jedoch weniger die schopferische Phantasie, welche Gluck 's
Charaktere in das leben gerufen hat, es ist ein inehr verstandiges Er-
kennen, und die Gestalten desselben zeigen darum eine gewisse Mono-
toiiie, einen gewissen Mangel an Lebenswaime; es fehlt ihnen jene
liebens- und bewunderungswurdige BeweglicM:eit 7 jene Geschineidigkeit
und Mannigfaltigkeit, welche Mozart's Dichtungen aus^eiclinet. Gluok's
Seele ist nur von Ernst erfullt, und seine Gestalten tragen danun eine
und dieselbe Farbung, eine gewisse antike Grossartigkeit ; man hat sie
. Marmorbildern verglichen, plastisch genannt, wie jene Marmorbilder,
aber auch kalt und unbeweglich, wie jene. Es war Gluck niclit ge-
geben, jenes Zauberreich der Phantasie zu betreten, welches Mozart und
seine Nachfolger erschlossen haben, jene Kunstvollendung und classische
Abgeschlossenheit zu erreichen, welche Resultat schopferischer Phanta-
sie und tiefen Eamstverstandes zugleich ist. Gluck hat allerdings
das, was er beabsichtigte , in Folge des Standpunctes seiner Zeit, in
Folge des Mangels an Yorgangern, oftnials nicht befriedigend zur Er-
scheinung zu bringen vermocht, und es ist dieser Umstand bei seiner
BeurtheUung wesentlich in Anschlag zu bringeu. Es ist oftmals eine
unvermittelte Eluft zwischen dem, was er beabsichtigte, und dem, was
er zur Darstellung gebracht hat: hat man jenes erkannt, so ist Alles
gross und bedeutend; halt man sich an das, was gegeben ist, so fiihlt
man sich ofters unbefriedigt. Aber auch dies in Betracht gezogen, so
ist doch bei ihm keineswegs noch jene Fulle und freie, schopferische
Thatigkeit der Phantasie, welche die spatere Zeit charakterisiri Gluck
steht nach alledem vor uns als einer der grossten Kunstler, was das
Streben nach dem als einzig wahr erkannten Ziele, was Gro^e und
Adel der Gesinnung, tiefes Denken, Yerstand in der Entwerfung und
256
Consequenz in der Ausfiihrung seiner Sehopfungen , als ein Muster der
Nacheiferong , was sein Princip "betrifft, als ein YorMld fur die Gesin-
nung; betrachten wir das Geleistete, so mtissen wir dem Nachfolger
Mozart in Bezug auf die soeben namhaft gemachten Seiten die Sieges-
palme reiclien, unbesehadet der Grosse Gl tick's, welche ihn in Einigem,
was Hoheit, Adel, strenge, ernste Seelenschonheit betrifft, untiber-
troffen erscheinen lasst
Es sind griecMsclie Thranen, welehe in Gluck 's Werken vergossen
werden; es ist eine jungfrauliehe Frische und Herbheit in diesen Charak-
teren, ini Gegensatz zur entwickelten Sinnlichkeit des Weibes in Mozart;
es welit eine frische Morgenluft in den Werken Gluck's, welehe nicht
ganz frei ist von Kalte, wahrend Mozart in der warmen Mittagssonne
einer ganz entfesselten Freude und Wonne stebt. Jener scbafft nur in
Gemeinscliaft mit dem DieMer, dieser aus sicb selbst, aus der Ffille der
Pbantasle heraus. Gluck ware verloren, wenn er solclie Trivialitaten,
wie die Mozart'scben Texte im Einzelnen zeigen, wenn er keine
liolien. tragiscben Empflndungen auszudrucken hatte; Mozart bat seine
Charaktere vollstandig aus der Fiille des Herzens und der Pbantasie
lieraus geschaffen; sie steben uns daruna nienscblicb naher, und Lepo-
rello, Zerline, Osmin, Blondcben imd viele andere waren fur Gluck
uninogliclL Gluck ist die noch. unaufgeschlossene Enospe, Mozart
die in reichster Ftille entfaltete Blume. Die damalige Oper culminirt in
zwei Gipfeln, Gluck und Mozart; Beide baben in gewisser Hinsicht das
Hochste geleistet, je nachdem man den Gesicbtspunct feststellt. Wabrend
indess Mozart die Aufgabe zum Abschluss bracbte, und in dieser Hin-
sicht mibestreitbar die hohere Bestimmung erfdllte, hat er zugleich scbon
ich sage dies unbeschadet der Yerehrung, die wir dem Herrlicben
scbuldig sind dem Sinken der Kunst vorgearbeitet, und zu dem
spateren Euckgang die Veranlassung gegeben. Er steht zuruck gegen
Gluek in mebr als einer Beziehung. Bei diesein ist holies Bewusst-
sein von der Wiirde der Sache und ktinstlerischer Ernst tiberwiegend;
Mozart besass nicht diese strenge Haltung, dieses philosophisclie Be-
wusstsein. Weit entfernt zwar, ein genialer Naturalist zu sein, dacbte
er viel, mid gerade das schone Gleichgewicht von Eeflexion und un-
mittelbar schaffender Naturkraft ist das Bezaubernde in seinen Schop-
fungen; aber er dachte nur innerhalb seiner Kunst, nur musikalisch,
und es mangelte ibm jenes davon getrennte, im Hintergrunde thronende,
ausdruckliche tbeoretische Bewusstsein von der hohen Bedeutung der
Jxunsfc und des schaffenden Genius, die Eucksicht, jede Schopfung
257
neben ihrer augenblicldiehen Bestimmung zugleich so zu gestalten/dass
sie unmifctelbar auch der Unsterblichkeit geweiht war. Mannigfache
ZugeStandnisse , welche er dem Zeitgeschmack machte, waren die Folge,
und die Iiolie Ansehauung G- luck's yon der Oper ging bei ihm zum
Theil veiioren. Alles, was das Genie zu geben vermag, sehen wir
bei ihm in reichster Fulle vorhanden, und die tiefste Begeisterung far
die Sache zeigt sich im Wesentlichen ; an stronger Haltung aber und
Unterordnung alles Zufalligen unter die ewige Idee steht er Gluck
nack Wenn bei diesem Alterndes sich zeigt, so ist die Ursache der
Standpunet seiner Zeit und die minder ausserordentliche Begabung; bei
Mozart, welcher uberall das Tollendete hatte geben konnen, haben wir
die Ansclauung, dass es Concessionen gegen den Zeitgesckmack, dass *es
eine minder holie Ansicht von der Saclie tibertaupt war. Durcli die
gescMchtliche Mission Deutschlands zur itaHenisclien Musik hingedrangt,
entfernte er sich. wieder von der frozen geistigen Schonheit G luck's,
und gestattete dem sinnlichen Element in seinen Werken zweiten Eanges,
,,Titus" z. B., allzu grossen Einfluss, verliess uberhaupt die strenge
dramatische Gestaltung Gluck 's und maehte dieselbe liin und wieder
von ausseren Einflussen abhangig. Seine iiberwiegend musikalische
Natur endlich liess ihn zum Theil in Texten Befriedigung finden, welche
im Ganzen allerdings vortrefflicli , musikaliscli reichen Stoff boten ? im
Einzelnen jedoch, in der dichterischen und dramatischen. Gestaltung,
sekr Vieles zu wtinschen ubrig liessen. Mozart maehte dadurcli die
Oper zu einer musikalischen Schopfung, wahrend sie bei Gluek, wie
es sein soil, eine dichterisch-musikalische gewesen war. Die moderne
Testvernachlassigung , die scMefe "Wendung, welche der Begriff der
Oper in spaterer Zeit erhalten hat, der Umstand, dass die Musik und
die musikalisclien Pormen in der Oper das Uebergewieht erlangten,
nicht aus der inneren Nothwendigkeit des Textes heraus geschaffen
waren, dass Herkommen und Gewohnheit entschieden, liaben in ibm
wieder ihren Drheber gefunden. Die Hoheit seines Genies Helt die
Werke vorzugsweise auf jener Hohe, welche wir bewundern, weniger
Bewusstsein, weniger ein stets in alien Theilen auf das Ewige und
Unvergangliche gerichtetes Streben. Mozart bezeiclinet, wie dies bei
alien Genien, welche auf dem Culminationspunct stehen, der Pall ist,
den Wendepunct, das letzte Ersteigen des Gipfels, und das erste Hinab-
gehen von demselben. So tragen die Momente hochster Eeife und Ent-
wicklung im Eeiclie alles Lebendigen zugleich den Keim des Todes in
sich, und die hochste Entfaltung ist zugleich die beginnende Vernichtung.
Dies ist das Eesultat, welches wir festhalten mussen, um den weiteren
17
258
Fortgang der Oper zu begreifen, und zu den endlichen Resultaten meiner
Darstellung zu gelangen.
Mit diesem Hinblick auf Mozart, der uns nun bald naher besehaf-
tigen wird, schliesse ich die heutige Vorlesung. Mozart 1st das grosste
Eesultat, welches Gluck gehabt hat; durch ihn wurde Mozart mog-
lich, und die kunstgeschichtliche Bedeutung G luck's ist zunachst auch
nur im Hinbliek, wie auf das, was ihm vorausgegangen war, so auf
den Letzteren, seinen grossen Naehfolger, zu erfassen. Eine weitere
Perspective noch wird sich uns eroffnen, wenn wir erst den Fortgang der
Entwicklung bis herab auf die Gegenwart verfolgt haben. Dann wird
sich zeigen, dass Gluck nicht vollstandig aufgeht in Mozart, dass,
so zu sagen, ein Bruchtheil ubrig bleibt, was zur Fortbildung durch
B. Wagner den Impuls gegeben hat. Jetzt hat uns des eben Genannten
Auftreten in den Stand gesetzt, noch bestimmter dem Yon Gluck Ge-
leisteten und Gewollten seine Stellung anzuweisen, das Erreichte sowol
als das noch Fehlende zu bezeichnen. Mozart, das ist das Wichtigste
in dieser Beziehung, hat die specifisch musikalische Seite zur hochsten
^Entfaltimg gebracht, und wir sehen darum im weiteren Fortgang bis
herab auf die Gegenwart diese Seite yorzugsweise ausgebeutet. Von
unserem Standpunct aus indess, der im weiteren Verlauf immer mehr
seine Begrundung erhalten wird, erscheint dieser ganze Abschnitt mehr
nur als eine grossartige Episode. Wagner greift zurtick, kntipft an
Gluck an, untersttitzt dabei durch den ganzen Eeichthum des durch
die specifisch musikalische Entwicklung seit Mozart Gewonnenen. Das
ist uberhaupt das Entwicklungsgesetz auf dem Gebiet der Oper, dass
zuerst immer das einzig richtige Princip der Einheit und Gleichberech-
tigung der Kunste in der Oper ergriffen und aufgestellt wird, dies
Letztere nattirlich immer init der Einschrankung , dass auf der Musik
vomigsweise der Accent ruht. Dann folgen Ablenkungen, Vertiefungen
nach der specitisch musikalischen Seite Inn: so in Italien nach Erflndung
der Oper, so nach den Zeiten Gluck 's. Ist die erstrebte Vertiefung ge-
wonnen, ist eine neue Seite musikalisch herausgebildet, so erfolgt der
Rlickgang auf das ursprtlngliche Princip der Einheit der Kunste, des
innigeren Anschlusses der Musik an die Poesie, und man strebt nach
neuer Yerwirklichung desselben auf immer hoherer Stufe.
Nachdem wir die Anfange hoherer Kunstleistungen in Irankreich,
und sodann das, was Deutschland und Frankreich vermittelte, die Schop-
fungen Gluck' s, betrachtet haben, betreten wir in der nachsten Vor-
lesung wieder ausschliesslich das deutsche Gebiet, urn dem Umschwunge
der Eunst Mer m folgen.
259
Gluek 1st der erste Keprasentant der Epocle des schtfnen Stils la
DeutscHand, der erste Eeprasentant des Umsehwunges in der zweiten
Halffce des vorigen Jakrimnderts. Auf die grosse Kirchenmusik der
Vorzeit folgt, durch ilin hervorgerufen , die classische Hohe der Oper.
Wir haben jetzt zunachst die Oper in DeutscMand , die italienische so-
wol wie die vaterlandische, weiter sodann die Entstelmng der modernen
Instrumentabiusik , das Hervorgehen dieser dritten, wicMigsten Musik-
gattung ins Auge zu fassen.
17*
Dreizehnte Vorlesung,
Die italienisclie Oper in Deutschland: Hasse. Naumann. Graun. Die deutsche,
insbesondere loniische Oper, die Operette und das lEelodram, G. Benda. Schweitzer.
Hiller. Dittersdorf. Reichardt "Wenzel Miiller, Erster Aufschwung der Instrumental-
nmsik. Bmamiel Bach. Friedeniann Bach. J. Haydn.
Gluek hatte den entsprechenden Boden fur seine Schopfungen in
Paris gefunden; wirkten auch dort viele aussere Umstande mit, ikn
Bahn m brechen, fand sich. wol aucli dort mir iin "kleineren Kreise
ein adaqnates Yerstandniss, so waren dock ausreichende Beziehungen
Yorlianden, welclie die Ursaelien seiner Erfolge wurden und ein geneigtes
Entgegenkommen von Seiten des Publicums yermittelten. Von Deutsch-
land konnte dies in jener Zeit noch nicM gesagt werden. Deutschland
war zu pHListerhaft und hausbacken, um diese von einer ganz anderen
Hohe des Standpuncts aus entworfenen Schopfungen zu verstehen, ja nur
aussei^che Inknlipfungspuncte finden zu konnen; noch zu wenig kunst-
gebildet, um Mer, wo es sich nicht bios um musikalische Beui'Gheilung,
wo es sich im Gegentheil ura hoheres Eunstverstandniss flberhaupt
handelte, schon die nothwendigen Voraussetzungen dafur zu besitzen.
Zwar bemerkte ich in der vorigen Vorlesung, dass G luck's Bestre-
bungen durch den Umschwung der Zeiten hervorgerufen waren, dass
er zuerst den Geist der Neuzeit zur Erscheinung brachte; ein Anderes
aber ist es ? ob dieser Geist schon in die Massen eingedrungen ist, oder
nui- erst am fernen Horizont erscheint. Dies Letztere war in Bezug auf
Gluck der Pall. Gluck stand in seiner Zeit auf einsamer, noch
unerkannter Hohe ; er hatte nur erst das neue ' Opernprincip aufge-
stellt, aber ohne dass dasselbe schon hatte Eingang gewinnen konnen;
er war, eine imposante Macht, dem bis dahin Herrschenden gegenuber-
getreten, aber er hatte dasselbe noch nicht besiegt, noch nicht ganzlich
beseitigi
261
Fragen Sie aber, welches die Opernzustande zu seiner Zeit in
DeutseHand waren, so dient Merauf zur Antwort, dass wir als herr-
schend im Publicum zwei Biehtungen bezeichnen miissen, die italienische,
welche nock jetzt zahlreiche urwi begabte, Vertreter hatte und von den
Hofen begtinstigt wurde, sodann eine im engeren Sinne national-deutsche,
welche in den Ereisen des Volkes gehegt und gepflegt wurde.
Was die erstgenannte.Bichtung betrifft, so finden Mer drei Manner
vorzugsweise ihre Stellung, wiclitig genug, um in unserer Darstellirag
nicht tibergangen zu werden, die beiden Dresdner Kapellmeister Hasse
und Naumann und der Berliner Graun. Die genannten Ktinstler sind
es gewesen, welche die italienische Bichtung in DeutseHand der Haupt-
sache nach zum Abschluss gebraeht haben, und als die letzten Eepra-
sentanten derselben zu bezeichnen sind. Begegnen uns spater noch ita-
lienische Opern von italienischen Operngesellschaften dargestellt in
Deutschland, so war dies etwas Vereinzeltes und reine Sache der Will-
kur, der Liebhaberei der Fiu^ten, ohne principielle Berechtigung, wah-
rend bis zu den Zeiten der Genannten eine solche Berechtigung, eine
innere Nothwendigkeit, vorhanden war.
Ich theile Ihnen in Kurze das Bemerkenswertheste uber die Ge-
nannten mit.
Johami Adolph Hasse war geboren im Jahre 1699 in Bergedo^f
in der Nahe von Hamburg und fand seine erste ktinstlerische Ausbildung
daselbst, wo er als Tenorist am Theater vorzuglich Gelegenheit hatte,
Reiser's Opern zu studiren. Der Wunsch, sich eine grlindliche theo-
retische Ausbildung zu verschaffen, ffihrte ihn 1724" nach Italien. Sein
gutes Gluck brachte ihn bald in einer Gesellschaffc mit A. Scarlatti
zusammen; sein vorzugliches Klavierspiel und sein liebenswurdiges, be-
scheidenes Ben&hmen zogen die Aufinerksamkeit des Greises auf ihn,
in dem Grade, dass derselbe, den "Wunsch'des jungen talentvollen
Mannes bemerkend, diesem sieh selbst zum Lehrer anbot. Fleiss und
Eifer des Schulers waren nun so gross, dass Scarlatti ihn bald seinen
Heben Sohn nannte und das innigste, liebevollste , bis zum Tode des
Lehrers fortdauernde Verhaltniss sich zwischen Beiden bildete. Bald
machte Hasse durch seine Compositionen grosses Aufsehen in Italien,
und zahlreiche Einladungen ergingen an ihn. So kam er 1727 nach
Venedig, wo er fur Kirche und Theater componirte, mit solchem Gluck,
dass er der Liebling des ganzen Publieums, insbesondere der Damen,
wurde. Zu derselben Zeit war die schone, geistvolle Faustina Bor-
doni, eine der grossten Sangerinnen, von London nach Venedig zurtick-
gekehrt. Der Buf des n caro Sassone", wie Hasse die Italiener narinten,
262
zog auch die Aufmerksamkeit dieser Dame anf ihn. Man veranstaltete,
urn Beide bekannt zu machen, eine glanzende Gesellschaft, und Faustina
scMed aus derselben mit dem Entschluss, Hasse zu ilirem Gemahl zu
erwahlen. Jetzt componirte dieser far Faustina, seine Gattin, und
sie, die vorlier sich zurfickgezogen hatte, trat wieder offentlich auf.
Der glanzende Hof August's, Konigs von Polen und Kurfursten von
Sachsen, wunschte Beide an die grossartige, ausgezeichnete Oper nach
Dresden. Hasse wurde zum Oberkapellmeister ernannt und seine
Gattin als erste Sangerin engagirt. Beide fanden in ihrer neuen Wirk-
samkeit die glanzendsten Erfolge. Bald jedoch gewaun der Kurfurst
ein naheres Interesse fur Faustina, sie wurde furstliche Geliebte,
und Hasse erhielt einen nicht gewtinschten Urlaub nacli Italien, Lange
Jahre verweilte der ungliicHiche Eeisende daselbst und kam nur tin
und wieder einmal zum Besucli nach Dresden. So wenigstens war die
Msherige Annahme, und Bochlitz in dem Cbarakterbilde ,,Faustina
Hasse" in seiner Schrift ,,Fur Freunde ^ier Tonkunst" erzaKIt diese
Dinge ausfohrliclier. Wenn ich. Ihnen dies mittheile, darf ich indess
die Bemerkung nicht ubergehen, dass man neuerdings die ganze Er-
zahlung in Frage, das VerMltniss Faustinens zum Kurfursten g^nz-
licli in Abrede gestellt hat. Es geschati dies in einem ausfahrliclien
Aufsatz der ,,Leipziger Zeitung", Auf diesen verweise ich, was jene
Angelegenkeit betrifft, Chrysander jedoch in seinem spater erscMe-
nenen zweiten Bande der Biographie Handel's spricht dasselbe aus wie
Eochlitz, nur noch. in bedeutend yerstarktem Grade, den Lebenswandel
dieser Frau.tiberhaupt als einen hochst sittenlosen bezeichnend. Spater
wurde Hasse nacli London berufen, als die fruher erwahnten Streitig-
keiten mit Handel ausbrachen. Dort feierte er grosse Triumphe und
erlebte einen vollstandigen Sieg uber Handel, ohne sich jedoeh dieses
Sieges zu erfreuen. Sein eigenes widerstrebendes Gefahl, als Handel's
Gegner zu stehen, die innere Ueberzeugung von der Grosse desselben,
der momentan mehr der Parteisucht unterlag, machten ihn unempfind-
licher gegen alle Vortheile, so dass er sich. bald entfernte und nie
wieder nach London zuriickkehrte. Er begab sich nach Dresden, wo
sich unterdess Faustinens Verhaltnisse geandert batten, und befand
sich nun eine Eeihe von Jahren Mndurch in der erwtinschtesten Wirk-
samkeit Die nach Beendigung des siebenjahrigen Krieges in Sachsen
nothwendig werdenden Einschrankungen batten endlich die Pensionirung
Beider zur Folge. Sie gingen nach Wien, endlich nach Venedig, wo
Hasse im Jahre 1783 starb. Hinsichtlicb seines Werthes als Kunstler
sind naturlich die Urtheile seiner Zeit und die der Gegenwart sehr
verscMeden. Es gilt dies von den genannten Tonsetzern tiberhaupt, die,
zu ihrer Zeit hoehberuhmt, jetzt nur ihr Andenken noch durcli einige
Hauptwerke lebendig erhalten haben. Die fruliere Zeit pries die zahl-
reichen Werke Hasse's, unter denen sich allein fiber 50 Opera be-
finden, uberaus hoch. Bleibenden Werth besitzt, wie damals stets, nur
das far die Kirche Geleistete. Am beruhmtesten ist sein Te deum, da
noch jetzt alljahrlich in Dresden aufgefuhrt wird. Hasse ist durch und
church Italiener, er theilt die Vorzuge und die Mangel seiner Schule.
Dieselbe Schonheit der Melodie, dieselbe durchsichtige Klarheit, aber
auch dieselbe Kalte und uberwiegend formelle Natur, welche die weni-
ger gelungenen Werke jener Scliule charakterisirt Man braucht, urn
dieses Urtheil bestatigt zu finden, nur die Sammlung Hasse 'seher
Arien zur Hand zu nehmen, welclie J. A. Hi Her unter dem Titel:
, 5 Meisterstiicke des italienischen Gesanges" herausgegeben hat/ Schone,
gesangreiche Melodien zeigen sich uberall, aber nur wenige lassen einen
tieferen Ausdruck erkennen - % die meisten sind uberwiegend formell und
im Ganzen ziemlich steif. K. C. P. Krause in seinen 5 ,Darstellungen
aus cter Geschichte der Musik" nennt Hasse den Correggio fur die
KirchennmsiL ,,So wie dieser grosse Maler", bemerkt er, ,,den Himmel
selbst voll Liebe und Preude, des innigsten, zartesten Gefuhls in Heb-
lichen Gestalten, in Licht und Parbe schildert, so weiss Hasse dureh
innig-schone Tone das Gemuth mit dem Vorgefuhl der seligen Preude
des Himinels zu trosten und zu erftUlen." Sein Te clewn ist glanzend
und ausserst dankbar fur die Stimmen, nicht ohne katholiscle Innigkeit,
nicht ohne diesen eigenthurnlichen Zauber, die nachhaltigere Kraft aber,
der wahrhaft hohere Aufschwung mangelt.
Minder ausschliesslich den Italienern zugeneigt zeigt sieh Johaim
Gfottlleb Nanmann, geboren zu Blasewitz bei Dresden im Jahre 1741,
der mehr eine die Stile der beiden Lander yerinittelnde Stellung ein-
nimmt. Nan maun steht nnserer Zeit noch naher, und die interessanten,
fast romanhaften Lebensschicksale desselben sind allgemeiner bekannt.
Er musste sich aus den imtergeordnetsten, zum Theil widerwartigsten
Verhaltnissen emporarbeiten und gelangte erst * spat zu einer sein em
Talent angemessenen , dann aber auch ausserst glanzenden Stellung.
Sein Vater war ein schlichter Bauer zu Blasewitz. Sclion der Besuch
der Kreuzschule zu Dresden war mit Muhseligkeiten yerbunden. Er
hatte einen so weiten Weg zu machen, dass er zum Mittagsessen nicht
nach Hause zuriickkehren konnte; er pflegte dasselbe, welches in einem
Stuck Bro4 bestand, auf den Stufen der Prauenkirche zu verzehreiu
Schon damals hatte er" die grosste Preude an der Musik; unterrichtet
264
wurde er darin YOU dem Sehulmeister des Dorfes, und als dieser nicht
mehr geniigte, vom Cantor der Kreuzschule. Nach dem Willen der
Mutter sollte et das Schlosserhandwerk erlernen. Er wurde wirklich
zn einem Meister in die Lehre gethan und von diesern zuerst in einer
finstern Werkstatte mit Glasstossen beschaftigt. Diese Arbeit war ihm
so unertraglich, dass er endlich davonlief. Nun musste er znr Strafe
das Yieh Mten. Hier aber war er gltzeklicher, derm er konnte sich
nun ungestort seinen Phantasien tiberlassen. Endlich gab seine Mutter
nach, und es wurde ihm erlaubt, sich far das Schulmeisteramt vorzu-
bereiten. Jetzt konnte er semen Neigungen schon ungestorter leben.
Bin sehwedischer Musiker, der nach Italien ging, trug ihm endlich. an,
ihn daHn mitzunehmen. Dies ward nach langem "Widerstreben der
Eltern endlich angenonrmen, und Naunaann war dadurch dem Ziele
seiner Wtinsche wiecler einen Schritt naher gebracht. Hatfce er nun
auch hier zwar anfangs mit grosaen Widerwartigkeiten zu kampfen,
so gelang es ihm doch endlich, in Padua lange Zeit Tartini's Unter-
riehfc zu * benutzen, sowie spater in Bologna den des bertihmten Pater
Martini. Endlich kehrte er, nachdem er schon in Italien mit grbssem
BeifaU als Operntonsetzer aufgetreten war, in sein Vaterland zuruck und
erhielt jetzt ein feste Stellung als Earchen-, spater als Kanunercom-
ponist, obschon er bald darauf und zu verschiedenen Malen nach Italien
ging, Im Jahre 1776 erhielt er eine Einladung nach Stockholm, wo er
die ganze Kapelle regenerirte, die Oper w Amphion", neben seiner ,,Cora"
wol sein bastes Werk, schrieb, und tiberhaupt* dort dem Zustande der
Kunst einen hoheren Schwung gab. Zwei Mai verweilte er dort; bei
dem zweiten Aufenthalt schrieb er das letztgenannte Werk, welches sich
neben G luck's ,,Alceste" und Piccini's Orlando" Melt. Auch Yon
Kopenhagea kam an ihn eine Einladung, sowie nach Berlin. Die
Triumphe im Auslande hatten die giinstigste Kiickwirkung auf seine
Geltung in Dresden. Er wurde mit einera bedeutenden Jahrgehalt zum
Ober-Kapellmeister daselbst ernannt, so dass -seine Stellung jetzt eine
der glanzendsten war, die liberhaupt ein deutscher Tonkunstler einge-
nonrmen hat. Im October 1801 fand er seinen Tod, indem er auf einem
Spaziergange im Grossen Garten bei Dresden vom Schlage geruhrt
wurde. Auch von Faunaann gilt, was von Hasse und anderen
Tonkunstiern schon ofters gesagt wurde: nur seine kirchlichen Werke
entlalten Blei"bendes, wahrend seine Opera ausschliesslich der Zeit ange-
horten; Gluck ist der erste Unsterbliche auf diesem Gebiet. Piir die
Eirche ist er sehr thatig gewesen; er hat allein 27 grosse Messen und
10 geistliche Oratorien gesetzt. Zu bedauern ist, class die Werke, als
265
Eigenthum der katholischen Eirche zu Dresden, eine weitere Verbreitung
nicht gefunden haben. Sein ,.Vater unser", nach Elop stock, hat ilia
vorzugsweise in weiteren Ereisen bekannt gemachk Unter seinen Ora-
torien sind die ungedruckten J5 Gli Pellegrini" das beruhmteste, das Finale
darin lalte icli fur eine seiner schonsten Schopfungen. Das Tiefe, Ge-
iDLiitlireiclie , Innige, HerzHche ist darin vorwaltend, eine ergreifende
Frommigkeit Naumann liegt die Genialitat von Bach nnd Handel,
diese Hoheit und Erhabenheit fern. Das einfach Herzliche, Har Be-
gonnene, das Verstandige in der Anwendung der Kimstmittel ist seine Eigen-
thiimlichkeit. Seinen schonen Gesang hat er nach dem Muster Italiens
gebildet, aber er hat dabei seine deutsche Individuality nicht geopfert.
Der dritte Etinstler dieser Eeihe ist Carl Heprich <xrann, ein
Sachse, im Jahre 1701 geboren, der seine erste Bildung auf der Kreuz-
schule in Dresden erhielt. Sehr geschatzt als Sanger, kam er im Jahre
1725 an Hasse's Stelle als Tenorist naeh Braunschweig. Er wurde
dort, da er sich auch schon als Componist auszeichnete, trotz seines En-
gagements als Sanger zum Vice-Kapellmeister ernannt. Im Jahre 1735
erhielt er einen Ruf von Friedrich dem Grossen. Er nahm den-
selben an, obschon man ihn nur ungern scheiden sah. Als Friedrich
Eonig geworden war, ernannte dieser ihn zum Eapellmeister. In dieser
ehrenvollen Stellung, ausgezeichnet dui*ch die Gunst, durch die Freund-
schaft des Eonigs, blieb er bis an seinen Tod im Jahre 1759. Hier
war er rastlos thatig, in alien Fachern der Tonkunst, besonders auch
in der Oper. Fast in jedem Jahre wurden neue Opern aufgefthrt,
bei denen der Eonig zum Theil selbst dichterisch betheiligt war.
Ausserdem schrieb er fiir sich selbst grossere Gesangssachen. Sein
Hauptwerk auf kirchlichem Gebiet ist sein ,,Tod Jesu" nach Eamler.
Dies wurde das beruhmteste Mrchliche Werk aus der zweiten Halfte
des vorigen Jahrhunderts. Es ist in einer Menge von Ausgaben er-
schienen und bis herab auf die Gegenwart aufgeffihrt worden. Noch
giebt es Stadte, wo es alljahrlich aufgefuhrt wird, weil wohlhabende
Leute Legate dafur aussetzten, damit diese Musik nicht in Vergessen-
heit gerathe und den Seelen der Menschen nicht entzogen wurde. Ich
werde auf das Werk zuruekkommen, sobald ich tiber die Eirchemnusik
aus der zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen Gelegen-
heit iabe.
Wie schon im Eingange erwahnt, gedenke ieh jetzt noch einer
diitten Kichtung, der eigeqtlich deutschen Oper, an die sich auch die
Bluthe der konaischen Oper und der Operette anschliesst. Neben der
Oper Italiens und Frankreichs denn auch fur die letztere, fur Lully
266
namentlich, waren in Deutschland schon Einige in die Schranken ge-
treten, so der friiher genannte Hamburger Telemann neben Gluck,
hatte sieh diese Bichtung geltend geinacht, und wurde die Vertreterin
des Nationalen. B. Keiser hatte eine erfolgreiche Anregung gegeben,
und das Feld der dramatischen Musik wurde von verscMedenen Ton-
setzem angebaut. Am bemerkenswerthesten sind die "Werke aus der
zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts, namentlich die, welclie der
Sphare der komischen Oper angehoren, Deutschland hat hierin sogar
Hervorstechendes geleistet, und es ist nur die Ungunst spaterer Zeiten
gewesen, wodurch die Entwicklung abgebroclien wurde, wodurch Deutsch-
land auf diesem Gebiete ebenso wenig als auf dem des Lustspiels er-
reicht hat, "was es der ursprunglichen Anlage des Volkes gemass hatte
erreichen konnen.
In der ersfcen, noch mehr in der zweiten Halfte des vorigen Jahr-
hunderts zeichnete sich die Familie Benda, sowol in der Virtuositat,
namentlich auf der Violine, als in Compositionen aus. Als Tonsetzer
auf dramatischem Gebiet war es insbesondere der gothaische Kapell-
meister Gteorg Benda (172195), welcher sich hervorthat. Auch er
hatte zwar Italien besucht und italienische Opern zur Auffiihrung ge-
bracht, dabei aber das Deutsche nicht vernachlassigt. 1776 erschien
sein ,,Dorfjalumarkt" ; spater ,,Bomeo und Julie", ,,Der Holzhauer" n. a.
Mehr noch als diese Operetten hatte ein anderes "Werk desselbon Mannes,
das erste deutsche Melodrama, ? ,Ariadne auf Naxos", im Jahre 1774
Aufsehen erregt. In dieser neuen Gattung hatte sich frtiher schon in
Franbreieh Bousseau mit seinem ,,Pygmalion" versucht; allein Benda
kannte das Stuck nicht und bildete, was das Musikalische betrifft, das
seinige nach eigener Ansicht. Ariadne" fand auf alien deutschen
Btibnen Eingang und Beifall, wurde sogar in das Italienische und Fran-
zosische tibersetzt, und veranlasste die Berufung des Componisten nach
Paris. Die Melodramen warden jetzt Mode, und netie Werke dieser
Art folgten sehr bald, insbesondere erfreute sich die spatere J5 Medea u
Ben da's eines grossen Beifalls. Auf dem Gebiete der grossen Oper
zeichnete sich Insbesondere Anton Schweltxer (J 737 87), gleichfalls
ein Gothaer, aus; er componirte die Opern ,,Kosamunde" und , 5 Alceste"
nach den Dichtungen von Wi eland. Die letztere namentlich ist be-
achtenswerth, sie wurde in Druck gegeben und gowann grossen Erfolg.
Auf clem Gebiete der Operette war es der bekannte Joliaim Adam
Killer (17281804), Cantor an der Thom^schule zu Leipzig, der um
diese Zeit der Liebling des Publicums geworden war. Dieser krank-
liche, hypochondrische Mann wiirde wahrscheinlich gar nicht daran
- 267 -
gedacM haben, solche Compositionen zu schreiben, wenn ihn nicht der
Schauspieldirector Koch in Leipzig danun ersueht hatte. Hill or ging
auf die Wfinsche desselben em, verband sich mit dem Dichter Chri-
stianFelixWeisse in Leipzig, imd so brachten Beide vereint zuerst
im Jahre 1764 die ? ,verwandelten "We&ber" auf das Theater. Unter der
ausgezeichneten Schauspielergesellschaft Koch's befanden sicli jrar
wenige leidliche Sanger; so musste Hi Her yorzugsweise dem Bin-
fachen, Liedmassigen sich bequemen. Danait aber hatte er gerade den
rechten Ton, den Nagel auf den Kopf getroffen. Die "Werke belder
Manner tind insbesondere die darin befindliclien Lieder machten ansge-
zeichnetes Gluck, so dass fast jedes Jahr, als einmal die Babi gebro-
chen war, eine neue Operette folgen konnte. Am entschiedensten griff
die ,,Jagd" in das Leben ein; sie wurde das ansgesprochenste Lieblings-
stuck ihrer Zeit in dieser Gattung. Interessant ist die Dedication an
die Herzogin Anna Amalia von Weimar, welche der Dichtung vor-
gedruckt ist, und bezeichnend fur den damaligen Stand der Dinge. Es
heisst darin:
unsre deutsclie Schauspielkunst
Nicht eines Fiirsten Sclintz, nicht eines Hoflings Grunst
Durch ganz Germanien sich kainn zn rulimeii wusste;
Bald G-allien durch Witz, bald Welschland durch Gesang,
Wo sie kaum athmete, sie wiederum verdrang;
Wenn man das kleinste Lob der armen Kunst versagie,
Sobald sie sich nur zu gefallen wagte:
Was Wunder, dass sich nie ihr Lob
Zu jener Biihnen Stolz erhob?
Dass Deutschlands Dichter selbst Kothurn und So ecus scheuten,
Und jeden Schritt, den sie darauf gethan, bereuten?
Die Stellung der deutsclien Kunst der auslandigchen gegeniiber ist in
diesen Worten deutlich. ausgesprochen. H filer's Mnsii ist liochst
einfach, treuherzig, yolksmassig, oline irgend Ansprtiche zu machen, in
ihrer Art aber trefflich, und ganz den damaligen enggemutW.iclien 7 pa-
triarchalisehen Zustanden in Dentseliland entsprechend. Yon dieser Be-
schaffenheit sind auch die Teste, mitunter etwas derb, nicht eben zart.
Man war aber damals, wenn auch hausbackener und philisterhafter, so
doch im Ganzen noch gesunder und kraftiger. Urn dieselbe Zeit nahm
auch die Kunst des Gesanges in Deutsehland einen hoheren Aufschwung.
Es ist um so mehr der Ort, hier claran zu erinnern, als es eine Sci.ffl.erin
Hiller's, Gertrud Elisabeth Mara, geborene Schmeling,
war, welche zuerst zu allgemeiner Anerkennung als Gesangskunstlerin
auch im Auslande gelangte. Pr. Eochlitz hat fiber Beide, tiber
268
Hlller sowol wie fiber dessen Schulerin, in dem ofters genannten
Werke interessante Mittheilungen gegeben. Neben Hiller verdient auch
noch der Gothaer Era^t "Willielm Wolf (173592) in Weimar eine
Erwahnung. Seine Thatigkeit fallt in die siebziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts* Diese Bliithe der feomischen Oper blieb indess nicM auf
Norddeutschland beschrankt; bald wurde namentlicli Wien die Haupt-
statte derselben. Hier war es insbesondere der ausgezeiclmete Carl
Ditters, spater Bitters T. Dittersdorf, welcher Werke von mehr als
Yorubergehendem Interesse sehuf. Dittersdorf, geboren 1739, kam,
naehdem er schon in seinem zwolften Jahre als reisender Violinvirtuos
Gluck gemacM hatte, als Page in die Dienste des Herzogs von Hildburg-
hausen. Er bildete sich Mer inusikalisch weiter, entfloli aber wegen
einiger dunrmen Streiche, und erMelt auf Empfehlung seines woHwollen-
dea Fui*sten eine Anstellnng am Wiener Hofburg-Theater. Hier hatte
er das Gltick, des Umgangs Metastasio's und G luck's zu geniessen.
Mit dom Letzteien verweilte er sogar eine Zeit lang in Italien. Bei
seiner Euckkehr im Jatre 1764 ernannte ilin der Bischof von Gross-
wardein zum Hofkapellmeister. Er trat jetzt mit einer italienischen
Operette !3 Amore in Musica" auf. Im Jahre 1770 kam er auf einer
Eeise durch DeutscMand zu dem Furst-Bischof von Breslau und gewann
dessen Gunst in so hohem Grade, dass dieser ilan seltsamer Weise zum
Forstmeister, spater zum Landeshanptmann von Freienwaldau ernannte,
den papstliclien Orden vom goldenen Sporn, sowie den Adel ihm ver-
schaffte. Dittersdorf aber flihlte sich unbehaglicli in seiner glanzen-
den lage, benahm sich unklug, kam in zerrtittete Verhaltnisse, und sah
sich endlich durch den Tod des Bischofs im Jahre 1797 seiner Sttttze
beraubt. So starb er in Durftigkeit im Jahre 1799. Dittersdorf J s
Hauptwerk ,,Doctor und Apotheker" wurde 1786 in Wien zuerst gegeben,
und fand dort, sowie in ganz Deutschland, unermesslichen Beifall. Wir
besitzen eine grosse Reihe ahnlicher Werke von ihm, unter denen ich
ntir an 5 ,Hieronymus Knicker" zu erinnern brauche. Dittersdorf hat
auf komischem Gebiet das Grosste in Deutschland geleistet, und noch
jetzt bewahren seine Werke, hie und da aufgefiihrt, ihre Wirkungsfahig-
keit. Erscheinen auch in unserer Zeit die Alien zum Theil veraltet, so
sind es doch insbesondere die Ensemblestucke, die Finales, welche die
ursprungKche komische Kraft des Tonsetzers zeigen. ,,Doctor und Apo-
theker" war die erste deutsche komische Oper mit ausgearfceiteten Fi-
nales. Wie Mozart, war es Dittersdorf gegeben, die einzelnen
Personen, wo sie vereinigt auftreten, charakteristisch zu scheiden. In der
That erinnert Dittersdorf in mehr als einer Beziehung an Mozart,
269
so durch seine treffliche fostnunentation. Aueh seine Opernbucher ver~
dienen Lob. Nehmen wir zu alien diesen Vorzugen noch Mnzu, dass die
Stoffe umnittelbar dem Leben des Volkes entnomraen, dass sie ein treuer
Spiegel desselben sind, so erklart sich wol die ausserordentliche Beliebt-
lieit in jener Zeii Wien wurde der Lieblingssitz der komisehen Muse
und hat, auch unter veranderten Verhaltnissen, am langsten in Deutsch-
land diese Neigung gepflegt Eragen Sie aber, wie es gekommen, dass
dieser Aufsehwung auf eine so kurze Zeitepoche sich beschrankt, so er~
giebt sich die Antwort aus dem ffinblick auf die durch die napoleoni-
sclien Kriege plotzlieh ernster -werdenden Zeitverhaltnisse. Die alte Lust
nnd Heiterkeit, die Behagliehkeit des Daseins verschwand und machte
entgegengesetzten Stimmungen Platz. Die Zeit der Fremdherrschaft in
Deutschland war nicM der Mcpent, wo der Sinn fiir das Komische wei-
tere Geltung nnd Entwicklung finden konnte. Eierzn kam die Herrschaft
Trankreichs ancli in der Knnst. Als aber endlich die auslandischen Ein-
flusse besiegt waren, ist es nicht wieder zn der frflheren Heiterkeit ge-
kommen; die Stimmung blieb ernst und gedrfickt. Das war for die
"Werke des vorigen Jahrtunderts so gunstig gewesen, dass damals, bei
aller Beschranttlieit, die Zustande sich politisch freier zeigten, dass jenes
imgluckselige Misstrauen, welches jede frische Kraft jzernagt, noch nicht
Platz gefunden hatte. Das Lustspiel und in seinem Gefolge auch die
komische Oper, kann nur gedeihen, wenn kein einengender Druck den
Aufschwnng und den Ausbruch der Laune henrmt. Das Lustspiel bedarf
der Pressfireiheit, und da wir diese nicht besitzen, so sind wir auch. noch
nicht zu einem wirklichen Lustspiel gekomrnen ? einem Lustspiel, wel-
ches sich die Aufgabe stellt, wie sie Platen ausspricht: ,,Volk und
Machtige zu geisseln". Ich nenne Ton den Operntonsetzem des vori-
gen Jahrhunderts noch JohaHn Friedricli Belchardt (175^1814),
auch in unserer Zeit als musikalischer Schiiftsteller und Liedercomponist
gekannt und geschatzt. Eeichardt war seit 1775 Kapellmeister in.
Berlin und zunachst fur die grosse Oper thatig. Anfangs an Hasse
und Graun sich anlehnend, war er spater einer der Wenigen, welche
denBahnen Gluck's folgten. Er hat sich dann aber auch iin Singspiel
versucht, und namentlich die Goethe'schen Texte bearbeitet. Einer
der beliebtesten und fruchtbarsten Tonsetzer auf komischem Gebiet fur
das Volk war endlieh der 1767 in Mahren geborene Weazel MUler^
Dittersdorf befreundet und von ihm gefordert, Er hat rnehr als 200
Stucke dieses Genres geliefert. H. W. Eiehl in seinen ,,Musikalischen
Charakterkopfen, erste Folge", einem Buche, das neben Yielem Einseitigen
auch manches Bemerkenswerthe und Anregende, manche neue und eigen-
270
tMmlidie Anschauung enthalt, nennt Ihn den , 5 grossten Bankelsanger,
den die Geschichte der deutschen Musik aufzuweisen hat" ; er spendet
ihm damit, da er das Wort im guten Sinne gebraucht, ein grosses Lob.
let wende mich nun zu dena zweiten Hauptgegenstande unserer
heutigen Betrachtung.
Die Instrumentalmusik ist ganz eigentlich das dem modernen Geiste
Entspreehende. Fruiter war die Kunst gebunden an das Wort, insbe-
sondere an religiose Texte. Den bis daMn ungeahnten Kegungen, welche
sich jetzt Bahn brachen, der entfesselten Leidenschaft, dem freien Er-
gehen des Subjects dient die Instrumentalmusik als Organ des Ausdrucks.
Erblicken wir in dem EntwicHungsgange der Tonkunst uberhaupt die
Bewegung vom Objectiven zum Subjectiven, von Darstellung eines aJlge-
meinen Inbalts und aflgemeiner Zustande zur Entfaltung alles dessen,
was die besondere Welt des Einzelnen bildet, so ist die Instrumental-
musik die subjectivste Kunstgattung, und sie erscheint darum auch am
spatesten auf classisclier Hohe. Auf die Kirclienmusik folgt die Oper,
und an diese sehliesst sicb. die Instrumentalmusik in ilirer Vollendung.
Unsere Blicke werden jetzt auf die Familie Bach zuriickgelenki
Die kunstgescMehtlicli wicttigsten Sobae Sebastian's habe ich Ihnen
sehon namliaft gemacht. Jetzt tritt uns vor alien Emanuel Bach.
entgegen, als Derjenige, an den sich. die Entstehung der modernen In-
skumentalmusik knflpft, als der erste Eeprasentant der Neuzeit auf diesem
Gebiete. Handel zeigte sicli dem vocalen, Sebastian Bacli dem
instrranentalen Elemente iiberwiegend zugeneigt. Dem entsprecliend
sehliesst sich, sehr bedeutsam, auch im weiteren Fortgange die Oper,
uberhaupt die Gesangsmusik, vorzugsweise an den Ersteren, w^hrend die
Instrumentalmusik von dem Letzteren ihren Ausgangspunct nimmt.
Interessant ist es, zu sehen, wie das Genie Sebastian Bach's,
wenn der Ausdruck eiiaubt ist, in den Sohnen sich theilt, wie der Vater
alle Seiten in sich zusammenfasst, die Sohne dagegen zwar reich, aber
einseitiger begabt sind, die einseitigere Begabung indess gerade die Ur-
saclie tier Weiterbildung der Tonkunst wurde. JSFeben Emanuel er-
scheint a]s der reichstbegabte Friedemann Bach. Besass der Letztere
die Tiefe, das Grublerische seines Vaters ohne dessen Ehrenfestigkeit und
Gediegenheit, ohne dessen ernste Haltung, so hatte Emanuel mehr das
Klar-Verstaudige ohne jene Eigenschaften, und zeigt sich darum mehr
als Kunstler im modernen Sinne. Wilhelm Friedemami Bachj der
alteste Sohn Sebastian's, war geboren zu Weimar im Jahre 1710.
Der Leipziger Thomasschule zu seiner Bildung ubergeben, zeigte er treff-
liche Anlagen, so dass seine Lehrer Ausgezeichnetes von ihm hofften.
0*7-1
& 1 1
Spater studirte er Jurisprudenz, ftihlte sieh aber unter den Wissensehaften
vorzugsweise zur Mathematik hingezogen, eine Feigung, welche sich bei
dem Grublerischen und Tiefsinnigen zugewendeten TonMnstlern haufig
findet. In Musik wurde er von <Jem-VaeE unterricitet und hatte es im
Theoretischen und Praktischen sclion friili so welt gebracht, dass dieser,
nicht leicht befriedigt, auch nach dieser Seite Mn Hervorstechendes von;
ihm erwartete. Im Jahre 1733 wurde er nach Dresden als Organist
an die Sophienkirche berufen. Spater begab er sich als Musikdirector
nnd Organist nach Halle ; er hat von diesem Aufenthalt den Namen des
Halle'schen Bach erhalten. FriedemannBach hat den Erwartnngen,
welche man von ihm hegte, nicht entsprochen, entsprochen zwar in dem
Sinne, als er Meister seiner Kunst war, so dass E in an u el von ihm
urtheilte, er allein sei im Stande, ihren grossen Vater zu ersetzen, nicht
aber insoweit, urn eine bleibende kunstgeschichtliche Bedeutung zu er-
langen. Die Ursache lag in seinem ungMcklichen Naturell, in einem
Missverhaltniss seiner Krafte. Hoch begabt, scheinen ihm die Eigen-
schaften des Charakters, welche eine solehe Begabung erst zu frucht-
bringender Entfaltung bringen konnen, gemangelt zu haben. Seine aus
fortwahrender Versenkung in seine Kunst hervorgegangene Zerstreutheit
wurde man entschuldigt haben, wenn er nur einigermaassen bemtiht ge-
wesen ware, dieselbe zu beseitigen oder zu mildern; aber auch in dieser
Beziehung hat er keinen Versuch gemacht, und er wanderte lieber VOE
Halle fort, sein Amt verlassend, als er einmal von seinen Vorgesetzten
ernstlich zur Rede gestellt wurde. Andere Eigenschaften entstanden je-
doch aus dieser Versenkung in sich, welche nicht zu entschuldigen waren.
Sein Charakter wurde flnster, menschenfeindlich, zuruckstossend, zank-
siichtig, er verhartete sich in sich und betrachtete in anmaassendein
Kilnstlerstolz die Welt und die Verhaltnisse derselben geringschatzig.
Zuletzt wurde er gehasst, ja von seinen eigenen Brtidern verachtet, und
hat sich dem Trunke ergeben. Er starb zu Berlin im Jahre 1784. Die
Tunstgeschichte nennt ihn nur, urn eine untergegangene Grosse zu be-
zeichnen, sie nennt ihn als ein Glied dieser ausgezeichneten Mnstler-
familie; von bleibender Bedeutung * ist er nicht, auch sind nur wenige
seiner Werke herausgegeben und bekannt geworden. Was man von
Friedernann Bach hoffte, hat der jungere Bruder Emanuel ge-
leistet, er, der anfangs nicht einmal zum Musiker bestimmt war. Carl
Philipp Emanuel Back war, geboren zu Weimar 1714, der zweite
Sohn Sebastian's. Er wurde von diesem ausdrucklich nicht der Ton-
kunst, sondern, wie soeben erwahnt, den Wissensehaften gewidmet. Die
beste und bequemste Vorbereitung dafiir fand sich. bei der Uebersiedelung
naeh Leipzig. Emanuel besuchte ebenfalls die Thomassehule, spater die
Universitaten zu Leipzig und Frankfurt a. d. 0., und sollte nach Be-
endigung dieses Gursus mit einer reichen livlandischen Familie eine
Eeise durch England, Frankreich und Italien antreten, als ihm ein Euf
vonFriedrich dem Grossen, damaJigen Kronprinzen, zukam, worin
er aufgefordert wurde, eine musikalische Stellung zu ubernehnaen. Seine
Beschaftigung sollte darin bestehen, Fried rich's Flotenspiel auf dem
Flugel zn begleiten. Bald gewann er, der nun die wissenschaftliche
Laufbatn aufgegeben hatte, die Gunst seines Monarchen, und die Folge
war, dass er eine sehr angenehme Stellung erhielt, als Friedrich zur
Begierung gelangte. So vergingen die Jahre in erfreulicher Thatigkeit.
Spater nalim jedocli Bacli's Zufdedenheit ab. Der Konig, "mit ganz
anderen Interessen bescMffcigt , vernachlftssigte seine Musiker. Bach
itahm daher im Jahre 1767 einen Ruf nach Hamburg als Musikdirector
tier Hauptkirdien an, und lebte dort bis an seinen Tod im Jahre 1788,
yertraut mit den vorzttglichsten Mannern, auch mit Klopstock, in
ausserst ek*envoler, einflussreicher Thatigkeit. Er hat, wie schon friiher
erwahnt, yon diesem Aufenthalte den Namen des Hamburger Bach er-
jmlten. Betraehten wir jetzt die Bedeutung desselben als -Tonsetzer,
seinen Einfluss auf die Entwicklung der Kunst Ein scheinbar zufalliger
Umstand, den auch Fr. Eochlitz in seiner Schrift 5? Fur Freunde der
Tonkunst", in einem Artikel fiber Emanuel Bach, nachdrlicklich her-
Yorhebt, zeigt sich hier von grossem Einfluss. Sebastian Bach hatte
bei dem niusikalischen Unterricht dieses Sohnes einen anderen Weg ein-
geschlagen. In der Meinung, in ilim einen Dilettanten zu bilden, der
die Kunst nur zu seiner Freude und Erholung betreibe, Melt er ihn fern
von dem streng Schulmassigen, von dem, was in der Musik jener Tage
feststehende Manier geworden war. ;' Moglichst vollkoip.menes Klavierspiel
und rnoglichst entwickelte Fertigkeit im freien Phantasiren schienen Se-
bastian Bach fur einen Dilettanten das Wesentlichste. Dadurch aber
rief der Yater unbewusst in deni Solme eine ganz neue Richtung- hervor.
Denn dieses tagliche Ueben in freier Phantasie Melt den Geist des
Sohnes frei, gestattete seiner Individualitat unbeschranktes Spiel und enfr-
schiedenen Einfluss, entschiedeneren, als bis dahin an irgend einem deut-
schen Tonkunstler zu bemerken war, entschiedeneren, als die gelehrten
gleichzeitigen Meister ohne Nachtheil fur ihre Kunst und "Wiirde zuge-
stehen zu durfen glaubten. Die Bevorzugung des Klaviers auf Kosten
der Orgel leitete ausserdem immer mehr zum Weltlichen hin, war uber-
haupt auf Emanuel Bach's kunstlerischen Charakter von wesentlich
bestimmender, nachhaltiger Wirkung. Nehmeu wir nun hierzu noch ein
dieser Eichtung entsprechendes Nature!!, sanguinische Beweglichkeit, auf-
geweckten Sinn, der sicli in der Jugend in der Lust zu allerlei neeki-
schen Streichen zeigte, Behendigkeit, ein leieht aufgeregtes, oft wandel-
bares Wesen, jedocli ohne Nachtheil fur das Tiefere, so ist erklart, wie
sich in Emanuel Bach eine EicMung auspragen konnte, welche, ent-
sprechend dem allgemeinen geistigen Umschwung in der zweiten Halfte
des vorigen Jahrhunderts, im Gegensatz zu der alien Objectivitat den
eigenen Geist und die eigene Gefuhlsart des Kiinstlers zur Darstellung
brachte, und so die moderns Instrumentalmusik unmittelbar einleitete,
die Basis wurde, auf welcher das spatere, grosse Gebaude derselben sich
erhob. Emanuel Bach's Compositionen, besonders die fur das Klavier,
enthalten neben Tielem, was der alten Seliule angetort, ganz unmnwunden
und unbefangen dieses Neue ; sie bringen in Fulle Merkmale jenes leieh-
ten, nectenden, leicht aufgeregten Wesens, welches vorhin schon erwahnt
wurde. Je hoher Emanuel sich in gereiften Jahren stellen lernte, urn
so hoher lernte er auch diese Eigenthunilichkeit schatzen, da gerade sie
es war, worin ihn spater Kenner und Publicum bewunderten. Mit dem
Leben vertrauter als Sebastian, ditrch Umgang, Verhaltnisse und all-
seitige, gediegene Bildung geglattet, das Feine und Gewandte des hoheren
geselligen Lebens sich aneignend, war er im Stande, zu der grossartigen
Gediegenheit und Festigkeit des Vaters noch gefalligen Glanz, feinere,
bewegtere Wendungen hinzuzubringen, und er ist dutch diese Verbin-
dung, dadurch, dass das Wechselnde, Vielgestaltige der Individualitat
auf diesem Hintergrunde erscheint, der Begrunder der modernen Eichtung
der Tonkunst, im weiteren Sinne des Wortes der Begrunder der rouaan-
tischen Eichtung derselben, der unmittelbare Vorlaufer Joseph Haydn's
geworden. Dass er es gewesen ist, welcher die Sonatenform zuerst zu
hoherer ktinstlerischer Bedeutung erhob sein Hauptwerk sind seine
,,Sonaten fur Kenner und Liebhaber" , ist schon erwahnt worden. So
gross hierdurch sein Einfluss ward, so gross war derselbe auch, was
Klavierspiel betrifft. Er ist als der erste durch naehhaltige Bedeutung
ausgezeichnete Lehrer fur dieses Instrument zu bezeichnen. Sein 3J Ver-
sucli fiber die wahre Art, das Klavier zu spielen" brach die Bahn, und
enthalt so Vorziigliches, dass derselbe noch in der Gegenwart aller Be-
achtung werth ist. Mozart hatte, als er wenige Jahre vor seinem Tode
in Hamburg war, Bach fleissig besucht, und iirtheilte uber ihn, nach-
deni er ilin einige Male in freien Phantasien gehort: ,,Er ist der Vater,
wir sind die Bub'n. Wer yon uns was Eechtes kann, hat von ihm ge-
lernt ; und wer das nicht eingestehet, der ist ein .... Mit dem, was
er macht, kamen wir jetzt nieht mehr aus: aber wie ers macht, da
18
274
stelit ilim Keiner gleieh". Sie entnehmen aus alledein, welehe ausge-
zeielinete Stellung Emanuel Bach in der Geschichte der Kunst ein-
ninnni NUT auf dern Gebiete der Gesangscomposition war er weniger
gliicklicL Der Bewegliehkeit seines Wesens, der grossen Freiheit, rait
der er zu sehreiben gewohnt war, legte die angemessene Behandlung der
Worte einigen Zwang auf. Wenn dessenungeaclitet seine Hauptwerke
auch aus der Sphare, worin er das Vorztiglichste geleistet hat, jetzt den
Meisten unbekannt sind, so theilt er in dem neulicli schon be-
sproclienen Sinne das Schicksal aller Derer, welche eine neue Epoche
beginnen. Die bedeutenderen Leistungen der Nachfolger lassen die ersten
Anfange vergessen; fur die Kunstgeschichte aber sind solclie Anfange
von grosster Wichtigteit. Als ich uber Sebastian Bach sprach,
nannte ich ausser den jetzt besprochenen nocli zwei Sohne desselben,
den Buckebm-ger uncl den Londoner Bach. Um das Bild dieser Familie
zu vervollstandigen, mogen diese hier noch im Vorflbergehen eine Er-
wabnung finden. Beide sind von geringerer Bedeutung ; der Erstgenannte
nalim sicli Emanuel zum Muster, der zweite war Modecomponist und
entfernte sieli am weitesten von der kunstlerisclien Holieit seines Vaters,
aucli ini Leben am weitesten von dessen btirgerlicher Ebrenfestigkeit.
Er war ein Mann des Salons und Mnterliess, obschon er viel verdiente,
eine grosse Sctuldenlast. In Mozart's Leben werden wir ihm nocli
einmal begegnen.
Sie erblicken jetzt die Entwicklung so weit gedielien, dass nun bald
der erste Hoheptmct der zweiten Epoclie, der des schonen Stils, erstiegen
werden konnte. Nocli ein wicMiger Schritt indess war zu thun. An
Gluck's Leistungen auf dem Qebiete der Oper konnten sich unmittel-
bar die Mozart's in gleiclier Spliare anscbliessen. Jenes indess, was
Emanuel Bach gegeben hatte, war noch nicht ausreichend, dass un-
niittelbar ahnliche Schopfungen auch in der Instrmnentalmusik hiitten
folgen konnen. So Bedeutendes Gluek und Emanuel Bach auch
schon auf dem Gebiete der Orchestercomposition producirt Iiatten, so
war doch dadurch die Instrumentalmusik noch nicht zu einer der Oper
analogen Hohe gebracht worden. Noch eine Stufe war zu ersteigen,
bevor Mozart uncl weiterhin Beethoven, allseitig vorbereitet, er-
scheinen konnten. Dies geschah clurch J.Haydn, und unsere Betrach-
tung leitet uns daher unmittelbar auf diesen.
Josepli Haydn war geboren am 31. Mfirz 1732 in dem Dorfe
Rohrau in Niederosterreich an der Grenze von Ungarn. Sein Vater war
ein "Wagner und tibte in jenem Dorfe die Profession aus. Auf der
Wanderschaft, als Eandwerksgesell, hatte derselbe ein wenig Uebung
auf der Harfe sick zu versckaffen gewusst. Er setzte als Meister in
Kohrau zur Brholung nacli der Arbeit die BeseMftigung mit diesein
Instrmnente fort, indem er gewoknliek den Gesang seiner Frau begleitete*
Der junge Joseph war bei diesen Debmigen zugegen, und die ersten
Eindrucke, die er von der Aussenwelt erMelt, die ersten Eindrueke,
welche in ikna liafteten, waren dalier vorzugsweise Tone; sein Geist
erwacMe nnter Melodien. Jene Lieder batten sick so tief in sein Ge-
daektniss gepragt, dass er sick derselben noch im spatesten Alter er-
innerte. Die erste Anregung fiir Musik war gleiclizeitig mit deni
Erwaeken seines Bewusstseins uberhaupt. Sechs Jakre alt gab man
den Knaben zu eineni Verwandten, einem Scliulmeister aus dem benach-
barten Hamburg. Hier erMelt derselbe Unterrickt in den gewohn-
licken Schulkenntnissen, irn Singen, und was fur den spateren Instru-
mentalcomponisten das Wesentlicliste war, fast auf alien Bias- und
Saiteninstrunienten, sogar im PaukenscHagen. ,,Ick verdanke es diesem
Manne nocb. im Grabe", sagte Haydn spater ofbmals, 55 dass er micli
zu so vielerlei angehalten hat, wenn ich aucli dabei mehr Prugel als
zu essen bekam." Empfoblen durch seine gute Stiname und durch seine
GescMcklichkeit, kam er einige Jalire spater als Chorknabe an die Steplians-
kirclie in Wien, wo er bis in sein 16. Jahr blieb. Der in Haimburg
begonnene UnterricM wurde Mer etwas genauer uncl grundlicher fortge-
setzt, ohne dass jedock Haydn eigentlicbe Anleitung in der Compo-
sition erlialten hatte. Seine Vorbildung beschi-ankte sich auf Unterwei-
sung im Praktischen und eigene Compositionsversuche, mit denen er frtih
hervortrat Als der Brucli der Stimme erfolgte, erMelt er seine Entlas-
sung; er war der Durftigkeit preisgegeben, da er nicht die geringste
Untersttitzung von seinen armen Eltern erhalten konnte. Mitwirkung
in den Orcliestern und bei Naclitmusiken gewahrte inm seinen Unter-
halt. Er bewolmte ein annseliges Dacbkammerclien obne Ofen, wo
der Regen eindrang. ,,Wenn ich aber", erzahlte er spater, J5 an meinem
alten, von Wtimiern zerfressenen Ivlavier sass, beneidete ich. keinen
Eonig uni sein Gluck." Um diese Zeit fielen ibrn die secns ersten
Sonaten yon Emanuel Bach in die Hande. ?5 Da kam icli nicbt mehr
von meinem Klavier weg, bis sie durchgespielt waren, und wer mich
griindlicli kennt, der muss wissen, dass ick deni Emanuel Bach, sehr
Vieles verdanke, dass ich ihn verstanden uncl fleissig studirt babe. Bach
liess mir auch selbst einmal ein Compliment darflber macken." Haydn's
Leben ist bis weit herauf in die spateren Jalire eine ununterbrochene
Folge von Muhseligkeiten und steten Entbekrungen gewesen; erst spat
nahm sein Geschick eine bessere Wendung, nakm zugleick seine
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schaffende Thatigkeit den hochsten Aufschwung. Haydn wurde zuerst im
Jahre 1759 bei einem Qrafen Morzin als Musikdireetor angestellt,
schon im folgenden Jahre aber trat er in gleicher Eigenschaft in die
Dienste des Fursten Esterhazy, "wo er dreissig Jalire lang blieb.
In dieser Stellung thatig, lebte er meist in Eisenstadt in Ungarn, ab-
geschlossen, nur far die Kapelle dieses Fursten thatig, nur zwei bis
drei Wintermonate in Wien zubringend, in einer ausserlich besehrankten,
aber fur die Ausbildung seines Genius selir gimstigen Lage. ,,Niemand
in meiher Nfihe konnte mich an mir selbst irre machen, und so musste
ich Original werden." Er hatte hier zahlreiche Krafte zu seiner Dis-
position iind konnte Erfalmmgen sammeln. Schon vorhin wurde bemerkt,
class Haydn sich frttlizeitig in eigenen Conipositionen versucht hatte.
Aclitzebn Jalire alt, componirte er sein erstes Quartett, nicht viel spater
seine erste Oper ,,Der knunme Teufel", eine Satire auf den lainkenden
Theaterdirector Affligio, die auch deswegen nach dreimaliger Atif-
ffihrung verboten wurde; als Musikdirector im Dienste des Graf en Morzin
seine erste Symplionie. Die Entsteliung dieser Werke war stets eine
rein zufallige; durch aussere Veranlassungen wurde er daliin gefuhrt.
Wir liaben bis jetzt zwei Epochen in Haydn's Leben durchlaufen,
die erste seiner kummerlichen Existenz, zugleicli seiner Lehrjahre, die
zweite, welclie durch den Aufenthalt beim Fursten Esterhazy be-
zeichnet wird. Im Jalire 1790 starb dieser Fiirst, und mit diesem
Todesfall beginnt die dritte, wiclitigste Epoclie. Erst jetzt trat er in
die grosse Welt ein, wurde in weiteren Kreisen bekannt und erlangte
eine ausgezeiehnete personliclie Stellung; zugleich nahm seine gesammte
kunstlerische Thatigkeit den hochsten Anfschwung. Die Werke, welche
wir kennen, und die seiu Andenken bei der Nachwelt lebendig erhalten
werden, sind erst in dieser Epoche seines Schaffens entstanden. Ein
gewisser Salomon aus Coin, damals in London bei clem Professional-
Concert in Hanover-Square engagirt, hatte sich schon ofters brieflich
an Haydn gewendet and ilm nach London eingeladen; Haydn hatte
aber stets die Einladung abgelehnt. Salomon befand sich gerade in
Deutschland. um neue Mitglieder zu engagiren, als er die Todes-
nachricht des Fursten erfulir. Sogleich eilte er nach Wien und trat bei
Haydn mit den Worten ein: w Maohen Sie sich reisefertig, in vierzehn
Tagen gehen wir mit einander nach London". Haydn straubte sich
anfangs gegen den Vorschlag, berief sich auf seine Unkenntniss der
englischen Sprache und auf seine Unerfahrenheit im Eeisen. Aber bald
warden diese Einwendungen beseitigt. Salomon stellte so giinstige
Bedingungen, dass nun mit einem Male die aussere Lage des bis
dahin immer &och bedrangten Tonkunstlers erne andere Wendung nahm.
Zu Bnde des Jahres 1790 traten Beide die Eeise nach London an.
Haydn rechnete die Jahre, welehe er in London zubrachte, zu den er-
freulichsten seines Lebens. Das Gluck begfinstigte ihn, und Haydn
erfuhr, was Wenigen vergount ist: er wurde geehrt, holier fast als
Handel, seine europSische Beruhmtheit ging von Mer aus, und das
hohe Alter, welches er erreichte, gewahrte ihm die Mogliehkeit, diesen
Ruhm noch zu erleben und die Fruchte desselben zu geniessen. In Eng-
land eroffnete sicli far ihn in der That eine neue Welt, tier begann
die Zeit seiner Ernte, und zugleich, wie schon erwatnt, die seiner grossten
Schopfungen. Hier liat er seine noch jetzt anerkannten Symphonien
und Quartette, die ersten classischen Leistungen auf dem Gebiete der
Instrumentalinusik, geschrieben; seine beiden bedeutendsten Oratorien
aber, die ,,Schdpfung" und die , ; Jahreszeiten Ci , nach seiner Ruckkehr, als
er in Wien privatisirte. Haydn ftihrte fiber seinen Aufenthalt in Eng-
land selbst ein Tagebuch, Diese uns durch den sachs. Legationsrath
Grie singer in der Biographie des grossen Tontiinstlers mitgetheilten
Notizen (Allg. imisik. Zeitung vom Jahre 1809) betreffen zwar nur
Aeusserlichkeiten ; aber es ist daraus ersichtlich, wie sehr sein Londoner
Leben verscHeden war von dem fniheren beim Fiirsten Ester hazy,
und wie Haydn's Krafte durch die Anerkennung, welehe er fand ? ge-
hoben und gesteigert ^werden mussten. So hatte der arme Musikant
allmahlich zu den hochsten Kreisen der europaischen Gesellschaft sich
emporgearbeitet. Haydn wiederholte ofters, class er in Deutschland
erst Yon England aus bfruhmt geworclen sei. Der "Worth seiner Werfce
war anerkannt; aber laute, enthusiastische HuMigungen folgten erst
nach seiner Eiickkehr. Jetzt, nach einem zweimaligen Aufenthalt in
London, kaufte er sich in Wien ein Hans und lebte, zurtickgezogen von
alien GeschSffcen, fortan nur der Composition. Die 5 .Schopfung ic com-
ponirte er im Jahre 1797, die ,,Jahreszeiten :i wurden zum ersten Male
1801 aufgefohrt. Haydn war 69 Jahre alt, als er die Liebe von
Hannchen und Lucas gesungen hatte. Sie gewaliren bei ihm, wie bei
den vorausgegangenen Meistern, bei Handel, bei Gluck, die hochste
Schopferkraft fast im Greisenalter. Die Naturen des vorigen Jahrhunderts
zeigen eine weit grossere Zahigkeit und Pestigkeit, als das gegenwartige
Geschlecht, wo derartige Beispiele kaum noeh vorkonnnen durften. Wie
das vorige Jahrhundert im Vergleich mit der Gegenwart fiberbaupt einen
saftreicheren Boden besass, wie damals die Lebenskraft nicht so schnell,
als in unserer Zeit, durch stote Aufregungen, durch die Unruhe des
gesaranaten Lebens, verzehrt wurde, so erblicken wir iibeiiiaupt eine
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nachhaltigere Schopferkraffc, einen minder $chnell versieclienden Born
der Produetivitat. Durch die beiden genannten Oratorien setzte Haydn
seinem Kutmi die Krone auf. Aus alien Landern kamen ihm fortan
bis an seinen Tod die ehrenvollsten Beweiso der Anerkenuung. End-
lich unterlag seine Korperkraft. Hochverelirt und allgemein geliebt,
sich seiner zuruckgelegten Laufbahn freuend, lebte or nocli mehrere
Jahre, wie ein Vater unter seinen Kindern, in Wien. Er starb wahrend
der Belagerung Wiens am 31. Mai 1809. Dies sind einige Haupt-
puncte axis clem einfachen, aber ansprechenden Leben cles grossen Ton-
kunstiers. Einfach biirgerlich, ehrbar, noeh ganz in der Weise des
yorigen Jahrhunderts, mit clem Volke, aus clem er hervorgegangen war,
sympatbisirend, natiirlichen Behagens Yoll, welclies sich bis znm Aus-
clruck argloser Sehalkhaftigkeit steigerte, ein Solm seines Vaterlandes,
sicli ergehend in behaglieher osterreichischer Gemuthlichkeit und Herzens-
heiterkeit, kindlicli fronim, gliicklich in der Bescliriinkung und entfernt
von afler fortreissenden Leidenschaft, so zeigt sicli uns sein Wesen.
Haydn hat in seinem langen Leben ausserordoutlich. viel Musik gemaclit.
Griesinger tbeilt uns ein nicht eiumal yollstandiges Vorzcicliniss mit :
118 Symphonien, 83 Quartette, 24 Trios, 19 Opern, 5 Oratorien, 15
Messen, 163 Compositionen fur das Baryton, das Lieblings(saiten)instrument
Esterhazy's, 44 Klaviersonaten u. s. f. finclen sicli darin notirt. Viele
dieser Werke gelioren indess, wie Ihnen sclion aus dcm bisber Darge-
stellten ersichtlich, der Zeit seiner Entwicklung an: das Wiclitigste
fallt in die letzte Epoche, in die Zeit von 1790 an, in die Zeit clemnach,
wo Haydn, der Yorganger Mozart's, zugleich wieder das durch diesen
Geleistete far eigene Steigerung unrl Weiterbildung benutzcn konnte.
Seine Opern sind Gelegenheitswerke und Laben eine weitere Yerbreitung
nicht gefunden; auch lag ihm, clem es nur darauf ankam, sein unschulds-
Yolles Qemuth auszusprechen, das Dramatische fern. Ueber die Bedeu-
tung seiner kirchlichen Werke wercle icli spater noch zu sprechen Ge-
legenheit haben. Seine Eeligiositat war Naturreligion, er war fromm,
aber weit entfernt, streng Kirchliches in sicli aufzunelimen und zur Dar-
stellung zu bringen. Haydn ist der Anfangspunct fur die Neuzeit, er
ist der Gruncl und Boden, auf welch em Mozart und die umfassende
Schule desselben sich erheben konnten. Er hat die moderne Zeit ,er-
offnet durch sein von alien positiven Stiinmungen dor Kirche, von aller
Ueberliefenmg abgewendetes, heiteres, nur YOU einem kiudlich unsclmlds-
vollen Inhalt erfflltes Gemtith. Es ist die Msche, nattirliche Empfindung,
welche in ihm heiTortrat, mit historischer Nothwendigkeit hervortreten
musste, um eine in der Darstellung des rein Menschlichen wurzelnde
.Kunst zu begrunden. Er ist der erste Beprasentant jenes freien, von
aller Ueberlieferung und Autoritat abgewendeten Geistes, welcher gleich-
zeitig, wie in alien Gebieten, so namentlicli auf dem dex Poesie mi Er-
seheinung kam. Die Instrumentahnusik ist die dieseni Geiste entsprecliende
Kunstgattung, und so sehen wir in Haydn Denjenigen, der dieselbe zuerst
zur selbststandigen Kunst emporhob. Seine Schopfungen in dieser Sphare
sind das Wichtigste und Hervorragendste, was er gegeben hat; neben
diesen seine beiden Oratorien. Tiefbedeutsam ist dabei, gerade in dieseni
Moment, die "Wanderung der Tonkunst Ton Nord- nacli Suddeutsch-
land. Der friiheren Kichtung hatte mehr das aorddeutsche Wesen ent-
sgroclien. Jetzt, wo es darauf ankara, die entfesselte Empfindung aus-
zustrSnaen, den Inbalt des Herzens auszuspreclien, der Pliantasie immer
grosseren Spielraum zu gestatten, zeigt sicb sogleich StiddeutscMand,
Oesterreich, eine ganze Epoche MndurcTi als die Heimath der Tonkunst.
Wir haben jetzt die vor-Mozart'sche Epocle abgescHossen und
sincl auf dem Puncfce angelangt, die durch Mozart bewirkte Umgestal-
tung der Tonkunst, die Einfliisse derselben auf die ganze dvilisirte
"Welt zu betracMen. In Mozart kommt die bisherige Entwicklung,
nicht bios der deutsehen, nein, der enropaischen Musik zu ihrer Con-
centration und ersten liocbsten BMhe. Jetzt waren die Mittel gegeben,
jetzt die Kunst so weit gesteigert, um unmittelbar auf diesen naclisten
Culminationspunct Mnfuhren zu k5nnen. Die Voranssetzungen, die Grund-
lagen dieser Zuspitzung sind durcli das geboten; was die gesanimte
Tonkunst bis dahin erreicM hatte. Was seit Jahrhunderten erstrebt
worden war, gelangte jetzt zur Vollendung und zuni Abscliluss. Die
italienische Musik hatte, soweit es auf dieser Stufe und bei diesem
Princip moglicli war, ihre classiscie Hohe erreicht. Es war der Zauber
sinnlicher Sclionheit, den dieses Land vorzugsweise zur Erscheinung
gebracht hatte. Italien war erfindend yorangegangen, ohne indess diesen
Erfindungen die entsprechende Steigerung und Portbildung geben zu
konnen, Daneben hatte sich in der deutschen Musik eine grosse geistige
Macht, Tiefe des Ausdrucks und der Charakteristik offenbart. Beide
Lander hatten damit begonnen, den wOrdigsten Inhalt, den Inhalt der
Eeligion, ein Allen Gemeinsames, ein Objectives, durch Tone zur Dar-
stellung zu bringen. Die Entwicklung subjectiver Mannigfaltigkeit war
darauf gefolgt, und mit dieser Wendung war unmittelbar die Bahn far
die gesanimte neuere Kunst gebroehen worden. Italien hatte zunachst
die Oper mehr nach der lyrischen Seite hin ausgebildet; Handel
war dieser Eichtung mit seiner tiberwiegend epischen Natur gegenuber-
getreten. Gluct blieb es vorbehalten, auf der Grundlage des bis
dahin Geleisteten die Wendung zuna Dramatise! en. Mn m vollbringen.
Wir erblicken Frankreieli eintretend in die allgemeine .Bewegung ; Deutseli-
land aber hatte innerhalb seiner Grenzen vielfach disparaten Elementen
Baum gegeben. Alle Kunstmittel waren bis zu mogliclister Hohe der
Ausbildung gesteigert, zuletzt sahen wir'noch die Entslehnug der dritten,
wicMigsten Kunstgattung, der Instnunentalmusik, in Deutschland. Dies
sind die Eesultate aller Bestrebimgen, Eesultate, welche. nothwendig
waren, una die Sehopfungen des grossten specifisch musikaKsclien Genies,
um Mozart m5glich zu maclien. Jetzt naht die Zeit, wo fiber alles
bis daHn Erreichte Abreehnung gehalten wird, wo es sicb. liber seine
Brattchbarkeit zu dem grossen Ban aller Nationen ausweisen muss,
Betrachten wir den durcMaufenen Weg, so erkennen wir als leitendes
Piincip, dass es bis daliin darauf angekommen war, jede Nationalitat
nicht nur, sondern auch jede besondere Kunstgattnng, jeden Knnststil,
jede EicMung for sicli, getrennt von alien anderen, herauszuarbeiten,
gesondert zur Selbststandigkeit zn fuhren, allein tmd geschieden von
allem Uebrigen zur Geltnng zu bringen. Jedes Land batte seine be-
sondere Aufgabe von dem Geist der GescMchte erhalten,, jede RicMung
ike besondere Mission, Jetet nabt die Zeit der Ernte, jetzt der Moment,
wo ein Universalgenie alles Vereinzelte zu einem grossen, organischen
Ganzen zusammenfassen sollte, Diese That Mozart's liaben wir in
der naclisten Vorlesung nalier zu betrachten.
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