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Full text of "Geschichte der neuern Philosophie"

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Doz» Google 


LENOX LIBRARY 





Banerott Collection. 
Purchaced tn1893. 


] 


hen Band. 








YaL 
Fisher 


Doz» Google 


.r 





/ Geſchichte 
der neuern Philoſophie 


Ruuo Fiſcher. 





—— 
Fünfter Ban. 
Fichte und ſeine Vorgänger. 


Zweite Abtheilung. 


Seidelberg. 


Verlagsbuchhandlung von Friedrich Ballermann. 


1869. 
gt 











con Rsiedsid Brommanı 
in dene. 


Geſchichte 
der neuern Philoſophie. 


Fünfter Band. 
Bweite Abtheilung. 


Fünftes Capitel. 


Die productive Einbildung als theoretifches Grundvermögen. 


L 
Debuction der Einbildungsfraft. 


1. Die unabhängige Thätigkeit ald Inbegriff aller 
Realität. 

Die Rechnung der Wiffenfchaftslehre hat zu der Einficht ges 
führt, daß die (durch das Selbſtbewußtſein geforderte) Wechfel- 
beftimmung nur möglidy ift unter der Bebingung einer unabhän -· 
gigen Thatigkeit, die das theoretifche Grundvermögen ausmacht. 
Was diefe Thätigkeit näher ift, Tann nur aus Inhalt und Form 
der (durch fie bedingten) Wechſelbeſtimmung einleuchten. 

Den Inhalt der Wechfelbeftimmung bildet der Gegenfa& von 
Ich und Nicht Ich. Die Wechfelbeftimmung felbft befteht darin, 
daß genau fo viel Realität, ald in dem einen jener beiden Facto⸗ 
ren gefegt wird, in dem andern aufgehoben werden muß, und 
umgekehrt. Die Summe biefer Realität wird mithin durch bie 
Bechfelbeftimmung weder vermehrt noch vermindert, fie bleibt 
conſtant; alfo ift der Inhalt in feiner Zotalität von der Wechſel⸗ 
beftimmung unabhängig und liegt derfelben zu Grunde, Realität 
ift Thatigkeit. Die Totalität des realen Inhalts ift mithin eine 


526 


unabhängige Thätigkeit ald Realgrund der Wechfelbeftimmung. 
Wenn es eine ſolche unabhängige Thätigkeit ald abfolute Totali- 
tät nicht giebt, fo kann es auch Feine Wechfelbeftimmung geben, 
in der ſtets genau fo viel Realität in dem einen Gliede gefeht wer⸗ 
den muß, als in dem anderen aufgehoben wird, und umgekehrt. 

Die unabhängige Thätigkeit ift der Inbegriff aller Realität 
oder die abfolute Totalität des Realen ). 


2. Dad Nicht-Ich ald Grund der unabhängigen Thä— 
tigkeit. 
Dogmatifcher Realismus. 

Nun ift das Ich der Inbegriff aller Thätigkeit. Wird in 
dem Ich die Thätigkeit aufgehoben oder vermindert, fo ift das 
Ich nicht mehr der Imbegriff aller Thätigkeit, es ift nicht mehr, 
was es feinem Weſen nach ift, es ift vermöge feines Leidens ein 
qualitativ Anderes. Der Grund des Qualitativen ift Realgrund. 
Diefer Realgrund feiner veränderten Qualität kann nicht das 
Ich felbft fein, alfo ift diefer Realgrund etwas vom Ich. Verfchie- 
denes, d. h. das Nicht: Ich. Iſt aber dad Nicht-Ich ber Real⸗ 
grund des Leidens im Ich, fo muß dem Nicht: Ich eine dieſem 
Leiden vorauögefegte, alfo unabhängige Thätigkeit zugefchrieben 
werden. Dann gilt dad Nicht: Ic) ald die Urfache, bie das Lei- 
den im Sch hervorbringt; es ift dann die Urfache der Vorſtellun⸗ 
gen, ber abfolute Realgrund, der Inbegriff aller hervorbringen⸗ 
den Thatigkeit, die allein wirffame Urfache: das Nicht-Ich ift 
die Subftanz und dad Ich ift Accidens. Wird die unabhängige 
Thatigkeit in diefer Weife beftimmt (das Nicht⸗Ich ald Realgrund 
von Allem), fo haben wir das Syſtem des „Dogmatifhen 
Realismus”, der feinen Typus in der Lehre Spinoza's gefun- 

*) Ehenbajelbft, II Heil. 9.4. 6. 15152, 





* 
den hat. Mit dieſer Belt ve abhängigen Thatigkeit wird 
das Ich felbft aufgehoben und für unmöglich erklärt. So noth⸗ 
wendig dad Ich ift, fo unmöglich if daher die dem Ich voraus: 
gefebte unabhängige Thätigkeit des Nicht: Ich*). 


5. Dad Ih ald Grund der unabhängigen Thätigkeit. 
Dogmatifher Idealismus. 

Das Ich ift der Inbegriff aller Thätigkeit. Im Ich wird 
Thätigleit aufgehoben oder Leiden geſetzt. Durch die unabhän- 
gige Thätigkeit des Nicht:Ich kann dieſes Leiden nicht geſetzt wer⸗ 
den, alfo kann es nur durch bie Thätigkeit des Ich felbft geſetzt 
fein. Das Leiden im Ich ift demnady nur verminderte ober bes 
ſchrankte Thätigkeit. Beſchrankte Thätigkeit aber ift aud das 
Nicht: Ich. Wie alfo unterfcheidet fich jet noch dad befchränkte 
Ich vom Nicht⸗Ich? Unterfcheiden aber müffen beibe fich laſſen, 
denn fie find einander entgegengefest. Nun läßt fi das bes 
ſchrankte Ich vom Nicht:Ich nur unterfcheiden, wenn es iſt, was 
das Nicht» Ich nie fein ann: unabhängige ober abfolute Thä- 
tigkeit. Die befchränkte Thätigkeit des Ich muß demnach zugleich 
abfolute Thätigkeit fein. Was aber ift das für eine Thätigkeit, 
die zugleich abfolut und befchränkt ift? Sie ift abfolut oder uns 
abhängig, wenn fie durch nichts bebingt, alfo ganz fpontan ift, 
fie ift befchränft, wenn fie ſich auf ein Object bezieht; es handelt 
fih daher um eine Thatigkeit, die fi mit völliger Spontaneität 
auf ein Object bezieht: dieſe Thätigkeit ift die Einbildungs⸗ 
fraft. Der Begriff der Einbildungskraft ift noch nicht erwiefen 
und deducirt, er ift nur vorausgenommen ald dad Ziel, welches 
der Zefer, um fich in diefem ſchwierigſten Theile der Wiſſenſchafts⸗ 
lehre leichter zurechtzufinden, ind Auge faffen möge **). 

*) Ehendafelbit. IL. 8.4. 6, 152— 157. 

**) Ehbenbajelöft. IL. 8.4. ©. 157—160, 


528 

Wird das Leiden im Ich aus der unabhängigen Thätigfeit 
des Nicht: Ich als feinem Realgrunde erklärt, fo haben wir dad 
Syſtem bes bogmatifchen Realismus (Spinoza), deſſen Unmög- 
lichkeit einleuchtet. Wird das Leiden im Ich aus der grundlofen 
Thätigkeit des Ich erklärt, fo haben wir den „Dogmatifchen Idea⸗ 
lismus“ (Berkeley), dem zwar nicht die fachliche, wohl aber die 
philofophifche Begründung abgeht und darum der dogmatifche 
Realismus fortwährend widerftreitet. Beide Syfteme bilden ei⸗ 
nen im Begriffe deö befchränften Ich begründeten Widerftreit: 
diefen Wiberftreit begreift und enthüllt der kritiſche (Bantifche) 
Idealismus, die Wiffenfchaftslehre Löft ihn”). 


4. Die Form der unabhängigen Thätigkeit. 
Uebertragen und Entäußern. 

Die unabhängige Tätigkeit ift in Rückſicht der Wechfelbe: 
flimmung von Ich und Nicht⸗ Ich formbeftimmend, Wie muß fie 
befchaffen fein, wenn durch fie die Form des Wechſel-Thuns und 
Leidens beftimmt werben fol? Worin befteht die Form ded Wech⸗ 
ſels? So viel Realität in dem einen Gliede gefegt wird, fo viel 
wird in dem andern aufgehoben und umgekehrt. Mithin hat die 
Wechſelbeſtimmung in jeder ihrer Handlungen immer mit beiden 
Sliedern zu thun: die Form ihrer Thätigkeit ift allemal ein 
Wechſeln oder ein Uebergehen von einem Gliede zum andern. 
Ohne ein ſolches Uebergehen kann weder im Nicht: Ic Tätigkeit 
noch im Ich Leiden flattfinden. Soll in das Nicht: Ich Thätige 
keit gefegt werden, fo muß im Ich genau fo viel Thätigkeit auf- 
gehoben oder, da das Ich der Inbegriff aller Thätigkeit ift, vom 

Ich auf das Nicht: Ich Übertragen werben. Das Ich überträgt 
einen Theil feiner Thätigkeit auf dad Nicht Ich; es befchränkt 

*) Ebendaſelbſt. IL. $. 4. ©. 155, 56, 





629 


bie eigene Thätigkeit; da ed ber Inbegriff aller Thätigkeit ift, 
fo begrenzt es diefe feine Zotalität und geht von ber abfoluten 
Totalität zur begrenzten über. Diefer Uebergang ift nur mög: 
lich, indem es eineh heil feiner Realität (Thätigkeit) von fich 
ausſchließt oder, was baffelbe heißt, indem ed fich feiner Realität 
zum Theil entäwßert. Jene Ausſchließung iſt eine Entäußerung. 
So if die Thätigkeit im Nicht: Ich nur durch Uebertragung, 
das Leiden im Ich nur durch Entäußerung möglich: daher 
befteht die Form jener unabhängigen Thatigkeit im Uebertragen 
und im Entäußern*). 

Vergleichen wir den Inhalt der unabhängigen Thätigkeit 
(Spontaneität und Beziehung auf ein Object) mit diefer Form 
(Uebertragung und Entäußerung), fo leuchtet ein, daß fich beide 
gegenfeitig beflimmen und fordern. Diefer Inhalt kann Feine 
andere Form, diefe Form keinen andern Inhalt haben. 

Vergleichen wir den Inhalt der Wechfelbeftimmung (Ber: 
haͤltniß der Wechfelglieber) mit ihrer Form (Eingreifen ber Gtie- 
der), fo leuchtet ebenfalls ein, wie beide einander völlig entfpre« 
hen und ein folches Verhältniß nur in einer ſolchen Form ſtatt⸗ 
finden fann. 

Vergleichen wir endlich die unabhängige Thätigkeit als diefe 
Einheit von Inhalt und Form mit der Wechfelbeftimmumg als 
diefer Einheit von Inhalt und Form, fo ift Mar, daß beide eines 
find, daß fie fich gegenfeitig beflimmen, alfo eine vollkommene 
Syntheſe bilden: eine Handlung, die durch einen Kreislauf in 
fi) felbft zurädgeht*"). 


*) Chenbafelbft. II. 8. 4. ©. 160— 166, 
**) Ghendafelöft, IT. 8. 4. ©, 166171. 
diſder, Gefäläte der Phllofonkie. V. 34 


530 


5. Ideal-Realismus. 
Dualitativer Idealiomus umd Realismns. Oxnantitativer Idealiemus und 
Realismus. 

Die unabhängige Thätigfeit iſt demnach beftimmt und bie 
Bebingung gefunden, welche ben in der Wechſelbeſtimmung ent: 
baltenen Widerſpruch auflöft. Es war der Widerfpruch zwiſchen 
der Caufalität des Nicht: Ich und der Subftantialität des Ich. 
Der gefundene Begriff ift daher auf biefe beiden Arten ber Wech- 
felbeftimmung anzuwenden. Es giebt in dem Nicht Sch Feine 
vorauögefegte urfprüngliche Thätigkeit: diefe Annahme, welche 
ben dogmatifchen Realismus charakterifirt, ift unmöglich. Alle 
Thatigkeit ober Realität des Nicht: Ich ift Feine urfprüngliche, 
fondern eine übertragene. Soll aber Thätigkeit auf das Nicht: 
Ich übertragen werden, fo muß boch dad Nicht: Ich zur Auf: 
nahme berfelben gegeben, alfo ald etwas von dem Ich Verſchie⸗ 
denes unb. Unabhängiges vorhanden fein. Das Webertragen ſetzt 
dad Dafein deöjenigen voraus, dem übertragen wird. So er: 
ſcheint das Nicht:Ich ald Ding an fich, und wir begegnen hier 
einer unmöglichen Faſſung. 

Unter Feiner Bedingung darf das Nicht Ich ald Ding an 
fich gefaßt werden. Es ift dem Ich nicht vorausgeſetzt, fondern 
nur entgegengefeßt. Das Ich feht etwas fich entgegen, indem 
es Thatigkeit in fich aufhebt ober Leiden in fich ſetzt. Das 
Setzen eines leidenden (befchränften) Ich ift dad Setzen eines thä⸗ 
tigen Nicht: Ich. Nennen wir die Thatigkeit bes Ich den Ideal⸗ 
grund, die Thätigkeit des Nicht: Ich dagegen den Realgrund, fo 
leuchtet ein, daß der Realgrund keineswegs vorausgefegt, ſon— 
dern aus dem Idealgrunde erklärt fein will. Diefe Erklärung 
meife bildet den Geſichtspunkt zu einem ‚wirklichen Idealrealis- 
mus, „Ideal: und Realgrund find im Begriffe der 





531 
Wirkſam keit (mithin überall, denn nur im Begriffe der Wirk: 
famkeit kommt ein Realgrund vor) Eind und Ebendaf- 
felbe*),” 

Die Löfung bes Widerfpruchd und die Entſcheidung der Sa- 
he liegt.in der Erklärung der in dem Ich vorhandenen Schranke. 
Woher die Einfhränfung bes Ich? In der Auflöfung dieſer 
Frage unterfcheidet Fichte die verfchiedenen Arten des Idealismus 
und Realiömus. Der Idealismus erklärt dad Borhandenfein je 
ner Schranke bloß aus dem Ich, der Realismus erklärt fie 
nicht aus dem Ich. Wird die Einfchränfung des Ich aus der 
Beſchaffenheit (d. h. abfoluten Thätigfeit) des Ih erklärt, fo 
haben wir den Standpunkt, den Fichte den „qualitativen Idea⸗ 
lismus nennt; wird fie aus ber Befchaffenheit (Xhätigkeit) des 
Nicht: Ich begründet, fo haben wir den „qualitativen Realid: 
mus”, Wird fie aus einer beftimmten Handlungsweiſe (d. h. 
aus den Geſetzen) des Ich abgeleitet, fo haben wir den „quantitatis 
ven Idealismus‘; wird fid nicht abgeleitet, fondern ald etwas 
betrachtet, das im Ich vorhanden ift ohne Zuthun des Ich, fo 
haben wir den Standpunkt, den Fichte „quantitativen Realis- 
mus” nennt und dem Eritifchen (Eantifchen) Idealismus gleich 
fest). 


6. Das mittelbare Seben. 

Der qualitative Realismus iſt ein unter dem Princip der 
Wiſſenſchaftslehre unmöglicher Standpunkt: dad Nicht-⸗Ich darf 
weder als Realgrund noch als Ding an ſich gefaßt werben; mer 
der darf in ihm eine urfprüngliche Thätigfeit noch darf es felbft 
als Subftrat einer zu übertragenden Thätigkeit vorausgeſetzt wer« 

*) Ebendaſelbſt. IL. 9.4. ©. 171—175, . 

**) Chendafelbft. IL $. 4. ©. 184—187. 

34* 


532 


den. Es wird mithin überhaupt nicht vorausgeſetzt, fondern bloß 
entgegengefebt. Alles Entgegenfegen ift aber nur möglich in 
Rückſicht auf ein Geſetztes. Das Ich fest ein Nicht: Ich bloß 
dadurch, daß es entgegenfeßt; es fegt entgegen, indem ed ſich 
entgegengefest d. h. bie eigene Thatigkeit einfchränft, Mithin ift 
alles Entgegenfeßen ein vermittelteö oder mittelbares Segen. 
As ein folches mittelbared Segen will die unabhängige: Thätige 
keit beftimmt fein. Was in das Ich nicht gefeht wird, wird in 
das Nicht: Ich übertragen d. h. ald Nicht:Ich geſetzt. Ober, wie 
fih Fichte auch ausdrückt, jedes Glied wird gefeßt durch das 
Nichtfeßen bed andern. Ohne ein ſolches mittelbares Setzen ift 
Bein Entgegenfegen (bed Ich), Fein Nicht: Ich,. Feine Schranke 
im Ich, fein Bewußtfein möglich. Daher erklärt Fichte dieſes 
mittelbare Segen für dad Geſetz bed Bewußtfeins*). 


7. Borftellen und Einbilden. 
Subject und Object. 

Das Ic) fest entgegen, d. h. es ſetzt ſich entgegen: es ſetzt 
ein Object. Das Nicht-Ich iſt weder Realgrund noch Ding an 
ſich, ſondern Object. Objerte find nur für (in Rüdficht auf) 
ein Subject und dieſes wieder ift nur möglich im Unterfchiede von 
einem Objecte. Daher fein Subject ohne Object und umgekehrt. 

Die unabhängige Thätigfeit oder das mittelbare Setzen ift 
demnach ein Segen von Subject und Object. Jedes Glied ift an 
bad andere gebunden, benn es iſt dem anderen entgegengefeßt. 
Das Object wird gefegt Durch Aufhebung des Subjects und ums 
gelehrt. Das Ich feht mittelbar entweder ein Object ober ein 
Subject. Es ſetzt das Object: fo muß es dad Subject aufheben 
d. h. die eigene Thätigkeit einfchränfen,, alfo Leiden in fich fegen 
y obendaſelbſt. IL. 8.4. ©, 181—188, 





633 


und biefes fein Leiden auf das Object ald Realgrund beziehen, 
d. h. ed muß in ihm die Vorftellung einer vom Ich unabhän: 
gigen Realität des Nicht» Ich entfichen. Es fett das Subject: 
fo muß es das Object aufheben, die Thatigkeit deſſelben eins 
ſchranken oder Leiden in dad Object ſetzen und dieſes Leiden auf 
die Thätigfeit des Subjects als Realgrund beziehen; es muß die 
eigene Thätigkeit ald Urfache de im Objecte gefesten Leidens be 
trachten, alfo die Vorftelung einer vom Nicht: Ich unabhängigen 
Realität des Ich erzeugen, d.h. die Worftellung ber Freiheit*). 

Das mittelbare Segen ift alfo ein Borftellen oder Einbilden. 
Bohlgemerkt: das Nicht: Ich iſt nicht der Realgrund bes im Ich 
geſetzten Leidens, fonft wäre es Ding an fi, fondern es muß 
als diefer Realgrund vorgeftellt ober eingebildet werben. Es ift 
diefer Realgrund nicht als Ding an fi), fondern ald nothwen⸗ 
dige Vorſtellung des Ich. Diefe Vorſtellung bringt das Ich 
nothwendig aus ſich hervor: die unabhängige Thätigkeit ober 
das mittelbare Seen muß daher beflimmt werben ald dad Ber: 
mögen Borftellungen hervorzubringen ober als die probuctive 
Einbildungskraft. 

Ohne dieſe probuctive Einbildungskraft giebt es Feine Vor⸗ 
ſtellung von der Realität des Nicht: Ich, Fein mittelbare Segen 
von Subject und Object, Feine unabhängige Thätigkeit, die in 
jenem mittelbaren Setzen befteht; feine Wechfelbeftimmung von 
3 und Nicht: Ich, die jene unabhängige Thätigfeit als Bebin- 
gung fordert; Feine Vereinigung von Ich und Nicht-Ich, bie 
ohne Wechfetbeftimmung nicht ftattfinden kann; keinen Gegenfag 
von Ich und Nicht: Ich, Fein fegended und entgegenſetzendes Ich, 
kein urfprüngliche® Ich, alfo überhaupt Fein Ich, Feine Intelli- 
genz, keinen Geift. 

*) Ebendaſelbſt. IL. 8.4. 6. 183, ©. 189. 


534 
Die probuctive Einbildungskraft ift demnach dad theoretifche 
Srundvermögen. „Ohne diefed wunderbare Vermögen,” fagt 
Fichte, „läßt ſich gar nichts im menfchlichen Geifte erklären und 
es dürfte fich gar leicht der ganze Mechanismus des menfchlichen 
Geiſtes darauf gründen *).” 


I 
Einbildung und Selbftbewußtfein. 
1. Die bewußtlofe Production. 
Das Product als Object. 

Bir haben gefehen, wie die Wiſſenſchaftslehre nach der Richt: 
ſchnur ihrer Methode die productive Einbildungskraft als die 
Grundbedingung der Wechielbeftimmung und des theoretifchen 
Ich deducirt. Verſuchen wir jest, dad gewonnene Ergebniß auf 
lürzerem Wege zu erreichen und durch eine einfache, von dem 
ſchwerfälligen und weitläufigen Apparat der Methode freie Be: 
trachtung vollfommen deutlich zu machen. Wir find an einer 
Stelle, die dad Verftändniß der Wiffenfchaftölehre entfcheidet und 
daffelbe zugleich mit großen Schwierigkeiten umgiebt. Bleibt 
diefer Punkt dunkel, fo bleibt die ganze Wiffenfchaftölehre un: 
verftanden und mit ihr die folgenden Syfteme, die aus ihr her: 
vorgehen. 

Das theoretifche Ich (die Wechſelbeſtimmung) fordert eine 
Thatigkeit des Ich, bie zugleich unabhängig und beſchränkt ift, 
die fich mit völliger Spontaneität auf ein Object bezieht. Ber 
flimmen wir, welcher Art diefe Tätigkeit fein muß. Sie ift 
nur dann unabhängig, wenn fie durch nichts bedingt, vielmehr 
alles durch fie bebingt ober gefeßt iſt; die unabhängige Thätig- 
keit des Ich ift darum nothwendig probuctiv. Alles ift ihr Pro: 

*) Ghenbajelbft. IL. $, 4. S. 208. 


535 


duct. Zugleich fol diefe Thaͤtigkeit befchränft fein, fie fol einen 
Gegenftand haben, auf den fie fich bezieht, Weil die Thätigfeit 
des Ich unabhängig ift, darum ift fie production; weil fie be: 
ſchrankt ift, darum iſt fie objectin (fie hat Objecte). Sie fol 
beides zugleich fein: das ift nur möglich, wenn fie eine ſolche 
Tätigkeit ift, deren Producte zugleich ihre Objecte, oder deren 
Dbjecte ihre eigenen Probucte find. Nun ift Object die Vorſtel⸗ 
lung eines von mir unterfchiebenen Wefend, dad mir gegenübers 
ſteht, deſſen Thätigkeit mich beftimmt und einfchränft: alfo die 
Vorſtellung der Realität des Nicht: Ich. Das Object erfcheint 
dem Ich ald ein fremdes Product. Daher kann jene Thär 
tigfeit des Ich, die zugleich unabhängig und befchränkt (pro⸗ 
ductiv und objectiv) ift, nur eine ſolche fein, welcher die eige: 
nen Probucte als fremde Producte oder ald Dinge außer ihr 
erſcheinen. 

Sobald ich aber in meiner Thätigkeit zugleich auf dieſelbe 
reflectire, ſo Tann dad Product derfelben mir nur ald mein 
Product erſcheinen, nicht als etwas Reales außer mir, nicht als 
din meine eigene Thätigkeit beftimmendes und einſchränkendes Ob: 
jet, Als ein ſolches kann mein Product mir daher nur dann err 
ſcheinen, wenn ich in meiner Thätigkeit nicht auf diefelbe reflec⸗ 
fire oder, was daffelbe Heißt, wenn ich in meiner. Thätigkeit mir 
derfelben als ber meinigen nicht bewußt bin. Alfo kann nur in 
der bewußtlos producirenden Thätigkeit des Ich das eigene Pros 
duct ald ein fremdes erfcheinen. Nur die Producte einer folchen 
Thatigkeit erfcheinen zugleich ald Objecte von außen unb Fönnen 
nicht anders erfcheinen. Eben diefe Thätigkeit ift Die Einbildung. 
Sie ift völlig fpontan ; aber in diefer völlig fpontanen und darum 
unabhängigen Thatigkeit kann das Ich ſich nur fegen als be 
ſtimmt durch ein Nicht: Ich. Hier fiehen wir auf dem Grunde 


536 


des theoretifchen Ich. Das Vermögen ift entdeckt, das ben 
Grundfag der theoretifchen Wiffenfchaftölehre trägt. 

Diefe Entdeckung ift höchſt wichtig. Die bewußtlofe Pro- 
duction ift der Grund und Kern bed Bewußtfeind, die Bedin⸗ 
gung, durch welche das legtere allein möglich iſt. Wie follte ed 
anders möglich fein? Das Bewußtſein fest in fich die bewußt- 
Iofe Thätigkeit voraus. Denn da dad Bewußtfein nur möglich 
iſt durch Reflerion auf die eigene Thätigkeit, fo kann die Thä— 
tigkeit, in Reflerion auf welche dad Bewußtſein entfteht, offen= 
bar nicht felbft bewußt fein. Sobald wir vorftellen, ohne auf 
unfere vorftellende Thaͤtigkeit zu reflectiren, d. h. fobald wir bes 
wußtlos vorftellen, erfcheinen uns die Producte unferer Thätig- 
keit (die Bilder) ald Objecte von außen. Jedes Traumbild be 
weift die Wahrheit diefed Satzes. Das eigene Product erfcheint 
ald fremdes, ald Object außer und, als Nicht-Ich, wenn es 
bewußtlos probucirt wird. Diefe berußtlofe Production ift die 
Einbildungskraft. Wermöge derfelben ift das Ich vorgeftellte 
Welt, Vorftelung der Dinge. Vermöge der Reflerion auf dieſe 
feine Vorftellung ift es Selbftbewußtfein. Daher ift die produc⸗ 
tive Einbildungskraft die Bedingung des Bewußtſeins, des Ich. 


2. Alle Realität ala Product der Einbildung. 

„Es wird demnach hier gelehrt”, fagt Fichte, „Daß alle 
Realität — es verſteht fih für uns, wie ed denn in eis 
nem Syſtem der Trandfcendentalphilofophie nicht anders verflan- 
den werben foll — bloß durch die Einbildungsfraft 
hervorgebracht werde. Einer der größten Denker unferes 
Beitalterd, der, fo viel ich einfehe, das gleiche lehrt, nennt dieß 
eine Tauſchung durch die Einbildungskraft. Aber jeder Täu⸗ 
ſchung muß ſich Wahrheit entgegenfegen, jede Täuſchung muß 


537 


fic) vermeiben laffen. Wenn denn nun aber erwiefen wirb, wie 
es im gegenwärtigen Syſteme erwieſen werben fol, daß auf 
jene Handlung der Einbildungsfraft die Möglich: 
teit unferes Bewußtfeins, unferes Lebens, unfer 
res Seins für uns d.h. unferes Seins als Ih fi 
gründet; fo kann biefelbe nicht wegfallen, wenn wir nicht vom 
Ich abftvahiren follen, welches fich widerfpricht, da das Abftca- 
birende unmöglich von ſich felbft abftrahiren kann; mithin täufcht 
fie nicht, fondern fie giebt Wahrheit und die einzig mögliche 
Wahrheit. Annehmen, daß fie tauſche, heißt einen Stepticide 
mus begründen, der das eigene Sein bezweifeln lehrt *).” 


Mm. 
Die Wiffenfhaftslcehre als pragmatifhe Gefhichte 
des menſchlichen Geiftes. 


1. Das Ziel der theoretifhen Wiffenfhaftslehre. 
Mit diefer Einficht in die Natur und das Vermögen ber 
Einbildungskraft haben wir die theovetifche Wiſſenſchaftslehre 
noch keineswegs befchloffen, ſondern erft begründet. Wir flehen 
auf dem Grunde deö theoretifchen Ich und haben gefunden ,: auf 
welche Weiſe allein die Handlung möglich ift, bie den Grund: 
fag der theoretifchen Wiſſenſchaftslehre (die Wechfelbeftimmung) 
ausführt, Die Einbildungskraft fest ihr Probuct als ein frem⸗ 
bed, als ein Object außer ihr, d. h. vermöge der Einbildungs: 
kraft fett das Ich fich ſelbſt als beflimmt durch das Nicht: Ich, 
nur vermöge einer folchen Thatigkeit. Alle anderen Dentmög- 
lichkeiten find methobifch erprobt und auögefchloffen worden. 
Aber Aber das Ich ift nicht bloß, fondern es iſt fir fih. Das 
y Ebendaſelbſt. IL, 8.4. 6.227, Ar. 18. 


838 


Sein für ſich if feine Weſenseigenthümlichkeit, ohne welche es 
aufhören würde, Ich zu fein. Es liegt daher in dem Charakter 
des Ich, daß es für fich ift, was es ift. Es iſt micht genug, 
daß es ſich fegt als beſtimmt durch bas Nicht Ich: es muß ſich 
ſo auch für ſich ſetzen, d. h. ed muß dieſe feine Thätigkeit er⸗ 
kennen oder in das Bewußtſein erheben; es muß erkennen, daß 
ſein Object ſein Product iſt. Das Ich ſetzt ſich als beſtimmt 
durch dad Nicht⸗Ich, d. h. es iſt productive Einbildungskraft. 
Es iſt nicht genug, daß es Einbildungskraft iſt: es muß dieſe 
Einbildungskraft auch für ſich fein, es muß dieſe feine Thaͤtig⸗ 
keit ins Bewußtſein erheben oder, was daſſelbe heißt, erkennen, 
daß ſein Object das Product ſeiner Einbildungskraft iſt. Nehmen 
wir, das Ich habe den Standpunkt gewonnen, auf dem es ein⸗ 
ſieht, daß es ſich ſetzt als beſtimmt durch das Nicht-Ich, ſo iſt 
es nicht bloß theoretiſch, ſondern es iſt für ſich theoretifches Ich, 
es weiß ſich als ſolches, es erkennt ſich als den Grund ſeines 
theoretiſchen Verhaltens, d. h. es erkennt den Grundſatz der theo⸗ 
retiſchen Wiſſenſchaftslehre. Wenn das Ich dieſe Einſicht er⸗ 
reicht hat, ſo iſt aus dem theoretiſchen Ich ſelbſt der Grundſatz 
der theoretiſchen Wiſſenſchaftslehre hervorgegangen; dieſer Grund⸗ 
ſatz iſt Reſultat geworden und damit haben wir das untrügliche 
Zeugniß, daß die theoretiſche Wiſſenſchaftslehre ihren Kreislauf 
vollendet, ihr Spftem befchloffen hat. 

Es ift alfo klar, welche Aufgabe die theoretifche Wiffen- 
ſchaftslehte noch zu löfen hat, Ihr Kreislauf befchreibt zwei 
Hälften. Bon dem Grunbfag ber theoretifchen Wiſſenſchaftslehre 
zum Grundvermögen des theoretifchen Ich (productive Einbil- 
dungskraft): das iſt die erfte Hälfte; von diefem Grundvermögen 
zurück zu jenem Grundfag: bad ift die zweite, . Die erfte hat 
fie befchrieben, die zweite ift moch zu befchreiben. Es ift jetzt zu 





539 
erkennnen, wie bie Einbildungskraft vollftändig ind Bewußtfein 
erhoben wird ober wie aus dem theoretifchen Grundvermögen 
der Grundſatz beffelben (für dad Ich) hervorgeht. 


2. Die Methode der Entwidlung. 
(Schelling und Hegel. Schlegel und Novalis.) 

Diefe Erhebung gefchieht von Stufe zu Stufe. Diefen 
Stufengang ober diefe Entwidlung macht nicht etwa die Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre vermöge ihrer Methode, fondern dad Ich (die Intelis 
genz) felbft vermöge feiner Natur. Denn es ift die Natur und 
das nothwendige Geſetz der Intelligenz: was fie ift, für ſich zu 
fein; was fie thut, ind Bewußtſein zu erheben. Diefes Geſetz 
treibt die Intelligenz von der unterften Stufe ihres theoretifchen 
Verhaltens bi zur höchften, wo fie begreift, daß ihr Object ihr 
eigenes Product iſt. 

Die Methode der Wiſſenſchaftslehre fällt alſo von jetzt an 
mit dem naturgemäßen Entwidlungsgange der Intelligenz zu⸗ 
fammen ; fie hat diefen Entwicklungsgang nur zu betrachten und 
darzuftellen: die Wiffenfchaftslehre wird daher von jegt an, wie 
ſich Fichte ausdrückt, „die pragmatifche Gefhichte des 
menſchlichen Geiſtes“. 

In dieſer Aufgabe und ihrer Löſung erkennen wir das von 
Fichte gegebene Vorbild und Motiv für die nächften Syſteme, die 
auf die Wiſſenſchaftslehre und aus derſelben gefolgt find. Die 
felbe Aufgabe fette fich Schelling in feinem „trandfcendentalen 
Vealismus"; diefelbe Hegel in feiner „Phänomenologie des 
Seiftes"; der Kenner weiß, was diefe Werke in der Geſchichte 
unferer deutfchen Philofophie bedeuten. Kein Punkt in dem 
ganzen Umfange der fichte’fchen Lehre hat eine größere Tragweite 
als die Begründung des theoretifchen Ich. durch bie probuctive 


540 


Einbildungskraft und die darin enthaltene Aufgabe. Bon bie 
fem Punkte aus übte die Wiffenfchaftslehre ihre Anziehungskraft 
auf Novalid und Fr. Schlegel und erfchien einen Augenblid 
lang dem Geifte der romantifchen Schule, der die Macht der 
Einbildungskraft vergötterte, als die ihm wahlverwandte Philo- 
fophie. Was Kant durch feine Lehre von der transſcendentalen 
Apperception für Fichte war, das ift Fichte durch feine Theorie 
und Entwidlung der Einbildungskraft für Schelling und Hegel 
geworben. 


3. Grenzpunkte der Entwicklung. 

Die noch zu Iöfende Aufgabe der theoretiſchen Wiſſenſchafts⸗ 
lehre hat die naturgemäße Entwicklung des theoretifchen Sch zu 
ihrem Gegenftande. Dadurch ift fie genau beftimmt und in fefte 
Grenzen eingefchloffen. Die Grenzpunkte jener Entwicklung find 
auch die Grenzpunfte der pragmatifchen Gefchichte des Geiftes: 
der Ausgangspunkt ift die niedrigfte, der Endpunkt die höchfte 
Stufe jener Entwicklung. Im Anfange erſcheint dem Ich fein 
eigenes Probuct bloß ald Object, am Ende erfcheint dem Ich 
das Object ganz als fein Product. Zuerft ſetzt das Ich fein Pro: 
duct al Object, d. h. es ſetzt ſich als beftimmt durch das Nicht-Ich; 
zuletzt ſetzt das Ich ſein Object als Product, d. h. es erkennt, 
daß es fich ſetzt als beſtimmt durch das Nicht-Ich. 


4. Geſetz der Entwidlung. 

Auch dad Geſetz der ganzen Entwicklung ober der fortſchrei⸗ 
tenden Erhebung ift vollfommen beftimmt. Das Geſetz heißt: 
Ich —Ich, oder was das Ich ift, iſt ed für ſich; was es thut, 
erhebt es ind Bemußtfein. Eben diefe Erhebung ift der noth: 
wendige Fortfchritt von der niederen Stufe zur höheren. Setzen 


541 


wir, dad Ich fei in einer gewiffen Thätigfeit, mit der es zu⸗ 
nächft zufammenfällt, gleih A, fo wirb durch die nothwendige 
Reflerion auf diefe Thätigfeit A verwandelt in gewußtes A. 
Die Thätigkeit aber, durch welche A ift, und diejenige, durch 
welche A gewußt wird, verhalten fich wie die niedere Thätigkeit 
zur höheren. So verändert dad Ic) feine Thätigkeit und damit 
ſich felbft oder feinen Standpunkt, d.h. es erhebt ſich von ber nie: 
deren Stufe zur höheren. 

Diefen Stufengang haben wir jest im Einzelnen zu be 
traten. Fichte hat denfelben entwickelt in der Grundlage ber 
gefammten Wiffenfchaftslehre ald „Deduction der Vorftelung” 
und in dem „Grundriß des Eigenthümlichen der Wiffenfchafts- 
lehre in Rückſicht auf das theoretifche Vermögen”. Die „De 
duction” giebt die Gründzlige ber ganzen Entwidlung, der „Grund: 
tip” enthält nur „das Eigenthümliche ver Wiſſenſchaftslehre“ d.h. 
die Hauptpunkte, in denen fie ſich von der kantiſchen Vernunft 
kritik unterfcheidet. Was dieſe vorausſett, will die Wiflen- 
ſchaftslehre deducirenz wo jene anfängt, endet daher diefe ben 
Grundriß ihres eigenthümlichen Inhalts. Dieſe ihre eigenthüm⸗ 
liche Leiſtung iſt die Deduction der Empfindung und Anſchauung. 


Sechſtes Capitel. 
Die Entwicklung des theoreliſchen Ich. 


L 
Die Empfindung. 
4. Der Zufand bes Leidens. 

Was das Ich ift, kann es nur durch fich fein. Was das Ich 
ift, muß ed auch für fich fein, d. h. es darf nicht bloß fein, ſon⸗ 
dern muß auch erkennen, was ed ift. Diefe beiden Gefege, Die 
mit dem Wefen bed Ich felbft eines find, bedingen und erflären 
deſſen nothwendige theoretifche Entwidlung *). 

Den Charakter der erften-und niedrigften Stufe in biefer 
Entwicklung haben wir bereits beftimmt. Dem Ich erfcheint fein 
eigenes Product gar nicht als fein Product, fondern ald etwas 
ohne fein Zuthun Vorhandene, als etwas ihm von außen Ge- 
gebened. Was dem Ich gegeben ift, kann nur in ihm gegeben 
fein; was im Ich gegeben ift ohne fein Zuthun, kann nur ald 
Aufhebung oder Einfchränkung feiner Thätigkeit gegeben fein: 
als Gegentheil der Thätigfeit, ald Zuftand und Leiden, als lei⸗ 
dender Zuſtand. Das Erfte wird daher fein, daß das Ich ſich 


*) Grundriß des Gigenthümlicen der Wiſſenſchaftslehre. $. 1. 
S. W. I Abth. IB. 6.333, 


513 


als leidend (nicht fest, fonbern) findet. Es findet einen Zuſtand 
vor, es findet denfelben in ſich vor, es findet fich als leidend 
(afficirt), d.h. edempfindet. Die erfte Stufe ift daher ein 
Finden, ein ſich und in ſich Finden (Infihfindung), Empfinden 
(Empfindung) *). 


2. Thätigkeit und Leiden. 

Wenn wir die Thatfache der Empfindung, an welchem Bei⸗ 
fpiel e8 immer fei, analpfiren, fo fehen wir leicht, unter wel: 
hen Bedingungen allein Empfindung flattfinden kann. Die Em: 
pfindung ift in uns, fie ift ein fubjectiver Vorgang, Affection, 
ein Eindrud, den wir empfangen; fie ift in diefer Rückficht ein 
Leiden. Uber das bloße Leiden ift nicht Empfindung, ber bloße 
Eindruck ift noch keine Empfindung. Zur Empfindung gehört, 
daß wir das Leiden und aneignen und zu dem unfrigen machen; 
ohne dieſe Thätigkeit ift Empfindung nicht möglich. So ift jede 
Empfindung ein Product aud den beiden entgegengefehten Facto⸗ 
ten ber Thätigfeit und bed Leidens, fie iſt ein Probust dieſes im 
Ich vorhandenen Widerſtreits. Das gemeinfchaftliche Product 
diefer beiden entgegengefegten Factoren, wenn ed nicht gleich nichts 
fein fol, Bann nur etwaß fein, das weber bloß Thatigkeit noch 
bloß Leiden ift, alfo die Thaͤtigkeit im Zuſtande · des Leidens, die 
Thatigkeit ald Vermögen: „als ruhende Thätigkeit, ald Stoff 
ober Subftrat der Kraft” **). Segen wir im Ich den Widerſtreit 
von Thätigkeit und Leiden ; beibe dürfen fich nicht gegenfeitig aufs 
heben, fie müffen ſich vereinigen, was nur gefchehen Tann, inz 
dem fie ſich gegenfeitig begrenzen; fegen wir dad Ich in den Zu⸗ 

*) Ehenbafelbft. $. 2. Etſtet Lehrſat. III. S. 339, 


**) Ehenbafelbft. 9.2. L S. 335336. Vol. $. 3, Zweiter 
Lehtſah. L. 6. 340-341, 


544 


fland biefer Begrenzung, fa kann es nichts anders fein als Em- 
pfindung*). s 


3. Reflerion und Begrenzung. 

Wie aber folgt aus dem Wefen des Ich die Notwendigkeit 
der Begrenzung? Diefe Einficht giebt die Deduction der Em: 
pfindung, welche die kantiſche Kritik nicht gegeben und Fichte 
hier zum erften male verſucht hat. 

Das Ic iſt reine, durch nichts eingefchränkte, unbegrenzte 
Thatigkeit; was das Ich ift, muß es für fich fein; es ift Thatig⸗ 
keit und zugleich Reflerion auf diefelbe. Es veflectirt feine Thä— 
tigkeit. Wird die Thätigkeit reflectirt, fo geht fie nicht ununter- 
brochen fort ind Unbegrenzte; die Reflerion erzeugt Unterbrechung, 
Begrenzung der Thätigkeit und wendet diefe dadurch in das Ich 
felbft zurüd. So ift das Ich vermöge feiner Reflerion in ſich 
zurückkehrende Thätigkeit; vermöge biefer Thätigkeit kommt das 
Ich zu fich, findet ſich, fühlt fih. Wäre es bloß unbegrenzte 
Thätigkeit ohne.Reflerion, fo wäre es fein Ich. Alſo vermöge 
der Reflerion, welche die unbegrenzte Thätigkeit hemmt und in 
fich zurücktreibt, finbet fich erft das Ich und entſteht erſt für fich. 

Es entſteht durch ſich, es ift fein eigenes Product, aber ed kann 
noch nicht wiffen ; daß es felbft der Grund feiner Entſtehung iſt; 
es iſt noch nicht felbftbewußtes Ich. Was alfo ift dieſes fo ent⸗ 
ftanbene Ich )? 

Das Ich begrenzt feine Thaͤtigkeit, indem es dieſelbe refler⸗ 
tirt. Dieſe Reflexion iſt auch ſeine eigene Thätigkeit. Aber in⸗ 
dem es auf feine Thaͤtigkeit reflectirt, veflectiet es nicht auch zus 
gleich auf diefe feine Reflexion. Diefe tritt daher nicht ind Be— 

*) Ebenbafelbft. 8.3. III. S. 345—348, 

) Ebendaſelbſt. 8.3. VL B. ©. 359, 360. 


345 

wußtfen, fie ift alfo bewußtloſe Thätigkeit. Was fie produ⸗ 
cirt, erfcheint darum dem Ich nicht ald (von ihm) hervorgebracht, 
fondern als (von außen) gegeben. Das Product jener erflen Re 
flerion {ft die Begrenzung. Die Begrenzung erſcheint als von 
außen gefegt und kann hier nicht anderd erfcheinen. Alfo kann 
hier das Ich fich als begrenzt auch nur finden, es findet ſich 
leidend, d.h. es empfindet. Und fo kann dad Ich vermöge feir 
ner erften Reflerion (auf der erften Stufe feiner Entwiclung) 
nichts anderes fein ald Empfindung”). 

Die Begrenzung des Ich ift Product einer Thätigkeit, auf 
welche das Ich nicht veflectirt, alfo einer bewußtloſen Thätigkeit, 
mithin iſt Diefe Begrenzung für das Ich felbft zunachſt nicht fein 
Product, fondern fein gegebener Buftand, in dem es fich leidend 
verhält und als leidend findet. Sein Selbfigefühl fäut mit fei- 
ner Begrenztheit und feinem Leiden zufammen. Es fühlt fich 
begrenzt: dieſes Gefühl feiner Begrenztheit ift zugleich ein Ge: 
fühl des Nichtkönnens ober des Zwanges, und von einem folchen 
Gefühl iſt jede Empfindung begleitet**). 


IL 
Anfhauung. 


4. Reflerion auf die Empfindung. 


Was das Ich ift, muß es für fich fein. Es muß fih als 
dad, was es ift, felbft fegen, inbem es darauf reflectirt. Nun 
ift und findet fich das Ich als begrenzt, es muß ſich daher jetzt 


*) Ehendafelbft. 8.3. VL. Vgl. damit Grundlage der gef. Wiflen- 
ſchaſtsl. Debuction der Vorftellung. I. S. 227—229. Hier nennt 
dichte , Anſchauung“, was er im Grundriß genauer als „Empfindung“ 
bezeichnet. 

**) Grunbriß bes Eigenthümlichen u. |. f. h. su A. 6,367, 

Bilder, Gefäläte der Phllofophle V. 





546 


als begrenzt felbft fegen, auf feine Grenze reſlectiren und eben 
dadurch fiber diefelbe hinausgehen. Die Reflerion auf die (un⸗ 
begrenzte) Thätigkeit ift notwendig deren Begrenzung, die Res 
flerion auf bie Begrenzung ift nothwendig Hinauögehen über die⸗ 
felbe. Ienfeits der Grenze kann nichts andered gefeßt werden 
als dad Begrenzende. Indem alfo bad Ich über feine Grenze 
hinausgeht, fest es nothwendig ein Begrenzendes. „Es reflectirt 
mit Freiheit; aber ed Tann nicht reflectiven (Grenze fegen), ohne 
zugleich abfolut etwas zu probucien ald ein Begrenzendes ).“ 
Es ſetzt dad Begrenzende nothiwendig fi) ald dem Begrenzten 
entgegen un fehließt baffelbe von fich aus. Was aber dem Ich 
entgegengefebt (von ihm auögefchloffen) wirb, kann nichts andes 
red fein ald bad Nicht Ich. 


2. Dad Ih ald Anſchauung. 

Die Reflegion auf die Empfindung (Begrenzung) ift baher 
eine Thätigkeit, beren Product nothwendig etwas (bad Ich) Bes 
grenzendes, ihm Entgegengefebtes d. h. ein Nicht: Ich if. Ins 
dem aber dad Ich auf feine Empfindung veflectirt, veflectirt es 
nicht zugleich auf biefe feine Reflerion; diefe Reflerion ift eine 
Thätigkeit, in welcher das Ich nicht fich felbft ſieht; es ſieht ſich 
nicht handeln, alfo handelt es bewußtlos; bad Product feiner 
Thatigkeit (dad Nicht: Ich) erfcheint ihm daher nicht ald fein 
Product, fondern ald Object außer ihm, das ohne fein Zuthun 
vorhanden ift**). 

In diefem Object ift fich das Ich zunächft feiner eigenen 
Thatigkeit nicht bewußt, und da es überhaupt noch Feiner eiges 


*) Ebendaſelbſt. 9.3. VIL S. 384. 
**) Ghenbafelbft. 8.3. VI. B. ©. 360-363, 


647 


nen Zhätigkeit fich bewußt ift, fo iſt es mit feiner ganzen Tha⸗ 
tigkeit im Objecte verloren. Diefes feiner eigenen Thatigkeit vers 
geffene, in bad Object verlorene und gleichfam verſenkte Ich ift 
die Anfhauung, bie erfte, urfprüngliche Anſchauung, „bie 
fumme, bewußtfeinlofe Contemplation”*). 


3. Empfindung und Anfhauung. 

Das Ich in feiner Begrenzung (als begrenztes) ift Gefühl, 
Empfindung, aber ald Ich ift ed nicht bloß Empfindung, fon 
dern ift, was ed ift, für ſich, es ſetzt fich ald empfindend und 
unterfcheivet bavon bad Empfundene. Es feht ſich als begrenzt 
durch ein Begrenzendes, ihm Entgegengeſetztes, von ihm Ausge: 
ſchloſſenes. Das ihm Entgegengefebte ift Nicht-Ich. Im der 
Anfhauung des Nicht: Ich fühlt fic das Ich begrenzt. Begrenz⸗ 
tes und Begrenzendes, Empfindung und Anfchauung, das Ge 
fühl der Begrenztheit (ded Nichtkönnens ober bed Zwanges) und bie 
Anſchauung des Nicht Ich find (im Ich) mit einander verbunden. 
Keine Anſchauung ohne Gefühl des Zwanges, Fein Gefühl des 
Zwanges ohne Anfchauung. 

Das Gefühl des Zwanges entfpringt aus der Begrenztheit 
des Ich, und diefe felbft entfteht durch bie (urfprüngliche) Re: 
flerion; die Anſchauung entfteht, indem das Ich auf feine Be: 
grenztheit (Empfindung) reflectirt und dadurch Über feine Grenze 
hinausgeht, alfo durch bie fpontane Thätigkeit des Ich. Ans 
ſchauung und Gefühl des Zwanges verhalten fih daher, wie 
Spontaneität und Reflerion, wie Freiheit und Begrenztheit, wie 


*) Ebendaſelbſt. 8.3, IV. ©. 349, VI. S. 364. VII. ©. 370. 
®gl damit Grundlage ber gef. Wiſſenſchaſtslehre. Deduction der Vor⸗ 
fellung. IL. S. 229 — 281, 

35 * 


548 


Production und Beihränkung. Beide müffen vereinigt werben. 
Wie ift eine ſolche Vereinigung möglich *)? 
UL 
Anfhauung und Einbildung. 

1. Reflerion auf die Anfhauung: das Bild. 

Das Ich ift in der Anſchauung bed Nicht Ich zugleich ge: 
bunden und frei, ed if beides zugleich, indem es auf bie An: 
ſchauung reflectirt. Worauf es veflectirt, das ift dem Ich ger 
geben, das ift ohne fein Zuthun vorhanden, darin alfo ift das 
Ic, völlig beftimmt durch die Wirkfamkeit des Richt: Ich; we 
nigftens erfcheint dem Ich auf feinem gegenwärtigen Standpunkte 
das Angefchaute ald Product des Nicht: Ich und muß ihm fo er⸗ 
fcheinen. Aber daß es darauf veflectirt, iſt feine eigene freie Thaͤ⸗ 
tigkeit. Es kann nur reflectiren auf bie in der Anfhauung ges 
gebenen Unterfchiebe, aber es durchläuft biefelben mit Freiheit, 
zählt fie auf, prägt fie ein. Vermöge diefer Tätigkeit ſetzt es 
die Anſchauung in fich und bildet diefelbe nach. Im der Reflerion 
auf bie Anſchauung ift dad Ich nachbildende Thätigkeit und des 
ren Product dad Bilb**). 


2%. Vorbild und Rachbild. 

Das Bild ift mit Freiheit entworfen und zugleich vollkom⸗ 
men beſtimmt, es fol einem von ihm völlig unabhängigen Ob- 
jecte entfprechen, es wird alfo gefeht als Nachbild. Das Ob- 
ject, beffen Nachbild es ift, wird damit geſetzt al Vorbild. Das 
Bild ift Product der eigenen Thätigkeit des Ich und erfcheint 

*) Grunbriß des Eigenthümligen u. f. f. 8. 3. VIL. S. 367 — 
368, 

*) Ebendaſelbſt. $. 3. 0.2. 6, 373375, 


549 


dem Ich als fein Product; das Vorbild iſt davon unabhängig, 
& ift nicht Product ber Thätigkeit bed Ich, es gilt ald vorhan⸗ 
den ohne alles Zuthun des Ich; es wird damit gefegt ald etwas 
vom Ich Unabhängiges, Reales, d.h. ald wirfliches Ding. 
Hier entfleht für dad Ich der Unterſchied der Idealität und Reali- 
tät, der Vorſtellungen und der Dinge, des Subjectiven und Ob: 
jettiven *). 

Das Bild ift Product der Tätigkeit des Ich, das wir: 
liche Ding ift Product der Wirkſamkeit des Nicht Ich. So ha 
ben wir Ich und Nicht» Ich, beide in Wirkfamkeit, jebes in feiner 
Virkſamkeit unabhängig von dem anderen. Aber die Producte 
der beiden von: einander unabhängigen Wirkſamkeiten follen fich 
verhalten, wie Nachbild und Vorbild, d. h. fie folen überein 
fimmen; die Wirkfamkeiten des Ich und Nicht: Ich find mithin 
von einander unabhängig und zugleich harmoniſch. Wie ift diefe 
Harmonie möglih? Wir haben hier dad Ich, wie es fich felbft 
betrachtet auf dem dogmatiſchen Standpunkte: es nimmt bie 
Objerte al won ihm völlig unabhängige Dinge, es nimmt feine 
Vorflelungen als entflanden durch eigene, fpontane, von den Din: 
gen unabhängige Thätigkeit, es fest feine Erkenntniß in die Har: 
monie beider, d. h. in bie Vorſtellungen, welche den Dingen ge: 
miß find. 


5: Die Anfhauung ala Vorbild, 

Wäre dad wirkliche Ding in Wahrheit etwas von bem Ich 
völlig Unabhängiges (Ding an fih), fo könnte es niemald Wor- 
bild fein, weil das Vorbild doch auch Bild, Vorſtellung, alfo 
etwas im Ich ſein muß. Unter einem dem Ich nothwendigen 





*) Eendaſelbſt. 3.8. 0.2. S. 375. 


550 


Geſichtspunkte erfcheint diefem fein eigenes Probuct als etwas ihm 
Fremdes, von ihm Unabhängige, ald Object außer ihm, in deſ⸗ 
fen Anſchauung das Ich, feiner eigenen Thatigkeit nicht bewußt, 
ſich verliert. Im Wahrheit ift das wirkliche Ding nichts anderes 
als unfere erfte, urfprüngliche, unmittelbare Anſchauung, ald 
das im feine Anfchauung verlorene Ich. Wenn alfo dad Ich dad 
wirkliche Ding in ſich nachbildet, fo bildet es feine Anfchauung 
nad, fo reptobucirt es fein eigenes Product: es reprobueirt (mit 
Bewußtfein), was es (ohne Bewußtfein) probucirt hat. Das 
durch ift die Harmonie zwiſchen Ding und Vorftellung vollkom⸗ 
men erklärt und ift nur fo zu erflären: bie Anfchauung ift der 
Grund aller Harmonie zwiſchen unferen Vorftellungen und ben 
Dingen *), 

Um den Grund biefer Harmonie zwifchen Ding und Vorſtel⸗ 
lung zu begreifen, muß man den Grund ihres Unterfchiedes in 
der Wurzel erfaßt haben, und dieſe Einficht ift nur möglich, 
wenn man dad Wefen des Ich wahrhaft burchbringt. Dad Ich 
ift abfolute Freiheit, unbegrenzte productive Thatigkeit. Alle 
feine Objecte find in Wahrheit feine Product. Wenn fi dad 
Ich feiner Freiheit (unbegrenzten Thätigfeit), indem es handelt, 
auch bewußt fein könnte, fo würde es alle feine Producte ald die 
feinigen, alle Objecte als feine Producte wirklich einfehen, und 
der ganze Unterfchied zwifchen Ding und Vorſtellung, zwiſchen 
Realität und Idealität fiele weg. Der wirkliche und tieffte 
Grund biefes Unterfchiedes liegt daher in der Unmöglichkeit, ſich 
feiner freien Thatigkeit in ihrem ganzen Umfange bewußt zu 
werben. Und der Grund biefer Unmöglichkeit ift: daß biefelbe 
Bedingung, welche dad Bewußtſein ermöglicht, zugleich die 
freie Thätigkeit begrenzt und aufhebt. Diefe Bedingung ift bie 

*) Ghenbafelbft. $. 3. 0. 2. S. 377. 


551 


Reflerion. Um mir meiner Thätigkeit bewußt zu werben, muß 
ich auf diefelbe reflectiren, und indem ich auf fie reflectire, halte ich 
fie feft, mache fie aufhören, verwandle fie in ein Product. Da: 
ber muß dem Ich die Welt gebrochen erfcheinen in Vorftellungen 
und Dinge, Idealität und Realität”). Diefe Einficht löſt das 
fonft unlösbare Problem. Es ift, wie Fichte es bezeichnet, „bad 
überrafchendfte, die uralten Berirrungen endende und bie Ver: 
nunft auf ewig in ihre Rechte einfegende Refultat **)." 


4. Innere und äußere Anſchauung. 

Dad Ich ift urfprüngliche, unbegrenzte Thatigkeit; ald Refle: 
Fon auf feine urfprüngliche Thätigfeit ift und findet ſich das Ich 
begrenzt. Vermöge der Reflerion auf die Empfindung fest ſich 
das Ich als Anſchauung (angefchautes Nicht-Ich) und durch die - 
Reflerion auf die Anſchauung ald Vorftelung (Einbildung). 

Wir haben hier dafjelbe Object zweimal gefegt: ald Vorbild 
md Nachbild, als Anfchauung und Bild, ald wirkliches Ding 
und Vorftellung. Weide müfjen auf einander bezogen werden. 
Wir wiflen bereits, wie bie Einficht des Beobachters, die mit 
dem Standpunkte der Wiſſenſchaftslehre zufammenfält, dieſe 
Frage nimmt und löſt. Jetzt aber nehmen wir die Frage nicht 
wie fie für die Einficht des Beobachters, fondern wie fie für das 
3 ſelbſt liegt, wie fie bad Ich felbft unter feinem gegenmärti- 
gen Gefichtspunkte nehmen muß, ich meine dad Ich, für welches 
das Product feiner Anfchauung ein fremdes von ihm unabhängie 
903 Object iſt. 

Das Ich iſt ſich im Bilden feiner eigenen Thatigkeit bes 
wußt; es ſetzt dad Bild als fein Product, es entwirft daſſelbe 

*) Ebendaſelbſt. . 8. VILB. 6. 871. 

*) Ehenbajelbft, &. 3. VIL. S. 370, 


552 
mit abfeluter Zreiheit; das vollkommen beſtimmte Bilb iſt ein 
inneres Object, und die Handlung des Beflimmend (daB im freien 
Bilden begriffene Ich) daher innere Anfchauung. Aber das 
Bild wird beſtimmt durch feine Merkmale, jedes biefer Merk: 
male foll die Eigenfchaft eined wirklichen Dinges ausbrüden, alfo 
iR das Ich genöthigt, in feinem Bilden zugleich auf jene Eigen- 
ſchaften zu reflectiren; das Bild will nicht bloß aus dem Ich, 
fondern zugleich durch etwa3 außer dem Ich erklärt fein. Auf 
diefes Etwas außer ihm muß daher dad Ich in feiner bildenden 
Thatigkeit gerichtet fein. Diefe nach außen gerichtete Betrach- 
tung ift die äußere, mit der inneren nothiwenbig verknüpfte An- 
ſchauung. Wie find beide verfnäpft*)? 
5. Subfantialität und Wirkſamkeit des Nicht-Ich. 

Das Ic) bezieht das Bild in ſich auf etwas außer fih. Es 
fest die Merkmale des Bildes (und damit bad Bild felbft) als 
Eigenfchaften, denen etwas außer bem Ich zu Grunde liegt; es 
fest alfo dad Nicht: Ich ald Subſtrat ber in dem Bilde ausge— 
drüdten Eigenfchaften, ober dad Nicht: Ich gilt dem Ich ald das 
Subſtrat diefer in dem Bilde auögebrückten Eigenjchaften; die 
Merkmale des Bildes gelten als Eigenfchaften des Richt: Ich, 

Nun ift das Bild Product der freien Thätigkeit des Ich, 
Jedes Product ber Freiheit hat, wie bie freie Handlung felbft, 
den Charakter der Zufälligkeit. Diefen Charakter haben daher 
(für das Ich) das Bild und deſſen Merkmale. Sie gelten daher 
als bie zufälligen Eigenfchaften, deren vorausgeſetztes Subftrat 
das Nicht: Ich ift. Aber dad Nicht: Ich felbft erfcheint dem Ich 
nicht ald Product feiner freien Thätigkeit, alfo nicht als zufällig, 
fondern ald das dem freien Handeln (dem Zufälligen) Entgegen 

9 Gbenbafelöft. 9. 3.- VIL S. 882—88, 











58 


gefetste d. h. als etwas Nothwendiges. So unterfcheibet dad Ich 
in dem Nicht: Ic Rothwendiges und Zufälliges, es unterfcheibet 
ein nothwendiges und zufällige Nicht: Ich, die beide verbunden 
fein müſſen. Nothwendig if das Nicht-⸗ Ich als Subftrat oder 
Träger der Eigenfchaften, zufällig find diefe ſelbſt. Die Ber 
bindung beider giebt den Begriff der Subſtanz mit ihren Acci⸗ 
denzen (bie Kategorie der Subflantialität) *). 

Was aber von dem Nicht: Ich überhaupt gilt, wird auch 
von ihm gelten müffen, fofern es die Subſtanz ausmacht, der 
die Eigenfchaften ald Accivengen zulommen: es erfcheint bem Ich 
nicht ald fein Product, ſondern ald ein fremdes; feine Hand⸗ 
lungsweiſe hat für dad Ich nicht ben Charakter ber freien oder 
zufälligen, ſondern der nothwendigen Wirkſamkeit: es gilt daher 
als dad von dem Ich unabhängige wirkliche Ding, als die aus 
Nothwendigkeit wirkende Urfache (Kategorie der Caufalität) **). 


6. Die Einbildungstraft ala Urfprung der Kategorien. 
Fichte im Verhältniß zu Hume und Kant. 


Was von dem Nicht: Ich gilt, gilt auch von feiner Eu 
ſtantialitat und Gaufalität. Das Nicht- Ich ift dad bewußtlofe 
Product der Einbildungskraft; alfo iſt es die Einbildungskraft, 
durch welche die Kategorie der Cauſalität erzeugt wird. Erſt 
aus der Einbildungskraft kommt dieſe Kategorie in den Verfland, 
Die fogenannte Kategorie ber Wirkſamkeit zeigt ſich demnach 
hier als lediglich in der Einbildungskraft entfprungen : und fo ift 
8, es kann nichts in den Verfiand kommen außer 
duch die Einbildungskraft**).” Der Verſtand macht die 


*) Ghenbafelöft. $. 3. VII. ©. 385. 
*) Chenbafelbft. $. 3. VII. 6, 386, 
**) Ghenbajelöft. 9.3. VIL ©. 386. Rr.2. 





554 


Kategorie nicht, er macht fie nur gefegmäßig. Hume hat richtig 
gefehen, daß die Kategorie der Gaufalität in der Einbildungskraft 
ihren Urfprung hatz er hat mit Unrecht gerade deöhalb ihre ob- 
jective Gültigkeit beftritten. Aehnlich Maimon. Kant nimmt die 
Kategorien ald urfprüngliche Denkformen; aber um ihre objertive 
Anwendbarkeit zu ermöglichen, läßt er in feinem transſcendenta⸗ 
len Schematismus die Einbildungskraft fie bearbeiten; er hat bie 
Sefegmäßigkeit der Kategorien richtig beurtheilt, nicht deren Ur: 
fprung. „In der Wiſſenſchaftslehre entſtehen fie mit den Ob⸗ 
jecten zugleich und, um biefelben erft möglich zu machen, auf 
dem Boden ber Einbildungskraft *).” Hume und Maimon fa: 
gen: „weil bie Gaufalität in der Einbildungskraft entfpringt, da⸗ 
zum ift fie auf die Obiecte felbft nicht anwendbar, darum ift 
biefe Anwendung eine Taͤuſchung.“ Wielmehr ift hier die Täu⸗ 
ſchung ber Skeptiker. Hätten fie nur den Urfprung bed Objects 
ebenfo richtig beurtheilt ald den der Kategorien! Die Wiffen- 
ſchaftslehre Löft das Räthfel. Weil die Caufalität aus ber Ein- 
bildungskraft entfpringt, darum und nur darum ift fie anwend- 
bar auf die Objerte. Denn biefe haben mit den Kategorien ge- 
nau benfelben Urfprung. Verkennt man biefen Urfprung ber 
Objecte, läßt man biefe oder etwas in ihnen ohne Zuthun des Ich 
gegeben fein, wie will man bie Erkenntniß erflären? Wie will 
man den Skepticismus widerlegen? Hier iſt die Schwäche des 
bißherigen Kriticiömus. „So geht der Skepticismus und ber 
Kriticismus, jeder feinen einförmigen Weg fort, und beide blei⸗ 
ben fich felbft immer getreu. Man kann nur fehr uneigentlich 
fagen, daß der Kritifer den Skeptiker widerlege. Er giebt viel- 
mehr ihm zu, was er fordert, und meiflend noch mehr, als er 
fordert; und befchränkt lediglich die Anfprüche, die derfelbe mei- 
y öobendaſelbſt. 9.3. VIL 6, 387. Rr. 3. 





655 


ſtens gerabe ‚wie ber Dogmatiker auf eine Erfenntniß des Dinges 
an füh macht, indem er zeigt, daß dieſe Anfprüce ungegrün⸗ 
det find*).” - 


7. Subfantialität und Wirkſamkeit des Id, 

Bir haben dad Bild im Ich und die Merkmale bed. Bildes 
gefekt als.Eigenfchaften bed Dinge außer dem Ich. Diefe Eigens 
fchaften find Aeußerungen des Dinge, dieſe Aeußerungen find 
beftimmt durch die nothwenbige Wirkungdweife des Dinges: fo 
muß dad Ich aus dem Gefichtöpunkte der Einbildung in der Ans 
ſchauung bie Sache nothwendig betrachten. 

Was von den Merkmalen des Bildes gilt, wird auch von 
dem Bilde ſelbſt gelten müffen. Sind die Merkmale Wirkungen 
des Dinges, fo ift daB Bild im Ich ein Product des Dinges, fo 
ift dad Ich von außen beftimmt und hört damit auf zu fein, was 
es iſt: das Ich felbft iſt aufgehoben, mit ihm die Einbifdung, 
nit dieſer dad Bild. 

Diefe Aufhebung ift unmöglich, Das Bild bleibt im Ich; 
außer ihm bleibt das Ding in feiner nothwendigen Erxiſtenz und 
Birkfamkeit. Das Bild ald ſolches iſt bloß Product des Ich, 
es iſt ald dieſes Product etwas Bufäliges, eb ift für das Ich 
ſelbſt zufällig und hat feinen Beſtand und Grund nur im Ich. 
Aber das Ich felbft iſt nicht zufällig. Alſo unterfcheibet fich dad 
Ic) von feinem Bilde ald das nothwendige Ich (Ich an fich) von 
feiner zufälligen Beftimmung. Ich und Bild im Ich verhalten 
fih, wie das Ding an ſich zu feinen Eigenfchaften: fie verhal⸗ 
ten fich wie Nothwenbiges und Zufälliges, wie Subflanz und Ac- 
cidens, Urfache und Wirkung ’*). 

*) Ebendaſelbſt. $. 3. VII. ©. 388—89. Ar. 5. 

**) Ghendafelbit. $. 3. VII. ©.389—90. 


Bir haben mithin unter dem Geſichtspunkte der Einbildung 

daſſelbe Verhaͤltniß fowohl im Ich ald im Richt: Ich. Wir ha- 

" ben das Ich für ſich und ihm gegenüber ein Nicht: Ich (Ding); 
jenes ift Ich an ſich, dieſes ift Ding an fi), beide find von 
einander völlig unabhängig und in ihrer Unabhängigkeit wirkfam. 
Dem handelnden Ich fleht dad handelnde Nicht: Ich entgegen; 
was in dem einen gefchieht, ift ganz unabhängig von dem andern 
und barum für bad andere zufällig. 

Das Nicht: Ich Handelt für fi; was es hervorbringt, if 
nur fein Product, Ebenſo handelt dad Ich für fich; was es her 
vorbringt, ift ebenfalld nur fein Product. Das Product des 
Nicht: Ich iſt feine Aeußerung, feine Erfheinung; das Product 
des Ich ift feine Vorſtellung, fein Bild. Daß biefes Bild die 
Eigenfchaften des Dinges ausdrückt, iſt für dad Ich ebenfo zu- 
fallig als für das Nicht-Ich ). 

Wenn aber beide nothwendig wirkſam ſind und keines von 
beiden die Wirkſamkeit des anderen aufhebt, ſo wirken ſie, wie 
unabhängig fie auch von einander fein mögen, doch zuſammen, 
alfo vereinigt. Ihre Bereinigung aber ift, da feines vom anbern 
abhängt, rein zufälig: fie ift „Das ohngefähre Zufammentreffen 
der Wirkſamkeit des Ich und des Nicht: Ich in einem Dritten, 
dad weiter gar nichts ift noch fein kann, als bad worin fie zu⸗ 
fammentreffen**).” Was ift dieſes Dritte? 


. W. 
Raum und Zeit. A. Der Raum. 


4. Die Stellung ber Frage. 
Das Ich ſetzt dad Bild ald fein Product und zugleich als 


*) Ebendaſelbſt. 8.3. VIL S. 390, 
*) Ebendaſelbſt. 9.3. VIL 6. 391. 


687. 


entfprechenb dem ‚wirklichen Dinge außer ihm, welches betrachtet 
wird ald Product des Nicht: Ich. Nehmen wir den Standpunkt 
ein, in welchem das Ich fich gegenwärtig befindet (dev Anfchaus 
ung und Einbildung), fo gilt bier die Webereinftimmung zwifchen 
Bild und Ding, zwifchen Ich und Nicht Ic; umter ber Boraud- 
feßung, daß beide von einander völlig unabhängig find und wire 
ten: die Uebereinftimmung gilt demnach als ein zufälliges Zu⸗ 
ſammentreffen und muß als folches von dem anfchanenden Ich 
vorgeftellt werben. Ohne diefe Vorſtellungsweiſe ift für das Ich 
feine Uebereinſtimmung zwiſchen Bild und Ding, alfo auch Feine 
Reflerion auf die Anſchauung möglich, benn in diefer Reflerion 
wird das Bild geſetzt als Nachbild des wirklichen Dinges; iſt 
aber bie Reflerion auf die Anſchauung nicht möglich, fo giebt es 
aud) feine Ankhauung für dad Ich, Feine Anſchauung ald Ich, 
alfo überhaupt Feine Anſchauung. Kurz gefagt: ohne jene Vor⸗ 
flellungsweife, in welcher das zufällige Zuſammentreffen zwiſchen 
Ic und Nicht: Ich gefegt ift, giebt es keine Anſchauung, oder 
jene Vorſtellungsweiſe ift die nothwendige und ausfchließende Ber 
dingung aller Anfhauung. Die Bedingungen, unter benen als 
lein ein folches Zufammentreffen zwiſchen Ich und Nicht: Ich (für 
das Ich) ftattfinden Fann, find zugleich die Bedingungen, unter 
denen allein Anſchauung möglich ift. Welches find biefe Be- 
dingungen? 


2. Die zu unterfheidenden Anfhauungen. 

Das Ich foll fein Zufammentreffen mit dem Nicht Ich ald 
ein zufälliges vorftellen, alfo muß es vor allem ein Richt Ich 
überhaupt (etwas außer fich) vorftelen; bieß gefchieht vermöge 
ber Anſchauung. Diefe Anfhauung muß als eine zufällige 
gefegt fein, fie muß für dad Ich den Charakter der Zufalligkeit 


haben. Nun ift das Zufällige als ſolches dem Nothwendigen ent⸗ 
gegengefegt, und fein Charakter iſt nur in biefer Entgegenfegung 
einleuchtend. Soll daher eine Anſchauung als zufällige geſetzt 
fein, fo muß fie von einer anderen unterfchieden werben können, 
bie den Charakter der Nothwendigkeit hat, ober es muß der zu: 
fälligen Anfchauung eine andere als nothwendige fih entgegen- 
feßen laſſen. Es handelt ſich mithin um den Unterfchied der 
Anſchauungen, um eine foldje Unterſcheidung, bie fid nicht auf 
die eigenthämlichen Beichaffenheiten, auf bie inneren Beftimmuns 
gen der Anfchauungen bezieht, fondern auf bie äußeren, d. h. auf 
dad Verhältniß der Anfchauungen. Diefe geforderte Unterſchei⸗ 
dung if die Bedingung, umter welcher allein etwas als zufällige 
Anfhauung im Ich geſetzt, dad zufällige Bufammentreffen zwi⸗ 
ſchen Ich und Richt: Ic) vorgeflellt werden, alfo überhaupt An- 
ſchauung für das Ich ftattfinben kaun; fie ift die ausſchließende 
Bedingung aller Anfhauung, die Bedingung, unter welcher et= 
was ald Object nicht einer Anſchauung überhaupt, fondern einer 
folden Anſchauung geſetzt wird, bie von einer andern unter- 
ſchieden werden Tann”). 


35. Die zu unterfheidenden Objecte (Kräfte). 

Welches .alfo ift-die Bedingung ber auf ſolche Weiſe zu un⸗ 
terfcheidenden Anfchauungen? Nehmen wir die Objecte der An= 
ſchauung, wie fie das Ich felbft nimmt, ald Probucte des Nichts 
Ich, als Erfcheinungen und Aeußerungen freier von dem Ich 
unabhängiger Kräfte. Die Aeußerung der einen Kraft ſoll fich 
zu der einer andern, wie dad Zufällige zu dem Nothwendigen ver- 
haften, jene ſoll durch biefe bebingt fein. Da aber bie Kräfte 
frei und von einanber unabhängig wirken, fo kann es nicht bie 
cxendaſelbſt. 9.4. I-IL. 6, 892—394, 


559 


Art, fondern nur die Sphäre der Wirkfamfeit fein, in welcher 
die eine durch bie andere bebingt if. Jede Kräft hat ihr Gebiet, 
ihre Wirkungsſphare, innerhalb deren die ihr eigenthlimliche Aeu⸗ 
Berung ftattfindet. Die Wirkungsfphäre der einen Kraft fei zus 
fällig, die der andern nothwendig, jene fei bebingt durch diefe, 
Bie ift das möglich? 

Segen wir die Wirkungsfphäre einer Kraft y als nothwen⸗ 
dig, fo heißt das: in diefer Sphäre Tann Teine andere Kraft 
wirffam fein ald y, die Wirkfamkeit jeder anderen Kraft iſt von 
diefer Sphäre auögefchloffen; bie Aeußerung einer anderen Kraft 
x ift alfo infofeen durch die Kraft y bedingt, als fie in der Wir 
fungöfphäre dieſer Kraft nicht flattfinden kann, fondern nur in 
einer davon auögefchloffenen Sphäre, 

4. Die gemeinfhaftlide (Praftlofe) Sphäre. 

Wenn aber eine Kraft die Wirkungsfphäre einer andern von 
ſich auöfchließt und dadurch bedingt, fo müffen die auöfchließende 
und auögefchloffene Sphäre zufammentreffen, fie fordern daher 
ein gemeinfchaftliches Drittes. Die Kräfte müffen auf dieſes ge: 
meinfchaftliche Dritte bezogen werben, und ba fie in ihrer Wirk⸗ 
famteit frei find, fo darf jenes Dritte nichts fein, wodurch die 
Wirkſamkeit der Kräfte geftört oder eingeſchränkt werben könnte: 
& darf alfo felbft Feine Kraft haben, nicht felbft wirkfam fein, 
und da alle Realität Kraft und Wirkſamkeit haben muß, wird je: 
ne Dritte Feine Realität fein bürfen*). 

5. Das Continuum. 

Die Kraftfphären treffen zufammen, indem bie eine von ber 
andern nothwendig auögefchloffen wird. Im ber Sphäre ber 
Kraft y_ darf feine andere Kraft wirken, diefe Sphäre iſt aus⸗ 

*) Ebendaſelbſt. $. 4. III. 6, 285—97, 


560 


ſchließend mit der Kraft y verbunden, fie ift die Sphäre bloß 
biefer Kraft. Die Kraft x darf in diefer Sphäre nur deshalb 
nicht wirkfam fein, weil hier die Kraft y wirft; wo alfo y zu 
wirken aufhört, da ift der Grund, welcher die Wirkſamkeit der 
Kraft x auöfchließt, nicht mehr vorhanden, da tritt diefe Wirk- 
ſamkeit ein: die Kraft x beginnt daher in eben dem Punkte zu 
wirten, wo y zu wirken aufhört. Die Wirkungsſphären beider 
Kräfte, die ſich verhalten als zufällige und nothwendige, audge- 
ſchloſſene und auöfchließende, hängen fo zufammen, daß fie durch 
nichts Leeres getrennt find; mithin iſt jenes dritte Gemeinfchaft- 
liche, jene gemeinfchaftliche Sphäre ohne Kraft, in der die wirt 
ſamen Sphären zufammentreffen, kein Interruptum, fondern 
ein Continuum*). 


6. Der Raum ald Product der Einbildung. 

Diefe gemeinfchaftliche, continuirliche, durch nicht unter 
brochene, durch nichts begrenzte Sphäre ift der Raum. Ohne 
Raum laffen fich die Wirkungsfphären der Kräfte nicht. unter: 
beiden, alfo auch nicht die Zufälligkeit und Nothwendigkeit ihrer 
Aeußerungen, alfo auch nicht die der Objecte, auch nicht die der 
Anfhauungen. Mithin Tann ohne Raum Feine Anfchauung im 
Ich den Charakter der Zufälligkeit haben; ohne Raum ift daher 
dad zufällige Zufammentreffen zwifchen Ich und Nicht-Ich un: 
vorftelbar, alfo die Anfchauung felbft unmöglich. Der Raum 
iſt demnach) die Bedingung aller Anſchauung der wirklichen Dinge 
(aller äußeren Anfchauung) **). 

Der Grund ber Anſchauung iſt das Ich als Einbildungs- 
kraft; der Raum ift deren Product. Da aber dad Ich in feine 

*) Ebendaſelbſt. $. 4. III. ©. 397—99, 

**) Ebendaſelbſt. $. 4. IV. ©. 400, 


561 


Anfhauung verloren ift oder auf feine eigene anfchauenbe Thatig⸗ 
keit nicht veflectirt, fo Fann ihm der Raum nicht als fein Pro- 
duct, fondern muß ihm ald gegeben erfcheinen: es kann bie 
Raumberhältniffe nicht aus fich ableiten, fondern muß fie den 
Dingen felbft zufchreiben *). 
7. Der leere Raum. 
Endloſe Theilbarteit. Wechſeiſeitige Ausfchfiekung.) 

Aber das Ich ift nicht bloß Anfchauung, fondern zugleich 
Keflerion auf die Anfchauung. Im diefer Reflerion iſt es frei; 
& kann auf dieſes Object ebenfogut ald auf jenes reflectiven; es 
iR zufäßig, auf welches Object die Reflerion ſich richtet. Jedes 
Object ift in dieſer Rückſicht für das Ich zufällig; Fein Object 
if für das Ich fo nothwendig mit einem geroiffen Raume verbun- 
den, daß nicht die Einbilbung ein anderes Object ebenfo gut in 
diefen Raum ſetzen könnte. Daher kann das Ich jeden beftimmten 
Raum, weil ihm berfelbe nur zufällig mit dem Objecte verbunden 
erfheint, von biefem abfondern; es Tann mithin den Raum von 
allen Objecten abfonbern, d. h. den Ieeren Raum vorftellen **). 

Das Ic kann nur im Raum und durch denfelben Ans 
fhauungen und Objecte unterfcheiden, e8 Tann den Raum auch 
ohne alle Objecte vorftellen; was jest im leeren Raum unferfchie: 
den wird, find Räume, in denen wieber nur Räume zu unter 
fheiden find: fo erſcheint der Raum als theilbar ind Endlofe. 

Da nun dad Ich jeden Raum als eine für dad Object zu⸗ 
fällige Wirkungsſphäre betrachtet, fo erfcheint unter biefem Ge: 
fihtspunkte kein Raum in Rülckſicht auf fein Object als bloß 
nothwendig oder ausfchliegend und ebenfo wenig ald bloß zufällig 
cder außgefchloffen, fondern jeder erfcpeint in Rüdfiht auf fein 

*) Ebendaſelbſt. 8.4. IL. S. 394—95. 


**) Chenbafelbit. 8. 4. IV. 1. S. 400, 
Bifäer, Geidihte der Phlefaphle. V. 36 


562 


Object als ausſchließend und ausgefchloffen zugleich, d. h. ber 
Raum felbft erſcheint ald eine gemeinfchaftliche, ausgedehnte, ſte⸗ 
tige, unendlich theilbare Sphäre, in ber die Dinge ſich wech 
felfeitig. ausfchliegen ). 


B. Die Zeit, 
1. Der Vereinigungspunft zwifhen Id und Nicht-Ich. 

Die Bedingung ift ausgemacht, unter ber allein eine Ans 
ſchauung im Ich als zufällig gefegt werden kann. Gegen wir 
eine folche Anſchauung. Sie ift ein Vereinigungspunft (Punkt 
de3 Zufammentreffens) zwiſchen Ich und Nicht: Ich. Es fei der 
Punkt d, er ift (ald geſetzt durch dad Ich) zufällig, aber fofern 
er gefegt it, Tann Feine andere Anfchauung ald die gegebene in 
ihm flattfinden; er ift mithin in Rüdficht auf alle andern An: 
ſchauungen (Objecte) ausfchließend oder entgegengefeht**). 

Es muß demnach jenem erften Object ein anderes entgegen- 
gelegt werden, bad einen andern, von d auögefchloffenen und 
diefem entgegengefeßten Punkt fordert: es fei der Punkt c, wie 
derum ein Bereinigungspunkt zwifchen Ich und Nicht: Ich. Der 
Punkt d ift zufällig (abhängig von ber Freiheit des Ich), der 
Punkt c ift in Rüdfiht auf d nicht zufällig, ex iſt dem Punkte d 
entgegengefekt, alfo das Gegentheil des Zufälligen d. h. noth= 
wendig. Der Punkt d ift zufälig in Rüdficht auf den Punkt c 
d.h. er ift von ihm abhängig; der Punkt c iſt nothwendig in 
Rüdficht auf den Punkt d, d. h. er iſt von diefem nicht abhängig: 
ber Vereinigungspunkt d. ift bedingt durch ben Bereinigungs- | 
punkt c, nicht umgefehrt***). 

*) Ebendaſelbſt. 8. 4. IV. ©. 400. V. ©. 402—408. 

**) Ghenbafelbft. $. 4. VIII. 8. ©. 407. 

***) Ebendaſelbſt. $. 4, VIIL 8—9. ©. 407—408, 


563 


2. Die Reihe der Punkte. Zeitreihe. 

Nun ift der Punkt e ebenfalls gefegt durch das Ich, er iſt 
in diefer Rüdficht zufällig; zugleich iſt er ebenfalls ausſchließend 
und entgegengefegt, alfo fordert er einen neuen Vereinigungs⸗ 
punkt b, der fich zu c verhält, wie c felbft zu d. Ebenfo wird 
der Vereinigungspunft b einen neuen Vereinigungspunft a for 
dern, der fich zu b verhält, wie bzuc, wieczud; dift be 
dingt durch c, wie dieſes durch b, wie dieſes durch a; d ift alfo 
bedingt und abhängig von c, b, a; c von b und a; bvona; 
nit umgelehrt a von b, c, d, nicht b von c und d, nicht c 
von d*). 

Die Vereinigung von Ich und Nicht: Ich gefchieht demnach 
in einer Reihe von Punkten d, c, b, a .... Das Verhaltniß 
diefer Punkte ift genau beſtimmt: jeder ift von einem andern be 
fimmten Punkte abhängig, der von ihm nicht abhängt: fie bil: 
den alfo eine nothwenbige Folge d. h. eine Zeitreihe*). 

Im Raum haben wir gegenfeitige Abhängigkeit (wechfelfei- 
fige Ausſchließung), in ber Zeit einfeitige Abhängigkeit; dort bes 
dingen a und b fich gegenfeitig, hier iſt b durch a bedingt, nicht 
aber umgekehrt: im Raume find bie Dinge zugleich, in der 
dit nacheinander, 

Die Zeit ift alfo nur möglich als die Reihe der Vereini: 
gungspunkte zwifchen Ich und Nicht Ich, fie ift nur möglich als 
Anſchauung des Ich; daher giebt es abgefehen von biefer An: 
ſchauung feine Zeit. Abgefehen von dieſer Anſchauung, find bie 
Dinge nicht nacheinander, ſondern zugleich; dann müßte jedes 
feinen Raum an fich haben, dann wäre der Raum eine Eigen: 


*) Ehendafelbft. $.4. VIII. 10-11. 6, 408. 
*#) Ebenbafeldft, 8.4. VIIL 12. ©. 408, 
36* 


564 


ſchaft der Dinge an fich, ober die Dinge an fi müßten im 
Raume fein, road unmöglid) ift*). 


3. Gegenwart und Vergangenheit. 

Nehmen wir in ber Beitreihe den Punkt, von dem Fein an- 
derer abhängt, fo ift diefer Punkt die Gegenwart **); die 3 
reihe, von welcher die Gegenwart abhängt, nennen wir bie Ver: 
gangenheit. Da nun die Zeit nichts außer dem Ich ift, dad Ich 
felbft aber nicht vergeht, fo giebt ed im eigentlichen Verftande 
keine Vergangenheit. ine Vergangenheit ald wirklich ſetzen, 
bieße eine Zeit fegen, die unabhängig vom Ich, alfo ein Ding an 
fi wäre. „Die Frage: ift denn wirklich eine Zeit vergangen? 
ift mit der: giebt ed denn ein Ding an fich oder nicht? völlig 
gleichartig.” Vergangenheit ift die für und vergangene Zeit, das 
ift die Zeit, die wir in der Gegenwart vorftellen oder denken, 
das ift die Zeit, die wir als vergangen fegen ***). 






4. Bergangenheit, Gegenwart, Bemwußtfein. 
Freilich müfjen wir eine Zeit als vergangen fegen, weil wir 
fonft keine ald gegenwärtig fegen fünnen. Die Vergangenheit ift 
für und nothwendig, denn fie ift die Bedingung der Gegenwart 
und diefe ift die Bedingung des Bewußtfeind. Ohne Vergan- 
genheit eine Gegenwart, Fein Bewußtſein. Warum? 

Das Bewußtfein ift nur möglich durch die Reflerion auf 
unfere eigene freie Tätigkeit. Wir werden unferer Thatigkeit 
als ber unfrigen nur im Gegenfag zu dem Object (Nicht: Ich) 
inne. Ober was badfelbe heißt: unfere Thätigkeit wird für uns 

*) Ebendaſelbſt. $.4. VIII. 14. S. 409, 

**) Ebendaſelbſt. $. 4. VIII. 18, ©, 409, 

*er) Ebendaſelbſt. 8. 4. VIIL 14.2. ©. 409, 


565 


erſt frei in der Reflerion auf die Anfchauung, in der Richtung 
auf dad Object, das wir mit Freiheit vorftellen und nachbilden. 
Wir Fönnen das Object mit Freiheit ergreifen, unfere nachbil⸗ 
dende Thätigfeit auf dieſes Object fo gut richten als auf ein an: 
deres; wir haben die Reflerion auf die Anfchauung frei. Das 
Object, auf welches wir reflectiren, ift deshalb für und zufällig. 
Die freie Reflerion äußert ſich daher in der zufällig gefeßten 
Anfhauung. Die zufällig gefeste Anfchauung ift Die Gegenwart. 
Erſt in der fo geſetzten Anſchauung, in biefer freien Reflerion, 
wird ‚und bie eigene Thätigfeit wirklich gegenwärtig: dieſe 
Gegenwart ift dad Bewußtfein. Die Gegenwart ift harakterifirt 
durch die zufällig gefegte Anfchauung, durch die Freiheit der Re⸗ 
flerion. Nun aber kann Feine Anfchauung ald zufällig geſetzt 
werben, ohne zugleich als abhängig von einer anderen Anſchauung 
gelegt zu fein, die in Rückſicht auf jene als deren nothwendige 
Vorausfegung gilt, alfo in einem Zeitpunkt flattfinden muß, 
welcher der Gegenwart vorhergeht, d. h. in einem vergangenen 
Moment. . 
Kein Beroußtfein ohne Freiheit und Identität. Die Frei: 
heit der Reflerion ift nur möglich in ber Gegenwart. Aber die 
Gegenwart felbft ift ein Moment, der nur möglich ift im Zus 
fammenhange -mit einem frühen, der ihm vorauögeht. Die Ge: 
genwart des Bewußtſeins ift daher nicht möglich ohne Vergan⸗ 
genheit. Oder wie ſich Fichte ausbrüdt: „es giebt gar keinen 
erften Moment des Bewußtfeind, fondern nur einen z wei⸗ 
ten*)." 

Die kantiſche Vernunftkritit läßt Naum und Zeit ald urs 
fprüngliche Vernunftformen gegeben fein. Fichte zeigt, wie dad 
Ich zu dieſen Formen kommt, wie fie zum Ich gehören und 

*) Ebenbafelbft, 8.4. VIII. 14.b. ©. 410. 


566 


nothwendig aus demfelben folgen. Eben darin befteht „das Ei: 
genthämliche der Wiſſenſchaftslehre“: fie beducirt, was die kan⸗ 
tifche Kritik vorausſetzt; fie Löft dad Problem, das Kant offen 
gelaſſen und Reinhold wohl bemerkt, auch zu löfen bie Abficht 
gehabt, aber nicht wirklich gelöft hatte, 


V. 
Das Ich als denkende Thaätigkeit. 
1. Der Verſtand. 

Das Ich iſt Anſchauung und Einbildung, productive und 
reproductive Einbildung. Nur vermöge der (reproductiven) Ein⸗ 
bildung wird die Anſchauung wirklich im Ich und für daſſelbe 
gefegt; nur vermöge der Anfchauung wird die Empfindung für 
dad Ich; nur vermöge der Empfindung ift dad Ich begrenzte, 
in fich zurückkehrende Thätigkeit, d. h. findet ſich das Ich als fol- 
ches. Oder daffelbe anders ausgedrückt: das Ich ift unbegrenzte 
Thätigkeit, alfo ſoll auch die unbegrenzte Thätigkeit — Ich fein, 
diefe -Aufgabe löft die Empfindung; das Ich ift Empfindung, 
alfo ſoll auch die Empfindung — Ich fein, diefe Aufgabe Löft die 
Anfchauung; dad Ich ift Anfhauung, alfo fol auch die An- 
fhauung = Ic) fein, diefe Aufgabe löſt die Einbildung. 

‚Hier fahren wir in derfelben Weife fort: die Einbilbung foll 
= Ich fein. Sie ift als ſolche die in der Anfchauung gegenwär⸗ 
tige, auf die Objecte ber Anfchauung reflectivende, dieſelbe nach⸗ 
bildende Thätigkeit. Wie die Anfhauung, feht auch die Einbil- 
dung fich ind Unbegrenzte fort. Es fommt darum vermöge der 
bloßen Einbildung zu keinem beftimmten Product. Ein folches 
Product zu fegen, muß bie Thätigkeit (Anſchauung und Einbil- 
dung) begrenzt ober ihr Product firirt werden. Die Begrenzung 
geſchieht durch bie MReflerion; biefe Meflerion ift durch das Ich 


| 


667 


ſelbſt gefordert, denn eine Thätigkeit, auf welche deren Subject 
nicht veflectiet, iſt fein Ich. Soll daher die Einbildung = Ich 
fein, fo muß das Ich auf feine bildende Thätigkeit reflectiren, 
diefelbe begrenzen, beren Probuct firiren. 

Diefed Firiren ift ein Feſtſetzen und Feſthalten. Das Ich 
macht, daß die Probucte der Einbildung feftftehen, es bringt fie 
zum Stehen und macht fie dadurch haltbar und behaltbar : biefe 
Thatigkeit des Fixirens, dieſes Vermögen des Feſthaltens ift der 
Verſtand. Das im Verſtande befeſtigte Bild iſt die wirkliche 
Vorſtellung (Begriff) des Dinges, das gedachte Object). 


2. Die Urtheilskraft. 

Das Ich iſt ſich dieſer Vorſtellungen als ber ſeinigen be: 
wußt; fie find die Producte feiner Thaͤtigkeit, die Objecte feiner 
freien Reflerion. Was das Ich thut, Darauf muß es reflectiven. 
Als Reflerion auf die Einbildung und deren Producte if ed Ver⸗ 
and, Was iſt es ald Neflerion auf den Verfland und bie im 
Verſtande enthaltenen Objecte? Es hat feine Reflerion frei, alfo 
kann es auf das beftimmte Object fowohl veflectiven als nicht ve 
fletiren; es kann ſowohl auf A ald Nicht- A refletiven, es 
ſchwebt zwifchen Auffaffen und Nichtauffaffen umd ift in biefer 
Freiheit zunächft völlig unbeftimmte Tätigkeit. Es Tann daher 
zur wirklichen Thatigkeit auch nur durch fich felbft beftimmt wer⸗ 
den. Die Freiheit des Reflectirens und Nichtreflectirens wird auf 
beflimmte Objecte bezogen; auf ein beflimmtes Object nicht res 
flectiren, beißt davon abflrahiren: fo verhält ſich das Ich in 
Rüdficht der Vorfiellungen (Berftandesobjecte) veflectirend und 





*) Grundlage ber gef. Wiſſenſchaſtslehte. Debuctien der Vorſtel⸗ 
lung. IIL 6.231—234, VII. 241, 


568 
abftrabirend, Merkmale verbinbenb und trennend, d. h. urt hei⸗ 
lend. Verſtand und Urtheilskraft bedingen fich gegenfeitig*). 
3. Die Vernunft. 

Als Urtheilökraft hat dad Ich die Freiheit, feine Reflerion 
auf ein beftimmted Object zu richten oder Davon abzuſondern. Es 
ann von dem beflimmten Object abftrahiren, alfo kann ed auch 
von jedem beflimmten Object abftrahiren, mithin auch von alz 
len: fein Abftractionsvermögen ift abfolut. Das Ich ift Urtheilö- 
kraft. Was es ift, muß es für fich fein: es reflectirt auf feine 
Urtheilökraft. Indem ed auf biefelbe veflectirt, richtet es fi auf 
kein beſtimmtes Object, abftrahirt ed von allen, wird es ſich alfo 
feines abfoluten Abftractionsvermögens bewußt. 

Dadurch wird es fich bewußt, daß es fich von allen Objec⸗ 
ten abfondern kann, daß alfo Fein Object zu feinem Wefen gehört 
als etwas davon Unabtrennbared; es wird ſich mithin feines ur⸗ 
fpränglichen und reinen Weſens bewußt: dad Ich in dieſer feiner 
unbebingten und reinen Subjectivität if die Vernunft, das 
Bervußtfein derfelben ift dad Selbftbewußtfein. Das abfolute 
Abftractiondvermögen ift daher die Quelle, aus welcher das 
Selbftbewußtfein entfpringt. Je mächtiger dieſes Vermögen ift, 
je weiter es um fich greift und das Ich von immer mehr Objec- 
ten frei macht, um fo mehr nähert fich bad empirifche Selbſtbe⸗ 
wußtfein dem reinen. Man kann diefe mit ber Macht des Ab⸗ 
firactiondvermögend zunehmende Freiheit bes Selbſtbewußtſeins 
verfolgen „vom Kinde, dad zum erftenmale feine Wiege verläßt, 
bis zum popularen Philofophen, der noch materielle Ideen- Bil: 
der annimmt und nad) dem Sige ber Seele fragt” und von bie: 
fem hinauf bis zur Wiſſenſchaftslehre **). 

*) Ebendaſelbſt. VIII. ©. 241—43, 

**) Ebenbajelbft, IX. ©. 243—45, . 





569 


VI. 
Summe und Schluß der theoretiſchen 
Wiſſenſchaftslehre. 

Iſt nun das Ich feiner völligen Freiheit von den Objecten 
fi) bewußt, fo ift ihm auch Mar, daß es durch nichts beftimmt 
werden kann als durch fich felbft, daß ed nur mit fich felbft in 
Wechſelwirkung fleht; daß alfo, wenn es durch ein Object be: 
ſtimmt wird, es ſich dazu felbft beſtimmt oder „fich felbft geſetzt 
hat als beftimmt durch das Nicht-Ich“. Dieß aber war der 
Grundſatz der theoretifchen Wiſſenſchaftslehre. Diefer Grundſatz 
iſt jeßt für das Ich geworben: das Ich ift nicht bloß theoretifch, 
fondern weiß und erkennt fich ald ben Grund feines theoretifchen 
Verhaltend. Damit hat die theoretifche MWiffenfchaftölehre den 
ihr vorgegeichneten Lauf befchloffen und ihre Aufgabe gelöft. 

Der Gang war einfach und naturgemäß. Das Ich mußte 
thätig fein, es mußte auf feine Thätigkeit reflectiren und da⸗ 
durch eine neue Thatigkeit hervorbringen, auf bie es wieder re: 
flectiren mußte. Jede diefer Reflerionen war eine Erhebung. 
Es veflectirt feine urfprüngliche Thätigkeit und findet ſich felbft 
als begrenzt; es veflectirt auf feine Empfindung und erhebt fich 
zur Anſchauung, es veflectirt auf feine Anfchauung und bildet, 
was es anfchaut (reproductive Einbildung); es veflectirt auf feine 
Einbildung und verfteht, was es bildet (Verſtand); es reflectirt 
auf ſeine Vorſtellungen und urtheilt, was es vorſtellt; endlich 
es reſlectirt auf fein Urtheilsvermögen und erfaßt ſich als die 
Nacht, von allen Objecten abſtrahiren zu können: als reine Sub⸗ 
jettivitat, als das Ich, dad nur durch ſich ſelbſt beſtimmt wird. 


Siebentes Kapitel. 


Grundlegung der praktiſchen Wiſſenſchaftslehre. 
Das praktifhe Grundvermögen. Verhältniß des 
theoretifchen und praktifchen Ic. 


L 
Das Streben. 


1. Das neue Problem. Die Begründung bes 
tHeoretifhen Id. | 

Die theoretifche Wiffenfchaftslehre hat gezeigt, wie fich dad | 
Ich als vorftellendes Weſen (Intelligenz) entwidelt und in not: | 
wendigem Fortſchritte bis zu der Einſicht erhebt, welche ber 
Grundſatz ber theoretifchen Wiffenfchaftölehre ausfpricht. Es er: 
kennt fi) ald das unabhängige Ih, das nur mit ſich felbft in 
Wechſelwirkung fteht und nur durch ſich felbft beftimmt wird. 
Wenn ſich dieſes Ich noch zu einem Nicht Ich verhält, fo Fann 
es ſich dazu nur beſtimmend verhalten: es Tann fich nur fegen 
als beftimmend das Nicht: Ich. Hier ift der Uebergang zu dem 
Grundſatz der praftifchen Wiffenfchaftölehre. So wie die theore: 
tifche Wiſſenſchaftslehre ihre Aufgabe gelöft hat, eröffnet ſich die 
der praftifchen *). 

*) Grundlage der gef. Wiſſenſchaſtslehte. III Theil. Grundl. ber 
Wiſſenſchaſt des Praltiſchen. $. 5. II Lehrſat. S. 246247. 


571 


Nun aber ift in der theoretifchen Wiſſenſchaftslehre felbft ein 
Problem zurüdgeblieben, das in ihrem Gebiete nicht aufgelöft 
werden Eonnte, und deffen Löſung wir von der tiefer gehenden 

Einſicht der praktiſchen Wiffenfchaftslehre erwarten. Dad theo- 
retifche Ich namlich beruht in feinem ganzen Umfange auf einer 
Voraudfegung, die als ſolche niemals Gegenftand für daB theos 
vetifche Ich werden, alfo niemals in deſſen Bewußtfein eintreten 
kann. Iened abfolute Abftractionsvermögen, welches dem Ich 
feine Unabhängigkeit von allen Objecten Har macht, ift bedingt 
durch Die Reflerion auf die Urtheilökraft, welche felbft durch den 
Verſtand bedingt ift, wie diefer durch bie Einbildung und An⸗ 
ſchauung, wie dieſe durch die Empfindung, welche letztere eben 
darin beſteht, daß ſich das Ich begrenzt findet. Für dad theore- 
tifche Ich ift diefe Grenze gegeben. Es ift für das theoretifche 
Ich volfommen unmöglich, diejenige Thätigfeit, welche Ans 
ſchauung und Empfindung erzeugt, ſich gegenftänblich zu machen 
oder in fein Bewußtſein zu erheben; es ift darum unmöglich, weil 
dem theoretifchen Ich dad Bewußtſein der eigenen Thätigkeit erft 
entfteht in der Refleriom auf die davon unterfchiebene und ihr ent⸗ 
gegengefegte Thätigkeit des Objects oder des (angefchauten) Nicht 
Ih. Für das theoretifche Ich iſt feine Begrenzung eine ur⸗ 
ſprüngliche (nicht Durch eigene Thätigkeit erzeugte) Thatfache, eine 
fefte, umauflösliche, undurchdringliche Worausfegung, eine in 
ihm durch das Nicht: Ich geſetzte Schranke, 


2. Der Anfof. 

Sehen wir dad Ich unter die Bedingung der Schranke, 
laſſen wir ihm ein begrenzendes Nicht Ich entgegengefekt fein, 
fo folgt von hier aus alles mit der Nothwendigkeit, welche die 
theoretifche Wiſſenſchaftslehre dargethan hat: fo ift dad Ich noth⸗ 


672 


wendig Intelligenz, fo folgt aus den Geſetzen der Sutelligenz 
nothwendig die Art und Weile, wie dad Rict:Ich aufgefaft und 

» vorgefellt wird. * Alle Beſtimmungen des Richt: Ich, ſoſern es 
Dbject des Ich ift, find durch die Intelligenz gegeben, aber das 
Richt: Ich ſelbſt iſt (für die Intelligenz) nicht durch diefelbe ge: 
geben. Was aber ift das Nicht⸗Ich nad) Abzug aller diefer Be 
ſtimmungen, die ſich aus ber Intelligenz erflären? Es if nur 
etwas das Ich Begrenzendes ober, genauer gefagt, etwas, wo⸗ 
durch das Ic, genöthigt wird, ſich zu begrenzen und feine Thä- 
tigkeit zu hemmen: es ift die Bedingung, unter weldyer jene 
Einfehränkung flattfindet. Meine Thätigkeit wird gehemmt, in 
dem fie einem Anftoß begegnet, ber fie zurüdtreibt. Das Richt: 
Ich ift diefer „Anfloß”, nichts anderes. Laſſet das Ich in ſei⸗ 
ner Thatigkeit einem Anfloß begegnen, und es wird nothwendig 
Intelligenz mit allem, was baraus folgt; es wird jenes theore 
tiſche Ich, deſſen Entwicllung und Umfang die theoretifche Wiſ⸗ 
ſenſchaftslehre ausgemeſſen hat. Aber woher diefer Anſtoß? Er 
iſt für das theoretifche Ich unerklärlih. Darum ift die Frage: 
woher der Anftoß? für das theoretifche Ich unauflöslih. Und 
doch ift fie nothwendig, denn fonft bleibt das theoretifche Ich ſelbſt 
feiner ganzen Vorausſetzung nach unbegreiflih*). 


3. Deduction bed Anſtoßes. 

Hier alfo ift dad nächfte aufzulöfende Problem: die Deduc⸗ 
tion jenes Anſtoßes. Er ift aus dem theoretifchen Ich nicht ab- 
zuleiten; er wird alfo (mern überhaupt) nur aus dem praktifchen 
Ich abgeleitet werden können. Sollte uns nun das praktiſche Ich 
wirklich jenen Anftoß erflären, fo würde es in der That den Er 
klarungsgrund des theoretifchen Ich ausmachen, und dann wäre 

*) Gbenbafelbft, IIE Zeil, 9. 5. J. S. 248 fiod. 


673 


bie praßtifche Bernunft, was fie unter bem Geſichtspunkt der Pris 
tifchen Ppitofophie fein fol, der bewieſene Grund der theoretifchen. 

Wir machen zuvörderſt die Aufgabe deutlich, indem wir fie 
in die Formel der Wiffenfchaftslehre bringen. Das Ich ald Ins 
teligenz ift von etwas außer fich abhängig; dad Ich ald ſolches 
(dad abfolute Ich) ift von nichts außer fich abhängig: alfo ift 
ein Widerftreit zwifchen dem abfoluten Ic und dem Ich als Ins 
telligenz. Diefer Widerſpruch ift zu löſen. 

4. Dad abfolute Jh und die Intelligenz. 

Das Ich ald Intelligenz kann nicht aufgehoben werben, ſon⸗ 
dern nur die Bedingung, welche das Ich ald Intelligenz von et⸗ 
was Anderem abhängig macht. Die Intelligenz ift die alleinige 
Urfache ihrer fo beftimmten Vorſtellungen; daß es aber überhaupt 
Intelligenz und Vorftellungen giebt, ift bewirkt durch einen An- 
ftoß, der von etwas außer dem Ich, von einem Nicht: Ich aus: 
geht. In diefer Rücficht ift das Nicht» Ich die Urfache der In: 
telligenz und der Vorftelungen überhaupt. Hier ift der Punkt, 
der den Widerfpruc ausmacht, denn in diefer Bedeutung des 
Nicht Ich liegt jene Abhängigkeit der Intelligenz, welche dem 
abfoluten Ich wiberftreitet. Könnte nun dad abfolute Ich felbft 
die Urfache des Nicht-Ich fein (fofern dieſes die Urfache der Vor: 
ftelungen überhaupt ift), fo würde es dadurch mittelbar die Ur 
fache der Intelligenz fein; das Ich ald Intelligenz wäre von 
nichts abhängig als von dem Ich felbft, und damit wäre jener 
Widerſtreit gelöft*). 

5. Daß feßende und entgegenfegende Id. 

Wie aber kann das abfolute Ich Urfache des Nicht⸗Ich fein? 
Diefes ift dem Ich entgegengefeßt. Wenn dad Ich überhaupt ent» 

*) Ebenbafelbft, IIL 9. 6. J. 6, 251, 


574 


gegenfeht, fo Bann bad Probuct dieſer feiner Thätigkeit nur 

ein ihm Entgegengefegtes fein d. h. Nicht-Ich. Das entgegen: 

ſetende Ich ift offenbar die Urſache des Nicht: Ih, mithin faßt 

ſich die Frage in die Zormel: wie kann dad abfolute Ich entge- 
genſetzen ? 

Das Ich ſetzt ſich ſelbſt; darin beſteht feine Thatigkeit, fein 
Weſen. Wenn es außer dieſer abſoluten Thätigkeit im Ich noch 
eine andere giebt, ſo kann dieſe nur beſtehen im Entgegenſetzen 
oder im Setzen des Nicht: Ich. Die Frage heißt alſo: giebt es 
außer der abfoluten Thätigkeit des Ich noch eine andere? Jede 
andere Thätigfeit muß eine der abfoluten entgegengefegte, alfo 
eine Einfchräntung derfelben fein. Das Ich fchränkt fi ein — 
es fest entgegen — es ſetzt ein Nicht: Ich*). 


6. Reine und objective Thätigkeit. 

Dad Ich muß daher zwei einander entgegengefehte Thätig- 
keiten in ſich fegen, ed muß der Grund beider fein, um Urfache 
des Nicht Ich fein zu können. Wie aber kann dad Ich eine 
folche Einheit entgegengefegter Beftimmungen fein, ohne Durch 
diefen Widerfpruch fi felbft aufzuheben? 

Die eine der beiden Tätigkeiten ift ſetzend, bie andere ent⸗ 
gegenfegend; jene ift unendlich und unbefchränkt, diefe ift endlich 
und beſchränkt. Die unendliche Thätigkeit bezieht ſich allein auf 
dad Ich ſelbſt, fie iſt in fich zurficigehende, durch nichts gehemmte, 
reine Thätigfeit, die endliche dagegen ift entgegengeſetzt, alfo iſt 
auch ihr etwas entgegengefegt, fie hat einen Widerfland, der fie 
einfchränft, einen Gegenſtand (im genauen Sinne bed Worts), 
auf den fie fich bezieht, fie ift infofern objectiv. Die beiden ents 
gegengefehten Xhätigkeiten verhalten ſich demnach ald unendliche 
>) Ghenbafelift, IIL 9.5. L 6, 258. 





575 


und endliche, in fi zurücdgehende und von außen befchränkte, 
reine und objective Thätigkeit. Die Frage heißt: wie 
fönnen reine und objective Thätigkeit im Ich eine und biefelbe 
fein *)? 


7. Das unendlide Streben. 
(Das abfolute und theoretiſche IA.) 

Wenn e8 eine Thätigkeit giebt, im welcher unendliche und 
endliche, reine und objective Thätigkeit wirklich eines find, fo 
würde darin dad abfolute und intelligente Ich vereinigt und 
der Widerſpruch beider gelöft fein. Die unendliche Thätigkeit iſt 
unbefchränft, die endlicye ift beſchraͤnkt; fol die Thaͤtigkeit beides 
zugleich fein, fo muß fle über die Schranke und zwar über jede 
hinausgehen; fie wird gehemmt, aber ſtellt ſich aus jeder Hem⸗ 
mung wieder her, die Unendlichkeit ift nicht ihr Zuſtand, fon- 
dern ihr Biel, d. h. fie firebt ind Unendliche, fie ift unendliches 
Streben oder firebt unendlich zu fein”). 

Sobald das abfolute Ic, gleichgefegt wird dem abfoluten 
Streben, haben wir die Löfung der Aufgabe. Es giebt Fein 
Streben ohne Hemmung, ohne Ueberwinbung eined Widerſtan⸗ 
des, ohne daß ihm etwas wiberftrebt: alfo fein Streben ohne 
Widerſtreben, ohne Widerſtand, ohne Gegenftand, ohne Schranke. 
Ohne Streben kein Object (kein Nicht Ich), ohme Object Fein 
Ich als Intelligenz, Fein theoretifches Ich. Das abfolute Ich 
macht das Streben nothwendig, dieſes den Widerſtand (Gegen: 
fland), diefer den Anftoß und damit die Intelligenz. Daher gilt 
der Sag: ohne abfolutes Ich Fein abſolutes Streben, ohne die ⸗ 
ſes kein Object, kein theoretifches Ich; kurzgeſagt: ohne abfolu= 

*) Ebendaſelbſt. III. 8.5. IL ©. 254—257. 

Ebendaſelbſt. TIL. $. 5. UI. S. 258—261, Bel, ©. 266, 


576 | 
| 
166 34 kein theserfiihes. Se ih des ahininte Ich die Bebingung 
ber Mögiisteit des tbesmetiihen. Ser in ber Bereinigungd- 
yusıtt beider, um bem es fi handelt“). | 


IL 
Das praftiihe Id. 


41. Dei Id als Grund dei Etrebeni. | 
(Eentripetale und centrimmgaie Ribunmg.) 

Wenn das Ic) ins Unendliche firebt und in biefem unenb- 
lichen Streben fein Weſen beſteht, fo iſt der Anſtoß bebucirt, der 
Die Bedingung bes theoretiſchen Ich ausmacht. Alſo haben wir 
noch, damit Feine ice bleibe, aus dem Ich felbft dad Streben 
zu deduciren. Wo ift im Ic der Grund des Strebend? 

Das Streben fordert ein Widerfireben, alfo entgegengeſetzte 
oder verſchiedene Thatigkeiten. Wo iſt in dem reinen ſich ſelbſt 
gleichen Ich der Grund einer ſolchen Verſchiedenheit, eines ſol⸗ 
hen Zwieſpaltes? Was dem Ich widerſtrebt, iſt ihm fremdar⸗ 
tig; was im Ich iſt, kann nicht anders ſein als ihm gleichartig. 
Wo iſt in dem reinen Ich etwas, das ihm zugleich fremdartig 
und gleichartig ware? Die Thatigkeit eines anderen Weſens 
kann es nicht ſein, denn das Ich iſt abſolut, es iſt — Alles. 
Mithin kann es nur feine eigene Thatigkeit fein, und jenes Fremd⸗ 
artige kann fich daher nicht auf die Art ber Tätigkeit, fondern 
nur auf deren Richtung beziehen **). ° 

Iene Verſchiedenheit in dem reinen Ich, welche das Stre 
ben bebingt, kann nur eine Werfchiebenheit ober ein Gegenfas in 
dem richtungen feiner Thatigkeit fein; hier aber giebt es keinen 

“) Gbenbafelöft, III. 8,5. II. ©. 261— 262, 

“) Gbenbafelbft, III. 9.5. IL. 6.271272, 


577 


anderen Gegenfa& als die Richtung nad) außen und die nad) in 
nen. Wie folgt ein ſolcher Gegenſatz aus dem Ich felbft? 

Das reine Ich ift reine Thatigkeit, in welcher nichts Ande- 
res geſetzt wird als das Ich felbft; die Thätigkeit des Ich bezieht 
ſich nur auf das Ich, fie ift unendliche, in ſich zurüdigehende 
Tätigkeit: Fichte harakterifirt dieſe Thätigkeit durch den Aus⸗ 
druck „centripetal”. Wie aber kann dad Ich vermöge feiner 
Thatigkeit in fich zurüdgehen, wenn es nicht aus fich heraus: 
geht? Die centripetale Thätigkeit hat in fich felbft die Voraus⸗ 
ſetzung der centrifugalen. Sol die Thatigkeit des Ich die Rich 
tung nach innen nehmen, fo muß fie die Richtung nach außen 
haben, denn jene ift ja nur die Umwendung biefer: die Thätigfeit 
des Ich könnte nicht centripetal fein, wenn fie nicht „centrifu⸗ 
galt" wäre”). R 

Diefer Gegenſatz in den Richtungen feiner Thätigfeit folgt 
einleuchtend aus dem Ich felbft, fo einleuchtend, daß wir dad 
Ich in feinem Wefen aufheben würden, wenn wir eine jener bei- 
den Richtungen feiner Thätigkeit verneinen wollten, Was dad 
Ich iſt, iſt es für ſich. Es ift, was es thut. Es ift, was es 
iſt, für ſich, indem es (nicht bloß thätig iſt, ſondern) auf feine 
Thatigkeit reflectirt. Dieſe Reflexion iſt ſein Geſetz. Erſt durch 
fie wird die Thätigkeit des Ih = Ih. Die Reflerion iſt nach 
innen gerichtete Thatigkeit; fie giebt der Thätigkeit die Richtung 
nad) innen, fie ift zurückgetriebene, begrenzte Thätigkeit. Die 
Xhätigkeit, welche reflectirt wird ober auf welche die Reflerion 
geſchieht, ift alfo nothwendig nach außen gerichtete, centrifugale, 
unbegrenzte Thatigkeit. 

Alſo muß auf die umenbliche Thätigkeit des Ich durch die 
Reflerion ein Anftoß gefchehen, fie muß gehemmt, fie darf durch 


*) Chenbajelbft, ILL. $. 5. IL. 6 278-274. 
Bilder, Selhihte der Phllofophie. V. 37 


578 


dieſe Hemmung nicht vernichtet werben, fie maß alfo über bie 
Schranke hinausgehen, über jede Schranke, d. h. fie muß ins 
Unendlihe fireben. Within liegt der Grund des Strebens in 
der Reflerion, und deren Bedingung in der unendlichen Tpätig- 
feit, welche fein Ich wäre, wenn fie nicht reflertirt, zurüdge: 
trieben, gehemmt würbe*). 


2. Die Jdee des abfoluten Id. 

Des Ich ift nur für ſich oder, was daſſelbe heißt, es ift 
nur Ic vermöge ber Reflerion. Die Tendenz zur Reflerion ift 
eines mit feinem Weſen. Diefe Tendenz zu befriedigen, muß 
das Ich aus fi herauögehen und damit aufhören, nur in fich zu 
fein; es muß auf diefe feine (nach außen gerichtete) Thätigkeit 
teflectiren und fie dadurch begrenzen, es muß über diefe feine 
Schranke hinauögehen und zwar ind Unendliche. Alſo ift Die Un- 
endlichkeit nicht fein Zuftand, fondern fein Ziel, feine Aufgabe, 
fein Streben. Es ift nicht, fondern fol! unendlich fein. Wir 
haben demnach dad Ich, für welches das abfolute Ich nicht Zu: 
fland ift, auch nicht Gegenftand, fondern Idee, nicht ein 
Seiendes, fondern ein fein Sollendes: dad Ich, welches feine Un⸗ 
endlichteit nicht genießt, fondern erftrebt, nicht hat, fondern zum 
Bwedt hat. 

Das abfolute Ich ift abfolut; das Ich mit der Idee des ab: 
foluten Ich ift nicht unendlich, fondern ſoll es fein. Diefes Ich 
ift daher von dem abfoluten zu unterſcheiden. Die Idee ift ein 
unendliche Object, alfo Bein endliches, wirkliches, reales, Das 
Ich mit dem realen Object ift theoretifch, das Ich mit dem un: 
endlichen oder idealen Object ift daher von dem theoretifchen wohl 
zu unterfcheiben: es iſt weder abſolutes noch theoretifches Ich, es 
y Ghenbafelöft, III. 6. IL. &. 274—276, 





579 


ift das ind Unendliche firebende, darum nad) außen thätige, 
praftifche Ich. 
3. Bereinigung bes abfoluten, praftifhen und 
theoretifhen Ic. 

Für das Ich ift die UnendlichFeit Zweck, Aufgabe, Streben, 
Wille. Abfolut fein heißt hier abfolut fein wollen d. h. praktiſch 
fein. Das Ich kann nur abfolut fein, indem ed praktiſch ift 
(d. h. ind Unendliche ftrebt oder das abfolute Ich zum Biel hat); 
& kann nur praftifch fein (ftreben), wenn es auf einen Wider 
fand ſtößt, auf einen Gegenftand, auf eine Schranke, die ed 
zu überwinden hat, und welche felbft in dem Ich die theoretis 
ſche Thätigkeit notwendig bedingt. Alfo Fein abfolutes Ich, 
fein praftifches. Was das Ich praktiſch macht, ift die Idee 
des abfoluten Ich. Kein praftifches Ich, Fein theoretifches. 
Was das Ich theoretifch macht, iſt der Anftoß, der Wiberftand 
(Gegenftand), den das praftifche fordert: hier ift der Vereinigungs- 
punkt zroifchen dem abfoluten, praktiſchen und intelligenten We: 
fen des Ich*). 

4. Die reale und ibeale Reihe. 

Kein praktifches Ich, Fein theoretifches und umgekehrt, 
Gicht es Fein theoretifches Ich, Fein Object für dad Ich, fo giebt 
es auch feinen Anftoß, keinen Widerftand für fein Streben, alfo 
kein Streben ind Unenbliche, Fein Handeln, Fein praktifches Ich. 
Das praktifche und theoretifche Ich verhalten fich, wie Zweck und 
Mittel; das theoretifche ift das Mittel des praktiſchen: um prak⸗ 
tiſch fein zu Eönnen, muß das Ich theoretifch fein. 

Das Ich muß auf fich felbft reflectiven. Es felbft ift Tha⸗ 
tigkeit, unendliche Thatigkeit, (vermöge der Reflerion) unend- 

*) Ebendaſelbſt. III. $. 5. IL 6.277. 

37* 


580 


liches Streben, weldyes bie Schranke einfchließt. Das Ich re: 
flectirt auf feine Schranke: fo ift e8 theoretiſch; es veflectirt auf 
feine Unendlichkeit, es macht diefe zu feinem Biel ober das abfo- 
lute Ich zu feiner Idee: fo iſt es praktiſch. Dort entſteht die 
Reihe des Wirklichen (deffen, was ift), bier die Reihe des 
Idealen (deffen was fein foll)*). 


5. Charakteriſtik der Wiſſenſchaftslehre. 
Gdealismus, Realismus, praktiſcher Idealismus, abſoluter Idealismus.) 


‚Hier konnen wir deutlich ſehen, wie mit dem Fortſchritt ih⸗ 
rer Probleme und deren immer tiefer dringenden Löſung auch der 
Charakter der Wiſſenſchaftslehre ſich immer beſtimmter ausprägt 
und die Namen rechtfertigt, die Fichte zur Bezeichnung feiner 
Lehre gebraucht hat. Die erfte Frage hieß: woher unfere noth: 
wendigen Worftelungen? Die Antwort der Wiſſenſchaftslehre 
war: fie folgen allein aus ber Intelligenz, deren nothwendige 
Handlungen fie find. Im diefer Rüdficht ift und nennt fi die 
Wiſſenſchaftslehre „Idealismus“. Aber woher die Intelligenz? 
So lautet die zweite Frage. Sie ift bedingt durch etwas außer 
ihre, fie hat eine Vorausfegung, die ſich aus dem theoretifchen 
Ich nicht erflärt; ift die Intelligenz Idealgrund, fo ift jenes et⸗ 
was außer ihr Realgrund: die Begründung der Intelligenz aus 
einem Realgrunde Nicht Ich) ift „Realismus“, und ald ſolchen 
harakterifirt ſich hier die Wiſſenſchaftslehre. Woher aber jener 
NRealgrund, jened die Intelligenz bedingende Nicht-Ich? So 
lautet die dritte Frage. Offenbar kann e8 nur geſetzt fein durch 
das Ich felbft. Wenn alfo das Nicht: Ich in Rückſicht auf die 
Intelligenz als Realgrund gilt, fo ift dad Ich (nicht theore- 
tifche Ich) in Rüdficht auf das Nicht-Ich deffen Idealgrund : 

*) Ebendaſelbſt. S. 277. 


581 


fo erfcheint die Wiffenfchaftölehre als Realismus oder Idealismus, 
je nachdem man dad Nicht: Ic, betrachtet; fie ift beides zugleich, 
fie ift und nennt ſich deßhalb „Real-Jdealismus oder Ideal⸗Rea⸗ 
lismus. Aber welches Ich ift der Grund des Nicht⸗Ich? Nicht 
das theoretifche Ich, fondern das ind Unenbliche ftrebenbe d. h. 
praftifche Ich: hier haben wir den „praftifchen Idealismus“, 
als welchen die Wiſſenſchaftslehre ſich bezeichnet. Endlich bie 
legte Frage, Woburch ift das Ich praktiſch? Was fest das 
Ich in die Thätigkeit des unendlichen Strebend? Die Idee des 
abfoluten Ich! So wird die Wiſſenſchaftslehre in der Erflä- 
rung und Begründung bed praktifchen Ich „abfoluter Idealis- 
mus”. Sie ift Idealismus, indem fie unfere nothwendigen 
Vorſtellungen durch die Intelligenz begründet; fie ift Realismus, 
indem fie die Intelligenz felbft durch das Nicht: Ich begründet; 
fie ift praftifcher Idealismus, indem fie dad Nicht: Ich aus dem 
praftifchen Ich begründet; fie ift endlich abfoluter Idealismus, 
indem fie das praktifche Ich aus dem abſoluten begründet. 


6. Der titanifhe Charakter des fihte’fhen Id. 

Thatigkeit des Ich und Streben find iventifh. So wenig 
bie Thätigkeit des Ich aufgehoben werben kann, fo wenig dad 
‚Streben. Würde dad Ziel des Strebens erreicht, fo würde in 
diefem Punkte dad Streben aufhören, fo wäre die Thätigkeit voll⸗ 
endet, fo wäre feine Thätigkeit, alfo Fein Ich mehr. Dad 
Streben ift darum nothwendig unendlich, unaufhörlich; alfo 
bleibt auch das Wiberfireben, der Gegenftand, das theoretifche 
Ich. So wenig das Ich je aufhören Tann praktifch zu fein, fo 
wenig kann ed je aufhören theoretifch zu fein. Man hat bad 
fichte ſche Ich titaniſch,⸗fauſtiſch genannt; der Ausdruck darf 
gelten, wenn man dabei an dad Ic) denkt, das ind Unenbliche 


582 


firebt und diefes unendliche Streben ſich zum Geſetze macht. Das 
ift der ausgefprochene Grundzug des göthe’fchen Fauſt: „Werd' 
ich beruhigt je mich auf ein Zaulbett legen, fo fei es gleih um 
mich gethan l 


7. Streben und Einbildung. 

Die Grundform bes theoretifchen Ich ift die Einbildung, die 
Grundform des praftifchen iſt bad Streben. Kein Streben ohne 
Gegenftand; Fein Gegenftand für und ohne Einbildung. Kein 
Streben ohne Ziel jenfeitd der Schranke, jenfeits des Gegenftan- 
ded, jenſeits der Anfchauung; feine Vorſtellung dieſes Zieled ohne 
die ſchaffende, über die Anfchauung hinausgehende Einbildungs- 
kraft. „Won diefem Vermögen,” fagt Fichte, „hängt es ab, ob 
man mit ober ohne Geift philofophirt. Die Wiſſenſchaftslehre 
ift von der Art, daß fie durch den bloßen Buchflaben gar nicht, 
fondern daß fie lediglich durch den Geift fich mittheilen Täßtz weil 
ihre Grunbideen in jedem, ber fie fiubirt, durch die ſchaffende 
Einbildungsfraft felbit hervorgebracht werden müffen, Einbil: 
dungskraft aber nicht anders ald durch Einbilbungskraft aufge 
faßt werden kannꝰ).“ 


I. 
Das Syſtem der Triebe, 


41. Streben, Widerfireben, Gleichgewicht. 

Wir haben jegt die Grundform bed praktifchen Ich näher 
zu beflimmen. Iſt dad Ich gleich dem unendlihen Streben, fo 
ift auch das unendliche Streben gleich Ich; kann bad Ich nicht 
aufhören zu ftreben, fo kann auch dad Streben nicht aufhören, 
ein Ich zu fein. Was das Ich ift, iſt es für ſich; es muß ſich 

=) Ebenbajelbft. II. $. 5. IL. ©. 284. 


583 
ſetzen, ald bad, was es ift: dieſer Grundſatz aller Wiffenfchafts- 
lehre ift anzuwenden auf das unendliche Streben. 

Kein Streben ohne Gegenftreben; fein Widerftand, Fein 
Streben. Geben wir, daß ber Widerftand das Streben aufhebt, 
fo wäre fein Streben mehr; feßen wir, daß umgekehrt dad Stre: 
ben den Widerſtand aufhebt, fo wäre auch Fein Streben mehr. 
Das Streben foll fein. Alfo dürfen Streben. und Gegenftreben 
einander gegenfeitig nicht aufheben, fondern müffen ſich das 
Gleichgewicht halten: „im Streben des Ich wird zugleich ein Ge 
genftreben des Nicht: Ich geſetzt, welches dem erfteren dad Gleich 
gewicht halte*)." 


2. Das Streben ald Trieb. Dad Ich ala Gefühl 
des Triebe. 
Eraftgefühl.) 

Das Ich findet demnach fein Streben begrenzt oder, ge: 
nauer gefagt, es findet ſich in feinem Streben begrenzt. Darin 
liegt zweierlei: es findet fich 1) als flrebend und 2) ald begrenzt. 
Streben und Widerſtreben halten einander dad Gleichgewicht, fie 
hemmen ſich gegenfeitig, aber Feines von beiden ift die Wirkung 
des anderen. Das Streben ift nicht von außen, fonbern bioß 
durch das Ich felbft geſetzt, es wirkt nicht nach außen, ſondern 
nad) inmen, eö ift fomohl in feinem Urfprung als in feiner Wir⸗ 
kungsart durchaus fubjectio: dieſes fubjertive Streben nennen 
wir Trieb. Das Ich findet fich begrenzt d. h. es fühlt, es 
fühlt feine Grenze, es ftößt auf einen Widerſtand, der ſich in 
ihm ald Gefühl des Zwanges ober bed Nichtkönnend äußert *). 

Das Ic) findet fein Streben begrenzt, d. h. es ift fowohl 


*) Ebendaſelbſt. III. 8. 6. Dritter Lehrſat. ©. 285 fig. 
**) Ghenbafelbft. III. $. 7, Vierter Lehrjag. S. 287—289. 





684 


Trieb ald Gefühl, es ift beides zugleich: es fühlt fi als Trieb 
ober es fühlt fich getrieben. Trieb ift Streben aus eigenem Ber- 
mögen, aus eigener innerer Kraft, Gefühl bes Triebes ift Kraft- 
gefühl: dieſes Kraftgefühl ift das Princip alles Lebens (noch nicht 
des Bewußtſeins), e8 macht die Grenzſcheide zwifchen Leben und 
Nicht Leben*). 


3. Der Trieb als Refleriondtrieb. 
(Borftellungstrieb. Fichte und Schopenhauer.) 

Der Trieb entfpringt nur aus dem Ich umb bezieht fich zu⸗ 
nächft auch nur auf diefeß: es ift der Trieb zum Ich. Nun ift 
das Weſen des Ich, daß e& für fich ift, und es kann nur für fich 
fein, indem es (auf fich) veflectirt. Der Trieb des Ich, der 
nichts anderes fein kann als der Trieb zum Ich, iſt darum noth⸗ 
wendig Refleriondtrieb. Aber die Reflerion fordert Begrenzung 
und biefe fordert ein Begrenzenbed. Was das Jch begrenzt, ift 
(für daffelbe) Object. Die Reflerion braucht ein Object, ber 
Reflerionötrieb ift daher nothwendig Trieb nach einem Object; nun 
Tann ein folches für das Ich nur gefegt werben durch die ibenle 
Thatigkeit des Vorſtellens: der Trieb nach einem Object ifl da: 
ber nothwendig Vorftellungötrieb**). 

Das Ich ift Streben, es ift ald Streben Trieb und zwar 
nothwendig Vorſtellungstrieb: dieſer Trieb ift ed, der bad Ich 
zur Intelligenz macht. Wie der Trieb oder das Kraftgefühl die 
Grenze bezeichnet zwifchen Leben und Nichtleben, fo bezeichnet 
der Vorftellungstrieb die Grenze zwifchen Intelligenz und Nicht: 
Intelligenz. Die Intelligenz ift bedingt durch den Trieb, bad 

*) Ghenbafelbft. IIL, $. 8. Zünfter Lehrſat. I.a. S. 292. III. 
S. 296. V. S. 297. Bgl. 8.9. Sechſter Lehrſat. I. 1. ©. 298, 

**) Ebendaſelbſt. III. 8.8. S. 291 —294, 


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685 

Syſtem unferer Borftellungen ift abhängig von unferem Triebe 
(Willen). Es iſt der Trieb, der bie Intelligenz macht; es ift 
der Trieb, der fie fleigert; der Erhöhung bed Triebes folgt 
die Erhöhung der Einficht: hier haben wir die Unterordnung ber 
theoretifchen Gefege unter bie praktifchen, unter das eine prak⸗ 
tiſche Gefeg, und damit ein Syſtem, welches Einheit und Zu⸗ 
fammenhang in den ganzen Menfchen bringt. Diefes Syſtem 
zerftört von Grund aus den Determinismus und Fatalismus, 
ber unfer Wollen und Handeln abhängig macht von unferen Vor⸗ 
ſtellungen ). Wie der Verftand, fo der Wille: fagt Spinoza. 
Wie der Wille, fo ber Verfland; wie der Trieb, fo die Intelli⸗ 
genz: fagt Fichte, und nach ihm hat diefen Sat niemand nad 
drüdticher behauptet ald Schopenhauer, der es aber vorzieht, bie 
Wiffenfchaftstehre in Schatten zu flellen, um nicht felbft im 
Schatten der Wiſſenſchaftslehre zu ſtehen. 


4. Realität und Gefühl (Glaube). 
(Fichte und Jacobi.) 

Der Xrieb will Objecte Haben, er will vorftellen. Aber bie 
vorftellende (ideale) Thätigkeit überhaupt ift bedingt‘ durch die 
Begrenzung ber realen, d. h. dadurch, daß bie urfprüngliche Thäz 
tigkeit des Ich einen Anftoß erfährt, der von etwas außer ber 
Intelligenz (Richt Ich) ausgeht. Das Ich findet fich begrenzt, 
& fühlt ſich. Nur unter der Bedingung biefes Gefühls ift das 
Vorftellen überhaupt, alfo auch der Vorſtellungstrieb möglich: 
fein Gefühl, Feine Begrenzung, kein Widerfland, Fein Streben, 
fein Trieb, 

Wir nennen die Bedingung, unter welcher die Intelligenz 
edet die ibenle Thatigkeit des Ich überhaupt flattfindet, den Real: 

” Ehenbafelbft. III. 8. 8, II. ©, 294— 295. 


586 


grund deſſelben oder die Realität als ſolche: dieſe auf dad Ich 
bezogene Realität ift deſſen Begrenzung, bie auf bad Ich be: 
zogene Begrenzung oder die Begrenzung als Ich ift das Gefühl, 
das Ich findet fich begrenzt, d.h. es fühlt. Was es fühlt, iſt 
nur fein eigener Zuſtand, es fühlt fich ſelbſt, es ift zugleich füh: 
lend und gefühlt. Es fühlt ſich als begrenzt, ald gehemmt, 
als begrenzt durch etwas, das ihm Widerſtand entgegenfeht; 
fein Selbſtgefühl ift oder äußert fich Daher als Gefühl des Zwanges 
oder des Nichtlönnend. Das Ich, in dem es fühlt, veflectirt nicht 
auf fein Fühlen, es erfcheint ſich darum nicht al8 thätig, fondern 
bloß als leidend; das Gefühlte ift für das fühlende Ich nicht 
das Ich felbft, fondern das, wodurch ed begrenzt wird: bie 
Realität des Dinged. „Daher ſcheint die Realität des Dinge 
gefühlt zu werden, da doch nur das Ich gefühlt wird.” „Hier liegt 
der Grund aller Realität.” Realität (etwas außer der Vorſtellung) 
ift für das Ich nur möglich durch eine Thätigkeit, in welcher die Re 
flerion auf diefelbe ausgefchloffen ift und nothwendig außgefchloffen 
fein muß, d. h. durch eine Thätigkeit, deren ſich das Ich als ſolcher 
nicht bewußt ift noch bewußt werden kann. Diefe Thätigfeit iſt das 
Gefühl. Daher ift für das Ich nur auf Grund bed Gefühls 
Realität möglich; was wir aber nur im Gefühl erfaffen, bad 
wird nicht gewußt, fondern geglaubt: baher kann die Realität 
überhaupt nur geglaubt werden, ober, wie Fichte fi ausbrüdt: 
„an Realität überhaupt, fowohl die des Ich ald des Nicht-Ich, 
findet lediglich ein Glaube ftatt*).” Hier ift der Berührung: 
punkt zwifchen Fichte und Jacobi, 


5. Produetionstrieb. Bedürfniß. 
Das Ich iſt Trieb, Trieb zur Reflerion, zut Vorſtellung. Aber 
*) Ebendaſelbſt. IIL 8. 9. Sechſter Lehrſat. IL. 5. ©. 301. 





687 


die Vorſtellung überhaupt ift bedingt durch etwas Reales, das ihr 
zu Grunde liegt. Alfo ifl der Trieb nothwendig Trieb zur Realität, 
das ift der Trieb, etwas außer dem Ich hervorzubringen: Produc- 
tionstrieb. Der Trieb ift Streben, dad Streben ift Durch das Wider⸗ 
ftreben im Gleichgewicht gehalten, es kann das Widerftreben nicht 
fortfchaffen; es kann außer fich nichtö hervorbringen, es hat außer 
fi) Feine Eaufalität. Mithin ift der Productionstrieb ein Stre- 
ben ohne Wirkung, ein Wollen und Richtkönnen, ein Sehnen, 
das als Bedurfniß, als Ohnmacht, Mißbehagen, Leere gefühlt 
wird: das Ich fühlt einen Productionötrieb, d. h. ed fühlt ein 
Sehnen nach etwas Realem oder es fühlt fich bedürftig ). 

Das Gefühl des Sehnens und dad Gefühl des Zwanges find 
in dem Ich zugleich vorhanden; fie müffen vereinigt werben. 
Daß Gefühl des Sehnens (Probuctionstrieb) fordert bie Thatig⸗ 
feit nach außen, das Ich fol etwas außer ſich hervorbringen, es 
fol beftimmend fein; das Gefühl des Zwanges (Nichtlönnens) 
dagegen ſetzt dieſer Thatigkeit die unüberfleigliche Schranke. Wie 
ift die Vereinigung möglich? " 

6. Befimmungsdtrieb. 

Streben und Widerſtreben bleiben im Gleichgewicht, dieſes 
Gleichgewicht ift nicht aufzuheben, es iſt die nicht fortzufchaffende, 
gegebene Realität, der vorhandene, alle Thätigkeit und alled Stre: 
ben bedingende Stoff. Das Ich kann diefen Stoff weder her 
vorbringen noch vernichten; fein Probuctiondtrieb kann ſich daher 
nicht auf den Stoff als folchen, fondern nur auf eine Beſtimmung 
deffelben beziehen, auf eine Modification diefer Beftimmung: der 
Productionstrieb äußert fich daher nothwendig ald Beftimmungs- 
trieb), 

*) Ebendaſ. III. $. 10. Siebenter Lehrf. Nr. 14. 6.301— 308, 

**) Cbendaſ. II. $. 10, Nr. 16, 6. 307. 


688 


Wie muß diefer Trieb handeln? Wenn feine Handlungs: 
weife die Realität felbft, dad wirkliche Ding, beflimmen könnte, 
fo würde der Trieb Caufalität außer fi haben, er würbe dann 
nicht begrenzt, alfo nicht verbunden fein mit einem Gefühl des 
Zwanges, bed Nichtlönnend, des Sehnens; ed würde dann mit 
dem Gefühl des Zwanges bad Gefühl überhaupt und mit diefem 
bie Bedingung des Lebens, der Intelligenz, des geiſtigen Dafeins, 
alfo das Ich felbft aufgehoben fein*). 

So nothwendig das Ic) felbft ift, fo nothwendig ift der Be 
flimmungötrieb begrenzt. Seine Handlungsweiſe geht nicht auf 
dad Ding felbft, fondern auf dad Ich, fie befteht in der ibenlen 
Thatigkeit; was fie heroorbringt, find ideale Mobificationen 
d. h. Beflimmungen im Ich, welche notwendig geſetzt und nach 
dem uns befannten Gefege ebenfo nothwendig auf das Ding über 
tragen werben: es find fubjective Beftimmungen, bie ſich in ob: 
jective verwandeln. So äußert fi der Beflimmungdtrieb im 

Bilden und Nachbilden **). 


7. Trieb nah Wechſel. 

In biefer Handlungdweife bleibt der Beftimmungstrieb ver- 
möge feiner Schranke (Gefühl des Zwanges) an dad Object 
gebunden, er bleibt in feinen Handlungen durch bie Beſchaf⸗ 
fenheit der Dinge felbft befchränkt; fein Probuctionsbebürfniß 
bleibt unbefriedigt. Da er das Object felbft nicht hervorbringen 
Tann, fo will er das gegebene wenigſtens beftimmen und verän: 
dern; da er die wirklichen Befchaffenheiten der Dinge felbft nicht 
verändern kann, fo will er wenigftens ihre Borftellungen verän: 
dern, d. h. er will mit den Objecten wechfeln. Der Productions» 


*) Cbenbafelöft, III. $.10. Nr. 19. ©. 308. 
**) Ebendaſelbſt. TIL. $. 10, Nr, 21. 6,313, 


589 


trieb geht auf Realität, aber auf eine andere ald bie gegebene, 
auf eine der gegebenen entgegengefegte, auf eine nicht gegebene, 
fondern hervorzubringenbe: das ift fein urſprüngliches Streben. 
Nun iſt die Realität überhaupt für dad Ich nur möglich durch 
das Gefühl; der Trieb nach einem Wechſel der Objecte ift daher 
der Trieb nach einem Wechſel oder nach einer Veränderung ber 
Gefühle. Wie ſich der Productionstrieb als Beftimmungstrieb 
äußert, fo äußert fich diefer ald „Trieb nach Wechfel” *). 

Wie aber kann dad Ich einen Wechfel oder eine Werändes 
rung der Gefühle in fich feßen? Was dad Ich feht, gefchieht 
durch Reflerion; die Reflerion auf ein Gefühl giebt diefem bie 
Beftimmtheit, macht daraus ein beſtimmtes Gefühl, das Gefühl 
von etwas d. b. Empfindung. Wie aber fünnen verſchiedene 
oder entgegengefehte Gefühle in eine und diefelbe Reflerion geſetzt 
werden? Offenbar muß bieß gefchehen, wenn dad Ich die Ver: 
änderung feiner Gefühlözuftände in fich erfahren und jenen Trieb 
nad) Wechfel befriedigen fol. Jedes Gefühl ift eine Begrenzung 
des Ich und dieſes muß auf feine Begrenzung reflectiren. Wenn 
alfo ein Gefühl durch ein anderes beftimmt und begrenzt wird, 
fo muß das Ich auf beide reflectiren, weil es das eine nicht fegen 
kann ohne das andere**), 


8. Der Trieb nad Befriedigung. 

Nun giebt ed zwei Gefühle, die zufammengehören, weil fie 
einander entgegengefeßt find und nothwendig auf einander hin- 
weifen. In dem erflen Gefühl wird das zweite gefucht als beffen 
Erfühung, in diefem wird jenes vorauögefegt: biefe beiden Ge: 

*) Ebendaſelbſt. III. $. 10. N.31. ©, 321, 


) Cbendaſelbſt. III. $. 11. Achter Lehrfag. Nr. 1-4, 6, 322 
24, 


590 


fühle find Bedür fniß und Befriedigung. Kein Bedürfniß 
ohne Sehnen nach Befriebigung, Feine Befriebigung ohne voraus⸗ 
geſetztes Bebürfniß. In dem Gefühle ber Befriedigung ift noth⸗ 
wenbig bie Beziehung geſetzt auf das Gefühl, das ſich nach Be: 
friebigung fehnt, auf das Beblirfniß, welches felbft Gefühl der 
Nichtbefriedigung war. Das Gefühl der Befriedigung ift nur 
möglich durch einen Uebergang aus dem Zuftande des Bebikf: 
niffes in den der Erfüllung, alfo durch eine Beränderung im Zur 
ftande des Fühlenden, durch eine Gefühlöveränderung. Die 
Handlung, welche die Befriedigung hervorbringt, entfpricht dem 
Triebe nach Wechfel, dem Beftimmungstriebe, dem Productions: 
triebe: hier find Trieb und Handlung in wirklicher Webereinftim: 
mung, dad Gefühl diefer Uebereinftimmung ift daher nothwendig 
Zuftimmung oder Beifall. Das Gefühl der Befriebigung if 
von Beifall begleitet; dem Gefühle der Befriedigung entgegenge: 
ſetzt ift das der Nichtbefriebigung, das bloße Sehnen, in welchen 
Trieb und Handlung einander widerſtreiten, alfo eine Dishar⸗ 
monie beider flattfindet, deren Gefühl nothwendig von einem Mif- 
fallen begleitet wird. 


9. Der Trieb um bed Triebes willen. 
Der fittliche Trieb. 

Wonach das Ic) ſich fehnt, ift das Gefühl, das es mit 
feinem Beifall begleitet: das Gefühl der Befriedigung. Worin 
die Befriedigung befteht, ift die Harmonie zwifchen Trieb und 
Handlung: in diefer Harmonie ift dad Ich in Uebereinſtimmung 
mit fich felbft. Der Trieb ded Ich Bann ſich nur beziehen auf das 
Ich. Was er im Ich wirklich hervorbringen will, ift dieſe Har⸗ 
monie zroifchen Trieb und Handlung, die völige Harmonie beider. 
Was if dad für ein Trieb, der auf diefe Harmonie auögeht? 





591 


Trieb und "Handlung find dann wirklich eins, wenn bie 
Handlung, welche den Trieb befriebigt, nicht dieſes oder jenes Ges 
fühl, nicht dieſes oder jened Object, fondern nichts anderes ift ald 
der Trieb felbft: es ift der durch fich felbft befriebigte Trieb, das 
durch fich felbft befriedigte Streben, „ein Trieb um des Triebes 
willen”, ein Streben, das nicht diefes oder jenes haben will, 
fondern feine Befriedigung bloß in ſich felbft d. h. nicht im Er: 
folg, fondern allein im Streben findet. Das ift der abfolute 
Trieb, der Fein anderer fein Bann als der fittliche, als das praf- 
tiſche Ich ſelbſt. 

„So find die Handlungsweiſen des Ich durchlaufen und er⸗ 
ſchöpft, und das verbürgt die Vollſtändigkeit unferer Deduction 
der Haupttriebe des Ich, weil ed dad Syſtem der Triebe abrun- 
det und befchließt. Das Harmonirende, gegenfeitig durch ſich 
ſelbſt beftimmte, ſoll fein Trieb und Handlung. Ein Trieb von 
der Art wäre ein Trieb, der fic) abfolut felbft hervorbrächte, ein 
abfoluter Trieb, ein Trieb um bed Triebes willen. Drüdt man 
es ald Geſetz aus, fo ift ein Geſetz um des Geſetzes willen ein abs 
ſolutes Gefeg oder der Bategorifche Imperativ: Du ſollſt ſchlecht⸗ 
hin! Eine Handlung ift beftimmt und beftimmend zugleich, heißt: 
& wird gehandelt, weil gehandelt wird und um zu handeln, ober 
mit abfoluter Selbftbeftimmung und Freiheit *).” 

Das theoretifche Ich bildet ein Syſtem nothwenbiger Vor: 
felungen, das praktifche Ich bildet ein Syſtem nothiendiger 
Triebe, Beide Syſteme befchreiben einen Kreislauf, deſſen An: 
fangs⸗ und Endpunkt dad Ich ifl. Das Ich mußte gleichgefegt 
werben dem unendlichen Streben; bad Streben mußte gleich: 
gefeht werden dem Ich. Wir faffen den ganzen Entwidlungs: 
gang in folgendes Schema: 

*) Chenbajelbft, IIL. $. 11. Nr. 12—18, 6. 326—27, 


592 
Ich ⸗ Streben 
True⸗ 

Reflerionstricb — Borfellungstricb 

ri nad) Re 


Probuctiondtrieb 
(Sehnen) 


Beſtimmungstrieb — Trieb nach Wechſel 
m Tr 
Trieb nach Befriedigung 


— A —_ 
Trieb nach Harmonie zwifchen 
Trieb und Handlung 
— — 
Abfoluter Trieb 
(Trieb um des Triebes willen) 
(Streben um des Strebens willen) 
— — 
Sittlicher Trieb 
u 
Praktiſches Ich. 
Hier hat auch die Grunblegung ber praktifchen und damit 
die der gefammten Wiffenfchaftälehre ihren Kreislauf vollendet. 











Achtes Capitel. 
Princip und Grundlegung der Kechtslehre). 


L 
Die Deduction bed Rechts. 
1. Aufgabe 


Die erfte Aufgabe der philofophifchen Rechtslehre ift die Ab⸗ 
leitung des Rechtsgrundſatzes. Das Recht überhaupt ift fein will: 
Fürliches Machwerk, fondern etwas in der menfchlichen Natur 
nothwendig Gegründetes, die philofophifche Rechtslehre baher 
nicht „Formularphilofophie”, fondern eine reelle philofophifche 
Wiflenfchaft, die das Recht nicht als eine willkürliche Formel, 
fondern als eine nothwendige Setzung betrachtet. In biefem 
Punkte will Fichte von vornherein feine Nechtötheorie von den 
geröhnlichen Lehren des Naturrechts unterſchieden haben, bie das 
Recht von der Moral abhängig machen und ein Gebiet dafür in 
Anfpruch nehmen, welches das Sittengeſetz frei läßt, nämlich 
alle Handlungen, bie jenes nicht gebietet, nicht verbietet, fon- 
dern erlaubt; fie leiten aus dem Sittengefeß ein Erlaubnißgefes 
ber und beflimmen biefen (von dem Sittengefeß leer gelaffenen) _ 
der Willkur preisgegebenen Spielraum ald daS Gebiet bes Rechts. 


*) Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wiſſenſchafts- 
Ichte (1796). Sämmtl. Werke, II Abth. A. Zur Rechts- u, Sitten⸗ 
lehte, I Band, 

dilfaer, Geſchicte der Philoſophie V. 88 


694 


So wird dad Recht zu etwas willkürlich Gemachtem, zu etwas 
bloß Zormellem*). 

Iſt das Recht eine nothwendige Handlung (Setzung), fo ift 
es gefordert durch dad Selbftbewußtfein, fo gehört es zum Ich, 
und ed muß gezeigt werben Lönnen, baß ohne daffelbe das Ich 
felbft nicht möglich wäre. Es muß und einleuchten ald eine Be: 
dingung der Möglichkeit des Selbftberußtfeind: dieſe Nachwei⸗ 
fung ift die Deduction des Rechts, biefe Deduction iſt die erſte 
Aufgabe der Rechtölehre (ald einer „reellen philofophifchen Wiſ⸗ 
ſenſchaft) unter dem Gefichtöpunft der Wiſſenſchaftslehre. 

Hier Inüpfen wir unfere Entwidiung unmittelbar an ben 
Punkt an, bis zu welchem wir dad Syſtem geführt hatten. Das 
urfprüngliche Selbftvewußtfein ift dad praktifche Ich; das prak⸗ 
tiſche (ſtrebende) Ich oder der Wille ift, wie fi) Fichte ausdrückt, 
„die innigfte Wurzel des Ich”, unfer Wollen ift dad, was wir 
allein unmittelbar wahrnehmen. Wenn fi nun zeigen ließe, 
bag zum praftifchen Ich eine Handlung nothwendig (ald Bedin⸗ 
gung berfelben) gehört, welche den Rechtögrundfag enthält, fo 
wäre dieſer bebucirt. Dann wäre weiter zu zeigen, daß er an⸗ 
wenbbar ift und welche Anwendung er forbert. 


2. Die freie Wirkſamkeit des Id. 

Das praktifche Ich fegt fich ald beftimmend das Nicht- Ich. 
Die das Nicht: Ich beſtimmende Thätigkeit ift der Thätigkeit des 
Nicht: Ich entgegengefegt, alfo ift dieſe auch ihr entgegengefeßt, 
fie ift dadurch befchränkt, das praktiſche Ich mithin vermöge feiner 
Schranke ein befchränktes ober enbliches Vernunftweſen. Die 
Wirffamkeit des Nicht: Ich if nothwendig; alfo iſt bie derfelben 
entgegengefegte Wirkfamkeit frei, die dad Nicht Ich beftimmende 

*) Cbendaſelbſt. Einleitung S. 1—16. 





595 


Thätigkeit daher freie Wirkfamteit. Wenn alfo das praktiſche 
Ich ſich fest als beftimmend das Nicht-Ich, fo ſetzt es ſich als 
freie Wirkſamkeit oder beſtimmt ſich zu einer ſolchen Wirkſamkeit 
d. h. es ſchreibt ſich freie Wirkſamkeit zu. Daher der erſte Lehr⸗ 
ſatz: „ein endliches vernünftiges Weſen kann ſich ſelbſt nicht ſetzen, 
ohne ſich eine freie Wirkſamkeit zuzufchreiben ).“ 

Die freie Wirkſamkeit ift begrenzt. Was ihr entgegenfteht, 
ift das Nicht:Ich, das nicht anderes ift ald das nothwendige 
Object d. h. die Weltanfchauung bed Ich, die Sinnenwelt, bie 
dem Ich al8 etwas außer ihm erfcheint. Diefe Sinnenwelt muß 
dem Ich erfcheinen als ihm entgegengefeßt, d. h. in allen Punkten 
als fein Gegentheil: als etwas Vorhandenes, Gegebenes, Dauern: 
des, in feinem Beftande (Materie) Unveränderliches, veränberlich 
nur in feiner Form **). 


5. Die Aufforderung. Das Ich außer und. 

Das Selbftberoußtfein ift nur möglich unter der Bebingung, 
daß fich das vernünftige Wefen eine freie Wirkſamkeit zufchreibt; 
diefe freie Wirffamkeit ift nur möglich unter der Bebingung, daß 
ihr etwas entgegengefeßt wird, ein wirkliches Object, beffen 
Segung felbft nur möglich ift in einem beflimmten Moment. Die: 
fer Moment aber ſetzt einen früheren voraus, ber wieber einen 
früheren vorausfegt und fo fort ind Endlofe. So ift die Segung 
des Object unmöglich, alfo auch die der freien Wirkfamteit, alfo 
auch das Selbftbewußtfein. Wir finden Feinen Moment, dafs 
felbe anzufnüpfen; wir finden für bie freie Wirkſamkeit keinen 
Anfang. Hier if daS zu Iöfende Problem. 

So lange freie Wirkſamkeit und Object ſich gegenfeitig vor: 

*) Chenbafelbft, Etſtes Hauptftüd, $.1. ©. 17—28. 

NEbendaſelbſt. I. 8.2. Folgefag. S. 23—29. 

88* 


596 


ausſetzen, ift das Problem nicht zu Iöfen. Wir müffen ein Ob- 
ject haben, welches in uns den Anfang ber freien Wirkſamkeit 
macht. Der Anfang ber freien Wirkfamteit ift Selbftbeftimmung 
und Tann Fein anderer fein; alfo ift ein Object nöthig, welches 
und zur Selbfibeftimmung beflimmt. Aber zur Selbſtbeſtim⸗ 
mung Pann niemand gezwungen werben; ber Zwang zur Selbft- 
beftimmung wäre deren Vernichtung, alfo der vollfommenfte Wi- 
derſpruch. Mithin darf jene Beftimmung zur Selbftbefiimmung 
Beine Art der Neceffitirung fein. Wir müffen zur Selbftbeftim- 
mung auf eine Art beftimmt werben, bie jeden Zwang oder jebe 
Nöthigung ausſchließt. Nun ift, fobald wir durch ein Nicht:Ich 
beftimmt werben, dad Gefühl des Zwanges in und unvermeiblich. 
Mithin muß die Beftimmung, welche wir zwar von außen em⸗ 
pfangen, die aber in und jedes Gefühl des Zwanges auöfchliegen 
fol, von einem Wefen ausgehen, welches Fein Nicht-Ich if, alfo 
nichts anderes fein kann, als felbft Ich, ein Sch außer und. 

Wir folen von außen (durch ein Object) beflimmt werben, 
und felbft zur freien Wirkfamkeit zu beftimmen. Diefe Beftim- 
mung darf kein Zwang fein, fie darf fich nur an unferen eigenen 
Willen richten, fie kann demnach nur eine Aufforderung fein. 
Es muß mithin Objecte außer und geben, die und zur Selbftbe- 
flimmung auffordern, oder deren Wirkfamkeit ſich an unferen 
Willen richtet. Man kann aber feine Wirkfamkeit an ein bes 
flimmted Vermögen nur dann richten, wenn man eine Vorſtel⸗ 
lung von biefem Vermögen hat. Eine Wirkfamkeit, die ſich an 
den Willen wendet, fest ald ihre Urfache ein Wefen voraus, dad 
eine Vorftellung vom Willen hat. Man kann aber vom Willen 
nur dann eine Vorftelung haben, wenn man felbft einen hat. 
Darum kann jene Aufforderung nur von folhen Wefen ausgehen, 
die felbft Willen und Vorftellung haben, die auf unferen Willen 


597 

einwirken, indem fie auf ihn einwirken wollen, die ihre Wirkung 
auf und beabfichtigen. Die Aufforderung fchließt die Abficht ein, 
die Abficht fest Willen und Verftand voraus. Kurz gefagt: die 
Urfache jener Aufforderung kann nur ein vernünftiges Wefen fein, 
wie wir find. Das Object außer und, welches den Anfang un- 
ferer freien Wirkſamkeit bedingt, indem es und zur Selbftbeftim- 
mung auffordert, muß felbft ein Subject freier Wirkſamkeit fein, 
d.h. ein Ich. 

Daher der zweite Lehrſatz: „dad endliche Vernunftweſen 
kann eine freie Wirffamkeit in der Sinnenwelt fich felbft nicht 
zuſchreiben, ohne fie auch anderen zuzufchreiben, mithin auch ans 
dere enbliche Vernunftwefen außer fi anzunehmen *).” 


4 Dad Rechtsverhältniß. 

Da jebed Vernunftwefen eine folhe Einwirkung fremder 
Freiheit auf die eigene ald nothwendig fegen muß, fo wird bamit 
eine gegenfeitige Einwirkung freier Wefen auf einander oder eine 
freie Wechſelwirkſamkeit ald nothwendig d. h. ald die Bes 
dingung gefeßt, unter ber allein eine Beſtimmung zur freien 
Wirkſamkeit, alfo diefe felbft und damit das Selbftbewußtfein 
möglich iſt. 

Die freie Wirkfamteit ift bedingt durch die Aufforderung von 
außen, deren Urfache felbft ein vernünftiges und freies Weſen 
fein mußte; die Aufforderung zur Selbſtbeſtimmung wendet fich 
an meinen Willen, an meine Freiheit, fie will mich nicht nöthi⸗ 
gen, fie will nur meine Selbftbeftimmung weden: fie gründet 
fi mithin auf die Anerkennung meiner Freiheit. Daher will 
der Andere, da er ſich zu mir nur aufforbernd, nicht zwingend 
verhält, auch feine eigene Freiheit nicht auf Koften der meinigen 
y Ebendaſelbſt. I Hptſt. 8. 3. Zweiter Lefrjag. S. 30—40. 


598 
geltend machen, vielmehr in Anerkennung meiner Freiheit die ſei⸗ 
nige einfchränfen und eine Sphäre beftehen laffen, in welder 
mein Wille feinen eigenen freien Spielraum befchreibt. Kurz 
gefagt: ich werde von dem Andern als freies Weſen behandelt 
und anerkannt, das Zeugniß biefer Anerkennung iſt bie Auffor- 
derung. 

Nun war diefe Aufforderung für mich der Erkenntnißgrund, 
daß es freie und vernünftige Wefen außer mir giebt; fie war da= 
für der einzige Erkenntnißgrund, das einzige Kriterium, welches 
mir die Freiheit eined anderen Wefend erkennbar macht. Ich 
ann demnach nur dasjenige Wefen ald ein freied erkennen, wel 
ches mir zeigt, daß ed meine Freiheit anerkennt und durch den 
Begriff meiner Freiheit die feinige einſchränkt. Ober was dafs 
felbe Heißt: für mich find nur diejenigen Wefen frei, die mich 
als freies Wefen behandeln. Ich erkenne die fremde Freiheit nur 
aus einer Handlung, bie aus ber Anerkennung der meinigen 
folgt. Meine Vorftellung und Anerkennung der Freiheit des An⸗ 
dern ift lediglich dadurch bedingt, daß der Andere meine Freiheit 
vorftelt und anerkennt. Der thatfächliche Ausbrud diefer Aner- 
Tennung (bie Aufforderung) ift das einzige Kriterium, welches 
mir den Anderen ald freied Wefen erkennbar macht. 

‚Hier ift der Punkt, der in jedem freien Wefen die Bebingung 
ausmacht, unter ber es allein die Freiheit anderer Wefen außer 
ſich anzuerfennen vermag. Diefe Bedingung ift, daß es felbft 
von bem Anderen ald freies Weſen behandelt wird, Nur dad 
Weſen ift für mich frei, welches den Begriff von meiner Freiheit 
hat und nad) diefem Begriffe handelt. Daraus folgt: 1) ich 
Tann nur ſolche Wefen als frei erkennen, die mic) als freies We— 
fen behandeln; 2) ich kann die Anerkennung meiner Freiheit nur 
folchen Wefen anmuthen, die ich als freie Weſen behandle; 


59 


3) da ich die vernünftigen Weſen außer mir als folche nur zu er- 
kennen vermag aus ihrer Anerkennung meiner Freiheit, fo muß 
ich allen vernünftigen Wefen außer mir anmuthen, mic als freied 
Befen zu behandeln *). 

Die Anerkennung ber Freiheit ift darum fchlechthin gegen: 
feitig; die Folge diefer Anerkennung ift, daß jedes vernünftige 
Weſen feine Freiheit einfchränkt durch den Begriff der möglichen 
Freiheit des Anderen: dieſe Einfchränkung der eigenen Freiheit ift 
bedingt durch die Anerkennung der fremden Freiheit, dieſe Aner- 
kennung ift dadurch bedingt," daß der Andere auch feine Freiheit 
aus demfelben Grunde einfchräntt. Vernünftige Wefen find für 
einander erkennbar nur durch dieſe gegenfeitige Anerkennung ihrer 
Freiheit und die Darauf gegründete gegenfeitige Behandlungsweife: 
diefe Wechfelwirkfamteit ift dad Rechtsverhältniß, der Satz 
diefer Wechſelwirkſamkeit ift der Rechts ſatz“). Ohne ein fols 
ches Rechtöverhältniß kann fich die Freiheit eine vernünftigen 
Weſens nicht anerfannt finden; ohne eine folde Anerkennung 
(Aufforderung) Tann ſich dad vernünftige Wefen Leine freie Wirk: 
ſamkeit zufchreiben; ohne dieſes Segen der eigenen freien Wirk: 
ſamkeit giebt es Fein Selbftbewußtfein, fein Ih, Das Rechtes 
verhältniß ift demnach eine Bedingung der Möglichkeit des Selbſt⸗ 
bemußtfeind: damit iſt dad Rechtöverhältnig und der Rechtsſatz 
dedueirt. 


Die Deduction geſchieht nicht aus dem Sittengeſetz und 
kann aus ihm nicht gefchehen. Das Sittengefeh kann ben Rechtö« 
begriff von fich aus fanctioniren, aber nicht machen. Er gilt uns 
abhängig von der Moral. Es ift möglich, daß die Moral in ges 

*) Ehendafelbft. I Hptft. 8.4. Dritter Lehrjag. S. 41—45. 


(6.44. 1. ©. 45. IL) 
*) Ehenbafelbft, L.5. 4. ©. 52. III. 


600 

wiffen Fällen verbietet, was dad Rechtsgeſetz in jedem Falle er- 
laubt: die Ausübung eined Rechtes. Das Sittengefeß fordert 
den guten Willen und läßt nichts gelten, das nicht durch dieſen 
geſetzt iſt; das Recht gilt auch ohne den guten Willen, es bezieht 
ſich auf die Aeußerungen der Freiheit in der Sinnenwelt, auf 
Handlungen, äußere Handlungen, und ift daher erzwingbar, wie 
diefe. Die Sittlichkeit iſt nie erzwingbar*). 

Damit ift die Grenze des Rechts und feine Tragweite be 
flimmt. Das Rechtsverhaltniß befteht nur zwifchen Perfonen ; 
das Recht bezieht fich daher auch nur auf Perfonen und erft durch 
diefe, alfo mittelbar, auf Sachen; es geht bloß auf Handlun⸗ 
gen in der Sinnenwelt, aber nicht auf Gefinnungen **). 


IL J 
Die Anwendbarkeit des Rechts. 


1. Das Ich als Perſon oder Individuum. 

Das Rechtöverhältnig ift Bedingung des Selbſtbewußtſeins. 
Welches find die Bedingungen ber Rechtögemeinchaft? Offen: 
bar müſſen bie vernünftigen Weſen im Stande fein, überhaupt 
gegenfeitig auf einander einzumirken, wenn zwiſchen ihnen eine 
freie Wechfelwirkfamfeit (Rechtöverhättnig) ftattfinden ſoll; fonft 
würde ber Rechtöfag zwar durch dad Selbſtbewußtſein gefordert, 
aber in Wirklichkeit nicht anwendbar fein, weil die Bedingungen 
fehlen, unter denen der Sag in Kraft tritt. Diefe Bebingun- 
gen darthun, heißt die Anwendbarkeit bes Rechtsſatzes debuciren. 
Die Frage lautet: welches find die Bedingungen, die dad Rechts⸗ 
verhältnig ermöglichen ? 

Das Rechtöverhältniß fordert, daß jedes vernünftige Wefen 

*) Ebendaſelbſt. I. $. 4. Coroll, 2, ©. 54. 

**) Ebendaſelbſt. I. 8.4. Coroll, 3u. 4. ©. 55. 


601 


ſich eine freie Wirkſamkeit zufchreibt und diefelbe durch die An: 
erfennung der Freiheit anderer einfchränkt. Es fchreibt ſich dem⸗ 
nach eine Freiheitäfphäre zu, bie ihm ausſchließend gehört, in 
der es auöfchliegend wählt, in der fein anderer Wille gilt und 
handelt als der feinige. Das Ich, welches eine Freiheitsſphäre 
ausfchließend als die feinige feßt, beftimmt ſich dadurch im Un- 
terfchiede von allen übrigen ald Wille für fi, ald Einzelmille, 
d. h. als Perfon ober Individuum. Erſt hier kommt in ber 
Wiſſenſchaftslehre der Begriff der Individualität zur Entfchei: 
dung. Dad Ich ift Individuum (Perfon) als ausſchließender (in 
einer nur ihm zugehörigen, darum eingefchränkten Freiheitäfphäre 
allein thätiger) Wille. Die ausſchließende Beſtimmtheit der Frei⸗ 
heitsfphäre (Sphäre der möglichen freien Handlungen) macht ben 
individuellen Charakter”). 

Hieraus erhellt der Zufammenhang zwifchen Selbftbewußt: 
fein und Individualität: das Selbftbewußtfein fordert Die Rechts⸗ 
meinfchaft, diefe fordert die wechfelfeitige Setzung und Ausfchlie: 
ßung der Freiheitöfphären, alfo für jedes Ich eine eigenthümliche 
Sphäre freier Handlungen: d. h. bie Perfönlichfeit oder Indivi⸗ 
dualität des Ich. Keine Perfonalität (Individualität), Fein 
Selbftberußtfein. 


2. Das Individuum ald Körper. 

Das Ich ſetzt eine eingefchränfte Freiheitöfphäre ald die ſei⸗ 
nige, es fest fich ald Individuum. Jede Einſchränkung des Ich 
ift eine Entgegenfesung, jede Entgegenfegung ift Segung eines 
Nicht: Ich; mithin unterſcheidet das Ich fich von feiner einge 
ſchränkten Freiheitäfphäre, ſetzt fich diefelbe entgegen ober, was 

H Ghenbafelbft, II Hauptftüd, Deduction der Anwendbarkeit des 
Rechtsbegriffs. 8. 5. Vierter Lehrjag. S. 56. 


602 


dafſelbe beißt, feht fie als gehörig zum Nicht Ich: als Zelt, | 
als Theil der Welt. So ift das Individuum beſtimmt als 
Theil der Welt oder als „materielles Ich"*). 

Was dad Ic) ald von ſich unterſchieden ober außer fich fett, 
iſt ein nothwendiges Product feiner geflaltenden Einbildungskraft, 
ein nothwendiges Object feiner Anfchauung. Run ift die Be 
dingung aller äußeren Anfchauung ber Raum. Das Individuum 
als die durch dad Ich gefegte, eingefchränkte, von ihm unter: 
ſchiedene Freiheitäfphäre ift darum nothwendig räumlic), auöge 
dehnt, einen beflimmten Raum erfüllend d. h. körperlich. Das 
Ich fest feine Individualität ald Körper, als feinen Körper; 
diefe Segung ift eine nothwendige, bewußtlofe' Production, d. h. 
das Ich findet fich ald Körper. Der Körper ift nichts anderes 
als der Ausbrud oder die Erfcheinung der ausfchließenden, dem 
Ich allein zugehörigen Freibeitöfphäre, als ber Umfang aller mög- 
lichen freien Handlungen der Perfon, ald das Gebiet ober bie 
Sphäre des individuellen Willens. 

Die Bedingung der Rechtögemeinfchaft war die wechfelfe: 
tige Auöfchließung ber Freiheitöfphären ; die Bedingung ber wech⸗ 
felfeitigen Ausſchließung (Unterfcheidung der Anſchauungen) über: 
haupt war der Raum; wie follen fich die Freiheitöfphären wech⸗ 
felfeitig ausfchließen Fönnen, wenn fie nicht räumlich, ausgedehnt, 
wiberftandsfräftig, törperlich find? Keine Rechtögemeinfchaft 
ohne Individualität des Ich, Feine Individualität ohne Körper **). 


3. Der Körper ald Leib, 
Der Körper ift Willenderfcheinung, er ift nichts anderes, 
Der Wille handelt, jede Handlung iſt eine Veränderung; alfo 


*) Ebenbafelbft. IL. $. 5. I. ©. 57. 
**) Ebendaſelbſt. IL 9.5. I-V. 6,5759, 








608 

muß der Körper, in welchen ber Wille erfcheinen und fi aus: 
drüden fol, nothwendig veränderlic fein. Die Materie ſelbſt 
ift unveränderlih, Alſo können die Veränderungen im Körper 
nur Formveränderungen fein; bie Theile der Materie kön⸗ 
nen weder vermehrt noch vermindert noch in dem, was fie find, vers 
ändert werben; mithin Tann fich Die Veränderung nur beziehen auf 
das Verhaltniß oder Die Lage der Theile gegeneinander; bie Berän- 
derung diefer Lage oder dieſes Werhältniffes ift die Bewegung der 
Theile: der Körper, ber ben Willen ausdrüdt, muß deßhalb 
aus bewegbaren Theilen beftehen. 

Der Wille handelt frei, d.h. nach Zwecken ober Begriffen. 
Die körperlichen Veränderungen oder Bewegungen, in benen ber 
Wille erfcheinen fol, müffen darum Zwede (Begriffe) ausbrüden 
oder zweckmaͤßig beftimmt fein. Wenn aber die Theile eines Kör⸗ 
pers eigene zwedimäßige Bewegungen haben, fo find fie Gliederz 
der Körper, der aus folchen Theilen befteht, ift gegliedert oder 
articulirt, er ift Leib oder Organismus (ein articulirted Ganze). 
Sol alfo der Wille ſich in einem Körper ausdrücken, fo muß 
biefer Körper ein Leib fein. Unfere außfchliegende Freiheitsſphäre 
iſt unfer Leib*). 

Keine Rechtögemeinfchaft ohne Individualität, kein indivi⸗ 
duelles Ich ohne Körper, Bein Förperliches Ich ohne Leib. 


4. Der Leib als finnlihes Wefen. 
(Niedere umd höhere Organe.) 

Jedes Ich wählt und beftimmt in feiner Freiheitöfphäre aus- 
fließend ſelbſt feine Handlungen: es ift in diefer Rüdficht per⸗ 
ſonliche Selbfibeftimmung. Aber bie perfönliche Selbſtbeſtim⸗ 
ung iſt bedingt durch perfönliche Einwirkung von außen. Nun 

*) Gbendafelbft. IL 9.5. V—VL S. 50-61. 


604 


iſt die der äußeren Einwirkung allein ausgefegte Freiheitsſphäre 
des Ich der Leib, alfo wird jene Einwirkung, deren unfere 
Selbftbeftimmung bedarf, nur auf unferen Leib. gefchehen Fönnen, 
und diefer wird daher für eine folche Einwirkung empfänglich fein 
müſſen. Setzen wir nun, daß die Bedingung, welche ben Leib 
dazu empfänglich macht, der Sinn ift, fo wird ohne den Sinn 
die Einwirkung nicht gefchehen önnen, von welcher unfere 
Selbftbeftimmung abhängt. Und da alles Bewußtſein durch un- 
fere Selbftbefiimmung bedingt und nur durch die Reflerion auf 
diefelbe möglich ift, fo leuchtet ein, daß der Sinn die ausfchlie 
ßende Bedingung alles Bewußtfeind ausmacht. 

Es wird auf meinen Leib von außen eingewirkt, Die her: 
vorgebrachte Wirkung ift eine Veränderung in meinem leiblichen 
Dafein, die nicht von meinem Willen auögeht. Wenn aber in 
dem leiblichen Gebiete eine Thätigkeit flattfindet, welche nicht 
der Ausdruck meined Willens ift, fo hört diefer Leib auf, die aus: 
fliegende Sphäre meines Willens d. h. mein Leib zu fein. 
Alſo kann durch äußere Einwirkung in meinem Leibe Feine fei- 
ner Thätigkeiten gefeßt, fondern nur aufgehoben ober gehemmt 
werben, und zwar nur unter ber Bebingung, baß bie gehemmte 
Thatigkeit meine eigene ift, die ich als ſolche fege d. h. durch 
meinen Willen in meinem Leibe hervorbringe. Ich bringe in 
meinem Leibe burch die Wirkfamkeit meines Willens die Thätig- 
keit hervor, welche burch die Wirkſamkeit von außen gehemmt 
if. Was von außen in meinem Leibe gefchieht, ift bloß Eindruck. 
Was von innen gefchieht (was ich in meinem Leibe hervorbringe), 
ift Handlung meines Willens. Ich vermandle den Eindrud in 
ein Product meines Willens oder in bie-wirfliche Thätigkeit 
meines Leibes; ich empfange den Eindrud nicht bloß, fondern 
bringe ihn felbft in mir hervor, indem ich ihn nachbilde, wahr 


605 


nehme, empfinde. Ich Tann den Eindrud nur unter biefer Bes 
dingung empfangen. Was fonft den Eindrud empfängt, ift 
ich weiß nicht was, aber ficherlich nicht Ich, nicht mein Leib ald 
der meinige. Aufmeinen Leib ift eine äußere Einwirkung nur 
unter der Bedingung möglich, daß ich die dadurch gehemmte 
Thatigkeit felbft in diefem Leibe hervorbringe, daß ich ben Eins 
drud nachbilde und empfinde. 

Meine Selbftbeftimmung fordert die Einwirfung von außen; 
diefe Einwirkung kann nur auf meinen Leib gefchehen, fie kann 
nur flattfinden unter der Bedingung eined einbrudsfähigen und 
mpfindungsfähigen d. h. eines finnlihen ober mit Sin- 
nen begabten Leibes. Nach diefen beiden Bedingungen unter 
fheiden fich Die Organe: der Eindruck wird empfangen durch „bad 
niedere Organ” (dad von außen beflimmbare), die Empfins 
dung wird gebildet durch „das Höhere”: beide zufammen nennt 
Fichte „Sinn”*). 

Die Einwirkung von aufen fol eine perfönliche fein; fie 
fol ausgehen von einer Perfon, einem vernünftigen Weſen, dad 
als ſolches mir nur dadurch erkennbar ift, daß es mir feine Ans 
efennung meiner Freiheit erkennbar macht. Mithin muß jene 
äußere Einwirkung eine folche fein, daß ich daraus zu erkennen 
vermag, ihre Urfache fei ein vernünftiges Weſen; fie muß fo fein, 
daß fie meine Freiheit nicht aufhebt, vielmehr ed von biefer abs 
hängen läßt, ob ich die Einwirkung haben will oder nicht; fie 
muß fo fein, daß der Eindrud ſich erſt durch meine Thätigkeit 
vollendet, erſt Durch diefe meine Thätigkeit wirklich Eindrud in 
mir wird. Ich muß zu erkennen vermögen, baf bie Urfache jer 
ner Einwirkung keine andere Art des Eindrucks beabfihtigt hat, 


*) Cbendaſelbſt. IL. 8.6. Fünfter Lehefag. I-IL. S. 61-66, 


606 


als einen ſolchen, deſſen Annahme oder Richtannahme von mei: 
ner Freiheit abhängt, daß fie nicht anders auf mich einwirken 
wollte. Wenn fie gewollt hätte, fo hätte fie auch anders auf 
mid) eimvirfen können; fie hätte einen Eindruck auf mich aus 
üben Können, ben ich bemerfen mußte, ber mir bie Freiheit der 
Reflerion nicht ließ, alfo meine Freiheit nicht anerkannte, fon: 
dern mir Zwang und Gewalt anthat. Hätte jene Urfache fo auf 
mid) eingewirft, fo wilrbe fie als phofifche Kraft auf mich ald 
phufiiche Kraft, fo würde fie bloß ald Körper auf mich bloß ald 
Körper gehandelt haben. Sie würde fo gehandelt haben, wenn 
fie mich für einen bloßen Körper, für ein Stüd Materie gehalten 
hätte. &ie hat nicht fo auf mich eingewirkt, nicht als Kraft auf 
Kraft, fondern ald Sinn auf Sinn, alfo hat fie mich nicht bloß 
für einen Körper, fondern für einen finnbegabten Leib, für 
ein Wefen mit eigener auöfchließender Freiheitsſphäre, für ein 
vernünftiges Wefen, für eine Perfon anerfannt. Jene Urfache 
alfo der Außeren perfönlichen Einwirkung auf mich muß felbft 
phyſiſche Kraft ober Körper fein, um als folcher auf mich ein: 
wirken zu können; fie muß vernünftig und frei fein, um ald 
phyſiſche Kraft auf mich nicht einwirken zu wollen; fie muß finn: 
licher Leib fein, um in der That bloß finnlich auf mich einzu: 
wirken. 

Die Rechtsgemeinſchaft fordert die freie Wechſelwirkſamkeit, 
die nur moglich ift unter ber Bedingung einander auöfchließender, 
indioidueller Freiheitöfphären, die auf einander nur einwirken 
tönnen unter ber Bedingung körperlicher, leiblicher, finnlicher 
Individualität. „Es ift hiermit das Kriterium der Wechſelwir⸗ 
Tung vernünftiger Wefen als folcher aufgeſtellt. Sie wirken noth⸗ 
wendig unter der Borauöfegung auf einander ein, daß der Ge: 
genftand ber Einwirkung einen Sinn habe; nicht wie 


} 


607 


auf bloße Sachen, um einander durch phyſiſche Kraft für ihre 
Zwecke zu mobificiren ).“ 


5. Die Bildfamkeit des Leibes. 

Das Selbftberoußtfein fordert ald Bedingung der Rechtsge⸗ 
meinſchaft das finnliche Ich, den Leib mit feinen höheren und 
niederen Organen; biefer ift ein Theil der Belt, der Sinnenwelt, 
von deren Einrichtung und Werfaffung die feinige abhängt, Das 
ber ift es nothwendig, daß Perfonen, die eine Rechtögemeinfchaft 
bilden, als freie Wefen auf einander einwirken, fich gegenfeitig 
als gleiche behandeln follen, auch gleichartige Sinnlichkeit, 
gleichartige Weltanfchauung, mit einem Worte diefelbe Sinnen 
welt haben: Rechtögemeinfchaft ift nur möglich unter der Bedin⸗ 
gung einer gemeinfhaftlichen Sinnenwelt**). 

Die Selbſtbeſtimmung jeder Perfon ift geknüpft an bie per- 
fönliche Einwirkung von außen. Die Perfonen follen als ver- 
nünftige Weſen, nicht als materielle Kräfte auf einander einwir⸗ 
ten; alfo muß jebe Perfon für die andere finnlich erkennbar fein. 
Der finnlich erkennbare Ausdrud der Perfönlichkeit if ber Leib; 
alſo muß vor allem der Leib ald ſolcher durch fein bloßes Dafein 
im Raum, durch feine bloße Geftalt, zu erkennen d.h. er muß 
fihtbar fein. Die Sinnenwelt muß daher die Bedingungen 
enthalten, unter denen Geftalten überhaupt fichtbar fein Fön: 
nm), 

Aber der Leib muß nicht bloß, wie jede andere Geftalt, ſicht⸗ 
bar, fondern zugleich als ber Leib eines vernünftigen Weſens 
etennbar fein. Die Anfchauung dieſes Leibes muß unfere Vor⸗ 

*) Ehbenbafelbft. IL. 8. 6. III. S. 65—69. 

**) Ebendaſelbſt. IL. $. 6. IV—V. S. 69-72. 

) Ghenbajelbft. IL. 8. 6. VI-VIL. 6, 72—76, 


608 


ſtellung nöthigen, den Begriff eines freien und gleichartigen We⸗ 
fend damit zu verbinden; er muß und erfcheinen als beſtimmt 
durch den Begriff der Freiheit oder, was baffelbe heißt, ald bes 
ſtimmt zur Freiheit. Aber wie kann ein Leib diefen Ausdruck der 
Freiheit haben? Freiheit ift Selbfithätigkeit, felbfleigene Bil: 
dung, welche die Bildungöfähigkeit oder Bildſamkeit vorausſetzt. 
Ein Leib wird daher in dem Grade als frei erfcheinen, ald er den 
Charakter der Bildſamkeit trägt und felbft ald Gegenftand und 
Werk eigener Bildung erfcheint. Je bildfamer, um fo freier. 
Je weniger die Bildung des Leibes durch den Bildungstrieb ber 
Natur allein beftimmt und vollendet ift, um fo weniger if ber 
Leib ein bloße Naturproduet, um fo mehr ift feine Ausbildung 
auf bie Selbfithätigkeit deö eigenen Wefens, auf bie bildende 
Einwirkung anderer Seineögleichen angewieſen, um fo größer 
daher feine Bildfamteit. Kein Leib ift fo bildſam und von Na- 
tur fo hülflos als der menfchliche. Eben diefe Hülftofigkeit von 
Natur ift die Anweiſung an die Menfchheit, die Beftimmung zur 
Freiheit. Eben hierin befteht ber Unterfchieb des thierifchen und 
menfchlichen Leibes. Das Thier ift in feiner Weife ein vollen: 
deted Naturproduct, ein erfüllter, mit allen Mitteln ausgerüfteter 
Naturzweck; es befommt von der Natur weit mehr ald der Menfch. 
„Iſt der Menſch ein Thier, fo ift er ein außerſt unvollkommenes 
Thier, und gerade darum iſt er fein Thier*).” Es iſt fehr ge: 
dankenlos, den Menfchen ald ein vollkommenes Thier zu betrach⸗ 
ten, denn gerabe was die Vollkommenheit des thierifchen Da: 
ſeins ausmacht, die Ausrüſtung mit den zum Lebenszweck nöthigen 
Mitteln, gerade diefe Vollkommenheit fehlt dem menfchlichen 
Dafein. Der Menſch wird nicht ausgerüſtet, er fol fich ſelbſt 
ausrüften. Die Pflege und Ausbildung feines Leibes ift fein und 
*) Ebenbafelbft, II. $. 6. Goroll, 2,2. 6,82. 


609 


der Seinigen Werl. In der Bildſamkeit und Bildung dieſes 
Leibes erfcheint die Freiheit; der Menfchenleib macht dem Mens 
ſchen ein Weſen Seineögleichen erkennbar: „Menfchengeftalt ift 
daher dem Menfchen nothmwendig heilig *).” 


6. Innere Bedingung der Anwendbarkeit. 


Der Rechtöfag ift nicht anwendbar, die Rechtögemeinfchaft 
nicht möglich ohne freie Wefen, deren bloße Gegenwart in ber 
Sinnenwelt (leibliche Erſcheinung) fie gegenfeitig nöthigt, einan- 
der für Perfonen anzuerkennen. Das Dafein der Perfonen, ihre 
törperliche, leibliche, finnliche Eriftenz, ihre Einwirkung auf ein⸗ 
ander vermittelft des Sinns find die äußeren Bedingungen ber 
wirklichen Rechtögemeinfchaft ober der Anwendbarkeit des Rechts⸗ 
grundfages. Welches find die inneren Bebingungen **)? 

Benn bie freien Weſen ſich gegenfeitig durch ihre leibliche 
Erſcheinung zur perfönlichen Anerkennung nöthigen, fo befteht 
darin ihre nothwendige und urfprüngliche Mechfelwirkung. Diefe 
beftimmte Erſcheinung (bed menſchlichen Leibes) fordert diefen 
beftimmten Begriff (eineö freien Weſens); jeder anerkennt den 
Andern für eine Perfon. Das Ergebniß diefer Wechſelwirkung 
iſt die gemeinfchaftliche Erfenntniß der ſinnlichen Coeriftenz freier 
Perfonen. 

Diefe Erkenntniß ift noch nicht die Rechtögemeinfchaft felbft. 
Die letztere beſteht barin, daß jeber Einzelne jene Erkenntniß nicht 
bloß hat, fondern nach ihr handelt, daß alle feine Handlungen 
in Rüdficht der anderen Perfonen aus jener Erkenntniß folgen: 
daß alfo jeber Einzelne in biefem Sinne folgerichtig oder confer 
quent handelt. Wenn die Erkenntniß auch den Willen nöthigte 

*) Ebendaſelbſt. IL. $. 6. VII Cotoll. ©. 738 - 86. 


+) Ehenbajelbft, IL 8.7. I. ©. 85. 
Bilder, Gefäläte der Yhllofophie. V. 39 


610 


ober ansfchließend beftimmte, To müßte jeder confequent han: 
dein, fo wäre die Rechtögemeinfchaft gegeben, aber zugleich bie 
Freiheit des Einzelnen und damit die Bedingung der Rechtöge: 
meinfchaft felbft aufgehoben. 

Jedes freie Wefen muß dad andere für Seineögleichen er: 
kennen. Ob aber jede Perfon die andere auch ald freies Weſen 
behandeln (d. h. comfequent handeln) will, ift lediglich bedingt 
durch den Willen des Einzelnen. Wenn er will, kann er auch 
anders handeln; es ift Fein abfoluter Grund vorhanden, ber ihn 
zu einer confequenten ober gefeßmäßigen Handlungsweiſe nöthigt. 
Das Sittengefeb allerdings verpflichtet mich abfolut, die Frei- 
heit des Anderen zu tefpectiren, nicht eben fo dad Rechtsgeſetz. 
In diefem Punkte liegt die Grenze zwifchen Moral und Natur 
recht: dort gilt die Verpflichtung jedes vernünftigen Weſens, die 
Freiheit aller vernünftigen Wefen außer ihm zu wollen, abfolut 
und unbedingt, hier dagegen nur relativ und bebingt*). Cie 
kann im Naturrecht nicht anders gelten. Meine Handlungsweife 
gegen anbere ift bedingt durch das Rechtsgeſetz, welches felbft be- 
dingt ift durch die Nechtögemeinfchaft und nicht weiter reichen 
Tann, als dieſe felbft**). 

Aber die Rechtögemeinfchaft gilt nicht unbedingt. Sie be 
ruht auf dem gemeinfchaftlicyen Wollen, und diefes felbft ift ab: 
hangig von dem Betragen jedes Einzelnen. Meine Handlungs: 
weife gegen ben Anderen ift durch das Rechtsgeſetz felbft an eine 
Bedingung geknüpft, bie zufälliger Art ift, die fein und auch 
nicht fein Bann. Ich behanble den Andern ald freies Weſen un: 
ter der Bedingung, daß er mich auch fo behandelt, nur unter 


*) Ebendaſelbſt. II. 


g7.L . 
#*) Gbendafelbft, IL. $.7. L S. 86—88, 


811 


diefer Bebingung. So will es bad Rechtsgeſetz. Wenn mich 
nun ber Andere nicht fo behandelt? So ift zwiſchen und. die 
Rechtögemeinfhaft und damit das Rechtsgeſetz aufgehoben *). 
Nun ift die Rechtögemeinfchaft eine nothwendige Bedingung 
des Selbſtbewußtſeins und barf ald.folche nicht aufgehoben wer⸗ 
den. Daher muß auch bad Rechtsgeſetz felbft in feiner Aufhebung 
güftig bleiben. Giebt es Fälle, in denen ihm zuwidergehandelt 
wird, fo muß dad Rechtsgeſetz auch ‚für diefe ihm wiberfireitenden 
File gelten. Wie ift das möglich? „Wie mag ein Gefeh ger 
bieten dadurch, daß ed nicht gebietet; Kraft haben dadurch, daß 
& gänzlich ceffiret; eine Sphäre begreifen dadurch, daß es bie: 
felbe nicht begreift? **).” Hier ift in den inneren Bedingungen 
der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs der ſchwierige Punkt. 
Das Rechtsgeſetz gebietet, daß fich die Perfonen ald freie 
Weſen gegenfeitig anerkennen und behandeln. Ich behandle dem⸗ 
gemäß den Anbern als freied Weſen und habe ein Recht, daß er 
mich wieder fo behandelt; er thut es nicht und hat dadurch nach 
dem Mechtögefege felbft das Recht verloren, von mir als freies 
Weſen behandelt zu werben. Jetzt gebietet mir das Rechtsgeſetz 
nicht mehr, die Freiheit des Anderen zu reſpectiren; es verbietet 
mie nicht mehr, vielmehr erlaubt es mir, fie anzugreifen; es 
ſpricht mich von der Verpflichtung los, die meine Willkür in 
Schranfen hielt, und fegt mich dem Andern gegenüber wieder in 
den Stand ber Willkur, ich darf jest nad) dem Rechtsgeſetze felbft 
die Freiheit des Andern auch meinerfeits angreifen, d. h. ich habe 
ein Recht, ihn zu zwingen. Dad Rechtsgeſetz felbft giebt mir in 
diefem Falle ein Zwangs recht, es berechtigt den rechtswidrig 





*) Ebendaſelbſt. IL. 8.7. IL. &.88—89, 
)Ebendaſelbſt. IL $.7. IV.. ©. 90, 
39 * 


612 


Behanbelten zur willtürlichen Behandlung der Perfon, bie feine 
Freiheit verlegt hat”). 

Die Amwendbarkeit des Rechtsbegriffs fordert mithin bie 
Möglichleit des Zwangsrechts. Ohne Zwangsrecht Fein durch⸗ 
gängig gültiges Rechtegeſet, feine giültige deechsgemeinſchaft. 
Aber wie konnen Rechtögemeinfcaft und Zwangsrecht vereinigt 
werden, ba doch ber Zwang bad Gegentheil der Freiheit und da⸗ 
mit der Rechtögemeinfchaft ift? Wie iſt innerhalb ber Rechtsge⸗ 
meinfchaft ein Zwangsrecht möglich? Das ift die aufzulöfende 
Frage. 

II 
Die Anwendung des Rechtsbegriffs. 


Die Hauptprobleme. 
1. Dad Urredt. 

Wir kennen bad Gefeh der Rechtögemeinfchaft und alle Auße⸗ 
ren und inneren Bedingungen feiner Anwendbarkeit. Jetzt han⸗ 
delt es fich um bie foftematifche Anwendung ſelbſt. Aus diefer 
Aufgabe erhellt ſchon die Eintheilung des Syſtems der Rechts 
lehre oder die Drbnung ihrer Hauptprobleme. 

Das Rechtsgeſetz fordert: daß jedes freie Wefen feine Frei: 
heit durch ben Begriff der Freiheit des Anderen einfchränfe, daß 
es fich diefe Einſchränkung zum Geſetz mache, alfo die Freiheit 
anderer, obwohl es diefelbe ftören kann, niemald angreifen wolle, 
fondern aus freien Stüden ſich dazu entfchließe, fie zu achten **). 
Was fehlechterdingd nicht verlegt werden barf, find Diejenigen 
Rechte, auf deren Anerkennung alle Rechtögemeinfchaft beruht: 
das find die Bedingungen des perfönlichen Daſeins, ohne welche 

*) Ebendaſelbſt. IL. 8.7. V. 6. 90-91. 

..**) Cbenbafelbft, III Hptitüd. 8.8, L 6,92, 


813 


es überhaupt.feine Rechtöverhältniffe giebt. Den Inbegriff diefer 
Bedingungen nennt Fichte die Urrechte. Worin beftehen bie 
Urrechte? Das“ iſt die erſte Frage ). 

2. Das Zwangsrecht. 

Nun ſollen die Urrechte zufolge des Rechtsgeſetzes nicht ver⸗ 
legt werden, aber fie können es vermöge der menſchlichen Willkür, 
die ſich an das Geſetz nicht kehrt; ihre Unverletzbarkeit kraft des 
Geſetzes fchließt die Möglichkeit der Verlegung durch die (rechtd- 
widrige) Willkür nicht aus. Im diefem Fall erlaubt das Geſetz 
dem rechtswidrig Behandelten dad Zwangsreht. Wie und 
unter welchen Bedingungen find Zwangsrechte möglih? Das 
ift die zweite Frage **). 

An fich ift der Zwang kein Recht. Er kann ed nur fein in 
einer beflimmten Form, bie dad Geſetz feftftelt. Das Geſetz 
allein kann zum Zwange berechtigen; es kann nur den zum 
Zwange berechtigen, ber das Geſetz anerkennt und ſich ihm unter: 
wirft, Mur der rechtmäßig Handelnde darf zwingen; er darf 
nur dann zwingen, wenn feine Urrechte verlegt find, und den 
Zwang nur gegen die Perfon audtiben, die jene Rechte verlegt hat. 

Mithin iſt zur Anwendung des Zwangsrechts bie erſte Be— 
dingung, daß feſtgeſtellt wird, ob wirklich die Urrechte verletzt 
ſind. Dieſe Feſtſtellung iſt ein Urtheil, und zwar nach der Richt⸗ 
ſchnur des Rechtsgeſetzes: ein ſolches Urtheil iſt ein Rechtsſpruch 
oder ein Gericht. Bevor daher ein Zwang rechtmäßig ausgeübt 
werden darf, muß gerichtet werben. Kein Zwangsrecht ohne 
vorhergehendes Rechtöurtheil, Mer berechtigt fein fol zu zwin⸗ 
gen, der muß berechtigt fein zu richten ***), 

*) Ebendaſelbſt. III. 8. 8, I. ©. 92—94. 

**) Ebenbajelbft. IIL 8. 8. IL &.94—95, 

**%) Ebendaſelbſt. III. $. 6. ILa. ©, 95. 


614 


Das Zwangsrecht ift bedingt durch bad Rechtsgeſetz und 
veicht daher auch nicht weiter ald dieſes. Die Verlegung der Ur- 
rechte ift zugleich die Nichtanerkennung des Rechtögefeges. Hier 
iſt der Punkt, der dad Zwangsrecht zugleich motivirt und begrenzt. 
In Rüdficht der verlegten Urrechte darf es auögeübt werben bis 
zu deren Wiederherſtellung (Genugthuung, Entſchädigung); in 
Rüdficht auf die Nichtanerfennung des Geſetzes darf es ausgeübt 
werben, bis ber Andere das Geſetz anerkennt und ſich demfelben 
unterwirft. Mit diefer Unterwerfung, fobald fie eintritt, erlifcht 
dad Zwangsrecht ). 

Aber wo iſt das Kennzeichen, daß dieſe Unterwerfung wirk⸗ 
lich ſtattfindet, daß der Andere ſich in der That dem Geſetze fügt, 
daß er demſelben nicht mehr zuwiderhandeln wird? Das einzige 
Kennzeichen, woraus die Anerkennung des Geſetzes einleuchtet, 
find die Handlungen, in dieſem Falle die Fünftigen Handlungen, 
die gefammte künftige Erfahrung, Die Zukunft iſt ungewiß. 
Es ift ungewiß, ob ber Andere das Gefeg von jest an anerfen= 
nen und befolgen wird. Seine bloße Verficherung giebt Feine 
Gewißheit. Da nun das Zwangsrecht nur eintreten darf, fobald 
die Nichtanerfennung des Gefeged gewiß ift, fo ift die Ausübung 
deſſelben ebenfalls ungewiß. Hier fommt die Anwendbarkeit des 
Zwangsrechts mit fich felbft in Widerſtreit. Wie ift diefer Wi- 
derſpruch zu Iöfen**)? 

Die Urrechte dürfen nicht verlegt werden. Sind fie verlegt 

- worden, fo muß ihre Wiederherftelung erzwungen werben dür⸗ 
fen; und zugleich wi ich die Sicherheit haben, daß fie in Zu: 
kunft nicht mehr verlegt werben. Diefe Sicherheit für die Zu- 
kunft, dieſe Garantie oder Gemährleiftung der Urrechte ift nur 

*) Ebendaſelbſt. IIT. 8.8, I. 6, 9697. 

**) Ehenbajelbft, ILL. 5. 8. IL. S. 97—99. 


815 


auf eine einzige Art zu geben: die Perfonen müffen ſich die ge 
genfeitige Störung der Freiheit freiwillig unmöglich machen. Die 
Sicherung und Bertheidigung der Urrechte fol nicht mehr bei 
dem fein, ber in der Sache Partei ift, fondern bei einem Drit: 
ten. Diefer allein fol das Recht haben zu entſcheiden, ob eine 
Verlegung der Urrechte wirklich flattgefunben hat; er allein fol 
richten, er allein fol den Angreifenden zurüdtreiben und das 
Zwangsrecht gegen den Beleidiger ausüben. Diefem Dritten un 
terwerfe ich alle Bedingungen meines Zwangsrechts: das Rechtes 
urtheil und bie phyſiſche Macht, natürlich unter der (nach dem 
Rechtsgeſetz felbfiverftändlichen) Bedingung, daß die Anderen 
daffelbe thun. Und zwar gefchieht diefe Unterwerfung unbe: 
dingt, ba jede bebingte oder eingefchränkte Unterwerfung dem 
Zwangsrechte der Einzelnen neuen Spielraum geben würde*). 

Kein Naturrecht ohne Zwangsrecht, welches bie Urrechte 
vertheidigt und ſchützt; feine Sicherheit des Schuges ohne Ga: 
rantie; keine Garantie ohne eine dritte Macht, ber durch unbe: 
dingte Unterwerfung alle Bedingungen der Boangeredte zur al⸗ 
leinigen Ausübung übertragen werben. 

Damit ſtehen wir nor einem neuen Problem. Das Zwangs⸗ 
recht iſt nur anwendbar unter einer Bedingung, die mit der Frei⸗ 
heit, alſo mit dem Naturrechte ſelbſt ſtreitet. Wir ſollen unſere 
Freiheit unbedingt unterwerfen; wir ſollen es thun um der Frei⸗ 
heit willen. Das Rechtsgeſetz fordert die gegenſeitige Anerken⸗ 
nung ber perfönlichen Freiheit, die Garantie dieſer Anerkennung, 
darum die Unterwerfung. Es fordert zum Zwecke der Freiheit 
deren Gegentheil. So widerflreitet das Rechtsgeſetz ſich felbfl. 
Wie ift diefer Widerfpruch zu löfen? 


*) Ebendafelöft. III. 8.8. IIL 6. 99-101. 


616 


5. Das Staats recht. 

Die Unterwerfung gefchieht nach dem Rechtsgeſetze, welches 
felbft unter der Bedingung der Freiheit fteht. Die Unterwerfung 
gefchieht daher mit vollfommener Freiheit, d. h. mit ber Ueber 
zeugung, daß meiner rechtmäßigen Freiheit durch die Unterwers 
fung fein Abbruch gefchieht; fie gefchieht unter einer Bedingung, 
welche mir meine Freiheit und deren Rechte garantirt *). 

Wie ift eine folhe Garantie möglih? Ich muß ficher 
fein können, daß von jenem Dritten Fein Rechtöurtheil gefpros 
chen wird, das meine Rechte verlegt, Bein rechtswidriges Urtheil; 
daß alle Fünftigen Rechtöurtheile nach der Richtſchnur des Rechts 
normirt find und daher nur nach diefer Richtſchnur, d. h. nach 
beftimmten oder pofitiven Gefegen, ertheilt werden können, die 
von vornherein jede Willkür des Richters ausſchließen. Die Ne 
gel des Rechts, angewendet auf beſtimmte Objecte, ift dad poſi⸗ 
tive Geſetz; dad Geſetz, angewendet auf beſtimmte Perfonen, ift 
das Rechtöurtheil. Der Rechtsſpruch ift nur das Geſetz felbft in 
feiner Anwendung; das Gefes ift der unabänderlich feſtgeſetzte, 
von aller gefeglichen Willkür unabhängige Wille, der Wille des 
Rechts, alfo auch mein eigener Wille. “Daher Tann ich mich 
dem Gefeß unbedingt unterwerfen mit vollfommener Freiheit ; 
und ich Tann mich auf diefe Weife nur dem Gefe unterwerfen. 

Jene Garantie alfo ift allein durch Gefege möglich. Aber 
wie können Gefege, bie zunächft nur Säge und Begriffe find, 
eine folche Garantie leiften? Dffenbar nur unter der einen Ber 
dingung, daß dad Geſetz Macht ift, alleinige Macht, Oberge⸗ 
malt, Das Gefeh muß herefchen, und zwar auf eine ſolche 
Weiſe, daß es felbft niemals rechtswidrig handeln, nie bei einer 
rechtswidrigen Handlung ſtumm bleiben kann. Hier ift es Har, 

*) Ebendaſelbſt. III. 9.8, IV. 6, 101— 102, 





617 


unter welcher Bedingung allein Rechtögemeinfchaft und Zwangs⸗ 
recht vereinigt werden können. Ihre Vereinigung ift nur dann 
möglich, wenn nichts herrſcht ald das Geſetz, wenn Geſetz und 
Macht volllommen eines find, wenn bie Macht immer mit dem 
Geſetze, und die Gefegwibrigfeit immer mit der Ohnmacht zuſam⸗ 
menfält. Die Bedingungen diefer Vereinigung find zu finden. 

In der Sinnenwelt ift nichts mächtiger ald das freie We: 
fen, unter freien Wefen ift nichtö mächtiger als ihre Vereinigung. 
Wenn daher dad Geſetz der gemeinfchaftliche Wille ift, fo ift es 
auch der mächtigfte Wille, die größte Macht, die Herrſchaft; fo 
ift jede Ungerechtigkeit gegen den Einzelnen zugleich eine Unge— 
techtigfeit gegen Alle; fo ift eine gefegwidrige Handlung, bie in 
ihrer Auflehnung gegen die größte Macht nothwendig ſcheitert, 
ein Unrecht, das feine Ohnmacht in der Beftrafung erfährt. Die 
Herrſchaft der Gefege iſt nur möglich in dem gemeinen Weſen 
oder dem Staat. Was iſt der Staat? Das iſt die dritte Frage 
in der Anwendung der Rechtslehre. 


Neuntes Kapitel. 
Die Staatslehre. 


L 
Die Urrehte und das Zwangsgeſetz. 
1. Leib, Eigenthum, Selbfierhaltung. 

Das Rechtögefeh fordert die Urrechte, zu deren Vertheidi⸗ 
gung und Schuß (im Fall der Verlegung) die Zwangsrechte, zu 
deren Anwendung die Herrfchaft der Gefege oder ven Staat. Ur: 
rechte und Zwangsrechte find baher die beiden Bedingungen, be: 
ten nothmendige Vereinigung den. Staat fordert. 

Nur im Staat und durch benfelben find die Zwangsrechte 
anwendbar, nur durch deren Anwendung find die Urrechte gültig. 
Mithin giebt es abgefehen vom Staat feine eigentliche Geltung 
der Urrechte, es giebt feinen befonderen Stand der Urrechte und 
in diefem Sinn Feine Urrechte des Menfchen. Der Begriff der 
Urrechte, nicht ihre Geltung, geht dem Staate voran, und ed 
muß daher vor allem audgemacht werben, worin biefer Begriff 
befteht*). 

Die Urrechte begreifen die Bedingungen in fich, unter denen 
allein Perfonen in der Sinnenwelt möglich find, Nun beſteht 
die Perfönlicheit darin, die freie Urfache ihrer Handlungen zu 
fein. Wenn die Bedingungen aufgehoben werden, unter denen 
7) Kiegheslehre. I Cap. Deduction be Urrechts. 8.9, ©. 110-111. 


619 


eine Perfon in der Sinnenwelt ald freie Urfache (abfolute Cauſa⸗ 
lität) handeln kann, fo ift die Möglichkeit der Perfon felbft auf: 
gehoben. Die erfte Bedingung, ald freie Urſache in der Sins 
nenwelt zu handeln, ift daher die finnliche Erfcheinung der Per: 
fon, ber Leib ald Repräfentant bes Ich in der Sinnenwelt, dad 
finnliche Ich felbft. Mein Leib ift frei; Peine andere Perfon darf 
ihn zum Gegenftande ihrer unmittelbaren Einwirkung d. h. ihres 
Zwanges machen: dad ift das erſte Urrecht. Als freie Urſache 
handeln, heißt nach Begriffen oder Zweden handeln. Ich kann 
in der Sinnenwelt nur dann zweckmäßig handeln, wenn ich Ob⸗ 
jete nach meinen Zwecken behandeln, alfo meinen Zweden unter: 
ordnen Bann, Diefelben Objecte können nicht zugleich durch 
meine Zwecke und durch bie eined Anderen beftimmt werben. 
Alſo muß ih, um zwedimäßig handeln oder Perfon in der Sin- 
nenwelt fein zu können, Objecte ausſchließend beflimmen, nur 
nad) meinen Zwecken behandeln und biefen ausſchließend unters 
orbnen dürfen. Die auäfchliegende Unterordnung ber Objecte 
unter meine Zwede macht fie zu meinem Eigentum. Ohne Ei- 
genthum Feine Perfon: das ift das zweite Urrecht. Alles zweck- 
mäßige Handeln befteht in einer Reihe von Hanblungen, die von 
der Gegenwart in bie Zufunft geht. Ich kann mir Beinen Zweck 
in der Gegenwart ſetzen, ohne feine Verwirklichung in der Zus 
kunft zu wollen, ohne alfo meine eigene Zukunft d. h. die Fort: 
dauer meiner Perfon, die Fortdauer meines Leibes, meine Selbſt⸗ 
erhaltung zu wollen: das ift daß dritte Urrecht. Nur unter bie: 
fen Bedingungen des mir eigenen, von fremder Zwange unab- 
hängigen Leibes, des Eigenthums und der Selbfterhaltung kann 
die Perfon in der Sinnenwelt ald freie Urfache handeln; nur fo 
iſt perfönliches Dafein in der Sinnenwelt überhaupt möglich *). 
*) Ebendaſelbſt. L 8. 10—1L, 6. 112— 119, 


620 


2. Die Rechtsgrenzen und beren Sicherung. 

Diefe Urrechte find unverlegbar. Sie werben verleht, wenn 
ein Anderer von feiner Freiheit und feinen Urrechten gegen mich 
einen rechtöwibrigen Gebrauch macht. Können aber die Urrechte 
vechtöwibrig gebraucht werden, fo muß ihr rechtmaͤßiger Gebrauch 
feine beftimmte Grenze haben. Diefe Grenze ift beflimmt durch 
die gegenfeitige Anerkennung der Perfonen, ihrer Freiheit, ihrer 
Urrechte. Aber diefe Anerkennung ift problematif und muß es 
fein in Rückſicht der Objecte, welche ausſchließend nur in bie 
Freiheitsfphäre diefer Perfon falen. Um das Eigenthum des 
Anderen anzuerkennen, muß ich wiffen, welche Objecte fein Ei: 
genthum find. Keiner kann und barf alles befigen, das Eigen: 
thum jedes Einzelnen iſt ein endliches Quantum; aber biefes 
Quantum muß beflimmt, beutlich begrenzt, ‚die Grenze muß 
äußerlich bezeichnet fein durch eine Declaration. Jeder muß 
fein Eigenthum declariren. Entfleht in dieſer gegenfeitigen De: 
claration ein Streit, indem biefelben Dinge von verfchiedenen 
Perfonen beanfprucht werden, fo ift eine Entſcheidung nothwen⸗ 
dig, die micht von den Parteien felbft, fondern nur von einem 
Dritten abhängen kann. 

Keine. Perfon ohne Eigenthum; kein Eigentyum ohne ges 
genfeitige Anerkennung des Eigenthums, Erſt durch dieſe wird, 
was vorher nur factifcher Befig war, rechtögültiges Eigentum. 
Keine gegenfeitige Anerfennung ohne gegenfeitige Declaration und 
ohne die Bedingungen, unter benen jeder Streit über Mein und 
Dein rechtsgliltig entfchieden werben kann *). 

Segen wir, die Urrechte feien beſtimmt und durch gegen⸗ 
feitige Verabredung in fefte und beutlich bezeichnete Grenzen ein: 
geſchloſſen, fo ift die nächſte nothwendige Forderung bie Sicherheit 

*) Gbenbajelöft, I. 8.12. ©, 120-136, 


621 


des fo gegebenen Rechtözuftandes. Keiner darf feine Rechtögrenze 
überfchreiten. Wenn dazu jeber ben guten, mit dem Rechtsgeſetz 
innerlich übereinftimmenben Willen hat, fo kam fich jeder auf 
jeden verlaffen, und die gegenfeitige Sicherheit ift begründet in 
der rechtlichen Gefinnung, in ber gegenfeitigen Treue, womit 
jeder an ben getroffenen Werabrebungen feftpält. Dann beruht 
die Mechtögemeinfhaft auf dem Grunde der Gefinnumg, auf der 
Moralität und ift im Grunde fchon eine fittliche Gemeinfchaft*). 

Indeffen dürfen wir hier das Gebiet der Rechtögemeinfchaft 
nicht überfchreiten und innerhalb defjelben Beinen Anfprud auf 
die Moralität der Gefinnung, fondern nur auf bie Legalität der 
Handlungsweife machen. Das Rechtögefeh fordert die Sicherheit 
des Rechtözuftandes. Diefe Sicherheit giebt bie rechtliche Gefin- 
nung, aber diefe Gefinnung und dad Vertrauen auf diefelbe (ger 
genfeitige Treue und Glauben) ift Durch Fein Rechtsgeſetz hervor⸗ 
zubringen. Um aber bie geforderte Sicherheit zu gewährleiften, 
wird bad Rechtsgeſetz für bie Legalität der Handlungdweife, die 
es allein beanfprucht, zu forgen haben; es wirb Veranftaltungen 
treffen müffen, welche bie Handlungen in der Richtſchnur und 
den Grenzen bed Rechts halten und zu dieſem Zwecke ben guten 
Willen zwar keineswegs auöfchließen, aber entbehrlich machen. 
Das Recht muß gefichert fein, felbft wenn ber gute Wille dazu 
nicht vorhanden ift**). 

Sind die Urrechte jeder Perfon ihrem Umfange nach begrenzt 
und die Rechtögebiete beſtimmt, fo befteht jede Rechtsverletzung 
in der Nichtachtung ber Rechtögrenzen. Diefe Nichtachtung ift 
entweder gewollt oder nicht gewollt, entweder abfichtlich oder un⸗ 
abſichtlich: im erften Fall ift der Wille rechtswidrig, im anderen 

*) Ebenbajelbft. II Cap. 8. 18. S. 1837—139, 

**) Ebendaſelbſt. IL. 9.14. 6. 1989-40. Bgl.6. 142,  ' 


622 


unachtfam. Der rechtäridrige Wille ift der in ber Handlung 

auögefprochene Wille zu ſchaden, det unachtſame ſchadet ohne es 

zu wollen; jener überfchreitet die Rechtsgrenze, die er Eennt, 

diefer beachtet (aus Nachläffigkeit) die Rechtsgrenze nicht, die er 

kennen und beachten follte: durch beide ift die Sicherheit des 

Rechtözuftandes bedroht; gegen beide find daher jene Veranſtal⸗ 
- tungen zu richten, welche den Rechtözuftand fichern. 


3. Dad Zwangsgefeh und deffen Prineip. 

Die Veranftaltung, welche dad Rechtsgeſetz trifft, muß ein 
Geſetz und, da der Rechtszuſtand in jedem Augenblide verlegt 
werben kann, ein ſtets wirffames Geſetz und zwar ein folches 
fein, welches den Willen, auch den gefegwidrigen, nöthigt, recht 
mäßig zu handeln, d. h. ein Zwangsgeſetz. 

Jeder Wille handelt nad) feinen Zwecken. Wenn aus feiner 
Handlung die Erreichung des Zwecks folgt, fo handelt er zweck⸗ 
mäßig; folgt das Gegentheil, fo handelt er zwedwidrig d. h. fo, 
vie er nicht handeln will. Ich will A haben und erreiche das 
Gegentheil von A. Dabei kann der Iwed richtig und nur bie 
Handlungsweife falſch ober thöricht fein. Wenn ich aber, gerade 
darum, weil ich A will, das Gegentheil von A erreiche, fo ift 
nicht bloß meine Handlungsweiſe, ſondern der Zweck felbft zweck⸗ 
widrig, fo handle ich nicht bloß, wie ich nicht handeln will, ſon⸗ 
bern ich will etwas, das ich nicht will; fo kann ich A unmöglich 
wollen. Mein Wille vernichtet ſich in biefem Falle felbft, er ift 
der Grund feiner eigenen Vernichtung. 

In diefem Falle nun fol ſich jeder unzechtmäßige Wille bes 
finden; er ift dann in die Lage gebracht, fich ſelbſt zu vernichten. 
Was der unrechtmäßige Wille begehrt, iſt ein Vortheil auf Koften 
und zum Schaden des Anderen: das iſt fein Zweck; bad Gegen: 


623 


theil diefes Zwecks ift das Uebel, welches ihm zuftößt, fein eigener 
NachtHeil und Schaden. Wenn nun jeded Unrecht nothwendig 
zum eigenen Schaben audfchlägt, fo ift jeder rechtöwidrige Zweck 
zweckwidrig, fo ift jeder unrechtmäßige Wille in der Lage, etwas 
zu wollen, dad er nicht will und damit fich felbft zu vernichten. 
Er ift es durch den Caufalzufammenhang zwiſchen Unrecht und 
Uebel. Diefe nothwendige Verbindung macht bad Gefeg, das 
Zwangsgeſetz. Hier if dad Princip aller Zwangsgeſetze, auf das 
fi) die peinliche Gefeßgebung gründet. Das Zwangsgeſetz ift 
diejenige Beranftaltung des Rechtsgeſetzes, kraft deren jeber un- 
techtmäßige Wille fich nothwendig felbft vernichtet. Der rechts⸗ 
widrige Wille ift fo weit gegangen, bie Rechtögrenze zu über: 
fhreiten; das Zwangsgeſetz treibt ihn durch bad Uebel, daß er 
ſich felbft vermöge beffelben zuzieht, in feine Grenzen zurüd. 
Der unachtfame Wille ift nicht weit genug gegangen, um bie 
Rechtsgrenze deutlich zu fehenz er hat ben Anderen (ohne ed zu 
wollen) befchäbige, und der Verluſt fällt auf ihn felbft zurück. 
So treibt ihn dad Zwangsgeſetz zur Vorſicht, damit er die Gren- 
zen wohl in Acht nehme. Die Folge ift, daß jeder ſich in feinen 
ihm zugemeffenen Grenzen hält, und fomit dad Gleichgewicht des 
Rechts ſich wiederherſtellt *). 

Kein Rechtszuſtand ohne Zwangsgeſetze, kein wirkſames 
Geſetz ohne Macht, ohne zwingende Macht, deren Träger nicht 
der Einzelne fein kann, fondern nur die Vereinigung ber Perſo⸗ 
nen, das Gemeinwefen, ber Staat. Kein Naturrecht ohne 
Zwangsrecht, feine zwingende Macht ohne die Herrichaft der 
Geſetze: daher iſt das Naturrecht in ber That nur im gemeinen 
Weſen und unter pofitiven Gefegen möglich; der Staat ift dad 





*) Ebendajelöft, IL. 8. 14. ©. 189— 145, 


624 
vealifirte Naturrecht, er ift nicht deſſen Aufhebung, ſondern Ber: 
wirklihung*). 
I. 
Die Staatsordnung. 
1. Aufgaben: Staatöbürgervertrag, Befeßgebung. 

Der Rechtözuftand, der zu feiner Aufredhthaltung die Zwangs⸗ 
gefege fordert, ift nur in und durch den Staat möglich. Wie ift 
der Staat felbft möglich, der Rechtöftant? Es muß eine zwin⸗ 
gende Macht errichtet werden, bie nichts anderes will und wollen 
Tann als den Rechtszweck, die Sicherheit des Rechtözuftandes, die 
Sicherheit aller. Jeder Einzelne will feine eigene Sicherheit, er 
will dieſe vor allem, er orbnet diefem feinem Privatzwedfe den 
gemeinfamen Zweck unter. Darum barf die zwingende Macht 
ober bie Gewalt niemald ein Privatwille fein, ſondern nur der 
gemeinfame Wille. Diefen zu finden iſt die erfte Aufgabe. „Es 
iſt die erfle Aufgabe des Staatsrechts und der ganzen Rechtsphi— 
tofsphie, einen Willen zu.finden, von dem es fchlechthin unmög⸗ 
lich fei, daß er ein anderer fei als der gemeinfame Wille,” ober 
was bafjelbe heißt: „einen Willen zu finden, in welchem Privat: 
wille und gemeinfamer fonthetifc vereinigt feien**).” 

Der gemeinfame Wille ift der übereinflimmende; die Weber 
einſtimmung kann nur gefunden werden durch Uebereinfunft ober 
Vertrag: es ift daher der Staatöbürgervertrag, der den gemeinfa= 
men Willen findet und feftfielt. Diefe Feſtſtellung ift dad Ge 
ſetz. Die Geſetzgebung hat zwei Aufgaben: die Feflfegung der 
Rechte und gegenüber den Rechtäverlegunger? die Fefkfegung der 


*) Ghenbafelbft. IL. $. 15. S. 145—149. 
**) Ebendaſelbſt. III Gap. $. 16. IL. S. 151. 





625 


Strafe. Die Löſung ber erſten Aufgabe gefchieht in der bilrgers 
lien, bie der zweiten in der peinlichen Gefehgebung *). 


2%. Staatögewalt und Confitution. 

Der gemeinfame Wille fei gefunden, das Geſetz fiche feſt; 
es fol herrſchen, ber gemeinfame Wille foll die Gewalt haben. 
Diefe Gewalt ift die Staatögewalt; fie führt die Gefege aus 
d. h. fie regiert. Zur Ausführung der Gefege gehört 1) die 
Macht, die Rechtsverletzung zu verhüten: bie Polizeigewalt, 
2) die. Macht zu urtheilen, ob eine Rechtöverlegung ſtattgefunden 
hat: die richterliche Gewalt, 3) die Macht, bad Unrecht zu ber 
frofen: die Strafgewalt. Die Staatögewalt regiert, richtet 
und fteaft; den Inbegriff diefer Befugnifle nennen wir bie Eres 
tutive ober die Rechtsverwaltung **). 

Nun hängt ber ganze Rechtözuftand davon ab, daß Macht 
und Geſetz vollkommen eines find. Die Staatögewalt kann nur 
gefegmäßig handeln. Was fie thut, iſt gefeblich; wenn die öf: 
fentliche Gewalt felbft ungerecht handeln könnte, fo würde eben 
dadurch die Ungerechtigkeit gefeßmäßig und der Rechtszuſtand un⸗ 
möglich. Within muß es unmöglich gemacht fein, daß fie unge 
techt handelt; es muß ein Gefeh geben, welches die Rechtsver⸗ 
waltung feft an bad Geſetz bindet: ein Gefeh zur Sicherheit bed 
Gefeges, zur Garantie, daß die Regierung nicht: gefegmibrig 
handeln Tann. Dies Geſetz iſt das Fundamentalgeſetz des Stan» 
te3 ober bad conftitutionelle***). 

Wenn diejenigen, die dad Recht zu vertreten haben, thun 


*) Ebenbafelbft, III. 8. 16, IH. ©, 152—158. 
®*) Gbenbafelbft, IIT 8.16. IV. ©, 153— 155. Del, VIL 
S. 166, 
Ebendaſelbſt. M. 8.16. V. e. 155-167. 
Bilder, Befhiäte ber Philofophie. V. 40 


626 


und laſſen Eönnen, mas fie wollen, fo ift Feine Sicherheit gege: 
ben, daß fie. gefetmäßig handeln, daß fie niemald Unrecht thun. 
Diefe Sicherheit ift nur dann vorhanden, wenn die Erecutoren 
für ihre Handlungen Rechenſchaft ablegen mäffen oder verant⸗ 
wortlich find, Der Rechtöftaat ift bebingt durch bie Beraritwort: 
lichkeit der Rechtsverwalter; ohne’ biefe Verantwortlichkeit giebt 
es keinen Rechtsſtaat. Mithin ift eine Macht möthig, der fie ver- 
antwortlich find, die dad Recht, die Erecutoten zur Rechenfchaft 
zu ziehen, und damit bie Aufgabe hat, die Rechtsverwaltung zu 
beauffichtigen: eine beauffichtigende Macht ober ein Epherat. 
Wenn Erecutive und Ephorat zufanmmenfallen, fo giebt es Fein 
Ephorat. Within müffen beide Mächte getrennt fein: in diefer 
Trennung beſteht die conftitutionelle Bedingung, vor ber bie 
Möglichkeit des Rechtsſtaats abhängt. Wie aber fol die Execu⸗ 
tive und wie bad Eyhorat gebildet werden *)? 


3. Bildung der Executive. Die Staatäformen. 

Eined leuchtet fogleich ein. Da Executive und Ephorat nie 
zufammenfallen bürfen, weil fonft Ricyter und Partei eine Per: 
ſon waren, fo fann. in feinem Fall die Gemeinde felbft (Alle) die 
Ererutive führen. Wenn bie Gemeinde felbft dad Recht verwaltet 
und Unrecht thut, wer fol fie richten? Außer ihr giebt eö Zeinen 
Richter; ed giebt niemand, der fie zur Verantwortung ziehen 
tönnte, fie iſt darum unverantwortlich, Unverantwortlich vegiexen, 
heißt deöpotifch regieren. Regiert bie Gemeinde ſelbſt, fo haben 
wir bie Demokratie; die demokratiſche Verfaſſung ift nothwendig 
despotifch, fie ift unter allen Verfaſſungen die allerunficherfte, fie 
ift nicht bloß unpolitiſch, ſondern ſchlechterdings redhtäwidrig **). 

*) Ghenbafelbft. IL. 8. 16. VI. ©. 157—160. 

**) Ebendaſelbſt III. 8.16. VI. 6, 158-— 160. 


627 


Die Ererutive Tann daher niemald bei der Gemeine felbft 
fein, weil dadurch die Möglichkeit des Ephorats ausgeſchloſſen 
wäre, Alſo kann fie nur audgelibt werben buch Vertreter ber 
Gemeine d. h. durch Repräfentanten, Diefe Vertretung erlaubt 
verfchiedene Formen, Entweder ift der mit der Staatsgewalt 
bekleidete Repräfentant Einer oder eine Koörperſchaft: im erften 
Gall ift die Verfaffung monarchifch, im zweiten republikaniſch. 
Die vegierende Körperfchaft wird entweder durchgängig gemählt 
oder ergänzt fich durchgängig durch Cooptation oder bildet ſich 
zum Theil durch Wahl, zum Theil durch Eooptation: Im erſten 
Fall haben wir die reine (vechtmäßige) Demokratie, im zweiten 
die reine Ariſtokratie, im britten eine aus beiden gemiſchte Form 
(Asiflo- Demokratie). Entweder wird der Repräfentaut geboren 
oder gewählt; wird er gewählt, fo haben wir ein Wahlreich, das 
entweder unbefchränft oder befchränkt if. Es giebt eigentlich nur 
eine wirkliche Schranke: die Geburt, If dad Wahlrecht bedingt 
durch die Geburt, fo haben wir die erbliche Ariftofratie; wird der 
Repräfentant geboren, fo haben wir die erbliche Monarchie oder 
die Adelsherrſchaft (dad Patriciat); beides vereinigt ſich in der feu⸗ 
dalen Monarchie, in welcher bie oberfte Gewalt bei dem erblichen 
König und die höchſten Staatsämter bei dem Geburtdabel find, 

Me Berfaffungen find rechtmäßig unter der Bedingung des 
Ephorats, alle find vechtäwibrig (deöpotifch) ohne dieſe Bedingung. 
Unter den rechtswidrigen kann man nur noch fragen, welche am 
wenigften zweckwidrig iſt? Offenbar die, in welcher die Regen» 
ten, wenn fie ungerecht handeln, am meiften zu fürchten haben; 

das ſind bie erblichen Gewalthaber, bie für ihre Nachkommen bes 
forgt fein müffen und bei denen daher das eigene Intereffe, wenn 
fie es richtig verflehen, ein Palliativmittel bed Ephorats bildet”). 

*) Ghenbefelbft, III. 8. 16, VL 6.161163, 

40* 


628 


Mit der Executive ift die gefeßmäßige Staatsgewalt conſti⸗ 
tuirt. Ihre Träger find Repräfentanten der Gemeine, ihre 
Macht daher Feine urfprüngliche, fondern eine fibertragene, ge 
gründet auf den befonderen Webertragungscontract, der als confli- 
tutionelles Geſetz die abſolute Uebereinftimmung aller Staatsbür⸗ 
ger fordert. Handelt es ſich um die Feſtſtellung des gemeinſamen 
Willens, fo iſt nie die Majorität, ſondern nur die vollkommene 
Einſtimmigkeit deren rechtögültiger Ausbrud, Die Nictüberein 
flimmenben müffen entweder der Majorität beipflichten, wodurch 
bie Einftimmigkeit entfleht, ober fie Bönnen in einem Staat, mit 
deffen Grundlagen fie nicht einverftanden find, nicht leben ). 

IA die Staatsgewalt feftgeftelt, fo tepräfentirt fie den ge 
meinfamen Willen, Im Unterfchiebe davon if jeber andere Wille 
Privatwille, ber fich dem gemeinfamen ſchlechterdings unterzuorbs 
nen hat; ber Staatögewalt gegenüber find die anderen Bürger 
nur ein Aggregat von Unterthanen, Feine Gemeine, kein Bolt; 
denn fle find Gemeine nur als gemeinfamer Wille, und biefer ift 
allein in der Staatögewalt rechtsgültig repräfentirt, nicht in der 
Summe ber einzelnen Bürger, 

Die Staatögewalt ift nicht Privatwille; ihre Handlungen has 
ben Beine Privatzwecke; ihre Träger müffen von Privatzweden und 
Privatperfonen unabhängig und deshalb fo geſtellt fein, daß ihre 
perſonliche Unabhängigkeit vollkommen gefichert iſt. Alle Aeußerun⸗ 
gen der Staatsgewalt ſollen mit dem Geſetz, alſo auch unter ſich 
übereinftimmen, jeder Bürger von dieſer Geſetzmaͤßigkeit und Ueber: 
einftimmung aller Regierungshandlungen überzeugt fein konnen: 
was bie Regierung thut, muß daher der öffentlichen Beurtheilung 
ausgeſetzt fein und deshalb ben Charakter voller Publicktät haben**). 

*) Ebenbafelöft. III. 8.16. VII. S. 164 fig. 

**) Ebendaſelbſt. II. $. 16. VIIL S. 1866-68, 


629 
Wenn num aber die Staatögewalt felbft das Recht verlekt, 
fei es daß fie in einem beflimmten Falle dad Geſetz nicht ausübt 
ober felbft geſetzwidrig handelt, fo ift dadurch die Einftimmigkeit 
ihrer Handlungen und damit die Gerechtigkeit felbft aufgehoben, 
nicht bloß für diefen, ſondern für alle Fälle, die vorhergehenden 
und fünftigen. Es giebt Feine Gerechtigkeit mehr. Es ift auch 
Feine Möglichkeit vorhanden, für den einzelnen Fall an.eine höhere 
Inftanz zu appelliren, denn es giebt feine höhere Inſtanz, weil 
es Beine höhere Staatögewalt geben Tann ald die höchfte. Ihre 
Rechtöfpräche find inappellabel *). 


4 Bildung ver Ephorats. 

Hier entſteht die Frage: was ſichert uns die durchgängige 
Geſetzmaßigkeit aller Handlungen der Staatsgewalt? Da es im 
Reiche ber Möglichkeit liegt, daß fie Unrecht thut, fo muß in 
ber Verfaffung bed Staats ein Zwangsgeſetz gegen dad mögliche 
Unrecht ber Staatögewalt enthalten fein, ein Geſetz, das felbft 
conftitutioneller Natur ifl, Was für ein Geſetz erfüllt diefe Bes 
dingung ? 

Die Staatögewalt ift fir ihre Handlungen zwar in jedem 
einzelnen Falle inappellabel, aber für ihre Handlungsweife übers 
haupt nicht unverantwortlih; fie muß zur Rechenfchaft gezogen, 
verantwortlich gemacht,. gerichtet werden können. Aber. wer fol 
fie richten? Offenbar nicht fie felbft fich ſelbſt; fonft wäre Rich: 
ter und Partei eine Perfon. Auch nicht der Einzelne als folcher, 
denn er ift Unterthan der Staatögewalt; alfo nur bie Gemeine. 
Nun giebt ed feinen anderen gemeinfamen Willen, als ben in 
der Staatögewalt bargeftellten, es giebt biefer gegenüber Beine 
Gemeine. Wie fol die Gemeine fie richten können? Um zu 

*) Ebendaſelbſt. III. 8.16. IX. S. 168—69, 


630 
richten, muß fie fi verfammeln, Wer fol fie zufammenberufen 
dürfen? Hier liegt die Schwierigkeit. ‚ 

Nur das Geſetz felbft kann ed thun, das Staatsgrundgeſetz. 
Es muß daher in der Gonftitution der Fall vorgefehen unb, wenn 
er eintritt, die Gemeine befugt fein, als folche zu handeln. Die 
Conſtitution könnte deßhalb die Beſtimmung getroffen haben, daß 
fih von Zeit zu Zeit die Gemeine verfammeln folle, um bie 
Rechenſchaft der Regierung abzunehmen. Aber ed wäre nicht 
zwedimäßig, die Gemeine ohne Noth zu verfammeln. Die Eon 
flitution wird daher die Verfammlung der Gemeine nur für den 
Fall der Noth beftimmt haben. Der Fall der Noth ift die Un: 
gerechtigfeit der Regierung. Fir diefen Fall wird bie Gemeine 
verfammelt, um die Staatögemalt zu richten. 

Aber vorher muß geurtheilt werden, daß der Fall der Noth 
wirklich eingetreten ift. Wer fol die Macht haben, dieſes Ur: 
theil zu fprechen? Nicht die Gemeine felbft, da fie erft durch ein 
folches Urtheil als Gemeine zufammentreten und handeln darf; 
noch weniger bie Staatsgewalt ober beliebige einzelne Perfonen. 
Alfo ift zu diefem Zweck eine befondere, durch die Conſtitution 
beſtimmte Macht nöthig, welche dad Amt hat, die Sitaatögewalt 
zu beauffichtigen, ihre Hanblungsweife zu beurtheilen, ben Fall 
der Noth zu erkennen, in diefem Fall die Gemeine zufammen zu 
rufen. Diefe Macht ift dad Ephorat*). 


5. Dad Staatsinterdiet. 

Das Ephorat iſt ald ſolches von der Staatsgewalt vollkom: 
men unabhängig, beide Gemwalten find getrennt, das Ephorat 
daher gar nicht erecutiv, fonbern nur prohibitio, nicht pofitio, 
fondern nur negativ, ähnlich wie bie römifchen Volkstribuuen. 

*) Ebenbafelbt, IIL 8. 16. IX. 6, 19-171, . 


Es extlart: bie Regierung. hat ungerecht. gehandelt; da mm die 
ganze Rechtögültigkeit der Staatögewalt in der Geſetzmaßigkeit 
aller ihrer Handlungen befteht, fo ift die (für ungerecht befun- 
dene) Staatsgewalt aufgeheben und. feine ihrer Hanbluugen mehr 
gültig. Die Macht des Ephorats ift nur prohibitiv, aber abſo⸗ 
lut prohibitio: ihr Spruch ift das Staatsinterdiet ). 

Auf diefen Spruch tritt bie Gemeine zufammen. Der Pros 
ceß wird inſtruirt; die Ephoren find bie Kläger, die Staatöger 
walt ift im Anklagezuftand, bie Gemeine ift Richter. Wird bie 
Staatsgewalt freigefprochen, fo find bie Ephoren ſchuldig, dad 
Gemeinweſen durch Aufhebung des ganzen Mechtöganges in eine 
große Gefahr gebracht zu haben. Im ſolchen Fällen ift auch der 
Irrtum ein Öffentliches Verbrechen; der Schulbige in diefem 
Fall hat ben Staat gefährdet, feine Schuld ift Hochverrath**). 

Die Ephoren felbft müffen in ihrer perfönlihen Stellung 
unabhängig fein von allen beſtechlichen Einflüffen der Staatsge⸗ 
walt und abfolut unverlegbar für jeden. Sie find ſacroſanct; 
ihre Verlegung ift Hochverrath; fie werben ernannt nicht durch 
die Staatögewalt, fondern durch bas Volk; fie haben ihre 
Macht nicht tebenslänglich, und jeder Ausſcheidende ift feinem 
Nachfolger Rechenſchaft ſchuldig über feine Amtsführung. CB 
müßten daher alle Ephoren beftechlich fein, wenn einer es if, 
Darum ift die letzte Gefahr, die es für die öffentliche Sicherheit 
giebt, fo gut als undenkbar: daß fich mämlic die Erecutpren und 
Ephoren zur Unterdrückung des Volkes vereinigen. Sollte des 
aͤußerſte Fall eintreten, fo wird entweder dad Volk fich aus freien 
Stüden erheben umd der öffentlichen Ungerechtigkeit .ein "Ende 
machen, ‚ober Einzelne werben eine Mebellion verfuchen, von der 

*), Eendaſelbſt. ILL. $. 16. IX. S. 172, 

**) Ehenbafelbft. III. &. 16. IX. 8.172177, 


682 
ren Ausgange ed abhängt, ob bad Recht die Macht haben foll 
oder nicht*). 

Die hier entwickelte Staatsordnung hat Beinen anderen Zweck, 
als den Rechtöweg zu fichern. Ie vorfichtiger für alle Fälle die 
Sicherheitdanftalten getroffen find, um fo weniger wird es nöthig 
fein fie zu brauchen. Das formulirte Geſetz nöthigt die Men: 
ſchen, bedächtig zu handeln und fich nach ber Formel zu. richten, 
wodurch man am ficherften ift, Fein Unrecht zu thun. Eben def: 
halb „ift die Formel eine der größten Wohlthaten für den Men: 
ſchen“. Wo biefe Anftalten getroffen find, find fie überflüffig, 
und nur da, wo fie nicht find, wären fie nöthig **). 

I. 
Die Gründung bed Staates: 


1. Der Eigenthumdvertrag. 

Es ift nicht genug zu fagen, daß ber Rechtsſtaat fich auf 
den Staatöbürgervertrag gründet; ed muß gezeigt werden, wie 
der Staat aus dem Bertrage hervorgeht und aus welchem? Alle 
Rechtsgemeinſchaft fordert die gegenfeitige Anerkennung ber Per⸗ 
fonen in der wechfelfeitigen Ausſchließung ihrer Freiheitöfphären. 
Da fi die perfönlichen Willendgebiete wechelfeitig anerfennen 
und ausſchließen follen, fo liegt darin, daß fie auch in einander 
gerathen und fich gegenfeitig flören können. Sie können ed, aber 
wollen es nicht; fie wollen fich gegenfeitig.nicht bekämpfen, ‚fon 
bern vertragen, alfo jeden Streit, in welchem verfchiedene Per: 
fonen biefelben Objecte beanſpruchen, gütlich beilegen.  Diefe 
Abficht ift den Perfonen gemeinfam, fonft wäre eine Rechtöge- 
meinfchaft nicht möglich; Iſt der Vertrag gefchtoffen, fo ſind 

*) Cbendaſelbſt. II. 8.16. X—XIU. 6, 177—184, 

**) Ebendaſelbſt. IT. Kl 16. XV. S. 185—187, 


683 


dadurch die verſchiedenen Willen in Rüdficht ſowohl der Form 
ald der Materie (der Objecte) wirklich geeinigt: wir haben ben 
formaliter und materialiter gemeinfamen Willen. Diefer Wille 
erſtreckt fich weiter als ber Privatzweck des Einzelnen. Ich will 
nicht bloß dad Meinige; ich verpflichte mich zugleich, das des 
Anderen nicht zu wollen, nicht zu begehren; mein Wille erſtreckt 
fi demnach mit auf die fremde Freiheitöfphäre, aber nur nega⸗ 
ti0, Wenn ic) ben Vertrag einmal verlehe, fo habe ich ihm to⸗ 
tal verlegt; er ift fo gut als vernichtet. Der Vertrag muß daher 
dauernd fein oder ald Geſetz gelten”). 

Der Vertrag loſt die möglichen (bon der Natur keineswegs 
auögefehloffenen) Streitigkeiten der Perfonen und dringt dadurch 
itre verfehiebenen Sreibeitäfphären in das richtige, Durch den ges 
meinfamen Willen felbft feſtgeſetzte Werhältnig. Der Streit 
entſteht durch Anfpruch verfchiedener Perfonen auf biefelben Ob: 
jete. Das fireitige Object kann nicht der Leib fein, niemand 
kann ben Leib des Anderen ald ben feinigen beanfpruchen; Ob⸗ 
jet des Streites find daher nur Sachen, und ber darauf bezügs 
liche Vertrag iſt Eigenthumsvertrag. Ohne Eigenthumsvertrag 
keine Rechtögemeinfchaft, Fein Staat, alfo auch fein Staatsbür⸗ 
gerertrag. Der Eigenthumsvertrag ift daher ber erfle Theil 
oder die erfle Bedingung bed Stantöbürgernertrages**). 

Diefer Satz enthält ſchon alle die Folgerimgen in fich, wel: 
de den eigenthümlich focialiftifehen Charakter ber fichte ſchen 
Politik ausmachen. Wenn nämlich der Eigenthumövertrag bie 
erſte Bedingung bed Staatöblirgervertrageö bilbet, fo können nur 


*) Grundlage bes Naturrechts. Bmeiter Theil oder angewanbtes 
Naturtecht. 1797. (. W. I Abt), A.I Bd.) J Abſchn. . 17. A. 6.191 
—194, 

**) Ebendaſelbſt. J. $. 17. B. &,195—196. 


854 


Eigentkämer Gtuatöblirger werben, fo maiffen alle Stantähärger 
Eigenthümer fein, und da feine Parfon von ber Rechtsgemeinſchaft 
und vom Staatörecht ausgeſchloſſen fein darf, fa muß jede Per 
fon Eigenthum haben. Da ferner der Staat für die Sicherheit 
des Rethtözuflandes zu forgen hat, biefe Sicherheit aber baten 
obhängt, daß jeder das Eigenthum des Anderen anerkennt unter 
der Bedingung, daß auch das. feinige anerfannt wird, abfe unter 
der Bedingung, daß auch er Eigenthämer iſtz ſo Tolgt, daß ber 
Staat baflir forgen muß, daß jeder Eigentum hat. 


2. Der Shug- und Vereimigungsvertrag: 


In dem Eigenthunsoettrage werpflichtet fid bie Derfon bloß, 
das fremde Eigenthum nicht antaften zu wollen, unter der immer 
boranögefeßten unb felbfiverfkänblichen Bedingung, daß much bad 
ihrige nicht angetaftet wird; ihr Wille in Kückſicht auf das fremde 
Eigenthum iſt vermöge diefed Vertrages bloß negativ. Das ift 
nit genug. Das Eigentum jedes Einzelnen farm verlegt wer 
ben; bie Verlegung hebt den ganzen Vertrag und. damit das 
Eigenthum felbft auf. Soll alfo der Eigenthumsvertrag gelten, 
fo ift zu feiner Sicherung ein zweiter Vertrag wöthig, welcher 
bie zweite Bebingung des Staatsbürgervertrages ausmacht: ber 
Schutzverttag. Ich verpflichte mich, das Eigenthum des Anbes 
ven nicht bloß nicht angreifen, fanbern gegen jede Verletzung 
fügen und vertheidigen zu wollen ;- bie Leiflung, zu welcher der 
Eigenthumsvertrag mich verbindet, war nur negativ; Die des 
Schufwertrages ift pofitio*). 

‚Hier entfteht eine Schwierigkeit. Wie ift die Rechtöbegrün- 
dung des Schutzvertrages möglih? Die Leiftung ift bedingt 
durch die Gegenleiftung; fie wird erft Durch dieſe rechtlich begrfin- 
y Ebendaſelbſt. L-$. 17. B. 6.197198, 


53 


det. Wie kann eine poſitive Leiſtung rechtlich begründet werben ? 
Die Gegenſeitigkeit macht auf jeder Seite die Berpflichtung zur 
Leiſtung problematifch. Jeder ſagt: ich brauche erſt zu leiften, 
wenn der Andere geleiſtet hat. So ſetzt die Beiftung auf jeder - 
Seite ſich felbft voraus. Im Vertrage verſpreche ich die Leiſtung; 

rechtöfräftig und bindend wird der Vertrag durch die Erfüllung 

bed Verſprechens; iſt diefe Erfüllung (eiftung) eine fünftige, fo 
ift der ganze Vertrag problematifch. 

Nun darf der Schugvertrag nicht problematiſch fein, denn 

fonft wäre ed aud) .der Gigenthumdvertiag. Es giebt nur eine 

Bedingung, unter der er. aufhört problematiſch zu fein: wenn 

die Erfüllung nicht. in bie Zufunft geftellt bleibt, fonbern mit 

dem Berfprechen felbft in einen Act zufommenfällt. Die Cm 

trahenten im Schutzvertrage geben ihr Verſprechen und erfüllen es 

zugleich, indem fie eine ſchücdende Macht errichten helfen welche 

im Stande ift, die Eigenthumsrechte jedes Einzelnen zu fihern. - 
Diefe Macht. ifi der Staat. Der Schutzvertrag iſt nur dann 

rechtskraftig und rechtsgultig, wenn jeder Contrahent můt dieſem 

Bertrage zugleich in den Staat eintritt oder, was daſſelbe heißt, 

Staatsbürger wird. Dadurch thut jeder dad Seinige, um deu 

Andern zu fchügens beide begeben ſich unter eine gemeinfame 

Schutzmacht. Wer iſt jetzt der Bufchligende? Wer hat den er» 

ſt en Anſpruch auf den Beiſtand jener Schutzmacht? Offendat 

nicht dieſe oder jene beſtimmte Perſon, ſondern wer zuerſt in ſei⸗ 

nem Rechte verletzt wird. Und weil ein ſolcher Angriff, je den 

treffen ann, fo find alle auf gleiche Weiſe Gegenſtand der 

Schutzmacht, d.h; jebe einzelne Perfon nicht als ſolche, ſondern) 

ald Glied des in jener gemenfamen Macht vereinigten Ganzen, 

Vie der Eigenthumvertrag zu feiner Aufrechthaltung ben Schub: 

vertrag fordert,. fo fordert dieſer ‚zu feiner- Geltung ben Verei⸗ 


63% 


nigungdvertrag, der bie Einzelnen zu Gliedern eines Gan- 
zen macht und dadurch beri gemeinfamen Willen in ein Gemein- 
weſen oder einen Staat verwandelt. So vollendet und erfüllt 
ſich in diefen beiden Bedingungen des Eigenthumd= und Schug- 
(Bereinigungö)vertraged der Staatsburgervertragꝰ). 


3. Verhältniß ded Einzelnen zum Staat”). 


Der Einzelne leiftet dem Staat, was er ihm ſchuldig iſt; 
er giebt feinen Beitrag und begründet dadurch feinen rechtsgülti⸗ 
gen Anfpruch auf den Schuß des Staates für fein ganzes Eigen: 
thum, für ben ganzen Umfang feiner perfönlichen Freiheitsſphäre. 
Die bürgerlichen Pflichten und Rechte ſtehen in Wechſelwirkung 
und bedingen fich gegenfeitig. 

Hieraus erhellt das dreifache Verhältniß des Einzelnen zum 
Staat: er ift durch die Erfüllung feiner bürgerlichen Pflichten 
Glied des Staats, Miterhalter des Ganzen, Theilhaber an ber 
Souverämetät; er ift in feinen Rechten durch die Macht des Ge— 
ſetzes gefichert ſowohl ald befchränft; überfchreitet er feine Rechte, 
verlegt er feine Pflichten, fo tritt ihm das Geſetz als richtende 
Macht gegenüber, er. wird dem Gefeg unterworfen, und zwar 
kraft des Vereinigungsvertrages, ber den Unterwerfungdvertrag 
einſchließt. So iſt das Individuum innerhalb des Staates Theil⸗ 
haber an der Souveränetät, fo weit es feine Pflichten erfüllt, 
und Unterthan im eigentlichen. Verſtande, fobald es feine Pflich- 
ten verleht. : 

Aber dad Individuum ift nicht bloß Glied des Staats; es 
gehört in den Staat nur mit. einem: Theil feiner Freiheitsſphäre, 
denn nur auf gewiffe Leiſtungen hat der. Staat rechtögültigen 

*) Ebendaſelbſt. L 8.17. B. S. 198— 204, 

*) Ebendaſelbſt. L 8. 17. B. S. 204-209. 


637 


Anſpruch; außerhalb derfelben ift das Individuum frei und nur 
von ſich felbft abhängig. Hier ift die Grenze zwilchen Menſch 
und Bürger, zwifchen Menfchheit und Bürgerthum: die menſch⸗ 
liche und perfönliche Freiheit umfaßt mehr als bloß dad Gebiet 
der bürgerlichen Rechte und Pflichten; der Staat hat die Pflicht, 
die Perfon in dem ganzen Umfange ihrer Freiheit zu fchügen, aber 
die Freiheit fällt nicht ihrem ganzen Umfange nad) in den Staat. 


Zehntes Kapitel. 


Die Politik anf Grund des Naturrechtes. 
Die Gefegebung und der geſchloſſene Handelsftaat. 


I 
Die Eivilgefeggebung. 
1. Das Recht leben zu fönnen. 

Dad Princip des Selbftbewußtfeind fordert die Rechtöge: 
meinſchaft, diefe fordert zu ihrer Verwirklichung den Staat und 
diefer zur Sicherung der Öffentlichen Gerechtigkeit die verant- 
wortliche Staatögewalt d. h. die Bildung der Erecutive und des 
Ephorats und die Trennung beider. Darin befteht die beftimmte 
Staatdordnung, deren Grundlage beftimmte Verträge auömachen. 
So weit ift die Rechtölehre entwickelt. Aber es ift nicht genug 
zu fagen, daß im Staat die Gefege herrſchen; ed muß gezeigt 
werben, welcher Art die Gefege find, deren Herrfchaft den Rechts: 
flaat ausmacht. Es ift nicht genug, die Sicherheit der Gefeheö- 
hertſchaft in einer beflimmten Staatöform zu fordern; ed muß 
gezeigt werben, mit welchen Mitteln diefe Sicherheit wirklich er- 
reicht wird. Es handelt ſich in der Löfung biefer Fragen um die 
Anwendung bed Naturrechts d. h. um die auf dad Naturrecht ge 
gründete Politik. 

Was der Staat fehügen foll, find die durch ben Eigenthumds 


63 


vertrag · feſigeſetzten, im Staatsburgervertrage beflätigten Rechtt 
der Einzelnen. Das feftgefegte und beſtätigte Recht iſt Geſetz; das 
Geſetz, welches die Grenzen des Mein und Dein feſtſtellt, iſt das 
Civilgeſetz. Worin beſtehen bie zu ſchuüthenden Eigenthumsrechte? 

Alles Eigenthum if anerkannter Beſitz; aller Beſitz beſteht 
in dem ausſchließeaden Gebrauche gewiſſer Objerte, alſo in einer 
durch Zwece beſtimmten Thatigkeit, die jede fremde Einmiſchung 
ausfchließt. Nun geht jede durch Zwecke beſtimmte Thätigfeit 
von der Gegenwart in die Zukunft. Ohne Biel (d. h. Zufmft) 
feine gegenwärtige Thätigkeit, ohne dieſe keine künftige, keine 
Erreichung des Zield. Alle Thatigkeit mithin if bedingt durch 
einen in die Zukunft gerichteten Willen, der nicht:möglich.ift ohne 
den gegenmärtigen. Wunſch nach Fortdauer. Segen wir die Fort 
bauer als gefiährbet, ſo iſt das Lehemögefühl geheunnt; das Ge: 
fühl dieſer Hemmung iſt Schmerz, Gefühl des Mangels, Bes 
durfniß, Lebensbedürfniß, dad enpfunden witb als Hunger und 
Durſt. Det Wanſch nach Fortdauer.ift zunachſt der Trieb, dies 
Bedurfnißz zu befriedigen, der Trieb, legen zu Böanen, der 
Nohrungstrieb: die erfle und urfprünglice Triebfeder unſerer 
Thatigkeit. Jeder will leben können; bie Objecte, um leben zu 
Tönnen,. ſind die Lebensmittel; jeber will die zu feiner Erhaltung 
nothigen Lebenämittel haben, und da aller Beſit durch die eigene 
Thatigkeit bedingt if, fo will jeder durch jeine Thatigkeit ſich 
die näthigen Lebensmittel verſchaffen aber, was daßſelbe beißt, 
von feine Arbeit leben Können”). ‘ 

Die Möghehleit, fein leibliches Daſein fett au erhalten, 
if offenbar die erfte Bedingung.heh perſonlichen Daſeins in deu 
Einnenwelt und ber Fortbawer heffeiben, alſo ein Urrecht der 





*) Ebendeſelbſt. N Wehen. & 18. & 210-218, 


0 


Perfon: das erfle aller Urrechte, ein nothwenbig anzuerkennendes, 
zu beflätigenbeö, zu fligendes Recht. 


% Das Recht auf Arbeit. 

Wenn jemand nicht fo viel hat, um leben zu Fönnen, fo 
bat er nicht, was er zu haben berechtigt iſt; er hat das Seinige 
wicht. Er anerkennt das fremde Eigenthum unter der Bebingung, 
daß auch das feinige anerkannt wird; nun befigt er nichts; alfo 
fehlt materiell die Bedingung, unter weldyer feine Anerkennung 
erfolgt und nach dem Rechtsſatz allein beanfprucht werden barf. 
Bo bleibt ihm gegenüber die Sicherheit des fremden Eigentums? 
Wo bleibt, wenn auch nur Einer Noth leidet, die Sicherheit 
Aller? Der Nothftand ift eine Sicherheitsfrage. Der Staat 
fol für die. Sicherheit ſorgen; alfo darf er Feinen Nothſtand dul⸗ 
den®), 

Es darf im Staate Beinen geben, der nicht von feiner Ar 
beit lebt und leben Tann, weber Müffiggämger nach Nothleidende, 
Mithin muß der Staat dad Recht haben, die Datigkeit ber 
Einzeinen zu beauffichtigen, um ben Müffiggang zu verhindern, 
und bie Macht, Unterfiügumgsanftalten zu gründen, um ben Ar 
men zu helfen. Unterftügungsanftalten find Sicherheitsanftalten. 
Iedem Gliede des Staats ift das Recht, eine Perfon zu fein (Ur 
vecht) gewährleiftet, alfo in erfler Linie das Recht, leben zu 
trmen: „baher hat der Arme ein abfolutes Zwangsrecht auf Un» 
terflügung.” Jeder ſoll von feiner Arbeit leben können: mithin 
hat jedes Mitglied des Staats (nicht. bloß die Pflicht zur, fon 
bern) auch dad Recht auf Arbeit. 

Es wird daher die bürgerliche Gefekgebung fo eingerichtet 
fein müffen, daß der Staat diefe Aufgaben löfen, biefe Bedin⸗ 
Tr) Erendaſelbſt. IL. 8.18, &, 212-218, 


64 


gungen erfüllen, jebem feiner Bürger dad Recht auf Arbeit und 
Eigentum fihern kann. Diefer Geſichtspunkt macht den fichte“ 
ſchen Staat focialiftifch und hat unter anderem auch die Theo- 
tie des gefchloffenen Handelsſtaats zu feiner Folge. 

Die erſte Aufgabe des Staats ift bedingt durch das erfte 
aller Urrechte: er foll jedem das Necht fichern, durch feine Arbeit 
leben zu können. Diefe erfte Aufgabe und ihre Löſung ift durchs 
aus focialötonomifh. Der Staat hat dafür zu forgen, daß 
1) die zum Lebensbedürfniß nöthigen Objecte in einer der Anzahl 
der Bürger entfprechenden Menge durch Arbeit erzeugt werben, 
2) daß jeder durch feine Arbeit erwerben kann, was er braucht, 


35. Die dffentlihen Arbeitözmweige. 

Die nächften für das Lebensbedurfniß nothwendigen Objecte 
find Erzeugniffe der Natur, die durch menfchliche Arbeit hervor 
gebracht werben müſſen: die erfte und wichtigfte Arbeit ift daher 
die natürliche Production; die zweite Aufgabe ift die durch bie 
menfchlichen Lebenszwecke geforderte Verarbeitung der Naturpro= 
ducte (des Rohftoffs): die technifche Arbeit, deren Ergebniß das 
Kunftproduct ober Fabrikat iſtz jeder muß durch feine Arbeit er= 
werben können, was er braucht, der Producent die ihm nöthigen 
Fabrikate, der technifche Arbeiter die ihm nöthigen Naturproducte 
(Lebensmittel) ; die dritte Aufgabe ift daher, daß Producte und 
Fabrikate gegen einander umgetaufcht werben: bie Arbeit, welche 
diefen Tauſch vermittelt, iſt der Handel. Mithin fordert der Staat 
zur Löſung feiner öfonomifchen Aufgabe drei öffentliche Arbeits 
äweige: natürliche Production, Fabrikation, Handel; er fordert 
dem gemäß drei Arbeitöftände: Probucenten, Fabrikanten, Kauf 
leute”). 

*) Ebendaſelbſt. IL. 8. 19. A-E. & 217—237, 

Sifer, Geſqhicte der Phllofophie V. 4 


642 


4. Die natürlige Production. 
(Aderban und Bergbau, Biehzucht und Jagd.) 


Die natürlihe Production bezieht fih auf Minerale, 
Pflanzen und Thiere. Die beiden erften Reiche gehören dem 
Boden an. Der Gegenftand der natürlichen Production ift Daher 
1) Grund und Boden, 2) die Thiere; in der erſten Rückſicht ift 
die Arbeit der natürlichen Production Aderbau und Bergbau, in 
der zweiten Viehzucht und Jagd. Aderbau und Viehzucht haben 
es mit der Eultur der Objecte zu thun, mit dem Anbau des Bo- 
dens, mit der Zähmung, Pflege und dem Gebrauch der Thiere. 
Bergbau und Jagd Fönnen ihre Objecte nicht durch Eultur erzeu⸗ 
gen, ſondern haben fie zu finden; der Bergbau die Minerale, um 
fie an die Oberwelt zu fchaffen, wo fie dann weiter für menſch⸗ 
liche Lebenszwecke nugbar gemacht werden; bie Jagd die wilden 
Thiere, um fie zu vernichten und durch ihre Vernichtung theils 
dem Aderbau zu nügen, dem diefe Thiere ſchaden, theild ein 
Material zu liefern, welches für menfchlice Lebenszwecke weiter 
nugbar gemacht werden kann. 

Was die Perfon erarbeitet, ift ihr Product, ihr Beſitz und 
durch die Anerkennung von Seiten des Geſetzes ihr Eigenthum. 
Alle natürlichen Probucte, die durch Cultur (ded Bodens und 
der Thiere) gewonnen werden, fallen in den perfönlichen Beſitz 
und können daher gefegmäßiges Privateigentyum fein. Anders 
verhält es ſich mit den Dingen, welche die Natur allein produs 
cirt und die nur zu finden find. Es liegt in den Bedingungen 
des Bergbaued, daß er mit den vereinigten Kräften und Mitteln 
einer fortdauernden Gefellfchaft beffer und zweckmaͤßiger betrieben 
werden Tann, als durch den Einzelnen; daß daher am beften der 
Staat den Bergbau beforgen wird und die Producte deſſelben 


643 


Staatseigenthum ober natürliches Regal find. Die Geſetzgebung 
bat hier im Einzelnen die Grenzen zu beftimmen zwiſchen Res 
gal und Privatbefig. Es liegt in ber Natur der Jagd, deren 
nächfter Zweck die Sicherung des Aderbaues ift, daß ihre Arbeit 
dem zur Laft fällt, der die öffentliche Sicherheit zu beforgen hat, 
alfo der Obrigkeit; da aber das erlegte Wild zugleich Vortheile 
gewährt, auf welche die Obrigkeit Teinen Anfpruch hat und die 
Privateigenthum fein können, fo muß bie Obrigkeit die Jagdge⸗ 
tehtigfeit an Privatperfonen veräußern und zu diefem Zweck bad 
äußere Gebiet derfelben in einzelne Reviere einteilen. Auch hier 
wird die Geſetzgebung zu beflimmen haben, wie weit die natür⸗ 
liche Jagdgerechtigkeit des Landeigenthümers reicht. 

Die Producte des Aderbaues und der Viehzucht fallen in 
den Privatbefig; das Culturland und die zahmen Thiere können 
und müſſen Privateigenthum fein, fo weit der Staat keinen An- 
ſptuch darauf hat. Alles Eigenthum, welches erft durch den 
Staat gefichert und damit rechtögültig wird, ift dem Staäte ver- 
pflichtet; diefer hat daher Anfpruc auf einen Theil des Eigen- 
thums, auf einen Theil der Producte. Cine gewiſſe Abgabe ift 
der Eigentümer dem Staate ſchuldig und leiftet fie zunächft in 
Probucten oder Naturalien felbft. Nach diefem Abzug iſt das 
Uebrige abfolutes Privateigenthum *). 


5. Die Fabrikation (Zünfte). 

Die Verarbeitung ber Naturproducte zum Dienfte der menſch⸗ 
lichen Lebenszwede ift die Aufgabe der Techniker oder Künſtler, 
wie fie Fichte im weiteften Sinne des Wortd nennt, Die öffent: 
liche Arbeit ift notwendig geteilt; nur ein beflimmter Theil 
der Bürger ift zur Fabrikation ausſchließend berechtigt und 

**) Ghenbafelbft, IL. 8. 19. A—C. 6. 217231. 

41* 


644 


bildet daher einen gefchloffenen Arbeitöftand oder eine Zunft. Da 
nun bie Fabrifation felbft wieder in fo viele verfchiedene Arbeits: 
zweige fich theilt, fo bilden die Fabrikanten fo viele verfchiedene 
Bünfte. Die Gewerbefreiheit ift damit auögefchloffen. Nur biefe 
Bürger haben dad Recht, biefe beflimmten Fabrikate zu machen; 
nur von ihnen bürfen bie anderen Bürger diefe Fabrikate kaufen. 
Der Staat wird daher Sorge tragen müffen, daß die gelieferten 
Arbeiten gut, die Fabrikanten alfo zu ihrer Arbeit nicht bloß berech⸗ 
tigt, ſondern auch befähigt find; er wird mithin bad Recht dazu 
nicht ohne Prüfung erteilen bürfen. Zu diefer Prüfung find ber 
flimmte Regierungscollegien nöthig, die am beften mit den Zünfs 
ten felbft zufammenfallen *). 


6. Der Handel. 

Der Fabritant muß von feiner Arbeit leben können. Dazu 
braucht er Naturprobucte und muß diefe daher buch feine Fa⸗ 
brifate erwerben können. So ift der Tauſch zwifchen Natur: 
producten und Fabrikaten nothwendig. Was ift zu biefem Tauſche 
nothwendig? Offenbar vor allem fo viele Naturproducte, daß da⸗ 
von die Fabrifanten auch leben können: die Zahl der Fabrifanten 
ift demnach bedingt durch die der Producenten und durch die Maffe 
der innerhalb des Staats erzeugten Producte. Auch muß bet 
Tauſch in jedem Augenblicke ftattfinden Fönnen; daher ift ein fort- 
währender, ununterbrochener Umtaufch nothwendig, ber die be 
ſondere Arbeit der Kaufleute erfordert. Nur diefe find zu dieſer 
Arbeit berechtigt, nur fie Dürfen Producte und Fabrikate kaufen und 
verkaufen und müffen von diefer ihrer Arbeit leben können: ihre Zahl 
ift daher abhängig von der Zahl der Probucenten und Fabrikanten. 

Nun ift der Tauſch aber nur möglich, wenn bie Producen- 

*) Ghenbafelbft. IL. $. 19. D. &.123— 234. 


645 


ten verkaufen. Was fie zu verkaufen haben, ift ihr abfolutes 
Privateigenthum; fie haben darüber die ausfchließende Verfügung 
und können daher den Preis fo hoch ftellen als fie wollen. Ihre 
Producte find die nothwendigften; können fie den Preis derfelben 
nach Willkür fleigern, fo liegt e8 in ihrer Hand, die anderen 
Bürger in Nothftand zu bringen. Aber der Staat darf den Noth: 
fland nicht dulden, den bie Producenten hervorrufen können. 
Er muß daher im Stande fein, den Preis ber Lebensmittel auf 
ein beftimmtes Maß herabzufegen, ohne deßhalb die Producenten 
zu zwingen. Das kann er nur, wenn er im Verkaufe der zum 
Leben nothwendigen Producte mit den Probucenten und ber zur 
Arbeit notwendigen Fabrikate mit den Fabrikanten concurrirt: 
diefe Concurrenz ift möglich dur Staatsmagazine, und buch 
die Naturalabgaben der Bürger ift der Staat im Beſitz folder 
Magazine *). 


7. Das Gelb. 

Der Staat fann auf ben Preis der Lebensmittel beſtimmend 
einwirken. Aber wie will er die Probucenten nöthigen, überhaupt 
zu verfaufen? Er darf in das abfolute Eigenthumsrecht nicht 
eingveifen, vielmehr ift er verpflichtet, daffelbe in feinem ganzen 
Umfange zu ſchützen. Und doch muß er fordern, daß bie Lebens⸗ 
mittel verfauft werben, denn ber Stoff biefer Producte ift den 
anderen Bürgern unentbehrlich. Alfo ift der Staat genöthigt, 
Anfpruch zu machen auf den Stoff des Eigenthumd, ohne auf das 
Eigenthum ſelbſt Anfpruch machen zu dürfen; er muß daher dad 
Eigenthum felbft unabhängig machen von feinem Stoff, d.h. er 
muß eine Form erfinden, die alles Eigenthum repräfentirt, ben 
Werth aller Objecte: diefe Form ift dad Geld, das Zeichen, für 

*) Ehendafelöft, IL 9.19, E. 6, 234—237, 


646 


welches im Staat zu jeder Zeit alles zu haben ift, was man 
braucht. Die Summe des im Staate umlaufenden Geldes ve 
präfentirt ben Inbegriff alles Werkäuflichen auf der Oberfläche 
des Staatd. Beide Größen bleiben in einem beftändigen Ver⸗ 
haltniß. Iſt die Menge des Geldes größer ald die der Waaren, 
fo werden diefe um fo theurer und dad Geld um fo billiger, ebenfo 
umgekehrt. Der Staat macht das Geld, er giebt ihm die Gel: 
tung, die daher nur conventionell iſt. Je weniger der Stoff, 
aus welchem dad Geld gemacht wird, unter die Waaren gehört 
oder felbft ein zwedtmäßiges und werthvolles Object iſt, um fo 
zwedcmaßiger ift dad Geld; es repräfentirt bloß den Werth der 
Dinge, ohne felbft einen anderen Werth, ald bie conventionelle 
Geltung zu haben. Daher empfiehlt fich bad Papier: und Le: 
dergeld, beffen Geltung nur fo weit reicht, als der Staat, der 
fie ihm giebt. Zugleich fordert der Weltverkehr die Eriftenz ei: 
nes durch feinen Stoff (feltener und werthuoller Metalle) überall 
gültigen Kaufmitteld d. h. Gold: und Silbergeld: Weltgeld im 
Unterfchiede vom bloßen andeögelbe*). 


8. Dad Haustcht. 

Daß in Geld verwandelte Eigenthum iſt reines ober abfolu- 
tes Eigenthum: es ift bad, was jedem von den Probucten feiner 
Arbeit übrig bleibt nach Abzug aller dem Staate ſchuldigen Ab- 
gaben und Leiftungen. An biefes Eigenthum hat daher der Staat 
gar feinen Anſpruch; Abgaben vom Gelbbefig find, wie ſich Fichte 
ausbrüdt, „abfurd“, denn es find Abgaben von etwas, das erft 
dann mein ift, nachdem ich alle dem Staate ſchuldigen Abgaben 
geleiftet habe, 

N, 


*) Gienbafelö, IL 9.19, F. 6, 287— 239, 


647 


Wohl aber hat der Staat die Pflicht, dieſes mein reines Eis 
genthum zu ſchützen: er hat demnach etwas zu fügen, deſſen 
Beftand er nicht näher kennt, auch zu unterfuchen Fein Recht 
hat; er kann daher den Geldbeſitz der einzelnen Perfon nicht Direct, 
fondern nur indirect ſchützen, indem er den Ort fichert, in welchem 
die Perfon mit ihrem reinen Eigenthume fich ausſchließend aufhält: 
das iſt die Wohnung. 8 giebt eine perfönliche Freiheitöfphäre, 
welche vom Staate unabhängig und deßhalb von ihm nicht anges 
taftet fondern nur geſchützt werden barf: das Privathaus. Je— 
der ift Herr in feinem Haufe; Feiner darf mein Haus betreten, 
ohne daß ich es will; er muß anklopfen und ic) herein fagen, be 
vor er eintreten darf: der Niegel des Haufes ift die Grenze zwis 
ſchen der Staatögewalt und Privatgewalt; die öffentliche Gewalt 
reicht bis zum Schloffe des Haufes, nicht weiter. Der häusliche 
Verkehr fleht nicht unter der Aufficht des Staats, nicht unmittel: 
bar unter der Hut ber Geſetze; feine Sicherheit ruht allein in dem 
perfönlichen gegenfeitigen Vertrauen. Hier, wenn irgendwo, 
muß Treu und Glaube gelten. Eben darum ift das Gaftrecht 
heilig, weil e Feine andere Grundlage hat ald diefe. Ein Menfch, 
dem Treu und Glaube nichts gelten, ift im häuslichen Leben 
Gift. Und gegen dieſe Vergiftung des haͤuslichen Verkehrs durch 
ehrlofe Perfonen Tann der Staat das Haus nur [hügen, fo weit 
er im Stande und durch die Gefege berechtigt iſt, die Ehrloſig⸗ 
keit öffentlich zu kennzeichnen )). 


9. Kauf. Schenkung. Teſtament. 


Das Eigenthum entſteht zunächft durch Arbeit, dann durch 
Uebertragung, durch Dereliction von ber einen und Acquifition 


*) Ebendajelbft, IL. 8.19, F. ©. 240. G—H. 6, 24046, 


648 


von ber anderen Seite. Uebertragung kann gefchehen burch Kauf- 
contract, Schenkung (Erwerbung ohne Yequivalent) und Teſta⸗ 
ment. &o weit dad Eigenthum unter die Aufficht des Staats 
fäUt (darunter fällt alles Eigenthum mit Ausnahme des Geldes 
und der Dinge, welche innerhalb der häuslichen Sphäre liegen, 
alfo alles relative Eigenthum), muß ber Staat wiflen, wer 
Eigenthümer if. Die Veränderung ber Eigenthümer darf daher 
nicht ohne öffentliche Anerkennung und Beftätigung flattfinden, 
die Uebertragungöverträge nicht ohne gerichtliche Form. 

Die Rechte Überhaupt find bedingt durch das Dafein der 
Perfonen in der Sinnenwelt. Dieſes perfönliche Dafein hebt 
der Tod auf. Was macht ein Teſtament, das doc ben Willen 
eines Todten auöfpricht, rechtsgültig? Es ift nicht der Wille 
des Todten, fondern des Lebenden, der Rechtökraft ausübt und 
in Rüdfiht auf fein Vermächtniß (lebten Willen) die Rechtögül: 
tigkeit fordert. Die Ueberzeugung von ber Gültigkeit der Teſta⸗ 
mente ift ein Gut für den Lebenden und ein Motiv feiner. Arbeit, 
Jeder im Staat ift Eigenthümer; jeder will die Ueberzeugung ha⸗ 
ben, daß fein Bermächtniß gelten wird, bie fichere Ueberzeugung, 
die nur möglich ift durch die gefeßliche Geltung der Teſtamente. 
Es ift demnach der allgemeine Wille d. h. der Wille aller Einzel: 
nen (volonte de tous), der den Teſtamenten gefegliche Rechtögül- 
tigkeit verfchafft, ohne welche jedes hinterlaffene Eigenthum her⸗ 
renloſes Gut fein und darum Staatögut werden wiirde). 


2. 
Der gefhloffene Handelsftaat. 
Wir kennen jet den Umfang und bie Befchaffenheit ber 


*) Ebendaſelbſt. IL 8.19. K. ©. 255— 259. 


649 


Rechte, welche die allgemeine Anerkennung fordern und bebirfen, 
deren Sicherung daher die Aufgabe und den Zweck des Staats 
ausmacht. Obgleich Fichte feine Theorie vom gefchloffenen Han 
delsſtaate nicht in feiner Rechtölehre felbft behandelt hat, fo ift fie 
doch unmittelbar in diefer begründet und nur aus ihr zu verfiehen. 
Darum ift in dem Zufammenhange der fichte ſchen Philofophie hier 
der Punkt, davon zu reden *). 

Der Staat fol dad Eigenthum ſichern, alfo auch die Be: 
dingungen, welche dad Eigenthum erzeugen, d. h. Arbeit und 
Abſatz. Diefe Bedingungen folen jedem Staatsbürger gefichert 
fein. Alſo muß auch ber Staat die Bedingungen in feiner Macht 
haben, unter denen er allein im Stande ift, jene Garantie zu 
leiften. Nun fordern die Lebensbedürfniſſe die Arbeit der Pro: 
buction, Fabrikation und des Handels: es ift daher die Theilung 
der Öffentlichen Arbeit in Arbeitözweige und Arbeitöftände noth- 
wendig. Die Grumdlage des Staats ift ökonomiſch, landwirth⸗ 
ſchaftlich. Nach der Zahl der Probucenten muß fich die ber Fa: 
brikanten, nad) beiden die der Kaufleute richten. Diefes Ver: 
haltniß muß der Staat feftfegen ımd veguliven, fonft kann er die 
Garantie nicht leiſten, die er leiſten fol. Es ift das Gleichge: 
wicht des Verkehrs im Staate, welches den Nothſtand unmöglich 
macht **). 

Diefes Gleichgericht herzuftellen und zu erhalten, muß der 
Staat die Arbeits und Erwerbszweige fehließen. Daher Aus: 
fchließung ber Gewerbefreiheit. Nun fol der Handel den Tauſch 
der Probucte und Fabrikate vermitteln; er ift alfo bedingt durch 


*) Der geſchloſſene Handelsſtaat. Ein philoſophiſcher Entwurf als 
Anhang zur Rechtslehre und Probe einer fünftig zu liefernden Politik. 
1800. S. W. I Abth. A. I Band. 

**) Der gefehlofiene Handelsſtaat. J Buch. I Cap. 


650 

die beiden Arbeitözweige der Producenten und Fabrikanten; rer: 
den diefe gefchloffen, fo ift Die nothiwendige Folge davon die Schlie: 
ßung des Handels. Das Gleichgewicht des Verkehrs ſoll nicht 
geftört werden dürfen. Setzen wir nun, daß einheimiſche Pro- 
ducte und Fabrikate auögeführt, ausländifche eingeführt werden, 
fo ift jenes Gleichgewicht geftört. Es ift geftört durch den Han⸗ 
del mit dem Auslande. Daher Ausfchliegung des Freihandels, 
wie ber Geiwerbefreiheit. Wie der Staat in Rüdfiht der Ge 
fetzgebung und ber richterlichen Gewalt ein ausſchließendes Ganze 
für ſich ausmacht, fo fol er ein folches Ganze für ſich auch in 
Rüdficht des Handels fein: „geihloffener Handelsftaat”. 
Daher Ausſchließung nicht bloß des Freihandeld, fondern auch 
der Schußzölle, die Defraubationen und Schleichhandel, dieſen 
heimlichen Handelskrieg, zur Folge haben *). 

Die Bedingung ded Welthandel ift das Weltgelb: der 
Staat hebt diefe Bedingung auf, indem er Kandeögeld einführt. 
Die Bedingung des gefchloffenen Hanbelöftaates iſt die ausrei⸗ 
chende Production des eigenen Landes und bie Pflege ber einheis 
mifchen Induſtrie; die erfte Bedingung aber der ausreichenden 
Production if, daß die Natur des Staatsgebietes diefelbe ermög- 
licht. Ein Staat, der diefe natürlichen Bedingungen nicht hat, 
entbehrt die Grundlage einer felbftftändigen Eriftenz. Fichte 
nennt diefe Bedingung „die natürlichen Grenzen des Staats‘. 
Ein gefchloffener Handelsftaat ift nur möglich, wenn der Staat 
feine natürlichen Grenzen hat d. h. in feinem Lande alle Bebin- 
gungen befist zur ausreichenden Production. 

Die Mängel der eigenen Lanbeöbefchaffenheit und der einhei⸗ 
miſchen Arbeit machen den Handel mit dem Auslande nothwendig. 


*) Ebendaſelbſt. JBuch. I Cap. Zu vgl. VII Cap. u. II Bud. 
VI Cap. 


"651 
Aber diefer Handel ſoll nicht bei den Kaufleuten, fondern beim 
Staate felbft fein; diefer allein foll deshalb mit dem Monopole 
des Welthandel, das er durch ein dazu beſtimmtes Handelöcolles 
gium verwalten läßt, auch dad Weltgeld haben dürfen*). 

Allerdings wird durch eine ſolche Schließung des Handels⸗ 
ſtaats der Verkehr der Einzelnen mit dem Audlande gehemmt, 
der perfönliche Luxus eingefchränkt und die Lebensannehmlichkeiz 
ten vermindert. Aber in demfelben Grade wird ber National 
charakter in feiner Eigenthümlichkeit auögeprägt, der Lebensgenuß 
und die Sitten vereinfacht. Mit dem Gleichgewichte ded Ver- 
kehrs wird zugleich ber öffentliche Wohlftand erhalten, die Noth 
und damit die Vergehungen aus Noth vermindert, bie innere 
und äußere Sicherheit ded Staates befeſtigt. Wo aber bleibt 
diefem gefchloffenen Handelöftaat gegenüber das Fosmopolitifche 
Intereffe der Völker, das Intereſſe der Menfchheit und die Bes 
förderung der Humanität? Dieſes Intereffe, antwortet Fichte, 
liegt nicht im Handel, fondern in der Wiſſenſchaft; fie allein 
macht den Bufammenhang der Menfchheit**). 

Bir brauchen den Widerfpruch nicht erft hervorzuheben zwi⸗ 
fchen diefer Theorie und einer Zeit, in welcher die entgegengeſetz⸗ 
ten Syſteme der Gewerbe und Handelöfreiheit fiegreich fortfchreis 
ten. Fichte's politifche Ideen haben etwas Lycurgiſches, und die 
heutige Welt ift und will alles Andere cher fein als ſpartaniſch. 
Der eigentliche Beweggrund ift focialiftifch, und in diefer Richtung 
hängt Zichte'8 Politik mit unferem Jahrhundert zufammen. Sie 
fordert vom Staat, daß er die Armuth unmöglich mache und 
allen feinen Bürgern Arbeit und Abſatz garantire; fie berechtigt 
deßhalb den Staat zu Einfepränkungen, welche die Ausfchliegung 

*) Chenbafelbft. III Bug. III— VI Cap. 

*) Ebendaſelbſt. III Bud. VII u. VII Cap. 


652 


der Gewerbe: und Handelöfreiheit zur Folge haben. Man muß 
diefe Folgerungen aus ihrem nächflen Motive beurtheilen, welches 
zur Löſung der ölonomifchen Staatsaufgabe die politifch richtigen 
Mittel zu finden fucht, und nicht etwa meinen, baß die Prin- 
cipien ber Wiffenfchaftslehre felbft mit der Geltung dieſer ſocial⸗ 
öfonomifchen Zheorie folidarifch verknüpft find, 


II. 
Die peinliche Geſetzgebung. 
‚1. Ausfhliegung und Abbüpung. Das Strafgefeh. 

Der Staat fichert das Recht durch bad Geſetz. Wie (dügt 
er das Geſetz felbft gegen die geſetzwidrige, das Recht verlegende 
Handlung? Iede gefegwidrige Handlung ift eine Nichtanerken: 
nung des Gefeged und als folche im Widerftreit mit der Grund» 
bedingung des ſtaatsbilrgerlichen Lebens; fie hebt den Vertrag 
auf, welcher den Staat zum Schuge ded Bürgers verpflichtet. 
Wer gefeßwidrig handelt, fteht nicht mehr unter dem Geſetz, er 
iſt außer demfelben, außer der Rechtöficherheit, alfo fo gut als 
rechtslos, exlex (vogelfrei), 

Nun aber ift der Zweck des Staats die Sicherung und da⸗ 
rum Erhaltung der Einzelnen, foweit es die öffentliche Sicherheit 
erlaubt. Wenn ed daher ein Mittel giebt, wodurch jene Aus: 
ſchließung (welche der Vernichtung gleichlommt) vermieden wer- 
den Tann, ohne bie öffentliche Sicherheit zu gefährden, fo wird 
es dem Staatszweck entſprechen, baffelbe an die Stelle der Aus- 
ſchließung zu fegen. Dieſes Mittel ift die Abbüßung: Abbüßung 
im Staate ſtatt Ausſchließung aus dem Staate. Natürlich darf 
es nicht die Wilfür fein, welche der Yusfchliegung die Abbüßung 
vorzieht, weder die Willkür des Einzelnen noch die der Staats: 
gemalt. Die Abbüßung ift vorgedacht im Geſetze. Jede geſetz⸗ 


"653 
widrige Handlung ſoll (menn es bie öffentliche Sicherheit zuläßt) 
im Staat abgebüßt werden dürfen; der Verbrecher hat das Recht, 
flatt der Ausfchließung bie Abbüßung zu verlangen; ber Staat 
hat die Pflicht, fie ihm aufzuerlegen. Diefer „Abbüßungsver- 
trag” gehört in den Staatöbürgervertrag und bildet einen Theil 
defjelben*). 

Das Gefeg erklärt: wer gewiffe gefeßrwibrige Handlungen 
begeht, fol diefelben auf beftimmte Weife abbüßen; es droht bie 
Abbüßung an, in der Abſicht, die gefeßwidrige Handlung zu ver: 
hüten. Wird fie dennoch begangen, fo muß jene Androhung 
ausgeführt werben, weil fonft das Gefe& Fein Gefeg wäre. Die 
Ausführung ift die Strafe. Das Gefeg, welches die Strafe an: 
droht und beftimmt, ift dad Strafgefes und feine Macht die 
Strafgewalt, die mit der Staatögewalt zufammenfält. Die 
bürgerliche Gefeßgebung wird gefchligt durch bie peinliche, die 
dem gefeßwidrigen Willen dad Gegengewicht hält **). 

Durch die Abbüßung wird die Ausfchliegung vermieden, bie, 
auf alle Fälle der Gefegesübertretung angewendet, dem Staatd: 
zweck zuwider fein würde. Indeſſen giebt e8 Fälle, in denen der 
Staatözwed oder die öffentliche Sicherheit die Ausſchließung for⸗ 
dert. Nicht in allen Fällen alfo ift die Abbüßung anwendbar, 
und ihre Anwendung ift nicht überall, wo fie ftattfindet, dieſelbe. 
Wie weit erfiredt ſich die Möglichkeit der Abbüßung? Wie weit 
reicht dad Strafrecht? 

Das Princip des Strafgefeges überhaupt ift ſchon feftgeftellt: 
wer fremde Rechte verlegt, verlegt eben dadurch fich felbft; die 
nothwendige und unfehlbare Wirkung feiner dem Anderen ſchäd⸗ 

) Grundig. bes Naturrechts. II Theil. IL Abſchn. 8. 20. (S. W. 
IIAbth. A. IB.) ©. 260. 

**) Ehenbafelbft, IL. 8.20. ©. 261—263, 


. 054 
lichen Handlung ift fein eigener Schaden. Wie die Urfache, fo 
die Wirkung. Er wird einen ebenfo großen Verluſt erleiden 
müſſen, als er dem Anderen durch feine Handlung zugefügt hat. 
Das Princip der Strafe ift dad des gleichen Verluſtes (poena 
talionis). Wie weit reicht diefes Princip? Auf welde Ber- 
gehungen ift es anwendbar? 


2. Arten ded Verbrechens. 

Wir müffen die Arten und Grabe der Gefegesübertretung 
unterfcheiden, um bie Grenze und Art der Abbüßung zu beflim: 
men. Wir unterfcheiden den materialiter und formaliter rechts⸗ 
widrigen Willen: er ift materialiter rechtöwidrig, wenn er dem 
Andern fchadet entweder aus Unachtfamkeit oder um des eigenen 
Vortheils willen ; er ift formaliter rechtswidrig, wenn er fchabet, 
um zu fchaden. Das Gefe bezweckt die Sicherheit aller, darum 
die jedes Einzelnen. Wer daher den Schaden des Andern be 
zwedt, will das Gegentheil des Geſetzes; ein folder ift abfolut 
geſetzwidrig und begeht in feiner Handlung ein Verbrechen gegen 
den Staat felbft, der Dadurch entweder unmittelbar oder mittel: 
bar getroffen wird: im erften Fall ift dad Verbrechen politifcher, 
im zweiten privater Natur. Auch das legtere ift Verbrechen ges 
gen den Staat. Da der Staat jeden feiner Bürger zu ſchützen 
bat, fo ift jede einem Bürger abſichtlich zugefügte Beſchädigung 
eine Verlegung des Staates felbft, denn fie macht, da diefer (dem 
Belchädigten gegenüber) feine Pflicht nicht hat erfüllen können. 

Die politifchen Verbrechen gefährden direct die Eriftenz des 
Gemeinwefend. Ihr Zweck ift die Vernichtung des Staats ent: 
meer durch die Staatögewalt felbft, die zum Schaden des Staats 
handelt, oder durch eine andere Macht, die ſich gegen ihn erhebt: 
im erften Fall iſt dad Verbrechen Hochverrath, im zweiten 


655 


Rebellion; Hochverrath ift feinem Begriff nach nur möglich 
durch die Obrigkeit felbft, Rebellion nur durch Privatperfonen*), 


3. Arten der Strafe. Grenzen der Abbüßung. 

Auf den nur materialiter rechtöwidrigen Willen ift die Ab: 
büßung ohne Weitered anwendbar. Die Vergehungen aus Unacht⸗ 
ſamkeit und Eigennuß zielen nicht unmittelbar auf die Vernich⸗ 
tung des Geſetzes; fie fallen darum unter, nicht außer dad Ge 
ſetz und Fönnen deßhalb abgebüßt oder geftraft werden. Hier ift 
die Strafe nach dem Princip des gleichen Verluſtes anwendbar. 
Ber den Anderen aus bloßer Unachtſamkeit beſchädigt, hat den 
Schaden felbft zu tragen; feine Strafe ift der volle Schadenerfag. 
Wer den Andern aus Eigennutz befhädigt, hat erſtens den ange 
richteten Schaden und zweitens den Eigennug zu büßen; daher 
trifft ihn als Strafe der vole Schadenerfag und außerdem ein 
Vermögenöverluft, deſſen Größe dem verübten Schaden gleich 
tommt. Hat ber Uebelthäter nicht genug, um die Buße zu zah⸗ 
len, fo bleiben als Xequivalent nur feine Kräfte übrig, um fie 
abzuarbeiten. Die ald Buße auferlegte Arbeit gefchieht natürlich 
unter der Aufficht des Staates, alfo in befonders dafür beftimm: 
ten Häufern (Arbeitshäufern), wodurch für die Dauer der Ar: 
beitszeit auch der Verluſt der Freiheit bedingt wird**). 

Wie aber verhält es ſich mit der Abbüßung in Rüdficht auf 
den formaliter böfen Willen? Mer den Staat felbft mittelbar 
oder unmittelbar vernichten will, Tann unmöglich im Staate 
bleiben. Staat und Staatöverbrecher find unverföhnliche Ge: 
genfäge ; hier giebt es Fein anderes Mittel ald die Ausfchließung 
des Verbrecher aus dem Staat. Die Ausfchliegung kann nicht 

*) Ebendaſelbſt. IL. 8.20. IL-II. ©. 263—271, 

**) Ghenbajelbft. IL. 8. 20. IV. &,271—72, 


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ver gehtsndkizen belt. Dirk Bericterzg ii Beſſerung 
nitt im mera!iühen, iozbern im reisen Eimer. Um diele 
allein kümmert it ter E:aat: um tie Geitmiäigfeir, nicht um 
tie Moralität des Billms. Were ver Mersiitit if die Pfliht 
um ber Pflicht willen; Motiv der Geiesmifigfeit ijt die Liebe zu 
dem eigenen Wohl, die Sorge für die eigene Sicherheit. Mar 
wahrt die eigenen Rechte am beflen, wenn man fein fremdes ver: 
dert; man lebt am ficherfien, wenn man geietmäßig handelt: 
diefe Einſicht macht die politiſch gute Gefinmung, und deren An: 
nahme die politiſche Beflerung des Verbrechers. Wer fein eige 
nes Intereffe richtig verfieht, Tann nicht geſetzwidrig hanbeln. 
Der Grundſatz der Sittenlehre fagt: liebe die Pflicht über alles! 
Der Brundfat des Staats heißt: „liebe dic) felbft über alles und 
deine Mitbürger um deiner felbft willen.” Politiſche Befferung 
iſt Ruckkehr zur Sorge für die eigene Sicherheit. 

In dieſer Bedingung liegt die Grenze der Ausfchlieung: 
der Staat, Indem er den Verbrecher ausfchließt, macht zugleih 
den Werfuch ihn zu beſſern; er ftößt ihn daher nicht aus, fondern 
ſperrt ihn ab von ber übrigen Geſellſchaft; er fließt ihn aus, 
indem er Ihn fo einfchließt, daß er unmöglich noch ſchaden Fan. 











657 


Aber die Gefängniffe werben zugleich Befferungsanftalten, Bucht 
häufer im wirklichen Sinne fein müflen, in denen durch die 
firenge Gewohnheit der Ordnung, der Arbeit, des Erwerbs der 
verbrecherifche Wille gezüchtigt, disciplinirt, zur politifchen Beſ— 
ferung getrieben wird. Iſt er unverbeſſerlich, fo trifft ihn nach 
einem befimmten Termin die gänzliche Ausfchliegung*). 


4. Die gänzlihe Ausfhliegung. 
(Todesftrafe.) 

Es giebt nur einen Fall, in welchem dad Verbrechen weder 
durch gleichen Verluſt gebüßt noch der Werbrecher durch zeitweife 
Ausſchließung gebefiert werden kann: das ift der abfichtliche, präs 
meditirte Mord, Dieſes Verbrechen hebt bie Möglichkeit der 
bürgerlichen Coeriftenz auf. Den Mörder diefer Art trifft daher 
die abfolute Ausſchließung: er ift vollfommen rechtslos und aufer 
dem Gefeg. Der Staat erflärt ihn Eraft des Geſetzes für rechts⸗ 
los; er bricht über ihn den Stab d. h. er zerreißt den Vertrag, 
der ihm mit dem Verbrecher verfnüpft hat. So weit reicht dad 
Gefeg und bie richterliche Gewalt des Staats, nicht weiter. 

Bo dad Gefe aufhört, da hört der Staat auf. Wer außer 
dem Geſetz ift, dem ſteht der Staat nicht mehr ald Staat gegen: 
über, fondern als phyſiſche Macht. Was baher der Staat mit 
dem auögefloßenen Mörder weiter thut, das thut er nicht mehr 
als Staat, fondern als phyſiſche Gewalt. Wer rechtslos iſt, der 
hat feine Rechte, und ihm gegenüber giebt es keine. Es giebt 
daher Fein Recht, den Mörder zu töbten; es giebt auch Feines, 
ihn nicht zu töbten: er ift bürgerlich vernichtet. 

Es giebt Bein Recht, ihn zu töbten, aber möglicherweife 
einen Grund: wenn es kein anbered Mittel giebt, den Mörber 


*) Ebenbafelbft. IL. $. 20. IV. 6. 272—277. 
Bifper, Gefläte der Phllofephie V. 42 


unſchaͤdlich zu machen. Und unſchadlich muß er gemacht werden. 
Dann ift fein Tod nicht Strafe, fondern Maßregel, Sicherungs: 
maßregel. Wenn biefe Mafregel der Staat vollzieht, fo todtet 
er nicht als Richter (beim es giebt Fein Recht zu tödten), fonbern 
als Polizei; er töbtet amd Noth. Dann volljiehe ex die Maf: 
regel, wie wan das Wothgebrumgene thut, nicht als Gegenftend 
des Öffentlichen Schaufpiels, fondern ald etwas, beffen man 
ſich fhämt und dad man daher den Augen der Menge verhält; 
die Barbarei des Schaufpield und der Marter fei davon ausge 
ſchloſſen. Die Tödtung des Mörders fällt nicht unter das Sffent: 
liche Recht, fordern unter die notwendigen Uebel. Am befien 
freilich, wenn man foldye Uebel vermeiden kann; das einzige Mit: 
tet, bie Töbtung zu vermeiden, wäre emige Landesverweifung 
mit der Unmöglichkeit, jemals zurückzukchren, ‚mit der offenkun ⸗ 
digen sub unauslöfchlichen Bezeichnung des Mörbers d. h. mit 
dem Brandmal*). - 


5. Gegenfag zwifden Kant’s und diqhtera Strafr 
rehtätheorie. 

Der Tod ift feine Strafe; ber Begriff der Todesſtrafe da 
her ımgereimt. Hier ſetzt Fichte feine Theorie mit voller Recht 
ber Santifchen entgegen: bei Kant gilt bie Strafe als. Zweck, bei 
Fichte ald Mittelz. Kant ſett die Strafe in.die Vergeltung, Fichte 
in die Verhlitung, Abbügumg, Beſſerung d. h. in die Sicherung 
des Geſetzes. Dad Vergeltungsprincip erflärt: „Auge um Auge, 
Bahn um Zahn.“ Domus folgt die Nothwendigkeit der Tobes: 
firafe; der Mörder hat den Tod verdient, eu hat geöhte, fo 
er werde getbdtet! 

Hier if iſt die Verwitrung. Die Bergeikung ifrein morali⸗ 
5 obendaſelbk. IE $. 20. V. a--£& . 217.862. 


668 


fiber Begriff, kein juriſtiſcher, kein ſtaatsrechelicher, kein ſtrof⸗ 
rechtlicher. Die Vergeltung if. bei der göttlichen Gerechtigkeit, 
nur bei ihr, fie erfolgt kraft der moraliſchen Ordnung ber Dinge, 
mit welcher bie politiſche keineswegs zuſammenfällt. Kein Menſch 
wird, laugnen, daß der Mörder den Tod verdient; daraus folgt 
noch lange nicht, daß der Staat das Recht hat, ihn zu tödten; 
es müßte. fich denn ber Staat für die moraliſche Weltordnung d. h. 
für eine Iheofratie halten. Das altteflamentliche Wort: „Auge 
um Auge,.Zahn um Zahn!" galt in einer Theokratie. Aber ber 
Rechtsſtaat ift nicht theokratiſch; er ift Darum auch nicht befugt 
zu wergelten, nicht berechtigt zu tößten*). 

Es giebt zwei Arten der Strafe. Die ‚eine gründet ſich auf 
den Vertrag, bie andere auf die Bernithtung (NuNität) des Ber 
trages: jene .befteht in ‚ber Abbüißung und zeitweifen (relativen) 
Ausfchhießung, Diefe in der gänzlichen (abfoluten) Ausſchließung. 
Die letztere allein trifft den Mörder und nur ihn. 

IV. 
Verfaſſung und Polizei. 

Die Rechtögemeinfchaft wird gefichert durch dad Gerigefeh, 
dieſes durch das Strafgefeß; die Geltung beiber durch die Macht 
der. Öffentlichen Gerechtigkeit, welche ſelhſt gefichert wirb Durch 
die Verantwortlichkeit der Staatögewalt.-d. h. durch bie Berfaf- 
fung (Gonſtitution). Diefe erlaubt verſchiedene Arten und For 
men. : Weldye davon am beften angewendet wirb, ‚das hängt. ab 
von dem gegebenen Berhältniffen des Landes und Volks und. ift 
daher ‚Beine. Frage. der veinen Rechtälehre, ſondern der Politik, 
weishe he bie-Rechtäprincipien ‚unter. empieifchen Bebingungen zu vers 


*) Ebenbafelbft, IT. 8.20. V. Anmerlg. ° 28284, Vol. 
6. 262, : . : 


42° 


660 


wirklichen und barum bie Zweckmaßigkeitsfragen zu löſen hat, 
betreffend die Zorm der Regierung, bie Ernennung der Obrigkeit, 
die Art der Abgaben, den Gang des gerichtlichen Proceffes, bie 
Baht und Beftimmung der Ephoren u. f. f. ). 

Der abfolute Staatszweck ift die öffentliche Sicyerheit ; der 
Staat hat die Pflicht, jede Verlegung der Sicherheit durch Un: 
glüd und Unrecht zu verhüten, jedes begangene Unrecht zu be: 
ſtrafen. Diefe Pflicht muß er erfüllen Fönnen und die dazu nd 
thige Gewalt haben: eine Gewalt, deren befondere Aufgabe bie 
Ausübung der Schutzpflicht und bie Auffindung jedes Schulbigen 
ift, der das Geſetz verlegt hat. Diefe zur Erfüllung des Staatö: 
zwecks fehlechthin nothwendige Gewalt, welche bie öffentliche Si: 
cherheit in ihrem ganzen Umfange zu beauffichtigen, jeden Sch: 
den zu verhliten, jebed Verbrechen zu entdeden, jeden Schuldigen 
aufzufinden hat, ift Die Polizei, das ſtets wachſame Argusauge 
des Staats, das nie gefchloffen fein darf. Was hilft dad Straf: 
geſetz, wenn man den Schuldigen nicht hat? Was gilt die rich⸗ 
terlihe Gewalt ohne die polizeiliche? Die bürgerlichen Geſetze 
fordern die polizeilichen. Jene ftrafen, biefe verhindern das Ber: 
brechen und beugen den Handlungen vor, welde dad Strafgefes 
bedroht; fie verbieten die Mittel, welche das Verbrechen begün- 
fligen (das Civilgeſetz flraft den Meuchelmord, das Polizeigeſetz 
verbietet die Windbichfe) **). ‚ 

Die Polizei fol jeden Schuldigen ohne Ausnahme entdeden: 
das ift ihre durch den Staatszweck gebotene unbedingte Pflicht. 
Der Schuldige Tann jeder fein; bie erſte Bedingung ift Daher, 
daß die Polizei jeden kennt, der ſich im Staate aufhält, daß fie 
das Recht und die Pflicht hat, jede Perfon zu legitimiven. Das 

*) Ebendaſelbſt. IIT. 8.21. Nr.1. S. 286— 291. 

**) Ghendajelöft. TIL. 9.21. Nr, 2. S. 291—295. 





661 

iſt nur möglich durch die genaueften Paßgeſetze, die jedem gebieten, 
feinen Pag mit ſich zu führen und diefen fo einrichten, daß er 
die Perfon unfehlbar identificirt (genaue Perfonalbefchreibung, 
Portrait des Inhabers) und nicht oder nur äußerft ſchwer vers 
fälfht werben kann (Einführung eines befonderen Paßpapiers, 
welches nur bie Regierung befist). Es giebt zwei Verbrechen, 
die der Sicherheit des Eigenthums außerordentlich gefährlich und 
gewöhnlich ſchwer zu entdecken find: falſche Wechſel und Falſch⸗ 
münzerei. Fichte will in der von ihm vorgeſchlagenen Paßord⸗ 
nung dad Mittel gefunden haben, weldyes der Polizei in beiden 
Fällen die Auffindung der Schuldigen möglich und leicht macht. - 
So ernftlich iſt hier die Wiſſenſchaftslehre in die Paßorbnung 
vertieft, daß im Einzelnen gezeigt wird, wie bad Paßſyſtem an⸗ 
zumenden und zu brauchen fei in Rücficht der Wechfelordnung 
und des Ankaufs ber zur Falfchmünzerei dienlichen Stoffe. Dad 
befte Mittel der Sicherheit im Staat ift die durchgängige Orb: 
nung des öffentlichen Lebens und Verkehrs. Je georbneter und 
polizirter der Staat iſt, um fo ficherer ift alles im Staat, um 
fo weniger ift die Polizei zu fürchten und um fo weniger ift da⸗ 
ber eine geheime nothwendig *). 

Hiermit ift die Rechtölehre erfchöpft und alles entwidelt, 
was die Rechtögemeinfchaft in dem ganzen Umfange ihres Gebiets 
zu ihrer Geltung und Sicherheit fordert. 


V. 
Summe der Rechtslehre. 

Wir geben den ganzen Entwicklungsgang der Rechtslehre in 
einer ſummariſchen Ueberſicht, die bloß die Hauptpunkte und den 
ortfchritt von einem Gliede zum andern hervorhebt: 

*) Ebendaſelbſt. IIL $. 21, Nr. 2, &.295—308, 


682 


Das Ich iſt nur möglich unter ber Bedingung einer freien 
Wirkſamkeit, die es fich felbft zufchreibt. Zu diefer Setbftbeftims 
mung muß e3 beftimmt d. h. aufgefordert werben. Die Urſache 
diefer Aufforderung Bann nur ein vernünftiges Weſen außer dem 
Sch d. h. ein anderes Ich fein. 

Alſo fordert dad Ich die Coeriftenz vernünftiger Weſen, de: 
ven gegenfeitige Anerkennung als freie Weſen, darum bie wechſel⸗ 
feitige Ausfchließung ihrer Freiheitöfphären d. h. die Rechtse⸗ 
meinſchaft. 

Die Rechtsgemeinſchaft fordert, daß jedes Ich ſich fetzt als 
ausſchließende, darum begrenzte Freiheitsſphäre, d. h. als Pers 
ſon, als individuelles, körperliches, leibliches, ſinnliches Ich. 
So fordert die Rechtsgemeinſchaft die Coexiſtenz der Perſonen in 
der Sinnenwelt. 

Die Bedingungen zum Daſein der Perſon in der Sinnen⸗ 
welt find die Ur rechte. Dieſe können verlegt werben, aber dilr⸗ 
fen es nicht. Sie folen gefichert fein. Ihre Sicherung ift das 
Btwangsrecht, die Einrichtung einer zwingenden Macht durch ben 
gemeinfamen Willen, die Herrfchaft der Gefege d.h. der Staat; 
Der Staat fordert die Stantögewalt. Die Gerechtigkeit forbert bie 
Verantwortlichkeit der Staatsgewalt (Berfaffung), 'die Bildung 
des Ephorats, die Unabhängigkeit des Ephorats von der Executive. 

Innerhalb des Rechtsſtaats werden bie Urrechte gefichert 
durch das Eivilgefeg (Garantie des Eigenthums, des Rechtes 
auf Arbeit und Abfag, die Theilung und Schließung der Ar: 
beitözweige, die Schliegung des Handels). Dad Civilgefeg wird 
gefichert Durch dad Strafgeſetz; dieſes fordert Abbüßung und 
Ausſchließung (relative und abfolute). Die Bffentlihe Sicherheit 
felbft wird gefichert durch dad Poliyeigefed (durchgängige Ord⸗ 
nung des Lebens im Staat). 


Ehftes Capitel. 


Oekonomik. Ehe und Familie. 
Völker md Welt. 


Alle menſchlichen Gemeinfhafter, ausgenommen bie rein 
moraliſchen. die in den gegenfeitigen Befinnungen des Vertrauens, < 
der Freundſchaft u. ſ. f. beſtehen, fardern und bedürfen bie Rechtse 
form, entweder zu Ihrer. Begründung oder zu ihrem Schuß; ent⸗ 
weder werben fie durch ben Rechtsbegriff gemacht, ober diefer feht fie 
voraus und wird auf bie ſchon vorhandene und ohne ihn erzeugte 
Geweiuſchaft bloß angewendet. Der: Staat gründet ſich .auf den 
Mechtsbegriff; im Unterſchiede von der ſtaatsrechtlichen ers 
bindang: haben wit im Staate dad Leben der Familie, außerhalb 
deſſelben das Leben der Volker. ‚Hier alfo entſteht Die Frage: 
in: wie weit if auf das Leben der Familie und auf das der Bäl 
Ber, yaleht-auf bie ganze: Menſchheit der Rechtsbegriff anwendbar? 
Wir iſn Familienrecht, Völkerrecht, Weltbürgerreht möglich? 

Wir heben ſchon gefehen, wie innerhalb dei Staats das 
haͤusliche Beben eine gefchloffene, von ber öffentlichen ‚Gewalt 
und Aufſicht unabhängige Sphäre für fich befchreibt. . Der Kern 
des häuslichen Lebens ift die Familie und deren Grundlage die Ehe. 
Der Rechtöbegriff kann die Ehe und Familie nicht machen; beibe 


664 


find Feine juridifche, fondern eine natürliche und fittliche Gemein 
ſchaft, die der Rechtöbegriff vorausfegt und auf welche berfelbe 
als auf etwas Gegebenes feine Formen anwendet. Die Anwen: 
dung der Rechtöform auf die Ehe giebt bad Eherecht. Um aber 
beftimmen zu fönnen, welche Rechtöform auf die Ehe paßt und 
worin dad Eherecht befteht, muß man vor allem wiffen, was bie 
Ehe felbft ift oder welche nothwendige Art menfchlicher Gemein- 
fchaft fie bildet? Die erſte Aufgabe ift daher die Deduction der 
Eher). 
L 
Das Wefen der Ehe. 


4. Die beiden Geſchlechter. 

Dad Selbftbewußtfein (Perfönlichkeit) fordert den lebendigen 
Körper, die leibliche Individualität, die organifche Natur, wel⸗ 
he felbft wieber die Erhaltung der Gattung, die Fortpflanzung der 
Individuen durch die Wirkfamkeit der bildenden Kraft verlangt. 
Wären die Bedingungen zu diefer Wirkſamkeit immer vorhanden, fo 
wäre bie bildende Naturkraft unaufhörlich wirkfam, fo würbe ein 
beftändigeö Uebergehen, ein fortwährender Wechfel der Geſtalten 
fattfinden, wobei ed zu Feiner beflimmten Geftaltung, zu Feiner 
wirklichen Individualität kommen könnte. Die bildende Kraft 
darf daher nicht immer wirkfam, die Bedingungen ihrer Wirk: 
ſamkeit dürfen nicht immer vorhanden fein. Die Wirkſamkeit 
muß flattfinden, wenn ihre Bedingungen vereinigt find. Alfo dür⸗ 
fen Die Bedingungen, unter denen die bildende Naturkraft d. h. 
bie Gattung wirkt, nicht immer vereinigt fein; fie müffen mit 
bin getrennt ober von einander abgefondert erifliren und erfl, um 


*) Grundlage des Naturrechts. Erſter Anhang. Grundriß des 
Familienrechts. I Abſchn. ©. 804—318, 


685 


jene Kraft in Wirkſamkeit zu ſetzen, vereinigt werben. Diefe 
Vereinigung ift die Wirkfamleit der Gattung; diefe Trennung 
ift Die Sonderung der Gefchlechter: es ift daher nothwendig, daß 
die Gattung ſich in Gefchlechter theilt, um ihre Wirkfamkeit an 
Bedingungen zu Inüpfen, bie nicht immer vereinigt find*). 

Es muß ein Geſchlecht geben, welches alle Bedingungen in 
fi enthält zur Bildung eined neuen Individuums, und ein zwei⸗ 
tes davon verfchiebenes Gefchlecht, welches bie Bebingungen ent 
hält, durch welche jene in Wirkſamkeit gefegt und zur Entwick⸗ 
lung gebracht werben: dieſes Gefchlecht ift dad männliche, jenes 
das weibliche. Das männliche iſt zeugend, dad weibliche empfan- 
gend; jenes ift in der Hervorbringung neuer Individuen der tha⸗ 
tige, dieſes der leidende Factor. 

Die bildende Naturfraft der Gattung muß ald Streben oder 
Tendenz (Trieb) jedem der beiden Gefchlechter inwohnen: als Ge 
ſchlechtstrieb, der Befriebigung fordert. An biefen Trieb ift bie 
Erhaltung der Gattung geknüpft; in der Befriedigung beffelben 
verhält fich das männliche Geſchlecht thätig, das weibliche leidend. 

Nun ift in dem finnlichen Ich beides gegenwärtig: Selbft: 
bemwußtfein und Naturtrieb, Vernunft und Gefchlechtötrieb; beide 
gehören zu den Bedingungen der menfchlichen Natur; daher müfs 
fen fie im Weſen derfelben vereinigt und dieſe Vereinigung felbft 
eine nothwendige und urfprünglihe fein. Anders aber verhäft 
fi die Befriedigung des männlichen Geſchlechtstriebes zum Selbſt⸗ 
bemußtfein, anders bie des weiblichen. Thaͤtigkeit entfpricht, 
Leiden dagegen wiberfpricht dem Selbſtbewußtſein: darum kann 
fich dad männliche Selbftbewußtfein wohl die Befriebigung des 
Gefchlechtötriebed zum Zweck machen, niemald das weibliche. 
Die Befriedigung des Gefchlechtötriebes ald Zweck wiberfpricht der 

*) Ebendaſelbſt. I Abſchn. $. 1, S. 305—306, 


weiblichen Natur, ihrem Selbſtbewußtſein, ihrer Vernlinftigkeit 
ihrem geiſtigen Wefen. In biefem Punkte liegt das Problem”). 


2. Selbſtbewußtſein und Geſchlechtstrieb. 

Selbſtbewußtſein und Befriedigung des: Gefchlechtätriebes 
find beide der weiblichen Natur nothwendig, eben fo nothwendig 
iſt ihre Vereinigung. Es giebt eine Form, in welcher biefe Ver⸗ 
einigung unmöglich ift: unmöglich Bann ſich das weibliche Selbſt ⸗ 
bewußtſein die Befriedigung des Gefclechtötriebes. zum Zwech 
machen. Alfo muß in der weiblichen Natur der Geſchlechtstrich 
eine andere Form annehmen, eine Form, in welcher feine Ber 
feiedigung Zwec fein kann in völliger Uebereinftimmung mit dem 
weiblichen Selbftbewußtfein. Was dad Weib vermöge Ihrer Na⸗ 
tur befriedigen will, darf Für fie nicht der Gefchlechtätrieh fein; 
diefer muß dem Weibe in einer anderen Form erfcheinen, nicht 
etwa durch Reflerion oder durch Täuſchung, fondern im einer 
Form, die felbft Naturtrieb ift, weiblicher Naturtrieb, der cha⸗ 
ratteriſtiſche Trieb der weiblichen Ratur: ein Trieb, den in der 
Welt das Weib allein bat. Was ift dad für eine Form, für ein 
nothwendiger, urfpränglicher rich? 

In biefem Punkte find bie beiven Geſchlechter grundverſchie 
den. Der-Mann kann fich die Befriedigung bed Gefchlechtötrier 
bes zum Zweck machen, er darf fich diefen Zweck geflchen, er darf 
feinen Trieb mit Selbftberoußtfein- befriedigen, dad Weib wie. 
Es darf fich den Geſchlechtstrieb nicht gefichen und muß ihn bach 
haben. Es iſt nicht Erziehung und Reflerion, fondern ihre ei⸗ 
gene Natur, die fie davon zurüdhält: eben darin heficht das 
ewige Naturgefeh der weibliben Schamhaftigkeit. Der Denn 
kann freien, bad Weib nie. Wenn ein Mann freit und eine ab- 


0) Ghenbafelifl. 1. $.2—3. 6. 306-309, 


667 
ſchtagige Antwort: empfängt, fo iſt das erträglich; bie-äbfchlägige 
Antwort des Weibes erklart bloß: ich: will mich dir nicht unters 
werfen. Wenn aber ein: Weib freit und eine abfchlägige Antwort 
erhält, ſo iſt fie ermiebrigt. Die Antwort heißt: du haft dich 
mie unterworfen, ich / aber nehme deine Unterwerfung nicht art. 
Die Frage, ob das Weib nicht ebenfo gut ein Recht habe zu freie 
als der Mann, ift eine müßige Frage. Ebenfo müßig;, als 
wenn man fragen wollte, ob der Menſch ein Recht Habe zu flie⸗ 
gen? ‚Warten: wir mit ber Nehtöfrage, bis er fliegt. . Ebenfo 
warte man mit jener anderen. Rechtöfrage, bis bie Weiber freien, 
Bis jetzt thun fie ed nicht. Was fie zurückhalt, ift fein äußerer 
Bang; niemand hindert fie. Es ift ihre eigene Natur, die nicht 
läßt, daß fie dad Freien als ſolches zu ihrem Zweck machen *); 


::3 Die Liebe ald Grundform des weiblichen 
Geſchlechtsttiebes. 

Was der Naturtrieb des Weibes fordert, iſt bie Hiogebun 
an einen Mann; ſie will ſich dem Mann hingeben, nicht um 
ihrttwillen, fondern um des Mannes willen; fie giebt ſich ihm 
din und:-für ihn. Die Hingebung für einen Anderen iſt Auf⸗ 
opferumg, Die Aufopferung aus Naturtrieb iſt Liebe, Daher 
ift die Liebe jener Naturtrich, deſſen Form ver weibliche Ger 
ſchlechtstrieb nothwendig und unwillkürlich annimmt. Sie hat 
das Bedurfuiß zu lieben. Indem fie ſich einem Manne hingiebt, 
will fie nicht ihren Geſchlechtstrieb, ſondern ihr Herz befrie⸗ 
digen: dieſe Befriedigung iſt der ihr eigenthümliche, bewußte 
Zwec, den fie erfüllt als ihr Naturgeſetz. Die Liebe iſt ihre 
That und ihr Selbſtbewußtſein: ſie iſt die einzige Form, in wel⸗ 





*) Ebendaſelbſt. J. 8.8. Nr, 2; ©; 309, 


668 
cher die Befriedigung des Gefdhlechtötriebes mit dem weiblichen 
Selbfibewußtfein volllommen harmonirt. 

Diefen Trieb hat nur bad Weib; nur dad Weib liebt; nur 
durch das Weib kommt die Liebe unter die Menfchen. In der 
Liebe des Weibes ift Trieb und Selbfibewußtfein, Natur und 
Vernunft wirklich eines: biefe Liebe ift der innigfte Vereinigungs- 
punkt beider, der einzige, den ed giebt; darum ift diefe Liebe 

Das Beib giebt ſich dem Wanne hin aus Liebe; fie giebt 
fih Hin für ihn, nur für ihm, für dieſen Einen, ber für fie 
der Einzige ift, auch nothwendig der Einzige bleibt. Denn wenn 
fie ſich je noch einem Anderen hingeben könnte, fo wäre jener ja 
nicht der Einzige, fondern nur der Erſte, nur fo lange ber Beſte, 
ald er der Erfle war, es war dann der erſte Befle, und ihre 
Hingebung nicht Aufopferung und Liebe, fondern Hingebung ent- 
weber aus Reflerion (für gewiſſe Zwecke) oder aus Gefchlechtötrieb, 
in beiden Fallen im Widerſtreite mit der Natur des Weibes und 
diefe erniedrigend. Die ächte Hingebung des Weibes ift notwendig 
ausfchliegend, unbedingt und für immer. Es giebt nichts, dad 
von biefer Hingebung auögenommen fein fönnte, es giebt Beinen 
Vorbehalt, denn was immer dad Weib fich vorbehielte, würde 
ihr mehr gelten als ihre Perfon, und damit wäre ihre perfönliche 
Hingebung entwürbigt. Sie giebt dem Einen auöfchließend und 
für immer ihr ganzes Dafein: fo will e die Liebe, die fonft nicht 
Liebe wäre. Das Leben des Weibes fol ohne Reft in den Dann 
aufgehen, und es ift dephalb ein ſchöner und richtiger Ausbrud 
dieſes Verhältniffes, daß die Frau nicht mehr ihren Namen führt, 
fondern den des Mannes*). 


*) Ebendaſelbſt. L 8. 4—8.6. ©. 310 -313. 


669 


4. Die Sroßmuth des Mannes. 

Wie aber wird der Mann, wenn er feiner Natur gemäß 
handeln will, diefe Hingebung erwiebern? Das Erſte ift, daß 
er bie Aufopferung und Liebe des Weibes in ihrem ganzen Um⸗ 
fange erkennt und würdigt; daß er einfieht, wie ſich dieſes Weib 
freiwillig in feine Macht gegeben hat, alle ihre äußeren Schid: 
fale, ihre ganze innere Seelenruhe. Im ihre Hingebung an bie: 
fen Mann hat die Frau ihren ganzen Werth, ihr ganzes Selbſt⸗ 
bewußtfein gelegt. Wenn fie fi in biefem Punkte je erniedrigt 
fühlen müßte, fo wäre grenzenlos, wie ihre Hingebung, ihr 
Elend. Wenn der Mann einer folchen Liebe für ihn nicht wür⸗ 
dig ift, fo ift es gefchehen um das Selbftgefühl der Frau ,.. das 
entweber zu niebrig ift, um ben Verluſt feiner Würde zu empfins 
den ober in dem Bewußtfein der Erniebrigung zu Grunde geht. 

Mit der Einficht, welche dad männliche Selbftbewußtfein 
fordert, muß fi der Mann dieſes VBerhältniß klar machen und 
bis auf den Grund durchſchauen. Er erkennt und würdigt die 
Hingebung der Frau, verftcht was fie will und geht in biefen 
Billen ein. Das ift die erfte feinem Selbftbewußtfein gemäße 
Empfindung, womit der Mann die Liebe der Frau erwiedert. 
Er will, daß in der Liebe zu ihm die Frau wirklich ihr Herz bes 
friebigt, daß fic der innerfle und tieffte Trieb ihrer Natur in 
diefer Hingebung an ihn volllommen erfült. Das gefchieht nicht, 
wenn der Mann, durch bie Liebe der Frau nicht gerührt, ſon⸗ 
dern geblendet, fich ihr unterwirft und aus Schwäche fich beherr⸗ 
hen läßt. Dadurch wird das Selbfigefühl der Frau verfälfcht 
und dad ganze Verhaltniß beider Gefchlechter verdorben. Die 
Frau will ihr Selbftgefühl in ihrer Hingebung haben, nicht in 
ihrer Herrſchaft; fie will von die ſem Manne beherrſcht fein, 


6“ 


das ift ihr Stolz; dieſen Stolz darf ihr der Mann nicht nehmen. 
Ebenfo wenig aber darf der Mann die Frau unterbrüden und 
feine Herrſchaft gegen. fie brauchen, als ob fie fein willenloſes 
Werkzeug wäre. Das hieße die freiwillige und gängliche „Hin: 
gebung der Frau mit gemalffamer Unterdrückung ermiebern; das 
würde paſſen wie bie Fauſt auf dad Ange. Sich als den Gewal⸗ 
tigen zeigen, ben Herrn fpielen, wo man es Bann. ohne jeden 
Widerftand, ohne alle. Kraft, ohne jede Megung des Muthes! 
Es giebt nichts, das Eleinlicher, niebriger, unmänndider wärel 
Der unwürbigfte Gegenſtand weiblicher .Hingebung ift ein Mann, 
der ein: Schwaͤchling ift oder ein Nichtswurdiger. Es giebt nicht, 
dad einer Frau in ihrem Innerſten verächtlicher. ſcheinen muß, ald 
ein ſolcher Mann, der das Gegenteil iſt aller ächten Männliche 
keit, aller Kraft, aller Großmuth, 

Die erfle Form der männlichen Empfindung, "weiche ie 
auſopfernde Liebe der Frau annimmt und ermiebert, iſt die Groß⸗ 
muth, bie aus einer tiefen. Rührung. hervorgeht. Er will der 
Bann fein, dem bie. Frau aus ihrem innerften Triebe ſich hin⸗ 
-geben darf, ganz und für immer; ex will ber fein, den die Frau 
zu ihrem einzigen Lebenszwede macht, er. erkennt und durchſchant 
den Willen der Frau bis auf den Grund und macht dieſen Willen 
mit vollem Bewußtſein zu dem ſeinigen, zu einer feſten und. uns 
erſchütterlichen Aufgabe feines Lebens. So wird der maͤnnliche 
Wille eines mit dem weiblichenz die Wünſche der Frau werden 
die Abfichten des Mannes, er ſpricht fie aus und etfüllt ſie als 
die ſeinigen. So. nimmt der Mann hie: Seele der Frau in ich 
anf, und bie großmüthige Entpfindung wird mehr und mehr eine 
zarte. In dieſer zäctlichen- Gemeinſchaft volleadet ſich der Um: 
taufch.ber. Herzen. Die: Liebe: der: Frau theilt ſich / dein Manne 
wait; und: läutert „(eine Empfindungen. Er muß achtungsweeth 


Lro3 

fein wollen, denn nnd. wäre die Frau, wenn er es nicht waͤre 
Wie kbunte er für ſie der Liebenswürdigſte feines Geſchlechts ſein, 
weni:er nicht unbedingt achtungswerth, nicht in. der That ein 
wirklicher. Ausdruck männlicher. Tüchtigkeit wäre *)? Bar 

Sol. dad: Gefchlechtäverkältniß. zwifchen ‚Mann und. mu 
ber felbfibewußten:Matur beider entſprechen, fo fordert sd: von 
der weiblichen Seite Aufopferung für den Marin aus Trieb d. h. 
Liebe and von ber männlichen: Anwoſereng mit Bean 
de h. D—— 


5. Brarift der Ehe. 

„Eine ſotche Verbindung beiber Geſchlechter ift deren wirt 
liche Ergänzung: ımd. Einheit, bie. Gattung felbft,. die Verwirk⸗ 
lihung bed ganzen Menſchent fte:ift die vollfommene Vereinigung 
zweirt Perfonen beider Geſchlechter, begrünbet durch ben Ges 
ſchlechtstrich, vollendet durch ben Wechſeltauſch der Herzen, durch 
eine Willenteinheit, in welcher die Frau die ächten Bedingungen 
der weiblichen Natur ebenfo vollkommen erfült, al& der Mann 
die der männlichen. Nur in diefer Verbindung kann der Mann 
vollkommen Mann und’ dad Weib vollfonimen Weib fein. Dar- 
um iſt eine folche Verbindung beider Befchlechter „Die nothwen- 
dige Weiſe des erwachſenen Menfchen zus eriftiten“ **), 

Dieſe Verbindung ift Ehe. Mur. in- ihr eriſtirt der ganze 
Menſch; darum iſt die Ehe nicht Mittelifär. irgend. etwas Anderes, 
ſondern ihr eigmer:Biwed.. Der Gefchledhtötrieb.ift. ihr Grund, 
die Ergänzung: der Geſchlechter, die Liebe der. Frau, die Großs 
muth. des Mannes, bad ganze darauf gegrändete genwirfchaftliche 
und, innige Seelenlehen iſt ihr Inhalt. . Sie opchindet dieſe Frau 

*) Ebendaſelbſt. J.Abſchn. $.7..5. 813 -316. 

Ebendaſelbſt. I & 7. Coroll. Vol. 8. 8. S. 2116—-316. 


672 

mit diefem Mann: daher ift ihre der Würbe der Perfon einzig 
gemäße Form bie Monogamie. Ihre Verbindung ift vollftändig, 
untrennbar, ewig; wird fie nicht fo betrachtet, fo ift e8 auf der 
weiblichen Seite nicht die Liebe und auf der männlichen nicht die 
Großmuth, die beide verbindet, und wad Mann und Frau dann 
vereinigt, wenn ed jene Empfindungen nicht find, mag alles an: 
dere fein, nur feine Ehe*). 

Wenn aber die Ehe ift, was fie nad) den Forderungen ber 
menfchlichen Natur fein ſoll, fo enthält fie Die Kraft in fich, ben 
Menfchen nicht bloß edel, fondern aufopferungsfähig zu machen; fo 
liegen in ihr bie natürlichen Zriebfedern zur Tugend. Es giebt 
auch zur Sittlichkeit ein natürliches Motiv, aber nur ein einzi- 
ges: die Ehe. „Hier ift die Aufgabe gelöft: wie kann man das 
Menfchengefchlecht von Natur aus zur Tugend führen? Ich ant- 
worte: lebiglich Dadurch, daß das natürliche Verhältniß zwiſchen 
beiden Gefchlechtern wieberhergeftelt werde. Es giebt Feine fitt- 
liche Erziehung ber Menſchheit, außer von biefem Punkte aus **).” 


u. 
Das Ehe: und Familienrecht, 
1. Die Freiheit der Ehe. Schutzpflicht des Staates. 


Die Ehe ift deducirt. Sie ift gefordert durch die felbfibe- 
wußte Natur der menfchlichen Gattung, alfo ſchlechterdings noth- 
wendig in ſich; fie ift fein erfundener Gebrauch, keine willkür⸗ 
liche Einrichtung, Fein Rechtövertrag, darum auch Feine juri⸗ 
bifche, fondern eine natürlich moralifhe Wereinigung. Nicht 
dad Recht macht die Ehe, fondern die Ehe ift die Bedingung 
bes Eherechts. „Erſt muß eine Ehe da fein, ehe von einem Ehe 

*) Ghendafelbft. I. 8.8. 6. 315—317. 

**) Ebendaſelbſt. I. $. 7. Coroll. 2. ©, 315, 


673 


recht, fo wie erft Menſchen da fein müffen, ehe von Recht über: 
haupt die Rede fein kann. Woher die erftere komme, danach 
frägt der Rechtöbegriff ebenfo wenig, als er fragt, woher bie 
legteren kommen *).” Die Frage ift nur, in wie weit die Rechts⸗ 
form anwendbar ift auf die Ehe; in wie weit diefe vermöge ihrer 
eigenen Natur der öffentlichen Anerkennung und des öffentlichen 
Schutzes bedarf. Es handelt fih um das Berhältniß der Ehe 
zum Staat. 

Die Ehe gehört zu den Bedingungen des menfchlichen Da- 
feins, der menfchlichen Perfönlichkeit und als folche zu den Ur- 
rechten, bie den Schuß ber Geſetze fordern. Was die Möglich 
keit der Ehe vernichtet, muß der Staat für geſetzwidrig erklären. 
Die erfte Bedingung der Ehe ift die Liebe der Frau, die freiwil- 
lige Hingebung. Jeder in biefer Rückſicht geübte Zwang macht 
die Ehe unmöglich; jeder Zwang diefer Art muß daher für geſetz⸗ 
widrig gelten, nicht bloß der unmittelbare, fondern auch ber 
mittelbare. Als rohe Gewaltthat (Nothzucht) ift er nach dem 
Geſetz eines ber nichtswürdigſten und ftrafbarfien Verbrechen, 
welches gleich zu achten ift dem Morde. Indem der Staat die 
weiblichen Urrechte ſchützt, fichert er zugleich die erfle Bedingung 
zur Möglichkeit der Ehe. Eine erzwungene Ehe ift Peine. Die 
Geltung der Ehe ift bebingt durch die freie Einwilligung ber 
Frau, durch das Eheverfprechen; der Staat kann baher nur die 
Ehe anerkennen und ſchiltzen, die ihm als ſolche gilt: darum muß 
die freie Einwilligung durch einen Öffentlichen Act erklärt werben 
(Zrauung). Die ehelich Verbundenen find ein Wille, eine 
Rechtsperſon; als ſolche bebürfen fie ber öffentlichen Anerken— 
nung, welche felbft die öffentliche Bekanntmachung und Beglau: 
bigung der Ehe fordert. Dadurch wird die Ehe vechtögültig, 


*) Ebenbafelbft. IT Abſchn. 8.9. S. 317—818. 
Fifger, Gefhiäte der Phllofophie. V. 48 


674 
und nur als Ehe Tann bie Gefchlechtöverhinbung rechtgültig wer: 
den‘). 

Ohne rechtögültige Form if die Geſchlechtsvereinigung ent- 
weber heimliche Ehe (Gingebung aus Liebe, Ehe ohne Ehever⸗ 
fprechen) ober Goncubinat (Zufammenleben zum Zweck der Ge 
folechtöbefriedigung) ober Proflitution des Weibes (Hingebung 
für Geld). Der Staat kann die moralifhe Selbflentwürdigung 
nicht verbieten, darum dad Concubinat und die Profiitution ald 
ſolche nicht hindern, noch weniger aber darf er fie anerkennen 
oder fhügen. Das Concubinat hat gar Feine Rechtskraft; ber 
Geſchlechtstrieb ift fein Gewerbe, die feilen Weiber können ihre 
Eriftenz im Staate nicht durch einen Lebenderwerb rechtfertigen, 
den dad Gefeg anerkennt. Daher darf ber Staat bie Proflitu- 
tion nicht dulden, bean fie ift in feinen Augen erwerblos. Die 
heimliche Ehe dagegen, welche die innere Geltung der Ehe befigt 
und nur die äußere der Rechtöform entbehrt, wird durch das 
+ Ehegefeß genöthigt, dieſe anzunehmen, wenn fie nicht ald Eon= 
cubinat gelten will d. h. ald ein Verhältniß, welches die Frau 
entehrt*"). 


2. Aufhebung der Ehe. Ehebrud. Scheidung. 
Mit der Ehe ift jede andere außereheliche Geſchlechtsverbin⸗ 
bung ſchlechterdings unvereinbar; fie ift Die Vernichtung der Ehe 
ober Ehebruch; fobald die inneren Bedingungen der Ehe aufge: 
löſt find, if feine Ehe mehr vorhanden. Doch verhält es fich, 
nad) der Natur der Gefchlechter, anders mit dem männlicyen 
Ehebruch ald mit dem weiblichen. Bon Seiten der Frau ift der 
Ehebruch der Beweis, daß fie den Mann nicht liebt und bie 
*) Ebendaſelbſt. IL. $. 10—14. ©. 318—25. 
Ebendaſelbſt. IL $.22—23. ©. 33136. 


676 


Verbindung mit ihm nur als Mittel für andere Zwecke gebraucht 
bat. Damit ift die erfie Grundbedingung der Ehe vernichtet. 
Es ift unmöglid, daß der Mann den Ehebruch der Frau erträgt; 
wenn er ed that, fo trifft ihn die öffentliche Verachtung; er ift 
entehrt. Hat dagegen der Mann die Ehe gebrochen, fo iſt die 
Trage, ob die Liebe der Frau dadurch geflört ift, ob die Fran 
diefen fhuldigen Mann noch lieben kann? Kann fie es nicht 
mehr, fo ift die Grundbebingung der Ehe vernichtet, und es darf 
von ber Frau nicht gefordert werben, daß fie die äußere Form 
derfelben länger erträgt. Wenn aber ihre Liebe die Schuld des 
Mannes überdauert, fo ift auch die Fortdauer der Ehe möglich. 
Die Frau kann dem Manne verzeihen und wirb dadurch fo wenig 
verächtlich, daß fie fogar um diefer Verzeihung willen bewunde⸗ 
rungswürdig erfcheinen kann; fie handelt großmüthig gegen dem 
Mann. Freilich kehrt fich dadurch das ganze innere Verhältnig 
der Ehe um, und fo kann es kommen, daß durch die Schuld ded 
Mannes zwar die Ehe nicht aufgelöft, aber innerlich aus ihrem 
Schwerpuntte gerückt und völlig verfchoben wird, weil von dieſem 
Augenblid an die Großmuth auf die Seite der Frau fällt ). 

Iſt die Ehe innerlich gelöft und hat fie damit aufgehört eine 
wirkliche Ehe zu fein, fo ift die Folge, daß fie auch aufhört ver— 
möge der Rechtöform für eine folche zu gelten. Die Auflöfung 
diefer Rechtöform ift die Scheidung. Der Staat hat in Rüdficht 
auf die Ehe Feine Zwangsgeſetze; er darf fie Durch Zwang weder 
machen (im Gegentheil ſoll er fie gegen ben Zwang ſchützen) noch 
hindern, er darf fie durch Zwang weder fcheiden noch ihre Scheis 
dung unmöglich machen. Er hat der Ehe gegenüber die Schuß 
pfliht; zur Ausübung derfelben muß er aufgefordert werben, 
und die Eheleute felbft müſſen die Hülfe des Gefeges anrufen, 
Tr) Ehendafelift, IL. $. 19-20. 6. 327—30, 

43* 


676 


Dann giebt der Staat fein Rechtöurtheil. Entweder find beide 
Theile einverftanden und erklären öffentlich, daß ihr Verhältniß 
aufgehört hat, eine Ehe zu fein; fo kann der Staat fie unmög⸗ 
lich durch Zwang aufrecht halten, und die Öffentliche Scheibung 
ift nothwendig; ober nur der eine Theil will Die Scheidung, wäh: 
rend fie der andere nicht will; fo entfcheidet das Geſetz mach ber 
Gültigkeit der Klage und nad) der Beichaffenheit der Schuld; 
der weibliche Ehebruch begründet die unmittelbare Scheidung, der 
männliche zunächft die Trennung und, wenn bie Frau auf ihrer 
Klage befteht, auch die Scheidung”). 


3. Die Ehe als Rechts perſon. 

Die wirkliche Ehe ift eine wahrhafte Einheit des männlichen 
unb weiblichen Willens, fie ift ein Wille und gilt daher dem 
Staate gegenüber ald eine Perfon, als eine juriftifche Perfon, 
die nach außen, alfo in allen öffentlichen Angelegenheiten, ber 
Mann repräfentirt. Innerhalb der Ehe giebt es keine Rechts 
ſtreitigkeiten, diefe treten erft ein mit der Auflöfung der Ehe und 
werben dann nad) Rechtsgeſetzen entſchieden; innerhalb der Ehe 
giebt es Feine Trennung der Willen, alfo auch Feine Zrennung 
der Güter, erft mit der Scheidung der Perfonen kann bie Schei⸗ 
dung der Güter nach dem öffentlichen Rechtöurtheil eintreten **). 

Der richtige Begriff der Ehe entfcheidet auch die Frage nach 
ben öffentlichen Rechten der Frau. Es iſt grundfalſch zu fagen, 
daß die Ehe mit ben öffentlichen Rechten der Frau im Wider: 
ſpruch ſtehe; im Gegentheil fie fleht damit im vollen Einklang. 
Erſt durch die Ehe tritt die Frau in alle öffentlichen Rechte ein; 

*) Ebendaſelbſt. II. 8. 24—30, ©. 335—341. 


Ebendaſelbſt. IL $.15—18. S. 325—27. Bel. $. 51. 
© 341-483, 


677 


nur dafs fie diefelben nicht in eigener Perfon ausübt, fondern in 
deren öffentlicher Ausübung ſich durch ihren Mann vertreten 
läßt. Sie felbft lebt ganz in ihrem Mann und in ihrem Haufe: 
das ift ihr eigener, innerfter Wille, Als Glied ber öffentlichen 
Rechtögemeinfchaft und des Staats will fie nicht felbft auftreten, 
fondern durch ihren Mann repräfentirt fein: daß ift bie ihr ges 
bührende vornehme Stellung. In diefe kommt fie erft durch die 
Ehe. Die Männer haben unmittelbaren Einfluß auf die öffent: 
lichen Angelegenheiten; die Frauen haben unmittelbaren Einfluß 
auf die Männer. Dadurch ift ihre Einwirkung auf das öffent: 
liche Leben in der Sache gefichert. Wollen fie mehr, fo ift es 
nicht mehr die Sache, bie ihnen am Herzen liegt, fondern ber 
Schein der Sache, das Auffehen, die Gelebrität, mit einem 
Wort alle jene eitlen Dinge, denen die Männer nachjagen; dann 
ift es der Neid gegen bie Männer, der fie treibt und mehr beuns 
ruhigt, als die Liebe zu dem eigenen Mann fie befriedigt. Da: 
bei gewinnt die Frau nichts und verliert alles. 

Was daher die öffentlichen Rechte der Frauen betrifft, fo 
handelt es fich nicht um beren Befig, fondern um deren Aus- 
Übung, und hier können ed nur die unverheiratheten Frauen fein, 
welche die Ausübung in eigener Perfon beanfpruchen. Dieſes 
Recht ſollen fie haben, fie follen jedes öffentliche Gefchäft betrei⸗ 
ben dürfen, nur kein Staatdamt, denn dieſes forbert die Vers 
antwortlichkeit des Beamten, und um feine Handlungen felbft 
verantworten zu können, muß der eigene Wille völlig unabhängig 
ſein; nun aber giebt die Frau eben diefe Unabhängigkeit auf, fo 
bald fie einen Mann liebt; daher müßte fie, um ein Staatdamt 
verwalten zu Eönnen, dad (unmögliche) Berfprechen ablegen, fich 
einer folchen Empfindung ſtets enthalten zu wollen”). 

*) Ebendajelbft, III Abſchn. $. 32—38, S. 343— 358. 


678 


4. Familienrecht. Eltern und Kinder. 

Wie die Ehe, fo ift auch dad Verhaͤltniß der Eltern zu den 
Kindern ein natilrlich⸗ moraliſches, welches durch den Rechtöbe: 
griff nicht gemacht, fondern worauf biefer nur angewendet wird. 
Die Beziehung ber Eltern und Kinder zum Staate fordert, daß 
ihr Verhältniß durch die Anwendung der Rechtsform ſich auch 
als Rechtöverhälmiß geſtalte. 

Die Zeugung des Kindes, bie Entwidlung deſſelben im 
mätterlichen Leibe und die Geburt find natürliche Vorgänge, die 
mit phyſikaliſcher Nothwendigkeit erfolgen und in welchen Die Na- 
tur des menfchlichen Körpers denfelben Gefegen unterliegt, als 
der thierifche. Aber bie menfchliche Natur enthält eine Grund: 
bebingung, welche der thierifchen fehlt: das Selbſtbewußtſein. 
Das mütterliche Bewußtfein von dem Augenblid an, wo es ein- 
tritt, durchlebt die im mütterlichen Leibe reifende und an deſſen 
Dafein und Erhaltung gebundene Entwidtung der Frucht, die 
Schmerzen der Geburt, das Glüd der Befreiung, das Dafein 
des Kindes. Die menfchliche Mutter ift ihres organifchen Zu: 
fammenhanges mit dem Kinde, der auch nad) der Geburt fort: 
dauert, fich bewußt; der Trieb des Kindes nach Nahrung und 
der Trieb ber Mutter zum Nähren bed Kindes find natürlich ver: 
bundene Triebe und ftehen als folche in einem organifchen Ver: 
haltniß; die Mutter fühlt das Bedürfniß bed Kindes als ihr 
eigenes; dad Kind ift unmittelbar ein Gegenftand des mütterli- 
chen Mitleidves und der zärtlichften Sorgfalt, feine Erhaltung ift 
in der Seele der Mutter zugleich natlirlicher Trieb und bewußte 
Aufgabe. Nun ift vermöge ber ehelichen Zärtlichkeit der innigfte 
Bunfc der Frau zugleich der Wille ded Mannes; auf die Zärt: 
lichkeit für die Frau, die Mutter feined Kindes, gründet fich zus 
nächft die näterliche Liebe und Sorgfalt, Beide Eltern find einig 





679 


in der Liebe für das Kind, fie wollen ſein Wehlſein, darum 
müffen fie auch feine Freiheit wollen, darum müffen fie diefe 
Freiheit foweit einfchränfen und bilden, ald es das Wohl des 
Kindes fordert, d. h. fie müflen dad Kind erziehen, nicht bloß 
phyſiſch umd intellectuell, auch moralifch. Dieß alles fordert die 
bewußte menfchliche Natur von ben Eltern in Rückſicht auf ihre 
Kinder, nicht ald Pflicht, fondern ald natürlich = fittliche Noth⸗ 
wendigkeit; dad Kind muß für die Eltern ein Gegenftand folder 
Pflege, ſolcher Empfindungen und Aufgaben fein. 

Die Familie lebt im Staate, die Eltern haben öffentliche 
Rechte und Pflichten, fie bilden eine Rechtöperfon, welche der 
Wann repräfentirt. Der Staat bedarf zu feinem Dafein und 
feiner gleichmäßigen Zortdauer einer gleihmäßigen Volksmenge 
und deren immer ſich erneuernden Ergänzung; er bedarf der Kin⸗ 
bererziehung und hat mithin ein Recht fie zu fordern und feinen 
Bürgern zur Imangspflicht zu machen; er hat dadurch ein Recht 
der Einwirkung auf dad Verhältniß der Eltern zu den Kindern. 
Er fordert mit Recht die Erhaltung der Kinder und erflärt deren 
Vernichtung (Kindesmord), weil dadurch der Staatszweck ges 
fährbet wird, für ein ſtrafwürdiges Verbrechen. Wie aber, wenn 
die Kinder ſchon von Geburt unfähig find, jemald Bürger zu 
werben, wie der Staat fie braucht? An der Erhaltung folcher 
Kinder hat der Staat Fein Intereffe, alfo auch keines dagegen, 
daß fie ausgeſetzt und baburch mittelbar vernichtet werden; er 
wird dieſes Verfahren nicht befehlen, auch nicht ausdrülcklich ers 
lauben dürfen, aber er braucht es nicht ausdrücklich zu verbieten. 
Hier finden wir Fichte wieder in feiner fpartanifchen Art: das 
Eyhorat, der gefchloffene Hanbelöftaat, die Möglichkeit der Aus- 
fegung untauglicher Kinder! In den beiden erften Punkten war 
jene lykurgiſche Methode (wenigſtens für uns) unpraktiſch und un⸗ 


680 


politiſch, in dieſem britten Punkt ift fie unter allen Umfländen 
unmenſchlich. Zugleich ift hier ein handgreiflicher Fehler in feinem 
Schluß: was ber Staat aus moralifchen Gründen niemals be 
fehlen, niemals ausdrücklich erlauben darf, das darf er auch nicht 
ſtillſchweigend erlauben, und hanbelt es fich dabei gar um die 
Möglichkeit und die Bedingungen des perfönlichen Daſeins, fo 
muß er ed nach feinem eigenen Princip aus Rechtögründen aus: 
drücklich verbieten *). 

Die Eltern ſollen die Pflicht haben, ihre Kinder zu erziehen, 
alfo müffen fie auch das Recht haben, ihre Kinder zu behalten, 
und dürfen baher nicht gezwungen werben, öffentliche Erziehungs: 
anftalten zu brauchen; es darf fich niemand in ihre Erziehung 
einmifchen, weil fonft ein gleihmäßiger und georbneter Gang 
derfelben nicht möglich wäre; mithin muß der Staat den Eltern 
die Herefchaft über ihre Kinder einräumen und garantiren als 
ein Recht, ohne welches fie die Pflicht der Erziehung nicht erfül⸗ 
len können. Diefe Pflicht allein ift ed, welche die Herrſchaft der 
Eltern über die Kinder rechtlich bedingt, alfo auch einfchränft, 
Die Eltern Eönnen daher unmöglich daS Recht haben mit den 
Kindern wie mit einem Eigenthume zu verfahren, fie dürfen die 
felben nicht veräußern, mißhandeln u. f. f.; bier tritt ihnen nicht 
bloß die Natur ber elterlichen Liebe, fondern ber Staat mit dem 
Geſetz entgegen; fie dürfen es nicht von Staats wegen, Daher 
bat auch der Staat diefe Herrfchaft der Eltern Über die Kinder 
nicht bloß zu garantiven, fondern auch zu beauffichtigen. 

Unter der Herrfchaft der Eltern find die Kinder unftei, un: 
felbftändig, unmündig; ihr natürlicher Vormund ift der Vater, 
fie werden frei, wenn fie aus ber väterlichen Gewalt heraudtreten, 
wenn ihre Erziehung vollendet iſt. Ob fie es ift, darüber ents 

*) Gbenbajelbft, IV Abſchn. $. 48. ©. 36162, 


681 


ſcheiden die Eltern, indem fie die Kinder frei laffen, ober ber 
Staat, indem er fie für brauchbare Bürger erkennt, fei ed daß 
er ihnen ein Staatdamt überträgt oder ein öffentliches Geichäft 
zu treiben erlaubt. Die Verheirathung ift die Grenze der elterlis 
hen Gewalt; da biefe Grenze durch den Willen der Eltern felbft 
beftimmt wird, fo haben die Eltern in die Heirath der Kinder zu 
willigen; da aber bie Ehe nicht gehindert werden darf, fo kann 
dad Verbot der Eltern die Verheirathung auch nur aufſchieben, 
aber nicht unmöglich machen. Kinder find als folche Feine (ſelb⸗ 
ftändigen) Perfonen, daher Tönnen fie Eigenthum weber haben 
noch erwerben. Wenn fie felbfländig werben kraft des elterlichen 
Willens, fo ift es natürlich, daß fie durch denfelben Willen auch 
Eigenthümer werden, d. h. daß die Eltern fie auöflatten. Ueber 
diefe Ausftattung entfcheidet Tediglich die Willkür und Güte der 
Eltern , denn die Kinder find Feine Eigenthümer, alfo auch nicht 
Miteigenthümer des elterlichen Guts. Ueber ihr Recht der Ins 
teftaterbfchaft entfcheidet die pofitive Geſetgebung. Im Falle 
einer Scheidung Tann ein Rechtöftreit über die Kinder entfliehen: 
will feiner der beiden Eltern für die Erziehung forgen, fo wer: 
den dem Water die Koften der Erziehung und ber Mutter diefe 
felbft übertragen; will Dagegen jeber ber beiden Theile die Kinder 
haben , fo fol der Mutter die Erziehung der Töchter, dem Vater 
bie der Söhne gehören *). 
IL 
Völker: und Weltbürgerredht. 
1. Voͤlkerrecht. 

Das Selbſtbewußtſein fordert die gegenſeitige perfönliche Anz 
ertennung der Menfchen als finnlicher Vernunftwefen und die 

*) Ebenbafelbft. IV Abſchn. $. 39-61. ©. 355—368. 


682 

barauf gegründete Rechtögemeinfchaft, welche felbft ihren ficheren 
Beſtand durch den Staat hat. Soll nun das Rechtsverhältniß 
fo weit reichen ald dad Dafein menfchlicher Wefen, fo müßten 
alle Menfchen Bürger deſſelben Staates fein und die ganze 
Menſchheit eine einzige politifche Gemeinde ausmachen. Indefs 
fen muß die Menfchheit vermöge der Befchaffenheit der Ertobers 
fläche und ihrer Gebiete, vermöge ihrer eigenen inneren Unter 
ſchiede, der Racen, Völker, Sprachen, Religionen, Bildungsfor⸗ 
men u. ſ. f. in eine Mehrheit verfchiedener und getrennter Staa⸗ 
ten zerfallen. Die Staatögemeinfchaft der gefammten Menfchheit 
iſt daher unmöglich; auf ber anderen Seite ift dad Rechtöverhält- 
niß der Perfonen nothwendig: alfo müffen bie Einzelnen in einer 
(geficherten) Rechtögemeinfchaft fiehen können, ohne zugleidy in 
derfelben Staatögemeinfchaft verbunden zu fein. ine Rechtöges 
meinfchaft der Perfonen (in ihrer unbefchränkten Ausdehnung) 
iſt aber nur dann möglich, wenn bie verfchiebenen Staaten felbft 
in ein gegenfeitiged Rechtöverhältniß treten, d. h. wenn es ein 
Völkerrecht giebt: mithin ift das Völkerrecht nothwendig, und 
diefe Nothwendigkeit ift um fo dringender, je leichter bie Bürger 
verfchiedener Staaten in Rechtöftreitigkeiten gerathen können, was 
am erften der Fall ift bei Grenzflaaten, daher dieſe vor allem 
ihre Grenzen reguliven, durch Verträge feftftellen und gegenfeitig 
anerkennen müffen *). . 


2. Geſandtſchaftsrecht. 
Das Rechtöverhältniß der Staaten ift nothwendig, um bad 
Daſein der Staaten felbft und die Rechtögemeinfchaft der Perfo: 
nen nach innen und außen zu fihern. Um bie gegenfeitigen 


*) Ghenbafelbft. Zweiter Anhang des Naturrehts, I. 8. 14, 
Coroll, S. 368-871. " 


683 


Rechtöverhälmiffe feftzuftellen, milffen die Staaten ausdrücliche 
Verträge fliegen, die auf der gegenfeitigen Anerkennung berus 
ben: auf der Anerkennung der Selbftändigkeit und inneren Unab⸗ 
hängigeit jedes der contrahirenden Staaten. Jeder Staat hat 
das Recht ſeine durch die Verträge von Seiten des anderen 
Staates erworbenen Rechte zu wahren und zu beaufſichtigen. 
Um dieſe Aufſicht führen zu können, muß er im fremden Staate 
einen (dort refidirenden und innerhalb deſſelben unverleglichen) Ges 
fandten haben, der ihn repräfentirt und feine Rechte überwacht ; 
das Völkerrecht fchließt daher dad Gefandtfchaftsrecht in ſich ). 


3. Kriegsrecht. 

Jeder Staat muß für feine Sicherheit forgen und hat ein 
Recht diefelbe zu erzwingen; ba nun die Nichtanerfennung eines 
fremden Staats diefe feine Sicherheit gefährdet, fo hat jeder 
Staat auf die Anerkennung des anderen ein Zwangsrecht. Der 
auf die gegenfeitige Anerkennung gegründete Vertrag muß gehal: 
ten werden ; wird er verlegt, fo hat der verlegte Staat das Recht, 
den andern zu zwingen. Dad von einem Staat auf den andern 
ausgeübte Zwangsrecht iſt der Krieg. Der Zweck des Kriegs ift 
die Sicherung bed Friegführenden Staats, alfo die Vernichtung 
des befriegten, die Vernichtung der Selbftändigkeit deffelben, ba 
diefe der Grund der Gefahr iſt. Die Seibftändigkeit wird ver: 
nichtet durch die Eroberung; daher ift diefe der eigentliche Zweck 
jedes Kriegs. Das Mittel der Kriegäfährung ift die Gewalt der 
Baffen, daher ift es auch nur die bewaffnete Macht, bie mit der 
bewaffneten Macht Krieg führt und auf deren Vernichtung d. h. 
auf die Entwaffnung berfelben ausgeht. Diefer Zweit ſchließt 
die graufame Art der Kriegäführung, die Ausplünderung ber un⸗ 

*) Ehenbajeltft, I. $.3—11, 6. 873-326, 


63 


bewaffneten Bürger, die Werheerung, ben abfichtlichen Mord 
uff aus*), 


4 Bölferbund. 
(Bundesgericht. Ewiger Frieden.) 

Im Kriege ift das Recht auf der Seite des Siegerd; bie 
fiegreiche Gewalt entfcheidet das Recht. Sol nun, wie die Ge 
rechtigkeit fordert, nur dad Recht die Gewalt haben, fo müßte 
es immer die gerechte Sache fein, welche fiegt, und es müßten 
deßhalb Bedingungen eingeführt werben, unter denen bad Recht 
allemal die fiegreiche d. h. die meifte Gewalt hat. Das ift nur 
moͤglich, wenn ſich eine Menge Völker zum Schutze des Völker: 
rechts vereinigen; und da im Völkerrecht bie politifche Selbſtän⸗ 
digkeit und Unabhängigkeit ber Staaten anerkannt ift, fo könnte 
eine folche Vereinigung fein Völkerſtaat, fondern müßte ein Völ⸗ 
kerbund fein, der durch ein Bundesgericht über jede Verlegung 
des Völferrechtö urtheilt und dieſes fein Rechtöurtheil im Noth⸗ 
fall durch Gewalt d. h. durch Executionskrieg zur Geltung bringt. 
Durch einen folchen Völkerbund werben die völferrechtlichen Strei⸗ 
tigfeiten gerichtlich ausgetragen; ber verurtheilte Staat wird es 
auf den Krieg nicht ankommen laffen, weil er der fchwächere iſt; 
die Kriege werden auf diefe Weife verhindert, zuletzt unmöglich 
gemacht und damit ber dauernde (ewige) Frieden hergeftelt, das 
einzig rechtmäßige Verhältnig der Staaten **), 

5. Weltbürgerrecht. 

Innerhalb der Staatögemeinfchaft ift jeder Bürger rechtlich 
geſichert; er ift es auch in allen fremden Staaten, die mit dem 
feinigen völkerrechtlich verbunden find. Er fol es überall fein, 


Ebendaſelbſt. I. 8. 12—14, 8.377—378, 
**) Ebendaſelbſt. L $.15—20. 6.379 —382, 


685 


fo weit Menfchen leben, alfo auch außerhalb des Staats: und 
Volkerrechts, d. h. außerhalb aller wirklich gefchloffenen Verträge. 
Hier gilt das fogenannte Weltbürgerrecht, nicht die bürgerliche, 
fondern die bloß menſchliche gegenfeitige Anerfennung der Perfos 
nen, nicht der bereitö gefchloffene Vertrag (denn es ift feiner vor⸗ 
handen), fondern nur die Möglichkeit, gegenfeitige Verträge zu 
fchließen. Dieſe Möglichkeit fol anerfannt werden ald Recht 
jedes Menſchen gegenüber dem andern, ald Menfchenrecht: das 
ift Bein Inbegriff erworbener Rechte, fondern nur die Fähigkeit, 
Rechte zu erwerben, bie als ſolche mit den Bedingungen ber 
menfchlihen Natur zufammenfält *). 
*) Ebendafelbft. IT. $.21—24. ©. 382—388, 


Zwölftes Kapitel. 
Princip uud Grundlegung der Sittenlehre*). 


L 
Begriff der Sittenlehre, 
41. Stellung und Aufgabe der Sittenlehre. 

Die praktifche Wiffenfchaftslehre hatte in ihrer Grundlegung 
dad Spftem der nothwenbigen Triebe entwidelt und in dem zus 
legt gefundenen Begriff eined „Triebes um bed Triebes willen 
(ſittlichen Triebes)“ diefelbe mit der Ausſicht auf das Sittengefeh 
gefhloffen**); die Rechtölehre mußte wieberholt ihr Gebiet von 
dem ber Sittenlehre unterfcheiden und damit fchon auf den Ger 
genftand der letzteren hinweiſen. Jetzt nachdem die Grundlage 
der gefammten Wiſſenſchaftslehre und auf berfelben dad Syſtem 
der Rechtölehre in feinem ganzen Umfange feftgeftellt ift, erfcheint 
die Begründung und Entwicklung der Sittenlehre ald bie nächfte 
Aufgabe im Fortfchritte des fichte ſchen Syſtems. Und da in der 
abfoluten Selbftthätigkeit und Freiheit das Princip fowohl der 
Wiſſenſchaftslehre überhaupt als insbeſondere der Sittenlehre bes 
fteht, fo läßt ſich vorausfehen, daß hier der Geift des ganzen 
Syſtems fein eigentliched Element und feine Heimath finden, daß 

*) Das Syftem der Gittenlehre nad ben Principien ber Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre (1798), S. W. IT Abth. A. II Bo. 

**) Bol, oben Cap. VII dieſes Buchs. Nr. III. 9, &.590—592, 


687 

in einem ihrer befonberen Gebiete die Wiſſenſchaftslehre ſich 
deutlicher und vollftändiger ausprägen, daß unter dem Gefichts: 
punkte der Sittenlehre dad Ganze bes fichte ſchen Syſtems in 
einen hell erleuchteten Geſichtskreis treten wird. Nehmen wir 
dazu die vorzügliche Kraft und methodiſch auögereifte Form ber 
Darftellung, womit Fichte die Sittenlehre entwidelt hat, fo düürs 
fen wir mit Recht erwarten, daß fich dieſes Werk, wie eö in ber 
That der Fall ift, durch feinen claffifchen Werth umter allen 
übrigen hervorhebt. 

Die Diöpofition der Aufgabe liegt hier fo einfach als bei der 
Rechtslehre. Es handelt fi) um dieſe drei Hauptpunfte: das 
Princip der Sittenlehre, die Anwendbarkeit diefed Princips, die 
Anwendung felbft. 


2. Philoſophiſche Sittenlehre . 

Die erfie Aufgabe ift daher die Feſtſtellung des Principe, 
Nichts fteht in der Wiffenfchaftslehre feft ald dad Bewieſene. 
Etwas im Geifte der Wiflenfchaftölehre beweifen, heißt allemal 
darthun, daß ed nothwendig zum Ich gehört, nothwendig durch 
das Selbftbewußtfein gefordert wird oder aus deſſen Bedingun- 
gen folgt. Diefen Beweis nennt Fichte die Deduction. Es han⸗ 
delt fi daher in erfter Linie um bie Debuction bes Princips: 
um die Ableitung des Sittengefeges aus dem Ich. 

Es giebt ein menſchliches Thun und Laflen, welches von 
äußeren Zweden völlig unabhängig ift: in diefer feiner Unabhäns 
gigfeit unterfcheidet es fich von dem Erkennen (theoretifchen Thäs 
tigkeit), in der Unabhängigkeit von allen äußeren Zwecken unter- 
ſcheidet es ſich von dem bloß techtlichen Handeln. Dieſes völig 
unabhängige Thun und Laffen ift fittlicher Art. Es ift nicht 
willkürlich, fondern es findet fich dazu in dem menfchlichen Ges 


688 

müth eine Nöthigung ; gerade barin, in biefer nothwendigen Be: 
ſchaffenheit, an der nichts wilfärlich gemacht ober geändert wer: 
den kann, befteht Die moralifche oder fittliche Natur des Menfchen, 
die daher aller Reflerion in uns vorausgeht und durch diefe nicht 
gemacht, fondern bloß erkannt wird. Nehmen wir dad Sittliche, 
wie es zunächft erfcheint und ſich und unwillkürlich aufdrängt, 
als eine bloße Thatfache des Bewußtſeins und begnügen und bei 
diefer nicht weiter dringenden Einſicht, fo entfleht „die factifche 
oder gemeine Erfenntniß der fittlichen Natur“, die philofophifch 
gar keinen Werth hat. Die philofophifhe Erkenntniß geht tiefer; 
fie will jene Thatſache des fittlichen Bewußtſeins ergründen ober 
aus ihren nothwendigen Bedingungen ableiten. Diefe Einficht 
iſt die genetifche Erkenntniß des fittlichen Bewußtſeins, die Ablei⸗ 
tung deffelben aus dem Ich, die Debuction des Sittengeſetzes. 
Dadurdy allein entfteht eine „Wiffenfchaft der Moralität”, eine 
nXheorie des Bewußtſeins unferer moralifchen Natur” d. h. Sit: 
tenlehre im Geift der Wiſſenſchaftslehre *). 


3. Die Grundbedingungen des Sittliden. 
Greiheit und Stoff.) 

Dieſe Deduction hat eine Vorbedingung. Da alles ſittliche 
Handeln in einer ſubjectiv völlig freien und unabhängigen Wirk⸗ 
famteit befteht, welche felbft nur möglich ift unter der Bedingung 
eines zu überwindenden Widerftandes, oder ba alle fittliche Frei⸗ 
beit in und weſentlich Befreiung ift, die als ſolche etwas zu 
Ueberwindenbed (etwas, wovon wir und zu befreien haben) vor⸗ 
ausſetzt, fo find die beiden Vorbedingungen, ohne welche übers 
haupt von Sittlichkeit nicht geredet werden kann, bie Freiheit 
— —* 

*) Das Syftem ber Sittenlehre u. |. f. I Hptſtüd. Deduction des 
Princips ber Sittlichkeit, Vorerinnerung zu dieſer Deduction. &.18— 18, 


689 
und ihr Gegenteil (der zu überwinbende Widerſtand, der und 
gegebene, unfreie, widerſtrebende Stoff). Daher wird vor allem 
die Thatfache diefer beiden Bedingungen aus dem Ich abgeleitet 
‚ober beburirt werben müffen: das ift bie Aufgabe ber Einleitung 
in bad Syſtem der Sittenlehre*). 

Gehen wir aus von der Thatſache des gewöhnlichen ober 
empirifchen Bewußtſeins, fo hat die Wiſſenſchaftslehre gezeigt, 
wie biefe Thatſache nur „abgeleitet ‚werben kann aus einem Prin- 
ip, welches ſelbſt nicht in die Form des Bewußtfeins eintritt 
noch jemals in diefelbe eintreten Tann. Das gewöhnliche Bewußt⸗ 
fein ift Wiſſen von einem (und gegebenen) Object; ich Tann nicht 
wiffen, daß etwas mir gegenüberfteht (außer mir iſt), ohne von 
mir felbft zu wiſſen; daher ift dad objective Bewußtſein noth- 
wenbig bebingt durch unfer Selbftbewußtfein, und dieſes beſteht 
in dem Bewußtſein unferer eigenen Wirkſamkeit. Hier ift das 
Princip: Ich der Wiffende und Ic der Wirkende bin ſchlecht⸗ 
hin baffelbe; bad wiſſende Ich iſt Subject, das wirkende Ich ift 
Object (ded Selbfibewußtfeind); Subjet und Object (Wiffen 
und Sein) find demnach hier fchlechthin Eines oder abfolut iden⸗ 
tifch. „Ich weiß von mir dadurch ba ich bin, unb bin baburch, 
daß id von mir weiß”: dieſe unmittelbare Uebereinftimmung 
zwiſchen Subject und Object, dieſe abfolute Ipentität beider iſt 
das alleinige Princip alles Bewußtſeins. 

Im Princip des Bewußtfeind find Subject umd Object abs 
ſolut identiſch; in der Form des Bewußtfeins find beide ſtets ge⸗ 
trennt, und nur in biefer Trennung ift die Form des Bewußt⸗ 
feind möglich: daher kann jenes Princip in diefe Form nicht ein⸗ 
gehen. Dder, wie ſich Fichte ausdrüdt: „dad Eine, weiches ge: 
trennt wird, das ſonach allem Bewußtſein zu Grunde liegt und 
Einleitung, S. 1-12, 

diſqer, Gefhläte der Phllofophle V. 44 


‚690 


zufolge deſſen das Subjective und Objective im Bewußtſein un- 
mittelbar ald Eins gefegt wird, ift abfolut —= X, kann ald Ein- 
faches auf Feine Weife zum Bewußtfein kommen *).” 

Sind nun innerhalb des Bewußtſeins jene beiden Bebin- 
gungen (Subject und Object) nothwendig getrennt, die im Grunde 
des Bewußtfeind nothwendig Eines find, fo folgt daß die im 
Bewußtſein Getrennten nothwendig vereinigt ober in Ueberein- 
Rimmung gefegt werden mäffen. . Die Einheit Getrennter ift Ber- 
bindung; die nothwendige Verbindung ift Cauſalverknüpfung: 
daher iſt dad Bewußtfein, welches Subject und Object trennen 
und zugleich vereinigen muß, nur möglich als (dad Bewußtſein 
ber) Caufalverfnäpfung zwifchen Subject und Object. 

Diefe Verbindung iſt nothwendiger Weife eine zweifache, 
benn jede ber beiden Seiten muß ald Urfache und Wirkung der 
andern gelten: 1) dad Object ift Urfache des Subjects, dieſes 
folgt aus dem Object, es richtet fich nach ihm, d. h. ed ſtellt vor, 
was dad Object if, der Begriff folgt aus dem Sein: dieſe Art 
der Uebereinftimmung beider innerhalb der Trennung ift das Er- 
tennen ober das theoretifche Ich; 2) dad Subject ift Urfache des 
Objects, dieſes folgt aus dem Subject, es richtet fich nach ihm, 
das Sein folgt aus dem Begriff (Zweckbegriff): dieſe Art der 
Uebereinftimmung beider innerhalb der Trennung ift dad wir 
kende oder praktiſche Ih. Darum ift alles Bewußtfein, weil 
& in diefer doppelten Gaufalverfnüpfung (Uebereinſtimmung) zwi⸗ 
ſchen Subject und Objert beſteht, nothwendig ſowohl thenretifch 
als praktiſch; und die Wiſſenſchaftslehre ald Begründung oder 
Theorie bed Bewußtſeins nothwendig ſowohl theoretiſche ald prak⸗ 
tifche Wiffenfhaftölehre**). Die abfolute Einheit von Subject 

*) Chendafelbft. Eml. Pr. 5. S. 5. Bergl. Fr. 1. 

**) BVergl, oben III Bud, III Cap. Nr. IV. S. 505—507, 


601 


und Object (Princip des Bewußtſeins) muß innerhalb der Tren⸗ 
nung beiber (Form des Bewußtſeins) gleichfam gebrochen erfchei- 
nen als Gaufalnerus, d. h. als theoretifche und praktiſche Ueberein⸗ 
fimmung. Iene befteht im Erkenntnißbegriff, diefe im Zweckbe⸗ 
geiff: fo geftaltet ſich die unmittelbare Uebereinſtimmung in der 
Form des Bewußtfeind. Daher nennt Fichte den Erkenntniß⸗ 
und Zweckbegriff (dad Erkennen und Wellen) „eine befondere 
Anficht jener unmittelbaren Webereinftimmung” ; und da biefe be 
fondere Anficht (das theoretifche und praktifche Ich) mur bedingt 
ift Durch die Form des Bewußtfeind und zugleich alle Arten der 
Trennung und Uebereinftimmung zwifchen Subject und Object in 
ſich ſchließt, fo darf Fichte erklären: daß „der gefammte Inhalt 
alles möglichen Bewußtſeins durch die bloße Form deffelben ger 
fest fei”*). 

Kein Bewußtfein von irgend etwas ohne Bewußtſein des 
eigenen Selbfteö, Fein Selbſtbewußtſein ohne Wahrnehmung ber 
eigenen Thätigkeit, und diefe letztere feibft ift nicht wahrnehmbar 
ohne Vorſtellung eined Widerſtandes von außen, der, von unfes 
rer eigenen Thätigkeit völlig unabhängig und derfelben entgegen 
geſetzt, als „bloße Objectivität” erfcheinen muß, „ald etwas nur 
Beſtehendes, ruhig und tobt Worliegended, bad bloß ift, keines 
wegs aber handelt, das nur zu befiehen ſtrebt und daher aller- 
dings mit einem Mafe von Kraft zu bleiben, was es ift, ber 
Einwirkung der Freiheit auf feinem eigenen Boden widerfirebt, 
nimmermeht aber biefelbe auf ihrem Gebiete anzugreifen vermag“. 
„So etwas heißt mit feinem eigenthlimlichen Namen Stoff.” 
Ohne Vorſtellung eines folchen Stoffs keine Vorftellung eines un- 
ferer Thätigfeit entgegengefegten Widerflandes, Feine Wahrneh⸗ 

*) Syftem ber Sittenlehre. Einleit. Nr. 5. S. 2— 6. Bergl, 
Rr. 2. 3.4. 6.2—4. 

44% 


62 

mung unferer eigenen Thatigkeit, Fein Selbſtbewußtſein, fein 
Bewußtſein, kein Sein. Mit der Vorſtellung des Stoffe wilde 
dad Bewußtfein felbft aufgehoben werben. Es ift Daher unmög⸗ 
lich, daß jene Vorftellung je aufgehoben wird; fie ift dauernd 
und unveränberlich: fie folgt aud dem Geſetz des Bewußtfeind*). 

Eben fo nothwendig ald die Setzung der bloßen Objectivi- 
tät ober des Stoffs ift die Setzung der eigenen Thätigkeit, des 
Subjectd als wirkfamer (realer) Kraft. Nun find im Bewußt- 
fein Subject und Object getrennt. Das Subjective im Unterfchiebe 
vom Objectiven ift Vorſtellung oder Begriff. Mithin muß in- 
nerhalb diefer Trennung (ober des Bewußtfeind) bad eigene Thun 
als eine Wirkſamkeit erfheinen, die vom Subject aus⸗ und auf 
das Object übergeht, d. h. ald Caufalität des Begriffs oder als 
Eaufalität durch den Begriff: fo allein kann fich im Bewußtſein 
unfre abfolute Selbfityätigkeit darftellen. Diefe durch dad Ge 
ſetz des Bewußtſeins geforderte Worftellung unferer abfoluten 
Selbftthätigkeit heißt Freiheit. Der Begriff, als wirkfam vor- 
geſtelit, if Zwedbegeif; Caufalität deß Begriffe if Bwerfthätig- 
keit; die Setzung des Zwecks in Rüdficht auf das Object („der 
Bwedbegriff, objectiv angefehen”) ift Wollen. Das Ich, vorge 
ſtellt ald Princip der Wirkfamkeit, ift Wille. Soll der Wille auf 
den Stoff wirken ober Eaufalität in der Körperwelt haben, fo muß 
er felbft Stoff, materieller, articulieter Leib fein: Wille und Leib 
iſt daher ein und baffelbe, von zwei Seiten betrachtet; was als 
Subject Wille genannt wird, das heißt in feiner objectiven Er⸗ 
ſcheinung Leib. So beutlich ausgeſprochen und fo tief begrüns 
det finbet fich bei Zichte das Princip ber ſchopenhauer ſchen 
Eehre”*). 

*) Ebendaſelbſt. Einl. Ar. 6. S. 6—8. 

**) Chenbajelbft, Einl, Pr, 7 u. 8, 6, 8-11. 


693 


Die abfolute Selbſtthatigkeit erſcheint demnach in der Form 
bes Bewußtſeins und nach dem Grundgefege des letztern zugleich 
als Caufalität des Begriff und Caufalität des Stoffs, als Zweck- 
thätigfeit und Nothwendigkeit, Freiheit und Materie, Wille und 
Leib: ald diefe nothwendige Verknüpfung der beis 
den Enden der ganzen Bernunftwelt*). Hier find bie 
beiden Bedingungen, welche bie fittliche Thatigkeit fich voraußfegt. 

„Das einzige Abfolute, worauf alles Bewußtſein und alles 
Sein fid) gründet, ift reine Thatigkeit. Diefe erfcheint zufolge 
ber Gefege des Bemußtfeind und insbeſondere zufolge feines Grund» 
geſetzes als Wirkſamkeit auf etwas außer mir. Alles, 
was in diefer Erſcheinung enthalten if, von dem mir abfolut 
durch mich felbft gefeßten Zwede an, an dem einen Ende, bis 
zum rohen Stoffe der Welt an dem andern find vermittelnde Glie⸗ 
der der Erfcheinung, ſonach felbft auch nur Erſcheinungen. Das 
einzige reine Wahre ift meine Selbftändigkeit **)." 


ID. 
Die Deduction des Sitteng eſetzes *). 
1. Beſtimmung der Aufgabe. 
uUnſere Sittlichkeit beſteht in einem von allen äußeren Zwecken 
völig unabhängigen Thun und Laffen, alfo in unſerer abfo- 
Inten, bloß durch ſich beflimmten Selbfithätigkeit, d. h. in ei- 
nem folchen Handeln, deſſen alleinige Gefeg ber Begriff ber 
Selbſtthaͤtigkeit iſt. Wenn wir genöthigt find, dieſen Begriff 
unferer abfoluten Selbftthätigkeit zur Norm unfered Handelns zu 
machen oder und felbft in allen unferen Handlungen durch dies 
*) Ebenbafelbft, Ein. Fr. 7. 6. 10, 
**) Ebendaſelbſt. Einl. Nr. 9. S. 11—12, 
*#+) Ghenbajelbft, I Hauptftüd. S. 18—62, 


69 


fen Begriff zu beftimmen, fo if die Selbfithätigkeit unfer Ge 
ſetz (Sittengefeb). Wenn wir einfehen, warum wir genöthigt 
find, den Begriff unferer Selbfithätigkeit zum Gefe unferes 
Handelns zu machen, fo wird dadurch bad Sittengeſetz abge⸗ 
leitet und die Sittenlehre begründet. Wird diefe Nothwenbigkeit, 
wie ed die Wiſſenſchaftslehre fordert, aus bem Ich abgeleitet, fo 
ift Damit dad Sittengeſetz deducirt und bie erſte Aufgabe der Sit- 
tenlehre gelöft. Das Ich muß feine Freiheit zu feinem Gefeg ma⸗ 
hen, ober es wäre fein Ich: fo nothwendig dad Ich, ebenfo noth- 
wendig ift dad Sittengefeß; wird dieſes aufgehoben, fo ift damit 
auch bad Ich felbft aufgehoben; wird das Ich gefeht, fo ift dad 
Sittengefeg davon die nothwendige Folge. Die Einficht in die⸗ 
fen Zufammenhang ift der Punkt, um ben ed fich in der Deduc⸗ 
tion handelt. 

Wir zergliedern die Aufgabe genau. Um feine Freiheit zu 
feinem Gefeg machen zu Tönnen, muß das Ich 1) den Begriff 
feiner Freiheit oder die Vorftellung feiner abfoluten Selbftthätig: 
teit haben*); es muß daher 2) ſich eben diefer abfoluten Selbſt⸗ 
thätigkeit bewußt werden und alfo 3) in Wahrheit abfolut felbft- 
thätig fein**). 


2. Das Ih als abfolute Selbſtthätigkeit. 

Das Ich iſt, was es ift, für fich; es ift die abfolute Einheit 
des Subjectiven und Objectiven, ded Denkenden und Gebachten. 
Das Bemußtfein trennt diefe Einheit, es trennt bad Denken 
vom Gedachten, dad Wiſſen vom Sein und läßt dieſes (dad Ge 


*) Bergl. oben S. 692. 

*) Syſtem ber Gittenlehre. I Hauptftüd. Deduction. Vergl. mit 
den obigen Bebingungen bie drei Aufgaben ber Debuction (8. 1 — 8. 3) 
in umgelehrter Reihenfolge. 


6% 

dachte) als unabhängig vom Denken erfcyeinen. Was daher das 
Ich unabhängig von feinem Denken ift, (dieſes urſprüngliche Sein) 
ericheint dem letzteren ald etwas Gegebened, Vorgefundenes, ald 
urfprüngliche reelle Kraft, die als folche nur ſich ſelbſt beſtimmt, 
alfo in der abfoluten-Selbftthätigkeit befteht, nicht in der Wirk: 
ſamkeit auf etwas Anderes, fondern in einer Selbftthätigkeit; 
die nur fich zum Ziel hat, d. h. in der Tendenz zur Selbfithätig- 
teit um ihrer felbft willen, alfo in der Tendenz zur abfoluten 
Selbftthätigkeit. Diefe Tendenz nennt Fichte „dad objective Sein 
des Ich”, Diefed „reelle Selbftbeflimmen feiner felbft durch fich 
felbft” nennt er wollen, nur wollen. In diefem Wollen (ſich 
wollen) beſteht das urfprüngliche Sein des Ich. Daher der 
Satz: „ich finde mich ſelbſt ald mich felbft nur wollend*).” 


3. Die Selbfithätigfeit ala Freiheit. 

Das ganze Weſen des Ich befteht in der abfoluten Selbſt⸗ 
thätigkeit; die Tendenz zu diefer ift daher „Trieb auf dad ganze 
Ich“. Das Ih muß, was es ift, wiſſen; jener Urtrieb, der 
das objective Sein des Ich ausmacht, muß daher die Intelligeng 
beftimmen, ex muß ſich als Gedanke äußern, als nothwendigen, 
unmittelbarer, erſter Gedanke: diefe nothwendige Vorftellung uns 
ferer abfoluten Selbftthätigfeit (Willens) ift dad Bewußtfein der 
Freiheit. Wäre das Ich nicht urfprüngliche Tendenz zu abſolu⸗ 
ter Selbſtthatigkeit, fo wäre es kein Ich; wäre es fich dieſer 
Tendenz (feines Wollens) nicht bewußt oder, was bafjelbe heißt, 
ohne die Vorſtellung feiner Freiheit, fo wäre ed auch keines. So 
nothwendig demnach das Ic) felbft, ebenfo nothwendig ift feine ur: 
ſprüngliche Tendenz zu abfoluter Selbftthätigkeit und die Setzung 


*) Ghenbafelbft. I Hauptftüd, 8.1. S. 18 flod. Dergl. $. 3. 
6.60, 


696 


feiner Freiheit. Aber es ift nicht genug, daß es fich als frei 
denkt: es muß diefe feine Freiheit als Geſetz vorftellen*). 


4. Die Zreiheit ald NRothwendigkeit (Befeh). 

Was das Ich ift (abfolute Iventität von Subject und Ob: 
ject), trennt dad Bewußtfein in zwei von einander unterfchiedene 
Seiten und fordert deren notwendige Vereinigung in der Form 
ber Eaufalverfnüpfung: fo entfteht innerhalb des Bewußtſeins 
auf ber fubjectiven Seite die Caufalität des Begriffs (Freiheit), 
auf der objectiven Seite die des Stoffs (Nothivenbigkeit), Das 
Ich ift die Identität beider Seiten und fordert Daher deren abfolute 
Vereinigung; daher koönnen im Ich Freiheit und Nothwendigkeit 
einander nicht entgegengefebt, ſondern müſſen eines fein: bie Frei» 
heit ift ſelbſt nothwendig, fie ift dad Gefeß, dem wir und fchlech- 
terdings unterwerfen. Dad Ich wäre nicht Ich, wenn die Freiheit 
nicht Geſetz wäre; die Freiheit wäre nicht Geſetz (ſondern Zwang, 
alfo nicht Freiheit), wenn wir nicht felbft fie zu unferem Geſetz 
machten mit Freiheit und um der Freiheit willen; das Geſetz 
wäre nicht Freiheit, wenn ed nicht autonom wäre. Wir follen 
unfere Freiheit nach dem Begriff unferer Selbftänbigteit beftim- 
men, ſchlechthin und ohne Ausnahme: das ift ein nothwendiger 
Gedanke unferer Intelligenz, dieſer Gedanke ift das Princip der 
Sittlichkeit: das Sittengefeg**).' 

Die Deduction des Sittengefebes ift einleuchtend. Hier ift fie 
in ihrer negativen Form: kein Sittengefeß, Feine Autonomie, Feine 
Einheit von Freiheit und Geſetz (Nothwendigkeit), Feine Möglich 
keit der Vereinigung beider, alfo auch keine Bereinigung von Sub: 
ject und Object innerhalb der Trennung beider, alfo auch Feine 

*) Ebenbafelbft, I Hauptftüd, $. 2. 

**) Ghenbajelbft, I Hauptftüd, $. 8. 


697 


Möglichkeit der Trennung, Feine Möglichkeit des Bewußtfeind, 
Fein Ich. Wir geben die Deduction des Gittengefehed aus dem 
Ich in folgendem Schema: 

Ich 


Subject = Object 








Bewußtſein (Kremnung) 
—t — — — 
Subject Object 


— — 
Selbſtthatigkeit Stoff 
— — 
Eaufalität des Begriffe Cauſalität des Stoffs 
Freiheit Nothwendigkeit 
Bereit — = Nothwendigkeit 
Freibeitögefeg 
— — 
Freiheit unter dem Geſetz 
der Freiheit 


bſolute Autonomie) 


Sittengeſetz. 








II. 
Anwendbarkeit ober Realität des Sittengefebes*). 
4. Die Stellung der Frage. 

Es ift bewiefen, daß aus dem Weſen des Selvſtbewußt⸗ 
ſeins das Sittengefe nothwendig folgt, daß demnach feine Gel: 
tung im Ich und für daffelbe unbedingt feſtſteht; es iſt damit 
noch nicht bewieſen, daß es mit derfelben Nothwendigkeit auch in 


*) Ebendaſelbſt. II Hauptftüd. Deduction ber Realität und Ans 
wenbbarteit bes Princips ber Sittlichleit. S. 68—156. 


698 


Rüdficht auf die Welt gilt, da es auf biefelbe anwendbar, in 
ihr ausführbar iſt. Und was wäre bad Sittengefeh, wenn es 
in der Welt nicht ausführbar wäre; wenn, was zufolge deſſelben 
gefchehen fol, nicht gefchehen könnte? Nachdem das Sittenge: 
fe& felbft dargethan worden, handelt es fich jegt darum, feine 
Realität (in Rüdficht auf die Welt) zu deduciren. 

Die Deduction gefchieht, wie die Wiffenfchaftslehre fie for- 
dert. Es muß gezeigt werden, daß aus benfelben Bedingungen, 
aus denen das Sittengefeb folgt, auch feine Ammendbarkeit auf 
die Welt hervorgeht, daß beides begründet ift in dem Weſen des 
Ih. Setze, das Sittengefeh könne in der Welt nichts ausrich⸗ 
ten ober habe auf biefe feine Gaufalität, fo Fönnte dad Ich nicht 
fein, was es iſt. Hebe bad Sittengeſetz auf, fo ift dad Ich felbft 
aufgehoben: diefe Nothwendigkeit if bewiefen. Hebe die Reali⸗ 
tät des Sittengefeßes auf, fo ift das Ich felbft ebenfalls aufgeho⸗ 
ben: diefe Nothwendigkeit ft jet yır beweifen. 

Ich will gleich fagen, in welchem Punkte der Nero des Ber 
weiſes liegt. Es verhält ſich mit dem fichte’fchen Beweife von 
ber Realität des Sittengefeged ganz ähnlich ald mit dem kanti— 
ſchen Beweife von der Realität der Kategorien. Wenn die Ka— 
tegorien die Bedingungen find, unter denen eö fiberhaupt Erfah: 
zung giebt, fo folgt felbftverfländlih, daß fie in aller Erfah: 
rung gelten. Wenn das Sittengefeh als die Bedingung begriffen 
werben muß, unter der ed überhaupt Welt giebt, fo ift feine 
Ausführbarkeit (Geltung) in der Welt d. h feine Realität davon 
die einfache und unmittelbare Folge. 

Es wird daher alles davon abhängen, daß man von vorn- 
berein die Frage richtig ſtellt. Nimmt man die Welt ald etwas 
von dem Ich völlig Unabhängiges, als Ding an fi, fo ift die 
Frage unlösbar und die Realität des Sittengeſetzes unmöglich. 


699 
Rimmt man dagegen bie Welt, wie fie alein zu nehmen ift, als 
das nothwendige Objert des Ich, fo ſtellt fich die Frage fo, daß 
die Loſung fich von felbft daraus ergiebt. 

Setzen wir alfo, wie es die Wiflenfchaftslehre auf Grund 
ihrer ſchon geführten Beweiſe verlangt, daß bie Welt gleich iſt 
dem Objecte des Ich d. h. dem Nicht Ich; daß Ic und Nichte 
Ich ſich gegenfeitig einfchränfen und darum in durchgängiger 
Wechſelwirkung flehen; daß demnach was in dem befehränften: 
(theilbaren) Ich gefchieht, nothwendig auch in dem Nicht-Ich 
feine Wirkung äußert: fo ift die Frage nach der Realität des Sit: 
tengefeßes (Caufalität deſſelben auf die Welt) gleichzufegen ber 
Frage: wie bad Sittengeſetz wirkfam fein Fönne auf das befchränkte 
Ich? Und da dieſes gleich ift dem leiblichen, finnlichen, empi= 
tifchen Ich, fo handelt es fi in dem Hauptpunkte ber Sache 
um bie Caufalität des Sittengefeges in Rüdficht auf dad ſinnliche 
Ich. Nun ift das Sittengeſetz felbft nichts anderes ald der Aus⸗ 
drud des reinen Ich ober der abfoluten Selbftthätigfeit, die nur 
fich zum Zwed hat: mithin zieht fich die ganze Frage in die For⸗ 
mel zufammen: wie das reine Ich wirkſam fein könne auf dad 
empirifche Ich? Das reine Ich al die abſolute Selbftthätigkeit, 
die nur fich zum Zweck hat, iſt die Tendenz zur abſoluten Selbfl- 
thätigkeit, „ber Trieb auf dad ganze Ich”, „der Trieb der Kreis 
heit um ber Freiheit willen“, kurzgeſagt: es ift reiner Trieb; dad 
empiriſche, ſinnliche, leibliche, beſchränkte Ich ift ein Syſtem 
beftimmter, finnlicher Triebe, kurzgeſagt: es iſt finnlicher Trieb. 
Die Caufalität des Sittengeſetzes auf die Welt ift demnach gleiche 
zuſetzen ber Gaufalität (bed reinen Ich auf das finnliche Ich oder) 
des reinen Triebes auf ben finnlichen Trieb: damit find die bei- 
den Seiten der Frage, die zunächft ald Gegenſatz erfcheinen, un⸗ 
ter gleichen Renner gebracht und die Frage fo geftellt, daß fie die 
Bedingungen der Löfung in ſich ſchließt. 


700 


Auch laßt fi die Löſung felbft ſchon Hier vorausnehmen. 
Denn da jene beiden Seiten ſich zu einander verhalten, wie das 
Höhere zum Niederen oder wie dad Bedingende zum Bedingten, 
fo wird es das Sittengeſetz fein müffen, unter deſſen Bedingung 
das fittliche Ich und bamit zugleich das Nicht: Ich, alfo alles von 
dem Ich Unterfchiebene d. h. bie Welt fieht; fo ift das Gittenge 
fe nothwendig zugleich Weltgefeg, woraus feine Ausführbarkeit 
in ber Belt, feine Anwendbarkeit auf die Welt, mit einem Worte 
feine Realität von felbft einleuchtet. 


2. Das Ich ald Trieb und Gefühl (Natur). 

Um alfo dieſes zweite Problem der Sittenlehre aufzulöfen 
und dad Verhältniß der beiben Triebe richtig zu faflen, müffen 
wir auf den Begriff des Triebes näher eingehen. Was das Ich 
urfprünglich ift, muß, wie ſchon gezeigt worben, bem Bemußt: | 
fein als etwas Gegebenes oder Vorgefundenes erfcheinen. Das 
Ich ift in feinem urſprünglichen Sein Tendenz ober Trieb zur 
Selbſtthaͤtigkeit; es muß fic daher als Trieb (Wide) finden 
oder, was baffelbe heißt, es muß ſich als „getrieben“ exfcheinen. 
Dad Ich ald Bewußtſein oder Intelligenz; muß feiner felbft ald 
eined Triebes inne werben ; biefe Erkenntniß hängt nicht von ber 
Freiheit der Reflerion ab, fondern ift eine unwillkürliche und f 
nothwenbige Beftimmtheit der Intelligenz d. h. Gefühl. Das 
Ich ift Trieb und fühlt fich als folder; es ift Grund de Trie⸗ 
bed, der Trieb ift Grund des (dadurch erregten) Gefühls oder 
mit andern Worten: „ich bin geſetzt objectiv als getrieben, fub- 
jectio als fühlend biefen Trieb”. Diefe Setzung iſt von meiner 
Reflerion und bamit von meiner Freiheit ganz unabhängig; & 
giebt mithin ein urfprünglich beſtimmtes (der Reflerion vorausge | 
ſetztes) Syſtem von Trieben und Gefühlen. Was aber unab- 


701 


hangig von der Freiheit feſtgeſetzt und beſtimmt iſt, heißt Natur“. 
Jenes Syſtem der Triebe und Gefühle iſt demnach Natur. 
Ich felbft bin ein folches Syſtem, ich bin als ſolches geſetzt, finbe 
mic) fo vor, das Bewußtfein, ſo zu fein, drängt ſich mir un: 
willfürlich auf: jene Natur ift demmady meine Natur, Daher 
der Sag: „ich bin Natur, und biefe meine Matur ift ein 
Zrieher), 


3. Der Zrieb aldRaturproduct. Die Ratur-ald 
organifhes Syſtem. 
Bildungstrieb. Organifationstrieb, 

Der Trieb felbft kann nicht willkuͤrlich geſetzt werden, er ift 
aus einem Acte ber Freiheit nicht zu erflären; ebenfo wenig läßt 
er fi denen als ein Glied des Naturmechanismus, denn in 
der mechanifchen Gaufalverfnüpfung der Erfcheinungen wird die 
Wirkſamkeit äußerlich fortgepflanzt von Glied zu Glied und bes 
ruht Daher auf einer fortgefegten Mittheilung der Kraft; dagegen 
ift der Trieb eine innere auf ſich felbft wirkfame, ſich felbft bes 
fiimmende (alfo von außen nicht mittheilbare) Kraft”). Diefe 
Selbſtbeſtimmung des Triebes kann aber nicht willkürlich ge 
macht, nicht gewählt, durch keinen Begriff erzeugt werden; fie 
it, wie fie ift, nicht durch Freiheit, alfo durch Natur gefegt und 
will daher lediglich ald Naturproduct gedacht und erBlärt werben, 
Bas vom Triebe ald ſolchem gilt, gilt auch von meiner Natur, 
denn meine Natur ift Trieb. Daher muß fie gedacht werben ald 
Naturprobuct oder ald Refultat der Beftimmtheit der ganzen Nas 
tur, Ich bin Trieb, mein Trieb ift Selbſtbeſtimmung, diefer durch 

*) Ghenbafelöft. IL Hptft. $.8. Fünfter Sehrfap. Nr.IV. ©, 
107—109. Vergl. bamit Nr, III. €, 102— 107. 

**) Ebenbafelbit, II Hpift, $. 8, Ar. V. ©. 109-111, 


702 


fich beflimmte Trieb ift Naturproduct, d. h. der Grund diefer | 
Selbſtbeſtimmung liegt im Ganzen der Natur, dieſes Ganze 
ift die Wechfelwirfung ber gefchloffenen Summe aller Theile, 
mithin muß die Natur als ein folched Ganze gedacht werben, in | 
welchem jeder Theil durch fich beftimmt und in diefer Beftimmt- 
heit zugleich ein „Refultat ift von der Beſtimmtheit aller Theile 
durch fich felbfl": als ein Ganzes, deſſen Theile jeder ſich ſelbſt 
und zugleich alle fich wechfelfeitig beſtimmen, die insgeſammt da: 
ber ſich gegenfeitig bedingen und bedürfen, d. h. als ein organi- 
ſches Ganze. „Die Natur Überhaupt ift ein organifches Ganze 
und wird ald ſolches gefegt*).” 

In einem organifchen Ganzen ift jeder Theil durch fich ber 
ſtimmt und bedarf zugleich die Vereinigung mit ben andern. Be | 
durfniß ift Trieb. Jeder Theil hat fein Maß von Realität und | 
zugleich den Trieb zu den anderm. „Kein Element ift fich ſelbſt 
genug, nur für ſich und durch fich felbftändig; es bedarf eines an- 
deren, und dieſes andere bedarf feiner: es ift in jedem der Trieb 
auf ein fremdes.“ Diefes Streben jedes Theiles zur Bereinigung; 
und Ergänzung mit den andern ift der Trieb zu bilden und fih | 





bilden zu laffen: „Bildungätrieb”. Ein ſolcher Bildungs 
trieb ift Daher nothwendig in der Natur. Das dadurch gebildete 
Gaͤnze ift organifch: jener Bildungstrieb daher Organifationdtrieb 
und als ſolcher Durch die ganze Natur verbreitet. Die Natur muß 
daher gefegt werben ald organifirend, und ihr Refultat (meine 
Natur) ald organifches Naturproduct **). 

So gewiß ich bin, fo gewiß finde und fühle ich mich ald 
Trieb und dieſen fo empfundenen Trieb ald Natur, als meine 
Natur, als etwas durch Natur Geſetztes, als Naturprobuct; 

*) Ebendaſelbſt. II Hptit. 8.8. VI S. 112—115. 

**) Gendaſelbſt. II Hpti, 9.8. VIL S. 115—121. 


703 
aber meine Natur Bönnte nicht Naturprobuct fein, wenn nicht der 
ganzen Natur in jedem ihrer Theile der Bildungstrieb inwohnte, 
wenn nicht durch die ganze Natur der Trieb zur Organifation 
verbreitet. wäre*). 

Ich finde mich ald organifches Ratınyeoduct, als ein in fich 
geſchloſſenes Ganze, in welchem jeber Theil vermöge der ihm eis 
genthümlichen Beftimmtheit die Vereinigung mit den anderen be 
darf und erfirebt, alle Theile insgefamt daher jeder aus eigenem 
Trieb ihre Gemeinfchaft fuchen und erhalten. Das organiſche Na⸗ 
turproduct kann Demnach nur beftehen durch die fortgehende Wirk: 
famteit des ihm inwohnenden Bildungstriebes, d. h. ed muß ges 
dacht werden als fich felbft organifirend. Da nun alle Theile zus 
fammengenommen (die Bereinigung aller biefer Theile) gleich ift 
dem Ganzen, fo ift der auf diefe Vereinigung gerichtete Bildungs⸗ 
trieb in feiner fortgehenden Wirkſamkeit gleich dem Selbfter: 
haltungstriebe des Ganzen, dem Triebe zum Dafein, nicht 
zum bloßen Dafein, fondern zu diefer Durchgängig beftimmten Eri- 
ſtenz und zu allen für diefe beſtimmte Eriften, nöthigen Bebin- 
gungen. Diefer Selbfterhaltungätrieb ift die Bedingung, unter 
der etwas als ein zur Erhaltung des Ganzen nöthiges Object be 
gehrt wird. Nicht aus ber Natur des Objects, fondern aus 
meiner Natur folgt die beftimmte Begierde (Begierde nach et 
was); nicht dad Object ift der Grund der Begierde, fondern 
meine Begierde ift der Grund, daß ein Naturding ihr Gegen 
fand z. B. Nahrungsobject (Speife und Trank) wird**). 

4. Der Trieb des Ih ald Sehnen. 
Freiheit und Nothwendigkeit, Selbſtbeſtimmung und Natur. 
Was ich bin, darauf muß ich (nach dem Geſetze des Ich) 
*) Ebendaſelbſt. II Hptft. 8.8. VII. &.121—122. 


**) Ghendafelbft, IL Hpift. 9. 9. Folgerungen. Ar. J. 6. 122 
—124, 


.704 5 
reflectiven. Ich bin Trieb; alfo muß der Zrieb Object meiner 
Reflerion werben, fonft wäre er nicht mein Trieb; ich muß fin: 
ben (empfinden), daß mir etwas fehlt, ich habe nicht bloß das 
Bebürfniß, fondern fühle es oder fehne mich wonach. Diefen fo 
veflectirenden Trieb nennt Fichte „Sehnen“ oder „Gefühl des Be: 
dürfniſſes ). Ich bin Natur, ich bin zugleich unmittelbar Ob- 
ject meined Bewußtſeins: meine Natur ift barum nothwenbig 
ein unmittelbare Object meined Bewußtſeins. Das Subject 
dieſes Bewußtſeins bin ich felbft, als biefes Subject bin ich frei 
und beflimme mit Freiheit mich ſelbſt. Nun fteht jedes Object 
des Bewußtſeins unter ber Bebingung bed leteren; diefe Bebin- 
gung ift dad Subject des Bewußtſeins, und dieſes Subject ift freie 
Selbftbeftimmung. Was in mein Bewußtfein eintritt, ift da 
her nothwendig abhängig von meiner Selbftbefiimmung ; dieſe 
Abhängigkeit trifft baher auch den Trieb, der mir zum Bewußt- 
fein kommt. Sobald der Trieb in mein Bewußtfein eintritt, er⸗ 
fcheint er in dem Gebiet, wo ich wirke, und kommt damit in 
meine Gewalt; er ift jest empfundener Trieb, Sehnen, Gefühl 
des Bebürfniffes d. h. Trieb zur Befriedigung. Es hängt nicht 
von mir ab, daß ich ihn habe, es ift nicht meine Wahl, da ich 
ihn empfinde, aber es hängt von mir ab, daß ich ihn befriedige, 
‚Hier ift der bebeutfame Punkt, von dem aus ſchon das Gebiet 
des Sittlichen anfängt fich zu erleuchten: die Grenze zwifchen 
Nothwendigkeit und Freiheit, der Uebergang des Vernunftweſens 
zur Selbftändigkeit”*). 


5. Daß Sehnen als Begierde. 
Ich bin vermöge meiner Natur Trieb, diefer Naturtrieb 


*) Ghenbafelbft. IL Hpift. 8.9. M.IL. ©. 124—25. 
**) Ghenbafelbft, Il Hptit, 9, 9. Nr. IIL S. 125—26, 


705 


wird vermöge meiner Reflerion Sehnen nad) etwas, Gefühl des 
Bedürfniffes; jegt.twird dieſes (noch unbeftimmte) Sehnen auch 
Object meiner Reflerionz es wird reflectirt, dadurch beſtimmt, 
begrenzt, unterſchieden, was nur gefchehen Bann durch die Be— 
ziehung auf-ein beftimmtes Object. Das Sehnen nach einem be: 
fimmten Object (dad Gefühl, diefes ober jenes beffimmte Ding 
zu bedürfen) ift Begierde. Vermöge der Reflerion auf den 
Gegenftand wird dad Sehnen zum Begehren. Was den bloßen 
Naturtrieb in Sehnen verwandelt, ift die erſte (nothwendige) 
Reflerionz was dad Sehnen in Begierde verwandelt, iſt bie 
zweite (freie) Reflerion: dieſe macht die Grenze zwifchen Sehnen 
und Begehren. Die freie Reflerion macht die Begierde: darum 
ift die Begierde auch von diefer Reflerion abhängig und Tann durch 
diefelbe fowohl geſetzt als nicht gefeßt ober aufgehoben werben. 
Es ift nicht nöthig, daß wir auf unfer Sehnen reflectiven, es ift 
nicht nöthig, daß wir die Begierden in uns aufkommen lafs 
fen, es ift nicht nöthig, daß wir ihnen nachhängen; wir können 
fie loswerden, indem wir ihnen nicht nachhängen oder unfere Res 
flerion mit voller Freiheit davon ablenken *). 

Was wir auf Grund unferer Naturtriebe begehren, find 
Naturobjecte, die wir haben oder auf irgend eine Weife mit und 
vereinigen wollen, es fei Speife und Trank, oder freie Luft, weite 
Ausfiht, heitered Wetter u. f. f. Die Naturobjecte find räum: 
lich. Was fi mit Räumlichem vereinigen will, muß felbft 
räumlich fein, daher müffen wir felbft mit unferen Naturtrieben 
im Raum, alfo Materie, organifirte Materie, Leib, und zwar 
Leib ald Werkzeug ded Willens d. h. beweglicher, articulirter Leib 
fein®*), 

*) Ghenbafelöft, IL Hptft. $. 9. IV. ©. 126-127. 


**) Ebendaſelbſt. II Hptit. 8. 9. V. S. 127—128. Bol, oben 
diſ her, Geſchihte der Phileſophle. V. 46 


706 


J 


6. Der Urtrieb. Der Höhere und niedere Trieb. 

Wir begehren die Naturobjecte aus feinem anderen Grunde 
als vermöge unferes Naturtriebes und zu feinem anderen Zwecke 
als zu deſſen Befriedigung. Befriedigung um der Befriedigung 
willen ift Genuß; der bemußte Trieb war Begierde, Befriedi- 
gung der Begierde (bewußte Befriedigung) ift Luft und zwar 
&innenluft, da es der Zuftand unferer Organifation ober unferes 
leiblichen Dafeins ift, aus welchem der Trieb folgt und auf ben 
ſich die Befriedigung bezieht. Im der Befriedigung des Natur 
triebes ift daher das finnliche oder organifche Naturwefen fich 
felbft Zweck; dad Naturproduct hat Feinen anderen Zweck als fein 
eigenes Dafein, es ift durchaus Selbſtzweck, weder fest es fich 
felbft einen Zweck außer fich, noch kann ed von und aus einem ſol⸗ 
hen ihm äußeren Zwecke erklärt werden: „ed giebt nur eine innere, 
teineöwegd eine relative Zweckmäßigkeit in der Natur.” Was 
von jebem Naturwefen gilt, dad gilt auch von dem Ich, fofern 
es Naturwefen, leibliches, finnliches Ich iſt: die Befriedigung 
feiner natürlichen Triebe, der Genuß, die Luft ift ihm letzter 
BZweck. 

Aber das Ich iſt nicht bloß Naturweſen und Naturtrieb, 
ſondern iſt ſich als ſolches Object, d. h. es iſt Bewußtſein. Als 
Naturtrieb will es nur Genuß, und da dieſer durch das Object 
bedingt iſt, fo iſt es in feinem Triebe nach Befriedigung abhän- 
gig von dem Object; als Bewußtfein dagegen ift es abhängig 
nur von fich felbft. So ift das Ich beides: Tendenz zur reinen 
Thatigkeit als Selbftbewußtfein, und Trieb zur Befriedigung ald 
Naturwefen; es ift die Einheit beider Triebe; beide find daher 
in Beziehung auf die Debuction unferes Leibes III Bud. Eap. VIIL 
PR IL 2—5. 6, 601-607. 





707 

im Ich urfprünglich eines. Diefe urfprüngliche Einheit beider 
Triebe nennt Fichte den „Urtrieb”. Daß biefer Urtrieb ges 
fpalten erfcheint oder entgegengefeßt in jene beiden Triebe, ift eine 
nothwendige Folge des Bewußtſeins. Der Urtrieb ift, wie das 
Ich ſelbſt, Subject Object. Das Bewußtfein trennt diefe abs 
folute Einheit in die beiden Seiten Subject und Object; fo ent» 
fteht die Entzweiung, der Urtrieb erfcheint innerhalb des Ber 
wußtſeins ald objectiver und fubjectiver Trieb, ald Naturtrieb und 
rein geifliger Zrieb (Freiheitötrieb), ald Trieb zum Genuß und 
als Trieb zur Selbftändigkeit: „lediglich auf der Wechſelwir⸗ 
tung diefer beiden Triebe, welche eigentlich nur die Wechſelwir⸗ 
Eung eines und eben deffelben Triebes mit fich felbft 
ift, beruhen alle Phänomene des Ich ).“ 

Was mithin den Urtrieb und die beiden Triebe fpaltet und 
deren Grenze macht, ift dad Bewußtſein oder die Reflerion. 
Vermöge ber Reflsrion fcheidet dad Subject ſich nicht bloß vom 
Object, fondern erhebt ſich zugleich über dafjelbe, dad Reflec- 
tirende erhebt fich über dad Reflectirte und fieht darum höher ald 
diefeö, indem es daffelbe zugleich umfaßt. Der Trieb des Re 
flectirenden und der des Reflectirten (der fubjective und objective 
Trieb, der Freiheitötrieb und Naturtrieb) find daher einander 
nicht gleich, fondern verhalten fi), wie dad Höhere zum Niede 
ren, dad Umfaflende zum Umfaßten. [Nennen wir den berußten 
Trieb Begierde, fo erhellt hier aus dem Weſen des Ich der Un: 


terfchied des höheren und niederen Begehrungsvermögens.) Ver- 


möge des Naturtriebes begehren wir den Genuß und machen und 
abhängig von dem Object; vermöge des geiffigen Triebes begeh⸗ 
ten wir unfere Selbftändigkeit, widerftreiten dem Genuß und mas 
hen und unabhängig von dem Object, wir erheben und kraft der 


*) Ebendajelbft, II Hpift. 8.9. Anmerk. S. 130, 
46% 


708 


Meflerion über den Naturtrieb, über unfere Natur und damit 
über alle Natur. Und daß diefer erhebende, befreiende, auf 
unfere reine Selbftthätigkeit gerichtete Trieb der höhere, mächtigere, 
umfaffendere, jener andere auf den bloßen Genuß gerichtete da 
‚gegen der niedere Trieb ift: eben dieß begründet in der menſch⸗ 
lichen Natur das ſit tl iche Verhalten. Beide im Ich vorhan: 
denen Triebe wollen vereinigt fein, und da ber eine auf reine 
Thatigkeit, der andere auf das gegebene Object (feiner Befriedi⸗ 
gung) auögeht, fo können fie nur fo vereinigt werden, daß in 
demfelben Streben Thätigkeit und Object fich durchdringen : die 
Vereinigung kann daher nur in einer „objectiven Thätigkeit” be 
fliehen. Wenn aber die fittliche Thätigkeit notwendig eine objec- 
tive fein muß, fo erhellt daraus die Realität des Sittengefebes 
ober feine Anmwenbbarkeit auf die Welt der Objecte*). 


7. Der fittlide Trieb. 


Jener Urtrieb, der als die urfprüngliche Einheit beider Triebe 
das Wefen des Ich und die Wurzel des Bewußtieind ausmacht, 
Tann innerhalb des Bewußtſeins nur ald die geforderte Vereini- 
gung des fubjertiven (rein geiftigen) und objectiven (natürlichen) 
Triebes d. h. al8 ein aus beiden gemifchter Trieb erfcheinen, der 
fein anderer ift, als der fittliche Trieb felbft. 

Segen wir, daß es eine ſolche Vereinigung jener beiden 
Triebe nicht gebe, fo würde bamit dad Selbftbewußtfein oder dad 
Ich felbft aufgehoben fein. Dann würde entweder der reine ober 
der natürliche Trieb allein und ausfchließend wirken: die alleinige 
Wirkſamkeit des reinen Triebes könnte Fein anderes Refultat ha- 
ben ald die abfolute Unabhängigkeit des Ich (micht ald Aufgabe, 
fondern als Zuftand), d. h. die völlige Aufhebung des beſchränkten 

*) Syftem ber Sittenlehre, II Hpift. 8.8. V. 6. 1238—131, 


709 


Ich, alfo auch die des Nicht:Ich, mithin die des Ich überhaupt; 
die alleinige Wirkſamkeit des natürlichen Triebes dagegen würde 
das Ich dem Objecte gänzlich unterwerfen, alfo die Unabhängigs 
keit beffelben volltommen und damit dad Ich felbft aufheben, 
So nothwendig daher dad Ich, ebenfo nothwendig ift die Vereini⸗ 
gung jener beiden Triebe d. h. der gemifchte oder fittliche Trieb*). 

Was fordert der fittliche Trieb? Oder wie können die bei» 
den urfprünglich identifchen, im Bewußtſein getrennten und ent 
gegengefegten Zriebe wirklich vereinigt werden? Nicht fo, daß 
der reine Trieb allein ‚handelt, ex würde dann nichts anderes ver- 
mögen ald ben natürlichen Trieb zu verneinen und alles zu un 
terlaffen, was diefer verlangt; fein ganzes Handeln wäre bloß 
eine ſolche fortgefeßte Unterlaffung, eine folche fortdauernde gegen 
unfere Natur gerichtete Selbftverleugnung, deren letztes Ziel Fein 
anderes fein könnte ald unfere gänzliche Vernichtung, dad Er- 
löfchen des Ich, nicht die moralifche Beflimmung, fondern die 
myſtiſche Auflöfung. 

Das bloße Unterlaffen ift Fein wirkliches Handeln. Das 
Ich will handeln; alles wirkliche Handeln geht auf die Objecte, 
das Ich könnte nicht auf die Objecte oder auf die Natur handeln, 
wenn es nicht_felbft Natur, Naturkraft, Naturtrieb wäre; es 
Tann wirklich handeln nur durch feinen Naturtrieb und kraft deſ⸗ 
felben. Unmöglich Tann ed daher biefen Trieb vernichten, uns 
möglich vernichten wollen, ohne alles wirkliche Handeln, den 
Willen und damit ſich felbft aufzugeben. Alles wirkliche Hans 
dein geht daher nicht auf die Vernichtung des Naturtriebes, fon 
dern auf die Befreiung von feiner Herrfchaft, auf feine Unters 
ordnung unter den Zmwed? der Freiheit, auf die Verminderung uns 
ferer Abhängigkeit von dem Naturtriebe, alfo auf unfere wach⸗ 

*) Ghbenbafelbft, IL Hptft, 9.12, ©. 147—158. 


710 


fende, fich immer mehr und mehr erweiternde Unabhängigkeit, 
d.h. auf unfere fortfchreitende Befreiung: mithin befteht alles 
wirkliche Handeln in einer Reihe von Handlungen, beren noths 
wendiges Endziel unfere abfolute Unabhängigkeit ift in ber fort 
fchreitenden Annäherung an dieſes Ziel. Unmöglih, daß es je- 
mals vollkommen erreicht wird: bad erreichte Ziel wäre gleich der 
Aufhebung des Ih. Die abfolute Unabhängigkeit ift nicht unfer 
Buftand, fonbern unfere Aufgabe. Unfere Beſtimmung ift nicht 
frei fein, fondern frei werden. Wir Fönnen daher unfere Ber 
flimmung nur erfüllen, wenn wir diefem nothwenbig und unbe 
dingt zu fegenden, niemals zu erreichenben Ziele nachſtreben, wenn 
wir und bemfelben mehr und mehr nähern, wenn jede unferer 
Handlungen in der Reihe diefer Annäherung liegt. Handle fo, 
daß beine Handlung nie jenem Ziele widerflreitet, nie von ber 
Richtung auf baffelbe abweicht, ftet in der Reihe liegt und fort⸗ 
fehreitet, die fich ihm nähert. Nur fo handelſt bu wirklich; nur 
fo ift, was du thuft, eine wirkliche Handlung. Handeln ift beine 
Beſtimmung. Die turzgefaßte Forderung bes fittlichen Triebes 
beißt daher: erfüle jebesmal beine Beftimmung *)! 


8 Das fittliche Gefühl oder das Gewiſſen. 
Jeder Trieb muß ald folder unmittelbar empfunden ober 
gefühlt werden. Worin befteht das Gefühl des fittlichen Triebes? 
Was fich auf unferen Trieb, gleichviel welchen, bezieht, 
das fällt in das Gebiet unferer Begehrungen, baran nimmt un= 
fer Wille mittelbar oder unmittelbar Theil; diefe Theilnehmung 
des Willens oder ber Begierde an einem Object, gleichviel wel 
chem, nennen wir Intereffe; alles Interefje befteht nur in diefer 
Theilnahme, es gründet fich flet3 auf den Trieb und wird, wie 
*) Ebendaſelbſt. II Hpiſt. 12. ©. 149 u. 150, 





711 


diefer, gefühlt. Was wir fühlen, wenn wir und für irgend etwas 
intereffiren, ift dad Verhältnig des Objectd zu unferem Triebe, 
Entweder flimmt dad Object mit bem überein, was ber Trieb 
will, ober es ift damit im Widerſtreit: dad Werhältniß ift daher 
entweber harmonifch ober disharmoniſch. Diefe Harmonie ober 
Disharmonie ift ed, bie gefühlt wird. Und da wir im Grunde im: 
mer nur und felbft fühlen, ober da alles Gefühl im Grunde Selbſt⸗ 
gefühl ift, alles Intereffe bedingt ift durch das Intereffe für und 
ſelbſt, fo ift, was wir fühlen, unfere eigene Harmonie ober 
Dieharmonie, der Zuftand der Uebereinftimmung ober bed Wider: 
ſtreites unferer mit und felbft, d.h. bie Uebereinftimmung ober 
Nichtübereinftimmung zwiſchen dem, was wir in Wirklichkeit 
find, und dem, was wir in Wahrheit fein wollen. Was wir 
in Wahrheit fein wollen, ift der Ausdruck unſeres Ur- oder Grund: 
triebeö, der identifch ift mit dem Ich felbfl. Diefer Trieb for 
dert die Uebereinftimmung zwifchen dem urfprünglichen und dem 
wirklichen (empiriſchen) Ich: biefe Uebereinftimmung befteht in 
der richtigen Bereinigung des reinen und natürlichen Triebes. 
Der Ausdrud des reinen Triebes ift eine Forderung, der 
des natürlichen ein Sehnen; jener fordert die That, diefer begehrt 
den Genuß, jener will die Freiheit um der Freiheit willen, biefer 
den Genuß um des Genuffes willen; die Erfüllung des erften 
Triebes gewährt daher eine andere Art ber Befriedigung und 
darum ein andered Gefühl der Luft ald die ded zweiten. Wenn 
wir den erften Trieb und mit ihm ben Urtrieb befriedigen, fo ha: 
ben wir eine Forderung ober eine Aufgabe erfüllt, wir haben ges 
than, was wir thun follten; wir haben erreicht, was wir mit 
voller Freiheit und darum mit vollem Bewußtfein und zum Zwedck 
festen: einefolche That ift nothwendig von bem Gefühle ber „Bil 
ligung“ begleitet. Nun ift biefer Zweck unfer eigenfter, innerfler 





712 


Zweck, unfer Urtrieb, unfer urfprüngliches Weſen ſelbſt. Wir 
haben mit biefer That unferem eigenen tieffien Selbft Genüge 
geleiftet; eine ſolche That ift nothiwendig von dem Gefühle der 
Zufriedenheit” begleitet. Hier erfcheint die Luft ald Billigung 
und Zufriedenheit, die Unluft ald Mißbiligung (Verachtung) und 
Verdruß. Diefes Gefühl ift fittlicher Art: es ift dad Gefühl un- 
ſeres fittlichen Seins, dad Gefühl, daß wir find, was wir ver 
möge unſeres urfprünglichen Weſens (Urtriebes) fein wollen, ober 
daß wir ed nicht find. Dieſes Gefühl, welches, ald Bermö- 
‚gen betrachtet, wir „bad obere Gefühlsvermögen” nennen könnten, 
fo gut ald wir den höheren Trieb bad höhere Begehrungsvermö- 
gen genannt haben, ift bad Gewiffen: das Gefühl ber Ueber: 
einftimmung oder Nichtübereinftimmung unferes wirklichen (aus 
unferer Handlungsweiſe erfolgten) Zuftandes mit unferem Urs 
triebe, der auf die abfolute Freiheit ausgeht; dad Gefühl unferer 
eigenen innerften Harmonie oder Disharmonie oder des Verhält 
niſſes unferes Handelnd zu unferer abfoluten Freiheit. Diefer 
Freiheit find wir uns in dem Gewiffen unmittelbar bewußt, und 
da diefe Freiheit das Weſen des Ich und die Bedingung alles 
Bewußtſeins ausmacht, fo ift dad Gewiffen unter allem gewiffen 
das Gewiffefte. „Die Benennung Gewiſſen“, fagt Fichte, „ift 
trefflich gewählt; gleichlam dad unmittelbare Bewußtſein deſſen, 
ohne welches überhaupt Fein Bewußtſein ift, das Bewußtſein 
unferer höheren Natur und abfoluten Freiheit.” Im Falle der 
Uebereinftimmung hat dad Gewiſſen Frieden und Ruhe, im ent 
gegengefegten Falle ift es unruhig und macht und Vorwürfe; es 
gewährt Feine Luft, wie bie finnlichen Befriedigungen; man re: 
bet von einem zufriedenen, aber nie von einem luſtigen Ges 
wiffen*). 
*) Gbenbafelbft. IT Hpift. 5. 11. S. 142— 147. 


713 


9. Die Pfligt und die Formel des Sittengefeges. 

Das Gewiffen zeigt mitten in dem Bewußtſein unferes Hans 
delns und Begehrens auf die Freiheit al unferen abfoluten Zweck 
und if, wie diefer, unfehlbar und unverrüdbar. Diefe Freiheit 
ift nothwendig, nicht ald vorhandener Zuftand, fondern als Ziel; 
fie ift nicht Naturgeſetz, fondern Sittengeſetz; fie ift nicht, was 
wir find, fondern was wir fein folen, nicht etwa in ber Abficht 
auf etwas Anderes, fondern ald Endzweck. Dieſes unbebingte 
Sol ift die Pflicht, die unfer Gefeg nur fein kann, wenn wir 
fie als ſolches einfehen und daher felbft mit vollem Bewußtſein 
zu unferem Geſetz machen. Sie will dad bewußte Ziel und dad 
bewußte Motiv unferes Handelns fein. Die Pflicht wirft daher 
nicht als Trieb, fie treibt nicht, wir müffen und felbft durch dad 
Bewußtfein der Pflicht treiben, wir können deßhalb pflichtmäßig 
handeln nie ohne Beſonnenheit, nie blind, nie überzeugungslos; 
wir fönnen nur aus Ueberzeugung pflichtmäßig handeln und zu: 
gleich von nichts inniger und fefter überzeugt fein ald von ihr. 

Der Inhalt des Sittengefeges ift damit Mar und läßt fi 
auf verfchiedene Weife auöfprechen in der fürzeften Formel, wel 
he dad ganze Syſtem der Sittenlehre in ſich trägt: handle wirt 
lich; du handelft nur wirklich, wenn du dich nie von ben Objecten 
abhängig machſt, wenn jede deiner Handlungen in jener Reihe 
fortfchreitender Annäherung liegt, deren Ziel die abfolute Unab: 
bhängigfeit ift; alfo erfülle jedesmal deine Beftimmung, handle 
nie ohne Ueberzeugung, nie gegen biefelbe, dann handelſt du ſtets 
aus dem Bewußtfein der Pflicht um der Pflicht willen, dann 
handelſt bu ftetö, wie es dad Gewiffen fordert. Es giebt daher 
feine kürzere Formel als diefe: „handle nach deinem Ge— 
wiffen!” 


714 


Die Realität oder Anwendbarkeit dieſes Geſetzes ift einleuch⸗ 
tend, denn fie ift in ihm enthalten und umfaßt. Das Sitten: 
geſetz ift die Freiheit ald Zweck, ald Forderung. Wie könnte die 
Zreipeit Forderung, die Befreiung Geſetz fein, wenn nicht bie 
Unfreiheit Zuftand wäre, vorhandener, gegebener Zufland? Die 
Unfreiheit ift das befepränkte, finnliche, natürliche Ich, das Ich 
als Naturtrieb, ald Naturproduct, welches nicht fein Fönnte ohne 
Natur, ohne Welt. Keine Welt, Fein Sittengefeg. Kein Sit: 
tengefeß, Feine Freiheit als Endzweck, Feine abfolute Freiheit, 
Fein abfolutes Ich, Fein Bewußtſein, kein Object des Bewußt⸗ 
feins, Feine Welt. Ohne Sittengefet keine Möglichkeit der Welt; 
ohne Welt Feine Geltung bed Sittengefeges: damit ift die imma⸗ 
nente Geltung des letzteren oder feine Realität debucirt, wie die 
Wiſſenſchaftslehre es fordert. 


J 


Dreizehntes Kapitel. 


Die Pflicht. Entwicklung des fittlichen Bewußtfeins. 
Das Böfe als Gegentheil der Pflicht. 


L 
Das Sittengefeg als Endzweck. 


1. Die ſittliche Gewißheit ald Grund aller 
Erkenntniß. 

In ber bisherigen Entwicklung ber Sittenlehre, fo weit fie 
geführt worben, ift dad Princip berfelben oder dad Sittengeſetz 
abgeleitet und feftgeftelt in feiner Form. Die weitere Aufgabe 
wird fein, aus diefer Form den Inhalt oder die materialen ſitt⸗ 
lichen Beflimmungen zu bebuciren. Es ift bargethan, wie un⸗ 
ter allen Umftänden gehandelt werben foll; es ift darzuthun, 
was ben Gehalt ber fittlichen Hanblungdweife in jedem beflimm: 
ten Zal ausmacht. Und zwar fol aus jenem Wie diefed Was 
folgen. 

Auf die Frage: wie fol ich handeln? war die Antwort: 
„nach deinem Gewiſſen, nach deiner Ueberzeugung!“ Die Ueberzeus 
gung aber, nad) der unter allen Umftänden foll gehandelt wers 
ben fönnen, muß eine richtige fein, nicht etwa von ungefähr, 
fondern nothwendigermeife; fie muß das Kriterium oder Bewußts 
ſein dieſer Richtigkeit dergeftalt in fich tragen, daß fie den Irr⸗ 


716 


thum wie den Zweifel ausſchließt: eine Ueberzeugung, bie nie 
irrt, ift unfehlbar; eine Ueberzeugung, an ber nie gezweifelt wird, 
ift unwandelbar. Es giebt eine Menge fogenannter Ueberzeugun- 
‚gen menfchlicher Art, die falfch und wandelbar find, fo ficher fie 
feinen, die heute gelten und durch eine beffere Einficht morgen 
umgeftoßen werben. So ift dad bewegliche Geſchlecht der menſch⸗ 
lichen Meinungen, zu bem daher unmöglich die Ueberzeugung ge: 
hören kann, nach welcher ſtets zu handeln, das Sittengeſetz ge 
bietet. Die fittliche Ueberzeugung muß unter allen Umftänden 
feftftehen, fie muß unmwandelbar, abfolut und darum unmittel: 
bar gewiß fein. Unmittelbar gewiß ift nur unfer eigenes Sein, 
das Ic felbft; unmanbelbar ift nur unfer urſprüngliches Sein, 
dad reine Ich. Sehen wir, daß unfer Gemüthözuftand, unfer 
empiriſches Ich ober unfer Bewußtfein mit unferem urfprüng- 
lichen Ich übereinftimmt, fo find wir diefer Uebereinftimmung 
unmittelbar gewiß und haben das Gefühl diefer Gewißbeit. Won 
diefer Uebereinftimmung giebt ed, wie von unferem urfprünglichen 
Sein felbft, nur eine unmittelbare, abfolute Gewißheit. Und 
es giebt eine ſolche Gewißheit nur von diefer Uebereinſtimmung. 
Nun war dad unmittelbare Bewußtfein unfered urjprünglichen 
Seins dad Gewiflen, die Wurzel aller fittlichen Ueberzeugung. 
Daher giebt es überhaupt Feine andere abfolute Gewißheit als 
das Gemiffen, eine andere abfolut gewiffe Ueberzeugung als 
die fittlihe. „Dieſes Gefühl täufcht nie, denn es ift nur vor 
handen bei völliger Uebereinſtimmung unſeres empirifchen Ich 
mit dem reinen; und das letztere ift unfer einzige wahres Sein 
und alles mögliche Sein und alle mögliche Wahrheit. Nur in⸗ 
wiefern ich ein moralifches Wefen bin, ift Gewißheit für mich 
möglih*).“ 

*) Ebenbafelbft, III Hptft, Syſtematiſche Anwendung des Prin ⸗ 


717 


2. Die Pflicht ald Grund und Endzwed der Welt, 

Diefe Gewißheit ift zugleich der Grund aller übrigen Ges 
wißheit, aller wahren Erkenntniß. Alle unfere Erkenntniß ift 
bebingt durch das Bewußtfein der objectiven Welt, welches felbft 
bebingt ift durch die Einfchränfung des Ich, deren letzter Grund 
bekanntlich Fein anderer war, ald dad urfprüngliche Streben, der 
Urtrieb, ber fitliche Trieb des Ich felbft. Alſo ift es ber ſitt⸗ 
liche Trieb, das Gefühl veffelben, das Gewiſſen ober das Pflicht: 
bewußtfein, welches aller Erkenntnig zu Grunde liegt. „Die 
einzig fefte und legte Grundlage aller meiner Erkenntniß ift meine 
Pflicht. Diefe ift das intelligible „„An fich””, welches durch 
die Gefege der finnlichen Vorſtellung ſich in eine Sinnenwelt ver: 
wanbelt*).” Die Pflicht ift demnach der Urgrund und Endzwed 
aller Objecte. Und fo ergiebt fi) aus der Form des Sittenge 
ſetzes, wodurch alle Moral conftituirt wird: „handle nach deiner 
Ueberzeugung ; handle pflichtmäßig, erfülle bie Pflicht um der Pflicht 
willen!“ zugleid) die Materie des Sittengefeged: „behandle alle 
Dinge ihrem Endzwed gemäß!" 

Die Form des Sittengeſetzes entſcheidet zugleich die Form 
formale Bedingung) des Gegentheild. Du handelſt nur dann 
gewiffenhaft, wenn du nad) ber eigenen (fittlichen) Weberzeugung, 
nach dem eigenen fittlihen Urtheile handelft. Selbft urtheilen 
gehört daher nothwendig zur Moralität. Du handelſt nie ges 
viffenhaft, wenn du nicht autonom handelft, fondern nach der 
Autorität eines fremben Gebote. „Ber auf Autorität hin hans 
delt, handelt fonach nothwendig gewiſſenlos.“ Sittlich hanbelft 
cips ber Gittlichfeit, I Abſchn. Bon den formalen Bedingungen ber Mos 
valität unferer Handlungen. $. 15. IV. S. 169 flgb, 

*) Ghenbafelbit. III Hpift. 1 Abſchn. & 15. V. ©. 172, 


718 


du nur, wenn bu gewiffenhaft hanbelft! Was dem Sittengeſetze 
zuniberläuft, ift fündlich. „Was nicht aus dem Glauben, aus 
Beftätigung an unferem eigenen Gewiſſen hervorgeht, iſt abfolut 
Sünde*)." 
I. 
Entwidlung bes fittlihen Bewußtſeins. 
1. Der Menſch ald hier. 

Obgleich bie Pflicht unfer urfprüngliches Weſen ausmacht, 
fo treibt fie und nicht mit der Gewalt eines Naiurinſtincts; wir 
handeln nur dann fittlih, wenn wir und felbft treiben durch das 
Gefühl der Pflicht. Zur Moralität gehört, daß wir die Pflicht 
als ſolche wollen, nichts anderes als fie, daß wir unfer Bewußt⸗ 
fein auf fie richten; diefe Richtung macht bie Reflerion, die als 
folche völig in unferer Gewalt ift. Wäre die fittliche Handlung 
nicht durchaus That der Freiheit, fo könnte auch dad Gegentheil, 
dad gewiffenlofe oder pflichtwidrige Handeln, nicht Unterlafjung 
aus Freiheit, nicht Schuld, alfo auch nicht Sünde fein. 

Es giebt einen Zuftand in und, welcher der Reflerion vor: 
andgeht, und in bem dad Ich fich felbft ald etwas Vorgefundenes 
oder Gegebened erſcheint, ald Natur oder Naturtrieb**), Setzen 
wir biefen Zuſtand, der die erſte und unterfte Stufe des praf: 
tiſchen Ich ausmacht, als herrfchend, fo daß wir mit dem Na⸗ 
turtriebe völlig eins find: dann handeln wir ganz refleriondlos, 
bloß triebmäßig, nicht moraliſch, ſondern thieriſch. Auf diefer 
Stufe ift der Menfch in feiner Handlungsweile ein bloßes 
Thier ). 

*) Ebendaſ. III Hptſt. J Abſchn. 8. 16. Coroll.3. &.175— 177. 

**) Vol. oben III Buch. Cap. XII. ©. 700 flgd. 

) Syft, der Sittenl. UI Hptſt. J Abſchn. 9.16. IL ©. 178 ſigd 


719 


2. Der Menſch als verfländiges Thier. 
(Der Eigenmuß als Mazime.) 

Nun aber folen und können wir vermöge des Bewußtfeins 
auf unferen Naturtrieb reflectiren, vermöge biefer Reflerion und 
davon unterfcheiben und eben dadurch von ihm freimachen. Diefe 
unfere Freiheit ift zunächft nur formel und nimmt ihren Inhalt 
bloß aus dem Naturtriebe, der die Dinge begehrt: wir folgen 
den natürlichen Trieben nicht mehr blind, fondern verhalten und 
dazu wählend; wir wählen nad einem Motiv, und ba biefes 
Motiv nicht aus der Freiheit felbft gefchöpft ift, fo kann ed nur 
unfer empirifches Ich fein, welches die Wahl der Triebe und Ber 
friedigungen beftimmt, d.h. es ift bie Marime unſeres empiris 
ſchen Wohls oder unferer Glückſeligkeit, nad) der allein wir unter 
diefem Reflexionsſtandpunkte handeln. Was wir befriedigen, 
find nur unfere natürlichen Triebe, wir wollen nichts ald ges 
nießen, aber wir thun es mit Rüdficht auf unfer Wohl, mit der 
beftändigen Reflerion auf die eigene Glüdfeligkeit: wir handeln 
auf biefer Stufe, was die Sache betrifft, auch thieriſch, aber 
als verfländiged Thier. Formell find wir frei, materiell dagegen 
abhängig von den Naturobjecten*). 


3. Der autofratifhe Freiheitstrieb. 
(Die Willtür als Marime.) 

In Wahrheit ift das Ich frei von den Naturobjecten umd 
begehrt diefe feine Selbftändigkeit. Wenn es dieſelbe mit voller 
Freiheit des Bewußtſeins zu feiner Marime erhebt, fo giebt 
es fich felbft das Sittengefeg und handelt moraliſch; wenn es da⸗ 
gegen nur dem Drange zur Selbftänbigfeit ald einem Triebe 

. *) Gbenbafelbft, III Hptſt. I, $. 16. IL S. 179 figb, 


720 


feiner höhern Natur veflerionslos folgt, fo handelt es nicht mehr 
thieriſch, aber auch noch nicht moralifch : wir machen in diefem Falle 
nicht unfer reines, fondern unfer empirifches Ich zum Zweck, 
aber in der Abficht nicht auf ben Genuß ber Dinge, fondern auf 
die Herrfchaft über bie Natur; wir wollen „bie unbefchränkte und 
gefeßlofe Oberherrſchaft über alles außer und“. Diefe Herrfchaft 
iſt unfere Marime, unfere durch das Sittengefeß noch nicht er: 
füllte Freiheit ift noch gefeglofe Willkür. Es ift noch nicht der 
Wille, fondern erft „das Genie der Tugend, welches auf diefer 
Stufe den Menfchen treibt, feinen Zweden feinen Genuß zu 
opfern und in den Lauf der Dinge ordnend und umgeftaltend, 
herrſchend und unterbrüdend einzugreifen. Der Ausdruck dieſes 
autofratifchen Freiheitstriebes ift dad herrifche Handeln, worin 
die Menfchheit das gefchichtölofe Parabied ber Triebe und de 
Genußlebend verläßt und in ben Kampf der Gefchichte eingeht. 
„Nur durch Voraudfegung einer folhen Sinnedart wird bie ganze 
Menſchengeſchichte begreiflich *).” 

Verglichen mit ber blinden oder vaffinirten Art, bloß feine 
Triebe zu befriedigen und bloß feinem Genuffe zu leben, hat bie 
ſes unbefchränkte Freiheitöbewußtfein mit feinem herrifchen Natur: 
drange etwas Erhabened; gegenüber den Forberungen ber Mora 
lität hat ed gar Feinen Werth, denn was fich hier über alles erhebt 
und ſich felbft erhaben vorkommt, ift das empirifche Ich. Man 
darf fein Urtheil nicht verblenden laſſen durch die Aufopferungen 
des eigenen Genuffes, deren ber Menſch auf diefer Stufe fähig 
erfcheint. Im diefer Aufopferung ift Feine wirkliche Selbfiver- 
leugnung. Im Gegentheil, jemehr er geopfert hat, um fo größer, 
ebelmüthiger, vortrefflicher erfcheint Hier der Handelnde ſich ſelbſt. 
Er ift, was auch gefchieht, fortwährend fein eigener Held und 

**) Gbenbafelbft. III Hptſt. I. $. 16. II. S. 187 — 191, 





721 


erlebt nur Freude an ſich. Geht ed nad) feinem Willen, fo haben 
die Anderen nur ihre Schuldigkeit gethan und er fühlt ſich bloß 
in feinem Recht; feheitert er mit feinen Zwecken an dem Wider: 
flande der Welt, fo ift er vor dem eigenen Bewirßtfein- eine der 
verfannten Menfchengrößen, einer der erhabenen Wohlthäter, die 
unter dem Undanke der Welt leiden; alles, was er thut, fchlägt 
in die eigene Werthachtung um, in ein Liebkoſen mit fich felbft, 
und was er etwa von feinem Genuß opfert, zahlt er doppelt und 
dreifach feiner Eigenliebe zurück, die er mit dem Bewußtſein der 
fogenannten edlen Handlung nährt und vergrößert, fo daß der 
Gott, dem er jene Opfer bringt und ber fie mohlgefällig empfängt, 
im Grunde nur er felbft iſt. Eben biefer Götzendienſt, ben jene 
fogenannten Heroen ber Welt mit fich felbft treiben und treiben 
laffen, macht ihre Denk» und Handlungsweiſe moraliſch voll: 
tommen werthlos. Sie find überzeugt und viele mit ihnen, daß 
fie gut gehandelt haben, und zwar aus bloßem Triebe, aus bloßer 
Neigung, aus angeborener Art: fo entfteht dad Borurtheil von 
einer angeborenen Güte der menfchlichen Natur; fie haben bloß 
aus Neigung edel und uneigennügig, baher mehr ald gut gehan- 
belt, weit beffer ald fie nöthig gehabt, weit über das Maß ihrer 
Schuldigkeit, alfo überaus verbienftlich; fo erfcheinen ihre Thaten 
als lauter verdienftliche Werke, ald lauter „opera superero- 
gativa“*), 


4. Dad Sittengeſetz ald Marime. 

So lange bie abfolute Freiheit bloß ald Trieb und aus Trieb 
handelt, kann ihre Handlungsweiſe heroifch fein, aber nie mora⸗ 
liſch. Erſt als Selbftbewußtfein wir fie fittlich. Die abfolute 

*) Ebendaſelbſt. IEI Hptſt. I Abſchn. $. 16. III. beſ. ©. 188, 


189, 
Bilder, Gefhläte der Philofophle, V. 46 


722 


Freiheit ald Selbftberußtfein hat fi zum Object, macht ſich 
zum Zweck, nur ſich, und iſt ſo das Sittengeſetz ſelbſt: die 
Freiheit um der Freiheit, die Pflicht um der Pflicht willen! Es 
iſt unmoöglich, die Pflicht inſtinctmaßig zu erfüllen; fie kann nur 
gefchehen aus dem Bewußtſein der Pflicht. Sehen wir, daß und 
das Bewußtfein der Pflicht wirklich erfüllt, fo können wir nicht 
anders handeln als pflichtmäßig; fegen wir, daß dieſes Bewußt- 
fein fich verdunfelt, daß wir die Pflicht nicht deutlich ober gar 
nicht vor und fehen, daß wir fie nicht ald unferen Endzweck vor⸗ 
ſtellen, ſo iſt unmöglich, daß wir ſie thun, denn die Bedingung 
des ſittlichen Handelns iſt aufgehoben. So iſt unter dem Be 
mußtfein ber Pflicht das fittliche Handeln ebenfo notwendig, als 
es unmöglich ift, fobald jene Vorausſetzung aufhört zu wirken, 
fobald jenes Bewußtfein ſich trübt oder verdunkelt. Unfere fitt- 
liche Handlungsweiſe erfcheint demnach an eine Bedingung ge 
Inüpft, von ber es gänzlich abhängt, ob fie oder ihr Gegentheil 
ftattfindet. Diefe Nothwendigkeit bezeichnet Fichte ald ‚intelli- 
gibeln Fatalismus” *). 

Es könnte ſcheinen, ald ob dadurch die Freiheit, dieſer po⸗ 
fitive Grund aller Sittlichkeit, auögefchloffen ober in Frage ge- 
ftelt würde. Im Wahrheit ift dieß keineswegs der Fall, denn 
die Bedingung, von der unfere fittliche und nichtfittliche Hand⸗ 
lungsweiſe völlig abhängt (die daher jenen „intelligibeln Fatalid- 
mus” audmacht) ift felbft eine That der Freiheit. Die Bedingung 
liegt in unferem Bewußtfein, in unferer Reflerion. Unfere Re 
flerion ift völlig in unferer Gewalt, fie ift durchaus abhängig von 
unferer Freiheit. So ift das fittliche Handeln an eine Bebin- 
gung geknüpft, welche felbft von der Freiheit und von gar nichts 
weiter abhängt. Das fittliche Handeln ift nothwendig und ficher, 

*) Chenbafelbft. LIT Hptſt. I Abſch. 8.16. IV. S. 191—192, 


123 


wenn bad Bewußtfein ber Pflicht feſtſteht; aber diefed Bewußt- 
fein iſt nicht ficher; jegt iſt es Mar und erleuchtenb, im naͤchſten 
Augenblid ift es umwölkt und verbunkelt; fo find wir unferer 
Moralität in Feinem Augenblide ficher, „kein Menſch, ja, fo viel 
wir einfehen, Fein enbliched Weſen wird im Guten beftätigt *).” 


II 
Die moralifhen Grundübel, 


1. Die Unfreiheit ald Schuld. Die Trägheit. 

Iſt es aber Iebiglich unfere Freiheit, welche die Grundbe: 
dingung und den Charakter des Sittlichen macht, indem fie un 
fer Bewußtſein auf die Pflicht hinrichtet oder von ihr ablenkt, fo 
iſt das nichtfittliche Handeln unfere Schuld, und eben biefe 
Schuld ift dad Böfe. Nicht daß wir ſinnlich find, nicht 
daß wir Triebe und Begierden haben, ift böfe, fondern daß 
unfer Bewußtfein von ber Pflicht und bem reinen Ich weg⸗ 
und auf das ſinnliche Ich mit feinen Begierden hinblidt; daß 
der Wille diefe Richtung einfchlägt. Um bie Pflicht zu wol: 
Ien, müffen wir unfere Reflerion von unferem finnlichen Ich und 
den Naturtrieben losreißen, und eben biefe Losreißung gefchieht 
durch einen Act urfprünglicher und unergründlicher Freiheit. 
Reifen wir fie nicht davon los, fo bleiben wir in ber Richtung 
auf unfer. finnliches Wohl, fo beharren wir in biefem unferem 
vorgefunbenen, natürlichen, finnlichen Zuſtande. Dieſes Beharren 
ift die Urſchuld, die Wurzel des moralifchen Uebel, „das radi⸗ 
cal Böfe”, wie Kant ed bezeichnete. Es ift leichter und beques 
mer, in dem gewohnten Zuſtande zu beharren, ald mit ihm zu 
brechen; eö if die vis inertiae der Natur, die natürliche Träg: 
beit, vermöge deren jedes natürliche Weſen in dem Zuftande zu 
beharren firebt, in dem es fich vorfindet. Sobald nım eine ents 

46* 


724 


gegengefeßte Kraft diefen gewohnten Zuſtand angreift, wird aus 
dem Streben Wiberftreben, aus ber bloßen Trägheit die Kraft 
der Trägheit, bie ſich wehrt gegen bie Befreiung. So wider: 
ſtrebt in der menfchlichen Natur der träge Wille dem fittlichen 
Willen. Diefe Willensfaulpeit ift dad moralifhe Grundübel, 
die Wurzel alles Böſen; dad Nichtherauswollen aus dem ge 
wohnten Zuftande, aus dem Schlendrian des natürlichen Ich 
macht, daß wir und lieber alles gefallen laffen, als die Art an 
die Wurzel unferer Unfreiheit legen und uns innerlich aufrich 
ten und erheben. Kraft biefer unferer Trägheit find wir gänzlich 
unfrei. Innerhalb diefer Unfreiheit giebt ed Beine befreiende und 
erlöfende Kraft. „Diejenigen ſonach, welde ein „servum ar- 
bitrium“ behaupteten und den Menfchen als einen Stod und 
Klotz charakterifirten, der durch eigene Kraft fich nicht aus der 
Stelle bewegen könnte, ſondern durch eine höhere Kraft angeregt 
werden müßte, hatten vollkommen recht und waren confequent, 
wenn fie vom natürlihen Menfchen rebeten, wie fie denn 
thaten.” 


2. Feigheit und Falſchheit. 

Iſt aber die nothwendige Folge der Trägheit, daß wir und alles 
Mögliche gefallen laſſen, fo ift hier dad zweite Grunblafter der 
menfchlichen Natur: die Feigheit, die alles feige Handeln verur- 
ſacht. Bir vermögen in ber Wechſelwirkung mit anderen unfere 
Freiheit und Selbftänbigkeit nicht zu behaupten und verfallen 
daher der Gewalt des fremden Willens. So kommt die Scla⸗ 
verei unter die Menfchen, die phufifche und_moralifhe, die Uns 
terthänigfeit und die Nachbeterei: fie folgt aus der Feigheit, wie 
diefe aus der Trägheit. Die Feigheit if nicht Selbftverleugnung, 
fondern elende Selbſtliebe, daher erträgt fie den Zuſtand der Un: 


725 


terdrückung, ber doch auch feine Unannehmlichkeiten hat, mit 
innerem Widerwillen und Haß gegen den Unterdrüder, aber fie 
verſteckt ihren Haß, weil der offene Ausdruck deffelben leicht Ge: 
fahr bringen fönnte, hinter der Miene der Unterwürfigkeit und 
ſucht den Unterbrüder auf alle Weife zu täufchen, zu überliften, 
zu betrügen; fie lügt und muß lügen, denn zur Wahrheit gehört 
Muth, den der Feige nicht hat. So erzeugt die Feigheit die 
Falſchheit, dieſes dritte Grundlafter der Menfchen. „Nur der 
Feige ift falfch.” Aus der Trägheit folgt die Feigheit, aus dies 
fer die Falfchheit. Das erfte Uebel und die erſte Schuld ift der 
Abfall des Willens von feiner urfprünglichen Beftimmung, das 
Nichtherauswollen aus feinen natürlichen Trieben, das Fefthalten 
an ber Marime des Eigennutzes; hier if der Anfang einer noth-⸗ 
wendigen Kette des Böfen, des immer weiter um ſich greifenden 
moralifchen Verderbens, des immer tiefer ſinkenden Falls der 
menf&lichen Natur. 

Indeſſen ift in der menfchlichen Natur die Freiheit unaustilgbar. - 
Das Vermögen und die Kraft der Freiheit ift da, die Möglichkeit 
der Befreiung ift vorhanden, aber das Bewußtſein berfelben oder 
der moralifche Sinn fehlt. Es ift nöthig, ihn zu weden, zu 
entwideln, zu bilden. Und hier ift es die pofitive Religion, wel: 
he zu dieſer moralifhen Entwicklung und Erziehung des Men: 
ſchengeſchlechts die Hand bietet und, wie Fichte ſchon in feiner 
erfien Schrift, der Offenbarungskritik, erklärt hat, dem in feine 
Sinnlichkeit verfunfenen Menfchen den Inhalt des Sittenge 
feges in der ihm faßlichften, finnlichen Form einer pofitiven gött⸗ 
lichen Offenbarung vorhält, um ihn dadurch zu erheben und zu 
läutern *). 

*) Chenbafelbft, III Hptft. I Abſchn. 8.16. Anh, S. 198205, 


Bierzehntes Capitel. 


Der Inhalt des Sittengefehes. CEintheilung der 
Pichtenlehre. Vedingte Pflichten. 


L 
Der Inhalt des Sittengefehes. 

Das Sittengefeß erklärt: „handle gewiffenhaft, jede deiner 
Handlungen liege in jener Annäherungsreihe; deren Ziel deine 
abfolute Unabhängigkeit iſt; behandle jedes Ding feinem End: 
zwecke gemäß!" Diefe Formeln find verfchiedene Ausdruckswei⸗ 
fen derfelben Sache: unfer Endzwed und der der Dinge find ei⸗ 
ner; biefem Endzwecke gemäß handeln, heißt mit dem eigenen in 
nerften Wefen übereinftimmen, unb dad Gefühl diefer Harmonie 
(ded empirifhen und reinen Ich) ift dad Gewiſſen. 

. Aus der Natur des Endzweckes fowohl unferer als ber Dinge 
erhellt darum der ganze Inhalt ded Sittengeſetzes; jener Endzwec 
felbft aber leuchtet ein, wenn wir die Dinge oder Objecte bejie 
ben auf unferen Trieb, nicht auf diefen oder jenen, fondern auf 
unferen ganzen Zrieb, ber in feiner urfprünglichen Befchrän: 
tung zufammenfällt mit unferem Wefen, mit bem Ich felhfl 
oder mit dem Triebe nach Selbftändigkeit des Ich. Diefe Selb: 
ftändigfeit ift unfer Endzweck; die Beförderung biefer Selbflän: 
digkeit ift Endzwed der Dinge. Was daher in Rüdficht auf das 





127 
Ich wefentliche Bedingung zu deſſen Wirkfamteit ift, das ift in 
Rüdficht auf den Endzweck ein nothwendiges Mittel, eben deß⸗ 
halb ein Gegenftand unferes fittlichen Handelns und als ſolcher 
der Inhalt des Sittengefeges *). 

Die Frage nach diefem Inhalte fAUt darum zufammen mit 
der Frage nach den Bedingungen bed Ich. So viele Bebingun- 
gen bad Ich fordert, fo viele Mittel fordert der Endzwed, auf 
fo viele Objecte bezieht ſich das fittlihe Handeln. 

Im Rüdblid auf die vorangegangenen ausführlichen Debuc: 
tionen der Wiffenfchaftölehre laſſen fich jene Bedingungen kurz 
und überfichtlich zufammenfaflen. Das Ich ift Natur (Natur: 
trieb), Reflerionsvermögen, Wernunftwefen (freier Wille) unter 
anderen Vernunftwefen, mit denen es nothwendig in Wechfelwir: 
ung ſteht. Als Naturtrieb ift es Leib, ald Reflerionsvermö- 
gen Intelligenz, als freier Wie Ich einem anderen Ich gegen: 
über, Perfon in Wechſelwirkung mit anderen Perfonen. Leib, 
Intelligenz, freie Wechfelwirkung find daher, wie früher aus- 
führlich entwidelt worden ift, zum Wefen des Ich nothwendige 
Bedingungen. 


1. Pfliäten in Betreff ded Leibes. 

Der Leib ift die Natur im Ich, unfere eigene Natur, ver: 
möge deren allein wir im Stande find, auf die Natur außer und, 
die Sinnenwelt einzuwirken: er ift daher dad Werkzeug aller un 
ferer Wirkſamkeit, das Inftrument aller unferer Gaufalität, un: 
ferer Wahrnehmung, unferer Erfenntniß. Hieraus erhellt, in 
wiefern ber Leib einen Gegenſtand unferes fittlichen Handelns aus⸗ 
macht und zum Inhalte des Sittengefeges gehört. Er fol ein 

*) Zweiter Abſchnitt ber Sittenlehte. Ueber das Materiale bes 
Sittengefeges u. |. f. 6.17. IV. 5. 206— 212, 


— — — 


B 128 


Werkzeug unferer Freiheit, ein taugliches Werkzeug berfelben fein; 
wir follen ihn zu biefem Bwede erhalten und ausbilden. Nur 
zu dieſem Zwede, nur ald Mittel dazu. Daher gebietet das 
Sittengeſetz in Rüdficht des Leibes 1) denfelben nie ald Zweck zu 
behandeln, ihn nie zum Object des Genuſſes um des Genuffes 
willen zu machen, vielmehr 2) ihn auszubilden zu einem taug⸗ 
lichen Werkzeuge für alle möglichen Zwecke der Freiheit (er ift ein 
untaugliches Werkzeug, wenn feine Empfindungen und Begier- 
den ertödtet, feine Kraft abgeftumpft wird), darum 3) den Leib 
nur fo weit zu pflegen und zu genießen, als diefe leibliche Pflege 
und Genüffe zur Bildung des Leibe als eines Werkzeuge für 
den fittlichen Endzwed dienen und in biefer ihrer Geltung von 
dem Gewiffen felbft beftätigt werden. Das find die drei mate 
tiellen, auf unfer leibliches Daſein gerichteten Sittengebote; man 
darf, um fie nach kantiſcher Art durch Kategorien zu unterfcheis 
ben, bad erfle „negativ”, dad zweite „pofitio”, dad dritte „limi⸗ 
tatio” nennen*). 


2. Pflihten in Betreff der Intelligenz. 

Ohne Reflerion Fein Ih. Es ift eine nothwendige Bedin- 
gung des Ich, daß es auf feine eigene Thätigkeit refletirt und 
diefe dadurch zum Ich macht. Wermöge ber Reflerion ift das Ich 
Intelligenz. Das Sittengeſetz ift (für dad Ich) nur, indem es 
gewußt wird, indem die Reflerion fi mit vollem Bewußtfein 
darauf richtet, es ift Daher nur in und durch die Intelligenz, wirt: 
ſam und überhaupt möglich. Daher ift die Intelligenz in Rüd: 
fiht auf dad Sittengefeß nicht bloß beffen Werkzeug, fondern 
auch deffen Vehikel, denn es bedingt nicht bloß die Gaufalität, 
fondern dad ganze Sein des Sittengeſetzes, da (für und) bad 

*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $. 18. I. 6, 212—227, 


129 


Sein des Sittengeſetzes völlig zuſammenfällt mit dem Bewußt⸗ 
fein deſſelben. 

Nun befteht die Ausbildung der Intelligenz in der Erkennt⸗ 
niß; und der Endzwed aller Erkenntniß ift die Erkenntniß der 
Pflicht. Dieſe fei daher dad Endziel und der Beweggrund alles 
Erkennend. So erhellen aus der Beziehung der Pflicht auf die 
Erkenntniß die Sittengebote in Abficht auf die Inteligenz. 

Die Ausbildung der Intelligenz darf, da fie nur innerhalb 
der Freiheit möglich ift, durch Feine Schranke gehemmt, durch 
Fein vorausgeſetztes Ziel eingefchränkt, alfo überhaupt keinem äußer 
en Gefee oder Feiner Autorität untergeorbnet werben, bie den 
Inhalt unferer Erfenntniß (dad zu Erkennende) vorausbeftimmt. 
Das Sittengefeb gebietet daher 1) in feinem negativen Ausdruck: 
„du ſollſt dich in der Ausbildung deiner Intelligenz durch nichts 
binden laffen; du ſollſt fie, was ihren Inhalt betrifft (materia⸗ 
liter”), fchlechterdings keinem Anfehen unterordnen.” Daraus 
folgt 2) bad pofitive Gebot: „forfche mit abfoluter Freiheit; 
lerne, denke, forfche fo viel als möglich”! Der alleinige Be: 
weggrund alled Erkennens fei die Pflicht: das ift die einzige Ein» 
ſchränkung, welche dad Sittengefeg macht. Es gebietet 3): 
„forfche aus Pflicht! Forſche um beiner Freiheit willen! Je 
umfaffenber, entwidelter, deutlicher die Erkenntniß, um fo freier 
das Ich, um fo tüchtiger ift bie Intelligenz ald Werkzeug und 
ald Vehikel des Sittengefees”). 


3. Pflichten in Betreff der Gemeinſchaft. 
a. Nothwendige und zufällige Individualität. 
Die freie Wirkſamkeit des Ich ift in ihrem Ausgangspunkte 
bedingt durch eine Aufforderung, deren Urfache nur ein anderes 
*) Gbenbafelöft, IT Abfän. $. 18, II, ©.217— 218, 


730 


Ich fein kann*). Ohne eine ſolche Aufforderung kann ſich das 
Ich nicht als freithätig, alfo auch nicht vermöge feiner freien 
Thätigkeit ald Naturtrieb finden. Daher bedarf dad Ich zu ſei⸗ 
ner Selbfithätigkeit nothwendig ein zweites Ich; es findet fich 
als frei nur, indem es fich als frei anerkannt findet, und dieſe 
Anerkennung ift nur möglich durch ein freies Wefen außer ihm. 
So ift die Anerkennung ber fremden Freiheit eine nothwendige 
Bedingung zur Segung ber eigenen, und ba in der Anerfennung 
+ ber fremden Freiheit zugleich die Einſchränkung der eigenen ent- 
halten ift, fo liegt in der Setzung der letzteren zugleich deren Bes 
ſchränkung. Vermöge dieſer urfprünglichen Freiheitsſchranke ift 
das Ich ein beſonderes Vernunftweſen oder ein Individuum. Daß 
das Ich überhaupt Individuum iſt, erklärt fi aus den Bedin⸗ 
gungen der Freiheit und ift Daher nothwendig und vernunftgemäß ; 
aber daß es gerade di e ſe s Individuum iſt in biefer örtlichen und 
zeitlichen Beſtimmtheit, ift zufällig und bloß empirifch. 

So unterfcheidet ſich im Ich die nothwendige (beweisbare) 
und empirifche (zufällige) Individualität. Es ift nothwendig, 
daß bie verfchiedenen Ich vermöge der gegenfeitigen Anerkennung 
ihre Freiheit einſchränken und darum indivibualifiren; es ift deß⸗ 
halb nothwendig, daß bie Freiheit in einer Wechſelwirkung 
freier Handlungen befteht; daß daher alle freien Handlungen ver: 
möge biefer Wechfelwirkung durchgängig „prädeterminirt” find. 
Aber e3 ift zufällig, daß gerade dieſes Individuum in biefem Zeit 
punkte diefe beflimmte Handlung vollzieht**). 


db. Individuum und Menfchheit. 
Der fcheinbare in den fittlihen Bedingungen des menſch⸗ 


*) ©. oben, III Bud. Cap. VIII. Nr. 1. 3. ©. 595—597. 
**) Syſt. ber Sittenlehre. II Abſchn. $. 18. TIL. ©. 218— 229, 


731 


lichen Handelns enthaltene Widerſpruch zwiſchen Freiheit und 
Nothwendigkeit Löft fich durch den Begriff des Endzwecks. Wenn 
alle Bernunftwefen denfelben einen Zweck haben, fo ift die Wech⸗ 
ſelwirkung ihrer freien Handlungen und bie dadurch gegebene 
Nothwendigkeit Feine Aufhebung ber Freiheit. Die Selbftändig: 
keit aller Vernunft ift der Endzwed, der von jedem gewollte: 
jeder einzelne ift und gilt fich nur ald Organ und Mittel diefes 
Zwecks, nicht bloß vermöge feiner leiblichen, fondern feiner gan- 
zen empirifchen Individualität. „Der ganze finnliche empiriſch⸗ 
beftimmte Menſch ift Werkzeug und Vehikel des Sittengefeges *).” 


e. Die menſchliche Gemeinfchaft. 

Jeder handelt nach feiner fittlichen Ueberzeugung und will, 
fo viel an ihm ift, den Vernunftzweck befördern, der nur dadurch 
erreicht werben kann, daß jeder einzelne ihn zu feinem Zwecke 
und ſich zum Werkzeuge deffelben macht. Daher kann ed feinem 
gleichgültig fein, wie der andere handelt; jeder muß mit dem 
Vernunftzwed zugleich das fittliche Handeln des anderen zu feis 
nem Zwed machen, er muß wollen, daß jeder andere auch nach 
feiner. fittlichen Ueberzeugung handle, und da diefe nur eine fein 
Tann, daß alle nach einer gemeinfchaftlichen Grundüberzeugung 
handeln. Den Bernunftzwed wollen, heißt zugleich wollen, daß 
die fittliche Weberzeugung in allen diefelbe fei. 

Nun widerftreiten einander die fittlichen Ueberzeugungen ber 
einzelnen, bie gemeinfchaftliche Grundüberzeugung iſt nicht gege: 
ben, ſondern erft hervorzubringen: fie ift eine nothwendig zu 
Töfende fittliche Aufgabe. Und da fie nur in ber freien Wechſel⸗ 
wirkung oder Gemeinfchaft der Einzelnen gelöft werden kann, fo 
fordert das Sittengefeß von jedem, ſich in diefe Wechſelwirkung 

*) Ebendaſelbſt. IL Abſchn. $, 18, IV u, V. ©, 229— 231. 


732 


einzulaffen, in die Gemeinſchaft mit ben anderen einzugehen, in 
der Geſellſchaft zu leben, in und für fie zu handeln. Wir haben 
früher den Rechtögrund kennen gelernt, der bie menfchliche Ges 
meinfhaft nöthig macht; hier ift der fittliche Grund, der fie 
fordert*). 


a. Die ethifche Gemeinſchaft oder Kirche, 

Jeder fol, fo viel er fann, dazu wirken, daß alle dieſelbe 
fittliche Grundüberzeugung haben; die dadurch gebotene Wechſel⸗ 
wirkung fehließt natürlich jeden Zwang aus, denn die Ueberzeu⸗ 
gung des einzelnen ift nur in dem Maße fittlich als fie frei ift. 
Eine erzwungene Ueberzeugung ift fo gut ald Feine, 

Die Gemeinfchaft in der fittlichen Ueberzeugung, in der Bes 
jahung des abfoluten Endzwedö als der ewigen Beſtimmung ber 
Menfchheit, in der Hingebung an dieſen Zweck, ift die ethifche 
Vereinigung der Menfchen, die Fichte, wie Kant, ald dad Wer 
fen der Kirche bezeichnet. Aufgabe und Ziel der Kirche in dies 
fem Sinn ift die völige und in allen Punkten durchgeführte Ueber= 
einftimmung der fittlichen Ueberzeugung, die wirkliche Gleichheit 
der moralifchen Gefinnung, die moralifhe Einheit der kirchlich 
Verbundenen. Ein ſolches Ziel läßt ſich nur von ſolchen gemein⸗ 
ſchaftlich faffen, die ſchon von einer gewiſſen gemeinfamen Grund» 
lage ausgehen. Was erft als Ziel vollfommen beftimmt und ent: 
widelt fein fol, das muß im Ausgangspunkte als etwas noch 
Unbeftimmtes und Entwidlungsbebürftigeö geſetzt fein. 

Fichte nennt die Faflung einer folchen erfien, noch unbe 
. flimmten, aber ſchon gemeinfchaftlichen Ueberzeugung fittlicher 
At „Symbol“, es ift der erfle, finnliche und gemeinfaß- 
liche Ausdruck einer fittlichen Ueberzeugung, bie in ihrer weiteften 

*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. 8.18. V. a—c, S. 231—235, 


733 


Form nur den Sat bejaht: „es ift ein Ueberfinnliches.” Ein fol: 
ches Symbol braucht die Kirche, um von einem gewiffen fittli- 
hen Vereinigungspunkt auögehen, um ihre Aufgabe überhaupt 
fegen zu können; fie braucht es als Hülfsmittel, unentbehrlich 
für den Anfang. Daher nennt es Fichte „Nothſymbol“. 

In Rüdficht auf die Geltung des Symbold unterfcheibet 
er die beiden Firchlichen Gemeinfchaften,, die innerhalb der chrift- 
lichen Welt und am nächften ftehen. Es hängt alles davon ab, 
ob das kirchliche Symbol ald Anfang und Vorausſetzung, ober 
ob es als Ziel und Gegenftand gilt; ob es ber eigentliche Zweck 
oder nur Hülfsmittel und Vehikel der kirchlichen Lehre ift; ob es 
felbft gelehrt oder nur von ihm aus gelehrt wird. „Ich fol das 
von auögehen als von etwas Vorausgeſetztem; keineswegs, ich fol 
darauf hingehen, als auf etwas zu Begründendes.” „Das Sym⸗ 
bot ift Antnüpfungspunft. Es wird nicht gelehrt — bieß ift der 
Geift des Pfaffenthums — fondern von ihm aus wird gelehrt.” 
So unterfcheidet Fichte Proteflantismus und Katholicismus. 
„Der Proteftant geht vom Symbole aus in’8 Unendliche fort; ber 
Papift geht zu ihm hin, als zu feinem legten Ziele*).” 


e. Die Rechtsgemeinſchaft oder der Staat. 

Die Ausbildung meines Leibes und meiner Intelligenz ift 
nur durch mich möglich, fie ift mein alleiniger Zweck und baher 
abhängig auch nur von meiner Weberzeugung. Dagegen ift die 
Ausbildung der Sinnenwelt überhaupt, bie eine gemeinfchaftliche 
Belt ift, an der außer mir auch die anderen Wernunftwefen 
Theil haben, keineswegs bloß von mir und meiner Weberzeugung 
abhängig, fie kann nur nach einer gemeinfchaftlichen Ueberzeu⸗ 


*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $. 18. V.o.e. 6.236, u. 6, 241 
245, 


734 


gung gefchehen, bie als foldye erſt hervorzubringen ift. Es if 
Pflicht, fie heroorzubringen. Nun ift der Gegenftand diefer ge: 
meinfchaftlichen Ueberzeugung bie Rechtögemeinfchaft, die ſich 
felbft auf den Staatsvertrag gründet. Es ift daher Pflicht, eine 
folche Uebereinftimmung in Betreff der Rechtsgemeinſchaft hervor: 
zubringen; es ift demnach Pflicht, fih mit anderen zu einem 
Staate zu vereinigen. Hier erfcheint das ſtaatsburgerliche Leben, 
das früher nur aus dem Geſichtspunkte des Rechts gefordert 
wurde, als nothwendig unter dem ſittlichen Gefichtöpunfte, als 
jedem geboten durch das Gewiflen*). 

So gebietet das Sittengefeg in Rüdficht-auf den zu realiſi⸗ 
enden Endzwed bie thätige Theilnahme an ber menfchlihen Ge: 
ſellſchaft, an Kirche und Staat. 


t. Die Gelehrtenrepublit (Univerfität). 

Die Angelegenheiten ber Kirche und des Staates find gemein: 
ſchaftliche. Hier gilt und muß gelten die gemeinfchaftliche Ueber- 
zeugung, das vorhandene Gefeg, dem ber einzelne feine Privat: 
Überzeugung unterzuorbnen hat. 

Nun ift es Pflicht, eine eigene Ueberzeugung zu haben und 
auszubilden mit völliger Freiheit, unabhängig von jeder Autorität. 
Es ift möglich, daß in dieſer Pflichterfülung die eigene Ueber: 
zeugung in Widerſtreit geräth mit den in Kirche und Staat 
herrſchenden Gefegen. Es ift Pflicht, alles zu tun, um bie 
eigene Ueberzeugung zur gemeinfchaftlichen zu machen; es ift 
Pflicht, der gemeinfchaftlichen Ueberzeugung die eigene unterzus 
ordnen: hier haben wir eine Colliſion der Pflichten und damit 
zugleich die Pflicht und Aufgabe, diefen Widerſtreit zu Löfen. 

Die Pflicht gebietet, eine eigene Ueberzeugung zu haben, 

*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $.18. V. d. S. 236—241, 


735 


auszubilden und barum mitzutheilen; bie Pflicht verbietet, ber 
gemeinfchaftlichen Weberzeugung Eintrag zu thun durch bie eigene. 
Nun ift die Mittheilung biefer zugleich eine Beeinträchtigung 
jener. Indem ich die eine Pflicht erfülle, verletze ich die andere. 
So find beide Pflichten einander entgegengefebt. Die Vereini⸗ 
gung der Gegenfäge ift nur möglich durch gegenfeitige Einſchrän⸗ 
kung. Das Sittengeſetz gebietet daher, daß die Pflicht ber Mit: 
theilung und bie ber Unterorbnung (ber eigenen Ueberzeugung) 
ſich gegenfeitig dergeſtalt einfchränten, daß die Erfüllung ber 
einen die der andern nicht aufhebt; daß jede in einem gewiffen 
eingefchränkten Sinne erfüllt wird. 

Die eigene Ueberzeugung foll mitgetheilt werben, aber nicht 
an alle, fondern nur an die befchränkte Anzahl einiger, bie zu dies 
fem Zwecke ebenfalls eine durch das Sittengefeß gebotene Gemein: 
fhaft bilden. Es muß deßhalb innerhalb der großen Gefelfchaft 
äine Heinere geben, die dad Recht und bie Pflicht einer völlig 
freien, von jeber Autorität unabhängigen Unterſuchung jeder 
Ueberzeugung, darum auch dad Recht und bie Pflicht der unge: 
hemmten gegenfeitigen Mittheilung der Ideen hat: eine Gefel: 
fhaft, in der nichts gilt ald die Macht der Vernunftgründe und 
infofern fein anderes Recht als das des (geiftig) Stärkeren. Die 
Aufgabe diefer Gefelichaft ift die Wiffenfchaft und deren durch 
nichts gehemmte ober eingefchränkte Fortbildung. Die Bildung 
einer ſolchen Geſellſchaft ift felbft eine fittliche Aufgabe: bie Auf- 
gabe „des gelehrten Publicums“, „ber gelehrten Republik, 
für die es Sein mögliches Symbol, keine Richtfchnur, Feine 
Zurüchaltung giebt.“ „Es giebt hier einen anderen Richter als 
die Zeit und den Fortgang ber Cultur. Die Gelehrten» Schule, 
die derfelben Unterfuchungdfreiheit bedarf, ift die Univerfität.” 

Kiche und Staat brauchen Erzieher und Leiter, die ihre 


736 


Pflicht nicht erfüllen Fönnten, wenn fie nicht der Volksbildung 
voraus wären, und das fönnen fie nicht fein ohne wiffenfchaft- 
liche Bildung. Die wiffenfchaftliche Bildung macht den Gelehr- 
ten. Daher muß es Gelehrte geben, welche zugleich Beamte 
find. Wenn nun in folchen Perfonen die wiffenfchaftliche Ueber- 
zeugung in Widerftreit geräth mit der gefeglich geltenden, fo kann 
die Colliſion ſich nur fo löſen, wie fie gelöft ift: fie Dürfen als 
Gelehrte, was fie ald Beamte nicht dürfen. „Es ift eine Ber 
drüdung des Gewiſſens,“ fagt Fichte, „dem Prediger zu ver 
bieten, feine abweichenden Anfichten in gelehrten Schriften vor- 
zutragen; aber es ift ganz in der Ordnung, ihm zu verbieten, fie 
auf die Kanzel zu bringen, und es ift von ihm felbft, wenn er 
nur gehörig aufgeklärt ift, geriffenlos, dieß zu thun.” „Und 
fo Iöft denn die Idee eines gelehrten Publicums ganz allein ben 
Widerflveit, der zwifchen einer feflen Kirche und einem Staate 
und zwifchen der abfoluten Gewiſſensfreiheit im Einzelnen ſtatt⸗ 
findet; und die Realifation diefer Idee ift ſonach durch dad Sit: 
tengefeg geboten *).” 


I. 
Eintheilung der Pflichten, 
4. Mittelbare (bedingte) und unmittelbare 
(unbedingte). 

Object des Sittengefebes ift die Vernunft überhaupt, die Herr: 
ſchaft oder daB Reich der Vernunft in der Sinnenwelt; Mittel und 
Werkzeug dieſes Zweckes ift das Ich, nämlich dad empirifche Ich oder 
die Perfon. Da nun die Verwirklichung des Zweckes abhängt 
von ber richtigen Verfaſſung des Mittelö, fo wird die Pflicht fich 
auf beides beziehen und in Abficht auf den Zwed auch dad Mittel 

>) Ebendafelbft, II Abfän. 8. 18, V.f. ©, 246 — 262, 


137 


bebenten mäflen. Aber bie Beziehung ift verfchiedener Art. 
Das nachſte, unmittelbare Object der Pflicht iſt der fittliche End⸗ 
zweck; dad baburch vermittelte und in den Gefichtöfreis der 
Pflicht gleichfam in zweite Linie gerüdte Object ift die Perfon, 
für jeden die eigene. 

So unterfcheibet ſich der Pflichtbegriff in zwei Arten: 
„Pflichten gegen das Ganze” und „Pflichten (nicht eigentlich 
gegen, fondern) auf und felbft oder um unferer felbft willen”. 
Weil die Perfon das Mittel aller vernünftigen Wirkſamkeit und 
die Bedingung zur Verwirklichung der Vernunftherrſchaft ift, 
darum mögen die Pflichten der zweiten Art „mittelbare oder be⸗ 
dingte” und im Unterfchiede davon die der erſten „unmittelbare 
ober unbedingte” heißen. 


2. Befondere und allgemeine. 


Die Pflicht fordert, daß jeder nad) feinem Vermögen die 
Herrſchaft oder Selbftändigkeit der Vernunft befördert. Dieß 
wäre nicht möglich, wenn jeder nur thut, was ihm einfält, und 
die Handlungen ber einzelnen fich gegenfeitig verhindern und 
aufheben. Die Art, wie zur Verwirklichung des Endzwecks ge⸗ 
handelt wird, darf nicht zwedwibrig fein. Die Vernunftherr- 
Schaft Tann nur befördert werden, wenn bie Beförderung plan 
mäßig gefchieht. Dazu ift eine Theilung der fittlichen Arbeit 
nöthig, eine Bereinigung zum Zwecke einer folchen Theilung, die 
nur flattfinden kann durch eine Einfegung verfchiedener Stände. 
Iſt es nun Pflicht, die Planmäßigkeit der fittlichen Arbeit zu bes 
fördern, fo ift es auch Pflicht, auf die Theilung der Arbeit, auf 
die Einfegung verfchiedener Arbeitsftände hinzuwirken und felbft 
für die eigene Perfon einen beftimmten Platz in der fittlichen Welt 


zu ergreifen. Innerhalb diefer Ordnung und Einteilung der 
Bilder, Geſchichte der Phllofophie V. 47 


7138 


fittlihen Thaͤtigkeit giebt es „übertragbare und unübertragbare 
Geſchäfte“. Die darauf bezüglichen Pflichten unterfcheiden ſich 
demnach ebenfalls in zwei Claffen: die der erften Art nennt Fichte 
„beſondere“, die ber zweiten „allgemeine Pflichten”. 

Da nun die beiden Eintheilungen in einander greifen und 
die zwei Arten der erften Eintheilung jede die beiden Arten der 
‚zweiten unter fi) faffen kann, fo ergiebt fich folgende Geſammtein⸗ 
theilung*): 


Pflichten 
— — — 
bedingte unbedingte 
(mittelbare) (unmittelbare) 


— — —— — 
allgemeine beſondere allgemeine beſondere. 


IL 
Die bedingten Pflichten. 

1. Allgemeine Pflihten. (Selbſterhaltung.) 

Jeder fol ein Werkzeug des Sittengefeges in der Sinnen⸗ 
weit fein; er fol ed fein nad) feinem Vermögen. Die Aufs 
löfung diefer Beftimmung giebt den Begriff folcher Pflichten, 
die 1) nicht unmittelbar auf das Sittengefeg, fondern auf deſ⸗ 
fen Bedingung fi) beziehen, daher bedingte Pflichten find, 
2) nicht von einer Perfon auf die andere übertragen werben kön⸗ 
nen, alfo allgemeiner Natur find, d. h. „allgemeine bebingte 

‚ Mlchten", 

Um überhaupt in ber Sinnenwelt wirken zu Pönnen, dazu 
ift eine fortdauernde Wechfelwirkung zwifchen der Perfon und 
der Welt, alfo auch die Fortdauer der Perfon oder die Erhaltung 

*) Chendafelöft. III Abſchn. Die Sittenlehre im eigentlihen Ber 
ſtande. Die eigentl, Pflichtenlehre. $. 19. I—II. ©. 254 — 259. 


1 


739 


des Individuums nöthig. Hieraus ergiebt fih die Selbfterhals 
tung als fittliche Pflicht. Ein anderes ift die Selbfterhaltung als 
Urrecht, ein anderes ald Pflicht. Im Sinne des Rechts muß 
ich meine Fortdauer wollen, um ben Erfolg und die Früchte 
meiner Thätigfeit ernten zu können, ich will fie um des Genuffes 
willen, zu dem mid; meine Thätigkeit berechtigt”); im Sinne 
der Pflicht will ich meine Fortdauer ohne ale Rüdficht auf Er⸗ 
folg und Genuß, ich will fie nicht um meinet: fondern um des 
Sittengefege willen, nicht um genießen, fondern um forte 
handeln zu können. Die Fortdauer bes fittlihen Wirkens ift 
gebunden an die Erhaltung und regelmäßige Fortentwidelung des 
perfönlichen Daſeins in Rüdficht ſowohl bed Leibes als der Ins 
telligenz. 

Was die Erhaltung und Entwidelung bes perfönlichen Da: 
feins gefährdet, fei es durch innere Störung feiner Bedingungen, 
fei es durch äußere Gewalt, fol unterlaffen werden ; was beiden 
dient, foll gefchehen, nicht um des Nugend, fondern um ber 
Pflicht willen. Daraus ergiebt fih von felbft die Unfittlichkeit 
aller ausfchweifenden Lebensart, die durch übertriebened Faſten 
oder durch Wöllerei und Unkeufchheit den Körper untergräbt und 
den Geift ſchwacht, und ebenfo bie Unfittlichkeit folcher Lebens⸗ 
weifen, bie durch Nichtöthun, vegellofe Beſchaͤftigung, Ueber: 
anſtrengung, einfeitige Bildung u. ſ. f. ber normalen Entwid: 
lung und Yusbildung des Geiſtes unmittelbar zuwiderlaufen und 
fie gefährden **). 


2. Die Frage des Selbſtmordes. 
Aus der Pflicht der Selbfterhaltung folgt unmittelbar, daß 
*) Bol. oben Cap. IX diefes Buchs. Mr. I. 1. &,618—619, 


**) Gyft. der Sittenlehre, III Abi. 9.20. S. 259—262. 
\ 47* 


740 


die gewaltfame und gefliffentliche Selbftzerftörung bes leiblichen 
Dafeind dem Sittengefeße wiberftreitet. Won jeher ift über die 
Frage des Selbftmorbed in ber Sittenlehre geftritten worden: ob 
ex erlaubt, unter Umftänden erlaubt, in gewiffen Fällen fogar 
geboten fein könne? Nach Fichte verhält ſich dad Sittengeſetz 
nie erlaubend ; entweder es gebietet ober verbietet, entweder ich 
fol oder ich fol nicht. Zwiſchen Gebot und Verbot giebt es 
einen weiteren Spielraum, auf dem unter anderem auch ber 
Selbſtmord Pla finden könnte. Die Frage ift daher nur: ob 
unter Umftänden die Selbftentleibung Pflicht fei? 

Sie Tönnte, wie die Selbfterhaltung, nur mittelbare Pflicht 
fein ald Bedingung zur Erfüllung des Sittengefeged. Da num 
mit dem Leben auch das Handeln aufhört, fo kann bie Selbft- 
vernichtung niemald Gegenftand einer mittelbaren ober bebing- 
ten Pflicht fein. Die Pflicht der Selbftentleibung müßte da—⸗ 
her (menn überhaupt möglich) unmittelbar und unbedingt fein; 
und ba fie das letztere nie fein kann, fo ift fie in jedem Sinne 
unmöglich ; fo ift ber Selbftmord unter allen Umftänden fchlecht- 
bin pflichtwidrig. Leben ift eine notwendige Bedingung zum 
Handeln. Ich will nicht mehr leben, heißt fo viel ald: ich 
will nicht mehr handeln, ich will mich der Herrfchaft ded Sitten: 
geſetzes entziehen, ich will nicht mehr länger meine Pflicht thun. 

Man wende dagegen nicht etwa ein, daß ja die Vernich⸗ 
tung biefed Lebens dad Leben nicht aufhebt, fondern nur ben 
Lebendzuftand verändert und nur dad Handeln in biefer Sinnen» 
welt unmöglich macht. Das fittliche Handeln ift nur möglich 
nad) einer erkannten und im Bewußtfein mit aller Deutlichkeit 
gegenwärtigen Pflicht. Nun ift alles jenfeitige Leben und Han⸗ 
deln kein Gegenftand einer erkennbaren Pflicht und darum Fein ſitt⸗ 
lic) begründeter Einwand gegen die Immoralitätdes Selbftmorbes, 


D 


741 


Es giebt auch feinen Beweggrund, der die Gelbftentleibung 
fittlich rechtfertigen Fönnte. Dem einen fällt das Handeln, dem 
andern bad Dulden, beiden dad Kämpfen zu ſchwer, und fo 
werfen fie mit dem Leben auch die Laft von fich ab, die dad Sit: 
tengefeg zu tragen gebietet. So ift der Selbftmord nie eine Er: 
fülung der Pflicht, fondern ſtets eine Entledigung von berfelben. 
Er ift unter alen Umftänden unfittlih. Dagegen ift die Frage, 
ob er eine That der Feigheit oder des Muthes ift, völlig unter 
georbneter Art. Hier ift die Antwort relativ je nach dem Maß: 
ftabe der Vergleihung: dem Tugendhaften gegenüber ift jeder 
Selbftmörder feig; dem Nichtöwürdigen gegenüber, ber nichts 
höheres Eennt ald das armfelige Gefühl der Eriftenz, ift er ein 
Held ). 

5. Beſondere Pflichten. 

Jeder Einzelne fol für den Vernunftzweck nicht bloß han⸗ 
dein, fondern planmäßig handeln d. h. benfelben in beftimmter 
Weiſe nad) feinem Vermögen befördern, foviel er kann. Er fol 
deßhalb in ber fittlichen Welt feinen Stand wählen, nad) feiner 
beften, durch methodiſche Erziehung entwidelten und gereiften 
Ueberzeugung. Kein anderer fol für ihn wählen, er fol es 
ſelbſt thun, nicht nach Neigung, nicht nach Umftänden, fondern 
nach feiner wirklichen, auf den Zweck des Ganzen gerichteten, auf 
achte Selbfttenntniß gegründeten Einficht **). 

*) Ebendafelbft. TIL Abſchn. 8.20. I. 6.263 — 268. 

*+) Ebendaſelbſt. III Abjn. 8.21. I-IV. &,271 — 278. 


Fünfzehntes Capitel. 
Die nnbedingten oder abfoluten Pflichten. 


I 
Allgemeine Pflihten. 
1. Menfhenpfliht gegen andere. 

Unbedingt oder unmittelbar find die Pflichten, die ſich direct 
auf das Ganze oder den Endzweck beziehen; diefe Pflichten find 
allgemein, ſofern ihr Werkzeug die menfchliche Natur als folche, 
nicht ein befonderer Stand oder Beruf berfelben ift: ed find 
die allgemeinen Menfchenpflichten, die jeder ohne Unterfchied hat 
gegenüber dem Ganzen. Das Ganze (Endzweck) ift die Vernunft; 
fie fol in der Sinnenwelt herrſchen, nur fie; dieſe Herrfchaft 
kann nur erfüllt werden in und durch die finnlichen Vernunft: 
wefen (Perfonen), in und durch deren Gemeine, Es handelt 
ſich mithin um die allgemein menfchlichen Pflichten jeder einzel: 
nen Perfon gegen alle anderen, um die Pflichten des Menfchen 

gegen feine Mitmenſchen. 

Unter dem ſittlichen Geſichtspunkte erſcheint jede Perſon als 
Werkzeug des Sittengeſetzes, als moraliſches Weſen. Daher 
befiehlt jedem das Sittengeſetz: „behandele den anderen ſeiner 
moraliſchen Beſtimmung gemäß.“ In dieſer Formel ſind alle 


143 


Pflichten enthalten, die der Menſch dem Menſchen gegenüber er: 
füllen foll*). 


2. Die Freiheit der anderen, 

Die erſte Bedingung zur Moralität ift die Freiheit. Soll 
ich ben anderen als moralifches Wefen behandeln, fo muß er mir 
vor allem ald ein freies Wefen gelten. Ich foll die Freiheit 
des anderen, dad Vermögen feiner Selbftbeftimmung, anerken⸗ 
nen, nicht bloß um feines Rechtes, fondern um meiner Pflicht 
willen: diefe Anerkennung und die darauf gegründete Handlungs- 
weife foll ein Ausdruck fittlicher Gefinnung fein. Hier nimmt 
das Sittengefeb die Rechtöpflicht in ſich auf, indem fie den Ins 
halt derfelben vertieft und erweitert. Es ift nicht genug, daß 
ich die Freiheit des anderen nicht verletze, ich fol fie ald eine Ber 
dingung zur Moralität zugleich erhalten und befördern. Was 
ich aus Rechtögründen thue, gefchieht um meinetwillen, ich hüte 
mich Schaden zu thun, um nicht Schaden zu leiden; was ich 
aus Pflicht thue, das gefchieht um des Endzwecks (Gottes) wil⸗ 
len, nicht aus Intereſſe, ſondern aus rein ſittlicher Geſinnung. 
Hier gilt jeder als Werkzeug des Sittengeſetzes, ohne Unterſchied 
der Perſon; jeder andere iſt ein ſolches Werkzeug ſo gut als ich 
ſelbſt, nicht mehr und nicht weniger; der Maßſtab der ſubjecti⸗ 
ven Einzelintereffen hat daher in der Beſtimmung unferer Pflicht 
gegen die Mitmenfchen gar Feine Geltung, und ebenfowenig ber 
Sag, daß jeber ſich felbft der Nächfte ift. 


3. Das leibliche Dafein der anderen. 


Wie das perfönliche Dafein das leibliche in ſich ſchließt, fo 
fordert die perfönliche (formale) Freiheit, daß jeder Herr feines 


*) Syft. ber Gitienlehre, III Abſchn. $. 22, S. 276 — 76, 


144 


Lebens fei, daß Feiner durch phyſiſchen Zwang auf ben andern 
einwirke; daher verbietet die Pflicht jede dem anderen zugefügte 
Gewaltthat (deren höchfter Grad bie vorfägliche Tödtung iſt), 
vielmehr gebietet fie, daß jeder das körperliche Wohl des anderen 
nad) Kräften beförbere, daß ihm die eigene Selbfterhaltung nicht 
wichtiger fei ald bie des anderen”). 


4 Die Erfenntniß ber anderen. 
Die Pflicht der Wahrhaftigkeit. 

Das freie Handeln ift zugleich ein durch Urtheil und Ein | 
fit beftimmtes. Daher gebietet die Pflicht, alles zu unterlaſ⸗ 
fen, was die richtige Einficht des anderen hindert oder verfälfcht, 
alles zu thun, was fie befördert: fie verbietet daher jede Art der | 
Zweideutigkeit, der Lüge, des Betruges, womit wir ben an 
beten zum Irrthum verleiten und dadurch der Bedingung berauben, 
unter der allein ein freies, durch richtige Begriffe beflimmtes | 
Handeln ftattfinden Tann: fie fordert die vollkommenſte Wahr: 

haftigkeit und Aufrichtigkeit als Menfchenpflicht gegen jeden. 
i Das Sittengefeh verbietet die Lüge in jedem Sinn, alfo 
auch die Nothlüge. Da es Feine fittlihen Erlaubniffe, fondern 
nur Gebote und Verbote giebt, fo kann nur gefragt werben, ob 
in gewiffen Fällen die Nothlüge (nicht etwa ſittlich erlaubt, fon: 
dern) geboten fein könne? Als Gebot würde fie die Geltung 
einer Marime haben. Hier zeigt fich die Widerſinnigkeit der 
Sache, Der Zwed der Lüge if, geglaubt zu werden; fobald 
fie ſich aber als Marime giebt und als Lüge öffentlich bezeichnet, 
iſt die natürliche Folge, daß fie von feinem geglaubt wird, 

Jede Lüge ift der Verſuch, gewiſſe perfönliche Zwecke bei 
dem anderen 'mit Lift durchzufeßen: fie ift daher immer egoiftifch 
) Ehenbafelbft, LIT Abſchn. 9.23. 1. 6. 276 — 282, 


145 


und fchon darum nie moralifch. Die Lift der Lüge befteht darin, 
ſcheinbar den Abfichten deö anderen ſich unterzuorbnen, um fie 
defto beffer für den eigenen Vortheil zu brauchen: eine foldhe 
Unterorbnung ift feig, jeder Lüge fehlt der Muth der Wahrheit, 
darum ift fie ſtets feig, und die Empfindung biefer Feigheit er- 
zeugt die Schaam, welche die Lüge unwillkürlich begleitet*). 


5. Das Eigenthum anderer. 

Das freie Handeln der Perfon darf bei feinem anderen das 
Gebiet freier Handlungen ſtören wollen; das ift nur möglich, 
wenn jeber einzelne ein folches beutlich bezeichnete Machtgebiet 
bat, in dem fein Wille Herr iſt, wenn jedem einzelnen eine 
gewiſſe Sphäre von Objecten zugehört ald auöfchliegendes Eigen- 
thum. Daher muß ed ald eine Bedingung des freien Handelns 
gelten, daß alle Eigenthümer find, Jeder Menſch fol Eigen: 
thum haben; jedes Object fol Eigenthum irgend eines Menfchen 
fein: gerabe dadurch, fagt Fichte, wird die Herrfchaft der Ver⸗ 
nunft über die Sinnenwelt recht begründet. 

Wir haben früher das Eigenthum ald Recht und zwar ald 
Urrecht dargethan. Seht handelt es ſich um die moralifche An- 
erfennung beffelben. Diefe Anerkennung ift Pflicht, [23 giebt 
ohne Eigenthum Feine freie und ausfchließende Sphäre des Einzel: 
willens, fein freie8 Handeln in der Sinnenwelt. Es ift daher 
Pflicht, Eigenthum einzuführen, zu erwerben, fremdes Eigen⸗ 
thum nie zu verlegen, vielmehr das fremde fo gut als daß eigene 
ſtets zu vertheidigen, und alles zu thun, damit die Nichteigen- 
thümer Eigenthümer werben. Ale Arten der Eigenthumsbeſchä⸗ 
digung, wie Raub, Diebftahl, Betrug, Bevortheilung u. f. f, 
find nicht bloß rechtswidrig, fondern unfittlich. 

7) Ebendafelöft, III Abſchn. 9.28. IL. ©. 289 — 291. 


746 


Daß wir aus fittlihen Gründen dafür Sorge tragen, daß 
jeder Eigenthum haben und erwerben Fönne, ift die eigentliche 
Pflicht der Mohlthätigkeit. Diefe Sorge iſt in erfler Linie die 
Sache des Staatd und bed öffentlichen Recht, erft in zweiter 
die des privaten Wohlthund. Diefes hat ben Zwei, dem an: 
deren Eigenthum zu verfchaffen, nicht bloß ihm augenblidlich das 
Leben zu friften; daher die Wohlthätigkeit wohl zu unterfcheiden 
ift vom Almofengeben. Almofen machen den Bettler nicht zum 
Eigenthümer, fondern laſſen ihn bleiben, was er ift, und find 
daher nicht die Erfüllung einer fittlichen Pflicht, fondern ein un⸗ 
glücklicher Nothbehelf, um ben anderen nicht umkommen zu lafz 
fen. In einer rechtlichen und fittlihen Ordnung ber Dinge foll 
es Feine Bettler geben, alfo auch Feine Almofen *). 


6. Die Gefährdung der Freiheit. 


a. Caſuiſtiſche Fragen, 

Es ift möglich, daß die Perfonen und verfchiedenen Frei: 
heitöfphären in Widerflreit gerathen, daß die Freiheit des ein- 
zelnen durch diefen Widerftreit oder auch durch Naturgewalt in 
Gefahr geräth. Es iſt Sache des Staats, die Gefahren, wo er 
es Tann, zu verhindern, den Wiberftreit durch die Macht der 
Gefege auszugleichen und die Freiheit wieberherzuftellen. Da 
aber der Staat nicht immer helfen, nicht überall gleich bei der 
Hand fein kann, fo gebietet das Sittengefeg jedem, ber Gefahr, 
woher fie auch komme, mit allen feinen Kräften entgegenzuwirken. 
Sie bedroht dad äußere Dafein der Freiheit: Leib, Leben, Eigen: 
thum. Es handelt fi) daher um die füttliche Verpflichtung, diefe 
zu ſchützen, wo und wie fie gefährbet find. Und zwar fol nad) 
dem Sittengefege jedem der andere fo viel gelten ald er fich ſelbſt. 

*) Ghenbafelbft, III Abſchn. $. 28. I. 6. 291 — 300, 





7147 

Hieraus ergiebt fich eine Reihe cafuiftifcher Fragen, die 
alle unter den Grundſatz fallen: du ſollſt helfen, aber einen 
dem anderen vorziehen, auch micht dich felbft! Wenn ich mit 
einem anderen in berfelben Gefahr bin und nur einer gerettet 
werben Bann, wen fol ich retten? Das Sittengefeß fagt: in 
diefem Falle Feinen, fondern ruhig den Erfolg abwarten. Wenn 
mehrere andere zu retten find? Wenn ich ber Angegriffene bin, 
wie weit geht die fittliche Pflicht dev Nothwehr? Bis zur Ent- 
waffnung des Gegnerö, nicht weiter. Was fol gefchehen, wenn 
mein Eigenthum und dad des anderen zugleich in Gefahr ift? 
Das Eigene zuerft retten, nicht weil jeder fich felbft der Nächfte 
ift, fondern weil die eigene Sache die nächſt gegenwärtige iſt, 
bei welcher daher die Gefahr am eheften bemerkt wird; nicht um 
bed Vortheils willen, denn ich) werde mit meinem geretteten 
Eigenthume dem andern helfen, dem ich nicht helfen konnte, dad 
feinige zu retten. Was fol gefchehen, wenn Leben und Eigen 
thum bei und ober bei anderen ober bei beiden zugleich gefährbet 
find? Leben ift die Bedingung des Eigenthumd. Darum ift 
unter allen Umftänden das Leben das nächfte Object der Rettung 
u. ſ. f. Die Löfung folcher cafuiftifchen Fragen ift von jeher der 
praktiſch unfruchtbarfte Theil der Sittenlehre geweſen *). 

b. Seindestiehe. 

In dem Widerftreite der Perfonen ift auch die Feindfchaft 
enthalten. Die hriftliche Sittenlehre fagt: „liebe deine Feinde!” 
Unter diefer Liebe Tann nicht die gemüthliche („pathognomifche”) 
Neigung, auch nicht bloß die äußere Handlungsweiſe (behandie 
fie, als ob du fie liebſt), fondern nur bie fittliche Gefinnung ver= 
fanden fein. Die fittliche Gefinnung fchließt überhaupt die Em- 
pfindung perfönlicher Feindfeligkeit aus. Unter dem fittlichen 

*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. 924.4 —C. 6. 300 — 310. 


148 


Geſichtspunkt anerkennt jeder den anderen als Werkzeug bes 
Sittengeſetzes; unter biefem Geſichtspunkte giebt es überhaupt 
keine Feindſchaft. „Der fittliche Menfch hat gar keinen perſön⸗ 
lichen Zeind und erkennt feinen an.” Das Sittengefek fagt 
nicht: „liebe beine Feinde,” fondern es fagt: „du follft Beinen 
Feind haben, d. h. du ſollſt Feinen als Feind anfehen.” „Wer 
eine Beleidigung höher empfindet darum, weil fie gerade ihm 
widerfahren ift, ber fei ficher, daß er ein Egoift und noch weit 
entfernt ift von wahrer moralifher Gefinnung *).” 
©. Ehre und guter Ruf. 

In allen Fällen fol unfer Wille übereinftimmen mit dem 
Sittengefeg, wir follen nichts wollen als dad Rechte und Gute, 
Daß und diefe Gefinnung von anderen zugetraut wird, darin 
allein befteht unfere „Ehre und guter Ruf”. Diefe Anerkennung 
allein folte fo heißen, Alle anderen Urtheile und Meinungen 
önnen und gleichgültig fein, nur nicht die Ehre und der gute 
Ruf, der ſich auf unfere moralifhe Gefinnung bezieht, denn 
diefed Vertrauen, dieſe gegenfeitige moralifche Anerkennung ift 
die Bedingung ber moralifchen Wechfelwirtung, die das Sitten: 
geſetz fordert **). 


7. Die Beförderung der Moralität. 
Das gute Beifpiel. 

Die Erfüllung des Sittengefeges ift unfer Endzweck; fie ift 
nur möglich durch die moralifhe Gefinnung der Menfchen, nicht 
bloß durch die unfrige, auch Durch die der anderen; alfo ift dieſe 
Gefinnung unfer Zwed und ihre Beförderung unfere unbebingte 
und allgemeine Pflicht (eine folche, die wir ald Menfchen gegen 

*) Chenbafelöft. III Abjchn..g. 24. C. d. S. 310—312, 

GEbendaſelbſt. III Abſchn. 8. 24, D. S. 312 figb, 


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149 


die Mitmenfchen haben). Aber wie Tann Moralität überhaupt 
verbreitet und mitgetheilt werben? 

Dffenbar durch Feinerlei Zwang; man kann die Menfchen 
nicht zur Moralität nöthigen; man kann die Moralität durch Feine 
anderen als moralifche Beweggründe erzeugen. Die bloß äußere 
Pflichterfüllung ift noch keineswegs fittliche That. Es Fan fein, 
daß man durch gewiſſe Kunftgriffe den menfchlichen Egoismus 
dazu bringt, pflichtmäßig (ſcheinbar fittlich) zu handeln, indem 
man durch Hoffnung auf Lohn oder durch Furcht vor Strafe 
das rohe Intereffe für das eigene finnliche Wohl an die Pflicht: 
erfüllung bindet. Dann wird die legtere herabgewürdigt zu einem 
Mittel der menſchlichen Selbftfucht, nicht beffer und fehlechter 
als jedes andere; fittlichen Werth hat fie gar keinen. Die Ges 
finnung bleibt, wie fie ift; dad Außere Handeln wird verebelt. 
Auf diefe Weife veredelt mam auch Thiere. Das ift keine Bil: 
dung, ſondern Abrichtung, nicht Cultur, .fondern Dreffur, 
deren Erfolg wohl eine gewiffe Art zu handeln, niemald Mora: 
Kität fein kann. Auch die theoretifche Bildung fommt im Grunde 
nicht weiter, man kann Durch erweiterte Einfichten den Menfchen 
klüger, aber nicht beffer machen. 

Die Wurzel aller Befferung in moralifchem Sinn ift allein 
die Gefinnung. Gefinnungen laffen fich nicht machen und ein- 
pflanzen oder einflößen, fie müffen in ihrer urfprünglichen Bebin- 
gung vorhanden fein, und nur das Bemußtfein darüber läßt fich 
erweden und befefligen. Won der Selbftliebe aus ift keinerlei 
moralifche Bildung möglich, Nun giebt es ein Gefühl, welches 
die Selbftliebe nieberfchlägt, vor dem die Selbftliebe, wie ſchon 
Kant gezeigt hat, fich freiwillig zurückzieht: das ift die Achtung. 
Diefer „Affect der Achtung” kommt nicht von außen in diemenfch- 
liche Natur, er liegt in ihr als „etwas Unaustilgbares“, er ift 


750 


in ihr „das Princip deö Guten, ohne welches alle Beförberung 
der Moralität unmöglich fein würde”. Da nun jedes Gefühl 
unmittelbar auf uns felbft zurüdigeht, fo ift der Affect der Adh- 
tung nothwendig Trieb zur Selbftahtung; diefer Trieb, 
nothwendig und urfprünglich wie er ber menfchlichen Natur in 
wohnt, macht bad Gegentheil, den Zufland der Selbſtverachtung, 
unhaltbar und zur unerträglichen Pein. Es ift unmöglih, in 
diefem Zuftande zu beharren; es ift unmöglich, ihm anders zu 
entgehen, als durch fittliche Umwandlung , durch moraliſche Befz 
ferung. Die Gewiſſensbetäubung, die dem Zuftande der Selbft- 
verachtung zu entfliehen ſucht, hilft nicht und vergrößert die Pein. 
Und der theoretiſche Verſuch, aus dem Egoismus ein Syſtem zu 
machen, ihn ald bad alleinige und nothwendige Motiv alles 
menfchlichen Handelns zu rechtfertigen und alle höhern Zrieb: 
federn für Illuſionen und Chimären zu erflären, widerfpricht fich 
ſelbſt und macht fich dadurch zu nichte. Vielmehr beweift er das 
Gegentheil. Denn der Verſuch, den Egoismus ald menſchliches 
Naturgefeg zu begründen, wie z. B. Helvetius wollte, if zu⸗ 
gleich die Abſicht, ihm den Schein der Schlechtigkeit zu nehmen 
und den Egoiften zur Selbftachtung zu berechtigen. Warum 
heucheln die Egoiften? Warum verſteckt der Heuchler feine felbft: 
füchtige Abficht hinter den Schein der Uneigennügigfeit? Weil 
er anderen achtungswerth erfcheinen möchte, alfo den Affect der 
Achtung in anderen vorausfegt und anerkennt. 

Der Trieb zur Selbftachtung ift der Hebel der Moralität: 
bier ift in der menfchlichen Natur der Punkt, wo die moralifche 
Einwirkung auf andere einfegen und ihre Pflicht erfüllen Tann. 
Die Selbftliebe ift ſtets eigennügig, die Achtung ift dad Gegentheil: 
diefe „uneigennüßige Achtung a priori“ nennt Fichte bad gute 
Princip. Achten Bann man nur aus yneigennügiger Gefinnung, 


751 


nur diefe kann geachtet werden, Mit diefer Empfindungsweife 
hebt und entwidelt fid die fittlihe Denkweife; die Entwidlung 
der Achtung iſt daher die erfle Stufe der moralifchen -Bildung. 
Um ben Affect der Achtung zu nähren und dadurch die Moralität 
zu fördern, giebt es kein beſſeres Mittel als achtungäwerthe Ob: 
jete, und. diefe find am mirkfamften, wenn fie am Iebendigften 
find und mit der Perfon des moralifchen Bildners felbft zuſam⸗ 
menfallen. Die befte Weife daher, die Moralität in anderen zu 
befördern, ift dad eigene gute Beifpiel. 

Ich fol anderen ein gutes Beiſpiel geben: das ift eine 
Pflicht des Menfchen gegen den Menfchen. Aber unter diefer 
PM licht ift nicht etwa gemeint, daß ich dieſes oder jenes thun fol 
um des Beifpield willen. Dann wäre bad Beifpiel Zweck und 
die Handlung Mittel, dann würde die leßtere nicht um ihrer 
felbft willen gefchehen und alfo den fittlichen Charakter einbüßen. 
Daher geht die Pflicht des Beifpield nicht auf diefe ober jene 
Handlungen ald befondere eremplarifche Werke, alfo überhaupt 
nicht auf Die Materie der Handlung, fondern nur auf deren Form. 

Alles fittliche Handeln fol zugleich eremplarifch fein, es 
ſoll durch fein Beifpiel Achtung für die Tugend erweden und 
dadurch Moralität befördern. Das ift nur möglich, wenn bie 
ſittliche Handlungöweife in Gefinnung und That fo gefchieht, 
daß fie auf andere, womöglich alle, erhebend einwirken kann 
und deßhalb den Charakter der „höchften Publicität” nicht bloß 
bat, fondern fich zur Pflicht macht. 

Die Pflicht der Publicität meint nicht etwa, daß wir dad 
fttlic) Gute zur Schau tragen follen, um von ben Leuten ge: 
fehen zu werben, — dadurch würde bie Handlung fittlich ganz 
entwerthet, — fie meint nicht die Fünftlich gefuchte Deffentlich- 
keit, fondern die einfache und unbedingte Offenheit bes fitt- 


752 


lichen Denkens und Handelns, bie aus der Natur der moraliſchen 
Geſinnund fo nothwendig folgt, ald aus der religiöfen Gefinnung 
das (offene) Belennen des Glaubens. Was wir die Pflicht des 
guten Beiſpiels und bie dadurch geforderte Offenheit des fittlichen 
Charakters (Publicität) genannt haben, ift nur die Form, in 
welcher die Moralität fich verbreitet*). Es ift die Publicität, 
die fi Nathan wünfht, wenn er zum Sultan fagt: „möcht 
auch doc) die ganze Welt und hören.” 


I 
Befondere Pflichten. (Stand und Beruf.) 
1. Der natürlide Stand. 

Wir handeln von den Pflichten, deren Gegenftand das 
Ganze, der Endzweck (Herrfchaft der Vernunft), die Menfch- 
heit felbft iftz wir haben von diefen Pflichten die Elaffe der all= 
gemein menfchlichen entwickelt, deren Träger der Menſch als 
Vernunftwefen ift, die darum jedem Menfchen auf gleiche Weiſe 
zufommen, Es giebt eine zweite Claffe „befonderer” Pflichten, 
die nicht in der menfchlichen Natur als folcher gegründet find, 
fondern in der eigenthümlichen Art ihrer Eriftenz und Wirkſam⸗ 
feit: Pflichten, die nicht alle auf gleiche Weife haben, fondern 
“in welche die Menfchenclaffen fich theilen, nach ihren natürlichen 
und Fünftlichen Unterfchieden. Die Unterfchiede, welche inner 
halb der Menfchheit die Natur macht, nennt Fichte „Stand“, 
die anderen, die von der freien Wahl und Willensbeftimmung 
der einzelnen abhängen, nennt er „Beruf“, Es handelt fi 
daher jegt um bie der Menfchheit fhuldigen Standes: und Bes 
tuföpflichten. 


*) Chendafelbft. III Abſchn. 8.25. I-V. S. 318—325. 


753 


Der einzige natürliche Stand der Menfchen find die Ge 
fhlechter; die einzige ber geiftigen Natur des Menfchen ent: 
fprechende Form des Gefchlechtöverhälmiffes ift die Ehe; auf 
diefe gründet fich die Familie und das gegenfeitige Verhältnig 
der Eltern und Kinder. So weit die Sittenlehre den Stand 
ald Träger unbedingter Pflichten in's Auge zu faffen hat, ift er 
in biefen beiden Formen des Eheſtandes und Familienftandes 
(BVerhältniß der Eltern und Kinder) erſchöpft. Nun ift ſchon in 
der Rechtölehre der Begriff beider Verhältniffe ausführlich ent 
widelt und gezeigt worden, daß fie natürlich« fittlicher Art find; 
wir haben ſchon dort die fittliche und damit auch die pflichtmäßige 
Seite derfelben vollkommen erleuchtet und können daher an biefer 
Stelle einfach auf die gegebenen Deductionen zurücweifen*). 

Die weibliche Liebe und die männliche Gegenliebe giebt der 
Ehe die fittliche, durch den Naturtrieb felbft gebotene Form. Im 
diefer Form ift die Ehe Pflicht, unbedingte Pflicht, wie fie un 
bedingter Zweck ift; es läßt fich Fein Zweck und keine Pflicht den⸗ 
ten, ber fie aus fittlichen Gründen aufgeopfert werben könnte. 

Es giebt fein Gebiet, auf welchem die allgemeinen Menſchen⸗ 
pflichten gegen andere dem Naturtriebe fo nahe flehen und ihre 
Erfülung fo fehr den Charakter einer natürlichen Herzendfache 
hat, ald die Familie und namentlich dad Verhältni der Eltern 
zu den Kindern. Die Sorge für die Erhaltung, Ausbildung, 
intellectuelle und moraliſche Entwiclung der Kinder ift das 
unmittelbare Object der elterlichen Liebe, und zugleich ift dieſe 
Erziehung elterliche Pflicht. Won dem fittlichen Geifte der Pflicht 

*) Bgl. oben Cap. XL diefes Buchs. ©. 664—686. Bol. Fichte, 
Grundzüge bes Naturrechts J Anhang, Grunbriß des Familienrechts 
[8b. III. 6. 304 — 368) mit Syſt. der Sittenlehre III Abſchn. 
$. 26 u. 27. [86. IV. 6.325—343.] 

Bifger, Befülhte der Phsfonhle V. 48 


7154 


durchdrungen, wird bie Liebe der Eltern und damit der erziehende 
Zamiliengeift geläutert von allen ſchädlichen Einflüffen elterlicher 
Eitelkeit und Selbftliebe. 


2. Der Beruf. 

Die Herrſchaft der Vernunft in der Sinnenwelt fordert zu 
ihrer Verwirklichung eine mannigfaltige in ihren Richtungen und 
Aufgaben verfciedene Thätigkeit der Menfchen. Dadurch tritt 
die Arbeit und ihre Theilung unter den fittlichen Geſichtspunkt, 
und ed entfleht die Pflicht, nicht bloß zu arbeiten, fondern auf 
eine beflimmte planmäßige Weife an der Arbeit für das Ganze 
Theil zu nehmen. Die Erfüllung diefer Pflicht ift der Beruf. 
Der Beruf ift der beftimmte, frei und planmäßig gewählte An- 
theil, den der einzelne an der fittlichen Gefammtarbeit nimmt, die 
befondere Rüdficht, in der er nad) feinem Vermögen thätig fein 
will für den Endzweck des Ganzen. Im diefer Hinficht giebt es 
feinen moraliſchen Werthunterfchied der getheilten Berufszweige; 
jeder ift ein für das Ganze nothwendiger Beitrag, und wenn 
jeder einzelne feinen Beruf treu und pflichtmäßig um der Sache 
willen erfült, fo hat er gethan, was das Sittengeſetz von ihm 
fordert, Mehr kann er in feinem Berufe nicht leiften, er darf 
deßhalb auch nicht weniger werth fein als jeder andere *). 

Die verfchiedenen Berufswerthe find bedingt durch die ver⸗ 
ſchiedenen Werthe der Objecte und Aufgaben, mit denen wir und 
befchäftigen. Je höher die Aufgabe dem Endzwede felbft flieht, 
um fo höher darf fie gelten. In diefer Rückſicht laffen fich „hö⸗ 
here und niedere Berufsarten,” und ald beren Träger „höhere und 
niedere Volköclafjen” unterfcheiben. Die Grenzeiftleicht erkennbar, 

*) Fichte, Borlefungen über das Weſen des Gelehrten (1808). 
IV Vorleſg. Geſ. W. III Abth. Bd. J. ©. 387, 





h 755 


nachdem wir fehon früher, wo es fi um bie Realität des Sit- 
tengeſetzes und deren Ableitung hanbelte, in ber menfchlichen Natur 
oder im Urtriebe bed Menfchen den Unterfchied des höheren und 
niederen Triebes (ded Freiheits- und Naturtriebes) feftgeftellt 
haben*). Die Entwidlung der Zreiheit in der Rechtsordnung 
bes Staatd, in der Ausbildung ber Intelligenz, in ber Beför- 
derung der Moralität ſteht höher ald die Erhaltung des äußeren 
Lebens. Wir werben demnach die geſellſchaftliche Arbeit in zwei 
Claſſen unterfcheiden, die ſich ald niedere und höhere verhalten; 
die Aufgabe der einen ift die Befriedigung der öfonomifchen 
Lebenszwecke, die der anderen bie Befriedigung ber geiftigen. 

Die focial :öfonomifche Arbeit hat zu ihrer Aufgabe die Er: 
zeugung ber Naturprobucte, die Bearbeitung berfelben und den 
Tauſch der Leiſtungen; fie theilt fi) demnach in Production, 
Fabrication und Handel, in den Beruf der Probucenten, Fabri⸗ 
Kanten, Kaufleute. Die Theilung war aus Rechtögründen noth: 
wendig, fie ift ed auch aus fittlihen Gründen **). 

Die Arbeit für die geiftigen Zwecke der Menfchheit hat zu 
ihrer Aufgabe die Rechtöverwaltung im Staat, die theoretifche 
Ausbildung der Intelligenz und die moralifche Bildung bed Wil⸗ 
lens; fie theilt ſich demnach in die Berufsarten des Staatsbeam⸗ 
ten, des Gelehrten und des moralifchen Volkserziehers (Geift: 
lien). Es giebt eine Wirkſamkeit, die in der menfchlichen 
Natur ein Vermögen bearbeitet und entwidelt, welches theoretifch 
und praßtifch zugleich ift und zwifchen Verfland und Willen 
ein „Bereinigungsband” bildet: das ift der „aſthetiſche Sinn” 


*) Dgl. oben Cap. XII. diefes Buch, Nr. III. 6. S. 706— 708. 
=) Bol. oben Cap. X. dieſes Bus, Nr. J. 3—6. S. 641646, 
1 &.648 — 652, 


48* 


7156 


und deſſen Ausbildung die Berufsarbeit des „äfthetifchen 
Künftiers"*). 


3. Die Pfliten des niederen Berufs. 

Die Thellung der menfchlichen Arbeit ift durch deren Plan: 
mäßigfeit und diefe felbft durch den Zweck des Ganzen, nämlich 
den Zortfchritt der menfchlichen Bildung gefordert. Wenn in 
diefer Abficht auf den Fortfchritt des Ganzen jeder feinen Beruf 
nimmt und erfüllt, fo erfüllt er deſſen Pflicht. Daraus er 
hellt bie fittliche Gefinnung,, in welcher jeder befondere Theil der 
menfchlichen Arbeit gefchehen fol. 

Nun ift der Fortfchritt und die Befreiung des menfchlichen 
Geiſtes bedingt durch die zunehmende Herrfchaft des Menfchen 
über die Materie, und diefe Herrfchaft zu erobern, ift die Auf— 
gabe der mit der Bearbeitung der Materie befchäftigten Berufs: 
zeige. So wichtig dieſe Aufgabe ift, fo wichtig und unentbehrlich 
iſt für die Menſchheit, deren eigentliche Stüge fie bildet, die den 
öfonomifchen Lebenszwecken gewidmete Arbeit. Der Kampf mit 
der Natur ift dad ihr angelegene Gefchäft, der fortfchreitende Sieg 
ihr beftändiges, fi immer erneuendes und höher frebendes Ziel. 
In demfelben Maße ald die Nothdurft des Lebens verringert wird, 
gewinnt die Freiheit des Geiftes weiteren Spielraum, Je mehr 
nun die materielle Arbeit ſich mechaniſch und technifch vervoll⸗ 
tommnet, um fo ficherer find ihre Siege, um fo mehr befördert 
und befchleunigt ‚fie den Fortfchritt deö Ganzen. Das Streben 
nad) immer größerer (technifcher) Vervollkommnung ift darum 
die erfte Pflicht der niederen Berufszweige. 

Daraus folgt unmittelbar die zweite. Jeder induſtrielle und 
technifche Fortſchritt ift abhängig von Erfindungen, Entdeckungen, 

*) Soft, der Eittenlehre. III Abſchn. 8. 28. ©. 343—345. 





7157 


Einfihten, die von der Wiffenfchaft auögehen und bie eigentliche 
Berufsarbeit des Gelehrten ausmachen. Hier ift das Band, 
welches die niederen und höheren Berufszweige verknüpft und 
eine Wechfelwirkung beider fordert. Es ift darum die Pflicht des 
nieberen Berufs, den höheren ald folchen anzuerkennen und zu 
achten , nicht etwa durch Untermwürfigkeit oder äußere Ehrenerwei⸗ 
fungen, fondern bloß durch die Einficht in die Bedeutung, welche 
ihm und feiner Arbeit gegenüber bie Wiffenfchaft hat. In ber 
fittlihen Gefinnung ift flet3 der Zweck des Ganzen gegenwärtig; 
darum ift in diefer Gefinnung eine gegenfeitige Geringſchätzung 
der verfchiedenen Berufszweige unmöglich, und bie legtere ift 
allemal ein Zeichen, daß die fittliche Denkweiſe fehlt und mit 
“ihr auch die richtige Einficht in das Theilungsverhältniß der 
menfchlichen, Arbeit*). 


4. Die Pflicht des Staatöbeamten, 

Der fittliche Charakter der Beruföpflicht kann nur da her: 
vortreten, wo ihre Erfüllung bedingt ift durch die Gefinnung. 
Das ift bei den niederen Staatsbeamten infofern nicht der Fall, 
als fie in ihren amtlichen Handlungen gebunden find an den Buchs 
ſtaben des Geſetzes, und bie genaue Befolgung ber vorgefchriebes 
nen Richtſchnur ihre alleinige Pflicht ausmacht. Dagegen ift bei 
den höheren Staatöbeamten, die bad Gemeinwefen leiten follen 
und berufen find, gefeßgebend und regieren zu handeln, bie 
fittliche Gefinnung ein mitwirkender Factor des Berufs, Die 
Pflicht des Negenten ift die Gerechtigkeit, die beides um: 
faßt: den Einblick in das Gegebene und die Ausficht auf das 
Künftige, die Erhaltung des einen und die Sorge für das an: 
dere, die Rechtswahrung und Redtsentwidlung, 

*) Ebendafelbft. III Abſchn. 8. 38, ©. 361—865. 


7158 


den richtigen Beſtand und den richtigen Fortſchritt der Geſetze. 
Diefe umfaffende Regentenpflicht ift nicht zu erfüllen ohne Weis- 
beit, ohne Wiffenfchaft, ohme Ideen; es ift darum nothwendig, 
daß der vegierende Beamte zugleich in feinem Fach Mann der 
Wiſſenſchaft (Gelehrter) ift. „Es könne kein Fürft wohl regieren, 
der nicht der Ideen theilhaftig fei, fagt Plato: und dieß ift gerade 
daffelbe, was wir bier ſagen.“ Die Gerechtigkeit in ihrer fitt- 
lichen Bedeutung reicht weiter als der Buchſtabe des pofitiven 
Geſetzes; fie fordert die Einficht in die Rechtdaufgaben des Staats 
und den dadurch begründeten Fortfchritt. Diefe Einficht ift die 
ächte Aufklärung, ihr der Entwicklung feindliches Gegentheil ift 
der „Obfeurantismus”. Im diefem Sinne fagt Fichte: „Obfeu: 
tantismus ift unter anderem auch ein Verbrechen gegen den Staat, 
wie er fein fol. Es ift dem Regenten, der feine Beftimmung 
kennt, Gewiffensfache, die Aufklärung zu unterftügen*).” 


5. Die Pflicht des Geiſtlichen. 

Das fittliche Leben ift in der Ordnung der menfchlichen 
Lebenszwede ber höchſte. Die Cinmüthigkeit der moralifchen 
Ueberzeugung giebt den Begriff der Menfchheit ald moralifcyer 
Gemeine, ald ethifcher Gemeinſchaft oder Kirche. Es iſt allge: 
meine Menfchenpflicht, die Moralitat zu befördern, Die Er: 
fülung diefer Pflicht kann zugleich Sache eines befonderen Berufs 
fein: diefer Beruf macht den Beamten der Kirche, den morali- 
ſchen Volkslehrer. Worin befteht diefe befondere Beruföpflicht? 

Als Beamter der Kirche fteht der Geiftliche in deren Dienft, 
im Dienfte der moralifchen Gemeine, die fi) auf eine gemein: 
fame, fombolifch gefaßte ſittliche Ueberzeugung gründet. Diefes 
Symbol ift die Vorausſetzung, von der aus er lehrt. 

*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. 9.32, S. 356 — 361. 


759 


Er ift Lehrer: als folder muß er weiter fehen, ald die 
Gemeine, die er leiten foll, er muß die volle Einficht der Sache 
vor ihr voraus haben, alfo zugleich Mann der Wiffenfchaft in 
feinem Gebiet (Gelehrter) fein. Er ift Lehrer des Volks: wie 
weit er auch ben anderen mit feiner Einficht voraus fein mag, er 
muß fo lehren und fo gehen, daß ihm alle folgen können, d. h. 
wahrhaft erziehend, niemals voraudeilend oder nur einige fördernd. 

Er ift moralifcher Volkslehrer: was er lehren fol, ift 
nicht Wiffenfchaft, überhaupt nicht theoretifcher Art, welche bie 
Sache. der Wiffenfchaft ift, fondern einzig und allein praktiſcher. 
Er fol den Glauben nicht machen, denn diefer Glaube ift ſchon 
vorhanden ald das lebendige Band der (im Glauben) vereinigten 
Gemeine; er fol diefen Glauben nur beleben, flärfen, ent 
wideln. Seine Aufgabe ift daher der Fortfchritt im Glauben. 
Daß die Menfchheit im fittlichen Glauben, d. h. im Guten fort: 
ſchreite, daß dieſer Fortfchritt nad) einem ewigen Geſetz ſtatt⸗ 
finde, daß er in's Unendliche gehe: diefe erhebende Vorftellung 
ift das große und unerfchöpfliche Thema der moralifchen Ges 
meine. Die Beförderung bed Guten gefchieht nad) einer Regel: 
d. h. es ift ein Gott. Wir fehreiten planmäßig fort in's Unend⸗ 
liche: d. h. wir find ewig. So entwidelt ſich der fittliche Glaube 
zum Glauben an Gott und Unfterblichkeit. 

Nur fol der Geiftliche ald Volkslehrer diefen Glauben nicht 
wiffenfchaftlich beweifen oder Gegenbemeife widerlegen wollen, er 
ſoll überhaupt weber bemonftriven noch polemifiren, fondern den 
vorhandenen Glauben, der ald ſolcher keineswegs erft nöthig 
hat, bewieſen zu werben, an der lebendigen Erfahrung felbft 
beftätigen. Er ift dem Glauben der Gemeine gegenüber nicht 
Geſebgeber aus Vernunftgründen, fondern Rathgeber aus Er: 
fahrung. Er fei dieſer Rathgeber in allen Lebenderfahrungen, 


760 


d. h. er made die Seelforge zu feiner Berufspfliht; und da er 
den Glauben der Gemeine leiten fol, fo fei er ihr vorbildlich ; 
da der Glaube ber Gemeine, die er erzieht, immer zugleich der 
Glaube an feinen Glauben ift, fo fei er ihr ein wirklicher 
Slaubendrepräfentant und beftätige diefen Glauben in feiner Per: 
fon: er vor allen übe die Pflicht des guten Beifpielö*). 

Hier weißt die Sittenlehre auf die Religiondlehre hin, mit 
der wir dieſes Buch ſchließen werben. 

Es bleiben und von der Pflichtenlehre noch zwei Berufs: 
pflichten übrig: bie des Gelehrten und des äfthetifchen Künſtlers. 
Wir behandeln fie in’ einem befonderen Capitel, weil wir, na⸗ 
mentlich was ben Begriff des Gelehrtenberufs betrifft, außer der 
Sittenlehre noch eine Reihe anderer Schriften Fichte's zu beach- 
ten haben. 


*) Ebenbafelbft. III Abſchn. $. 30, I-V. 6. 348—353, 


Sechszehntes Capitel. 
Die Kerufspflichten des Gelehrten und des Künfllers. 


L 
Der Beruf des Gelehrten. 
1. Bedeutung und Aufgabe des Gelehrtenberufs. 

Unter ben verfchiebenen Berufdarten, bie wir in ber Sit: 
tenlehre unſeres Philofophen kennen gelernt haben, war feine, 
die den Begriff des Gelehrten ganz außer ihrem Geſichtskreiſe 
ließ, vielmehr war jede innerlich damit verknüpft; die niederen 
Berufsʒweige bedurften der woiffenfchaftlichen Berufsthätigkeit zu 
ihrer Vervollkommnung, und bie höheren nahmen jede in ihrer 
Weiſe felbft daran Theil, der Begriff des Staatöbeamten ſowohl 
ald der des moralifchen Volkslehrers fchloß den des Gelehrten in 
fih. Es giebt daher unter den menfchlichen Berufszweigen kei— 
nen, von dem aus die Wechſelwirkung aller fo deutlich erblict 
und gleichfam beauffichtigt werben kann, ald der Gelchrtenberuf. 
Schon darin zeigt diefer Beruf den anderen gegenüber eine ge 
wiffe Suprematie und centrale Stellung. i 

Diefe Bedeutung rechtfertigt fi aus dem Begriff des Ge: 
lehrten, wie Fichteihn faßt. Wie die Menfchheit felbft der Bes 
griff einer einzigen Gattung ift, fo giebt es in Wahrheit auch 
nur eine Erkenntniß, ein einziges Erkenntnißſyſtem, dad ſich 
in der Stufenfolge der Zeiten entwickelt. Jede Zeit erbt von ber 





762 

Vergangenheit einen Schag wiffenfchaftliher Bildung , ben fie 
in einem befonderen dazu berufenen Stande aufzubewahren, zu 
vermehren, fortzupflanzen hat. Eben diefer Beruf macht die 
Aufgabe des Gelehrten. „Die Gelehrten find die Depofitäre, 
gleichſam dad Archiv der Eultur des Zeitalterd,” aber Fein todtes 
Archiv, dad nur die erworbenen Schäße, die gewonnenen Er: 
gebniffe auffpeichert und beherbergt, fondern der ganze bisherige 
Bildungsgang der Menfchheit fol in ihnen leben und fortleben. 
Das ift nur möglich, wenn fie diefen Bildungsgang in feiner 
geſchichtlichen Entwicklung Fennen und zugleich aus den Bedin⸗ 
gungen (Principien), die ihn erzeugt haben, verftehen. Ihre 
erfte Pflicht ift Daher die Hiftorifche und philofophifche Einficht der 
gewordenen Bildung. Darum werben fie Träger der vorhan: 
denen Wiſſenſchaft. Sie follen nicht bloß ihre Träger fein, ſon⸗ 
dern zugleich ihre Fortbildner, die Jrrthümer berichtigend, 
die Einfichten erweiternd: ein wirklich lebendiges und fortlaufen- 
des Glied jener goldenen Kette, welche die menſchliche Weisheit 
und Erkenntniß von Jahrhundert zu Jahrhundert fortleitet und 
weiterführt. Eine ſolche Weiterbildung könnte nicht ftattfinden, 
wenn nicht die gegenwärtigen Gelehrten die Erzieher der fünfti- 
gen wären. 

Diefe große Pflicht, Wiflenfchaft zu empfangen, fortzu⸗ 
bilden und zu demfelben Zwede neue Geſchlechter zu erziehen, 
Tann nur wahrhaft erfüllt werden durch eine fittliche Gefinnung, 
die mit völliger Hingebung an die Sache, mit Ausſchließung aller 
perfönlichen Selbftliebe und Eitelteit, mit der ftrengften Wahr: 
heitsliebe den Dienft der Wiffenfchaft übernimmt. Diefe Gefin- 
nung ift eö, die den Gelehrten zu einem „Priefter der Wahrheit” 
madıt*). 

*) Syſt. der Gittenlehre. III Abſchn. 8.29. ©. 346—347. 


763 


2. Fichte's dffentlihe Vorträge über ben 
Gelehrtenberuf. 

Keine unter den menſchlichen Pflichten hat durch ihren Ans 
blick das Herz unferes Philofophen fo erhoben und erwärmt, Feine 
lag ihm felbft perfönlich fo nahe; ed war fein eigener Beruf, und 
in feinem Amte ald akademiſcher Lehrer fühlte er fich zugleich in 
dem Beruf eined Erzieherd neuer Träger und Fortbildner der 
Wiffenfhaft. Daher nahm er gern und wiederholt den Beruf 
und die Pflichten des Gelehrten zum Gegenftande feiner öffent: 
lichen akademiſchen Vorträge; er begann damit feine Lehrthätig- 
keit in Jena; er wiederholte und erneute diefe Vorträge umfafz 
fender, ausführlicher, tiefer, als er elf Jahre fpäter nah Er: 
langen berufen wurde, und er kam, wie fein Nachlaß zeigt, auch 
an ber eben gegründeten Univerfität Berlin auf daffelbe Thema 
in öffentlichen Vorlefungen zurüd. Jede Gelegenheit, die feine 
amtliche Stellung ihm bot, nahm er wahr, um den Beruf des 
Gelehrten , wie er in feinem Geifte lebendig war, an ben akade— 
mifchen Verhältniffen darzuſtellen und zu erleuchten: fo in einer 
berliner Decanatörebe bei Gelegenheit einer Ehrenpromotion und 
namentlich in feiner Rectoratörede über die einzig mögliche Stö- 
rung der akademiſchen Freiheit”). 

) 1) Einige BVorlefungen über die Beftimmung des Gelehrten 
(1794). Diefe Vorlefungen, fünf an der Zahl, find Bruchſtück ge 
blieben. S. W. III Abth. I Bd. 2) Vorlefungen über das Weſen des 
Gelehrten und feine Erſcheinungen im Gebiete ber Freiheit (1805). S. W. 
III Abt. I Bd. 3) Fünf Vorlefungen über die Beftimmung bes Ge 
lehrten (Berlin 1811). Nachgel. W. Bd. III. 4) Rebe als Decan der 
philoſ. Fac. bei Gelegenheit einer Ehrenpromotion an der Univ. Berlin, 
16, April 1811. S. W. III Abth. J Bd. 5) Rede beim Antritt feis 
ne3 Rectorat3 an ber Univ. Berlin, über die einzig mögliche Störung 
der alademiſchen Freiheit. S. W. III Abt. I Bd 


164 
Und was ihm felbft diefe an das ftubirende Publicum gerich- 
teten, öffentlichen Vorträge über den Gelehrtenberuf galten, dafür 
ſpreche die ſchöne Stelle im Eingange ber fünften erlanger Vor: 
lefung. „Deffentliche Vorträge find freie Gaben eines akademiſchen 
Lehrers; und zum Gefchenke giebt der nicht Unedle gern dad 
Befte, was er zu geben vermag,” 


3. Der Gelehrtenberuf in der menſchlichen Geſellſchaft. 
Genaiſche Vorträge.) 

Die jenaifchen Vorträge gehen vom Begriff ber Beftimmung 
des Menfchen, den fie zum Ausgangspunkte nehmen, fort zu dem 
Begriff der Gefellfchaft, ded Berufs, des Gelehrtenberufs, den 
fie zuleßt gegen Rouffeau vertheiigen. Die Beſtimmung des 
Menſchen fei Vervollkommnung in's Unendliche; biefem Ziele 
konne man ſich nur nähern durch die geſellſchaftliche Vereinigung 
der Menſchen zu gemeinſchaftlicher Vervollkommnung, in der die 
einfeitige Naturbildung ber einzelnen durch gegenfeitige Mitthei⸗ 
lung ergänzt und eine vollftändige, alfeitige Bildung ermöglicht 
werbe; bie gleichförmige Ausbildung aller menfchlichen Anlagen 
und Bebürfniffe fordere die Kenntniß der menfchlichen Natur, 
die Kenntniß der richtigen Bildungsmittel, die Kenntniß des vor: 
handenen Bildungsſtandes: fie fordere in erſter Hinficht eine phi⸗ 
loſophiſche, in zweiter eine philofophifch Hiftorifche, in Dritter 
biftorifche Einficht. Die Vereinigung dieſer Einfichten fei die 
gelehrte Bildung, ohne deren Pflege der Fortgang der Menfch: 
heit unmöglich fei. Daher fei die erfle Pflicht des Gelehrten, 
felbft fortzufchreiten, indem er ſowohl feine wiffenfchaftliche Em: 
pfänglichfeit als feine Mittheilungsfähigkeit auf's höchfte ausbilde; 
feine zweite Pflicht iſt zu belehren, er fei ein Lehrer der Menſch⸗ 
heit, darum vor allem Erzieher künftiger Lehrer und als folder 





765 


ein ſittliches Vorbild: „er fol der fittlich befte Menfch feines 
Beitalters fein; er fol die höchfte Stufe der bis auf ihn möglichen 
fittlichen Ausbildung in ſich darftellen.” „Die wahre Beftim- 
mung bed Gelehrtenftandes ift die oberfte Aufficht über den wirk: 
lichen Fortgang des Menfchengefchlechts im Allgemeinen und bie 
ſtete Beförderung diefes Fortgang *).” 

Hätte Rouffeau den Gelehrtenberuf in diefem Sinne genom: 
men, fo wfrde er fich über den Einfluß der Wiflenfchaft auf die 
Menfchheit nicht verblendet haben; er täufchte fich über ben 
Naturzuftand und nahm den Gelehrten in dem Zerrbilde eines 
geſunkenen Gefchlechtes, wie es fein Zeitalter ihm bot. 


4. Der Gelehrtenberuf in der göttlihen Weltorbnung. 


(Erlanger Vorträge.) 

Die erlanger Vorlefungen behandeln daffelbe Thema, nicht aus 
einem anderen, ſondern nur tiefer gefaßten Standpunkte, der in 
der Sinnenwelt die Erfcheinung der ewigen (göttlichen) Idee und 
in der Erfenntniß diefer Idee (fo weit fie möglich ift) die höchſte 
Aufgabe menfchlicher Wiffenfhaft, den wahren Beruf bed Ge: 
lehrten erblickt. Der ideenlofe Gelehrte fei der „Stümper”, der 
wahre Gelehrte der von ben Ideen der Welt wirklich erleuchtete 
und ergriffene Geift. 

Die wahre und rüdhaltlofe Offenbarung der göttlichen Idee 
fei die Welt in ihrer unendlichen Fortentwicklung, biefe Entwid: 
lung in's Unendliche fei nur die Menfchheit, die immer höher 
fleigende, ihre Schranken immer mehr durchbrechende und freier 
werdende Menfchheit, die, weil fie Schranken zu überwinden 
hat, nothwendig befchränkt if. Diefe Schranke ift die Natur, 

*) Vorl, über die Beftimmung des Gelehrten. IV Vorl. (S. W. 
II. Abth. I. 8.1. &.328—330,) 


766 

die daher nur Mittel und Bedingung des geiftigen Lebens, nichts 
an fich Abfolutes ift (mie die Naturphilofophie jüngſten Datums 
vorgiebt, indem fie eine dogmatifche Vorſtellungsweiſe älte: 
ften Datums erneuert). Abfolute Einheit ift dad Ziel, dem 
die Menfchheit zuftrebt; Nichteinheit und Trennung ift darum 
der Zuſtand, von dem fie auögeht, in dem fie lebt, den fie durch 
immer tiefer dringende Vereinigung überwindet. Solche Ber: 
einigungen find Staat, Eultur, Religion, Kunft, Wiffenfchaft: 
alle angelegt und gegründet in ber göttlichen Idee der Menfchheit. 

Diefe Idee im Beroußtfein der Menfchheit auszubilden, zu 
denen, gleichfam dem Göttlichen wieder nachzubenten, ift die Auf: 
gabe der Wiffenfchaft und die Pflicht des Gelehrten. Im der 
göttlichen Idee der Menfchheit ift auch die Idee des Gelehrten 
enthalten. Diefen göttlichen Gedanken bed Gelehrten in feinem 
Leben zu verkörpern, ift des Gelehrten Beruf und Pflicht, 
beide aus ihrem tiefften Grunde betrachtet. Iſt er von biefer 
Idee ergriffen, wirkt fie in ihm als Lebensprincip und Trieb, 
gleichviel in welcher befonderen Richtung, fo befteht darin das 
Genie” zum Gelehrten, daß jede Art von Selbfigefälligfeit aus: 
fließt und ganz in die Sache und in das Streben dafür auf: 
seht. Es giebt Fein Genie ohne Fleiß, Streben, Hingebung; 
wohl aber umgekehrt Fleiß und ernfthafte Arbeit ohne Genie. 
In der Arbeit für die Sache der Wiffenfchaft befteht die „Recht: 
ſchaffenheit“ des Gelehrten. Genie zum Studiren hat nicht jeder; 
Rechtfchaffenheit im Studiren foll jeder haben, um fo mehr ald 
feiner auf feine Genialität vertrauen darf, Feiner derfelben ficher 
fein kann, bevor fie in der Leiſtung, die aus dem Fleiße hervor: 
geht, ihre Frucht getragen, 

a. Der angehende und der vollendete Gelehrte. 
Darum ift diefe Rechtichaffenheit, die für die Sache der 





167 


Wiſſenſchaft lebt und arbeitet, die ächte Gefinnung des wiffen- 
ſchaftlich Strebenden, die Tugend des werdenden oder angehen: 
den Gelehrten, die Pflicht ded Studirenden. Ohne dieſe 
Gefinnung wird niemand ein Gelehrter. Aus diefer Gefinnung 
folgen die Sitten des Studirenden von felbft; er kann nicht an= 
ders ald die Berührung mit allem Unedlen und Gemeinen fliehen; 
gemein und unedel ift der Müffiggang , die Geifteöträgheit: „die 
Jugend träge zu erblicken ift ‘der Anblick des Winters mitten im 
Frühlinge, der Anblick ded Erſtarrens und Verwelkens der foeben 
erft aufgefeimten Pflanze;“ er flieht das Gemeine und haft es 
aus voller Seele, mit dem größten Ernſte, „Eeiner wird dahin 
kommen, es wahrhaft frei und rein bleibend zu betrachten und zu 
belacheln, der nicht damit angehoben hat, es zu fliehen und zu 
haſſen.“ „Der Antheil des Jünglings am Leben iſt der Ernſt 
und das Erhabene; dem reiferen Alter erſt nach einer ſolchen 
Jugend geht das Schöne auf und mit demſelben der Scherz mit 
dem Gemeinen.“ 

Die Lebensaufgabe des „vollendeten Gelehrten“ liegt in zwei 
verſchiedenen Berufskreiſen: er ſoll das Staatsleben leiten und 
die Wiſſenſchaft fortbilden; er iſt in dem erſten Berufe Regent, 
in dem zweiten Gelehrter im eigentlichen Sinn; möglich auch, 
daß fich beides in einer Perfon vereinigt. 

Die Wiffenfchaft wird fortgebildet auf zwei Arten, die eben- 
fald in einer Perfon vereinigt fein können: durch die Erziehung 
fünftiger Gelehrten und durch fchriftliche Werke; die erfte Art 
macht den Beruf deö afabemifchen Lehrers, die zweite den des 
Schriftſtellers. 

b. Der alademifche Lehrer. 

Der akademiſche Lehrer fol Menfchen bilden zur Em- 

pfanglichkeit für die Ideen; dad Fann er nur, wenn in ihm 


768 


ſelbſt die Ideen gegenwärtig find in volftändiger Klarheit und 
zugleich in einer fo großen und eigenthümlichen Lebendigkeit, daß 
fie durch feine Mittheilung unmittelbar einleuchtend und belebend 
in ben Geift der Lernenden eindringen. So verfchieben bie Ge 
müther find, die er bildet; fo mannigfaltig, beweglich, innerlich 
wendbar und gewandt müflen die Formen fein, in denen ber 
alademiſche Lehrer feine Ideen auszubrüden und barzuftellen ver: 
mag. Darin befteht das ihm eigenthümliche und unentbehrliche 
Künftlertalent. Wenn dieſe Fünftlerifhe Macht und Lebendig⸗ 
teit, die den Stoff immer wieder neu geflaltet und mit voller 
Freiheit darüber herrſcht, dem mündlichen Vortrage fehlt, fo ift 
ex tobt und wirkungslos, Was Fichte bei diefer Gelegenheit über 
den Beruf und die Wirkungsart des afabemifchen Lehrers fagt, 
find goldene Worte. „Seine Mittheilung fei ſtets neu und trage 
die Spur des frifchen und unmittelbaren Lebens.” „Das Wefen 
feines Gefchäfts befleht darin, daß die Wiflenfchaft und befonders 
diejenige Seite, von welcher er diefelbe ergriffen, immer fort und 
fort neu und friſch in ihm aufblühe. In diefem Zuſtande ber 
feifchen. geiftigen Jugend erhalte er fich; Keine Geftalt erftarre in 
ihm und verfteine; jeder Sonnenaufgang bringe ihm neue Luft 
und Liebe zu feinem Gefchäfte und mit ihr neue Anfichten.” 
„Bleibe keiner in biefem Kreife, in welchem die Form dieſer 
Mittheilung, und fei es bie vollfommenfte dieſes Zeitalterd, an: 
fängt zu erftarren; keiner, dem nicht fort die Quelle der Yu: 
gend fließt.” 

Wer die Macht der mündlichen Ideendarftellung beſitzt, hat 
auch die fchriftliche, nicht umgekehrt. Sehr richtig fagt Fichte: 
„ein guter alademifcher Lehrer muß ein fehr guter Schriftfteller 
fein Eönnen, fobald er will; umgekehrt aber folgt es gar nicht, 
daß felbft ein guter Schriftfteller ein guter akademiſcher Lehrer fei,” 





7169 


e. Der Schriftfteller. 

Der Beruf des Schriftftellers ift unabhängig von der 
Rückſicht auf die Empfänglicykeit beftimmter Individuen, daher 
ift feine Aufgabe, die Ideen auszudrüden in ihrer vollendeten 
Geftalt. Ein anderes ift der fchriftftellerifche Beruf, ein ande 
red das fchriftfielerifche Gewerbe; der Beruf fordert einen 
Künftler, dad Gewerbe einen Fabrikanten. Die Bücherfabri- 
kanten find Schriftfteller ohne Beruf, Lohnfchreiber, die auf 
Beſtellung arbeiten, drucken laffen, was andere fchon haben 
druden laffen, fogenannte Recenfionen und Bücherauszüge machen, 
mit denen die fogenannten gelehrten Bibliothefen und Zeitungen 
gefüllt werben; fie nehmen in ber Glaffe der Fabrikanten eine der 
niebrigften Stellen ein, weil fie dem ſchlechten Luxus ber Leſe— 
mobe dienen. 

Der Beruf des wiffenfchaftlichen Schriftftellerd rechtfertigt 
ſich durch die neue, tiefere Auffaffung der Sache, die er darſtellt, 
und durch die Vollendung ber Form. Wiffenfchaftliche Werke 
excerpiren, bie Ercerpte zufammenftellen und daraus ein neues 
Buch machen, ift nicht der Beruf eines Schriftfteller, fondern das 
Gefchäft eines (gelehrten) Fabrifanten. Bloß wiederholen, was 
anbere fchon gefagt haben, heißt thun, was fchon gethan ift, das 
ift eine Nichtöthuerei, die dem Müffiggange gleichkommt. „Es 
kommt gar nicht darauf an, ein anderes und neued Werk in einer 
Wiſſenſchaft zu fehreiben, fondern ein beſſeres ald irgend eins der 
bisher vorhandenen Werke. Wer dad lehtere nicht kann, der fol 
überhaupt nicht fchreiben, und es ift Sünde und Mangel an 
Rechtfchaffenheit, wenn er ed dennoch thut*).” 

Die Vollendung der Form, der Ausbrud des Gedankens 

*) Vorl, über das Weſen bes Gelehrten. Vorl, X. S. W. III Abth. 


18. S. 444, 
Bilder, Gefhite der Yhilofophie. V. 49 


770 

auf eine allgemein gültige Weiſe ſetzt im Schriftſteller eine Herr⸗ 
fchaft über die Sprache voraus, die lange und anhaltende Bor- 
übungen fordert. Ohne diefe feltene und ſchwer zu erringenbe 
Meifterichaft läßt fich der Beruf des Schriftftellers nicht erfüllen. 
„Das Werk des mündlichen Gelehrten-Lehrers ift unmittelbar und 
an fich felber doch immer nur ein Werk an die Zeit und für die 
Beit, berechnet auf die Stufe der Bildung derer, die fich ihm 
anvertrauten. Das Werk bes Schriftftellers aber ift in fich felber 
ein Werk für die Ewigkeit *).” 


5. Der Gelehrte ald Seher und Künftler. 
(Berliner Vorträge.) 

Denfelben Standpunkt ald die erlanger Vorträge, die gleich 
fam von dem innerften Gentrum der Welt, von ber göttlichen 
Weltidee aus den Begriff und Beruf des Gelehrten entwerfen, 
nehmen auch die legten Vorleſungen biefer Art, die Fichte ſechs 
Jahre fpäter in Berlin hielt. Statt „Ideen“ fagt er hier „Ge 
fihte”, wohl um ben fremden Ausdruck zu vermeiden und zu: 
gleich den Gelehrten beffer mit dem „Seher” vergleichen zu kön— 
nen. Nur im Lichte der Ideen, burc die Anfchauung des 
Ueberfinnlichen, ohne welche wir „in tiefer Bewußtlofigkeit” 
leben, ift die geiftige Fortentwicklung der Welt, die Fortſchöpfung 
derfelben möglih. Durd den Wiffenden allein, in dem das 
göttliche Bild der Welt gegenwärtig ift, rüdt die Welt weiter; 
er ift „ber-Bereinigungspunft der überfinnlichen und finnlichen 
Welt". Ergkiffen fein von dem Göttlichen heißt religiös fein. 
Religiöse können die Ungelehrten fo gut fein ald die Gelehrten ; 
aber in jenen ift das göttliche Geficht geftaltlos, in diefen welt 
geftaltend; in beiden lebt der göttliche Wille, in den Ungelehrten 

*) Ehendajelbft. Vorl, X. ©. 445—46, 





m 


die Welt erhaltend, in den Gelehrten fie weiter fchaffend. : Im 
Anfange ber geiftigen Entwidlung find die treibenden Geifter uns 
mittelbar von der göttlichen Idee erfüllt und die anderen unmit: 
telbar für dieſe Begeifterung empfänglich; hier find die Wiffen- 
den die Seher und Propheten bed menfchlichen Geſchlechts. Mit 
dem Fortſchritt entwickelt ſich die Selbftänbigkeit der Individuen, 
fie wollen nicht bloß empfangen und glauben, fondern felbft ein 
fehen. Das Gefiht muß entwidelt werden zur klaren, bis auf 
den Boden ber wirklichen Erfahrung herab beftimmten Einficht: 
dadurch wird die Einficht zur gelehrten Bildung. An die Stelle 
der Seher treten die Künftler und Dichter, die Wiffenden und 
Gelehrten. Sobald die klare Einficht herrſcht, tritt der Ge 
lehrte an die Spige des Fortſchritts der Menfchheit. 

Die Gemeine der Gelehrten erzieht die geiftigen Gefchlechter 
der Welt und ordnet die Berufszweige; fo werben die Gelehrten 
die wirklichen Herrfcher, und die fichte ſche Vorſtellungsweiſe nä- 
bert fich immer mehr und mehr der platonifchen. 

Die Erziehung und Ausbildung des Gelehrten kann ein dop⸗ 
pelted Refultat haben: entweder wird das Ziel erreicht oder ver- 
fehlt. In dem letzten Falle wird aus dem Auögelernten ein bloß 
nausübendes” Werkzeug, er wird entlafen zur Ausübung 
der untergeordneten Gefchäfte. Wird dad Ziel erreicht, fo ift 
der Auögelernte felbft ein Gelehrter und als ſolcher ein „freier 
Künftler” geworden, der feinen Beruf erfüllt entweder ald 
tegierender Beamter im Staat oder als erziehender Lehrer in ber 
wiffenfchaftlichen Gemeine. Die Verftandesbildung fol zur freien 
Kunft, die Gelehrtenfchule zur „Kunſtſchule“ werden. Diefe 
Säule felbft Hat verfchiedene Stufen, die niedere Gelehrtenfchule 
und die höhere: in jener ift der Lehrer zugleich Erzieher, unter 
deffen fortwährender Leitung die geiftige Selbftentwidlung bes 

40* 


712 

Zoglings gefchieht; in dieſer hört der Lehrer auf, zugleich Außer 
rer Erzieher zu fein, die Entwicllung des Lernenden wird felb: 
fländig, an die Stelle des Erzogenwerbens tritt die Selbfterzie: 
bung. Das ift der Charakter der akademiſchen Bildung und ber 
daburch gebotenen akabemifchen Freiheit, die keineswegs Privi: 
legium eined Standes, fondern allein die Bedingung ift, um ald 
Studirender ben Beruf des Studirend zu erfüllen. Was ihr daher 
am meiften widerftreitet und fie im Innerften ftört, ift die Nicht 
erfüllung ihres alleinigen Zwecks: das Dafein ſolcher „Stuben: 
ten”, die nicht aud dem Studiren ihren Beruf, fondern aus dem 
„Stubentfein” einen Stand machen mit der Aufgabe, das Leben 
einige Zeit auf ganz abfonderliche Art zu genießen”). 


I. 
Der Beruf des äftpetifhen Künftlers. 
1. Dad Weſen der Kunfl. 

Der Begriff des Gelehrten hat und in feiner Bebingung auf 
den Begriff der Religion, in feiner Vollendung auf ben der 
Kunft hingewiefen. Wir kehren zur Sittenlehre zurück, die wir 
ganz Tennen gelernt haben bis auf den Beruf deö äfthetifchen 
Künftlerd, Die wenigen Züge, in denen Fichte dad Wefen und 
die fittliche Aufgabe deſſelben entwirft, treffen den Kern ber 
Sache. Während der Gelehrte den Verſtand, ber moralifche 
Volkslehrer den Willen des Menfchen ausbilden und entwideln 
fol, bildet die [höne Kunft den ganzen Menfchen in der Ver: 

*) Ueber ben Begriff ber alademiſchen Freiheit zu vgl. die erlanger 
Vorlefungen über das Weſen des Gelehrten, Vorl. VI. (S. W. III Abth. 
18b.), die berliner Vorlef. über die Beftimmung bes Gelehrten, Vorl. 


V. Gachgel. W. Bd. III) und die Rectoratörede über bie einzig möge 
liche Störung der af, Freiheit (S. W. III Abth. I Bd). 





713 


einigung aller Gemüthöfräfte. Sie vereinigt auf eine eigen 
thümliche Art die philofophifche und gewöhnliche Weltbetrachtung. 

Die Kunft erzeugt aus der Idee ein finnliches Object. 
Unter dem finnlichen ober gemeinen Geſichtspunkte erfcheint bie 
Welt ald gegeben, unter dem philofophifchen oder trandfcenden- 
talen erfcheint fie als gemacht: unter dem äfthetifchen erfcheint 
fie als gegeben, aber nur nach der Anficht, wie fie gemacht iſt. 
Daher gilt von der ſchönen Kunft bie fichtefhe Formel: „fie 
macht den transfcenbentalen Gefihtspuntt zum 
gemeinen.” 

Nichts kann und deutlicher zeigen, wie dad Sinnenobject, 
das und ald gegeben erfcheint, in Wahrheit unfer eigenes Pro: 
duct ift, als die genial fchaffende Kunſt. Sinnlich betrachtet, 
ift jede Naturerfcheinung eine befchränkte, von außen begrenzte, 
äußeren Einwirkungen preiögegebene, unter dieſem Zwange ge: 
drückte und unfreie Geftalt; äfthetifch betrachtet, ift jede Geftalt 
ber Ausdrud ihrer eigenen Kraft, ein freied und lebendiges Bild. 
So erfcheint die Welt nur der äfthetifchen Betrachtung, die Welt 
des fchönen Geiftes ift nur in der Menfchheit; die ſchöne Kunft, 
die und in dieſer Betrachtungdweife einheimifd macht, erhebt 
und daher in dieſes Gebiet ber freien Menfchheit, fie macht und 
felbftändig und erfüllt dadurch den fittlichen Endzweck, ber die 
Selbftändigkeit der Vernunft fordert. Befreiung aus ben Ban: 
den der Sinnlichkeit ift eine Vorbereitung zur Tugend und liegt 
daher in der Richtung unſeres ſittlichen Berufs. 


2. Die Pflihten des Künftlers. 
Aus dem Berufe folgt die Pflicht. Aber dem Künftlerberuf 
gegenüber kann die Pflicht nur negativ fprechen, nicht ald Gebot, 
fondern ald Verbot, denn dem äfthetifchen Sinn, der nicht von 


774 

der Willkür abhängt, läßt fich nichts pofitio vorſchreiben. Wir 
tönnen nichts thun, um den äfthetifhen Sinn zu erzeugen, aber 
wir Tönnen vieles unterlaffen, das feine Ausbildung hindert. 
Das Genie macht den Künftler, die Natur macht bad Genie. 
Wolle daher kein Künſtler fein wider den Willen der Natur, 
fein Künftler ohne Genie! Diefed Verbot geht an ale Menfchen. 

Wer aber in Wahrheit Künftler ift, der erfüllt feinen fitt- 
lichen Beruf, indem er nur für dad Ideal und die wirkliche 
Schönheit lebt; er erniebrige fich nie dazu, dem ſchlechten Ge— 
ſchmacke des Zeitalterd zu fröhnen. Diefes Verbot geht an Die 
Künftler, Je beffer der Menfch, um fo beffer der Künſtler; 
eben fo ift es im entgegengefeßten Falle unmöglich, daß eine nie= 
drige Gefinnung nicht auch das Talent anſteckt und den Känft: 
ler herabzieht*). 

Hier gilt das ſchiller'ſche Wort an die Künſtler: „der 
Menfchheit Würde ift in eure Hand gegeben, bewahret fie! 
Sie ſinkt mit euch, mit euch wird fie ſich heben!” 


3. Kunft und Philofophie. 

Der äfthetifche Trieb geht auf die ruhige und abſichtsloſe 
Betrachtung der Objecte; daher entwickelt fich der äfthetifche 
Sinn erft in der unbefchäftigten, von der Nothburft des Lebens 
nicht gebrüicten, von ber Wißbegierde nicht beunruhigten und 
einfeitig angefpannten Seele. Die Nothdurft ift nie äfthetifch, 
fie ift ſtets geſchmacklos; erft wenn alle Triebe befriedigt find, 
erhebt fich jener liberale, contemplativ aufgefchloffene Sinn, der, 
felbft frei, auch die Objecte frei läßt und alle Erfcheinungen in 
ihrer eigenthümlichen Freiheit und Lebendigkeit betrachtet. Der 


*) Syft. d. Sittenlehre. III Abſchn. $. 31. S. 353—356. 


775 


äfthetifche Trieb will bloß vorflelen, er geht auf bie bloße Vor⸗ 
ſtellung als folche, "nicht auch auf das BVerhältniß der Vorftel- 
lungen und Dinge: er will die Uebereinftimmung beider weder 
theoretifch noch praktiſch, er ift weder Erfenntnißtrieb noch prak⸗ 
tifcher Trieb. Ie lebhafter und die bloßen Vorftellungen feffeln 
und unfere Betrachtung anziehen, um fo. mehr befriedigen fie den 
äfthetifchen Trieb, um fo intereffanter, belebter, geiftvoller find 
dieſe Vorftellungen felbft; fie find in demfelben Maße langweilig, 
ermüdend,, geiftlod, als fie den äfthetifchen Trieb nicht befchäftiz 
gen und leer laſſen. Was wir den „Geift” eines Kunſtwerks, 
einer Dichtung, eines Buchs nennen, befteht eben darin, daß 
die ganze Verfaſſung des Werks übereinflimmt mit unferem 
äfthetifchen Triebe, daß fie ein Ausbrud ift freien geiſtigen 
Schaffens, nicht mühfelig zufammengetragener Arbeit. Je mäch— 
tiger der Künftler feines Gegenftandes ift, um fo freier ift die 
Stimmung, in ber er ſchafft, um fo gewiffer bie Uebereinftim- 
mung feines Werkes mit dem äfthetifchen Triebe, um fo geift- 
voller das Werk felbft. „Diefe innere Stimmung des Künftlerd 
iſt der Geift feines Products, und bie zufälligen Geftalten, in 
denen er fie ausbrüdt, find nur der Körper oder der Buchftabe 
beffelben.” Ein folcher Künftler kann auch der Gelehrte und ber 
Philoſoph feinz er ift es, wenn er ſich der Ideen bergeftalt bes 
mäctigt hat, daß er fie mit voller Freiheit entwirft und als 
freie Erfcheinung eingehen läßt in die Betrachtung bed anderen. 
So unterfcheiden ſich „Geift und Buchſtabe in der Philofophie”. 
Der Geift ift die Entflehungsart des Werks, der Bucfibe iſt 
der Ausbrud*), 


*) Weber Geift und Buchſtab in der Philojophie. In einer Reihe 
von Briefen (1794), Phil. Journ, 1798, Es find drei Briefe, bie 


776 


Die äfthetifhe Befriedigung und Bildung, fo verflanden, 
wie. wir fie eben erklärt haben, ift daher keineswegs von der 
Philoſophie ausgefchloffen; vielmehr ift fie dem philofophifhen 
Sinn ebenfo günftig als dem moralifhen. Der philofophifche 
Sinn ift „das reine Intereffe für Wahrheit”. Diefes Intereffe 
läßt fich nicht hervorbringen, wohl aber beleben und erhöhen. 
Und hier kann nichts belebenber und erhöhender wirken, ald der 
äfthetifche Sinn. Was unfern äfthetifchen Trieb befriedigt, ift 
die bloße Vorſtellung, die reine Form, die jedes andere (ſtoff⸗ 
liche) Intereſſe ausſchließt; das reine Intereffe für Wahrheit ift 
ebenfalls bloß formal; man kann ein Intereffe haben, zu wün⸗ 
chen, daß dieſe ober jene Säge ihrem beftimmten Inhalte nach 
für wahr gelten, und eö giebt für Wünfche diefer Art mancherlei 
Motive, deren aber Feines erfüllt ift von einem reinen In— 
tereffe für die Wahrheit als folde. In demfelben Maße, ald 
man in den Fragen ber Erkenntniß ſtofflich intereffirt und ſchon 
im voraus eingenommen ift für gewiffe Säge, die man bewiefen 
zu fehen wünfcht, ift offenbar der Wahrheitsſinn felbft weder 
unabhängig noch rein. Der reine Wahrheitötrieb geht auf die 
Form, auf den Zufammenhang und dad Ganze der Erfenntniß, 
auf die folgerichtige Begründung jedes einzelnen Sages, gleich 
viel ob der Inhalt angenehm ift oder nicht. Wie der äfthetifche 
Sinn die Objecte frei läßt, um fie bloß zu betrachten, fo läßt 
der Wahrheitöfinn die Unterfuhung frei und will, daß fich die 
Denkkraft ungehindert entwidle und rein auöpräge in ihrem 
Werk. „Freiheit des Geiſtes in einer Rückſicht entfeffelt in 
allen übrigen.” „Entſchloſſenheit im Denken führt nothwendig 
zur moralifchen Größe und zur moralifchen Stärke.” Und fo fteht 


fortgefegt werben follten, aber Fragment geblieben find, S. W. III Abth. 
MI Bd. C. &. 270— 300, 


777 
die Afthetifche Bildung im günftigften Einklange mit der mora⸗ 
lifchen und philofophifchen*). . 
4. Fichte im Vergleihe mit Schiller und Schelling. 

Es find wenige Grundlinien, in denen Fichte feine Theorie 
des Aefthetifchen entworfen hatz ihre Hauptbeftimmungen find 
der Begriff der Kunft, der Beruf des Künftlerd, die Art und 
Weife der äfthetifchen Betrachtung. 

Die Grundrichtung der ganzen Anficht ift kantiſch. Fichte 
unterfcheidet ſich von Kant in demfelben Punkte ald Schiller; er 
bejaht, wie diefer, die Univerfalität der Afthetifchen Bildung, 
die Erziehung deö ganzen Menfchen durch die Ausbildung des 
äfthetifchen Sinnes, die Auöbreitung der äfthetifchen Cultur auch 
über bie theoretifchen und praktiſchen Gebiete des menfchlichen 
Geiſtes. 

Die Theorie der aſthetiſchen Betrachtungsweiſe in der ihr 
eigenthümlichen von jeder Begehrung unabhängigen Stimmung 
und Freiheit fließt aus der kantiſchen Kritik der Urtheilskraft. 
Es iſt Schiller's Verdienſt, gerade dieſen fruchtbaren Begriff in 
feinen Briefen über die äfthetifche Erziehung deutlich entwickelt 
und erleuchtet zu haben. Was Schiller von der äfthetifchen „Be: 
ftimmungsfreiheit” und dem „Spieltriebe” gefagt hat, damit 
fimmt im Wefen der Sache Fichte's Anfiht vom „äfthetifchen 
Triebe” überein. Das Fragment der fichte ſchen Briefe ift der 
Abfaffung nach früher, der Veröffentlihung nach fpäter ald die 
ſchiller ſchen Briefe; in der That find beide von einander un: 
abhängig **). 

*) Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Intereffe für Wahr: 
heit. (Aus Schiller’3 Horen. Bd. J. St. I. 1795). S. W. III Adth. 
III 8b. ©. 342—52, 

**) Bol, meine Schrift „Schiller als Philoſoph.“ VII. 3. 4. &,88-99, 





778 


Der Ausfprud Fichte's, daß die Kunft den trandfcenden- 
talen Geſichtspunkt zum gemeinen mache, hat unter allen Sägen 
feiner äfthetifchen Theorie die größte Bedeutung und Tragweite, 
In diefem Sage liegt ſchon die Einficht: was die Welt ift und 
wie fie unter dem Geſichtspunkte der Wiffenfchaftölehre ber phis 
loſophiſchen Betrachtung erfcheint, offenbart fi) auf die deut: 

lichſte und für jedermann offenfte Weife in der genial ſchaffenden 
Kunft und ihrem Werke. So ift die Kunft gleichfam das Or⸗ 
ganon der wahren Weltanfchauung. Hier berühren fich Fichte 
und Schelling. 


Siebzehntes Capitel. 


Der Begriff der Religion unter dem Standpunkte 
der Wiffenfchaftslehre. 


I 
Das Problem der Religionsphilofophie, 


1. Die Gruppe ber Hierhergehödrigen Schriften. 
Wir find bei Fichte zu verſchiedenen malen ſowohl vor Be: 
gründung der Wiffenfchaftölehre ald innerhalb derfelben dem Bes 
griffe der Religion begegnet, zuletzt in der Sittenlehre, wo es ſich 
um die moralifche Gemeinfchaft der Menfchen (Kirche) und um 
den Beruf des moralifchen Volkslehrers (Geiftlichen) handelte. 
Es ift Far, daß Religion und Moralität auf das genauefte 
zufammenhängen, aber e3 ift noch nicht Mar, wie ſich beide von 
einander unterfcheiden und zu einander verhalten; ob die Religion 
ohne Reft in die fittliche Gefinnung aufgeht oder darliber hinaus: 
greift und einen eigenthümlichen Glaubenscharakter bildet. In 
dem Intereffe unferes Philofophen und in dem Fortgange feiner 
wiffenfchaftlichen Unterfuchungen ift die Frage nach dem Wefen 
der Religion fo tief angelegt und vorbereitet, daß fie bei dem er: 
ften Anlaffe, der ſich bietet, in den Vordergrund tritt und von 

jetzt an eined ber Hauptprobleme feines Denkens ausmacht. 
Ich habe im vorigen Buche ausführlich erzählt, bei welcher 


780 
Gelegenheit Zichte die erften Grundzüge feiner Religionsphilo: 
fophie entwarf, wie fi) daraus eine Streitfrage entwidelte, die 
cause celebre der Philofophie wurde, und deren Gefchichte in 
der Lebenögefchichte des Philofophen felbft einen der bewegteften 
Abſchnitte bildet*). Der gewaltige und religiös geſtimmte Ernft, 
mit dem Zichte die ganze Frage ergriff und behandelte, hat ge— 
wiß viel dazu beigetragen, die Gemüther zu erregen unb einen 
Eonflict hervorzurufen, ald ob ed ſich um die Sache der Religion 
felbft handelte. Und daß die Frage gleich beim erften Angriff in 
ein ſolches Feuer kam, hat wiederum viel dazu beigetragen, bie 
Gedanken Fichte'8 an biefed Object zu feffeln und in feiner Unter- 
ſuchung feftzuhalten, als die Hige des Streites längft vorüber war. 
Bekanntlich hatte Forberg's Aufſatz Über den Begriff der 
Religion Fichte veranlaßt, einen Gegenauffag zu fhreiben „über 
den Grund unferes Glaubens an eine göttliche Weltregierung”. 
Nach Forberg follte die Religion ohne Reft aufgehen in das fitt- 
- liche Handeln und nichts ihr Eigenthümliches übrig behalten. Ge— 
gen diefe Anficht fchrieb Fichte. Er wollte zeigen, was die Re 
ligion von der bloßen Moralität unterfcheide, was ben fittlichen 
Glauben zum religiöfen Glauben made. Der Atheismus: 
ſtreit veranlaßte die Vertheidigungsſchriften der „Appellation” 
und der „gerichtlichen Verantwortung”, Streitfchriften mitten 
im Feuer und in ber Hite des Kampfes. Indeſſen hatte Fichte 
nicht bloß Feinde zu bekämpfen, fondern auch Mißverftändniffe 
mancherlei Art aufzuklären, denen fein Aufſatz dei der gebrängten 
Kürze, womit er die Sache behandelt hatte, gerabeiin den wich 
tigften Punkten ausgefegt war. Zum Zwecke einer jplchen noth⸗ 
wendigen Erläuterung fehrieb er zwei Abhandlungen, von denen 
er bie erfte „Rüderinnerungen, Antworten, Fragen” unvollenbet 
*) Bgl. oben III Buch. IV Cap. D 


781 
und ungedruckt ließ; die zweite erfchien in der Form eines „Pri⸗ 


vatſchreibens“ im philofophifchen Journal. Diefe fünf Schriften 


aus ben Zahren 1798 — 1800 bilden fiir die fichtefche auf Grund 
der Wiflenfchaftölehre entworfene Religionstheorie eine zufammen: 
gehörige Gruppe: bie erſte enthält die Grundgedanken, die beis 
den folgenden entwideln bie ſtreitigen Gegenfäge, die beiden letz⸗ 
ten geben bie nöthig gewordenen Erläuterungen und bezeichnen 
felbft einen bemerkbaren Fortfchritt von dem bloß Moralifchen zu 
dem fpecififch Religiöfen*). 


2. Die Religion ald Object der Wiſſenſchaftslehre. 

Schon die ganze Faffung ber Aufgabe, obwohl fie Fichte 
im Eingange feiner Abhandlung einfach und beftimmt genug aus: 
gefprochen hatte, war fo wenig beachtet und verftanden worden, 
daß die Erläuterungäfchriften gleich hier den erften Irrthum auf: 
zuflären fanden. Man hatte jenen Auffag als einen religiöfen 
Neuerungdverfuch angefehen, als ob hier Religion hätte gemacht 
oder gelehrt werden follen. Damit war nicht bloß die Abficht 
dieſer fichte ſchen Schrift, fondern überhaupt der ganze Stand: 
punkt der fichte ſchen Philofophie völlig verfannt, und jene alten 
Mißverftändniffe, welche die Wiffenfchaftslehre gleich bei ihrem 
erften Auftreten und gleich in ihren erften Sägen erfahren hatte, 
kamen jetzt in derſelben Geftalt wieder zum Worfchein, fobald die 
Wiſſenſchaftslehre die erften Grundgedanken ihrer Religionstheo⸗ 
tie ausſprach. Damals hatte man gemeint, die fichte ſche Philo: 
fophie wolle Natur und Welt machen; jegt meinte man, fie wolle 
Religion machen. 

In der der That handelt es ſich in der geſammten Wiſſenſchafts⸗ 

*) S. W. II Abth. IIIBO. S. 175—396, gl, oben III Buch. 
VI Cap. Nr. Il. 2. c. S. 340 -341. 


182 


lehre bloß darum, unſer Wiſſen, unſere Erfahrung, das Syſtem 
unſerer nothwendigen Vorſtellungen zu erklären: um dieſe Erklä— 
rung und Begründung unſeres vorhandenen lebendigen Bewußt⸗ 
ſeins. Wie fih die Naturlehre zur Natur, die Phyfiologie zu 
den lebendigen Körpern, fo verhält fich die Wiffenfchaftslehre zu 
dem lebendigen Bewußtfein. Sie macht e8 nicht, fie erklärt ed. 
„Der lebendige Körper, ben wir nachbilden,“ fagt Fichte in ben 
NRüderinnerungen, „ift dad gemeine reale Bewußtfein. 
Das allmälige Zufammenfügen feiner Theile find unfere Deduc- 
tionen, die nur Schritt für Schritt fortrüden Fönnen*).” Um 
ein Object zu erflären, muß ich es betrachten und deßhalb mei= 
nen Standpunkt außerhalb deffelben nehmen. Darum nimmt 
die Wiffenfchaftslehre ihren Standpunkt außerhalb der Erfahrung, 
außerhalb des Lebens, und ift eben deßhalb von beiden unterſchie⸗ 
den. „Leben ift ganz eigentlich Nicht: Philofophiren; Philofo- 
phiren ift ganz eigentlich Nicht: Leben*).” 

Wie ſich die Wiflenfchaftölehre zur Erfahrung und zum Le- 
ben verhält, genau fo will fie fich verhalten zur Religion. Sie 
macht nicht Religion, fondern fie macht die Religion zu ihrem 
Object; fie will die lebendige Thatfache des Glaubens aus feinem 
eigenthümlichen Urfprunge erflären; dieſer Urfprung wird nicht 
„ertäfonnirt”, ſondern im menfchlichen Gemüthe aufgerwiefen als 
„der Drt des religiöfen Glaubens”, ald die Wurzel der Religion 
im Weſen der menfchlichen Vernunft. Wie eö ſich früher gehan- 
delt hatte um die Deduction der Vorftellung, der Erfahrung, des 
Rechts, des Staats, der Ehe, der Sittlichkeit, der Kunft u. ſ. f., 
fo handelt es ſich jeßt genau in bemfelben Sinn um die Debuc- 

*) Rüderinnerungen u. f. f. Nr. 7. 6. W. U Abth. III Bd. 


©. 341 fig. 
**) Ehenbafelbft. Nr. 8. S. 348. 


183 


tion des religiöfen Glaubens. So wenig die Wiſſenſchaftslehre 
zufammenfällt mit der Erfahrung und bem lebendigen Bewußt⸗ 
fein, fo wenig fällt fie zufammen mit dem lebendigen Glauben. 
Wiſſenſchaftslehre ift nicht Erfahrung. Religionsphilofophie ift 
nicht Religion *). i 

Wir wiffen, was Debuction im Sinne der Wiſſenſchafts⸗ 
lehre beveutet. Etwas ift deducirt, d.h. es ift bewiefen, daß ed 
notwendig zum Ich gehört, nothwendig aus demſelben folgt, 
daß mit feiner Aufhebung das Ich felbft aufgehoben fein würde, 
Die Religion ift deducirt, d. h. es ift bewiefen, daß der Glaube 
an eine göttliche Weltregierung nothwenbig zum Ich gehört und 
in den Bedingungen beffelben feinen Grund hat. B 

Es handelt fi) um die ſe Deduction. Das ift die Funde: 
mentalfrage ber Religionsphilofophie unter dem Standpunkte der 
Wiſſenſchaftslehre. Fichte wollte in feinem Auffa nicht das Sy: 
ſtem der Religionsphilofophie entwideln, fondern nur den Grunds 
fein dazu legen**). Daher handelt er „über den Grund unfe 
res Glaubens an eine göttliche Weltregierung” und erklärt gleich 
im Beginn der ganzen Unterfuchung: „wir haben nicht zu thun 
als die Cauſalfrage zu beantwoggen: wie fommt ber Menſch 
zu jenem Glauben***)2” 


3. Die moralifhe Weltorbnung ald Object der 
Religion. 
Die Wiffenfchaftölehre hat gezeigt, wie das Ich dazu kommt, 
fid) als ſinnliches Wefen und damit ald Glied einer natürlichen 


*) Ebendaſelbſt. Nr. 11, 14, 19. S. 345, 347, 351. Bergl. 
Brivatfchreiben. ©. 386— 387, 
**) Rüderinnerungen u. |. f. Nr. 12, ©. 346, 
*#4) Ueber ben Grund unferes Glaubens u. |. f. S. 179, 


784 


Ordnung der Dinge zu feßen. Die Sinnenwelt erfcheint dem 
finnlihen Bewußtfein als bad abfolute Object, als Erſtes und 
Letztes, darum nie ald Ausdrud einer göttlichen Weltregierung. 
In dem finnlihen Bewußtſein kann daher der religiöfe Glaube 
unmöglich begründet fein*). 

Der Grund deffelben läßt ſich daher nur in unferem über 
finnlichen Weſen aufſuchen. Nun hat die Wiffenfchaftslchre ge: 
zeigt, wie das Ich dazu kommt, fich als frei und die Freiheit als 
feinen Zwed zu ſetzen, als feinen abfoluten Zwed. Ich und mein 
nothwendiger Zweck: das find die Bedingungen, die mein überfinn= 
liches Wefen ausmachen. Hier alfo muß der Grund des religiö- 
fen Glaubens, der Ort feines Urfprungs zu finden fein: „dieſer 
Ort ift der notwendige Zweck des Menfchen bei feinem Gehorfam 
gegen das Pflichtgebot **)." 

Ic und mein nothwendiger Zweck: was folgt aus biefer 
meiner Sebung des nothivendigen Zwecks? Offenbar feße ich 
ihn als etwas ſchlechterdings Auszuführendes, darum auch 
Ausführbared; ich fege ihn als fein follend, darum auch als fein 
könnend; mithin gelte ich mir felbft ald Mittel und Kraft, jenen 
Zweck zur Ausführung zu bringengich gelte mir als diefes Mittel 
mit allen meinen Vermögen, mit meinem ganzen Dafein, das 
ſinnliche eingefchloffen. Ich fol, alfo ich Fann. Ich kann, denn 
ich fol. Was ich unbedingt fol, dad muß ich fönnen, auch als 
finnliches Wefen können: baffelbe gilt von allen moralifhen We: 
fen glei mir, von der gefammten Sinnenwelt als unferem ge= 
meinfchaftlichen Schauplag: fie erhält eine Beziehung auf Mora: 
lität, fie ift mit allen ihren immanenten Gefegen der Schauplag 
und „bie ruhende Grundlage” des zu verwirklichenden Endzwecks. 

*) Ebendaſelbſt. S. 179—181. 

**) Privatſchreiben. S. 387. 


785 


Jetzt gilt fie nicht mehr als Erſtes und Letztes, fondern ald Glied 
einer höheren, durch den Endzwed gebotenen und bedingten, durch 
bie Idee der Freiheit getragenen Ordnung ber Dinge. 

Aus der Segung des nothwendigen Zwecks folgt demnach 
die Setzung einer moralifhen Weltordnung, nicht etwa 
als Gegenfland der finnlihen Vorftellung, der Erfahrung, des 
erfahrungsmäßigen, abgeleiteten, vermittelten Wiſſens; fondern 
ich bin dieſer moralifchen Ordnung fo gewiß als meines Ends 
zwecks, fo gewiß mithin als meines eigenften, urfprünglichen 
Weſens. Ich und mein Endziwed find von einander unabtrenns ⸗ 
bar. Ebenfo unabtrennbar von einander find der Endzwed und 
die moralifche Weltordnung. Das Element aller Gewißheit ift 
Glaube. Aus der nothwendigen Setzung des Endzwecks folgt 
der Glaube an eine moralifche Weltorbnung”). 


4. Gott ald moralifhe Weltordnung. 

Dieſe moralifche Weltorbnung, welche die Sinnenwelt bes 
dingt und in fich fehließt, ift ald Object des Glaubens unmittel- 
bar und urfprünglich gewiß: fie ift nichts Erfchloffenes, nichts 
Abgeleitetes noch Abzuleitendes, fie ift das Erſte und Letzte, felbft 
urfpränglich, unbebingt, abfolut. So ift fie gleich‘ dem Gött: 
lichen ; fie ift Gott felbft: der Glaube an fie ift der wahre Got⸗ 
teöglaube, bie wirkliche Religion, lebendig in der moralifchen 
GSefinnung, bewährt im fittlihen Handeln. Die gute Gefinnung 
iſt ihr alleiniger Grund, bie fittliche Handlungsweiſe ihr alleini⸗ 
ger Ausdrud, „Dieß ift der wahre Glaube; diefe moralifche 
Ordnung ift das Göttliche; dad wir annehmen. Er wird con 
flruirt durch das Rechtthun.” „Jene lebendige und wirkende mo: 


*) Ueber den Grund unfere® Glaubens u. |.f. ©. 182—185, 
Bifger, Gehhläte der Philofophie V. 50 


786 


raliſche Ordnung ift felbft Gott; wir bebürfen keines anderen 
und Fönnen einen anderen fallen *).” 

Jede andere Art, das Göttliche vorzuftellen, verfehlt den 
Begriff des Abfoluten und widerftreitet darum dem Wefen Got- 
tes; jede andere Vorftellungsart ift eine Verendlihung Gottes. 
Wird Gott nicht gleichgefegt der moralifchen Orbnung, fondern 
davon unterfchieden und als deren Urfache beftimmt, fo erfcheint 
ex als ein unterfchiedenes Wefen, als eine befondere Subftanz, 
als ein Wefen unfered Gleichen, dem wir Perfönlichkeit und Be: 
wußtfein nach menfchlicher Analogie, eine Wirkſamkeit nach Art 
der unfrigen zuſchreiben. Wir haben nicht Gott gedacht, fondern 
nur und felbft im Denken vervielfältigt**). 

Die Vorftellung eined folden Gottes nimmt und ben Anz 
blick der moralifchen Weltordnung und verbunkelt in und mit dem 
wahren Glaubendobject auch den wahren Glaubensgrund; wir 
fühlen und nicht mehr ald moralifche Weſen, die Glieder find ei: 
ner moraliſchen Ordnung ber Dinge, fondern als finnliche Ges 
ſchöpfe, abhängig von einem anderen Wefen unferer Art, welches 
mächtiger ift ald wir. 

Die Faſſung der Gottesidee ift rein moralifch. Von diefem 
Geſichtspunkte aus verwirft Fichte jede Art des Anthropomorphid- 
mus und der Verendlichung Gottes; er rechnet Darunter auch die 
theiftifche Vorſtellungsweiſe der dogmatifchen Schule. In dem⸗ 
felben Maße als diefer Gegenſatz fich hervorhebt, geftaltet ſich der 
Ausbrud der fichte ſchen Gottedidee pantheiſtiſch. „Der Begriff 
von Gott ald einer befonderen Subftanz ift unmöglid) und wir 
derfprechend; es ift erlaubt, dieß aufrichtig zu fagen und dad 


*) Ebendaſelbſt. S.185 u. 186, 
**) Ebendaſelbſt. ©. 187. 


787 


Schulgeſchwãtz niederzuſchlagen, damit die wahre Religion des 
freudigen Rechtthuns ſich erhebe*).” 


I 
Gegenfäge und Streitpunfte, 


1. Glauben und Wiffen. 

Diefe Vorſtellungsweiſe in dieſer Entgegenfegung war es, 
die gegen Fichte die Anklage des „Atheismus heroorrief. Die 
Vertheidigungsfchriften thaten nichts, den Gegenfag zu mildern, 
fie fhärften ihn vielmehr. 

Was Fichte verneint habe, fei nicht Goft, fondern nur eine 
beftimmte Vorftellungsweife von Gott, nicht die lebendige des 
natürlichen Bewußtſeins, fondern die Plnftlich gemachte ber 
Schule, die Gott aus fogenannten Thatfachen der Natur und 
Sinnenwelt beweifen wolle oder vorgebe bewiefen zu haben. 
Alles Beweiſen fei ein Begreifen, Beftimmen, Ableiten, Verend⸗ 
lichen. Aus Gott ein beweisbares und begreifliches Object machen, 
heiße fo viel als ein beſtimmtes, abgeleitete, endliches, räum: 
liches Wefen aus ihm machen. Wer diefe Vorftellungdart ver: 
neine, leugne darum nicht Gott. Hier redet Fichte gegen bie 
dogmatifchen Schulbeweife ganz wie Jacobi **). 


2. Idealismus und Dogmatismus. 

Es ift unmöglich, etwas zu fegen ohne alle Beziehung auf 
und, durch welche die Segung gefchieht; es ift unmöglich, etwas 
zu erkennen und dabei gänzlich) von und felbft und unferer erken⸗ 
nenden Natur zu abftrahiren ; es ift daher unmöglich, Gott zu 





*) Ebendaſelbſt. S. 188. 
**) Gerichtliche Verantwortung. Nr. I. Erftes und zweites logiſches 
Ariom. S. 258—269, 
50* 


788 

erkennen, unabhängig von ber Beziehung Gotted zu und. Diefe 
Beziehung ift dad Erfte; die darauf gegründete Erkenntniß ift 
das Zweite. Wer die Sache umkehrt, weiß nicht, was er thut. 
Diefes Nichtroiffen des eigenen Thund charakterifirt die dogma- 
tifhe Denkweiſe, dad Gegentheil die kritiſche. Die Gegner for 
bern: erft ſolle Gott erfannt werden, wie er an fich ift, und 
daraus feine Beziehung zu und; fie wiffen nicht, was fie verlan- 
gen; fie wollen etwas erkennen mit gänzlicher Abftraction von 
ihrem Erkenntnißvermögen, etwas verfiehen mit gänzlicher Ab⸗ 
flraction von ihrem Verflande. „Man muß,” fagt Fichte, „feis 
nen gefunden Verftand verlieren, um vie fie an Gott zu glauben ; 
mein Atheismus befteht lediglich darin, daß ich meinen Verſtand 
gern behalten möchte *).” 

Was den Ausgangspunkt und bie Bedingung zur Gotteder- 
kenntniß betrifft, fo fieht fich Fichte gegenüber dem „Dogmatis= 
mud" und fest demfelben feinen Standpunkt ald (Fritifchen) 
„Idealismus“ entgegen. 


3. Moralismus und Eubämonidmus. 

Gott ift erfennbar nur aus feiner Beziehung zu und. Das 
mit ift nicht genug gefagt. Diefe Beziehung muß näher beſtimmt 
werben: er ift erfennbar aus feiner Bezichung zu und, nur in 
fofern wir fittliche Wefen find. Wir vermögen Gott zu erfennen 
nur aud unferem eigenen Wefen, nur aus befien fittlicher Be— 
flimmung. 

Dieß verneinen die Gegner. Was behaupten fie dagegen? 
Eine Erkenntniß Gottes (wie fie Die Gegner wollen), ganz unab- 
hangig von der Beziehung Gottes zu und, ift eine leere, dogma= 
tifche Fiction, die Forderung einer unmöglichen. Sache. Eine 

*) Appellation u, ſ. f. S. 214. 


789 


ummittelbare Beziehung des Erkenntnißobjectes zu und wird unſe⸗ 
rer Erfenntniß ſtets zu Grunde gelegt. Der Fritifche Standpunkt 
thut es mit Bewußtfein; der Dogmatifche weiß nicht, was er thut. 
Soll nun die Erfenntniß Gottes nicht auf unfer fittliches (über: 
finnliches) Wefen gegründet werden, fo wird fie thatfächlich ger 
gründet auf unfer finnliches Wefen; fo wird Gott aus der Sin: 
nenwelt abgeleitet und auf diefe bezogen, er wird dann ganz eis 
gentlich „ber Fürft der Welt”, „der Herr bed Schickſals“, „ber 
Geber der Glüdfeligkeit”, dem man fich gefällig erweifen müffe, 
damit er fich wieder gefällig erweife. Die Religion wird zur 
Sunftbewerbung, die Religiondlehre zur Glückſeligkeitslehre. 

Was demnach die Gotteserkenntniß felbft ihrem Charakter 
nad) betrifft, fo fieht fich Fichte hier dem „Eubämonismus” ge: 
genüber und fegt ihm feinen Standpunkt ald „Moralismus” ent: 
gegen. So ftehen in biefem Gegenfage religiöfer Vorftelungs: 
weifen Idealismus und Moralismus auf der einen Seite, Dog: 
matismus und Eudämonismus auf der anderen. „Eubämonis: 
mus und Dogmatismus find, wenn man nur confequent ift, 
nothwendig bei einander, ebenfo wie Moralismus und Ibealid: 
mus*).” 


4. Religion und Atheis mus. 

Fichte's Standpunkt ift Idealismus, weil er Moralismus ift, 
denn ber tieffte Beweggrund feiner ganzen Lehre ift die moraliſche 
Selbſtgewißheit und Beſtimmung des Menfchen. Hier ift das 
Herz, aus dem die Gedanken kommen. 

Aehnlich verhält fi die Sache bei den Gegnern. Ihr 
Standpunkt ift Dogmatismus, weil er Eubämonismus ift; „fie 
find Eudämoniften in der Sittenlehre und müſſen ſonach wohl 

*) Ehendafelf. ©. 217. 


790 


Dogmatifer werben in der Speculation.” Sie begründen Gott 
aus der Sinnenmwelt, weil fie in Wahrheit nichts Höheres ald 
die Sinnenwelt kennen, weil ihnen das finnliche Dafein und def: 
fen Wohl als der höchſte Lebenszwed gilt. Weil fie den Genuß 
und die Glüdfeligkeit wollen, darum wollen fie einen Gott ald 
Geber der Glüdfeligkeit; diefer Gott dient der Begierde, er ift 
fein Gott, fondern ein Abgott, ein Götze. „Daß ich diefen ih: 
ven Gögen nicht ftatt des wahren Gotte will gelten laffen, bie 
ift, was fie meinen Atheismus nennen; dieß iſt's, dem fie Ber: 
folgung gefhworen haben*).” 

Die Wurzel der dogmatifchen Vorſtellungsweiſe ift die eubä: 
moniftifhe; die Wurzel der letzteren ift die Selbſtſucht, dad ei: 
gentlich böfe Princip. Die Sache kehrt fi) um, die Vertheidigung 
wird (micht der Abficht, aber dem Inhalte nach) zur Gegenan: 
Mage: „fie find ohne Gott und find in diefer Rüdficht Athe 
iſten ·.⸗ 

III. 
Der moraliſche und religiöſe Glaube. 


1. Daß ſpecifiſch Religidſe. 

Laſſen wir die Gegenfäge, in deren Streite ſich der mora⸗ 
liſche Standpunkt in feiner größten Schärfe ausprägt, und keh— 
ten zu der noch ungelöften Frage zurüd: was macht den mora⸗ 
liſchen Glauben zum religiöfen, die moralifche Ordnung zur 
göttlichen? Was macht fie zum Gegenftande des religiöfen 
Glaubens? Der bloße Begriff, daß fie abfolut fei, reicht dazu 
nicht hin. Hier ift in jenem fichte ſchen Aufſatz eine fühlbare Lücke; 
die Gleichung wird behauptet, ohne daß die Mittelglieder deut⸗ 

*) Ebendaſelbſt. S. 218— 219. 

**) Ebendaſelbſt. S, 220. 





79 


lich hervortreten. Um fie einzufehen, müffen wir den Zufammen» 
bang zwifchen unferer moralifchen Beftimmung und der moralifchen 
Weltorbnung genau in's Auge faffen und beide mit einander 
vergleichen. 

Ich erfülle meinen fittlichen Zwed in der pflichtmäßigen Be: 
ſtimmung meines Willend, in der guten Gefinnung, in bem ges 
wiffenhaften Handeln: ic) bin gewiß, daß diefe Beſtimmung meis 
nen Endzwed ausmacht; ich bin in der Erfüllung deffelben ganz 
in dem Gebiete meiner Freiheit, es gefchieht hier nichts, das nicht 
völlig abhängig wäre von mir felbft, Der moralifhe Glaube 
reicht nicht weiter ald meine Selbftbeftimmung. 

Die moralifhe Weltordnung reicht weiter, Sie kommt 
nur dadurch zu Stande, daß meine pflichtmäßige Gefinnung, 
vermöge deren ich meinen Zweck erfülle, unmittelbar auch den Welt: 
zwed ausführt; daß meine fittliche Handlung befördernd eingreift 
in das Weltganze, in die Verwirklichung des Weltplans; daß 
ich den Vernunftzwed außer mir befördere bloß dadurch, daß 
ich diefen Zwed in mir felbft erfülle, bloß dadurch, daß ich 
meine Pflicht thue. An meine Gefinnung und Handlung follen 
fi) Folgen fnüpfen, unfehlbare Folgen, die von mir felbft ganz 
unabhängig find: in die ſem Zufammenhange befteht die mora⸗ 
liſche Weltorbnung; der Glaube an die legtere ift der Glaube an 
diefen Zufammenhang, alfo an etwas von meinem Willen völlig 
Unabhängige. 

Vergleichen wir diefen Glauben mit dem bloß moralifchen, 
fo fpringt die Differenz in die Augen, um welche er mehr ald 
der legtere enthält: dieſes Mehr macht die fpecififche Differenz des 
religiöfen Glaubens, die veligiöfe Glaubensart. Nicht etwa 
fo, ald ob dem moralifchen Glauben etwas von außen hinzufäme, 
das ihn zum teligiöfen Glauben macht, fondern fein eigenes in» 


792 

nerſtes Wefen nöthigt ihn, ſich zur Religion zu erweitern und 
zu ergänzen. An bie eigene moraliſche Beftimmung kann nur 
moralifch geglaubt werden, an die ſittliche Weltordnung nur re: 
ligiss. Aber was wäre unfere moralifhe Beftimmung, wenn 
fie nicht Endzweck, Weltzwed, weltorbnendes Princip wäre? 
Der moralifhe Glaube wäre nichtig ohne den religiöfen. Erſt 
in dieſem ift er ganz und vollftändig, erſt der religiöfe Glaube ift 
der ganze vollftändige Glaube. 

Jede fittliche Handlung, fagten wir früher, liege in der An: 
mäherungsreihe an den abfoluten Zweck. Diefe Reihe ift eine 
„Ordnung von Begebenheiten”; in diefer Ordnung hat jebe fitt- 
liche Handlung ihren beftimmten Ort, den fie nicht haben könnte, 
ohne eine fittliche Welt vorauszufegen, in ber fie eintritt und ers 
folgt an diefem beſtimmten Punkte; ohne eine fittlihe Welt zu 
fordern, in der fie in Ewigkeit fortwirkt, Jene Borausfegun- 
gen und dieſe Fortwirfungen werben geglaubt, fo wenig fie von 
meinem Willen abhängen; fie find mir gewiß, fo wenig fie 
durch mich gewiß find. „Dieß ift nun Religion. Ich glaube 
an ein Princip, zufolge deſſen aus jeder ‚pflichtmäßigen Willens 
beflimmung bie Beförderung des Vernunftzwecks im allgemeinen 
Bufammenhange der Dinge fiher erfolgt. Dieſes Princip wird 
abfolut gefest, mit derfelben Urfprünglichkeit des Glaubens, wie 
an die Stimme des Gewiffend geglaubt wird, Beides ift nicht 
eines, aber fchlechthin unabtrennlich von einander *).” 

2. Die moralifhe Weltordnung ald Weltregierung. 
„Ordo ordinans.« 

Daß die fittliche Gefinnung unfehlbare Folgen in der Welt 
hat: diefe Verknüpfung ift es, die wir ald Ordnung, intelligible 
ober moralifche Ordnung bezeichnen. So nothwendig fie ift und 

*) Rüderinnerungen uf, f. Nr, 32—33, ©, 363—366, 


798 


geglaubt wird, fo wenig kann fie aus dem Gefege der Caufalität 
begriffen werben. Die Gefinnung ift innere Willensbeftimmung ; 
die Folgen in der Welt find davon ganz unabhängig, zwifchen 
beiden iſt Feine begreifliche Gaufalität. Die Gefinnung hat Fol: 
gen auf einem Gebiete, wo fie felbft nicht Urfache fein kann. 

Es iſt nicht genug zu fagen, daß die Erfolge der fittlichen 
Handlung außerhalb unferer Macht und Berechnung liegen, daß 
wir fie nicht hervorbringen, beabfichtigen, wollen können: wir 
dürfen fie nicht einmal wollen, felbft wenn wir e& könnten. 
Denn in der fittlihen Handlung fol nichts beabfichtigt werben 
als nur die Erfüllung der Pflicht, Teineswegs die Erfolge in der 
Welt. Die Pflicht um der Pflicht willen, nicht aber die Pflicht 
um des Erfolges willen! Die vein fittliche Gefinnung ſchließt 
die Abficht auf den Erfolg von fich aus; fie verliert ihre Reinheit 
in bemfelben Maße, ald bei der Handlung an die Erfolge derſel⸗ 
ben gedacht wird. Iſt es nun Iebiglich die pflichtmäßige Gefin- 
nung, mit welcher zufolge der fittlichen Weltordnung unfehlbare 
Erfolge verknüpft find, fo leuchtet ein, daß 1) unfer Wille die 
Bedingung nicht fein kann, durch welche die Folgen eintreten; 
vielmehr 2) dad Nicht:wollen ber Erfolge die Bedingung ift, unter 
der allein fie im Sinne der moralifchen Weltorbnung eintreten 
können. „Die Folge der Moralität endlicher Wefenift nothwen⸗ 
dig von der Art, daß fie nur unter der Bedingung eintritt, daß 
fie nicht eigentlich gewollt (obwohl poftulirt) werde, d. i. daß fie 
fein Motiv des Wollens abgebe*)." 

Daraud aber folgt, daß die moralifhe Ordnung nicht von 
uns abhängt, nicht durch und gemacht wird, nicht innerhalb der 
endlichen moralifchen Wefen befteht, fondern außerhalb derſelben 
gefegt werden muß, als unabhängig und gegründet in fih. Sie 
Aus einem Privatſchreiben. S. 388 — 392. 


“194 
tft nicht Gemachtes und von außen Geordnetes, nichts Todte 
und Fertiges, wie der Hausrath in einem Zimmer, ſondern fie 
ift lebendige, wirkende Ordnung, felbft thätige& Ordnen, nicht 
„ordo ordinatus“, jondern „ordo ordinans“. 

Was ift eine folche thätige Ordnung, ein ſolches welter: 
nended Handeln anders ald regieren? Die religiös geglaubte 
Weltordnung ift daher nothwendig Weltregierung, bie (al 
ſolche) ohne Wille nicht fein kann, aber durch unferen Willen 
weder gemacht werben kann, noch auch bezweckt werben foll; bie 
deßhalb geglaubt wird ald Offenbarung eines ewigen göttlichen 
Willens. „Ein heiliger Wille lebt, wie auch der menſchliche 
wanke; hoch über der Zeit und dem Raume webt lebendig der 
böchfte Gedanke”: mit diefem ſchiller'ſchen Glaubendworte 
ſchließt Fichte feine Abhandlung über den Grund unferes Glau: 
bens an eine göttliche Weltregierung. 

Mit dem Begriffe der Religion vollendet ſich die Wiffen: 
ſchaftslehre und erreicht hier ihren tiefften Grund. Ihre Entwid: 
lung war eine zunehmende Vertiefung. Das theoretifche Ich 
ruht auf dem Grunde des praktiſchen, welches von dem Gewiſſen 
als feinem innerflen Grunde aus dad ganze Reich des Wiſſens 
und Handelns umfaßt und durchbringt; das moralifche Ich, wel: 
ches gleich ift dem Gewiffen oder dem fittlichen Glauben, vertieft 
und vollendet ſich im religiöfen Glauben. Diefer Glaube ift erft 
begründet, noch nicht entwidelt. Das ift die Aufgabe, mit wel: 
her Fichte feine jenaifche Periode fchließt. „Ich habe gegenwär: 
tig,” fagt er am Ende jenes Privatfchreibens, „dieſe Entwidlung 
am weiteften fortgeführt in meiner Beftimmung des Men: 
ſchen.“ Diefe Schrift gehört fchon in den Anfang feiner legten 
Periode. 








Biertes Bud). 
Kchte's lebte Periode, 


Erſtes Capitel. 


Rückblick auf die Wiſſenſchaftslehre. Verfud) einer nenen 
Darftellung und fonnenklarer Bericht. 


L 
Die neuen Formen ber Wiſſenſchaftslehre. 


1. Entflehungsart des Syſtems. 

Wir haben gezeigt, wie in dem Geift und der Entwicklungs⸗ 
geihichte der kritiſchen Philofophie die Aufgabe der Wiſſenſchafts⸗ 
lehre angelegt und auf ein Ziel gerichtet war, welches den nach⸗ 
kantiſchen Fortgang diefer Philofophie an der entfcheidenden Stelle 
aufnimmt und befiimmt. Dieſes Ziel mußte ergriffen, dieſe 
Aufgabe mußte gelöft werben, nachdem einmal die Bantifchen Pro: 
bleme auf die Tagesordnung ber Philofophie gefommen waren. 
Ale Fortbildungsverfuche, die wir im erften Buche diefes Wer: 
kes Fennen gelernt, find in Wahrheit nur Mittelglieder und Vor: 
ſtufen in dem Uebergange von Kant zu Fichte; fie fuchen das Ziel, 
welches Fichte erreicht; fie find Erperimente, deren gelungenes 
Meiſterſtück die Wiſſenſchaftslehre ift. Hätte Fichte nichts weiter 
gegeben, ald das Syſtem, welches die Frucht feiner jenaifchen 
Periode war, fo würde er vielleicht weniger populär, aber für 
bie Gefchichte der Philofophie nicht weniger groß und bedeutungs⸗ 
voll fein. Jener durch die Sache gebotene Fortfchritt, den nur 


798 


er machen fonnte, ift gemacht; die Aufgabe, die ihm zufiel, ift 
in ihren wefentlichen Bedingungen gelöft, und die legte Periode 
des Philofophen, fo reich und fruchtbar fie immer ift, vermag 
fein Gewicht in der Wagfchale der Gefchichte der Philofophie kaum 
zu vergrößern. 

Seit Reinhold hat man mit der Fritifchen Philofophie erpe: 
rimentirt in einer Richtung, deren Ziel fi durch die Wifien: 
ſchaftslehre entfcheidet. Diefe felbft, obwohl im firengften Sinne 
foftematifch, verfährt in gewiffer Weile auch erperimentirend. 
Zwar die Aufgabe, der Standpunkt, die Methode find in dem 
Geiſte ihres Urheberd völlig Mar, wie er die erfte Hand an fein 
Werk legt; nicht ebenfo find die Ziele und Refultate, zu denen 
er kommt, von vorn herein ausgemacht und fertig, fie follen es 
auch nicht fein. Die Wiffenfhaftsiehre, indem fie genau nah 
der Richtſchnur fortfchreitet, die fie ald den einzig möglichen Weg 
zur Löſung ihrer Aufgabe erfannt hat, verhält fich findend und 
entdedend. Sie ift keineswegs ein fchon in der erſten Anlage 
völlig fertiges und in allen Refultaten ausgemachted Syſtem, das 
nur bargeftellt zu werden braucht, fondern dieſes Syſtem ent: 
widelt ſich, lebendig fortfchreitend, unter den Händen bes Philo⸗ 
fophen. Sie ift wie eine Reife, deren Plan volltommen feftfteht 
und die nirgends von dieſem Plane abweicht, aber nachdem fie 
wirklich durchlebt worden ift, doch ein ganz anderes Bild giebt 
als vorher im bloßen Plan. Der Rüdblid auf die zurückgelegte 
Reife ift von dem Reifeplan, wenn er auch noch fo methodiſch 
entworfen und geographifch unterrichtet ift, immer verſchieden. 
Und je fruchtbarer die Reife war, um fo lebhafter kommt bad 
Bebürfniß, fie wieder zu machen, und dad Gefühl, daß man 
fie jeßt erſt recht zu machen verfieht, daß man das zweitemal bei 
weiten beffer reifen wird, als vorher. 





79 


2. Reue Darfellung und Begründung. 

Je weiter Fichte die Wiffenfchaftslehre entwickelt und fich 
durch ihre Aufgaben hindurchgearbeitet hat, um fo mächtiger ift 
er der Sache geworden, um fo beffer kann er fie darſtellen; daher 
kommt immer von neuem bad Bebürfniß, fie wieder barzuftellen. 
Und es ift nicht bloß die Darftellung, die erneut fein will. Es 
liegt in der Natur und Methode der Wiſſenſchaftslehre, daß mit 
jedem Fortfepritte ihrer Entwidlung, mit jeber Löfung einer neuen 
Aufgabe fi) dad Syſtem felbft tiefer begründet. Indem wir von 
der theoretifchen Wiffenfchaftölehre fortfchreiten zur praktifchen, 
vertieft ſich dad Princip des gefammten Syſtems, und ed erfcheint 
als die Quelle des Ganzen nicht mehr das theoretifche Ich oder 
die Intelligenz, fondern das praßtifche Ich oder der Wille. Und 
wiederum vertieft fich dad Syftem, indem von der Sittenlehre 
fortgefchritten wird zur Religiondlehre, von dem Sittengefeg zur 
moralifchen Weltorbnung, von dem fittlichen Glauben zum relis 
giöfen Glauben. Die Wiffenfchaftslehre erfüllt darin nur das 
Gefeg und die Bedingungen jeder Entwidlung, daß in dem letz⸗ 
ten Ergebniß das eigentliche Princip und der tieffte Grund des 
Ganzen zumBorfchein kommt. Daher ift e8 ganz natürlich, daß 
bei Fichte mit dem Bedürfniß nach einer neuen Darftellung der 
Wiſſenſchaftslehre zugleich das Bedürfniß nach einer tieferen Ber 
gründung derfelben zufammentrifft, und daß dieſe beiden Antriebe 
fich vereinigen, um dad Werk immer wieder von neuem entfte: 
ben zu laſſen. Unmittelbar nad) der erſten Vollendung beginnen 
fogleich diefe neuen (doppelt motivirten) Verſuche, und immer 
wird das Werk wieder eingefhmolzen und ein neuer Guß unter» 
nommen. Man würde dad Werk und feine Entftehungsweife 
verkennen, wollte man daraus ſchon auf einen veränderten Cha- 
tafter der Wiffenfchaftölchre oder auf ein neues Syſtem ſchließen. 


800 


Es iſt ganz charakteriftifch für Fichte und aus der eben ge 
gebenen Erklärung volltommen begreiflich, -daß er feine beften 
Einleitungen in die Wiffenfchaftölehre erſt fchreibt, nachdem er 
die Grundlage des gefammten Syſtems, die theoretifche und praf: 
tifche Wiffenfchaftölehre, die Rechts- und Sittenlehre entwickelt 
hat ; daß in demfelben Jahre (1797), welches die erfle Vollen: 
dung des Syftemd bezeichnet, jene beiden Einleitungen geſchrie— 
ben werben und zugleich, der „Werfuch einer neuen Darftelung der 
Wiffenfhaftsiehre”. 

Unfere gefchichtliche Darftellung der fichte'fchen Philoſophie 
bat einen Punkt erreicht, wo fie innehalten und auf das ent: 
widelte Syſtem zurüdbliden muß. Nun bat in eben biefem 
Punkte Fichte felbft einen folchen Rüdblid gegeben, ber zugleich 
neue Entwicklungen vorbereitet. Daher können wir unſere Auf⸗ 
gabe erfüllen, indem wir zugleich in der Darſtellung des Philo⸗ 
fophen fortfahren. 

Zu biefem Zwede verbinden wir zwei Schriften, von benen 
die erfte mit dem Höhepunkte der jenaifchen Zeit, die zweite mit 
dem Anfange der berliner Periode zufammenfällt: der fehon ge: 
nannte „Berfuch einer neuen Darftellung der Wiſſenſchaftslehre“ 
aus dem Jahre 1797 und der „fonnenklare Bericht an das größere 
Yublicum über dad eigentliche Wefen der neueften Philofophie, 
ein Verfuch, die Lefer zum Verſtehen zu zwingen”, aus dem 
Jahre 1801*). 

Beide Schriften haben denfelben Iwed einer neuen Dar 
ftelung und diefelbe Abficht eindeinglicher Belehrung, fie nehmen 
den Lefer ald einen zu unterrichtenden Schüler und brauchen bie 
Form ber unmittelbaren Anrede; der fonnenklare Bericht ift felbft 

*) Verſuch einer neuen Darftellung u. f. f. S. W. I Abth. I Bo, 
Sonnenklarer Beriht u. ſ. f. S. W. I Abth. II Bo, 





801 


dialogifch gefehrieben und nennt feine Abfchnitte „Lehrſtunden“. 
Der Verſuch einer neuen Darftellung aus dem Jahre 1797 ift 
unvollendet (und bei dem erſten Gapitel flehen) geblieben, die 
Atheismuöftreitigkeiten kamen dazwifchen, und wir bürfen den 
fonnenklaren Bericht ald die Erneuerung und Vollendung jenes 
Verſuchs betrachten. Daraus erflärt ſich auch, warum wir erft 
bier von dieſer Schrift reden, warum fie von den gleichzeitigen 
„Einleitungen‘ *) in unferer Darftellung jo weit abfteht. Wäh: 
rend die Einleitungen gefchrieben find im unmittelbaren Rüdblid 
auf die Grundlage der gefammten Wiffenfchaftälehre, fo fteht der 
„Verſuch“ in einem genauen Zufammenhange mit der Grund: 
legung der Sittenlehre und erleuchtet wie diefe dad (im Weſen deö 
Ich enthaltene) Princip der abfoluten Identität als die Wurzel 
alles Bewußtſeins. 


I. 
Verſuch einer neuen Darftellung der 
Wiſſenſchaftslehre. 

Der Verſuch geht aus von der bekannteſten Thatſache, dem 
empiriſchen Bewußtſein, der Vorſtellung gegebener Objecte, 
um daraus das Princip der Wiſſenſchaftslehre einleuchtend zu 
machen. Wir ſtellen dieſes oder jenes Object vor, wir können 
ebenſo gut ein anderes vorſtellen; wir verhalten uns in dieſem 
Vorſtellen thätig, und es hängt von unſerer Willfür ab, worauf 
wir diefe Thätigkeit richten. Wir können ebenfo gut uns felbft 
zum Object nehmen, dann geht unfere Denkthätigkeit in fich felbft 
zurüd, wir handeln dann auf uns felbft. Durch eine folche 
Handlung fann nur eine einzige Vorftellung zu Stande fommen: 
die des Ich. Und die Vorftellung des Ich kann nur zu Stande 


*) Bergl oben Cap. II des vorigen Buchs. S. 461 flgd, 
Bilder, Geſciate der Philofopbic. V. 51 


802 


tommen, indem das Denken auf fich felbft geht, nur durch die: 
fen Act der Selbftfegung *). 

Das Ic, ift Bewußtfein des eigenen Denkens. In dieſer 
Vorſtellung find wir ſowohl dad denkende Subject ald dad gedachte 
Object. Nun muß doch, fo fagt man, dad Ich fein, um ben 
ten zu fönnen; eö muß fein, um gedacht zu werben: alfo muß 
auch ein Sein oder Dafein des Ich voraudgefegt werben ſowohl 

denm denkenden Subject ald dem gedachten Object. Aber dad Ich 
tommt nur zu Stande durch den Act der Selbſtſetzung (dad auf 
die eigene Thätigkeit gerichtete Denken). Was daher unferem 
Bewußtfein allein vorausgehen kann, ift nicht etwa ein Subftrat, 
fondern die Selbftfegung ohne deutliches Bemußtfein**). 

Ohne Ich ift demnach) Fein Bewußtfein, auch fein empiri⸗ 
ſches möglih. Die Grundfrage Heißt daher: wie ift dad Ich 
felbft möglich? Es ift nur dadurch möglich), daß das denkende 
Subject zugleich das gedachte Object iſt. Das Ich unterſcheidet 
fi) als denfendes von ſich ald gedachtem. Wie ift das Ich als 
denkendes Subject möglich? Wiederum dadurch, daß es fich 
als folches zum Object macht, und fo muß das Ich die Bebin- 
gung, unter ber eö fein eigenes Object wird, exft felbft zum Ob⸗ 
ject machen, und weil ſich dieſe Forderung in's Endloſe fortſetzt, 
fo kommt jene Bedingung, unter der dad Ich ſich objectio (alfo 
Ich) wird, niemals zu Stande: dad Ich und mit ihm dad Be: 
wußtfein ift unmöglid ***). 

Diefes im Ic) enthaltene Problem muß man ſich ganz deutlich 
machen, um feine &öfung zu begreifen. Hier ift der Punkt, in 
welchem jener „Verſuch einer neuen Darftellung” feine Bedeu: 

*) Verſuch u.f.f. I Cap. Nr. L 6, 521-523. 


**) Chenbafelbft. I. &.523—525. 
**) Ebendaſelbſt. Nr. IL. 1 u. 2, ©. 525—527. 


803 


tung hat. Das Ich ift die Thätigkeit des ſich (se) Vorſtellens. 
Wir unterfcheiden in diefem Act Subject und Object. Das Vor: 
ſtellende ift Ich, das Vorgeftellte ift auch Ih. Nun ift dad Ich 
= ſich Vorſtellen. Was alfo vorgeftellt werben fol, ift das ſich 
Vorftellen. Dieſes „fich” (das Ich als Object) ift immer wieder 
„ſich vorftellen”. Alſo wird vorgeftelt dad Vorſtellen des ſich 
Vorſtellens und ſo fort in's Endloſe: das Ich als Object oder 
als Vorgeſtelltes kann nie zu Stande kommen. Das Ich iſt das 
Vorſtellende. Es iſt nur Ich, indem es ſeine eigene Thätigkeit 
zum Object macht. Soll alſo dad Vorſtellende gleich Ich fein, 
fo muß es fein Vorftellen vorftellen und wiederum dad Vorftellen 
des Vorftellens vorſtellen und fo fort in's Enblofe: das Ich als 
Subject oder als Vorſtellendes kann nie zu Stande kommen, 
Es ift ald Subject und Object unmöglich, es Fann weder das eine 
noch das andere fein: es ift überhaupt unmöglich. 

Diefes hier von Fichte entwickelte Problem hat fpäter Herz 
bart in feine Metaphyfit aufgenommen und daraus (gegen Fichte) 
die Folgerung gezogen, daß überhaupt dad Ich ein unmöglicher 
Begriff fei, der, um denkbar zu werben, einer Berichtigung und 
neuen Bearbeitung bedürfe. 

Fichte macht den entgegengefegten Schluß. Das Ich ift ab» 
folut nothwendig. Das wirkliche Bewußtfein wäre unmöglich), 
wenn das Ich jene endlofe Reihe wäre. Dad Bewußtſein ift; 
daher Bann die Bedingung feiner Unmöglichkeit nicht fein; daher 
ift die Bedingung, unter welcher dad Ich in jene endlofe Reihe 
ſich auflöft, unmöglich. Und worin liegt diefe Bedingung? So 
lange Subject und Objert im Bewußtfein gefchieden werben, ift 
das Subject nicht ‚unmittelbar auch das Object, und dieſes nicht 
unmittelbar aud dad Subject; fo lange ift feines von beiden 
wirklich Ich; daher entfteht die endlofe Reihe, die dad Ich un— 

" 51° 


J 


804 

möglich macht. Aber dieſe Reihe (die Unmöglichkeit des Ich) iſt 
felbft unmöglid), wenn Subject und Object nicht gefchieden, fon= 
dern unmittelbar eines find, wenn dad Ich nicht bloßes Subject, 
fondern „Subject » Object”, die abfolute Ipentität oder Vereini— 
gung beider ift. Das Bewußtſein, in welchem die Scheidung 
von Subject und Object ftattfindet, ift vermittelt und begründet. 
Das Bewußtfein, in welchem diefe Scheidung nicht flattfindet, 
ift urfprünglich und unmittelbar. Das unmittelbare Bewußtfein 
ift Anſchauung, das urfprüngliche ift Selbſtſetzung. Mithin ift 
die Identität von Subject und Object die Selbftanfhauung (in 
tellectuelle Anfhauung), das Selbftbewußtfein oder „bie Ich 
heit”. „Das Selbftbewußtfein ift unmittelbar, in ihm ift Sub: 
jectives und Objectives ungertrennlich vereinigt und abfolut Eines.” 
„Alles mögliche Bewußtfein ſetzt ein unmittelbares Bewußtfein, 
in welchem Subjectived und Objectived fchlechthin Eines find, 
voraus; außerdem ift dad Bewußtſein fchlechthin unbegreiflich ).“ 

Soll das Ic wirklich Princip und Grund fein alles Be: 
wußtſeins, fo darf in ihm Sein und Thätigkeit (fich fegen), 
Object und Subject in feiner Weife getrennt, fondern beide müf- 
fen als abfolut identiſch gefaßt werben: diefe Ipentität gilt als 
der Angelpunft des ganzen Syſtems. 


II. 
Der fonnentlare Beridt. 

In dem „fonnenflaren Bericht” fol der Begriff der Wiffen- 
ſchaftslehre fo deutlich ‚gemacht werden, daß er jedem, auch dem 
Uneingeweihten, einleuchtet. Eine ähnliche Abficht hatte die „erfte 

*) Ebendaſelbſt. Nr. II. 3. S. 527 — 530. Vergl. damit bie 
„zweite Einleitung“ in die Wiſſenſchaftslehre. S. oben III Bud. Cap. 
I. Mr. II.1, 6, 474— 478, | 





805 


Einleitung”. Es handelt fich nicht um die innere Entwidlung 
des Syſtems, fondern um deffen Aufgabe und Princip. Was 
die Faſſung der Aufgabe betrifft, fo finden wir den fonnenklaren 
Bericht genau fo geftimmt, als die Erläuterungen, die Fichte 
kurz vorher im Rückblick auf feinen religionsphilofophifchen Stand» 
punkt gegeben hatte; was das Princip betrifft, fo ift feine Faſ⸗ 
fung vollkommen diefelbe ald in dem ‚Verſuch einer neuen Dar: 
ſtellung der Wiffenfchaftölehre”. Die Schrift liegt mithin ganz 
in der und befannten Richtung. 


1. Leben und Wirklichkeit. 

Die Wiſſenſchaftslehre verhält fich in ihrem Denken nicht er⸗ 
ſchaffend, fondern bloß erflärend. Ueberhaupt kann das Denken 
nicht ſchaffen: eine folhe Einbildung machte den Grundirrthum 
und die Selbfttäufhung der früheren Metaphyſik. Was die Wif: 
ſenſchaftslehre erklären will, ift die Wirklichkeit, die und gegebene, 
die für unfer Bemußtfein und in demfelben vorhandene, in welcher 
Ding und Bewußtfein unmittelbar beifammen find: das Object 
der Wiffenfchaftölehre ift das wirkliche Bewußtſein oder die un: 
mittelbare Erfahrung. Diefe fol erklärt werden. Darum allein 
handelt es fi. Je weniger wir auf unfere eigene Thätigfeit re⸗ 
flectiren, um fo mehr gehen wir reflerionslos in das Object auf, 
um fo mehr find wir darin begriffen, vertieft, in die Sache ver: 
ſenkt, die und eben darum als die volle Wirklichkeit erfcheint. 
Je mehr wir und felbft (in der Sache) vergeflen, um fo 
realer ift das Object; um fo lebensvoller unfer eigenes Dafein. 
Aufgehen in dad Object heißt „Leben; Nichtreflectiren auf bie 
eigene Thätigkeit heißt aufgehen in das Dbjed. Daher ift die 
Selbftvergeffenheit das Kriterium, welches Wirflichfeit und Nicht 
Wirklichkeit, Leben und Reflerion fcheidet. Demnach gelten hier 


806 
im Sinne Fichte’ folgende Begriffe für gleichbedeutend: Wirk: 
lichkeit, Realität, eben, gemeined Bewußtſein, unmittelbare 
Erfahrung”). 


2. Die Potenzen des wirkliden Bemußtfeins. 

Das Leben oder dad lebendige wirkliche Bewußtfein befteht 
in einer Mannigfaltigkeit von Beſtimmungen, die nothwendig 
mit einander verknüpft find. Diefer Zufammenhang macht das 
„Syſtem“ des Lebens, das, wie jedes Syſtem, von gemiffen 
Grundbeftimmungen abhängt. Diefe Beftimmungen werden nicht 
Fünftlich gemacht, fie find; fie werden auch nicht geändert, fie 
find nothwendig: wir können nichts ald vermöge des benfen= 
den Bewußtfeind darauf reflectiren; die Reflerion kann nur zer 
legen und begreiflich machen [„repräfentiren”), was fie ald Wirk: 
lichkeit vorfindet. 

Wir leben; wir reflectiren auf unfer Leben und erheben uns 
dadurch auf eine höhere Lebenöftufe; wir reflectiren auf diefe un= 
fere Reflerion und erheben uns dadurch auf die höchfte. Diefe 
Stufen nennt Fichte hier „Potenzen”. Das Leben im eigentlichen 
Verftande macht „das Syſtem der erften Potenz”, die Reflerion 
macht die höheren Potenzen, die ald Reflerionsproducte zugleich 
Producte der Freiheit find. Die Reflerion ift frei, fie kann ſich 
über jede Stufe erheben und alfo in's Endlofe aufwärts fteigen. 
Hier giebt es für die Willkür feine legte Grenze, dagegen giebt es 
eine folche legte Grenze in der Richtung nach unten. Wir Fön: 
nen nicht tiefer hinabfteigen als bis zum Leben im Sinne ber 
Realität. Dieſes Leben der erften Potenz, dad wir Realität, 
Thatfache des Bewußtfeind, Erfahrung nennen, ift für (alle 

*) Sonnenflarer Bericht u. ſ. f. Einleitung. I Lehrſtunde. S. W. 
JAbth. II Bd. S.320 - 345. 





807 


Reflerion) die fefte Grundlage, „der Fuß und die Wurzel alles 
Lebens”. Wir leben: das ift dad Erſte. Wir wiffen von und 
als Lebendigen : das ift das Zweite. Wir wiſſen von uns als 
Wiſſenden, d. h. wir erheben und auf den Standpunkt der (in: 
tellectuellen) Selbftanfhauung: das ift das Dritte und Höchſte ). 


3. Die Wiffenfhaftslehre ala Abbildung des 

wirfligden Bewußtſeins. 

Was wir auf der erften Stufe find ohne es zu wiſſen, das 
find wir auf der höchften Stufe mit Bewußtfein. Alfo ift Mar, 
wie ſich die höchfte Stufe zur unterften verhält: wir find auf beiden 
daffelbe, nur daß wir auf der höchſten Stufe, was wir find, 
zugleich durchſchauen. Die erfte Stufe ift das lebendige wirkliche 
Bewußtſein; die höchfte Stufe ift die Erfenntniß der erften, das 
Wiſſen, defjen Gegenftand das wirkliche Bemußtfein (Erfahrung) 
ift, die Wiffenfchaft vom wirklichen Bewußtfein: Wiſſenſchafts- 
lehre. Es iſt alfo Elar, wie ſich die Wiſſenſchaftslehre zum wirk⸗ 
lichen Bewußtſein und damit zur Wirklichkeit ſelbſt verhält. 

Das wirkliche Bewußtfein bildet ein Syftem, das von ge: 
wiffen Grundbeftimmungen abhängt. Diefe Beftimmungen liegen 
dem Bemußtfein jebed vernünftigen Weſens zu Grunde, nicht 
bloß dem menfchlihen, noch weniger bloß dem individuellen; fie 
find das Urfprüngliche in allem Bewußtfein, das kantiſche Apriori. 
Die Erkenntniß diefer Grundbeftimmungen ift die Aufgabe der 
Wiſſenſchaftslehre. Seben wir nun, daß diefe Beflimmungen 
felbft einen foftematifchen Zufammenhang haben, fo ift die Auf: 
gabe der Wiffenfchaftölehre deren vollftändige fuftematifche Ab⸗ 
leitung; fo ift die Wiſſenſchaftslehre felbft, wenn fie ihre Aufgabe 
löft, „ein Abbild und Verzeihnig jener Grundbeſtimmungen“, 

*) Ghenbafelbft, I Lehrftunde. ©. 344—346. 


808 


„Die getroffene und volftändige Abbilbung des ganzen Grund: 
bewußtfeind” ; fie ift dad Syſtem der erften Potenz, in's Be: 
wußtſein erhoben, fie ift nichts andered und will nichts andered 
fein. Sie verhält ſich demnach zum wirklichen Bemußtfein, wie 
bie Demonftration eines Uhrwerks zur wirklichen Uhr, und ed kann 
ihr fo wenig einfallen, ſich an die Stelle des wirklichen Bewußt- 
ſeins zu fegen, ald fie im Sinne hat, die Demonftration eines 
Uhrwerks, die Erklärung feines Mechanismus, für die wirkliche 
Uhr auszugeben. &o denkt nicht die Wiſſenſchaftslehre, fo ur= 
theilen über fie alle Gegner, die in dem gegebenen Falle die De: 
monftration der Uhr von der wirklichen Uhr in der That nicht zu 
unterfcheiden vermögen *). 

Die Differenzpunkte find in einer treffenden Vergleihung 
eben fo lehrreich als die Vergleichungspunkte. Die Wiſſenſchafts- 
lehre verhält fi zum wirklichen Bewußtfein nicht, wie ber 
Uhrmacher zur Uhr oder der Künftler zu feinem Werk. Der 
Künftler erfindet, dad Werk zu einem vorher beftimmten Zweck 
nach gewiſſen Gefegen. Die Wiſſenſchaftslehre macht dad Be— 
wußtſein nicht, fie erfindet es nicht, es iſt; fie verhält fich zu 
dem wirklichen Bewußtſein nacherfindend und nacherzeugend, fie 
läßt das Bewußtſein ſich felbft erzeugen und entwickeln von ſei⸗ 
nem verborgenen Urfprunge an bis zu dem Maren und vollftäns 
digen Selbftbewußtfein, dad zufammenfällt mit unferer gemeinen 
Erfahrung, diefer befannteften aller Thatfachen. Es handelt ſich 
nur darum, daß die Wiffenfchaftölehre wirklich jenen verborge: 
nen Punkt, die Quelle und den Urfprung trifft, von dem aus 
ſich die Grundzüge des Bewußtſeins dentwickeln. Die Entwid- 
lung macht ſich von felbft, fobald die Duelle entdedt ift. Nun 


*) Ebendaſelbſt. II Lehrftunde. S. 346 — 56. Vgl. V Lehrft. 
©. 394. 


809 


erfcheint diefe Entdeckung zunächft wie ein „glüdlicher. Einfall“, 
wie ein geniales „Errathen”, wie ein bloßer Verſuch, von dem 
es ungewiß ift, ob er fich beftätigt, ob er die Probe befteht. Aber 
wenn er bie Probe befteht, fo ift es auch vollfommen gewiß, daß 
die Sache an ber richtigen Stelle ergriffen wurde. Wenn von 
dem Punkte aus, den und ein Zufall in unbekannter Gegend 
auffinden ließ, der Fluß beginnt und fortfließt bis er in das 
Meer einmündet, fo ift keine Frage, daß jener Punkt die Quelle 
des Stromes war. So trägt die Wiffenfchaftslehre in ihrer eiges 
nen Unterfuchung die Probe ihres Grundgedanfens. Wenn von 
hier aus eine Entwidlung beginnt, die als nothwendiges Reful: 
tat das wirkliche Bewußtfein ergiebt, fo gilt jener Grundgedanke 
mit Recht ald das Princip des Bewußtſeins. Diefes Prinäip, 
welched die Unterfcheidung des Subjectiven und Objectiven und 
damit das thatjächliche Bemußtfein ermöglicht , ift jene Identität 
des Subjectiven und Objectiven (dad Subject:Object, das reine Ich 
oder die Ichheit), deren Bedeutung Fichte ſchon inder Grundlegung 
der Sittenlehre erleuchtet, in dem Verſuch einer neuen Darftel- 
lung der Wiffenfchaftölchre aus der Unmöglicykeit des Gegentheils 
bewiefen hatte, umd die er hier in dem fonnenklaren Bericht 
„dad Unbedingte und Charakteriftifche des Selbſtbewußtſeins“ 
nennt*). 

Aus diefer Grundanſchauung entwideln ſich eine Reihe noth- 
wendiger Handlungen, die dad unmittelbare wirkliche Bewußt⸗ 
fein zur Folge haben. Die Wiffenfchaftslehre ift die Conftruction 
diefer Reihe. Kein Glied diefer Reihe ift ohne das andere, Feind 
ann ohne das andere gefaßt werden”). Was in Wirklichkeit 
eriftirt, ift dad Ganze, der Zufammenhang aller Glieder, in 

*) Ebendaſelbſt. III Lehrſtd. S. 356—380. Bel. S. 362. 63. 

*) Ghenbafelbft. VI Lehrſid. S. 380—394, 


810 


welchem das lebendige Bewußtſein befteht; was die Wiflenfchaftd: 
lehre giebt, ift die methodifche Entwicklung der Reihe Glied für 
Glied. Hier ſieht man deutlich, wie die Wiſſenſchaftslehre mit 
dem wirklichen Bewußtfein übereinftimmt und wie fie von dem⸗ 
felben ſich unterfcheidet. Sie will das getroffene und vollftän: 
dige Abbild des wirklichen Bewußtſeins enthalten: dad ift bie 
Uebereinftimmung beider. Aber dad wirkliche Bewußtfein ift auf 
einmal, gleihfam mit einem Schlage, was bie Wiffenfchafts: 
lehre in einer Reihenfolge entwidelt; fie verfährt in dem Segen 
der einzelnen Beftimmungen methodiſch, während ſich biefe in 
dem wirklichen Bewußtfein unmethodifh und unkritiſch alle bei: 
fammen finden : das ift die Differenz beider. Die Wiſſenſchafts⸗ 
lehre verhält ſich demnach zum wirklichen Bewußtfein, wie die 
Kosmogonie ſich verhalten will zum Univerfum, wie die Mathe: 
matik fi in der That verhält zu unferer finnlihen Größenan: 
ſchauung, wie 5. B. dad Maß der Linie fi verhält zur wirt: 
lichen Linie: fie ift, um den Hauptgedanken der fichte’fchen Schrift 
in aller Kürze zu geben, die Mathematik des wirklichen Bewußt⸗ 
feind. Daher ift fie ihrer Abficht und Leiftung nach dem gewöhn⸗ 
lichen Bewußtfein fo wenig entfremdet, daß fie vielmehr eine 
für den gemeinen Menfchenverftand wohlwollend gefinnte und 
die Rechte beffelben fichernde Phitofophie, und jede andere, die 
ihr in dieſer Abficht zuwider ift, eine Gegnerin des gemeinen 
Verftandes ift*).” 

Dad gewöhnliche Bewußtſein handelt nach nothwenbigen 
Geſetzen, es kennt dieſe Geſetze (d. h. fich felbft) nicht; es weiß 
nicht, was es thut. Wiſſen, was man thut, iſt eine nothwen⸗ 
dige Aufgabe aller bewußten Weſen. So lange dieſe Aufgabe 


*) Ebendaſelbſt. V Lehrſt. S. 394 — 402. S. 395. 


811 


nicht gelöft ift, find wir preiögegeben dem. Spiele des Zufalls 
und der Herrfchaft des Schickſals. Diefe Aufgabe Löft die Wil 
ſenſchaftslehre. Das ift ihre ganze Bedeutung. Sie ift darum 
nicht bloß das höchfte wiſſenſchaftliche Uebungsmittel zur Stärz 
tung des Geiftes und zur Selbftändigkeit des Charakters, fon 
bern auch das befte Erziehungsmittel zur Lebensweisheit; „durch 
fie wird dad Menfchengefchlecht von dem blinden Zufalle erlöft 
und dad Schidfal wird für daffelbe vernichtet *).” 


4. Die Gegner der Wiffenfhaftslchre. 

Aus diefem Begriff der Wiſſenſchaftslehre folgt nun von 
felbft, welche Gegner fie hat und behält. Alle, die nicht ein 
fehen, daß es ſich in der Wiffenfchaftölehre keineswegs um etwas 
dem gewöhnlichen Bewußtfein abfolut Neues und Fremdes, kei⸗ 
neöwegd um ein anderes Bewußtſein, fondern lediglich um 
bie Einficht in das gegebene, wirkliche Bewußtfein handelt: um 
das Wiſſen des eigenen nothwendigen Thuns, um dad Wiffen 
vom Wiffen. Sie kennen und empfinden die Aufgabe der Wif- 
ſenſchaft nicht, darum verftehen fie nicht die der Wiffenfchafts: 
lehre. „Ihr habt,” fo wendet ſich Fichte unmittelbar an diefe 
Gegner, „in eurem Leben nicht gewußt, und wißt daher gar 
nicht, wie Einem zu Muthe if, der da weiß.” Es ift ihnen nicht 
um „bad Innere eines Wiffend, dasjenige, auf welchem allein es 
beruht, daß ein Wiffen, eine Ueberzeugung , eine Unerfchltter- 
lichkeit des Bewußtſeins flattfindet”, fondern lediglich um bie 
äußere Oberfläche des Wiffens, um ben bloß „hiftorifchen Glau— 
ben” zu thun, der ſtückweiſe die tobten Reſte des Wiſſens ein- 
ſammelt. So haben fie auch die Wiſſenſchaftslehre beurtheilt 





*) Ghendafelbt. VI Lehrt. ©. 403 — 410. 


812 


als „einen Broden aus dem kantiſchen Strome, oder aus dem 
Strome des empiriſchen Lebens“, als eine Art Pfychologie ; fie 
haben dabei „jeden Biſſen“ der Wiffenfhaftslehre für das Ganze 
genommen und nun über die unverftändliche Sprache, die Wider: 
fprüche, die paradoren Säge nicht genug klagen Fönnen. 

Wer eine Sache nicht verfteht, handelt rechtfchaffen, wenn 
er fie aufgiebt und fich nicht weiter darum fümmert. Die Philo- 
ſophie ift durch die Wiſſenſchaftslehre fo weit gebiehen, dag 
feiner, dem dieſe ein verfchloffenes Buch bleibt, in jener etwas 
auszurichten vermag. Daher follten die Gegner der Wiffenfchafts- 
lehre unter den Schulphilofophen ihr Unvermögen richtig erwägen 
und aufhören, die Philofophie als Geſchäft zu treiben. Das 
Beifpiel des hallifchen Jacob, der angefangen hat, ſich mit Na= 
tionalöfonomie abzugeben, ift achtungswerth und nachahmungs- 
würdig; „die Abicht, Buhle, Bouterweck, Heufinger, Heyden⸗ 
reich, Snel, Ehrhard Schmid” mögen es beherzigen. Es giebt 
in der Welt noch andere nügliche Gefchäfte, als da find „Bril- 
Ienfchleifen, Forftverwaltung, Landrecht, Verömacherei, Roman- 
fehriftftellerei, geheime Polizei, Viehzucht u. f. f.*)" 


5. Fichte und Nikolai, 

Dem gelehrten Unverftande bleibt die Wiffenfchaftslehre ver: 
ſchloſſen, nicht dem gemeinen Verſtande, fobald diefer wiflen- 
ſchaftlich über fich felbft nachdenkt. Wenn ihm das Bedürfniß 
und bie Fähigkeit zu einer folchen wiffenfchaftlichen Selbſterkennt⸗ 
niß abgeht, fo wird der gemeine Verftand zum platten, ber, 
unfähig in die Ziefe zu bliden, an der Oberfläche der Dinge 
haftet und nun die oberflächlichfte Vorftellungsweife für die voll- 


*) Ebendaſelbſt. Nachſchrift an die Philoſophen von Profeſſion, 
bie bisher Gegner der Wiſſenſchaftslehre geweſen. ©. 410— 420. ©, 419. 





813 


fommenfte und ſich felbft für den Inbegriff aler Weisheit hält. 
Diefe Einbildung feiner Vollkommenheit hält gleichen Schritt 
mit der Unfähigkeit fich felbft zu begreifen; wo diefe ihren Cul⸗ 
minationspunkt erreicht, zeigt fich auch jene auf ihrem. Gipfel; 
dann wird die Einbildung der eigenen Vortrefflichfeit zum einge: 
wurzelten Grundſatz, wonach der platte Verftand alles beurtheilt, 
nur daß bei feiner gänzlichen Unfähigkeit zur Selbfterfenntniß ihm 
diefer Grundfas nie zum Bewußtfein fommt; er hat ihn und 
handelt ſtets danach, ohne zu glauben, daß er ihn hat. Im Ger 
gentheil er hält fich für ein Mufter nicht bloß der Weiöheit, fon 
tern zugleich der Befcheidenheit ; und da jener Grundfag nur der 
Selbſterkenntniß weichen kann, fo bleibt er auf dem Gipfel des 
platten Verſtandes unabänderlich ſtehen, und man kann daraus 
den ganzen Charakter des letzteren ableiten in allen feinen Aeuße— 
tungöweifen. Den Typus diefes platten Verftandes in aller fei- 
ner Hohlheit und Selbftgefälligkeit ſieht Fichte vor fich in Fried» 
rich Nikolai, dem Altmeifter der deutfchen Aufflärerei. Uns 
ter den Gegnern der Wiffenfchaftölehre gab es keinen, der platter, 
zu ihrem Verſtändniß unfähiger, im ber Art fie zu beurtheilen 
unwiffender, geiſtloſer, dreifter gewefen wäre, als dieſer Fried- 
rich Nikolai. Die ordinärften Einwände auf flacher Hand brachte 
er in der Form elender Späße und mit dem Anfpruche vor, die 
Sache damit gerichtet und für immer abgeurtheilt zu haben *). 
Aehnlich war er ſchon mit Kant, Goethe, Schiller umgegangen. 


*) Dos Ih will alles in ſich begreifen, alſo, ſchließt Nikolai, 
unter anderem auch die wilde Schweinäteul. Wenn nun der Philoſoph 
die wilde Schweinsfeule verzehrt, jo ißt er ſich jelbjt! Das nennt Nikolai 
Fichte ad absurdum führen, Und fo, wie Nikolai, urtheilen noch heute 
manche unferer Philoſophen von Profeffion, bie ich zu nennen wüßte, 
wenn etwas baran läge. 


816 


dieſes Zeitalterd kommt, jede ächte Erhebung des Menfchen in 
Religion, Kunft, Philofophie und damit auch den Geift der 
Wiſſenſchaftslehre zu faſſen; hier findet Fichte feinen verächtlich- 
ften und wegen der niedrigen Denkweiſe hartnädigften Gegner. 
Wenn er in feiner „Appellation“ von ächten Atheiften gerebet habe, 
fo habe er ganz eigentlich Nikolai gemeint und die, welche ihm 
gleihen*). 





*) Ebendaſelbſt. Cap. XII. ©. 59. V Beilage gum IX Capi- 
tel) ©. 88, 


Zweites Kapitel. 


Die Seftimmung des Menſchen: I. das Problem. 
Zweifel und Wifen. 


I 
Aufgabe und Charakter der Schrift. 

Der Begriff der Wiffenfchaftölehre umfaßt ein Syftem, das 
vom theoretifchen Ich zum praftifchen (moraliſchen) und von dies 
fem zum religiöfen ober, Furzgefaßt, (in der Betrachtung des Ich) 
vom Wiffen zum Glauben fortfchreitet. Der Rückblick auf 
die Wiffenfchaftölehre fol fich auf die Entwidlung des Syſtems 
in feinem ganzen Umfange erſtrecken. Diefe Forderung erfüllt 
Fichte in feiner „Beflimmung des Menfchen”: die Schrift giebt 
einen umfaflenden Blick auf dad ganze Syſtem und enthält zus 
gleich) eine weitere Entwidlung der Glaubenötheorie, in welcher 
letzteren Rückſicht Fichte felbft gerade auf diefe Unterfuchung Hin: * 
weiſt ). 

Dadurch iſt der (ihrem Zeitpunkt entſprechende) Charakter 
der Schrift beſtimmt. Sie bildet das nächſte Glied in der Fort: 
fegung der religionsphilofophifchen Unterfuchungen ; fie gehört zus 
gleich in die Gruppe jener zufammenfaflenden Schriften, welche 

*) Die Beitimmung des Menſchen. Berlin 1800. S. W. IAbth. 


U Bd. Vgl, oben Schluß des vorigen Buchs, ©. 794. 
Fifher, Gefhihte der Phlofophie. V, 52 


818 


die Summe bed ganzen Syſtems enthalten; fie ift in dieſer Gruppe 
die wichtigfte und darum unter allen Schriften des Philofophen 
eine ber lehrreichften und didaktiſch beften. Sie theilt mit dem 
Verfuch einer neuen Darftellung der Wiſſenſchaftslehre, der ihr 
vorauögeht, und mit dem fonnenklaren Bericht, der ihr nachfolgt, 
die eroterifche Abficht und die Eatechetifche Form. Das erfte 
Buch, ift in der Weife eines Selbftgefprächs gefchrieben und er= 
innert feiner ganzen Natur nach lebhaft an die Meditationen Des⸗ 
cartes', das zweite ift dialogiſch, in ähnlicher Weife ald der fonnen- 
Mare Bericht. In feiner Charakteriftit der beiden Grundſyſteme 
des menfchlihen Denkens erinnert das erfle Buch an den Ge: 
dankengang ber erften Einleitung in die Wiffenfchaftölehre, welche 
jene Syſteme ald Dogmatismus und Idealismus einander entge= 
gengefest hatte. 

Die Grunblegung der Sittenlehre, der Verſuch einer neuen 
Darftellung der Wiffenfchaftslehre, der fonnenklare Bericht fommen 
darin überein, daß in dieabfolute Identität des Subjectiven und 
Objectiven dad Weſen des Ich und das Princip alles Bewußt⸗ 
feind gefegt werden müſſe. Was diefe Identität bedeutet, ift 
nirgends lichtvoller entwidelt ald in dem zweiten Buch der Be— 
flimmung des Menfchen. Hier ift das Jdentitätöprincip, das 
ſchon in der ganzen Anlage der Wiffenfchaftölehre feftfteht, nicht 
bloß formulirt, fondern die Formel ift ausgerechnet. Darin liegt 
eines ber größten eigenthümlichen Werdienfte diefer Schrift, die 
übrigens in der Art und Weife, wie fie jene Ipentität dem Be: 
wußtfein zu Grunde legt, ganz in den und befannten Ideengang 
der Sittenlehre eingeht. 

Die Frage nach der Beftimmung ded Menfchen fällt zufam- 
men mit der Frage nach unferem Weſen, unferem wahren Sein, 
unferer Realität. Die Frage nach dem Realen in und erweitert 


819 


fich zu der Frage nad) dem Realen überhaupt. Was ift dad wahr- 
haft Reale? Wie allein können wir es erfaffen? Das Problem, 
womit die neuere Philofophie begann, die alte cartefianifche Frage: 
„was bin ich?“ bildet das Grundthema der fichte ſchen Schrift. 
Ich will wiffen, was ich bin, nicht auf Grund fremder Anfich: 
ten, fondern durch eigenes Nachdenken. Ich will es felbft er: 
forſchen durch eine vorurtheilöfreie, forgfältige, firenge Unter 
ſuchung. 


U. 
Der Standpunkt des Zweifel. 


1. Das Syſtem der Ratur. 

Die nachſte Richtſchnur zur Löſung diefer Frage bietet und 
die unmittelbare Erfahrung, vermöge deren wir Dinge außer 
uns, eine Welt, und felbft ald einen Theil der Welt vorftellen. 
Bon diefer Erfahrung gehen wir aus und ergänzen fie durch noth⸗ 
wendige Schlüffe zu einem Syſtem. Wir find Dinge im Zuſam⸗ 
menhang der Dinge. Wir verftehen dad eigene Wefen um fo 
beffer, je gründlicher wir die Natur der Dinge einfehen. Alfo 
die erfte Auflöfung unferer Frage gefchieht aus dem Begriff der 
Natur ober des Univerfumd, wie wir diefen Begriff zu benfen 
durch die Thatfachen der Erfahrung felbft genöthigt find. 

Wir finden und unter Objecten, deren jedes nad) feinen Ei: 
genfchaften und nach dem Grade derfelben durchgängig beftimmt 
ift als diefe einzelne Erfcheinung; jede diefer Erſcheinungen ift 
der Verwandlung und dem Wechfel unterworfen, fie ift entftans 
den, alfo geworden, alfo verurfacht; die ganze Natur lebt in eis 
nem beftändigen Wechfel ihrer Erfcheinungen, diefer Wechſel ger 
ſchieht durchgängig nach dem Gefege der Caufalität und bildet 
daher eine in's Endlofe laufende Kette von Urfache und Wirkung. 

52* 


820 


Jede Urfache ift Kraft, jede (durchgängig beftimmte) Erſcheinung 
ift hervorgebracht durch ihre eigene Kraft, die aber nur wirken 
Fann im Zufammenhange mit’allen übrigen. So ift die Natur 
ein ſtreng gefegliches Syſtem wirffamer Kräfte, ein fireng geſetz 
licher Zufammenhang von Erfcheinungen, indem auch nicht das 
Kleinfte geändert werden Fann, ohne das Ganze zu ändern. 

Jede Erfcheinung ift eine (vorübergehende) Aeußerung noth: 
wendig wirkender Naturfräfte. Eine ſolche Naturerfcheinung ift 
auch der Menfch, er ift eine denfende Natur; in ihm wirken bie 
bildende, organifirende, denkende Naturkraft harmonifch zuſam 
men; er ift nicht bloß, wie die rohe Materie, fondern er ift le 
bendig; er lebt nicht bloß, wie die Pflanze, fondern ift zugleich 
ein fich frei bewegender lebendiger Körper; er hat nicht bloß 
Selbftbewegung, wie das Thier, fondern er denkt: er ift und 
weiß, daß eriftz in ihm kommt die Natur zum Bewußtfein und 
verdoppelt dadurch ihr eigenes Sein. Der Menfc weiß fein er 
gened Dafein, er weiß ſich ald ein befonderes, beſchränktes Na: 
turwefen. Das Befchränkte ift die nothwenbige Folge eines Be: 
ſchränkenden; es ift ein Begründeted und fordert nothwendig eis 
nen Grund, es ift ein Beſonderes und fordert notwendig ein All: 
gemeined. Das Allgemeine verhält fi zum Beſonderen ald 
Grund zur Folge. Der Sat des Grunde macht daher den Weber: 
gang von dem Befonderen zum Allgemeinen: dieſen Uebergang 
macht das menfchliche Bewußtfein und muß ihn machen, indem 
es vom Standpunkte feines befchränkten Dafeins oder feiner Ins 
dividualität aus die Welt betrachtet. Jeder erkennt ſich als ein 
beftimmtes Product nothwendig wirkender Naturfräfte, 

Diefe Kräfte wirken in uns; fie find unfere eigenen Kräfte. 
Wir haben ein unmittelbares Bewußtfein unferes Seins, un 
ferer Kraft, unferer Wirkſamkeit. Diefe unfere Wirkfamkeit, 





821 


fofern wir derfelben unmittelbar bewußt find, heißt Wille; jede 
Wirkſamkeit fest ein Streben voraus, das Bewußtfein unferes’ 
Strebens heißt Begierde oder Neigung; unfere Kräfte find ver: 
ſchiedene und können gegeneinander ftreben, fo daß Feine zur ent⸗ 
ſchiedenen Wirkſamkeit kommt, das giebt die Unentfchloffenheit 
des Willend; eine Kraft fiegt über die andere, dad macht den 
Willensentfchluß ; alle unfere Kräfte ſtreben (nicht gegen einander, 
fondern) harmoniſch, fo entfteht die Willensrichtung, die wir 
fittlich nennen, der tugendhafte Wille; die niedere Kraft fiegt 
über die höhere, fo entfteht in uns ein Gefühl der Niederlage, 
das wir ald Reue bezeichnen; dad Streben unferer ganzen Na: 
tur im Einklang ihrer Kräfte, diefe „fittlihe Willensrichtung” 
bildet unferen Grundtrieb, und das Bewußtſein diefed Grund: 
triebe3 nennen wir „Gewiſſen“. So erflärt dad Naturfyftem 
auch die fittliche Welt oder ſcheint diefelbe zu erklären *). 


2. Die Verneinung der Freiheit ald Folge des 
Naturſyſtems. 

Was auch geſchieht, geſchieht nothwendig nach dem Natur⸗ 
geſetz. Unter dieſem Geſichtspunkt iſt das ſittliche Handeln eben⸗ 
falls eine naturnothwendige Aeußerung. Darum giebt es hier 
keine Unabhangigkeit und Freiheit des Willens. Wir können von 
ſittlichen und unſittlichen, edlen und unedlen Naturen, von Reue 
und Gewiſſen, aber nicht von Verſchuldung und Zurechnung 
reden. Der Wille handelt, wie er unter den gegebenen Bedin— 
gungen ber in uns wirffamen Kräfte handeln muß. Möglich, 
daß diefe Kräfte ungehindert fich entfalten; möglich, daß fie durch 
entgegenwirfende Kräfte eingeſchrankt und gehemmt, möglich auch, 


*) Die Beftimmung des Menſchen. Erſtes Buch, Zweifel, S. 169 
—189. 


822 


daß fie durch deren größere Gemalt überwunden und unthätig 
gemacht werden. Im erften Fall ift der Zuſtand unferer Kräfte 
frei, im zweiten gehemmt, im britten gezwungen. Es giebt 
eine Freiheit bed Könnend, nicht des Wollend. Und da unfere 
Kraft ſtets befchränkt ift durch das Map ber Individualität, fo 
giebt es Feine unbedingte Freiheit des Könnens, alfo überhaupt 
feine unbedingte Freiheit. Unfere Kraft ift felbft nur eine Aeuße— 
tung ber Naturkraft, Feine freie, fondern eine durch den Weltzus 
fammenhang volltommen bedingte Aeußerung derfelben. Wir find, 
was wir find. An diefem unferem durch das Naturgefeg beftimm- 
ten Sein können wir nicht ändern. Es ift fchlechterdings un: 
möglich, daß unfer eigenes Selbft etwas anderes iſt oder aus fich 
macht, ald ed von Natur ift. Unter diefem Geſichtspunkte giebt 
es eigentlich feine Beftimmung, fondern nur eine Beftimmtheit 
des Menfchen. 


3. Die Forderung der Freiheit. 

Wir haben aus der Natur der Dinge unfer eigenes Wefen 
begriffen. Diefes Naturfoftem befriedigt unferen Berftand, denn 
es befteht in einer wohlgeorbneten Kette bindiger Schlüffe, die 
auögehen von der Thatfache der Erfahrung. Doch ift etwas in 
uns, dad diefem Syſteme widerſtreitet und fich gegen die noth— 
wendigen Folgerungen deffelben unwillkürlich fträubt: gegen die 
Eonfequenz, die unfer Wefen für die Yeußerung einer fremden 
Kraft, für deren bedingte Yeußerung und unfere Willensfreiheit 
demnach für nichtig erklärt, woraus von felbft die Unmöglichkeit 
folgt, und zu ändern*). 

Was wir diefem Syſtem entgegenfegen, ift zunächſt eine auf 
das bloße Gefühl von und felbft gegründete Forderung: wir wol: 

*) Ebendaſelbſt. I Bud, S. 189— 191. 


823 


len nicht bloß Naturproducte, fondern felbftändige, freie Wefen 
fein, die den letzten Grund ihrer Beftimmungen in fich felbft 
tragen, die ſich felbft beftimmen und zu dem machen, was fie 
werben. Alle gewordene Sein ift eine Folge, die einen Grund 
vorausfegt. Wir müffen und daher, um jener Forderung ent 
fprechen zu fönnen, zwei Arten des Seins zufchreiben, von be 
nen das erfte den alleinigen Grund des zweiten ausmacht, bie 
fi) zu einander verhalten, wie dad Vorbild zum Nachbilde, 
Wenn wir mit voller Freiheit aus und felbft ein Vorbild machen und 
dieſes Vorbild in unferem wirklichen Dafein ausführen, fo wäre 
die Forderung erfüllt, bie fih gegen das Syſtem ber bloßen Na: 
turnothwendigkeit erhebt. Jenes Vorbild ift der frei entwörfene 
Zweck, alfo der Zwedbegriff, den die Intelligenz macht. Wenn 
wir unfer Sein durch unfer Denken beſtimmen und unfer Denken 
fich felbft beftimmt, fo find wir frei im geforderten Sinne des 
Wortes*), 


4. Die entgegengefehten Syſteme der Natur 
und Freiheit. 
Der Zieifel. 

Set ftehen zwei Syſteme einander gegenüber und wir haben 
die Wahl zwifchen beiden: auf der einen Seite das Syſtem bes 
Weltganzen, in welchem wir felbft bloße Naturerfcheinung, un: 
fere Intelligenz bloße Naturäußerung ift, unfer Denken bloß dad 
Zufehen hat, unfere Erfenntniß lediglich ein Abbild des Univer— 
fums ift nach der Richtſchnur und auf Grund der Erfahrung; 
auf der andern Seite ein Syftem unferer Freiheit aus dem Stand: 
punkte deö unmittelbaren Selbftbewußtfeins, in welchem wir un: 


*) Ebendaſelbſt. J Bud. S.191— 195, 


324 


fer eigenes Vorbild find, dieſes Vorbild Fraft umferer Intelligenz, 
felbft hervorbringen, Eraft unieres Willens felbft verwirklichen. 

Das Naturigftem muß das Zreibeitfgftem im Princip und 
darum in allen feinen Zolgerungen verneinen. Das Freiheitsſyſtem 
bejaht das Naturinftem bis auf einen gewiflen Punkt, in welchem 
der volle Gegenfaß ericheint. Nach dem Naturfyftem Fann die 
Intelligenz nur abbilden d wirken; das Freiheitsſyſtem fordert, 
daß fie vorbildend wirft: es fordert bie Unabhängigkeit der In 
telligenz von der Natur, ben Gedanken als Princip des Werdens. 
Im diefem Punkte liegt die Differenz. Bejahen wir dad Natur: 
foftem, fo müffen wir diefe Unabhängigkeit verneinen und mit 
ihr unfere Zreiheit, fo befriedigen wir den Verſtand gegen die 
Stimme beö unmittelbaren Selbftbewußtfeind; bejahen wir unfere 
Freiheit, fo müſſen wir jene Unabhängigkeit behaupten, die dem 
Naturſyſteme wiberftreitet. Gründe auf beiden Seiten, Gewißheit 
auf feiner. Wir haben die Wahl und mit ihr die Qual, die Qual 
des Zweifels, indem wir nicht wiffen, ob wir den Verſtand auf 
Koften des Herzens oder umgekehrt die Forderungen des Herzens 
im Widerftreit mit dem Verftande befriedigen ſollen. Wir blei: 
ben im „Zweifel“ und können den Kämpfen und der Unruhe 
deffelben nur ein Ende machen durch volle Gemwißheit. Da wir 
ung bei den Folgerungen nicht haben beruhigen können, fo fehr 
uns ihre Folgerichtigkeit einleuchtet,, fo müffen wir das Princdp 
unterfuchen. Das Naturfyftem gründet ſich auf die Thatſache 
unferer Erfahrung. Worauf gründet fich diefe Thatſache? Diefe 
Frage ift nicht unterfucht. Hier ftoßen wir auf die unergründete 
Prämiffe des ganzen Syſtems. 

Wir haben unferen Standpunkt bisher in der Erfahrung 
genommen und von hier aus das Naturfoftem mit aller Folgerich⸗ 
tigkeit entworfen. Jetzt müffen wir unferen Standpunkt fo neh: 


825 


men, daß die Erfahrung ihm gegenüberliegt, wir müffen uns 
alfo über den biöherigen Standpunkt erheben. Dort war unfer 
Gegenftand die Natur, unabhängig von und, die Natur an ſich; 
jest fol unfer Object unfere Vorftellung der Natur, die That: 
fache unferer Erfahrung felbft fein. Wir erheben und damit von 
der bogmatifchen Betrachtung der Dinge zur Aufgabe der Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre und fehen zugleich, wie die Löſung diefer Aufgabe 
abfolut nothwendig ift, um aus dem Zweifel zur Gewißheit zu 
kommen. 


I. 
Der Standpunkt des Wiffens. 


1. Dad unmittelbare Selbfbewußtfein und die 
Empfindung. 

Wie komme ich zur Erfahrung? Die Erfahrung ſtellt un: 
mittelbar Dinge außer uns vor und lebt in deren Betrachtung. 
Wie komme ic) dazu, Dinge außer mir vorzuftelen? Ich würde 
fie nie vorftellen, wenn ich fie nicht fehen, hören, fühlen u. ſ. f. 
könnte; ich komme zur Erfahrung, wie e8 fcheint, bloß durch 
meine Sinnesempfindung. Aber was ich empfinde, find nicht 
Dinge außer mir, fondern bloß Affectionen in mir, meine eige: 
nen Empfindungszuftände. Alle meine Wahrnehmung ift bloß 
Wahrnehmung des eigenen Zuftandes. Alfo ift die erfle Bedin⸗ 
gung aller Erfahrung, daß ich meinen eigenen Zuftand wahrneh: 
me, daß ich von diefer Wahrnehmung weiß. Ich kann mein 
Sehen nicht fehen, mein Hören nicht Hören u. f. f., ich weiß von 
meiner Sinneöwahrnehmung nur dadurch, daß ich mir derfelben 
unmittelbar bewußt bin. Ich bin meiner Wahrnehmung, alfo 
meiner felbft unmittelbar bewußt. Dieſes unmittelbare Bewußt- 
fein meiner ſelbſt ift daher die ausfchließende Bedingung alles an: 


826 


deren Bewußtfeind. Wie aber wird aus dem unmittelbaren Be: 
wußtſein meiner Wahrnehmung, aus der bloßen Wahrnehmung 
meined eigenen Zuftanded ein Wahrnehmungsobject außer mir, 
wie ich es in ber Erfahrung vorftelle? Wie komme ich zu diefer 
Erfahrung *)? 


2. Verbreitung der Empfindung. Fläde, Raum. 

Jede meiner Empfindungen ift unmittelbar und einfach, 
gleichfam ein mathematifher Punkt; id kann daher viele ver 
ſchiedene Empfindungen nur nacheinander haben. Ich habe 3. B. 
den Empfindungszuftand roth; in der Erfahrung erfcheint mir 
etwas Rothe, ich nehme roth wahr als Eigenfchaft eines Objects, 
eined Körpers, alfo auögebreitet über eine Fläche, und kann es nur 
in dieſer räumlichen Ausdehnung wahrnehmen. Wie aber komme 
id) dazu, den mathematifchen Punkt meiner Empfindung auszu- 
dehnen, benfelben über eine Fläche zu verbreiten, neben einander 
zu fielen, was doc) in mir nacheinander folgt? Man fage nicht, 
daß hier ein Sinn dem andern, etwa das Zaften dem Sehen, 
zu Hülfe komme, denn jeder Sinn braucht diefelbe Hülfe; Fein 
Empfindungszuftand, welcher Art er auch fei, ift Flachenwahr⸗ 
nehmung. Auch dad Bewußtfein ber eigenen Ausdehnung, des 
eigenen materiellen Leibes erklärt in diefem Galle nichts, weil es 
ebenfo fehr der Erklärung bedarf, weil es bad zu Erklärende 
it). " 

Ich empfinde bloß, was ich auf eine Oberfläche fee. Was 
hinter dieſer Oberfläche liegt, empfinde ich nicht, aber ich bin 
gewiß, daß auch dort wieder eine wahrnehmbare Fläche, wieder 
etwas Empfindbares ift, daß fein Theil des mahrgenommenen 


T) Ghendafelöft. II Bud. Wiſen. S. 199-202. 
er) Chenbafelbft, II Bud. &. 202— 208. 





— — 


827 


Objects, Fein Theil der unendlich theilbaren Maſſe unempfindbar 
ift, und fo verbreite ich die Empfindung nicht bloß über eine be: 
flimmte Fläche, fondern durch den unendlichen Raum; ich mache 
meine fubjectiven Empfindungen zu objectiven Eigenfchaften und 
fege den Raum ald deren Träger. 

Ich verbreite meinen Empfindungszuftand, der bloß mathe: 
matifcher Punkt ift, über eine Fläche; ich nehme auch jenfeits 
biefer Fläche Empfindbares an und füge alfo zu der Empfindung, 
die ich habe, eine andere hinzu, die ich nicht habe; ich verbreite 
dad Empfindbare durch den unendlichen Raum, den ich felbft 
nicht empfinde. Nur auf diefe Weife verwandelt fich meine Em: 
pfindung in etwas Empfindbares außer mir, die Wahrnehmung 
meined eigenen Zuflandes in die Wahrnehmung eined äußeren 
Gegenftandes, dad unmittelbare Bewußtſein meiner felbft in 
das Bewußtfein von Gegenftänden außer mir, d. h. in Erfahrung. 
Die ganze Frage läßt fich daher in die Formel faffen: wie wird 
die Empfindung räumlih? Wie folgt aus dem unmit— 
telbaren Selbftbewußtfein der Raum?*). 


3. Das unmittelbare Selbfibewußtfein ala 
Bewußtſein der Dinge. 

Ich habe thatfählih nur das unmittelbare Bewußtſein 
meiner felbft, ich habe Fein anderes, Feines von Dingen außer 
mir; auch habe ich fein Organ für folche Dinge, Feiner meiner 
Sinne giebt mir die Vorftellung eines Gegenftandes; ich habe 
überhaupt Fein allgemeines Wahrnehmungsvermögen, fondern 
nur beftimmte Empfindungen, Empfindungszuftände, befondere 

x Beftimmungen des inneren Sinned.. Ich habe fein Bewußtfein 
« ber Dinge, aber ich brauche ein ſolches Bewußtfein; es kann 
*) Ebendaſelbſt. II Bud. ©. 208 — 212. 


| 


828 


mir auch durch Fein Organ gegeben werben, denn ich habe fein 
ſolches Organ; ich kann daher ein ſolches Bewußtfein nur aus 
meinem Selbftbewußtfein erzeugen. Das Selbftbewußtfein it | 
das Erfte, dad Bewußtfein der Dinge ift dad Zweite; jenes ift 
das erzeugende, unmittelbare, dieſes Dad erzeugte, vermittelte Be: 
wußtfein*). 


a. Die fpontane Erzeugung des Gegenftandes. 

Nun erfceinen mir in der Erfahrung die Gegenftände als 
von außen gegeben, und es ift keineswegs von meiner Wiltür . 
abhängig, ob ich diefe Vorftelung habe oder nicht. Mithin ift 
die Erzeugung diefer Vorftellung fein willfürliches Product, ich 
bin mir des erzeugenden Actes nicht bewußt, ich entfchließe mic 
nicht dazu und überlege nicht erft, ob ich diefe Handlung vol: 
ziehen fol. Der erzeugende Act ift daher reflerionslos, er ift nicht 
frei, fondern „fpontan”. Unwillkürlich denke ich zu meiner 
Empfindung den Gegenftand hinzu ald Grund der Empfindung. 
Der fpontane Denkact gefchieht alfo nach dem Sage des Grun- 
des, nach dem Geſetze der Caufalität. Meine Empfindung if, 
fie war nicht immer, fie ift geworden, alfo verurfacht; ich bin 
mir derfelben ald der meinigen, ald meines Zuftandes, aber ih ' 
bin meiner nicht ald der Urfache diefed Zuftandes bewußt; daher 
denke ich diefe Urfache als eine „fremde Kraft‘ **). 


d. Das Geſetz der Caufalität. 

Aus dem unmittelbaren Selbftbewußtfein entfteht demnach 
das Bewußtſein der Dinge nach dem Gefege der Caufalität und 
vermöge deffelben. Woher aber habe ich den Begriff des Grun: 
de3? Nicht aus meiner Empfindung, die erfi in Folge jenes 

*) Ebendaſelbſt. II Bud. S. 212— 216. 

*) Cbendaſelbſt. II Bud. S. 216 — 218. 





829 


Begriffs ald eine gewordene oder begründete erfcheint, noch wes 
niger aus den Dingen außer mir, die erft in Folge jened Be— 
griffs (als Grund meiner Empfindung) gefegt werden. Ic, kann 
diefen Begriff nicht aus Bedingungen ſchöpfen, die durch ihn 
felbft bebingt find. Der Begriff der Urfache ift daher nicht ab⸗ 
ſtrahirt, nicht vermittelt, fondern unmittelbar: er ift eine „Grund: 
wahrheit” und mein Wiffen davon ein „unmittelbares Wiſſen“ *). 

Wie verhält fich nun diefes unmittelbare Wiffen der Cauſali— 
tät zu dem unmittelbaren Selbßbewußtfein und dem Bewußt⸗ 
fein der Dinge? Dem unmittelbaren Selbftberußtfein geht Fein 
Bewußtſein vorher, es ift fchlechthin das Erfte. Zwiſchen dieſes 
Bewußtfein und dad der Dinge (Gegenftände außer uns) fällt 
fein Bewußtfein in die Mitte, dad an das erfte Glied das zweite 
anknüpfen und den Uebergang machen könnte von dem einen 
zum andern: fein Bewußtſein vermittelt biefen Uebergang, 
feine Reflerion erzeugt bie Vorftellung des Gegenftandes. Das 
Benußtfein meines Zuftanded und dad Bewußtfein des Gegen: 
fandes find daher durch nichts auseinandergehalten; fie fallen zu: 
fammen in einen und denfelben Act, Ich erzeuge die Vorftellung 
des Gegenftanded nach dem Gefeße der Caufalität, aber nicht 
durch daſſelbe. Das Bewußtſein dieſes Geſetzes entfleht mir 
erft dadurch, daß ich nach ihm handle, erft dadurch, daß ich mir 
meines Verfahrens bewußt werde. Das Wiffen der Caufalität 
fol unmittelbar fein; jegt erfcheint es als vermittelt. Es ift zu: 
gleich) unmittelbar und nicht unmittelbar. Wie ift das möglich **)? 


©. Das Bewußtſein des eigenen Thuns als eines Gegebenen. 
Die Caufalität, nach deren Gefeg ich die Vorftellung des 


*) Chendafeldft. II Bud. S. 218 — 220. 
*) Ebendaſelbſt. II Bud, ©. 220, 


830 { 
Gegenſtandes erzeuge, ift meine notwendige Handlung, mein | 
(durch Feine Reflexion vermitteltes, alfo) Uunmittelbares Thun. 
Nun bin ich meiner felbft unmittelbar bewußt, ſowohl meine | 
Leidend ald meines Handelns. Es giebt daher zwei Beftand: 
theile des unmittelbaren Selbftbewußtfeind: mein Leiden und 
mein Thun; das Leiden ift meine Empfisdung, mein Zufland; 
das Thun ift meine Erzeugung (der Vorftellung) des Gegenftan: 
ded nad) dem Satze des Grundes. Diefed Thun ift durch fein 
Bewußtſein vermittelt, es gefchieht unmittelbar und reflerions: 
108; daher bin ich mir in diefem Thun deſſelben nicht ald meiner 
Handlung bewußt, ich weiß daher auch den Gegenftand nicht ald | 
mein Product, fondern bloß ald mein Object; ich habe Fein Be | 
| 
| 


mußtfein von meiner Erzeugung (der Vorftellung) des Gegenftan- 
des; ich habe daher bloß ein Bewußtfein (der Vorftellung) des 
Gegenftandes, ein Bewußtſein des Dinges. Mein Thun fällt | 
daher für mich einfach zufammen mit dem Object. Das unmittel: 
bare Bewußtſein meined Thuns ift zunächft das unmittelbare 
Berußtfein der Dinge: daß ift dad Erſte. Dann werde ich mir | 
hinterher durch Reflerion meines Thuns ald eines folchen bewußt: | 
daß ift das Zweite. | 
Die Caufalität ift mein eigenes nothwendiges und unmittel 
bared Handeln. Die Frage nad) dem Wiffen von dieſer Caufali: | 
tät fällt daher zufanmen mit ber Frage nach dem Bewußtſein 
meines eigenen unmittelbaren Thuns. Diefed Thuns bin id 
mir unmittelbar und nicht unmittelbar bewußt: unmittelbar, 
denn eö ift mein Thun; mittelbar, denn ich werde mir deffelben 
erft nachträglich bewußt. So muß ed fein und fo ift es. Beide 
Säge müffen gelten, und fie fönnen nur dann in gleicher Weife 
gelten, wenn die Sache ſich fo verhält: ich bin mir meines 
Thuns unmittelbar bewußt, aber nicht als eines ſolchen, alfo | 


4 


\ 


831 


nur ald eined gegebenen, vorhandenen; es ſchwebt mir vor, 
esift mein Gegenftand. Ich bin mir meines Thuns ald Gegen: 
ſtandes unmittelbar bewußt (nicht des Gegenftandes ald meiner 
That), d. h. ich bin mir einfach des Gegenftandes außer mir un: 
mittelbar bewußt. Ich würde mir deffelben nie unmittelbar 
bewußt fein, wenn er nicht in Wahrheit mein eigenes Thun wäre 
(d. h. etwas, das mir nothiwendiger Weife unmittelbar gewiß 
ift und nur fo gewiß fein fann). Hier leuchtet ein, daß ich 
in der Vorftellung der Gegenftände keineswegs über mein Bes 
mwußtfein hinauögehe, und daß ed überhaupt Fein Bewußtſein 
giebt, das über fich felbft hinausgehen könnte *). 


4. Dad Bemwußtfein eines von und unabhängigen 
Seins. 

Dem woiberftreitet in einem noch nicht erflärten Punkte die 
Thatſache unferer Erfahrung, unferer unmittelbaren Vorftelung 
der Dinge. Die Dinge außer und erfcheinen uns nicht bloß ald 
unabhängig von unferem Thun, fondern auch ald unabhängig 
von unferem Leiden, von unferem Zuftande, von unferer Em: 
pfindung: fie erfcheinen unabhängig von unferem Sein über: 
haupt. Im der That alfo fcheint unfer Bewußtfein, indem es 
die Dinge aufer fich fo vorftellt, über fich felbft binauszugehen, 
und was in der Natur unfered Bewußtfeind in Wahrheit un: 
möglich fein foll, das erfcheint in der alltäglichen Erfahrung fort⸗ 
während als wirklih. Indem wir Dinge außer und vorftellen, 
erfheinen fie und als völig unabhängig von unferem Sein; fie 
ſchweben und in dieſer ihrer Selbftftändigkeit vor, und wir er: 
fcheinen und felbft ald der Spiegel, der fie empfängt und ab» 
bildet **). 

*) Chenbafelbft. II Bud. ©. 221 — 222. 

**) Ebendaſelbſt. II Bud, S. 223 — 224, 


‘ 832 
= Die Intelligenz als Object der Anſchauung. 

Hier kommen wir auf den Kern der Sache. Im der Er: 
fahrung find wir uns der Dinge als eined von und völlig unab- 
hängigen Seins unmitteldar bewußt. Nun aber Fönnen 
wir nur deö eigenen Seins unmittelbar gewiß fein. Beide 
Säße gelten und Fünnen nur bann in gleicher Weiſe gelten, wenn 
es fi) mit unferem Sein ebenfo verhält, wie vorher mit unferen 
Thun. Iſt und ein fremdes (von uns unabhängiges) Sein un: 
mittelbar gewiß, fo ift daffelbe unfehlbar unfer eigenes Sein, 
das wir aber nicht als folches erkennen, das wir vielmehr durch 
unfer eigenes Weſen genöthigt find, als ein unabhängiges Ob: 
ject außer und vorzuftellen. Woher diefe Nöthigung ? 

Unfer Sein befleht im Wiſſen, in ber Intelligenz. Das 
Wefen der Intelligenz befteht im Sichwiſſen, in der abfoluten 
Identität des Subjectiven und Objectiven ; dad Wefen des Be 
wußtſeins befteht in der Trennung ded Subjects und Bbiects: 
daher fann jene Identität (das abfolut Eine), die Wurzel alles 
Bewußtfeind, und nicht felbft zum Bewußtfein fommen. Die 
urfprüngliche Einheit liegt dem Bewußtſein zu Grunde, hin 
ſelbſt befteht in dem urfprünglichen Getrenntfein des Subjectiben 
und Objectiven. „Daher muß dem fubjectiven Bewußtfein das 
eigene Sein als ‘ein von ihm getrennte, unterſchiedenes, unab: 
hängiges Object erfcheinen. Diefes Object ift das Willen felbft, 
die Intelligenz. „Dein Wiffen ald Objectives ftellt ſich vor dic) 
felbft, vor bein Wiſſen als Subjectives hin und ſchwebt dem⸗ 
ſelben vor, freilich ohne daß du dieſes Hinſtellens dir bewußt 
werden kannſt.“ „Das Subjective erſcheint als der leidende und 
ſtillhaltende Spiegel des Objectiven; dAS letztere ſchwebt dem 
erſten vor*).” Das Subjective iſt mithin das unmittelbarg-Be: 

) Ebenbafel, IE Bud. S. 226. g j 








833 


mußtfein eine Seins außer fi. Dieſes unmittelbare Bewußt- 

fin ift Anfhauung. Die Anfhauung eines Seins außer 

uns ift äußere Anſchauung, und dadurch entſteht überhaupt 

erſt die Möglichkeit äußerer Wahrnehmung und äußerer Sinne. 
b. Der Raum als Intelligenz. 

Diefe äußere Anfhauung, die nichts anderes ift ald der 
Ausdruck jener urfprünglichen Trennung des Subjectiven und 
Objectiven, womit alles Bewußtfein anhebt und worin ed be 
fteht, ift darum der nothwendige und unveränderliche Zuftand des 
Bewußtfeind, Diefen unveränderlichen Zuftand kann dad Bes 
mwußtfein nicht aufheben, denn es kann fein eigenes Sein nicht 
vertilgen ; es kann daher nur innerhalb defielben thätig fein. 
Nun können wir unferer Anfhauung nur bewußt werden, indem 
wir biefelbe in Tätigkeit feßen; fie verändert fich innerhalb des 
unveränberlichen Zuftandes, d. h. „fie ſchwebt innerhalb des Un: 
veränderlichen von einem veränberlichen Zuftande fort zu einem 
andern veränderlichen.” Dieſes Fortſchweben erfcheint als „ein 
Linienziehen“. Jenes Unveränderliche (die äußere Anfchau- 
ung felbft) erfcheint daher ald etwas, in welchem man nach allen 
Richtungen hin Linien ziehen und Punkte machen kann, d. h. ald 
Raum*), 

Was wir ald Sein außer und anſchauen, iſt unfer eigenes 
Sein, das Wiffen, die Intelligenz. Der Raum ift das ange: 
ſchaute Wiffen, die angeſchaute Intelligenz, darum ift er durch 
fihtig und vollfommen klar, wie diefe. Es ift „das Bild un- 
fereö nicht hervorgebrachten, fondern angeftammten Wiffens über: 
haupt, von welchem alles befondere Denken nur die Erneuerung 
und weitere Beftimmung iſt.“ „Der erleuchtete, durchfichtige, 
durchgreifbare und durchdringlihe Raum, dad reinfte Bild mei: 


*) Ebendaſelbſt. II Bud, ©. 227 — 228. 
diſcher, Geſchichte der Philofophle V. 53 


834 


ned Wiffend, wird nicht gefehen, fondern angeſchaut, und in 
ihm wird mein Sehen felbft angefchaut. Das Licht iſt nicht außer 
mir, fondern in mir, und ich felbft bin das Licht.” 

Hier ift die wahre Quelle der Vorftellungen von Dingen 
außer und. „Dieſe Vorftelung ift nicht Wahrnehmung, du 
nimmt nur dich felbft wahr; fie ift ebenfo wenig Gedanke, die 
Dinge erfcheinen dir nicht ald ein bloß Gedachtes. Sie ift wirt: 
lich und in der That abfolut unmittelbared Bewußtſein eines 
Seins außer dir, ebenfo wie die Wahrnehmung unmittelbares 
Bewußtfein deines Zuftandes ift. Laß dich nicht durch Sophi- 
ſten und Halbphilofophen übertäuben: die Dinge erfcheinen bir 
nicht durch einen Repräfentanten ; des Dinges, dad da ift und 
fein ann, wirft du dir unmittelbar bewußt, und eö giebt Fein 
andered Ding, ald das, deſſen du dir bewußt wirft. Du felbft 
bift diefed Ding; du felbft bift durch den innerften Grund deines 
Weſens, deine Endlichkeit, vor dich ſelbſt hingeftellt und aus 
dir felbft herausgeworfen; und alles, was du außer dir erblickt, 
bift immer du felbft.” „Die Anfhauung ift ein thätiged Hin: 
ſchauen defien, was ich anfchaue, ein Herausſchauen meiner 
ſelbſt aus mir felbft: Heraustragen meiner felbft aus mir felbft 
durch die einige Weife des Handelns, die mir zukommt, durch 
dad Schauen. Ich bin ein Iebendiged Sehen. Ich fehe = 
Bewußtfein. Ich fehe mein Sehen — Bewußtes. Darum 
ift auch diefed Ding dem Auge deines Geiftes durchaus durch⸗ 
fichtig, weil es dein Geift felbft ift*).” 


5. Die Außenwelt ald Product des Id. 
. 
a. Maffe. 
Das unmittelbare Selbftbewußtfein ift Bewußtfein meines 


*) Ebendaſelbſt. II Buch. ©. 228. 229, 





835 


leidenden Zuſtandes (Empfindung), meined Thuns, meines Seind 
(Intelligenz). Mein Thun erfcheint als etwas Gegebenes d. h. 
ald Object außer mir, ald Ding. Mein Sein (Intelligenz) 
erfcheint ald ein von mir unabhängiges Sein, ald Object, das 
mir vorfchwebt, ald Raum. Das unmittelbare Bewußtſein 
meines Thuns und Seins giebt daher die Anfchauung äußerer 
Gegenftände, die Vorftellung der Dinge im Raum. Was den 
Raum erfüllt, ift Maffe, Körperwelt. Ich bin vermöge des un 
mittelbaren Selbftberoußtfeind Anfchauung einer Körperwelt. Wie 
verhält fich zu diefer Anfchauung die Wahrnehmung meines Zu⸗ 
ſtandes, meine Empfindung ? 
. b. Kraft. 

Die Dinge im Raum haben in Rüdficht ihrer Größe, Ge 
ſtalt, Lage und Entfernung beftimmte räumliche Verhältniſſe, die 
nur erfannt werden durch unfere meflende und ordnende Vers 
gleihung. Diefe Vergleihung ift Feine Anfchauung, kein un 
mittelbared Bewußtfein, fondern ein Urtheilen und Denken, Und 
dad Princip diefer Beurtheilung find unfere Affectionen, der 
Grad und die Stärke unferer Eindrüde, Von unferer Affection 
fließen wir auf das Afficirende als deren Grund; von ber Stärfe 
des Eindruds fließen wir auf die Kraft des (afficirenden) Ge: 
genftanded, Die Kraft ift ein erfchloffenes, gedachtes Object, 
ein Begriff, den wir auf Grund der Empfindung mit dem Ob: 
jecte der Anſchauung (der Maffe) verbinden. So verknüpft das 
Denken die Empfindung mit der Anſchauung und überträgt jene 
auf diefe: fo entfteht die Vorftellung einer mannigfaltigen im 
Raume voirffamen Körperwelt und damit jene Erkenntniß ber 
Dinge, die wir ald Erfahrung bezeichnen *). 


*) Ebendaſelbſt. II Bud, ©. 230 — 240, 
53* 


836 


6. Das Ih ald Empfinden, Anfhauen, Denfen. 
Dad Wiffen als Traum. 

Diefe Erfahrung mit allen ihren Objecten, die gefammte 
Außenwelt, ift ein Product unferer Empfindung, unferer An- 
fhauung, unferes Denkens. In der That haben wir in ber 
Vorftellung diefer von und unabhängigen Welt nirgends unfer 
Bewußtfein überfchritten:: fie entfteht bloß durch unfer Bewußt⸗ 
fein, fie ift ein Abbild unferer felbft, eine bloße Borftellung, ein 
Bild, ein Schatten. Alle Objecte unferes Wiſſens find Bilder, 
die wir nur darum für Wirklichkeit halten, weil wir nicht wiffen, 
daß wir es find, die fie erzeugen und bilden. So find fie gleich 
den Traumbildern. Wir träumen die Welt. Unſere Anſchau⸗ 
ung ift Traum, unfer Denken ift der Traum dieſes Traumes. 
AS das einzig Reale, fo fcheint ed, bleibt nichts übrig ald unfer 
Ich. Aber dieſes Ich felbft ift nur empfindend, anfchauend, 
denkend; es ift nur Bemwußtfein feined Empfindens, Anſchauens, 
Denkens: ein unmittelbares ober vermittelted Bewußtſein, es ift 
felbft mithin nur eine Mobdification des Bewußtfeind, eine folche, 
die jedes beflimmte Bewußtſein begleitet, in jeder Vorſtellung 
gegenwärtig, aber ohne biefelbe für fich nichts ift, al8 eine aus 
den Vorftellungen abftrahirte Allgemeinheit, eine Art Sammel: 
begriff, ein bloßer Gedanke ohne alle Realität. Auf dem Stand: 
punkte des Wiſſens giebt es nur Vorftellungen, nur Bilder, 
nirgends etwas wahrhaft Reales, weder außer und noch in und. 
Mes Wiffen ift Abbildung; es wird in aller Abbildung 
etwas gefordert, dad dem Bilde entfpreche, etwas Reales ar 
fih. Aus dem Wiffen entſteht immer nur Wiffen: daher kann 
die Forderung-nach dem wahrhaft Realen durch das bloße Wiffen 
nie befriedigt werden *). 

*) Ebenbafelbft, II Bud. S. 240-247. 








837 


Das Syſtem der bloßen Naturnothiwendigkeit, in ben unfer 
Denken zuerft feine Befriedigung fuchte, konnte die Forderung ber 
Freiheit nicht erfüllen, ſondern derfelben nur wiberfprechen : darum 
verfiel ed dem Zweifel. Das Syſtem des Wiſſens, welches die 
Thatſache der Erfahrung aus unferem Selbftbewußtfein begrüns 
det, giebt und die Freiheit, aber ed nimmt und die Realität und 
verwandelt bamit auch die Freiheit in einen bloßen Traum. Iſt 
der Menfc ein bloßes Naturproduct, fo hat er Feine Beftim: 
mung, die man im Exnfte fo nennen könnte. Iſt die Welt und 
unfer Ich Feine wahrhafte Realität, fo kann ebenfo wenig von 
einer Beftimmung des Menfchen geredet werden. Um die wahre 
hafte Wirklichkeit als folhe und mit ihr die Beſtimmung des 
Menſchen zu erfaffen, reicht das Wiffen nicht hin. Das Syſtem 
des Wiffend wird daher einer Ergänzung bedürfen, die zugleich 
eine Vertiefung ift. 





Drittes Capitel. 


ie Seflimmung des Menfhen: II Löfung des Problems 
ans dem Standpunkte des Glanbens. 


L 
Der Begriff des Glaubens. 

1. Das vorbildlihe Handeln (dad praftifhe Id). 

Das Vorgeſtellte ift nichts Reales an fich, aber e& wird in 
n etwas Urfprüngliches und Reales gefordert, das außer der 
orſtellung liegt und unabhängig if von diefer, das auch ohne | 
befteht und von ihr nicht verändert wird, zu dem fich die Bor: | 
llung bloß zufehend verhält. Alle unfere Vorſtellungen find 
Yingt durch ung felbft. Daher kann das Reale nur in unferem 
fprünglichen, von allen Vorftellungen unabhängigen Sein ge 
ht, werben. 

Was wir urſprünglich und unabhängig von allen Vorftel: 
agen (Objecten) find, können wir nur durch uns felbft d. h. 
r in Folge unferer eigenen Thätigkeit fein. Nun ift das Ich 
gleich Subject und Obiih.; es iſt zugleich dentend und gedacht. 
ir Sigb daher felbftändig, wenn wir von beidem, von unferem 
wet mnd Sein, die alleinige Urfache find, wenn wir mit 
er Freiheit Begriffe entwerfen und ein diefen Begriffen ent: 


839 


fprechendes Sein (einen außer dem Begriff liegenden Zuftand) 
hervorbringen. Dad hervorgebradhte Sein verhält fi zu dem 
frei entworfenen Begriff, wie das Nachbild u dem Borbilde; 
das Vorbild ift der Zweckbegriff, dad Nachbild ift deffen Vers 
wirflichung. Diefe Verwirklichung fordert eine reelle Kraft, die 
fih zu dem Zwedbegriff verhält, wie dad Können zum Wollen. 
Unfer felbftändiged Sein, in welchem allein wir zunächft das 
Reale ſuchen, ift mithin ein Thun, welches mit voller. Freiheit 
(unabhängig von allen Vorftellungen und Objecten) Zwecke ſetzt 
und ausführt. 

Nun ift freilich der Zweck auch eine Vorftellung, ebenfo die 
Handlung, die aus ihr entfpringt und der Trieb zu einer ſolchen 
Handlung, und man fönnte daher leicht einwenden, daß wir 
diefe unfere Selbftändigkeit auch nur vorftellen und damit von 
neuem in jene Traum⸗ und Scheinmelt gerathen, die Feine Reali- 
tät in fich hat und dem Zweifel verfällt. Auch läßt ſich feinem 
wehren, daß er diefe Reflerion macht (denn die Reflerion ift eine 
Sache der Willkür) und den Zweifel in's Endlofe fortfegt. 

Indeſſen ift der Zweckbegriff von jenen Vorftellungen, denen 
der Kern der Realität fehlt, fehr verfchieden. Diefe Vorftel: 
lungen waren Abbilder und immer wieder Abbilder ; alles Wiffen 
beftand im bloßen Abbilden. Der Zweckbegriff ift nicht Abbild, 
fondern Vorbild. Wenn wir und nur theoretifch verhielten, 
fo würden wir bloß Abbilber haben. Daß wir Zwecke ſetzen und 
Vorbilder entwerfen, ift ſchon ein Beweis, daß wir nicht bloß 
theoretifch find; dad Vermögen der Zwede flammt aus unferem 
praftifchen Wefen; wir haben und mit dem Zweckbegriff in das 
praktiſche Gebiet unferer Intelligenz verfest, wir find nicht mehr 
im Reiche des bloßen Wiſſens, in der Welt der Abbilder; daher 
fann und auch der Zweifel, der dem Abbilde gegenüber entfteht 


840 


und dort in's Endlofe fortgehen kann, hier nicht mehr treffen und 
einholen ). 


2. Der Glaube ald urfprünglihe Gewißheit. 

Der Zweckbegriff, von dem wir reden, ift Fein relativer und 
bedingter Zweck, den wir aus anderen Vorftellungen zufammen: 
feßen.und ableiten; er ift der Ausdruck unferer urfprünglicen 
und unbebingten Selbfithätigfeit, unfered wahrhaft unabhängi- 
gen Seins, nicht eine Folge, fondern der Grundzug unfere 
praktifchen Wefend. Wir Fönnen daher diefen Zweck auch nicht 
vermitteln, bedingen, ableiten, fondern feiner, wie unferer felbft, 
nur unmittelbar gewiß fein. Wir Fönnen ihn nicht theoretifch ab: 
bilden, fondern nur praktiſch nachbilden d. h. verwirklichen. Da: 
her ift diefer Zweck Fein Gegenftand des Wiffens, fondern de 
Glaubens im Sinneder urfprünglichen, unmittelbaren Gewißheit. 

Wenn dad Wiffen unfere einzige Handlungöweife wäre, ſo 
gäbe es blog Abbilder, alfo nichts Reales. Wenn eö Fein abf- 
lutes Vorbild gäbe, fo wären alle Abbilder grundlos und leer. 
Erſt durch dad Vorbild (welches von keinem Abbilde herftammt), 
durch dad abfolute Vorbild, kommt Realität in die Abbilder. Aus 
unferem urfpränglichen,, felbftthätigen, praktifchen Wefen fommt 
der Zwedbegriff und mit ihm das Vorbild. Won hier entfpringt 
daher ale Realität. Aus der unmittelbaren Gewißheit unſeres 
Zwecks, unferer Beſtimmung, die eined ift mit unferem Weſen, 
mit unferem Triebe nad) abfoluter Selbftthätigkeit, mit dem Ge: 
fühl dieſes Triebes: aus diefem Glauben flammt die Gewißheit 
aller Realität, fo weit wir derfelben gewiß find. Das Reale 
wird nicht gewußt, es wird geglaubt. Ohne der Realität eines 
Objectö, gleichviel welches, gewiß zu fein, giebt es Feine wahr: 


*) Die Beftimmung des Menſchen. III Bud. Glaube, S. 248— 254. 


d 





841 


bafte Ueberzeugung. Daher ift jene urfprüngliche Gewißheit der 
Grund aller Gewißheit, der Glaube der Grund aller Ueberzeus 
gung. Und da die Gewißheit unferes abfoluten Zweckes zuſam⸗ 
menfält mit der Geſinnung, fo Eonnte Fichte fagen: „alle meine 
Ueberzeugung ift nur Glaube, und fie kommt aus der Gefinnung, 
nicht au8 dem Verſtande.“ 

Die Realität kann nie demonfkeirt, fondern nur geglaubt 
werben. Auch die natürliche Anficht hält an der Realität der 
Dinge feft nicht aus theoretifchen Gründen, fondern aus prak— 
tifhen, aus Intereffe für eine Realität, die man hervorbringen 
will, — „der Gute, fchlechthin um fie hervorzubringen; der Ge 
meine und Sinnlihe, um fie zu genießen.” Aus dem Glauben, 
aus der Gefinnung, aus dem Gewiſſen ftammt alle Wahrheit. 
So verhält es ſich mit allen Menfchen, welche je das Licht der 
Welt erblidt haben. „Auch ohne fid deffen bewußt zu fein, faf- 
fen fie alle Realität, welche für fie da ift, lediglich durch den 
Glauben, und diefer Glaube dringt fich ihnen auf mit ihrem Da- 
fein zugleich, ihnen indgefammt angeboren.” „Wir werden alle 
im Glauben geboren *)." 


3. Wiffenfhaftslehre und Glaubensphilofophie. 
Jacobi und Fichte, 

Hier ftimmt Fichte wörtlich überein mit Jacobi. Wir heben 
diefen Punkt hervor, in welchem die Wiflenfchaftölehre ihrerſeits 
ſich augenfcheinlich der jacobi ſchen Glaubensphilofophie annähert. 
Der erfte Berührungspunft beider lag in dem Urtheile über die 
kantiſche Philofophie, von der Jacobi zuerft eingefehen hatte, daß 
fie völliger Idealismus fei und das Reale ald ſolches in feiner 
Unabhängigkeit vom Ich verneinen müffe und in der That ver- 


*) Ebendafelöft, III Bud. ©. 254 — 255. 


842 


neine. Das war auch Fichte's Meinung und er rühmte in feiner 
zweiten Einleitung in die Wiſſenſchaftslehre gerade in biefem 
Punkte Jacobi ald feinen Vorgänger. Nur daß er die kantiſche 
Lehre aus demfelben Grunde bejahte und fortzubilden fuchte, aus 
dem Jacobi fie verwarf. Das war ihr Gegenfaß, beffen ſich 
Jacobi ſtets deutlich bewußt blieb. Er fegte der Eritifchen Auf- 
löfung der Realität den unmittelbaren Glauben an diefelbe ent- 
gegen. Diefer Glaubenötheorie meinte Fichte, als er in die reli⸗ 
giöfen Fragen tiefer eindrang, ſich wirklich zu nähern, und er 
ſah damals feinen Abſtand von Jacobi für weit Heiner an, als 
der letztere felbft. Keinen Philofophen nach Kant hat Fichte fo 
anerfannt als diefen. In dem fonnenklaren Bericht fiellt er 
Jacobi neben Kant ald „einen gleichzeitigen Reformator der Philo- 
fophie”, und in der Schrift über Nikolai nennt er ihn „einen ber 
erſten Männer des Zeitalterd, eines der wenigen Glieder in ber 
Ueberlieferungöfette der wahren Gründlichkeit‘’*). Uebrigens hatte 
Fichte ſchon in feiner Grundlegung der praftifchen Wiffenfchafts: 
lehre die Geltung ber Realität für dad Ich aus dem Gefühle erklärt, 
freilich zunächft nur phänomenologifch , aber er hatte bedeutſam 
hinzugefügt: „an Realität überhaupt, ſowohl die des Ich ald des 
Nicht: Ich, findet Tediglih ein Glaube ftatt**).” In der 
That find die Glaubendtheorien Jacobi's und Fichte's, fo ähn- 
lich fie in manchen Sägen erfcheinen mögen, in der Wurzel ver 
ſchieden. Bei Fichte if der Glaube durchaus praktiſch motivirt, 
bei dem andern ift er unmittelbar theoretifch. 


*) DBgl. oben Buch III. Cap. I. M.Il.3 b. ©. 481 flgd. 
Fichte's ſonnentl. Bericht. S. W. I Abth. II Bd. ©. 334. Fr. Nie 
colai's Leben u. ſ. f. Cap. VI. Anmerk. S. W. III Abth. III Bd. 
S. 31 fig. 

**) Bol. oben Buch III. Cap. II. Nr. III. 4. S. 586. 


843 ” 


4. Leben und Glaube. 

Auf dem Standpunkte des bloßen Lebend war ed unfere 
Selbftvergeffenheit, welche macht, daß die Objecte, in die wir ver: 
ſenkt find, für und den Charakter voller und alleiniger Realität 
haben*); dann ommt die Reflerion, welche die Realität ber 
Objecte in bloße Vorftellung auflöft und macht, daß ed auf dem 
Standpunkte des Wiffens nichts wahrhaft Reales für uns 
giebt. Auf dem erften Standpunkte gilt die Realität (ber Ob⸗ 
jecte) nur phänomenologifch, auf dem zweiten Standpunkte gilt 
fie gar nicht; auf Feinem von beiden giebt es eine an fich gültige, 
von unferer Borftelungsweife unabhängige Realität. Eine ſolche 
Realität giebt es erft und allein auf dem Standpunkte des Glau- 
bens, des Gewiſſens, der Gewißheit unferes Handelns und un: 
ſeres Zweds. Das Gewiffen allein ift jener fefte unverrüdbare 
Punkt, in dem alle wahrhafte Realität beruht, an den fich alle 
Realität ber Objecte anknüpft; auch die bes Lebens wird erft von 
bier aus beftätigt. Die Selbftvergeffenheit ift die Wurzel der 
natürlichen Anfiht der Dinge ; die Selbſtgewißheit ift die Wurzel 
der Glaubendanfiht, im welcher dad Reale ald ſolches erfaßt 
wird; die natürliche Anficht geht allem Wiffen vorher, die Glau: 
bensanficht geht über alles Wiffen hinaus: in der Bejahung der 
Realität flimmen beide zufammen. 

Das Gemiffen entfcheidet endgültig über Wirklichkeit und 
Nichtwirklichkeit. Es ift gewiß, was ich thun fol; es ift gewiß, 
daß ich dem Gebote der Pflicht gehorchen fol. Was diefen Ge: 
borfam ermöglicht, was in ihm ald Bedingung zu feiner Erfül- 
lung vorauögefegt wird, das ift eben fo wahr und gewiß. So 

*) Sonnenflarer Beriht. Vol. oben Cap. I. Nr. III. 1. ©. 
805 fig. 


Fa 


⸗ 


844 


weit die nothwendigen Forderungen des Gewiſſens ſich erſtrecken, 
fo weit erſtreckt ſich mit abſoluter Gewißheit das Gebiet der 
Realität. Was fordert das Selbſtbewußtſein? Das war die 
Grundfrage der Wiffenfchaftsichre. Was fordert das Gewiſſen 
(die fittliche Selbftgewißheit)? Das ift die Grundfrage der Glau: 
benslehre*). 


I. 
Die Objecte des Glaubens. 
1. Die Realität der Sinnenmelt. 

Das Gewiſſen fordert mit der Erfüllung der Pflicht zugleih 
bie Realität der Objecte, auf welche die Pflicht ſich bezieht. Die 
Pflicht der Selbfterhaltung hat keinen Sinn, wenn der Leib, da 
phyſiſche Bedürfniß, der Nahrungätrieb, die Objecte dieſes Trie: 
beö, Speife und Trank u. ſ. f. bloße Vorſtellungen find und 
feine vwoirklihen Dinge. Sie find wirkliche Dinge. Das Ge 
wiſſen realifirt die Vorſtellung der Sinnenwelt, So gewiß bie 
Pflicht exiſtirt unabhängig von meiner Vorftellung, fo gewiß 
exiſtirt unabhängig von diefer auch das Object der Pflicht. Die 
Pflicht, andere Wefen meines Gleichen ald vernünftige und felbft: 
ftändige Wefen zu behandeln, hat feinen Sinn, wenn diefe Wefen 
nur Schatten meiner Einbildung, nur meine Vorftellungen und 
nicht in Wahrheit wirkliche Perfonen außer mir wären. Sie 
find wirkliche Perfonen. Das Gewiffen realifirt diefe Vorſtel 
lung. Schon dad Rechtögefühl gründet fich auf den Glauben an 
biefe Realität. Unmöglich kann ich von anderen die Achtung 
meiner Freiheit ald Recht in Anfpruch nehmen, ohne ihnen das 
Vermögen dieſer Achtung, alfo auch dad Vermögen mich zu ver: 
legen und damit eigene Selbftändigfeit und Realität zuzufchrei: 

*) Gbenbajelbft. III Bud. Nr. I. S. 259. 





845 


ben, ohne alfo an ihre Realität zu glauben. Selbſt der außerſte 
Idealiſt, der alle Dinge und ſich felbft für bloße Vorftellungen 
erklärt, will von anderen keineswegs als bloße Vorftellung be 
handelt fein; er will nicht, daß andere willkürlich und gewalt⸗ 
thätig in feine Eriftenz eingreifen, er befennt dadurch, daß er 
fi und die anderen nicht für bloße Vorftellungen , fondern für 
wirkliche Wefen hält, von deren Realität er überzeugt ift. 


2. Die praftifhen Beweiögrünbde der Realität 
des Nicht-Ich. 

Unter den Einmwänden auf flacher Hand, die man der Wif- 
fenfchaftölehre von jeher gemacht und gewöhnlich in plumpefter 
Weiſe ausgedrückt hat, war es ſtets eine beſonders beliebte In- 
ftanz, daß Hunger und Durft das Ich am beften von der Reali⸗ 
tät des Nicht: Ich Überzeugen können, und wenn es noch immer 
nicht genug überzeugt fei, fo thue man gut, ihm handgreiflich 
zu Leibe zu gehen, wenn nicht gar ben Schädel einzuſchlagen, 
um die Realität des Nicht: Ich außer allen Zweifel zu ſetzen. 
Diefe Argumente ad hominem find nicht theoretifche, fondern 
praftifche Beweiſe für die Realität der Dinge; diefe prak⸗ 
tiſchen Beweife läßt Fichte nicht nur gelten, fondern braucht fie 
felbft gegen den bloßen Idealismus des Wiſſens. Wer daher der 
Wiſſenſchaftslehre folhe Einwürfe macht, in der Einbildung, fie 
damit zu überrafchen, der beweiſt bloß, daß er Fichte nicht ges 
lefen und darum von ihm nicht gelernt hat, dieſe Einwürfe rich 
tig zu machen, womit fie freilich aufhören, Einwürfe zu fein. 

Auf Grund des Gewiſſens bin id) von meiner Realität über- 
zeugt, darum auch von der Realität anderer vernünftiger Wefen 
außer mir, von ber Realität der gegenfeitigen Einwirkung bie: 
fer Vernunftwefen, von der Realität des Mediums diefer Ein: 


846 


wirkung, von der Realität der Sinnenwelt. „Wir find gend 
thigt anzunehmen, daß wir überhaupt handeln und daß wir auf 
eine geroiffe Weife handeln ſollen; wir find genöthigt, eine ger 
wiffe Sphäre diefed Handelns anzunehmen: diefe Sphäre ift die 
wirkliche und in der That vorhandene Welt, fo wie wir fie an- 
treffen; und umgekehrt, diefe Welt ift abfolut nichts andere 
als jene Sphäre und erſtreckt auf feine Weife fich über fie hin- 
aus. Bon jenem Bebürfniffe des Handelns geht dad Bewuft: 
fein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt von dem Berwuft: 
fein der Welt das Bedürfniß des Handelns; dieſes ift das erſte, 
nicht jened, jenes ift das abgeleitete. Wir handeln nicht, weil 
wir erkennen, fondern wir erkennen, weil wir zu handeln be 
flimmt find; die praftifche Vernunft ift die Wurzel aller Ber: 
nunft*).” 


3. Der irdifhe Weltzweck. Das Weltbefe. 

Meine Handlung geht auf einen Zweck, ben fie verwirk⸗ 
lichen will: fie will einen Zuftand hervorbringen, der wirklich 
fein ſoll in der Zukunft. Ihr Object und ihr Schauplak iſt die 
Welt; fie geht daher auf einen künftigen Weltzuftand, fie will 
die Welt verändern, und zwar in der Richtung, welche der fitt: 
liche Endzweck vorfchreibt, d. h. fie will die Welt verbeffern; ihr 
Zweck ift der Fünftige beffere Weltzuftand, alfo die nothwendige 
Veränderung (Verbefferung) des vorhandenen. 

Das pflihtmäßige Handeln ſteht darum in der Ueberzew 

*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr. I. ©. 260 — 263. 

„Unfere Welt ift das verfinnlichte Material unferer Pflicht ; dieß 
ift das eigentlich Neelle in den Dingen, der wahre Grundftoff aller Cr: 
ſcheinung.“ Weber den Grund unferes Glaubens u. ſ.f. S. W. II Abth. 
III Bd. S. 185, 








847 


gung, daß biefe vorhandene wirkliche Welt verbeſſerungsbedürftig 
if. Sie ift es, fo weit der Blick reicht. Ein großer Theil der 
Menfchheit liegt noch außerhalb aller Cultur, in den Feffeln der 
tohen Naturgewalt, in der Wildheit des Dafeind; innerhalb der 
Givitifation, welche Völker vereinigt und Staaten gebildet hat, 
befriegen fich die Völker; innerhalb der einzelnen Staaten herrfcht 
dad Unrecht in der Form des Geſetzes, und felbft innerhalb der 
guten Beſtrebungen, in der Welt ber fittlichen Arbeit, hält jeder 
fein Gefhäft für das befte und wichtigfte und Eümmert fich nicht 
um den fittlichen Gefammtzwed. 

Bir find überzeugt von der Wirklichkeit diefer Mängel, dies 
fer Zuftände, die in ber That find und nicht fein follen. Diefe 
Beltmängel enthalten für und fo viele Weltaufgaben, von deren 
wirklicher Geltung wir eben deßhalb auch überzeugt find. Die 
Ausbreitung der Cultur in der noch nicht civilifirten Welt, die 
Errichtung des Rechtsſtaates in der civilifirten, woburd nad) 
außen die Kriege befeitigt, nach innen die Gerechtigkeit beför- 
dert, die Herrſchaft des Unrechts, der felbftfüchtigen Intereffen, 
und damit bie öffentliche Verfuchung zum Böfen aus dem Wege 
geräumt, ber Friede gegründet und dadurch die Menfchen getrie: 
ben werben, fich zu gemeinfchaftlichen Culturzwecken zu vereiniz 
gen: das find Aufgaben, nothwendig zu ergreifen und zu löſen, 
um den Uebeln der Welt abzuhelfen *). 

Alle diefe Aufgaben gehen auf die vorhandene Welt, auf 
den Zweck des irdifchen Lebens, auf dad Weltbefte. Diefes ir- 
difche Ziel iſt erreichbar. Es wird erreicht durch einen ſolchen 
Caufalzufammenhang der Handlungen, aus dem nothwendig bie 
Befeitigung der Uebel, die Verbefferung der Weltzuftände her: 
vorgeht. Nun zeigt der Weltladf, daß in diefem Zufammen: 

*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr. IL S. 264--278, 





848 
hange bie fittliche Abſicht der Weltverbefferung keineswegs bie 


Sache ausrichtet, daß fie oft dad Wenigſte, oft gar nichts ver- " 


mag, oft fogar mit dem beflen Willen ven Zuftand der Dinge 
verfchlimmert. Vielmehr find es häufig gerade die Laſter und Un= 
thaten, welche die Welt vorwärts bringen. Die felbftfüchtigen 
und fehlechten Intereffen befämpfen fich gegenfeitig, richten fich 
gegenfeitig zu Grunde und erzeugen dadurch von felbft ungewollt 
den befferen Zuftand. Ganz unabhängig von der Gefinnung 
wãachſt, gedeiht, erhält fich das Weltbefte. Es kommt fo oft 
ohne alle moralifche Abficht zu Stande; es ift Fein Zweifel, daß 
es überhaupt unabhängig von aller moraliſchen Abficht, durch 
ein richtiges Ineinandergreifen ber Handlungen, durch ein rich 
tiged Berechnen der Erfolge zu Stande gebracht werben kann. 
Die Gefinnung, in welcher gehandelt wird, thut hier nichts zur 
Sache; die äußere That mit ihren Erfolgen gilt hier alles. Der 
irdifche Weltzweck kann erreicht werben durch einen bloßen Mecha⸗ 
nismus menſchlicher Handlungen *). 


4. Die überirdifhe Welt. 

In diefem Mechanismus hat die menfchliche Freiheit feinen 
Spielraum, fie ift daher zur Erreichung des irdifchen Weltzweckes 
vollkommen entbehrlich. Verglichen mit diefem Zwecke, ift das 
Sittengefes in unferem Innern leer und überflüſſig. Iſt nun 
unfere Freiheit feine leere Vorſtellung, fondern unfere wahrhafte 
Wirklichkeit, fo kann jener Weltzweck, der durch einen Caufal- 
zufammenhang ohne Freiheit zu erreichen ift, unmöglich unfere 
ganze Beftimmung fein. Gilt dad Sittengeſetz als abfolute 
Realität, fo kann ed unmöglic) leer und überfläffig, fo Bann der 
irdifche Weltzweck unmöglich Unfer letter Zweck, fo kann die 

*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr, III. ©. 278 — 282, 


849 


vorhandene wirkliche Welt unmöglich unfere alleinige Wirklich 
feit fein. Es ift etwas in mir, dad in diefem Leben ohne Ans 
wendung, das für den höchften irdifchen Zweck felbft zwecklos 
und überfläffig iftz ich muß daher einen Zwed haben, der über 
dieſes Leben hinausgeht; es muß daher eine wirkliche Welt geben, 
welche die irbifche nicht ift, fondern weiter reicht als dieſe: eine 
überirdifche Welt. Das Sittengefeß fordert die Realität 
einer ſolchen Welt; das Gewiſſen realifirt diefe Vorſtellung. 

In diefer anderen überirdiſchen Welt gilt nicht die äußere That 
mit ihren Erfolgen, nicht die That ald Glied in dem Gaufalnerus der 
Thaten, fondern die abfolut freie Handlung, der Wille als ſolcher, 
die bloße von allem Gaufalzufammenhang unabhängige Gefinnung. 
In der Sinnenwelt herrfcht die That, in der Vernunftwelt bie 
Gefinnung ; dort ift die Bewegung das Wirkende und Lebendige, 
bier ift das Wirkende und Lebendige einzig und allein der Wille, 
Ich bin abfolut frei und finnlich zugleich; ich Iebe in beiden Wel- 
ten, zugleich in der irdifchen und überirdifchen, in der Sinnen» 
welt und in der Wernunftwelt, alfo lebe ich fchon hier auch in 
jener anderen überirbifchen Welt, ich lebe fchon auf Erden im 
Himmel. „Das, was fie Himmel nennen, liegt nicht jenſeits des 
Grabes; es ift ſchon hier um unfere Natur verbreitet und fein 
Licht geht in jedem reinen Herzen auf” *). 


5. Die beiden Welten. Glauben und Schauen. 
Die Wiedergeburt. 

Wie wir die beiden Welten auch unterfcheiden und dieſen 
Unterfchieb in Worten ausdrücken, als finnliche und überfinnliche, 
zeitliche und ewige, gegenwärtige und Fünftige, irdifche und über- 
irdiſche Welt; fo find doch beide nicht fo unterfchieden, daß die 

y Ebendaſelbſt. TIL Bud. Ar, II. &,281—283, Vgl. 6.285, 
Bilder, Geſchichte der Philofophie. V. 54 


850 


zweite erſt da für und anfängt, wo die erfte für und aufhört, fon= 
dern beide Orbnungen find urſprünglich in uns, jene überfinnliche 
Belt ift daher in jedem Moment unfered Dafeind auf gleiche 
Weiſe gegenwärtig: unfere That fält in die Sinnenwelt, unfere 
Gefinnung (der reine pflihtmäßige Wille) lebt und wirkt in der 
überfinnlichen. Und da unfere That nichtd ausbrüden fol als 
unfere Gefinnung, fo ift der gute Wille dad Band, welches 
beide Welten ‚miteinander verknüpft. Hieraus erhellt, welches 
Leben ich in der Sinnenmwelt führe. Ich bethätige meine Gefin- 
nung, ic) erfülle meine Pflicht, ohne auf den Erfolg zu rechnen, 
ohne durch ben Nichterfolg irre zu werden, ohne die Früchte mei: 
ner That zu ernten, ohne fie auch nur ernten zu wollen. Viel⸗ 
mehr würde die Abficht auf den Erfolg in der Sinnenwelt die 
Bedingung aufheben, unter der allein ich Glied der überfinn- 
lichen Welt bin. Dagegen wird die Bedingung, unter der ich 
der Sinnenwelt angehöre, keineswegs dadurch aufgehoben, daß 
ich handle ohne Abficht auf die Erfolge; im Gegentheil dadurch 
allein bewähre ich, daß ich bie Pflicht bloß um ihrer felbft willen 
thue, daß ich in Wahrheit ein lebendiges Glied bin der überfinn- 
lichen Welt. 

Ich könnte ein folches Glied nicht fein, wenn ich nur han⸗ 
deln wollte in Abficht auf den Erfolg und darum in der Sinnen- 
welt, weil fie mir ben Erfolg vorenthält, weil in ihr bie reine 
Gefinnung fruchtlos bleibt, nicht handeln wollte. Ich wirkte nur 
um der Pfliht willen, nur für die ewige Welt; aber ich würde 
für dieſe gar nicht wirken können, ohne für die Sinnenwelt 
wenigſtens wirken zu wollen*). 

Ic bin gewiß, daß der reine pflichtmäßige Wille nichts 
Fruchtlofes ift, fondern Glied einer ewigen Ordnung, Urfache 

*) Ebendaſelbſt. III Bud, Nr. III. 6.285, 


851 

ewiger Folgen; ich bin diefer Folgen gewiß, auch wenn ich fie 
nicht fehe, mitten in einer Welt, die mir die Nichterfolge und 
die Fruchtlofigkeit des guten Willens durch die tägliche Erfahrung 
aufdrängt: darum ift mein Leben in diefer Welt „ein Leben im 
Glauben.” Es wird „ein Leben im Schauen fein,” wenn 
mir die Folgen des guten Willens, deren ich gewiß bin, auch gegen: 
wärtig fein werden. Der Glaube vollendet fih im Schauen; 
nicht als ob er Dadurch feiner Sache erft gewiß würde, er kann den 
Grab biefer Gewißheit nicht erhöhen, denn fie ift von vornherein 
abfolut [fonft wäre fie nicht Glaube], er vollendet nur feinen 
Lebenszuftand*). 

Wenn meine Nichterfolge in der Sinnenwelt mic, irre 
machen könnten, fo lebte ich nicht im Glauben, fo wäre mein 
Glaube nichts. Wenn ich an der Sinnenwelt haftete, verfloch⸗ 
ten in das Getriebe ihrer Intereffen, fo würde mic, jeder Nicht: 
erfolg irre machen. Darum ift der Glaube an dad Ewige nur 
moglich, wenn ich die Intereffen, die an der Sinnenwelt haften, 
vollſtandig aufhebe, wenn ich auf das Irdifche ein für allemal 
vollftändig refignire, wenn ich, wie die Schrift fagt, der Welt 
abfterbe. Dieſes der Welt Abfterben ift die Wiedergeburt im 
Glauben, die Umwandlung des Willens; es giebt feinen anderen 
Weg zum Licht ald durch, die Läuterung des Willens, keinen an- 
deren zur Lebensweisheit ald Durch die Reinigung des Herzens **). 


6. Der unendlide Wille. Gottesglaube, 
a. Das Geſetz der überfinnlihen Welt. 
Das Band, welches an die Urfache unwiderruflich die Wir- 
fung und an dieſe neue Wirkungen anfnüpft, nennen wir Gefeg: 
*) Ebendaſelbſt. S. 286. 
**) Ebendaſelbſt. ©. 292, 
54* 


x 852° 
es ift die Bedingung, welche macht, daß etwas Urſache ift. 
Nun bin ich gewiß, daß der gute Wille nicht zwecklos ift, daß 
er Wirkungen bat, die in die Ewigkeit gehen; ich glaube an die 
Realität diefer Wirkungen, alfo an das Gefeß, welches fie mit 
dem guten Willen nothwendig verbindet. Ich bin diefes Geſetz 
nicht, ich bin es nicht, der den Willen, den bloßen Willen, zu 
einer ſolchen Urfache macht. So wenig mein Bewußtfein über 
fich felbft und feine Vorftelungen hinausgehen kann, fo wenig 
ann mein Wille über feine Sphäre hinaus wirken. Diefe Sphäre 
iſt nur die Gefinnung. Innerhalb diefer Sphäre bin ich abfolut 
frei; außerhalb derfelben bin ich abfolut ohnmächtig, und doch 
bin id) gewiß, daß ich durch meine Gefinnung außerhalb derfelben 
abfolut wirffam bin. 

Auf den Willen kann nur der Wille einwirken. Nur der 
Wille kann den Willen zur Urfache machen. Und da der end: 
liche Wille nicht über fi hinauswirken, fich nicht felbft zur Ur: 
fache von Wirkungen machen kann, die außerhalb feiner Sphäre 
liegen, fo Tann jenes Geſetz, von deſſen Realität ich überzeugt 
bin, nur ein unendlicher Wille fein: ein folcher, deſſen 
wollen gleich geſchehen, deſſen gebieten gleich hinftellen ift. 
Nur in einem folden unendlichen Willen kann dad Geſetz und 
die moralifche Ordnung gegründet fein, in welcher mein Wille 
ewige Folgen hat. Daß mein Wille pflichtmäßig gefinnt ift, daß 
ich der Stimme des Gewiſſens gehorche, ift meine Sache; daß 
aber diefer pflichtmäßige Wille Glied einer Welt ift, einer mora⸗ 
liſchen Ordnung: dad ift Wirkung allein des unendlichen Wil: 
lens; er ift dad Band und der Vermittler zwifchen mir und ber 
überfinnlichen Welt*). 


*) Ebenbafelbft, III Bud. Nr. IV, ©. 294 — 299. 





"858 

b. Die Schöpfung der Sinnenweli. 

Im der moralifchen Ordnung hat der Wille (die bloße Ge: 
finnung) ewige Folgen. Wille kann nur auf Willen einwirken. 
Die moralifche Ordnung ift eine Geifterwelt, in der die verfchie: 
denen und von einander unabhängigen Willen gegenfeitig auf ein⸗ 
ander einwirken und ſich zu einer Gemeine vereinigen, die von 
einem und bemfelben Willen, von einer und berfelben Gefinnung 
belebt wird. Diefe Geifterharmonie ift nur möglich in und durch 
den unendlihen Willen: er ift dad Band der Geifter, er ift die 
gemeinfchaftliche Quelle der Geifterwelt und ihrer Harmonie *). 
Diefe Geifterharmonie wäre nicht möglich, wenn die Geifter 
nicht gegenfeitig auf einander einwirken, fich gegenfeitig mitthei⸗ 
len und verftehen könnten. Diefe gegenfeitige „Geiſterkunde“ ift 
die Bedingung der Geifterharmonie, der Geifterwelt. Und die 
„Geiſterkunde“ wäre nicht möglich, ohne daß wir übereinftim- 
men über unfere Gefühle, Anfhauungen, Denfgefege, ohne daß 
wir auf gleiche Weife diefelbe gemeinfchaftliche Sinnenwelt vor 
flellen. Der unendliche Wille, der die moralifche Uebereinftim- 
mung ber Geifter bedingt und begründet, ift auch die Bedingung 
und der Grund aller Geifterharmonie: er macht, daß wir bie 
felbe Sinnenwelt erbliden, ex ift der „Weltfhöpfer in ber 
endlichen Vernunft," er erfchafft die Welt nur in unferem Ges 
müth: die Bedingung, woraus ſich die moralifche Welt ent: 
widelt, den Ruf zur Pflicht, und die Bedingung (Medium), 
wodurch ſich die finnliche bildet, unfere übereinftimmenden Ge: 
fühle, Anſchauungen, Denkgefege. „Nur die Vernunft ift, bie 
unendliche an fich, die endliche in ihr und durch fie.” „Es ift 
fein Licht, durch welches wir das Licht und alles, was in dies 
fem Eichte und erſcheint, erbliden. Alles unſer Leben ift fein 


*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr. IV. ©. 299. 





S_ 


N 


854 


Leben.” Wir leben nur in ihm, wir ſehen und erkennen alles 
in ihm und durch ihn, auch unſere Pflicht. Unſer pflichtmäßiger 
Wille iſt ſein Wille: darum allein iſt er mächtig und in alle 
Ewigkeit wirkſam. In ihm haben wir unſeren Urſprung, in 
unſerer ſittlichen Geſinnung iſt er wahrhaft gegenwärtig und wirt: 
fam: fo ift er in Wahrheit, wie die Eindliche Einfalt ihn empfin- 
det, unfer Herzenskündiger und unfer Vater; er ift der unend- 
liche Wille, wir der endliche; darum ift er durch Feine Steige 
tung unfered Wefend, durch Feine Erweiterung unferer Schran- 
ten, durch Feine menfchliche Analogie, auch nicht die der Perſön⸗ 
lichkeit, faßbar; er ift nicht dem Grabe, fondern ber Art nad 
von uns verfchieben *). 


7. Die religidfe Weltanfhawung. 
a. Pantheismus. 

In diefem Gotteöglauben ruht bie religiöfe Weltanfhauung, 
in ber ſich alle Wiberfprüche in und außer uns auflöfen in eine 
volle befriedigte Harmonie. Die Vorftellung der Sinnenwelt ift 
gegründet in ben theoretifchen Bedingungen meiner Natur (mei: 
nem Empfinden, Anfchauen, Denken), diefe Bedingungen felbft 
find gegründet in meinem praktifchen Wefen, in dem Willen zur 
Pflicht, in dem Gewiffen; mein Gewiſſen ift gegründet in dem 
unendlichen Willen, in Gott; fo ift Die moralifche Ordnung, die 
Geifterwelt, die Uebereinftimmung der Geifter, ihre gemeinfame 
Vorftellung der Sinnenwelt, diefe felbft in Gott gegründet: fo 
ift alles, was ift, in ihm und nichts außer ihm. Die ganze 
Welt ift ein Strom göttlichen Lebens, aus berfelben einen Quelle 
entfprungen, in berfelben Richtung nach demfelben Ziele be: 
wegt, welches eins ift mit dem Urfprung. „Seht erfcheint mei- 
) Ebendafelbft, TIL Bud. Nr. IV. &.299 — 305. 








855 

nem Xuge dad Univerfum in einer verklärten Geftalt. Die tobte 
laſtende Maffe, die nur den Raum ausftopfte, ift verfchwunden, 
und an ihrer Stelle fließt und wogt und raufcht der ewige Strom 
von Leben und Kraft und That, von urfprünglichem Leben, von. 
deinem Leben, Unendlicher: denn alled eben ift dein Leben, und 
nur das religiöfe Auge dringt in das Reich der wahren Schön: 
beit. Ich bin dir verwandt, und was ich rund um mic) herum 
erblide, ift mir verwandt; ed ift alles belebt und befeelt, und 
blickt aus hellen Geifteraugen mich an und rebet mit Geiftertönen 
an mein Herz.” „Dein Leben, wie es der Enbliche zu faſſen 
vermag, ift ſich ſelbſt fchlechthin durch fich felbft bildendes und 
darſtellendes Wollen; dieſes Leben fließt, im Auge des Sterb⸗ 
lichen mannichfach verfinnlicht, durch mich hindurch herab in die 
ganze unermeßliche Natur.” „Ein zufammenhängender Strom, 
Tropfen an Tropfen, fließt das bildende Leben in allen Geftal- 
ten und allenthalben, wohin ihm mein Auge zu folgen vermag, 
und blidt mich an, aus jedem Punkte des Univerfums anders, 
als diefelbe Kraft, wodurch es in geheimem Dunkel meinen Kör- 
per bildet.” „Aber rein und heilig und deinem eigenen Wefen fo 
nahe, ald im Auge des Sterblichen etwas ihm fein Tann, fließet 
diefes dein Leben hin ald Band, das Geifter mit Geiftern in 
Eins verſchlingt, als Luft und Aether der einen Vernunftwelt, 
undenkbar und unbegreiflich und doch offenbar daliegend vor dem 
geiftigen Auge”). \ 
b. Optimismus. 

In diefer pantheiftifchen Anfchauungsweife, die das Weltall 
auffaßt ald Erfcheinung des göttlichen Lebens und Wollend, liegt 
unmittelbar der Gedanke der Theodicee. Die gefammte Welt: 
ordnung erfcheint ald Ausdruck des unendlichen Willens. Jedes 
y öbendaſelbſt. III Bud. Ar, IV. S. 315 — 316, 


856 - 
ihrer Glieder, jede ihrer Begebenheiten ift von Gott gewollt, ge: 
fügt und darum wohlgeorbnet. Auch die Sinnenwelt ift eine 
nothwendige Bedingung in dem göttlichen Weltplan, der irdifche 
Weltʒweck ein Mittel zur moralifchen Vollendung der Menfchheit, 
die Uebel der Welt, die phyſiſchen und moralifhen, Mittel zur 
Erreihung des irdifchen Weltzwecks; felbft das Böſe in der 
Welt, weil es befämpft werben foll und zu feiner Bekämpfung 
beftimmte Pflichten in uns aufruft, ift ein Ruf zur Pflicht, eine 
Stimme Gotteö, die zu unferem Gewiffen redet, und in diefem 
Sinne gilt auch vom Böfen, daß es ift nur durch den ewigen 
göttlichen Willen. „So ift alles gut, was da gefchieht, und 
abfolut zweckmäßig. Es ift nur eine Welt möglich, eine durchs 
aus gute.” „Ich weiß, daß ich in der Welt der höchften Weis: 
heit und Güte mic) befinde, die ihren Plan ganz durchfchaut und 
unfehlbar ausführt; und in diefer Ueberzeugung ruhe ich und bin 
ſelig·).“ 
OL 
Summe des Ganzen. 
Vergleichung mit Descartes, Malebrande, Spinoga, Leibniz und Kant. 

Das Gewiffen realifirt die Vorſtellung der Sinnenwelt, 
der Menfchheit, der moralifhen Weltorbnung, der göttlichen 
Weltregierung. Oder anders ausgedrückt: dad Gewiſſen macht, 
daß wir von ber Realität unſeres Zwecks (dev Pflicht), darum 
auch von der Realität der Objecte und des Schauplatzes unfe: 
ver pflichtmäßigen Wirffamkeit, von der Realität der Sinnen= 
welt, ber Menfchheit, der fittlichen Weltordnung, der göttlichen 
Weltregierung, von der Realität des göttlichen Willens, der 
alles in allem ift, mit abfoluter Sicherheit überzeugt find. Diefe 
Ueberzeugung iſt unſer Glaube. Dieſer Gottesglaube iſt unſere 

*) Ebendaſelbſt. III Bud, Nr. IV. S. 307. S. 313, 


857 


Religion. Das von der religiöfen Weltanfhauung durchdrun⸗ 
gene Leben ift unfere Seligfeit. Selbftvergeffenheit macht den 
Charakter des Lebens und der Wirklichkeit. Religiöſe Selbftver: 
geffenheit, Verfenktfein in die Anfchauung des göttlichen Lebens, 
macht unfer Dafein zum „feligen Leben“. 

Das Gewiffen ift die Stimme Gottes in uns, die praftifche 
Gottesidee, durch die allein wir ber eigenen Realität und ber 
Realität der Dinge außer uns gewiß werden. Hier treffen wir 
eine merkwürdige Webereinftimmung zwifchen Fichte und Des» 
cartes. Man hat die Ausgangspunkte beider häufig verglichen 
und darf dieſe Vergleichung ausdehnen bis in die Art und Weife, 
wie fich in beiden der Zweifel an aller Realität und die Selbft- 
gewißheit ald Grund aller anderen Gewißheit auöfpricht. Ebenfo . 
wichtig, aber weniger bemerkt ift die Aehnlichkeit und ber Unter: 
fchied beider in der Auflöfung jened Zweifels, in der Begründung 
und Befeftigung der Realität. Was bei Descartes die theore- 
tifche Gottedidee ift und leiftet, das ift und leiftet bei Fichte die 
praftifche Gottesidee oder dad Gewiſſen. 

Nur in und durch Gott find wir ficher, daß wir in feiner 
Traumwelt leben, fondern in einer wirklichen und gemeinschaft: 
lichen Welt, find wir unferer Uebereinftimmung und der Wirk: 
lichkeit unſerer Objecte ficher. „Er ift das Band der Geifter“ ; 
‚wir fehen die Dinge in Gott”: fo fagte Malebrande in 
folgerichtiger Abkunft von Descartes; fo fagt wörtlich in ber 
folgerichtigen Entwidlung feiner eigenen Gedanken auch Fichte. 

Iſt aber die Realität unferer Objecte, unfere Uebereinftim: 
mung, voir felbft in Gott gegründet, fo ift nichts, das außer 
ihm wäre; unfer Licht ift fein Licht, unfer Beben ift fein Leben, 
er ift alles in allem, die ewige Weltordnung felbft. Die Gotted: 
idee von Descarted und Malebranche erweitert fich zur Gotted- 


858 


ibee Spinoza’s, zu bem Gedanken des AU-Einen, zur pan- 
theiftifhen Weltanfhauung. Denfelben Gang nimmt Fichte: 
Gottesidee. Das ift, was man feine „Annäherung an Spinoza” 
genannt hat, nur daß bei Diefem die ewige Ordnung der Dinge 
naturaliſtiſch, bei Fichte moralifch gefaßt wird; aber das eine 
Weltgefeg gilt bei beiden fo, daß wir es nur begreifen, indem 
wir der Sinnenwelt und ihren Begierden entfagen und abfterben. 

Iſt die Weltordnung eine göttlich gewollte, alfo gleich der 
göttlichen Weltregierung, fo ift fie durchgängig gut und vollkom⸗ 
men, und auch ihre Uebel find nothwendige und wohlgeorbnete 
Mittel zum Guten. In diefem Gedanken ber Theodicee, ge 
gründet auf die Idee der höchften Weisheit und Güte, ſtimmt 
Fichte überein mit Leibniz. Auch bei Leibniz ift die Sinnen: 
welt gegründet in unferer Vorſtellung, in den vorſtellenden Kräf: 
ten ber Monaden, und diefe find gegründet in Gott. Auch die 
Idee der Weltharmonie als eines unendlichen Stufenreichs gött: 
lichen Lebens und göttlicher Vollkommenheit ift ein Berührung: 
punkt zwifchen Leibniz und Fichte. 

Aber die Wirklichkeit der görtlichen Weltordnung ift bei 
Fichte nicht Gegenftand ber theoretifchen Erkenntniß, nicht Sache 
des Wiflens, fondern des Glaubens und ber im Glauben gegrün: 
beten religiöfen Weltanfiht: darin unterfcheibet er ſich von den 
dogmatifchen Philofopgen und flimmt überein mit Kant. So 
wiederholen ſich hier in Fichte auf eine eigenthümliche und zu⸗ 
gleich nothwendige Weife Dedcarted, Malebranhe, Spinoza, 
Leibniz und Kant. 

Im Rüdblid auf feine früheren Schriften, durfte Fichte 
fagen, daß er in ber Beftimmung des Menfchen die Entwid: 
lung feiner Glaubendlehre gegenwärtig am weiteſten fortge: 
führt habe, Das gilt namentlich in Betreff der Gottesidee und 





859 


des religiöfen Lebens. Religion ift Leben, Leben in Gott, feliges 
Leben. ° Die fittlihe Entwiclung der Menfchheit vollendet ſich in 
der Religion. Hier eröffnen fich die nächften Aufgaben: die 
Religionslehre als „Anweifung zum feligen Leben” und die Ent: 
wicklung der Menfchheit zur Religion in den „Grundzügen des 
gegenwärtigen Zeitalterd”. 

Die Schrift über die Beſtimmung des Menfchen enthält die 
Begründung der Wiffenfchaftölehre aus der natürlichen Anſicht 
der Dinge, die im Zweifel endet, die Begründung des Glau- 
bens aus dem Wiffen, das ſich in Traum und Schein auflöft, 
die Vollendung der Wiſſenſchaftslehre in ber Glaubenslehre: fo 
umfaßt fie in der Summe das ganze Spflem mit dem Keime zu 
neuen Entwidlungen und bildet daher recht eigentlich den Ueber: 
gang zur legten Periode und deren bebeutfamen Anfang. 


Viertes Capitel. 
Grundzüge des gegenwärtigen Beitalters. 


Unter ben Beruföpflichten des Gelehrten gab ed eine, auf 
welche alle übrigen ſich flügten, und von deren Erfüllung die der 
anderen abhing. Der Gelehrte foll die künftigen Bildner des | 
Menſchengeſchlechts erziehen; er Tann ed nur dann, wenn er bie 
gegenwärtige Bildung felbft in fich trägt in der vollfommenften 
und lebendigften Weife, wenn er auf der Höhe fteht des eigenen 
Zeitalterd; und da jede Erhebung in dem Fortgange der Menſch⸗ 
heit nur möglich ift durch die Erfenntniß des vorhandenen Zu: 
ftandes, fo ift es die Einficht in das Weſen des eigenen Zeit: 
alters, die unter den Pflichten des Gelehrten recht eigentlich ben 
Mittelpunkt ausmacht. Was Fichte in feiner Sittenlehre und 
in feinen Vorlefungen über die Beflimmung und dad Weſen des 
Gelehrten von dem legteren fordert, ift zugleich eine Aufgabe, 
die er fich felbft ſtellt. Seine Vorträge über die Grundzüge des 
gegenwärtigen Beitalterd hängen damit genau zufammen; fie 
find dem Zeitpunkte wie dem Geifte nach den erlanger Vorträ- 
gen über das Wefen des Gelehrten unmittelbar benachbart, fie 
fallen in den Winter von 1804 zu 1805, diefe in den darauf 
folgenden Sommer. Auf ihre Zufammengehörigfeit mit der 





861 


Schrift über die Beftimmung des Menfhen und den Anmeifungen 
zum feligen Leben habe ich ſchon am Schluffe des vorigen Ca⸗ 
pitels hingemwiefen*). Ich will gleich hinzufügen (mas fpäter 
erſt ſich näher erflären läßt), daß auch die Reden an bie beutfche 
Nation fo genau mit biefen Vorträgen verbunden find, daß 
Fichte felbft fie ald deren Fortfegung wollte angefehen wiffen. 


L. 
Grundbegriff des Zeitalters. 


1. Grundbegriff der Menfchheit. 

Dad gegenwärtige Zeitalter fol in feinen Grundzügen ge: 
fhildert werden, nicht etwa durch eine Sammlung empirifcher 
Beobahtungen, fondern fo, daß aus dem Weſen dieſes Zeit: 
alters, aus dem Grunbbegriffe deffelben jene Grundzüge abgeleitet 
werben ald nothwendige Phänomene. Der Grundbegriff verhält 
fi zu den Grundzügen, wie die Einheit zu der Mannigfaltige 
teit, die aus ihr hervorgeht. Die Faſſung der Aufgabe ift daher 
tein philofophifch. Zunächft ift diefer „Grund⸗- oder Einheitd- 
begriff”, aus dem die Ableitung geſchehen fol, zu finden. 

Nun ift ein beſtimmtes Zeitalter felbft nur ein Glied in dem 
Zuſammenhange aller Zeitalter, in dem Entwicklungsgange ber 
gelammten Menfchheit, es ift eine unter allen möglichen Epochen 
der gefammten Zeit und kann feinem Wefen nach nur aus diefem 





*) ©. oben S. 859. Beiläufig made ich darauf aufmerffam, 
daß Fichte'3 Schilderung des gegenwärtigen Zeitalters mit feiner Schrift 
über Nikolai in einer Reihe von Zügen ungeſuchter Weife überein- 
ſtimmt. Was Fichte dort an einem Individuum bargeftellt hatte, wird 
bier aus dem Charatter des Zeitalterd entwidelt, für deſſen Typus ihm 
Nilolai als eins ber beften Gremplare galt. Man vergl. in diefer Rüd: 
fiht beſonders dieſes Gapitel Nr. II. 1-8, 


862 


Bufammenhange richtig begriffen werden. Darum erweitert fih 
die Aufgabe. Welche Epoche der Menfchheit ift dad gegenwärtige 
Beitalter? Hier erhebt fich die Vorftage: welches überhaupt find 
die Epochen der Menfchheit? Welches ift der Grund: und Ein- 
heitsbegriff des gefammten menfchlichen Erdenlebens? 

Wir nehmen die Menſchheit als Gattung und fragen, welche 
Epochen dieſe Gattung in ihrem Leben nothwendig durchlaufen 
muß? Die Frage löft ſich aus der richtigen Einſicht in die Be: 
ſtimmung des Menfchen, in den Zweck feiner Entwidlung, in 
den BWeltplan der Menfchheit. Diefer Zweck ift dad Vorbild, 
dad wir verwirklichen, das Bernunftgefeg der menfchlichen Natur, 
das wir erfüllen follen: wir ſollen vernunftgemäß leben. Da 
aber die Vernunft unfer eigenes felbfithätiged Wefen ausmacht, 
fo fol der Menſch diefes Vorbild ſich felbft fegen und es mit 
Bewußtfein und Freiheit verwirklichen: er fol fein Leben „nad 
der Vernunft mit Freiheit einrichten”. So formu— 
Hirt fich der Zweck deö gefammten Erdenlebens. Daraus erhellen 
die nothwendigen Epochen feiner Entwidlung *). 


2. Die Hauptepoden der Menfhheit. 
& Anfang und Ziel. 

Was die Menfchheit erft vermöge ber Freiheit aus fich machen 
fol, das kann fie unmöglich ſchon fein vermöge der Freiheit. 
Dad Grundgefeß alles menfchlichen Lebens ift die Vernunft, dies 
ſes Geſetz kann nicht aufhören zu wirken, aber ber Unterfchieb 
ift, ob es ald Naturgefeß oder ald Freiheitögefeg wirkt; ob das 
vernunftmäßige Leben ein Product unferer Freiheit ift oder nicht. 
Wirkt die Vernunft in und ald Naturgefeg, fo handeln wir 


*) Grundzüge bes gegenwärtigen Zeitalter. S. W. III. Abth, 
II Bd. I Borlefung. S. 3—7, 


863 


diefem Gefege gemäß ohne ein Bewußtfein der Gründe, alfo 
nach einem dunkeln Gefühl, die Vernunft ift nicht unfer bewußter, 
mit Freiheit entworfener Zweck, fondern fie herrfcht als Inſtinct 
ober als blinder Trieb. Wir werden demnach in der Menfchheit 
zwei Hauptepochen unterfcheiden: in der einen herrfcht ber Wer: 
nunftinftinct, in der andern die Bernunftfreiheitz 
jene ift nothwendig die erfle und niebere, diefe die fpätere und 
höhere Stufe. Es ift nothwendig, daß die Menfchheit von jener 
niederen Stufe übergeht zu dieſer höheren. Aber wie ift ein 
folcher Uebergang möglich *)? 

b. Die Uebergangsepochen. 

Die beiden Epochen verhalten fich, wie das blinde Vernunft: 
leben zum fehenden ; dad Bewußtfein macht Die Vernunft fehend, 
ihrer felbft mächtig und frei: es ift daher das Vernunftbewußt⸗ 
feinoder die „Wernunftwiffenfchaft,” wodurch jener Ueber: 
gang vermittelt und der Vernunftinftinct aufgehoben wird zur 
Vernunftfreiheit. Diefes Mittelglied bildet eine dritte Epoche 
zwiſchen den beiden früheren. 

Indeffen. kann von dem Vernunftinftinct zur Vernunftwif: 
fenfchaft auch nicht unmittelbar fortgefchritten werden. Es ift 
bier als Mittelglied ein Zwifchenzuftand nöthig, in dem wir vom 
Vernunftinftincte und erft losmachen und befreien. Der Trieb 
zu einer ſolchen Befreiung Tann aber erft dann eintreten, wenn 
wir die Herrfchaft des Vernunftinftinctes als einen Zwang, ald 
ein und auferlegtes Joch empfinden, das wir abſchütteln wollen. 
Der Zwang kommt von außen. So lange die Vernunft ald In: 
ſtinct herrfcht, empfinden wir ihre Herrfchaft nicht ald Zwang; 
fie muß und gegenübertreten ald fremdes Gefeg, ald äußere Ge- 
walt, als Autorität, um als eine zwingende Macht empfunden 

*) Chendafelbft. I Borlefung. S. 7—9, 


864 


zu werben, gegen welche unfer perfönlicher Freiheitstrieb reagirt. 
Es treten mithin zwifchen die Epoche des Vernunftinſtincts und 
die der Vernunftwiffenfchaft zwei andere Epochen ein, welche den 
Uebergang vermitteln: die Herrfchaft der Bernunftautori- 
tät und die Befreiung von biefer Herrfchaft, unmittelbar 
von ber Autorität, mittelbar von dem Inftinet und dadurch von 
der Vernunft überhaupt, eine Befreiung, die in der Auflöfung 
alles Bindenden befteht, die mit der Autorität auch die Ber: 
nunft felbft über Bord wirft und fo zu fagen dad Kind mit dem 
Bade audfchüttet. 

Es find demnach fünf Hauptepochen, durch welche die menſch⸗ 
liche Gattung fortfchreitet und das Ziel ihres irdifchen Lebens er: 
reicht. Diefes Ziel ift die Verwirklichung ihres Zwecks, „ber 
vollendete Abdrud ihres ewigen Urbildes”, das Wernunftleben 
als freie That, als Product der Freiheit, als fittliches Kunft- 
werk. Daher wird bie Epoche ber Vollendung am beften bezeich⸗ 
net werben ald die der „Vernunftkunſt“. 

Die erfie Stufe der Entwicklung ift die unbedingte Herr: 
ſchaft der Vernunft durch den Inſtinct, die legte die freie Herr- 
ſchaft der Vernunft in Weife der Kunft; von dem Vernunft: 
inftinet zur Vernunftkunſt führt der Weg durch die Vernunft: 
wiffenfchaft, zu welcher felbft durch eine Periode der Befreiung 
hindurch fortgefchritten werben muß, welche leßtere vorausſetzt, 
daß die Vernunft aus der innerlich treibenden Macht des Inftincts 
übergegangen ift in die äußerlich zwingende Macht der Autorität 
(Vernunftinftinet, Wernunftautorität, Befreiung von beiden, 
Vernunftwiffenfchaft, Vernunftkunſt). 

Die beiden erflen Epochen de3 Vernunftinſtincts und ber 
BVernunftautorität können bezeichnet werden ald das Zeitalter der 
blinden Vernunftherrfchaft, die beiden letzten Epochen der 





865 


Bernunftwiffenfchaft und Vernunftkunft als das der fehenden 
Vernunftherrſchaft. Im der Mitte ſteht die Epoche der Befrei- 
ung. In ihr herrfcht die Vernunft nicht mehr in blinder Weife 
und noch nicht in bewußter, d. h. fie herrſcht gar nicht, vielmehr 
herrſcht die abfolute Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit und da⸗ 
mit die völlige Ungebundenheit; im Gegenfage zu dem Gattungd- 
zwecke, von bem man ſich losmacht, wird hier das treibende 
Princip die Selbſtſucht des Individuums. 

Die Geltung des Vernunftzwecks in der Menſchheit bedingt 
deren ſittlichen Zuftand. Jedes Zeitalter hat daher feinen ausge: 
fprochenen fittlichen Charakter: das erfte if der „Stand der Un= 
ſchuld“, das zweite der „Stand der anhebenden Sünde”, die 
Vernunft will ald Autorität gelten, und damit beginnt fchon dad 
Widerftreben gegen ihre Gebote; das dritte, in welchem das Ge: 
gentheil der Vernunft herrfcht, ift „der Stand ber vollendeten 
Sündhaftigkeit”, die Bernunftwiffenfchaft macht den „Stand der 
anhebenden“ —, die Vernunftkunſt den der „vollendeten Recht: 
fertigung und Heiligung”. Im diefer Charakteriftif, welche die 
Angelpunkte in der Entwicklung bes Menſchengeſchlechts ald Un 
ſchuld, Sünde und Rechtfertigung bezeichnet, erkennen wir den 
religionsphiloſophiſchen Grundgedanken und das Beſtreben des 
Philoſophen, feine Betrachtungsweife ber religiöfen anzunähern *). 

Nun muß man nicht meinen, daß dieſe Zeitalter haarſcharf 
getrennt find, ald ob fie mit der Art von einander gehauen wäz 
ten; vielmehr verfchieben fie fi mannigfaltig in einander; in 
jedem Zeitalter find Charaktere möglich aus jedem; es giebt in 
jedem Zurüdgebliebene und Worausgeeilte, auch folche, die in 
der Erfenntniß der ewigen Wahrheit frei find von aller Zeit. 

*) Ebendaſelbſt. I Vorl. S. O— 12. Vgl. II Vorl, S. 17—18, 


V Vorl. ©. 65. 
diſqer, Gefhihte dge Phllofophie V. 55 


866 


Nicht alle, die in einer beftimmten Zeit leben, find auch Reprä: 
fentanten des Zeittypus. Won diefen Repräfentanten allein ift 
die Rede, wenn bie Grundzüge eines Zeitalters entwidelt wer- 
den. Eine Entwidlung ift allemal eine Begründung und ald 
folche gar nicht geftimmt zu elegifchen Betrachtungen. Was hier 
entwidelt wird, ift ein Gattungstypus und ald folcher Fein Ge 
genftand ber Satyre*). 


5. Befimmung des gegenwärtigen Zeitalters. 

®. Aufklärung.‘ 

Vergleichen wir mit diefen Epochen das gegenwärtige Zeit: 
alter, fo ift Mar, daß es die Periode der blinden Bernunftherr: 
ſchaft (die beiden erſten Epochen) hinter ſich hat; das Paradies 
ift verloren, die Autorität ift gebrochen; die Vernunftautorität 
herrſcht nicht mehr, die Vernunfterkenntniß herrfcht noch nicht: 
die Gegenwart fällt zufammen mit jener mittleren Epoche, die 
mit der Autorität auch ber Vernunft fich entledigt und den Stand 
der vollendeten Sündhaftigkeit ausmacht. 

Jetzt läßt fich der Grundbegriff dieſes Zeitalters beftimmen. 
Die Befreiung von ber Autorität (die der Vernichtung aller Auto- 
zität gleichkommt) gefchieht durch eine zerfegende Kritik, die 
nichts gelten läßt, ald was dad eigene Denken deutlich verſteht 
und klarlich begreift. Diefe Befreiung durch den Begriff macht 
den Charakter der Aufklärung, die den auögefprochenen Ges 
genfaß bildet zu dem Zeitalter der Autorität, in welchem bie 
pofitiven Lehr⸗ und Lebensſyſteme herrichen, die blinden Glaus 
ben und unbedingten Gehorfam fordern. Aufklärung ift auch 
bie Vernunfterfenntniß (der Geift der nächften Epoche), aber dad 
Princip ihrer Aufklärung iſt ein ganz anderes ald das der gegen: 


*) Ebendaſelbſt. I Vorl, S. 13— 15, 
. 





867 


märtigen. Auf dieſes Princip kommt es an, auf biefe fpecififche 
Differenz der beiden Zeitalter, die im Begriffe der Aufklärung 
verwandt find. Sie verhalten ſich grundverfchieden zu der Ver: 
nunft felbft, die dad Wefen der Menfchheit und deren Gattungs: 
zweck ausmacht *). 

b. Der gemeine Menſchenberſtand. 

In feinem Widerftreben gegen die Vernunftautorität will 
dad gegenwärtige Zeitalter überhaupt nicht gelten laffen, das 
ſich als Gattungszwed, ald allgemeine, von der Willkür der 
Einzelnen unabhängige, in ihnen wirkfame, über fie mächtige 
und erhabene Vernunft ausfpricht. Gilt der Zwed des Ganzen 
als das wahrhaft Wirkliche, fo find ale Individuen nur Organe 
diefed Zwecks, nur Glieder der Menfchheit, fo ift das eben der 
Menſchheit (Vernunft) in Wahrheit ein einiges, in fi be 
ruhendes Leben, zu dem fich die Einzelleben verhalten als vor⸗ 
übergehende Erfcheinungsformen und Mobificationen. Dieß ift 
es, was bie Aufklärung ald Vernunftwiſſenſchaft bejaht, dagegen 
die Aufflärung des gegenwärtigen Beitalterd verneint. In bie: 
fem Punkte liegt die Differenz. Daher behält die Denkweiſe diefes 
Zeitalters nichts übrig, ald was nach Abzug der Gattung und im 
Gegenfage dazu bleibt: die bloße nadte Individualität, das Ins 
tereffe ber individuellen Selbfterhaltung und des individuellen 
Wohlſeins, den Verftand für diefe Lebenszwecke, für deren Er: 
haltung und Förderung, „den gemeinen (gefunden) Menfchenver- 
ftand”**). Das ift die Seele des gegenwärtigen Zeitalterd und 
feiner Aufklärung: die Aufllärung des gemeinen Menſchen⸗ 
verftandes. Nichts gilt, ald dad Begreifliche, nichts ift die: 
fem Verftande begreiflicher ald das eigene Wohlfein, als das 

*) Ehendafeldft. II Vorl, S. 19— 21. Vgl. I Vorl, ©. 11. 


**) Ebenbajelbft. II Vorl. ©. 26. Vgl. V Vorl, ©. 66. 
55* 


868 


Nüsliche, Wohlfeile, Bequeme; nur die Erfahrung fagt, was 
diefen Zweden dient oder nicht dient. Daher gilt die Erfahrung 
als die einzige Duelle aller Erkenntniß und jede Erfenntniß 
für nichtig, die über die Erfahrung hinausgeht, vor allem die 
Syſteme der Philofophen, die mit ffeptifcher Geringfchägung be: 
handelt werben. Sittenlehre und Religion aufklären, heißt fie 
reinigen von allen unnügen Vorſtellungen, fie verwandeln in 
baare Glüdfeligkeitölehre; aus der Moral wird eine Theorie des 
menſchlichen Eigennuges, aus Gott ein nützliches Wefen, welches 
unfer Wohlſein beforgt, aus der Religion ein nothwendiges Er- 
gänzungsmittel der Politik, eine Stüge des gerichtlichen Beweiſes 
uf. f. Auf diefe Weife wird man den Aberglauben los, der die 
früheren Zeitalter verdunkelt hat; auf diefe früheren Zeitalter 
fieht man herab, wie aus woltenlofer Höhe, mit dem Bedauern, 
daß fie fo Dunkel waren; um fo mehr freut man fich der eigenen 
Klugheit, labt fih an feiner Pfiffigkeit und läßt in diefem be: 
haglichen Selbfigefühle der Eitelkeit und dem Heinlichen Hochmuth 
die Zügel fchießen. Was über die gemeinen Lebenszwecke hinaus: 
geht, gilt als abergläubifche Schroärmerei, deren ſich der gefunde 
Menfchenverftand entledigt. Diefe Entleerung von allen Ideen 
iſt das eigentliche Gefhäft der gegenwärtigen Aufklärung, diefe 
„leere Freiheit” und „Ausklarung“ ihr eigentliher Charakter *). 


4. Dad vernunftwidrige und vernunftgemäße Leben. 

Nur für feine perfönlichen Zwecke leben, heißt für den Ver: 
nunftzwed® der Gattung nicht leben, das heißt vernunftwidrig 
leben. „Es giebt nur eine Tugend, die — ſich felber ald Perfon 
zu vergeſſen, und nur ein after, das — an fich felbft zu den- 
Een.” „Wer auch nur überhaupt an ſich als Perfon denkt und 

*) Ehenbajelbft, II Borl, S. 21-33. Qgl, II Vorl. 6, 40, 





869 


irgend ein Leben und Sein und irgend einen Selbftgenuß begehrt, 
außer in ber Gattung und für die Gattung, ber ift im Grunde 
nur ein gemeiner, Pleiner, fchlechter und dabei unfeliger Menfch*).” 

In und für die Gattung leben, heißt fi) in feinen perfün- 
lichen Zweden vergeffen, fein eben an die Ideen fegen, ſich aufs 
opfern, daS heißt vernunftgemäß leben. Diefe Aufopferung, 
der Grundzug des vernunftgemäßen Lebens, kann und entgegen 
treten in dem Bilde eines fremden Lebens, in jenen großen und 
feltenen Menfchen, die für die Menfchheit gehandelt und geduldet 
haben, in dem Beifpiele der Religiöfen und Heroen; oder wir 
leben fie felbft. Im der Betrachtung eines folchen Lebens fühlen 
wir und erhoben und verweilen darin mit äfthetifhem Wohlge⸗ 
fallen und unwillkürlicher Biligung; ein folches Leben felbft zu 
leben ift Seligfeit. 

Jeder weltgefchichtliche Held ift ein Bild der Aufopferung, 
ein Werkzeug und lebendiger Ausdrud der Gattung. Man fage 
nicht, daß große Heldenthaten, wie der Eroberungdzug Aleranz 
ders, gefchehen find aus eitlem Ehrgeiz, in der Rechnung auf 
Nachruhm. Der Ruhm, deſſen Vorgefühl den Helden begei» 
ſtert, iſt nichts anderes ald der Ausſpruch der Gattung über den 
Werth feiner That, ald der Werth feiner That für die Gattung, 
ald das fichere Gefühl, daß er etwas für die Gattung Werth- 
volles und darum Ruhmmürdiges thut. Er handelt im Glauben 
an die Gattung. Er richtet ſich nicht nach dem, was die Welt 
ehrt, das thut der Fleinliche, eigennüßige, zur Aufopferung uns 
fähige Ehrgeiz; fondern was die Welt ehren fol, richtet fich nach 
ihm. Seine That giebt den Mapftab; er ſchafft die Ehre, die 
ihm zu Theil wird, wie ein Künftler das Ideal ſchafft. „So 
erzeugt nicht der Ehrgeiz große Thaten, fondern große Thaten 
9) Gbenbafelbft, III Vorl. ©. 55. 


870 


erzeugen erft im Gemüthe den Glauben an eine Welt, von der 
man geehrt fein mag *).” 

Selbſt thun, was in der Borftellung als fremdes Bild uns 
ſchon erhebt und erquidt, aufgehen in das eine Bernunftleben, 
eined werden mit dem Zwede der Gattung, mit der Idee, und 
als deren Organ handeln: das ift der Lebenszuſtand, in welchem 
die Aufopferung aufhört ein Opfer zu fein und Genuß wird. 
Wenn das eigene Selbft völlig aufgeht in die Idee, fo ift der 
Bwiefpalt aufgehoben, der die Selbftaufopferung und Selbflver- 
leugnung nöthig macht, fo giebt es fein Selbft mehr, das zu vers 
leugnen wäre, fein Pflichtgebot mehr, das die Selbfiverleug- 
nung fordert, fein Leid, keine Störung, feinen Schmerz 
mehr: dad Leben ift lauter Luft und Liebe; ed ift der höchſte 
Genuß oder die Seligkeit. Dieſes felige Leben, der freie Aus: 
fluß unferer Urthätigkeit kann ſich äußern in verfchiebener Form, 
im fünftlerifchen Schaffen, im Ordnen und Bilden der menfchlichen 
Geſellſchaft, im wiffenfchaftlichen Denken, welches die Welt aus 
dem Gebanfen wiedererzeugt, am höchften und umfaflendften in 
der Religion, in dem „Hinftrömen aller Thatigkeit und alles 
Lebens, mit Bewußtfein, in den Einen unmittelbar empfun: 
denen Urquell des Lebens, die Gottheit. Wem dieſes Bewußt⸗ 
fein in feiner Unmittelbarkeit und unerfchütterlichen Gewißheit 
aufgeht und ihm zur Seele wird alles feines übrigen Wiffens, 
Denkens und Sinnend, der ift eingegangen in den Beſitz nie zu 
trübender Seligkeit.” „Wer in dieſem Glauben und in diefer 
Liebe fein Feld adert, ift umendlich edler und feliger, ald wer 
ohne diefen Glauben Berge verfegt **)." 


*) Ebenbafelbft. III Vorl. S. 45—48. Vgl. IV Vorl. S. 51. 
**) Ehendafeldft. IV. Borl, S. 55—63. Beſond. ©. 60. 61. 


— — —— — — 





871 


I. 
Der wiſſenſchaftliche Zuſtand des Zeitalters, 

Der Grundbegriff des gegenwärtigen Zeitalters iſt far, er 
ift beftimmt durch die fittliche Lage der Epoche in dem Entwick⸗ 
lungsgange der Menſchheit, er ift erleuchtet durch feinen Gegen 
ſatz; dieſes fein Gegentheil, das vernunftgemäße Leben, ift zu: 
gleich das Ziel des folgenden Zeitalterd, Aus dem Grundbegriff 
folgen die Grundzüge, bie ſich natürlich nur in den Individuen 
des Zeitalters deutlich und beftimmt ausprägen, welche die eigent- 
lichen „Repräfentanten” deffelben find. 

Nichts fol gelten, als was der Berftand jedes Individuums 
klärlich begreift. Wo biefe Richtung nicht bloß als Inftinet und 
dunkle Streben, fondern als bewußte Marime und Maßſtab, 
wonach alles beurtheilt wird, fich fund giebt, da hat das Zeit: 
alter feinen eigentlichen Ausdruck, da ift es in feinem Element. 
Diefed zum Princip oder zur Marime erhobene Begreifen, „ber 
Begriff des Begriffs”, ift der Grundzug des Zeitalters, der alle 
übrigen beherrſcht. Nun ift die Form, in welcher der Begriff 
berrfcht, die Wiſſenſchaft; daher wird die Grundform des Zeit: 
alters in feiner wiffenfchaftlichen Verfaſſung, in der eigenthüm- 
lichen Art derfelben gefucht werben und die Charakteriſtik der 
ganzen Epoche befhalb von hier auögehen müffen. 

Da’ nun die Gattungszwedle oder Ideen unter dem Geſichts⸗ 
punkte des gemeinen Menfchenverftandes als nichtig und himärifch 
erfcheinen, fo herrſchen die empirifchen Erfahrungsbegriffe, und nur 
was burch diefe begriffen wird, gilt in der Vorftellung dieſes Zeit: 
alters. Dadurch entfteht ein fo leerer und platter Rationalismus, 
daß die Epoche felbft dagegen reagirt, ohne ihre Grundlage zu 
verlaffen. Es wird nicht behauptet, daß es einen höheren Stand» 
punkt des Begreifend gebe; fo weit reicht das Wermögen des 


82 


Zeitzer; wie, wieimehr bit es in der Vorausſetzung ftehen, 
des ter gemeine Berüxıt leinte, was rationeller Weife geleiftet 
werben farı Uber turd die Beiflung nicht befriedigt, vichtet 
Rob tes Zeitz’zer gegen dea Rationalismus felbft und flüchtet fih 
in des Untegreif.ie wat Umerflänblide. Es meint, die Wahr: 
beit zu bedea. wenn es die ralſche Marime umkehrt und bad 
Inetirazie zu die Eee des Nationalen, da3 Unbegreifliche an 
tie dei Begreiriten ent. Dieie Reaction des Zeitalterd gegen 
mch Heihi, ii eher’zäs einer feiner Charakterʒũge. Die Marime 
unt ihre Umfebrung fat zwei Principien vom gleichem Werth 
und gleider Gruntisge*). 


1. Das ibeenlofe Begreifen. 

Bir nehmen die Marime erſt in ihrer pofitiven Korm und 
entwideln daraus zunächf bie Geiflesart des Zeitalter, die 
ſtehende Grundform jeiner wiſſenſchaftlichen Berfaffung. Ihm 
fehlt mit den Ideen die wahre Quelle alles energifchen, Träftigen, 
eindringenden und conjequenten Denkens. Daher ift es kraftlos 
und ſchwach. Es Kann ſich nicht concentriren, fondern geht zer: 
freut von Object zu Object; es Tann ſich ebenfo wenig in einen 
Segenfland vertiefen und benfelben durchdringen, fondern bleibt 
überall auf der Oberfläche ; es iſt unfähig zu einem folgerichtigen 
Gange der Gedanken, in weldem ein Begriff nothwendig den 
anderen erzeugt, fondern raifonnirt über diefelben Dinge heute 
fo und morgen anders. 

Ebenſo zerfiveut, oberflächlich, zufammenhangslos ift die 
Art feiner Mittheilung. Es hat die Kunſt erfunden, die Wil: 
fenfchaft ohne allen inneren Zufammenhang, in alphabeti: 
ſcher Folge zu lehren. Ohne inneren Zufammenhang giebt & 

9 Ebendaſelbſt. V Vorl. S. 70—72. 





873 

feine Klarheit. Daher ift die Klarheit, welche biefes Zeitalter 
allein zu geben vermag, die unächte und ermüdende Deutlichkeit 
der Wiederholung. Je öfter etwas wiederholt wird, um fo beffer 
muß es nad) der Meinung deö Zeitalterd gefaßt werben ohne 
alles weitere Nachdenken. Daher gelten ihm folche Schriften für 
claſſiſch, die zu ihrem Verſtändniß Fein Nachdenken fordern. 
Anders war es bei den Alten, deren wahrhaft claſſiſche Schriften, 
wie fie felbft tief durchdacht find, nur denkend gefaßt werden 
Tönnen. Es ift daher Fein Wunder, wenn dieſes Zeitalter eine 
fo große Abneigung empfindet gegen die claffiichen Studien des 
Alterthums, die ihm ald unnüß erfcheinen*). 


2. Die Langeweile und der Wit des Zeitalters. 

Eine folche Art des Dentend und Mittheilend muß eine 
Geifteöleere erzeugen, die auch ald folche empfunden wird. Das 
Zeitalter hat und fühlt diefe Leere. Das Gefühl der Geiftesleere 
ift die Langeweile. Das Zeitalter iſt Tangmeilig in dem doppel⸗ 
ten Sinn, daß ed Langeweile macht und felbft welche hat. Es 
langweilt fi) und möchte dem abhelfen, indem es den Zuftand 
der Leere durch den Wis, die Sandwüſten feines Ernſtes durch 
einige Körnchen Scherz unterbricht. Das Bedürfniß nach Wit 
ift groß, aber die Kraft ift ſchwach. Wo follte auch diefes Zeit: 
alter die Kraft des wirklichen Wibes hernehmen? Es giebt kei— 
nen ideenlofen Wis, und dad Zeitalter ift ideenlos. Es haft bie 
Ideen, darum ift feine Liebe zum Wit eine unglüdliche Liebe. 
Der ächte Wit ift Die Wahrheit (nicht ald Glied einer methodifchen 
Entwidlung, fondern) in unmittelbarer Anſchaulichkeit, jedem fo- 
gleich einleuchtend. Wie die Wahrheit, hat auch der Wiß eine 
pofitise und negative, eine directe und indirecte Form. Die ne: 

*) Chendafelbft. V Vorl. S. 72—74, 


874 

gative Form der Wahrheit ift Werkehrtheit ihres Gegentheils. 
Wird die Verkehrtheit des Unwahren unmittelbar auſchaulich ge 
macht, fo erfcheint fie lächerlich. Das ift der negative Wi, die | 
Quelle des Lacherlichen. Der pofitive Wit ift gleichfam „der 
Leiter des Lichts”, er läßt die Wahrheit unmittelbar einleuch⸗ 
ten; der negative ift „ber rächende Blitzſtrahl“, er zeigt unmit- 
telbar die Nichtigkeit des Unmahren, indem er die Thorheit 
mit einem Schlage erhellt und dadurch vernichtet. 

Das Zeitalter fucht den Wis in ber Form des Lächerlichen. 
Es möchte alle lächerlich machen, was nicht feiner Meinung ift. 
Dabei verfährt es ohne allen Wit. Jede andere Meinung ift 
verkehrt, mithin lächerlich, alfo muß man fie auslachen: davon 
ift das Zeitalter durchdrungen als von einer Maxime. &3 acht, 
nicht aus Witz, fondern weil es feine Marime fo mit fich bringt. 
Worüber es lacht, muß natürlich lächerlich, alfo verkehrt fein; 
fo gilt ihm dad Lächerliche zulegt ald Probirftein der Wahrheit, 
Um dad Berkehrte anſchaulich machen zu können, muß man nicht 
felbft verkehrt fein. Die Repräfentanten dieſes Zeitalters find zu 
verkehrt, um wigig fein zu fönnen, fie verhalten fich zum Wit 
nicht als feine Erzeuger, fondern als fein Gegenftand; nicht fie 
haben den Witz, fondern der Witz hat fie; fie Lachen „mit frem⸗ 
den Baden” *). 


3. Drudenlaffen und Leſen ald Zeitmode. 

Aus dem Spiele des gehalt: und zwedlofen Räfonnements 
macht dieſes Zeitalter Ernſt, e8 verwandelt ſich in ein ftehendes 
Heerlager formaler Wiffenfchaft, in welchem der Rang ver: 
fhieden, die Bewaffnung überall gleich iſt. Ueber alles Mög: 
liche leicht und mit dem Scheine der Fertigkeit räfonniren zu Fön: 

*) Ebendaſelbſt. V Vorl. S. 75-77. 





875 


ıen, gilt ihm ald Geift und Zweck des Geiſtes, ald Zweck der 
Srziehung, felbft der Volkserziehung. Darum hat ed in ben. 
lugen dieſes Zeitalters einen fo großen Werth, feine Meinung zu 
agen, und es nimmt die Denffreiheit fo, daß jeder urtheilen kann 
iber jedes, auch ohne etwas von der Sache zu verftehen. Wäre 
ie Denkfreiheit durch das Denken bedingt, fo wäre ja die Freis 
yeit Damit aufgehoben. Gehörig zu meinen, feine Meinung zu 
agen, verfchiedene Meinungen zu fammeln, ift darum recht 
igentlich der Stolz und dad Gefchäft diefes Zeitalters. Wer bie: 
ſes Gefchäft am beften verficht und treibt, gilt ihm als Führer. 
Indeffen es ift nicht genug, viel zu meinen, wenn jede biefer 
werthvollen Meinungen weggeroeht wird mit dem Hauche der 
Luft; es ift nöthig, fie in dem Andenken der Zeit aufzubewahren 
und ftehend zu machen, fie zu firiren in flehendem Schwarz auf 
fiehenden Weiß. Man muß daher feine Meinungen bruden und 
wieder drucken laffen: dadurch unterfcheiden fich bie geifligen 
Senatoren vom Bolt, die Gelehrten vom Haufen; und dad 
Heerlager der Repräfentanten theilt fich in bie zwei Claſſen der 
Schriftfteller und Lefer*). 

Aber es ift nicht genug, Bücher druden zu laffen; man 
muß auch Einrichtungen treffen, die es verhindern, daß man fie 
vergißt, und zugleich überflüffig machen, daß man fie lieft. Sind 
die Bücher gedruckt, fo werben fie compilirt und die Compilatio⸗ 
nen aufgefpeichert in fortlaufenden Zeitfchriften, Bibliotheken 
und fogenannten Gelehrtenzeitungen. Was einer gefagt hat, 
wird wieder gefagt, und da jeder doch eine eigene Meinung haben 
muß, fo wiederholt der Compilator nicht bloß die Meinungen 
des anderen, fondern fegt feine eigene hinzu. Das nennt man 
„tecenſiren“. Man braucht nur noch diefe Recenfionen zu leſen, 


” Ebendaſelbſt. VI Vorl, ©. 78— 83, 


\ 
| 


876 j 


um fid auf der Höhe der Zeit zu halten, und hat min nicht weiter 
nöthig, die Bücher zu lefen*). | 
Im Uebrigen lieft das Zeitalter, wie es ſchreibt; die Leſer 
find wie die Schriftfteller, fie confumiren, was dieſe probuciren, 
und mit derfelben Sinnesart. Das Zeitalter ift ebenfo Lefefelig, 
wie es ſchreib⸗ und drudfelig ift. Schon das bloße Druden: 
laffen hat in feinen Augen einen großen Werth, ebenfo das blofe 
Leſen. Die Schriften gelten ihm nicht ald Bildungsmittel , fon: 
dern als Lefefutter. Man lieft, nicht um zu lernen, zu denken, 
fich geiftig befruchten zu laflen, fondern um zu Iefen; es wird 
fortgelefen ohne Anhalt, alles mögliche durch einander, in der 
Abficht den Geift zu zerſtreuen, von der Anftrengung deö eigenen 
Denkens zu entbinden und in eine Art angenehmen Schlummer 
zu wiegen. Diefe Abficht wird auch glüdlich erreicht. Ein folches 
Leſen, wie ed ald Mode des Zeitalters herrfcht, wirkt nicht bil: 
dend, fonbern betäubend, dem Tabakrauchen vergleichbar. Wer 
es dazu gebracht hat, völlig zwecklos zu leſen und gar nichts ba: 
bei zu denken, ift „der veine Leſer“, der fich zur Literatur ver: 
hält, wie der Türke zum Opium. Die Geiſtesſchwächung ift 
das unaudbleiblihe Refultat. Die Gewohnheit des gedanken: 
Iofen Leſens erzeugt die Unfähigkeit, den Geift anzufpannen und 
einen firengen Speenzufammenhang zu faflen, am wenigften in 
mündlicher Mittheilung. Um den Geift zu flärken, wird es da: 
ber nöthig fein, die mündliche Mittheilung wieder zu erneuern 
und die Alleinherrfchaft der fchriftlichen durch die Wirkſamkeit des 
unmittelbar lebendigen Worts zu befchränten **). | 
*) Ghendafelbft. VI Vorl. S. 83 — 80. So oft Fichte konnte, hat | 
er das Recenſentenhandwerk in feiner Nichtigkeit entblößt und mit gerechter 
Verachtung behandelt. Man vergl. die Schrift über Nikolai, S. ob. S. 
815, die Vorlefung über das Weſen des Gelehrten. X. S. 0b. 6.769, 
**) Grunbz. de3 gegenw. Zeitalt. VI Vorl. ©. 87—90. ! 


4 


877 


4. Urſachen und Abhülfe des Uebels. 

Man fage nicht, daß diefer Cultus des Buchſtabens, diefe 
Werthachtung des Schreibens und Leſens keineswegs ein befon= 
derer Zug des gegenwärtigen Beitalterd und überhaupt Feine ver- 
ächtliche Sache fei. Weber ift ed gut, daß es fo ift, noch iſt es 
immer fo gewefen. Es ift mit der Zeit fo geworden und hat in 
der Gegenwart den Culminationspunkt erreicht. In den claffifchen 
Zeiten des Alterthums wurde weniger gefchrieben, und die ſchrift⸗ 
liche Rebe galt als Abbild der mündlichen. Wit dem Chriftens 
thum erft erwachte dad Intereffe ber allgemeinen Bildung; mit 
der paulinifchen Faffung des Chriftentyums wurde der Grund ges 
legt zu einer dialektiſchen, diöputatorifchen Behandlung des Glau⸗ 
bend, zu theologifchen Begriffsauseinanderfegungen und dogmas 
tifchen Streitigkeiten, für welche die Schrift ein unentbehrliches 
Mittel war; die Kirche zwar zgelte und beherrfchte im Intereffe 
der Glaubenseinheit den Gebrauch und die Geltung der Schrift 
(Bibel), aber die Kirchenreformation löſte die Feffel und erhob 
das gefihriebene Wort zu einem unfehlbaren Anfehen und das 
gefchriebene Buch zum Entfcheidungsgrunde aller Wahrheit. Hatte 
die Schrift bis dahin ald Religionsmittel gegolten, fo galt fie jetzt 
als Religionsgrund; in Folge des Proteftantismus und der Bibel: 
überfegung in die Volksſprachen wurde das Bibellefen zu einer Art 
Eultus, zur Religionsübung, zum Mittel der Seligkeit, Leſen⸗ 
tönnen zur Bedingung des Glaubens, Und fo ift erft durch die 
Reformation der Buchftabe und mit ihm dad Leſen und Schreiben 
zu einem Anfehen gefommen, daß nicht bloß alle menfchliche 
Geiftesbildung , fondern fogar das menfchliche Heil felbft davon 
abhängig erfcheint. Wurde die Bibel von jedermann gelefen,, fo 
mußte fie bald auch für jedermann erklärt werden; die fogenannte 
natürliche Bibelerflärung der Deiften, welche die locke ſche Philos 


878 
fophie („das ſchlechteſte Syſtem“, wie Fichte ed nennt) zur Richt: 
ſchnur nahmen, machte ſich Bahn, und das Räfonnement,, das 
Meinen, Schreiben, Drudenlaffen u. f. f. hatte kein Ende. 
Immer breiter, flacher und feichter wurde das Schrifttgum, und 
zulegt kam, wie es nicht ander fein konnte, jene Geiftesfünd- 
fluth, die das gegenwärtige Zeitalter überſchwemmt hat. 

Die Uebel liegen am Tage. Was die Wiffenfchaft durd 
Verflahung und Aushöhlung bis zur leeren Form verfchuldet 
bat, kann nur die Wiffenfchaft heilen, indem fie fich vertieft, 
aus ihrer wahren Quelle erneut und mit ihrem ächten Inhalte er: 
fült, Diefe Reform der Wiſſenſchaft ift die Aufgabe und das 
Biel des folgenden Zeitalter. Erſt auf der Grundlage der Ver: 
nunftwiffenfchaft wird e8 im Reiche des Wiſſens einen geordneten 
und ficheren Fortfchritt geben, wird die Literatur wie bie Kectüre 
nicht mehr zerftreuend, fondern bildend wirken; erft dann wird 
man auch im Stande fein, iteraturzeitungen richtig zu fchrei: 
ben und fo einzurichten, daß fie den wifenfchaftlichen Zuftand 
des jedeömaligen Zeitpunftes einleuchtend darftellen und wirkliche 
Jahrbücher find des wiffenfchaftlihen und künſtleriſchen Geiftes 
der Zeit”). 


5. Dad Gegentheil des platten Rationalidmus. 
Schwärmerei und Naturphiloſophie. 
Unmöglidy Tann das Zeitalter in ben flachen Rationalismus 
feiner Begriffe mit voller Befriedigung aufgehen. In dem Ge 
fühl feiner Leere liegt ſchon die Nichtbefriedigung und der Antrieb 


zu einer Reaction gegen fich felbft, die dem herrfchenden Zuge, | 


der. nicht als das Begreifliche anerkennen will, dadurch die 
Spitze zu bieten ſucht, daß fie dad Unbegreifliche zur Geltung 
*) Ebenbajelbft. VII Borl, S. 96—111. 





879 


bringt. Das ift keine Erhebung über das Niveau des Zeitalter, 
fondern einfach deſſen Kehrfeite, eine Geiftesrichtung, die aus 
der Wurzel des Zeitalterö, aus dem Gefühl feiner Leere, aus 
feiner Sucht nad) Neuem hervorgeht: dad ebenbürtige Gegentheil 
feined Rationalismus ; beide find Zwillingögeburten aus demfelben 
Schooße. Es ift nicht Aberglaube, auch nicht ein veligiöfes ober 
theologifched Bedurfniß, das hier dem Unbegreiflihen dad Wort 
vebet, fondern ed ift der Verſtand des Zeitalters felbft, der die 
berrfchende Marime umkehrt und das Zrrationale zur philoſophi⸗ 
ſchen Maxime, zum Princip des Räfonnements macht. Das 
Irrationale ift hier ein Erdachtes, ein Gedanke, der über die 
gewöhnliche Erfahrung hinaus⸗- aber nicht bis zur Klarheit der 
Idee fortgeht, alfo unklar ift und bleibt. Diefer Flug über die 
Erfahrung hinaus in's Unklare ift der Charakter dr Schwär⸗ 
merei. Wenn das Denken ſich von der gemeinen Begierde frei 
macht und aus eigener Kraft thätig ift, fo kann es aus zwei ver⸗ 
ſchiedenen Gegenden der menfchlichen Natur hervorgehen: ent: 
weder aus der finnlichen Individualität oder aus der Gattung; 
im letzteren Falle ift es das vernunftgemäße Denken, welches fich 
praftifch und theoretiſch bethätigt; feine theoretifche Form ift die 
Vernunftwiſſenſchaft oder die ächte Speculation. Die Schwär: 
merei entfpringt aus der ſinnlichen Individualität, fie iſt ihrer 
Natur nach nicht praktiſch, fondern bloß theoretiſch, fie will 
fpeulatio fein, fie ift unächte Speculation, die ſich zur äch⸗ 
ten verhält, wie bie Garricatur zum Ideal. Der Grund und 
Boden der finnlichen Individualität ift die Natur; an biefem 
haftet jene unächte Speculation und nimmt baher nothwendig die 
Richtung auf die finnliche Natur; fo wird die fpeculative Schwär- 
merei eine Art Naturphilofophie und kann in Beine andere 
Form eingehen. Unfähig, ihre unklaren Gedanken zu begründen, 


880 


giebt fie feine Beweiſe, ſondern vermeift ſtatt der Gründe jeden 
an dad Vermögen, womit fie (hwärmt, und nennt biefes Ber- 
mögen „intellectuelle Anſchauung.“ Sie ift nicht Philofophie, 
fie ift ebenfowenig Naturwiffenfhaft. Diefe gründet fich auf 
Beobachtung und Erperiment, jene dagegen fest an die Stelle 
des naturkundigen Erperiment3 den naturunkundigen Einfall und 
phantafirt die Natur, flatt fie zu ſtudiren. Bloße Einfälle kön⸗ 
nen ebenfowenig in bad Innere der Natur eindringen, als der 
bloße Wille und die Befhwörungsformeln im Stande find, einen 
Zwang auf die äußere Wirkfamkeit der Naturkräfte auszuüben. 
Beides ift Zauberei. Diefe aus Schwärmerei und unächter 
Speculation gemachte Naturphilofophie möchte theoretifch zaubern; 
fie möchte durch Einfälle und Phantafie Naturerkenntniß hervor: 
bringen. Sie kann es nicht; das Zeitalter ift in feiner Schwär: 
merei ebenfo ohnmädhtig als in feinem Aufllärungsvünfel *). 

*) Ebenbafelbft. VIII Vorl. S. 111—128. Die ganze Bor: 
leſung zielt, ohne den Namen zu nennen, auf Schelling und deſſen 
Naturphiloſophie. Während diefe über die Wiſſenſchaſtslehre hinausge- 
gangen fein will, läßt Fichte die Naturphilofophie als einen nothwendigen 
Zug in dem wiſſenſchaftlichen Zuftande des ſchon verfallenden Zeitalter 
erſcheinen, weldes überwunden wird durch die Epoche der Wiſſenſchafts- 
lehre. Er behandelt die Naturphilofophie, welche den Fortſchritt für ſich 
in Anfpruc nimmt, als einen zurüdgebliebenen und rldwärts ſchreiten- 
den Standpunkt. gl. damit Vorl, über das Wefen des Gelehrten. IL 
(S.B. III Abth. I Bd, S.363flgb.): „Laſſen Sie fid) darum ja nicht 
blenben ober irre machen durch eine Philoſophie, die ſich ſelbſt den Na: 
men der Naturphiloſophie beilegt und melde alle bisherige Philoſophie 
dadurch zu übertreffen glaubt, daß fie die Natur zum Abjoluten zu 
maden und zu vergöttern ftrebt, Jene Philofophie ift, weit entfernt, ein 
Vorſchritt zur Wahrheit zu fein, lediglich ein Rüͤcſchritt zu dem alten 
unb verbreitetften Irrthume.“ S. oben III Bud. Cap. XVI. Rr. J. 4. 
©. 766, 


Fünftes Capitel. 


‚Sortfegung. Der geſellſchaftliche und religiöfe Zuſtand 
des Beitalters. 


Die gefellfchaftlichen Zuftände eines Zeitalters find bedingt 
durch die flaatlichen, dieſe letzteren find in ihrer Form und Ord⸗ 
nung beftimmt durch den Staatszweck, den fie verwirklichen, 
und ber Staatszweck felbft ift in feinen verfchiedenen Faſſungen 
abhängig von der Einficht und der Entwicklungsſtufe des gefamm- 
ten Zeitbewußtfeind. Wir haben in bem wifjenfchaftlichen Zu: 
flande der Gegenwart das herrfchende Zeitbemußtfein Eennen ges 
lernt und jest von hier aus die Grundzüge der vorhandenen Ges 
ſellſchaftszuſtande, den Charakter ded gegenwärtigen Staatölebend 
zu ſchildern. 

Was der Staat in den Culturländern der Gegenwart iſt, 
das ift er geſchichtlich geworden; ber Charakter des heutigen 
Staated bildet eine beflimmte Stufe in der menfchlihen Staatd- 
entwicklung überhaupt. Um diefen Charakter zu erkennen, müfs 
fen wir aus dem Grundbegriffe ded Staated feine Formen und 
feine Entwidlungäftufen ableiten, und da der Staat als folder 
ein Product der Menfchengefchichte ift, fo können wir feinen Urs 
forung nur aus dem Begriffe der Gefchichte richtig beurtheilen. 
Daher ift der Begriff der Gefchichte die erfte und der Begriff bed 


Bifger, Geſchichte der Phllofophle V. 56 


882 


Staates die zweite zu löfende Borfrage, um den geſellſchaftlichen 
Zuſtand deö gegenwärtigen Zeitalters philoſophiſch zu faflen. 


L 
Begriff der Geſchichte. 

1. Bott und die Entwidlung der Menſchheit. 

Alle Geſchichte ift Entwicklung des Bewußtfeind oder des 
Wiſſens, eine fortfcreitende Zeitreihe, deren Erfüllung die fort: 
fchreitende Erfenntnig ausmadht. Wäre die Einficht von vorn- 
herein abfolut, fo bedürfte fie Peiner Entwidlung; würde fie je 
abfolut, fo bebürfte fie Feines Fortſchritts und Feiner Entwid- 
lung weiter; in dem erſten Falle könnte die Entwidlung gar nicht 
anfangen, im zweiten müßte fie irgendwo enden, in beiden wäre 
fie und mit ihr die Gefchichte felbft aufgehoben. Der Begriff der 
Geſchichte fordert daher eine ewige Aufgabe des Bewußtſeins, 
einen Gegenftand der Erkenntniß, der nie aufhört ein folder zu 
fein, der ſtets den Charakter des Gefegten und Gegebenen behält, 
darum im Wege fortwährender Erfahrung erkannt fein will, dem 
gegenüber das erfennende Bewußtſein empiriſch ift und bleibt 
und darum nothwendig fich fpaltet in die Mannigfaltigkeit der 
Individuen und Perfonen. Jene ewige Aufgabe aber würbe kei— 
nen Sinn haben, wenn ihre Löfung unmöglic wäre; vielmehr 
iſt ihre Löſung abfolut nothwendig; fie befteht im Wiſſen, in 
dem Wiſſen, welches Feiner Entwidlung bedarf, alles Ent- 
ftehen und Vergehen und damit ale Veränderung von fich aus: 
fließt: in dem abfoluten Wiffen, welches gleich ift dem ewigen, 
wandellofen, fehlehthin nothwendigen Sein. Diefes Sein ift 
Gott. Gottes Sein und Wiffen find identifch, alles Andere ift 
Entwidtung des Wiſſens, Abbild Gottes, ewige Entwiclung, 
zu ber zwei Bedingungen nöthig find: 1) ein Erfenntnißobject, 





883 
welches nie aufhört, als gegebenes zu erfcheinen (ſtehendes Object 
zu fein), d. i. die Welt ald Natur, und 2) ein Erkenntniß- 
fubject, welches nie aufhört ſich ald empirifches Bewußtſein zu 
verhalten, d.i. die Menfchheit in der Mannigfaltigkeit der 
Individuen und Perfonen. „So gewiß daher Wiffen ift, — 
und diefes ift, fo gewiß Gott ift, denn es ift felber fein Dafein; 
— fo gewiß ift eine Menfchheit, und zwar als ein Menſchen⸗ 
gefhleht von Mehreren*).” 

Das Leben der Menfchheit ift Entwidlung; Inhalt und 
Aufgabe diefer Entwidlung ift die Menfchheit ald Gattung, die 
Selbſtverwirklichung der Vernunft, deren Ziel darin befteht, daß 
fih das gefammte menfchliche Leben mit Freiheit zu einem Aus: 
drude der Vernunft geftaltet. Diefe Entwidlung ift die Ge= 
ſchichte des Menſchengeſchlechts. Diefer Begriff erleuchtet mit 
dem Ziele der Gefchichte zugleich deren Urfprung. 


2. Urfprung der Geſchichte. 
Normalvolt und Wilde. 

Was aus einem nothwendigen Begriffe folgt, ift felbft noth⸗ 
wendig. Den Charakter einer ſolchen Nothwendigkeit haben ein 
zelne Begebenheiten in der Befonderheit ihrer Umftände nie; fie 
fönnen daher auch nie a priori deducirt, fondern nur, fo weit fie 
erweislich find, von der Erfahrung ausgemacht werden. Was 
den Urfprung der Gefchichte betrifft, fo giebt es hier Feine er— 
weißlichen Facta. Was darüber in der Form von Begebenheiten 
erzählt wird, iſt erdichtet oder mythifch. Wollte die Philofophie 
die allgemeinen Bedingungen der Geſchichte überhaupt als eine 
Reihe einzelner Begebenheiten deduciren, fo würde fie eine Ur— 

*) Grundzüge des gegenw. Zeitalt. IX Vorl. S. W. III Abth. 
U, S. 128 — 133, 

56* 


884 


geſchichte erdichten und auf einen ähnlichen Irrweg gerathen, als 
jene Natutphilofophie, von der vorher die Rede war. Die Frage 
geht auf die Möglichkeit der Gefchichte als folcher, abgefehen von 
der befonderen Art und Weife, wie fich die zur Gefchichte noth: 
menbigen Bedingungen in einzelnen Begebenheiten verwirklicht 
haben *). 

Nun ift klar, daß unmöglich im Anfange der Entwicklung 
ſchon fein konnte, was erft ald Ziel erreicht werden foll: bie 
Herrſchaft der Vernunft in der Form der Freiheit. Es ift ebenfo 
klar, daß aus der Vernunftlofigkeit niemals die Vernunft hervor: 
gehen kann. Daher find wir genöthigt, in der Menfchheit irgend: 
wo einen Urftand anzunehmen, in welchem die Vernunft herrfchte 
nicht als Freiheit, fondern als Inftinet oder Naturgeſetz, nicht 
als Product der Arbeit und Wiffenfchaft, fondern gleichſam als 
parabiefifcher Zuftand eines glüdlich begabten, in allen Lebens: 
äußerungen vernunftgemäßen, im Urbefig und Genuß der Eul- 
tur befindlichen „Normalvolks“. 

Aber die Ausbildung der Vernunft ift Zweck der menfc- 
lichen Entwidlung. Wäre die ganze Menfchheit von vornherein 
ſchon im Zuftande der Vernunftcultur, fo wäre der Zweck ber 
Entwidlung und damit diefe felbft aufgehoben. Unmöglicy kann 
daher das Normalvolf die ganze Menfchheit umfaflen. Vielmehr 

* find wir genöthigt, dem Normalvolke die übrige Menfchheit ent: 
gegenzufegen in einem Urfiande, der nicht dad Vermögen ber 
Vernunft, aber deren Bildung eben fo vollfommen entbehrt, als 
das Normalvolk fie hat: der Zuftand wilder über den Erbboben 
zerſtreuter Völker. 

Nun Tann Gefchichte erft da beginnen, wo ber vorhandene 
Lebenszuſtand in feiner Gleichförmigkeit unterbrochen wird und 

*) Ebendaſelbſt. IX Vorl. ©. 135 u, 136, 





885 


etwas Neued eintritt. Der ifolirte Zuſtand des Normalvolkes 
ift und bleibt in feiner Art ebenfo gleichförmig, als ber ifolirte 
Zuftand der Wildheit: beide Urftände der Menfchheit find ges 
ſchichtslos und darum vorgefchichtlih. Die Gefchichte felbft kann 
erft anfangen, wenn jene beiben Urformen der Menfchheit ſich 
berühren und mifchen, wenn dad Normalvolf fich zerftreut über 
die Site der Uncultur, und ber Conflict beginnt zwiſchen Cultur 
und Wildheit. Mit diefem Conflict entfteht die Gefchichte, der 
Proceß der Entwidlung, die allmälige Cultivirung der Menfch- 
heit; erſt jetzt entftehen gefellige und flaatliche Orbnungen, deren 
Aufgabe ed iſt, den Begriff des vernunftgemäßen oder abfoluten 
Staates zu verwirklichen”). 


3. Geſchichte und Erziehung. 

Die Annahmen eined Normalvolks (abfolute Eultur), wilder 
Völker (abfolute Uncultur) und der Mifchung beider, melde 
nad) Fichte der Begriff der Gefchichte zu deren Entſtehung for- 
dert, laſſen fich leicht aus einem in der Wiffenfchaftölehre einheis 
mifchen Gefichtöpunfte erflären. Schon die Rechtölehre hatte 
gezeigt, daß die menſchliche Freiheit, um fic in Thätigkeit zu 
feßen, ber Aufforderung von außen bebürfe. Gefchichte ift Ent- 
wicklung zur Freiheit. Cine ſolche Entwidlung ift Erziehung. 
Zur Erziehung find zwei Bedingungen nöthig: Erziehende und 
Zuerziehende, Erzieher und Zöglinge. Sol die Gefchichte eine 
Erziehung des Menſchengeſchlechts fein, fo find in der Menfch- 
beit ſelbſt zwei vorgefchichtliche Urzuftände nothwendig: ein er: 
stehender oder zur Erziehung fähiger Stand im Beſitze der Bil: 
dung und ein erziehungsbebürftiger ohne alle Bildung; jener ift 
dad Normalvolk, diefer find die wilden Völker. 

*) Ebendaſelbſt. IX Vorl, 6. 133 — 135, 


886 


IL 
Begriff des Staates. 


1. Der Staat ald Repräfentant der Gattung. 

Sol in der Entwidlung oder Geſchichte des Menfchenge- 
fhlecht3 der Gattungszwed der Menichheit verwirklicht werden, 
fo müffen alle individuellen Kräfte diefem Zwede dienen und auf 
denfelben gerichtet fein; es muß eine Anftalt geben, welche die 
Individuen nöthigt, mit allen ihren Kräften diefe Richtung zu 
nehmen, auch ohne daß in ihrer Einfiht und in ihrem Willen 
der Zweck felbft gegenwärtig ift. Sie müffen dem Zwecke dienen, 
um ihn zu wollen, um ihn erfennen und felbftthätig ergreifen zu 
lernen. Diefe Anftalt ift der Staat. Daraus erhellt fein Be: 
griff. Er vereinigt die Individuen unter einem gemeinfchaftlichen 
Zwed und macht fie dadurch zu einem gefchloffenen Ganzen, zu 
wirklichen Repräfentanten ber Gattung. Im Staatszweck, als 
dem gemeinfchaftlichen die Einzelnen beherrfchenden Zwecke, ift 
der Form nach der Gattungszweck gegenwärtig. Der Staat ift 
der wirkliche Ausdrud der Gattung. Eben deßhalb müffen ſich 
die Einzelnen zum Staatszwede verhalten, wie fie ſich zum Gat- 
tungszwecke verhalten ſollen. Sie ſollen nichts ſein als Organe, 
dienende Werkzeuge der Gattung. Darum liegt es im Begriffe 
des Staats, daß er alle Individuen auf gleiche Weiſe für ſeinen 
Zweck in Anſpruch nimmt, alle Kräfte jedes einzelnen Indiviz 
duums: d. h. er nimmt alle ganz in denfelben Anſpruch, er for: 
dert im Dienfte des Ganzen die Anftrengung aller Kräfte ohne 
Ausnahme. Wozu diente auch irgend eine Kraft im Staate, 
wenn fie dem Staate nicht diente? Der Zweck des ifolirten 
Individuums ift Genuß, der Zwed der Gattung ift Eultur. 
Was dem Staatszwecke nicht dient, dient nicht zum Gultur: 





887 


zwede, zur Bildung des Ganzen, auch nicht zur individuellen 
Selbftbildung, fondern wuchert aus in Barbarei*). 


2. Entwicklungsformen des vernunftgemäßen Staats, 
Stufen der Freiheit. 

Die Form alles’ ftaatlichen Lebens befteht demnach in ber 
Unterordnung ober Unterwerfung ber Einzelnen unter dad Ganze, 
unter den Staatözwed, unter alle. Diefe Form hat zwei Fälle: 
entweder find alle unterworfen ober nicht. Der zweite Fall näher 
beftimmt: einige find nicht unterworfen, einige herrfchen, die 
anderen werben beherrfcht. Der erfte Fall hat eine zweifache 
Möglichkeit: alle find allen unterworfen entweder auf gleiche ober 
nicht auf gleiche Weife. Nicht auf gleiche Weife: fo ift die Un— 
terwerfung aller unter alle nur negativ, jeder hat feine ihm eigene 
Nechtöfphäre, die der andere nicht flören darf; diefe Rechts- 
fphären felbft find an Umfang und Macht ehr verſchieden, jeder 
iſt berechtigt, jeder ift Unterthan, nur der eine mehr, der andere 
weniger. Hier ift Gleichheit des Recht, aber nicht Gleichheit 
der Rechte. Diefe eriftiet erft da, mo alle allen unterworfen 
find auf gleiche Weife, 

So haben wir drei Hauptformen der flaatlihen Ordnung: 
1) bie Unterwerfung ift nicht allgemein, 2) die Unterwerfung ift 
allgemein, aber ungleich, 3) die Unterwerfung ift allgemein und 
gleih. Nach dem Grade der Rechtögleichheit geſchätzt, iſt, die 
erfte Form die niedrigfte, die dritte die höchfte Stufe in der Er 
widlung des vernunftgemäßen Staats. So find mit dem Ber 
geiffe des Staats die möglichen Formen und mit diefen die Ent: 

widlungöftufen deffelben gegeben”). " 

*) Ebendaſelbſt. X Vorl, S. 143—148, 

**) Ebendaſelbſt. X Vorl. S. 148—152. 


888 


Der Grad der Rechtögleichheit bedingt den Grad der bürger: 
lichen Freiheit. Man Tann perfönliche Freiheit haben ohne bür- 
gerliche; die bürgerliche ift die rechtlich (durch Verfaffung) ge: 
ſicherte, die auf der niedrigften Stufe der Staatsordnung gar 
nicht, auf der mittleren in ungleihem Maße, auf der höchften in 
vollem Maße eriflirt. 

Von der bürgerlichen Freiheit ift bie politifche zu unter 
fheiden. Die bürgerliche Freiheit liegt in der ausnahmsloſen Un- 
terordnung aller unter den Staatözwed, die politifche Freiheit 
befteht in der Beſtimmung des Staatszwecks nach eigenem Er: 
meffen. Den Zweck beftimmen heißt den Staat machen oder regie⸗ 
ten. Nur die Regierenden find politifch frei. Es ift nöthig, daß 
alle Staatöglieder Bürger (d.h. dem Staatszweck auf gleiche Weile 
unterworfen) find; es iſt nicht nöthig, daß alle Regenten find; 
der leitende Wille kann bei allen, bei einigen, bei Einem fein. 
Danach unterfheiden fich die Regierungsverfaffungen oder Ver: 
waltungdweifen ded Staats; ihre Verſchiedenheit thut der bürger⸗ 
lichen Gleichheit keinen Eintrag*). 

Vergleichen wir mit biefen drei Hauptformen der Staats: 
entwidlung und des menfchlichen Rechtsbewußtſeins die Verfaf: 
fung des gegenwärtigen Staats in feinem höchften Eulturftande, 
fo läßt ſich vorausfagen, daß er nach ber dritten Stufe flrebt 
und ſich auf der zweiten befindet. Er fteht auf dem Uebergange 
un Vermwirklihung des abfoluten Staats, ſchon mit dem an: 
brechenben Bewußtfein diefer Aufgabe**). Um bie politifchen 
Grundzüge der Gegenwart in ihrem Zuftande und ihrem Streben 
genauer zu erkennen, müffen wir fehen, auf welchem gefchicht: 
lichen Wege ſich der Charakter dieſes Staats audgebilvet hat, 

*) Ebendaſelbſt. X Vorl, S. 152—156, 

) Ghenbajelbft. X Borl, S. 152. 








889 
3. Geſchichtliche Entwicklung des Staats, 

Je weiter die Entwicklung des Staats fortfchreitet, um fo 
inniger durchdringen ſich Staatszweck und Gattungszweck ber 
Menfchheit in derſelben Aufgabe, um fo deutlicher und beftimm: 
ter entfaltet fic auch dad Bewußtſein der Uebereinftimmung bei: 
der. Es wird daher in den Anfängen der Entwidlung weder ber 
Staatözwed den Gattungszweck (obwohl berfelbe ſtets in ihm ge 
genwärtig if) vollfommen ausdrücken, noch auch dad klare Bes 
wußtfein vorhanden fein, daß es fich im Staat um die Berwirk: 
lichung und Herrfchaft der menfchlichen Gattungszwecke handle. 
Und da der Staatözwed in Wahrheit der Gattungszweck ift, fo 
wird ſich der Staat in der Menfchheit ausbilden zunächft ohne 
deutliche Bewußtſein feines wahren Zwecks; er wird nach dem 
Naturgefehe des Dafeind zunächft nur auf feine Selbfterhaltung 
bedacht fein, und indem er alled thut, um feinen Beftand nach 
außen und innen zu fihern, wird er nach dem Naturgefege der 
menfchlichen Entwicklung zugleich die Zwecke ber Gattung beförz 
dern. Der Gattungszweck ift durch das Naturgefes an ben 
Staatszweck gebunden und entwickelt ſich daher notwendig und 
abficht8los mit diefem. So liegt es im Intereffe des Staates 
und feiner Selbfterhaltung, durch Vereinigung, Zufammenwir- 
tung, Ausbildung der menfchlichen Kräfte die Herrfchaft über 
bie Natur zu gewinnen, bie mechanifchen Künfte nach allen Rich 
tungen zu vervollkommnen und zu veredeln bis zum Aufblühen 
ber äfthetifchen Kunft, die Cultur zu erhöhen, die wilden Völ— 
ter zu cultiviren: das alles thut er in feinem Intereffe, bloß auf 
bie eigenen Zwecke bedacht, und befördert dadurch zugleich die 
Sattungszwede der Menfchheit, ohne ſich derfelben als feiner 
Aufgabe bewußt zu fein”). 

*) Ebendaſelbſt. XI Vorl, 6. 156—170, 


890 


a. Die aſiatiſchen Weltreiche. 

Das allererfte Ziel des Staats ift die Cultivirung der Wil: 
den, bie Herrichaft des Culturvolks (einer Maffe des Normal- 
volks) über die ungebildeten Völker, die es ſich unterwirft, die 
Errichtung eined Völker: oder Weltreichd unter der erziehenden 
Herrſchaft eines Culturvolks, die Ausbildung einer Staats: 
form, die ihrer ganzen Anlage nach Feine andere Berfaffung 
haben kann als die einfeitige Unterwerfung, die Ausſchließung 
aller Rechtögleichheit, aller bürgerlichen Freiheit: es ift die Form 
der Despotie, wie fie fi in den afiatifchen Weltreichen 
geſchichtlich darſtellt ). 

b. Die griechiſchen Staaten. 

Bon hier aus entrwidelt ſich geſchichtlich eine zweite Höhere 
Staatöform. Es iſt nicht mehr ein Volk, welches Völker unter: 
wirft, cultivirt, beherrfcht und auf dieſe Weife große Reiche 
gründet, fondern ed find einzelne Abkömmlinge des Culturvolks, 
welche auswandern, Golonien bilden, die eingeborenen Wilden 
cultioiren, Herrfcher Eleiner Staaten und auf diefe Weiſe Grün: 
der mehrerer Bleiner Königreiche werben. In dem gefchloffenen 
Umfange folder Fleiner politifcher Gemeinfchaften kann unmöglich 
die einfeitige (deöpotifche) Herrfchaft auf die Dauer beftehen, bier 
muß ſich die Individualität und Einzelfelbftändigkeit zur Geltung 
bringen, der Rechtöfinn entwideln, der Recht s ſtaa t und mit 
ihm die republifanifche Staatöform entftehen und damit die bür: 
gerliche Freiheit in der Gleichheit des Rechts (jeber ift berechtigt), 
noch nicht in der Gleichheit der Rechte (nicht alle find gleichberech⸗ 
tigt oder gleich vermögend). Die Gemeinfchaft der Abftammung 
und der Intereffen vereinigt die Staaten in der Form eine Bun- 
des, und es entfteht eine föberative Wölkerrepublit. So entwidelt 
y öbendaſelbſt. XII Vorl. ©. 171-176, 


891 


ſich die zweite Staatöform, der Staat der relativen Rechtsgleich- 
beit, geſchichtlich in den griechifchen Völkern *). 
e. Das römische Weltreich. 

Es ift die Aufgabe des Rechtsſtaats, welcher zugleich der 
höchſt entwickelte Culturſtaat ift, ein Weltreich zu werden, bad 
die Völker des gefchichtlichen Alterthums in ſich vereinigt. Diefe 
Aufgabe löſt der römifhe Staat, in feiner Borausfegung 
durch griechifch = italifche Golonien, in feiner Entſtehung durch bie 
Miſchung zweier Volkselemente bedingt, von denen dad eine ald 
das höher cultivirte und einfeitig herrfchende dem anderen gegen⸗ 
überfteht ald dem rohen und einfeitig unterworfenen. Aus biefen 
Bebingungen, entwidelt ſich eine ariftofratifhe Staatsver⸗ 
faffung zuerft in der Form des Königthums, dann in ber ber 
Republik; aus dem fortdauernden inneren Gonflicte der beiden 
Volksftände, dem Rechtöftreite der Patricier und Plebejer, ge 
ftaltet ſich in almäliger Ausbildung der römifche Rechtsſtaat, 
der nach außen in fortwährendem kriegeriſchem Wachsthume begrif- 
fen, ſich zu einem Culturreiche ausdehnt, das die Völker der Welt 
in fi) vereinigt. 

Diefer Staat repräfentirt die Menfchheit, noch in der Form 
relativer Rechtögleichheit, noch nicht in der Anerkennung, daß die 
Menfchen als ſolche gleich find: ihm fehlt die Einfiht in den 
wahren Grund der abfoluten menfchlichen Gleichheit, die Ein- 
ficht,, daß die Menfchheit in ihrem Grunde ein BWefen ift gött⸗ 
lichen Urfprungs und göttlicher Beſtimmung, felbft eine Erfchei- 
nung und Offenbarung göttlichen Lebens. Dieſe Einſicht ift 
religiös, unter allen religiöfen Vorſtellungen bie einzige, die 
fähig und berufen ift, Weltreligion zu werden und die Menfch: 
heit auf die höchfte Stufe auch ihrer ſtaatlichen Bildung zu er: 
y Sbendaſelbſt. XII Borl, &. 176-178, 


892 
heben. Das römifche Weltreich kann diefe Weltreligion aus ſei⸗ 
nen eigenen Gulturbedingungen nicht erzeugen; es empfängt fie 
von Afien in der Form bed Chriſtenthums *). 
d. Das chriſtliche Weltprincip. 

Mit dem Chriftenthume tritt ein neues Princip in die Welt 
gefchichte, eine neue Zeit, die noch bei weitem nicht gefchloffen 
iſt. Es handelt fi um die Vermirklichung dieſes Princips und 
zunächft um bie Art feiner Faffung. Man muß die abfolute Ver: 
wirklichung von der relativen, die abfolute Faffung von ber be 
fchränkten wohl unterfcheiden; die erfte ergreift das Chriftenthum 
in feiner ewigen Wahrheit, die zweite nimmt ed vom Stand: 
punkte der Zeitvorftellungen und Zeitverhältniffe, unter denen es 
auftritt, und vermifcht darum die chriftliche Idee mit Elementen 
judiſcher und heibnifcher Art, die nicht zu feinem wahren Weſen 
gehören. 

Die Menfchheit ald ein einiges Wefen, als ein einiges Leben 
göttlicher Abkunft und Beſtimmung, diefes eine Leben ald Er: 
ſcheinung und Ausdruck des göttlichen Lebens felbft, diefe wirk⸗ 
liche Einheit des Göttlichen und Menfchlichen ift der Kern und 
Mittelpunkt des wahrhaft chriftlichen Glaubens, dad neue und 
ewige Princip diefer Religion. Damit ift die Zweiheit, der Dua⸗ 
lismus des Göttlichen und Menfchlichen, die relative Selbftändig: 
keit beider Seiten aufgehoben. Nur unter Vorausſetzung einer 
ſolchen Zweiheit fann von einem Verhältniß, von einem Bunde, 
von einem neuen Bunde zwifchen Gott und Menfchheit geredet 
werden. Das ift die befchränkte, noch unfreie, von dem Geifte 
des Judenthums innerlich noch nicht völlig abgelöfte Auffaffung 
des Chriſtenthums. In der abfoluten Faffung gilt es als die 
enthällte, offenbargeworbene Einheit des Göttlichen und Menfch- 

*) Ebendaſelbſt. XII Vorl, S. 178—185, 





893 


lichen, in der befchränkten gilt es nur als ein neuer Bund beider, 
die darum in Wahrheit nicht eines find, ſondern zwei. Die 
Unterfcheidung biefer beiden Auffaffungen des chriftlichen Glau⸗ 
bens ift für Fichte’ Religionslehre und deren Werhältniß zum 
Chriſtenthume durchaus maßgebend. Fichte felbft weiß fi im 
völligen Einverftändniß mit der erften und im Gegenfaß zu ber 
‚zweiten. Gr hatte beide ſchon früher unterfchieden als „johan⸗ 
neifche” und „paulinifche”, welche letztere ihm deßhalb als 
eine Miſchung jüdifher und hriftlicher Vorſtellungsweiſen galt *). 
e. Das chriſtliche Mittelalter. 

Gilt das Chriftenthum als (neuer) Bund zwifchen Gott und 
Menfchheit, fo erfcheint die letztere ald das mit Gott zu ver 
tnüpfende ober zu verföhnende Glied. Diefe Verföhnung befteht 
in ber Entfündigung. Diefe Entfündigung geſchieht durch Gna—⸗ 
denmittel oder Sacramente, deren Verwalter dem chriftlichen 
Volke gegenüberftehen ald die Priefter, welche das Heil vermit- 
ten. So wird die hriftliche Religion ein myſtiſcher Entfündis 
gung: und Sarramentöglaube, ber fich ausprägtin der Priefter 
herrſchaft, in der hierarchifch gegliederten Kirche, die dad ſchon 
verfallende römifche Weltreich nicht mehr retten und innerlich aufs 
richten, fondern, ſelbſt von ben abgelebten religiöfen Formen 
mitergriffen, den Untergang beffelben nur befchleunigen kann. 

Die lebendige Fortbildung des Chriftenthums bedarf neuer 
geiftesfeifcher Völker, welche die Kirche bekehrt, die fich aber bei 
der Einfachheit ihrer urfprünglichen Religion, ihrer Sitten und 
Rechtözuftände, bei ihrer natürlichen Rechts- und Freiheitsliebe, 
die fih auf die Geltung der Perfon gründet, keineswegs blind 
unterwerfen und ihre Selbftändigkeit nehmen laffen. Dieß gilt 


*) Ebendafelöft. XIII Borl, ©. 185 — 191. Bgl. VII Borl, 
&97—100, 


894 


inöbefondere von den germanifchen Völkern. Es entſteht kein 
Weltreich, wie die afiatifchen oder dad römifche war, fondern 
eine Reihe neuer, chriftliher Staaten, die nach gegenfeitiger Un- 
abhängigteit freben und nur ben religiöfen Vereinigungspunkt 
des gemeinfamen Glaubens und der gemeinfamen Anerkennung 
ber Kirche ald ihrer geiftlichen Gentralmacht haben. So wird in 
dieſem neuen chriftlich=germanifchen Staatenfofleme die Kirche 
felbft eine politifch = geiftliche Gentralgewalt, welche die völker⸗ 
rechtlichen Verhältniffe überwacht, beauffichtigt und die Selb: 
ftändigkeit der Staaten, die ihrem eigenen Machtintereffe dient, 
bevormundet. Unter biefer Bevormundung vereinigt der gemein- 
fame Glaube die chriftlichen Völker des Abendlandes nach außen 
in dem gemeinfamen Kampfe gegen den Muhamedanismus. Das 
Mittelalter findet in den Kreuzzügen feinen heroifchen Ausdruck, 
in dieſer „ewig denkwürdigen Kraftäußerung eines chriftlichen 
Ganzen ald hriftlichen Ganzen“ *). 
£. Der Untergang des Feudalftants und die Reformation. 

Der politifche Kampf um die Selbftändigkeit befteht nicht 
bloß zwifchen den chriſtlichen Völkern und Staaten, fondern auch 
im Innern der Staaten felbft zwifchen den Elementen, bie ihren 
Beftand ausmachen, zwiſchen den Lehnöherren und Bafallen, 
auf deren Verhältnig der mittelalterliche Feudalftaat beruht. Der 
Kampf beider endet auf doppelte Weife: entweder mit dem Siege 
des Herrfcherö, der die nach Unabhängigkeit ringenden Bafallen 
unterwirft, wie in Frankreich, oder mit dem Siege der Baal: 
Ien, die ſich frei machen und felbftändige Herrfcher werden, wie 
in Deutfchland. Die Kirche im Intereffe ihrer eigenen politifch- 
geiftlichen Gentralmacht fucht nach außen die gegenfeitige Unab⸗ 
bängigfeit der Staaten, nad) innen den Kampf ber Lehnöherren 

*) Ebendaſelbſt. XII Vorl S. 191—198, 


895 


und Vafallen zu erhalten. Das Ende dieſes Kampfes hat in 
feinen Folgen nothwendig einen vernichtenden Einfluß auf die 
Stellung und politiihe Gewalt der Eirchlichen Centralmacht. 
Gegen ihre geiftliche Gewalt und Glaubensbevormundung erhebt 
fih aus der Tiefe des germanifchen Geiftes der Kampf um die 
religiöfe Selbftändigkeit. Das Ende des Feudalſtaates und bie 
Anfänge der Reformation greifen in einander, und das politifche 
Macht- und Unabhängigkeitöintereffe auf Seiten des Staats 
geht Hand in Hand mit dem religiöfen Freiheitöbebürfnig der 
Reformation. Die Kirche hört auf eine politifche Centralmacht 
zu fein und wird felbft da, wo die Reformation nicht zur Gel: 
tung kommt, eine bloß dogmatifche und bisciplinarifche Kirchen- 
gemalt *). 
g. Univerfalmonardie und Gleichgewicht. 

Unter diefen Bedingungen, welche der neuen Zeit Bahn 
brechen , verändert fi von Grund aus die Form und Verfaffung 
des Culturſtaates. Zwei Factoren wirken in diefer Reform zu: 
fammen: das Streben, der einzelnen Staaten ihre Selbftändig: 
keit. zu erhalten, und dad Streben, alle chriftlichen Staaten in 
einem Ganzen zu vereinigen. Die Tendenz zur Einheit hat jest 
zu ihrem Träger den Staat, und zwar den mächtigften unter 
den vorhandenen. Bon hier aus wird eine chriftliche Univerfal- 
monarchie angeftrebt. Gegen den Vergrößerungätrieb der mäch—⸗ 
tigen Staaten reagirt der Erhaltungstrieb der minder mächtigen, 
und fo tritt dem Streben nad) einer Univerfalmonardie. 
auf der einen Seite dad Streben nad) einem politifchen Gleich» 
gewichte der chriftlichen Staaten von der anderen entgegen. Um 
dieſes Gleichgewicht zu erhalten, müffen die einzelnen Staaten 
fo ſtark als möglich fein. Daher ftrebt jeder, fo fehr er kann, 

*) Ebendaſelbſt. XIV Vorl, S. 198 —200. 


896 


nah Verſtaͤrkung. Wo die Berftärtung nach außen nicht mög- 
lich ift, wird fie nach innen gefucht durch Menfchengewinn, Zus 
nahme ber Bevölterung, Entwicklung ber Arbeitöfräfte; Hebung 
des Handeld, der Staatswirthſchaft u. f. f. Jetzt tritt die Noth- 
wendigkeit ein, die begünftigten Volksclaſſen für die Staats: 
zwecke in Anſpruch zu nehmen. Die nicht begünftigten Claſſen 
würden mehr leiften können für den Staat, wenn fie nicht den 
begünftigten leiften müßten. Die bürgerliche Gleichftelung der 
Rechte erfcheint jest geboten durch die Wohlfahrt des Staats, 
der erſt dann im Stande ift, ben gefammten Ueberſchuß aller 
Kräfte feiner Bürger für feine Zwede zu vermerthen. Erſt wenn 
der Staat feine ganze innere Macht in vollem Beſitz und zu freier 
Verfügung hat, kann er Einfluß üben auf die chriftliche Völter- 
republik, auf die Leitung des Gleichgewichts, kann er feine Stelle 
behaupten in dem Syſteme des europälfchen Völkerreichs. Er 
darf feinen Vortheil außer Acht laffen, keinen Zweig der Staats- 
verwaltung, feine Marime einer guten Regierung vernachläffigen, 
er muß vorwärtöfchreiten, weil er fonft zurückgeht, er darf keinen 
politifhen Fehlgriff thun, weil jeder Fehlgriff ſich beftraft mit 
dem endlichen Untergange. Innerhalb dieſes neuen Völkerſyſtems 
nöthigt darum ſchon das Intereffe ber eigenen Selbfterhaltung 
jeben einzelnen Staat dazu, alle feine Kräfte zufammenzunehmen 
und nad) feiner Cultivirung zu flreben; er muß, um beftehen 
und gelten zu können, unauögefegt danach ſtreben, ber höchfte 
Gulturftaat zu fein, was er nur fein kann, wenn alle feine Bürs 
ger auf dad innigfte durchdrungen find von dem Zwecke des Gan⸗ 
zen. Dahin geht der politifche Charakterzug unferer Zeit. Nur 
ein ſolcher Staat, der auf der Höhe der Cultur fteht, kann in 
der Gegenwart dem fortgefchrittenen politifchen Bewußtſein und 
Bebürfniß entfprechen. Nicht der Boden, fondern der Cultur⸗ 








897 


ſtaat ift unfer Vaterland. „Mögen die Erbgeborenen, welche in 
der Erdfcholle, dent Fluffe, dem Berge ihr Vaterland erkennen, 
Bürger des gefunfenen Staates bleiben; fie behalten, was fie 
wollten und was fie beglückt: der fonnenverwandte Geift wird un⸗ 
wiberftehlich angezogen werben und hin ſich wenden, wo Licht ift 
und Redt*)”. 


DL 
Der fittlichẽ Zuſtand der Gegenwart. 
1. Die oͤffentliche Sitte. 

Das politifche Bewußtſein und der Bildungsſtand eines 
Beitalterd durchdringt den Wechfelverkehr der Menfchen und macht 
fid in den Grundzügen und den ftehenden Formen deſſelben erfenn- 
bar. Die flehende, in der Bildungsſtufe des ganzen Zeitalters 
begründete, durch Gewohnheit zur Natur gewordene Form ded 
allgemeinen Betragend ift die Öffentliche Sitte, gleichfam ber 
bewußtlofe Charakter des Zeitgeiftes. Wir unterfcheiden die gute 
und ſchlechte Sitte (in der erften die negativ-gute und bie pofitiv- 
gute) und betrachten beide, fo weit fie durch den Staat bedingt 
find und in die Aeußerungsweiſe des öffentlichen Lebens fallen. 

Das Princip aller guten Sitte befteht darin, daß jeder in 
jedem bie Gattung anerkennt und würdigt, daß alfo (negativ 
ausgedrückt) Feiner die Freiheit und Würde des anderen befchä: 
digt. Wenn die Gefeßgebung und die Ordnungen eines Staates 
fo eingerichtet find, daß jede Verlegung diefer Art ald ein Ver 
brechen gilt und beſtraft wird, fo wird dadurch der böfe Wille 
von dem Schauplaße der öffentlichen Handlungen zurüdgefcheucht 
und ber guten Sitte im negativen Sinne Raum gegeben. Se 


*) Ebendaſelbſt. XIV Vorl, S. 200-212. 
Bilder, Geſchichte der Phlloſophle V. 57 


898 


weiter „bie negativ= gute Sitte” um ſich greift, um fo mehr 
werben in der öffentlichen Meinung felbft die Verbrechen gegen 
die Menfchenwürbe verpöntz die Ehrliebe, die Verachtung ber 
Barbarei wird zur öffentlichen Stimme und nöthigt jegt durch 
ihren rüdwirtenden Einfluß den Staat, feine Strafgefeggebung 
zu mildern und die graufamen Strafen abzufchaffen. So dringt 
die Menfchlichkeit, die durchgängige Anerkennung und Achtung 
der Gattung, in das öffentliche Leben ein, und ed entfteht was 
Fichte ald „die pofitiv- gute Sitte” bezeichnet. 

Wird aber die Gattung als folche in jedem geachtet, fo liegt 
darin fchon die Anerkennung der urfprünglichen Gleichheit der 
Menfchen, alfo auch der Gleichheit ihrer Rechte. Sind nun 
auch in den gegebenen Zuftänden die Rechte noch ungleich, fo 
wird doch die wahrhaft gute Sitte in der Art und Weiſe der 
Menfchenbehandlung nicht diefe vorhandene Ungleichheit, ſondern 
die nothwendig anzuerkennende Gleichheit zu ihrer Worausfegung 
und Richtſchnur nehmen. Das Gegentheil davon ift „die [hlechte 
Sitte”; fie fließt aud der Vorausſetzung ber vorhandenen Un- 
gleichheit, nach ber man die Humanität des Benehmens abftuft. 
Gilt die Ungleichheit nicht bIoß als ein vorhandener und zeitweili⸗ 
ger, fondern als ein nothwendiger und bleibender Zuftand, fo 
befteht darin die ſchlechte Sitte felbft; die privilegirten Stände 
verachten die nicht privilegirten und halten fich für etwas Beſſe⸗ 
res und Höheres, diefe erwiedern die unwürdige Art mit Em: 
pfindungen, bie nicht würdiger find, entweder mit niebriger 
Kriecherei oder mit bitterem Neide; bie richtige gegenfeitige Aner⸗ 
Eennung fehlt gänzlich und mit ihr die Möglichkeit der guten 
Sitte. Diefe gegenfeitige, Anerkennung herbeizuführen und in: 
nerlich zu befeftigen, giebt es fein befferes Mittel ald die Wiffen- 
ſchaft, die ihren ausgleichenden Charakter am beften bewährt, 


899 


wenn fie aus bem bürgerlichen Stande hervorgeht und ſich von 
hier aus ben übrigen Volksclaſſen mittheilt*). 


2. Die dffentlihe Religiofität, 

Die Anerkennung der urfprünglichen Gleichheit der Men- 
ſchen gründet ſich auf das Bewußtfein der menfchlichen Gattungs⸗ 
einheit, der Wefenseinheit des ganzen Menfchengefchlechts, und 
biefes Bewußtſein wurzelt im Innerften der chriftlichen Religion. 
Iſt jene Anerkennung in dem wechfelfeitigen Verkehre der Men- 
ſchen zur Sitte oder Richtſchnur der Sitte geworden, fo befteht 
darin die bewußtloſe Herrfchaft des Chriftentyums. Nun war ed 
der Staat, ber durch feine Gefeßgebung diefe Sitte in ihrer 
äußeren Erſcheinung bebingt und ausbildet. Auf dieſe Meife 
wird der Staat felbft in der Verwirklichung des Chriftenthums ' 
ein wichtiges und vermittelndes Werkzeug. Die Herrfchaft des 
Chriſtenthums muß durch den Staat hindurchgegangen und in 
ihm realifirt fein**). 

Die religiöfe Denkweife ift der tieffte Grund der politifchen 
und fittlihen; daher werben zuletzt alle Zeiterfcheinungen unter 
dem religiöfen Gefichtöpunfte betrachtet werden müffen. Jedes 
Zeitalter prägt die religiöfe Denkweife in einem beftimmten Cha⸗ 
rakter aus, der die „Religiofität” des Zeitalterd bildet, entweder 
als verborgened Princip oder ald Elared Bewußtfein. Die eigen: 
thümliche Religiofität des gegenwärtigen Zeitalter8 zu erfennen, 
ift daher die Iebte Aufgabe feiner Charakteriftik. 

Aus dem bereits entwidelten wiffenfchaftlichen Charakter des 
Zeitalter läßt fich der religiöfe erkennen. Es war ber Charakter 
der Aufklärung, der nur bad deutlich und klar Begriffene, alfo 

*) Ebendaſelbſt. XV Vorl, ©. 218— 226, 

) Chendafelbft. XV Vorl, S. 220 u, 21. 
67* 


900 


nichts Unbegreifliches, nur den Maßſtab der finnlichen Erfah— 
rungsbegriffe, alfo nichts Ueberfinnliches gelten ließ; daher den 
blinden Glauben, den blinden Gehorfam und damit alles Zurcht- 
erregenbe in der Religion vollfommen verwarf. Was die Reli— 
gion und deren Gotteövorftellungen furchtbar macht, ift aber: 
gläubifcher Natur und gehört nicht dem Wefen des Chriftenthums 
an, ſondern vorchriſtlichen und heibnifchen Vorſtellungsweiſen. 
Diefer Aberglaube mit feinen heibnifchen in dad Chriſtenthum ein 
gebrungenen Weberreften erfcheint im Lichte der gegenwärtigen 
Aufklärung als volfommen nichtig. Indeſſen vernichtet dieſe 
Aufklärung nad) der ganzen Art ihrer Denkweiſe mit dem Unbes 
greiffichen zugleich das Ueberfinnliche; fie ift gänzlich unfähig 
einen deutlichen Begriff der überfinnlichen Welt zu faffen, und 
fo verliert das Zeitalter, fo weit fein klares Bewußtſein reicht, 
mit der falfchen Religion zugleich die wahre. Diefe Unfähigkeit, 
die wahre Religion zu faffen, ift barum noch nicht die Unfähigkeit 
zur Religion überhaupt. Das klare Bewußtſein umfaßt nicht die 
ganze menfchliche Natur ; was der deutliche Begriff nicht erreicht, 
Tann dad Gefühl in dunklem Streben ſuchen. Die aus dem 
klaren Bewußtfein vertriebene Religion flüchtet fich in dad Ge— 
fühl und ift hier ald Bedürfnig und Sehnfucht nach dem Ueber- 
finnlichen, als Empfänglickeit und Sinn für Religion um fo 
lebendiger da, als die Verſtandesaufklärung mit ihren dürren 
Begriffen biefen Sinn leer läßt. Das fchmerzliche Gefühl diefer 
Leere giebt dem Zeitalter feinen veligiöfen Charakter. Es iſt der 
wahren Religion bebürftiger und empfänglicher als ein anderes. 
„Das leere und unerquidliche freigeifterifche Geſchwätz hat Zeit 
gehabt, auf alle Weife fi auszufprechen; es hat fich ausge 
fprohen, und wir haben es vernommen, und es wird von biefer 
Seite nichts Neues und nicht beffer gefagt werben, als es 


—— 


91 


gefagt iſt. Wir find deffelben müde; wir fühlen feine Leerheit . 
und die völlige Nullität, welche es und in Beziehung auf den 
doch einmal nicht ganz auszurottenden Sinn für dad Ewige 
giebt *).” 


3. Die wahre Religion. 


Diefer Sinn fordert Befriedigung; er wartet auf feine 
ächte Nahrung, diefe bereitet ſich ſchon vor in der Werkſtätte einer 
neuen Philofophie, die den Begriff der wahren Religion zu fafs 
fen und in dad Elare Bewußtfein zu heben fucht. Was jebt ald 
philofophifches Bewußtfein erwacht, wird in der Zukunft religiö- 
fe8.Bewußtfein werden. Der Standpunkt der fogenannten Auf: 
klärung ift bereits philofophifch überwunden; „eine männlichere 
Philoſophie“ hat ſich in Kant erhoben und durch ihr Princip der 
„abſoluten Moralität” das fittlihe Bedürfniß der Menfchen tie: 
fer als je befriedigt. Der moralifche Sinn ift dem religiöfen 
verwandt, aber er ift nicht felbft der religiöfe. Gerade durch 
diefe Befriedigung des verwandten Sinnes wird die Nichtbefriedis 
gung des religiöfen nur noch flärker empfunden. Der Begriff 
der wahren Religion ift dadurch die erfte Aufgabe der Philofophie 
geworben. Es ift die gegenwärtige Aufgabe. 

Die abfolute Moralität, die reine Sittlichkeit ift das Höchfte 
außer der Religion. Die unbedingte Pflichterfüllung,, der blinde 
Gehorfam gegen das Pflichtgebot, ohne Rüdficht auf die Fol: 
gen, ohne Einfiht in die eigentliche Bedeutung der Pflicht: 
das ift die höchfte fittliche Leiftung. Aber der Mangel an Ein: 
fit in dem bloß moralifchen Verhalten läßt zugleich einen Man: 
gel in der abfoluten Würde des Menſchen. Das Nichtverftchen 
ift diefer Würde nicht angemeſſen. Die Würde des Menfchen 

*) Ehenbafelbft. XVI Bol, ©. 226" 251--—_ 


92 


wird deßhalb auf dem Standpunkte der blogen Sittlichkeit nicht 
vollendet; diefe Vollendung giebt erſt der religiöfe Standpunkt. 
Es ift der Trieb, durchzudringen zu der Bedeutung des Pflicht: 
gebots, der und nöthigt, und über die reine Sittlichkeit zur Re 
ligion zu erheben. 

Das bloße Pflichtgebot fegt den wiberftrebenden Willen vor: 
aus; darum fagt ed: du ſollſt! Diefe Vorausfegung aufge: 
hoben, das pflihtmäßige Wollen zur Voraudfegung gemacht, fo 
tommt jened „Sol zu fpät. An bie Stelle des Sollens 
tritt dad nothwendige Wollen, welches zufammenfält mit dem 
Nichtanderskönnen, mit Trieb und Neigung. Wo Trieb ift, da 

iſt Leben und Entwidlung. Erfcheint die Pflicht als „das leben: 
dige Geſetz einer ewigen Fortentwicklung“, ald „innere Fortfchrei: 
tung des einen Lebens”, als „geiftigfte Lebensblüthe“, fo fteht 
fie uns nicht mehr gegenüber als ein Gefeß, dem wir und unter: 
werfen (fo fehr wir ihm widerfireben), fondern fie ſtammt aus 
dem einen göttlichen Grundleben, in dem wir leben, weben und 
find. Dann ift der moralifche Standpunkt aufgehoben und ber 
teligiöfe an feine Stelle getreten. Bor der Moral verſchwindet 
das äußere Gefeß, vor der Religion das innere. Es giebt Feine 
Gefegesunterwerfung mehr, fondern nur eben, keinen Zwieſpalt 
mehr, fondern nur Einheit, Fein eigenwilliges und felbftfüchti: 
ges, fondern durch und durch freies, klares, feliges Leben. „Die 
Religion erhebt ihren Geweihten abfolut über die Zeit als ſolche 
und über die Bergänglichfeit und verfegt ihn unmittelbar in den 
Beſitz der einen Ewigkeit. In dem einen göttlichen Grundleben 
ruht fein Blick und wurzelt feine Liebe: was noch außer Diefem 
einen Grundleben ihm erfcheint, ift nicht außer ihm, fondern in 
ihm und bloß eine zeitige Geftalt feiner Entwidlung nad) einem 
abfoluten Sefepg, ‚as dä gleichfalls in ihm felber ift: er erblickt 





903 


alles nur in dem Einen und vermittelft beffelben, dann erblickt 
er aber auch zugleich in jedem Einzelnen das unendliche AU.” 
„In jedem Momente hat und befigt er das ewige Leben mit aller 
feiner Seligkeit, unmittelbar und ganz; und was er allgegen- 
wärtig hat und fühlt, braucht er fich nicht erft anzuvernünf- 
teln. Giebt es irgend einen fchlagenden Beweis, daß die Er: 
Tenntniß der wahren Religion unter den Menfchen von jeher fehr 
felten gemwefen und daß fie insbefondere den herrfchenden Spfte: 
men fremd fei, fo ift es der: daß fie die ewige Seligkeit erft jen⸗ 
feitö des Grabes fegen und nicht ahnen, daß jeder, der nur will, 
auf der Stelle felig fein könne *).” 

Eine höhere religiöfe mit dem johanneiſchen Chriftentyum 
einverflandene Weltanfchauung ift im Anbruch. Sie kann nicht 
durch den Staat gemacht werden; der Staat reicht mit feinen 
Geſetzen und Ordnungen, wenn alles in der beften Verfaſſung if, 
nur bis zur guten Sitte; fehon die Sittlichfeit geht über ihn 
hinaus, um wie viel mehr die Religion. Diefe kommt, wie von 
jeher, aus dem Innerften des Denfchengemüthes, durch einzelne 

„tiefbegeifterte Individuen, die fähig find andere zu erweden. “So 
kamen im Aufgange der neuen Zeit die Reformatoren, nach ihnen, 
als die Religion im orthoboren Lehrbegriffe völlig erſtarrt war, 
die Pietiften, und die heutige Welt, nachdem die Aufklärung 
alles verflaht hat, fehnt fi ſchon nach einer neuen religiöfen 
Erhebung, die ihre Propheten erwartet **). 


4. Die neue Zeit. 
Sharakteriftit der „Grundzüge. 
Ein folder Verkündiger einer neuen Zeit will Fichte felbft 


Ebendaſelbſt. XVI Borl, S. 231— 235. 
**) Chenbafelbft, XVI Vorl, S. 236— 238. 


904 


fein; er will es fein in diefer feiner Schilderung des gegenwärti= 
gen Zeitalters, bie, wie fie fich über den Geift der Gegenwart 
ald etwas Auögelebtes erhebt, unmöglicy aus ihm gefchöpft fein 
ann, fondern entweder gar nicht ober die Zukunft bedeutet, 
Grund und Princip eined neuen Lebens. 

Es giebt ein religiöfes Denken und eine darauf gegründete 
religiöfe Weltbetrachtung, in welcher alles Leben erſcheint „als 
nothwendige Entwidlung des einen urfprünglichen, vollfommen 
guten und feligen Lebens”. Dahin führt nie die Weltbeobach- 
tung; dahin treibt ein tiefes Bebürfniß de menfchlichen Ge: 
muths, die Welt aus ihrem innerften Grunde zu faflen. Wäre 
die Welt von ungefähr, fo hätte fie feinen Grund; wäre ihr 
Grund blinde Nothwendigkeit, fo bliebe er unfaßbar, unbegreif- 
lich; wäre die Urfache der Welt menſchenähnlich, fo wäre fie 
auch menfchenfeindlich und darum ein Gegenftand abergläubifcher 
Vorftelung; fie kann daher nur gefaßt werden ald „bas eine 
abfolut gute und ewig gut bleibende göttliche Dafein”. In biefer 
Vorftellung ruht die religiöfe Weltanſchauung. 

- - "Die gefammte Welt, dad ganze irdifche und menfchliche Da- 
fein in der Beziehung auf das Ewige ift ihr Gegenftand und ihr 
Gebiet. Wie fi das einzelne menſchliche Leben mit feinen be 
fonderen Schickſalen auf dad Ewige bezieht und mit ihm zuſam⸗ 
menhängt, ift „das tieffte Ende” dieſes Gebietes; wie das Leben 
der Menfchheit fich zu der unendlichen Reihe künftiger Leben ver- 
hält, ift „das höchfte Ende” deffelben. Das Erdenleben der 
Menfchheit in feiner Entwiclung liegt zwiſchen diefen Grenzen 
und bildet „dad mittlere Gebiet” der religiöfen Weltbetrachtung. 
Sene beiden Enden find dunkel und unbegreiflih. Wir wiffen, 
daß, aber nicht wie fie mit dem Ewigen verknüpft find; wir 
tönnen diefen Zufammenhang nur vernehmen, aber nicht verftehen. 


905 


Die religiöfe Weltbetrachtung, fo weit fie nur vernimmt, ohne 
zu verfiehen, nennt Fichte „Bernunftreligion”; fo weit fie 
verfteht, ift fie „Werftandeöreligion“. Nur das mittlere 
Gebiet ift verftändlich; die Entwidlung unferer Gattung in ihren 
nothwendigen Epochen läßt fich begreifen; der für uns helfte 
Punkt diefer ganzen einleuchtenden Entwidlung ift unfer eigenes 
Beitalter. 

Diefes Zeitalter war ber Gegenftand der „Grundzüge; 
fie waren felbft eine veligiöfe Betrachtung jenes mittleren Ges 
bietes, eine religionsphilofophifche Geſchichtsbetrachtung, ein 
Ausdrud der „Berftandesreligion” *). 

Ob fie ihren Gegenftand in Wahrheit getroffen haben, ob 
fie wirklich von dem Hauche eined neuen Lebens erfüllt find, läßt 
fi nur durch die Probe ausmachen, durch ihre Wirkung in dem 
Innerften des Gemüths. Sie find in demfelben Maße fruchtbar 
und wirffam, als fie im Stande find, religiöfes Leben zu wecken 
und das Gegentheil deſſelben aus dem Innern zu verfcheuchen, 
Das ift nicht durch Außered Thun und Werke erkennbar. „Die 
Religion ift gar kein Thun noch Thätiged, fondern fie ift eine 
Anficht, fie ift Licht, und das einige wahre Licht, welches alles 
Leben und alle Geftaltungen des Lebens in ſich trägt und fie in 
ihrem innerften Kerne durchdringt.” Wo Religion ift, da ift 
Sammlung, Ernft, Tiefe; wo fie nicht ift, da ift Sucht nach 
Zerftreuung, Gebankenlofigkeit, Flucht vor ſich felbft, Leichtfinn 
und Frivolität, die mit dem Leben, weil fie die Tiefe deffelben 
nicht Fennen, auf der Oberfläche fpielen. Das Licht verfcheucht 
die Finſterniß. Wenn diefe Reden die Finfterniffe des frivolen 
Lebens zu bangen und den Ernſt des Nachdenkens zu wecken ver: 


*) Ebendaſelbſt. XVII Vorl. S. 238— 244, 


906 
mögen, fo haben fie bewährt, daß fie vom Licht find und eine 
Quelle neuen Lebens *). 

Bir haben Fichte, ald wir die Grundzüge feiner Perfönlich 
teit und Geiftesart ſchilderten, einen religiöfen, von veformato- 
riſchem Drange getriebenen Redner genannt. Sein Leben und 
feine Lehre haben gezeigt, wie tief fie von diefem Zuge ergriffen 
waren. Wie Fichte die Grundzüge bed eigenen Zeitalters ſchil⸗ 
dert und bie religiöfe Neubelebung der Welt als den Drang und 
die Aufgabe einer neuen Zeit ausfpricht, erfcheint er ſich felbft 
ald ein zur &öfung diefer Aufgabe berufened Werkzeug, und am 
Schluffe feiner Reden befennt er es auch, daß fie Diefe oder Feine 
Bedeutung haben, In diefem Belenntniffe war feiner Seele 
ganz gegenwärtig, was er vermöge feines tiefften Triebes von 
jeher fein wollte. Darum find diefe Grundzüge eben fo charakte⸗ 
riſtiſch für ihn als für fein Zeitalter. 

Was Fichte in der Beftimmung ded Menfchen als den 
„Glauben“ begründet hatte, der alle Zweifel Löft und die wahr: 
bafte Wirklichkeit erfaßt, das entwidelt er in den Grundzügen 
des gegenwärtigen Zeitalter8 ald „bie wahre Religion“, deren 
Beſitz das Leben felig macht, und deren Begriff ein neues Zeit: 
alter in der Entwicklung der Menſchheit ankündigt. Das felige 
Leben und dad neue Zeitalter find daher die nächften Themata 
feiner Reben, 


*) Ebendaſelbſt. XVII Vorl. S. 244—254. 





Sechstes Kapitel. 


Anweifung zum feligen Leben oder Religionslehre. 


L 
Religionslehre und Wiſſenslehre. 


1. BVerhältniß beider. 

Seit dem Atheismuöftreite find Fichte's Unterfuchungen auf 
dad Weſen der Religion gerichtet geblieben, immer mit der Auf: 
gabe- befchäftigt, dieſen Gegenftand ganz bis in feine innerfte 
Tiefe zu durchdringen und fo einleuchtend ald möglich darzuftel: 
ten. Seit jener Abhandlung über den Grund unfered Glaubens 
an eine göttliche Weltregierung gilt ihm die Wiffenfchaftslehre zu⸗ 
gleich als der philofophifhe Standpunkt, aus welchem allein der 
wahre Grund der Religion (nicht etwa erft gelegt, fondern) ent: 
deckt und aufgehellt werden könne. Die wahre Wiffenslehre ift 
zugleich Religiondlehre. If die Religion in der That der tieffte 
Grund unferes Lebend und Erkennens, fo muß die Erkenntniß⸗ 
lehre in ihrem tiefften Grunde nothwendig Religiondlehre werben, 
fo muß aus der Entiwilung der Wiffenfchaftslehre, aus diefer 
immer tiefer dringenden Begründung, die Religionslehre ald 
deren reiffte Frucht hervorgehen. Hier ift fein Wiberftreit zwi: 
{hen Wiſſenſchaftslehre und Religionslehre oder zwifchen der 
erften und fpäteren Wiffenfchaftölehre. Fichte weiß beide im voll: 


, 908 


tommenen Einklange. Cr betrachtet die Worlefungen über die 

* Grundzüge deö gegenwärtigen Zeitalterd, über dad Wefen deö 
Gelehrten, über die Anweifung zum feligen Leben als ein Gan- 
zes; er bezeichnet die Religiondlehre ald „deſſen Gipfel und hell: 
ſten Lichtpunkt“, als die Frucht feiner unabläffigen feit dem Ende 
der jenaifchen Periode begonnenen Forſchung, als die folgerichtige 
Entwidlung feined ſchon im Anfange der jenaifchen Periode be: 
gründeten Syſtems. Diefe feine philofophifche Anfiht werde 
hoffentlich manches an ihm geändert haben; „fie felbft habe 
fi feit diefer Zeit in feinem Stüde geändert”. 
So urtheilte Fichte über feine eigene Lehre, ald er im April 1806 
die Anweifung zum feligen Leben herausgab*). 

In der Art ihrer Entgegenfegung unterfcheiben fich die zum 
Atheismuöftreit gehörigen Schriften von ben fpäteren religions- 
philofophifchen Betrachtungen. Dort hatte ed Fichte mit einer 
gewiſſen Glaffe orthoborer Theologen ald mit feinen ſchlimmſten 
Gegnern zu thun; hier richtet er fich durchgängig gegen die Ver= 
ftandesaufflärung des vorigen Jahrhunderts, und er ift in diefe 
Entgegenfegung fo verfenkt, daß er meint, auch damals Feine 
anderen Gegner gehabt oder bekämpft zu haben. Diefer ausge— 
prägte mit allen Merkmalen bed perfönlichen Widerwillens he= 
tonte Gegenfag gegen die Vulgarphilofophie des Nationalismus 
ift überhaupt für Fichte's letzte Periode charakteriftifch. 

Die Vorlefungen über die Religionslehre find den „Grund: 
zügen“ auch in der Form und Abficht der Darftellung verwandt. 
Es follen nicht fing wiſſenſchaftliche Vorträge fein, fondern po⸗ 
puläre, Die Bedeutung des Gegenftandes macht hier die popu⸗ 


*) Die Anmeifung zum feligen Leben ober auch die Religionslehre. 
In Borlefungen gehalten zu Berlin 1806. Vorrede. S. W. II Abth. 
DI ®. 6.399, 


909 


läre Darftelung zur Pflicht. Geifteöfreiheit, fittliche Selbftän- 
digkeit, Feſtigkeit der Ueberztugung, religiöfe Ueberzeugung kann 
unmöglic) an das ſchulmäßige Studium als an feine auöfchließende 
Bedingung geknüpft fein. Nicht ale können ſchulmäßig fludiren; 
überzeugt in den höchften Angelegenheiten des menfchlichen Lebens 
fönnen und follen auch die Ungelehrten fein, fie können ed 
nur fein, wenn ihre religiöfe Anfchauung auf feftem Grunde 
ruht. E3 handelt- fich nicht um eine neue unerhörte Wahrheit. 
Der ewige Inhalt der Religion ift nicht neu, die Gewißheit des 
Ueberfinnlichen, die Ueberzeugung einer geiftigen, von göttlichen 
Leben getragenen und durchdrungenen Welt ift nicht neu; fie war 
ſchon in Plato lebendig; fie ift im Chriſtenthume der ganzen 
Menfchheit verfündigt; fie hat als johanneifches Chriftenthum in 
der verborgenen Tiefe aller chriftlichen Zeitalter fortgelebt bis auf 
den heutigen Tag, fie ift in den beiden größten beutfchen Dich 
tern der Gegenwart mächtig, fie hat in Kant zum erftenmale 
auch den philofophifchen Geift ernfthaft ergriffen, und fie ift in 
der Wiffenfchaftölehre zum erſtenmale ftreng foftematifch bewiefen. 
Die Lehre ift neu nicht ald Religion, fondern als philoſophiſches 
Syſtem; fie muß daher auch unabhängig von ber fyftematifchen 
Zorm der wiſſenſchaftlichen Entwidlung populär dargeftellt wer: 
den können; fie ift einer folchen Darftellung fähig und bebürftig. 
Sie ift neu und unerhört nur für die herrfchende Philofophie dies 
ſes Zeitalterö, die das Lebendige aus dem Todten, das Geiftige 
aus dem Geiftlofen ableitet und das Buch der Natur richtig zu 
verftehen meint, wenn fie ed verkehrt lieſt. Die Anhänger diefer 
Philofophie fühlen fich vernichtet und wie auf den Kopf geftellt, 
wenn man, wie ed in ber Religion und Wiſſenſchaftslehre ges 
ſchieht, ihre Weltanſicht umkehrt. Diefed Gefühl macht fie 
nothwendig fanatifch, und nun verfchreien diefe „Fanatiker der 


* 


910 


Verkehrtheit”, unfähig den Sinn der Religion und Wiffenfchafts- 
lehre zu faflen, beide als Myfticisnius*). 


2. Dad Leben ald Seligkeit. 

Im Wahrheit ift die Sache, um die es fich handelt, fo faß= 
bar und wirklich, wie dad Leben felbfl. Und man braucht nur 
in Die Tiefe des Lebens zu fchauen, um den religiöfen Grundzug 
deffelben zu entdeden. Wo Leben ift, da ift Bebürfnig, Ges 
fühl des Mangeld, Trieb nach Ergänzung, nach Vereinigung 
mit einem Objecte, dad und erfüllt und befriebigt: da ift Trieb 
nach Befriedigung. Diefer Trieb kann Fein anderes Ziel haben 
ald eine dauernde und volle Befriedigung. Nennen wir bad 
dauernde und volle Befriedigtfein Seligkeit ober felig fein, 
fo ift fchon hier Har, daß Leben und Seligkeit (felig fein) in Der 
Wurzel eines find, daß der Begriff des Lebens den der Selig- 
keit einfhließt und daher der Ausdruck „feliges Leben” im Grunde 
zweimal baffelbe fagt. Nennen wir die Vereinigung mit dem 
Object, in deffen Beſitze die Befriedigung liegt, und ben Trieb 
nach diefer Vereinigung Liebe, fo leuchtet ein, wie Leben und 
Seligkeit in ihrem Grunde daffelbe find ald Liebe; wir leben in 
dem Maße, ald wir befriedigt (felig) find, und wir find nur bes 
friebigt, fo weit wir lieben. Daher Fichte's herelicher Ausfpruch: 
„Was du liebft, dad lebft du! Die Liebe ift dein Leben und die 
Wurzel, der Sit und der Mittelpunkt deines Lebens.” Viele 
Menfchen wiffen nicht, was fie lieben; das beweift nur, daß fie 
eigentlich nichts lieben und eben darum auch nicht leben, weil fie 
nicht lieben. 

Der Drang nad) Befriedigung treibt die Menfchen auf die 
Jagd nach Glücfeligkeitz fie jagen den Dingen nach und er= 

*) Ebendaſelbſt. Vorl, II. S. 416—431, beſ. 6. 424— 428, 


91 


haſchen bald dieß bald jenes, und jedesmal ift vergänglich, wie 
dad ergriffene Ding, ihre Befriedigung. Es giebt unter Sonne 
und Mond kein Object, dad nicht vergänglicd wäre, darum kei⸗ 
nes, dad wahrhaft und dauernd befriedigt. In Wirklichkeit ift 
in biefer Lebensart nichts bleibend ald die Vergänglichkeit aller 
Befriedigungen, als diefer fortwährende Wechfel von Täuſchung 
und Enttäufhung, worin jeder Fünftige Moment den vorher⸗ 
gehenden verfchlingt und darum dad Leben in feinem leeren Ab⸗ 
laufe nichts anderes ift ald „ein ununterbrochenes Sterben”. 
Bon einem foldhen Dafein kann man nicht fagen, daß es lebt; 
es flirbt fortwährend, es iſt gemifcht aus Leben und Tod, es ift 
fein wahres Keben, fondern ein Scheinleben. Das Gefühl eines 
ſolchen Dafeind ift darum dad Gefühl der Leere, der Nichtigkeit, 
des Elends und der Unfeligeit. Es bleibt nichts zurück ald die 
Enttäufhung, die in der Nichtbefriedigung endet als ihrem blei⸗ 
benden Zuftande. Hier bleibt nichts übrig als mit der Einficht 
in die Unfeligkeit des Lebens entweder bie gänzliche Entfagung 
auf alle Seligkeit, auf alle wahre Erfüllung, die dumpfe Res 
fignation, die ſich überreden möchte Weisheit zu fein, ober die 
Hoffnung auf die Seligfeit als einen fünftigen Zuſtand jenfeits 
des Grabes. Dann wäre dad Grab der Uebergang vom unfelis 
gen eben zum.feligen. Unmöglid kann dieſes Die Bedingung 
der Seligfeit fein. „Durch das bloße Sichbegrabenlaffen kommt 
man nicht in die Seligkeit.” Entweder alfo giebt es überhaupt 
teine Seligkeit oder fie ift dad Leben felbft, das wahre Leben 
im Unterfhiede vom Scheinleben, das erfüllte im Unterfchiede 
vom leeren, dad wirklich und dauernd befriedigte im Unterſchiede 
von dem unbefriedigten und durch die Scheingenäffe der Welt 
getäufchten *). 
*) Ebendaſelbſt. Vorleſ. J. S. 401—409, 


912 


3. Die Schnfuht nah dem Emigen ald Lebenstrieb. 
Fichte und Spinoza. 

Was das Leben in Scheinleben verwandeln und fortwährend 
fterben läßt, war die Liebe zu ben vergänglichen Dingen. Was 
dad Leben wahrhaft lebendig und felig macht, kann daher nichts 
anderes fein ald die Liebe zu dem Unvergänglichen, als der Trieb 
zur Vereinigung mit dem Wanbdellofen: „die Scehnfucht 
nad dem Ewigen”. Der Trieb nach Befriedigung ift eines 
mit dem Lebenstriebe. Der Trieb nach wahrer Befriedigung ift 
einzig und allein die Sehnſucht nad dem Ewigen: darum ift 
„dieſer Trieb die innigfte Wurzel alles endlichen Dafeins und in 
keinem Zweige dieſes Dafeind ganz auszutilgen, falls nicht dieſer 
Zweig verfinken fol in völliges Nichtfein”. Auf der Sehnfucht 
nad dem Ewigen beruht alles endlihe Dafein, und von ihr aus 
Tommt ed entweder zum wahrhaften Leben oder es kommt nicht 
dazu. Nennen wir dad Ewige Gott und den Inbegriff alles 
Veränderlihen Welt, fo ift das wahre Leben Gottesliebe und 
Leben in Gott, dagegen das Scheinleben Leben in der Welt und 
der Verſuch fie zu lieben. Jenes ift das Leben ohne Abbruch, 
ganz, volftändig, felig; diefes ift ein mangelhaftes, gebrochenes, 
zerſtreutes Dafein, nichtig, elend, unfelig. Es giebt nur ein 
Mittel, dieſes elende Dafein abzumerfen und gleichſam aus den 
Angeln zu heben: in der Liebe zur Welt ift unfer Leben zerftreut 
über die Mannigfaltigkeit und Verfchiedenheit der Dinge ; in ber 

OD geprtut-adı dem Ewigen zieht es fich aus diefer Mannigfal- 
tigkeit zurüd auf ine. Der einzige Weg zum Seligwerden 
ift der Zug nad) innen, 3 Leben in der Welt iſt zerfireut, in 
buntem Wechfel bald dieß Kald jenes ergreifend, darum leicht: 
fertig und flah. Im Gegenſatze dazu giebt bie Einkehr in das 







913 


Innere dem Leben Sammlung, Ernſt und Tiefe. Vergleichen 
wir an dieſer Stelle Fichte mit Spinoza, bie wir im Uebrigen 
einander entgegengefegt finden, fo find die Grundgebanten in der 
Anweifung zum feligen eben völlig diefelben als die erſten Be: 
trachtungen in dem „tractatus de intellectus emendatione“. 
Fichte frägt: wie komme ich zur Seligkeit? Spinoza frägt: wie 
gelange ich zum höchſten Gut? Beide antworten: durch bie 
Liebe zum Ewigen; beide feßen das Ewige in das wandellofe, 
unvergängliche Sein; es ift bei beiden der Trieb nach wirt 
licher Befriedigung, der dem Leben die Richtung auf dad Ewige 
giebt und die Liebe zur Welt in die Liebe zu Gott verwandelt”), 


4. Die Seligfeitölchre als Wiſſenslehre. 

Das Ewige lieben, ergreifen, zum Gegenftande des Ge 
nuffes machen, ift nur dann möglich, wenn wir es zum Gegen: 
flande machen können. Nur dad Bewußtſein und näher das 
Selbftbewußtfein kann überhaupt etwas zu feinem Objecte haben. 
„Alles eben fest daher Selbftbewußtfein voraus, und das 
Sclbftbewußtfein allein ift es, was das Leben zu ergreifen und 
zu einem Gegenftande des Genuffes zu machen vermag **).” Dad 
Selbftbewußtfein, deſſen Object das Ewige ift, kann ſich nur 
betrachtend, anfchauend, erkennend verhalten. Nur in der Er 
kenntniß läßt ſich dad Ewige ergreifen und dad Leben wahrhaft bes 
friedigen. Seligkeit ift Erfennen. Die Seligfeitölehre ift daher 
notwendig auch Wiffendlehre. 

Das Ewige ift ohne Wechfel und ohne Mannigfaltigkeit, es 
will gefaßt fein ald einfach, einig, wandellos, unveränderlich, 
als dad Sein, von dem allein in Wahrheit gefagt werben kann: 

*) Ebendaſelbſt. Vorl.L &.407—415, Vgl. Vorl. IV. S. 449, 


) Ebendaſelbſt. Vorl, J. S. 410. 
diſqer, Veſchichte der Pbilofophle V. 58 


914 


es iſt. Dieſes göttliche und allein wahrhafte Sein Fann nur er: | 
griffen werden durch den Gedanken, und da in dem Ergreifen 
des Ewigen, in der Befriedigung dieſer Sehnfucht, allein Das 
wahrhaftige oder felige Leben befteht, fo ift „Dad Element, der 
Aether, die fubftantielle Form des wahrhaftigen Lebens der Ge- 
danke”. „Worin follte denn das Leben und feine Seligfeit fonft 
fein Element haben, wenn eö daffelbe nicht im Denken hätte 2” 
Nur das Göttliche iftz außer ihm ift nichts. Darum kann auch 
der Gedanke des Ewigen, wir felbft und die Welt, die wir vor- 
ſtellen, nicht ald ein von dem Ewigen unabhängiges Dafein an= 
gefehen werben, ſondern ald „hervorgegangen aus bem inneren ı 
und in fich verborgenen göttlichen Wefen“. In diefer Weltanficht 
ruht die Religion; in dieſem Denken befteht das felige Leben. 
„Auch die Seligkeitölehre kann nichts anderes fein, denn eine 
Wiffenslehre, indem es überhaupt gar feine andere Lehre giebt 
außer der Wiſſenslehre. Im Geifte, in der in ſich felber ge= 
gründeten Lebendigkeit des Gedankens, ruhet das Leben, denn es 
ift außer dem Geifte gar nichts wahrhaftig da. Wahrhaftig leben, 
heißt wahrhaftig denken und die Wahrheit erkennen *).” 

Nicht im Gefühle, denn es ift dunkel und vorübergehend, 
auch nicht im Thun, denn es ift befchräntt und äußerlich, be: 
ſteht die Religion; fie ruht allein in der Erkenntniß und Liebe 
Gottes ”*), 








5. Daß Denten ald Lebendausdrud. 
Denken ift Leben. Es ift allemal dad Gegenbild, der Spie— 
gel des Lebens, der Ausbrud unfered Lebensgraded. Auch die 
finnlichen Wahrnehmungen haben wir nur, indem wir und der⸗ 


*) Ebendaſelbſt. I Borl, S. 404. S. 410, 
**) Ehenbajelbft, I Vorl, ©. 411. 





915 


felben bewußt find, indem wir fie denken. Aber die meiften 
fehen nicht, wie das finnliche Wahrnehmen felbft im Denken ge 
gründet ift und ohne daffelbe nicht fein könnte; fie leben nur in 
den Sinnen und halten darum bie finnliche Wahrnehmung für 
die Hauptfache und dad Denken für nebenfächlich und abhängig. 
Das ift die gemeine Denkart, der Ausdrud des niederen Lebens⸗ 
grades, deffen nothwendiger Ausdruck. Wie dad Leben, fo dad 
Denken. „Im äußeren Sinn, als ber lehten Ertremität des 
beginnenden geiftigen Lebens, fit ihnen vorderhand noch das 
Leben ; im äußeren Sinn find fie mit ihrer Iebendigften Eriftenz 
zugegen, fühlen fi in ihm, lieben und genießen ſich in ihm, 
und fo fällt denn nothwendig auch ihr Glaube dahin, wo ihr 
Herz ift; im Deuken dagegen ſchießet bei ihnen das Leben erft an, 
nicht als lebendiges Fleiſch und Blut, fondern als eine breiartige 
Maffe, und darum fcheint ihnen dad Denken ald fremdartiger 
weder zu ihnen noch zur Sache gehöriger Dunft*).” in hö— 
herer Lebensgrad ift auch ein höhere Denken, aber hier unters 
ſcheidet ſich wieder das willfürlihe Meinen, das ſich nad) ſub⸗ 
jectiver Neigung in Hppothefen ergeht, von dem nothwendigen 
Denken, welches das wahrhafte Sein mit aller Schärfe erfaßt. 

Dieſes nothwendige Denken if der Ausdruck des höchſten 
Lebenögraded. Iſt nun das Sein ewig, unveränderlich, einig, 
fo Tann der Gedanke des Seins (unfer nothwendige Denken) 
nur ald Bild, Aeußerung, Offenbarung jened ewigen Seins ge 
faßt werden. Wir können dad Sein nicht denken, ohne und 
felbft zu denken; alfo muß dad Selbftbemußtfein (gleich dem 
nothwendigen Denken) als Offenbarung (Bild) des ewigen Seins 
gelten. Da aber alles Wiffen und Erkennen im Selbftbewußt: 
fein bedingt ift, fo ift der Urfprung bed letzteren, die Art und 

*) Ebendaſelbſt. III Vorl. S. 436, 

58* 


916 ö 


Weiſe, wie es aus dem Sein folgt, ſchlechthin unbegreiflich. 
Das Selbftbewußtfein kann nie ald Folge, alfo auch nicht ald 
Folge aus dem ewigen Sein begriffen werben, es kann ſich 
felbft nicht ableiten, fonbern nur finden, es Bann fein eigenes 
Sein nicht ergründen, fondern nur unmittelbar wahrnehmen: 
„dieſes fein reales lediglich unmittelbar wahrzunehmendes Sein 
ift Leben”. Das Selbfibewußtfein kann ſich nicht erdenken, 
es kann nur ba fein ald wahrhaftiges realed Leben. Es giebt Fein 
Sein außer dem Abfoluten. Alſo iſt unfer wirkliches Sein 
(Selbftbervußtfein) dad Dafein ded Abfoluten felbft. Nun kann 
das Abfolute nur da fein durch ſich ald das ewig unveränderlich 
Eine. Alſo ift unfer wahres Sein (Selbftbewußtfein) der eigene 
Ausbrud des abfoluten Seind. Wir haben ſchon früher gezeigt, 
wie in dem Selbftbewußtfein Sein und Wiffen abfolut iventifch 
find und jede Trennung beider, wenn fie dem Selbftberußtfein 
vorauögefeßt wird, daſſelbe unmöglich machen würde”). Im 
diefer Identität ruht dad Selbftbewußtfein, fie ift feine tieffte 
Wurzel, fie ift dad wahrhaft wirkliche Sein, das Abfolute oder 
Gott. „Das reale Leben des Wiſſens ift daher in feiner Wur- 
zel daS innere Sein und Wefen des Abfoluten felber und nichts 
anderes; und es ift zwifchen dem Abfoluten oder Gott und dem 
Wiſſen in feiner tiefften Lebenswurzel gar feine Trennung, ſon⸗ 
dern beide gehen völlig in einander auf**).” 


6. Das Wiſſen (Selbfibemußtfein) als Offenbarung 
Gottes. Gott und Welt. 

Hier ift der Punkt, in welchem ber Zufammenhang der 

*) S. oben Bud) III. Cap. XI. S. 689flgb, Bug IV. Cap. I. 


Rr. II. 6. 801—804, 
) Anweiſung zum feligen Leben, III Borl, ©. 443, 





917 x 


fichte ſchen Wiſſenſchaftslehre und Religionslehre einleuchtet, und 
von dem aus ihr Verhältniß beurtheilt fein will. Das Princip 
alles Wiffens ift dad Selbftbewußtfein, dad Princip alles Selbft: 
bemußtfeind ift jene abfolute Einheit des Seins und des Wiffens, 
jene vollfommene Identität de3 Subjectiven und Objectiven, ohne 
welche das Selbftbewußtfein unmöglich fein, — aber ald welche 
das Selbftbewußtfein fi) unmöglich je erfcheinen kann, denn in 
und mit demfelben ift die Trennung von Sein und Wiffen (Sub: 
ject und Object) nothwendig gefeßt, deren abfolute Einheit im 
Princip und Grunde des Selbftbewußtfeind ewig feftfteht. Diefe 
Gedanken hat die Wiſſenſchaftslehre mit aller Klarheit entwideltz 
darauf ruht ihre Sittenlehre, als auf ihrer Grundlage. Jene 
abſolute Identität, welche die tieffte Wurzel alles Selbſtbewußt⸗ 
feind ausmacht, nennt die Religionslehre das wahrhaft wirkliche 
Sein, dad Göttliche oder Abfolute; die Rückkehr des Selbft: 
bewußtfeins in biefen feinen Urgrund, die Erfaffung des Ewigen, 
das Hinauögreifen Über die im gemöhnlichen Erkennen und Hans 
dein gefeßte Trennung von Sein und Wiffen, das Erlöfchen des 
getrennten und trennenden Selbftberoußtfeins im Ewigen ift nad) 
Fichte dad Wefen der Religion. 

Wenn nun das einige, ewige, unveränberliche Sein (Gott) 
in Wahrheit alles in allem ift, woher kommt die Mannigfaltige 
keit und der Wechfel der Erfcheinungen? Wenn im Unterfchiede 
von Gott nichts ift ald Gedachtes (Bewußtes), und dad nothwen⸗ 
dige Denken im Begriffe der ewigen Einheit befteht, "woher 
kommt die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung? Woher mit 
einem Worte dad Princip der Spaltung? Diefe Frage löſt ſich 
aus der Natur des Selbftbewußtfeind, welche die Wiſſenſchafts- 
lehre erleuchtet hat. Das Selbftbewußtfein trennt, was in ſei⸗ 
nem Principe vereinigt (abfolut eines) ift, ed trennt bad Sein 


918 B 


ab von dem Denken, dad Objective von dem Subjectiven; fo 
entfteht in Folge des Selbftbewußtfeins ein objectives von außen 
gegebened todtes Sein, fo verwandelt fid das göttliche Sein in 
einen Gegenfland des Selbſtbewußtſeins, in die Erfcheinung ber 
Welt; dad vom Sein ſich unterfcheidende (fubjective) Denken, 
ber Begriff”, wie Fichte fagt, „ift der eigentliche Weltfchöpfer‘. 
Unterfcheidet fich aber einmal dad Denken vom Sein, wie ed 
vermöge des Selbſtbewußtſeins nothwendig gefchieht, fo entfteht, 
wie die Wiffenfchaftölchre gezeigt hat, die Reihe der Reflerionen, 
das Sein wird reflectirt, auf diefe Reflerion muß wieder reflectirt 
werden, auf jeder Reflexionsſtufe ändert fich die Welterfcheinung ; 
fo entfteht die Mannigfaltigkeit und der Wechfel des objectiven 
Dafeind (die Weränderlichkeit der Welt) auf der einen und die 
Mannigfaltigkeit der fubjectiven Betrachtung (die Veranderlich⸗ 
keit der Weltanficht) auf der anderen Seite. Das Selbftbewußt- 
fein verwandelt Gott in Welt; die Reflerion fpaltet die Welt 
und dad Bewußtſein in fo viele Formen *). 


7. Die fünffahe Weltanſicht. 

Der Grundgedanke, in welchem die fichte ſche Religiond- 
lehre ſich an die Wiffenfchaftölehre anknüpft, liegt alfo darin: 
daß die einzige Form, in welcher das göttliche Sein ſich offenbart, 
nämlich dad Wiffen oder Selbftbewußtfein, zugleich die Bedin- 
gung in fich trägt, die und nothwendigerweife das göttliche Sein 
verdunkelt. Wer diefen Punkt nicht ergreift und im Auge behält, 
der kann das Eigenthümliche der fichte’fchen Religionslehre nicht 
faffen. Wir find Licht und ftehen uns felbft im Lichte. Durch: 
zudringen aus dem Dunkel zur Urquelle des Lichts, ift die noth⸗ 


*) Ghenbafelbft, IV Vorl, S. 447 — 460. Bol. beſ. S. 152 figd. 
Rr. 8. a—f 


919 


wenbige Beftimmung bed Bewußtfeind und bie in ber Wurzel 

h unferes Dafeind enthaltene Aufgabe unferes Lebens. Zwiſchen 
Finfterniß und Licht giebt es unendlich viele Grade der Abſtu⸗ 
fung. Unendlich mannigfaltig und getheilt nad} dem Grabe ihrer 
Erleuchtung ift unfere Weltanficht. Um fefte Punkte zu haben, 
werden wir einen niebrigften, höchften und mittleren Grad 
unterfcheiden können, welcher letztere felbft wieder nach beiden 
Seiten vermittelnde Zwifchenftufen fordert. So ergiebt ſich eine 
fünffache Weltanficht, fünf Weifen die Welt zu nehmen, die 
eben fo viele Stufen und Entwicklungsgrade unferes geiftigen 
Lebens bezeichnen. - Der niebrigfte Grad ift die dunkelſte und 
oberflächlichfte Weltanficht, der höchfte die allerklarfte und zus 
gleich tieffte. Diefe Stufen find nothwendige Beftimmungen des 
einen Bewußtfeins und darum nicht an die Zeitfolge gebunden ; 
viele bleiben eingewurzelt in der gemeinen Anfiht der Dinge, 
während andere wie burch ein Wunder von vornherein die Welt 
in einem höheren Lichtefehen: das find die erleuchteten Menfchen, 
die Weifen und Religiöfen, die Heroen und Dichter, die dad 
Gemeine hinter ſich laffen ald wefenlofen Schein, 

Der niedrigfte Standpunkt iſt der finnliche, dem das äußere 
Sinnenobject und die Sinnenwelt ald dad wahrhaft Wirkliche 
gilt und der nichts Höheres erkennt noch anerkennen will. 

Der zweite höhere Standpunkt, mit dem dad geiftige Leben 
wirklich erft beginnt, erblickt in ber Welt die Offenbarung eines 
ordnenden Vernunftgefeges; diefes gilt ihm ald das Reale; 
dad Dafein derMenfchheit ald der vernünftigen und freien Wefen, 
auf welche dad Geſetz fich bezieht, ift dadurch bedingt, und von 
bier aus erflärt fi das Dafein der Sinnenwelt ald des noths 
wendigen Schauplaßes, den die Handlungen freier Wefen fordern. 

Ueber diefen zweiten Standpunkt erhebt fich ein britter, 





920 


den Fichte die „höhere Moralität” nennt. Das ordnende Geſetz 
iſt nicht dad Urfprüngliche und Reale, es feht voraus den abſo⸗ 
luten in ſich felbft gegründeten Zweck, der in der Menfchheit ver⸗ 
wirklicht werden fol: ein erfchaffendes Gefeß, welches bie 
Menſchheit zum Abbilde und zur Offenbarung des inneren gött⸗ 
lichen Wefend zu machen firebt. Das an und für fi) Gute, die 
Idee ift das erfte, die Menfchheit ald deren Abbild dad zweite, 
das ordnende Geſetz innerhalb der Menfchenwelt ift das dritte, 
und die Sinnenwelt als Schauplag bed Handelns das letzte ). 
Die Menfchheit ald Abbild des göttlichen Weſens, als er: 
griffen und getragen von dem Hauche des erſchaffenden Gefeges: 
diefe Weltanficht erhebt fich über die bloße Sittlichkeit, aber 
bleibt noch befangen in der Trennung des Göttlichen und Menfch- 
lichen, fie fteht noch dieſſeits der Scheidewand und erblidt de- 
halb das göttliche Weſen felbft nicht im Licht, fondern im Schat⸗ 
ten. Ihr eigenes Selbftbewußtfein ift diefe Scheidewand. So 
lange die Menfchheit fid und die Welt nur ald Abbild Gottes fieht, 
bleibt ihr das Urbild ewig verborgen ; fie verbirgt es fich felbft 
und bleibt im Dunkel. Die Scheidewand fällt oder fie wirb 
durchfichtig, fobald dad Selbftbewußtfein nicht ald Trennung von 
Gott, fondern ald unmittelbarer Ausdrud des göttlichen Lebens 
felbft erfaßt wird. Dann ift unfer Leben und das göttliche in 
Wahrheit ein Leben: in dem Bewußtfein diefer Einheit befteht 
die Religion (dad felige Leben). „Wir willen,” fagt Fichte, 
„von jenem unmittelbaren göttlichen Leben nichts, denn mit dem 
erften Schlage des Bewußtſeins ſchon verwandelt es ſich in eine 
todte Welt, die ſich noch überdieß in fünf Standpunkte ihrer 
möglichen Anficht theilt. Mag ed doch immer Gott felber fein, 
der hinter allen diefen Geftalten lebt, wir fehen nicht ihn, ſon⸗ 
*) Ebendaſelbſt. V Vorl, S. 461— 470, 


921 


dern immer nur feine Hülle, wir fehen ihn ald Stein, Kraut, 
Thier, fehen ihn, wenn wir und höher fehwingen, ald Natur— 
geſetz, ald Sittengefeg, und alles diefes ift Doch immer nicht er. 
Immer verhüllet und die Form dad Wefen, immer 
verdedt unfer Sehen felbft und den Gegenftand, 
und unfer Auge felbfi fteht unferem Auge im Wege, 
Ich fage dir, der du fo klagſt: erhebe dich nur in den Stand: 
punkt der Religion, und alle Hüllen ſchwinden, bie Welt ver- 
geht dir mit ihrem todten Princip, und die Gottheit tritt wieder 
in dich ein in ihrer erfien und urfprünglichen Form ald Leben, 
als dein eigenes Leben, dad du leben folft und leben wirft. 
Nur noch die eine unauötilgbare Form der Neflerion bleibt, die 
Unendlichkeit dieſes göttlichen Lebens in dirz aber diefe Form 
drüdt dich nicht, denn du begehrft fie und liebft fie nicht, fie 
irret dich nicht, denn du vermagft fie zu erklären. Im dem, 
was der heilige Menfch thut, lebet und liebet, erfcheint Gott 
nicht mehr im Schatten und bedeckt von einer Hülle, fondern in 
feinem eigenen, unmittelbaren und kräftigen Leben, und die aus 
dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage: 
mas ift Gott? wird hier fo beantwortet: er ift Dasjenige, 
was der ihm Ergebene und von ihm Begeifterte 
thut. Willſt du Gott fehauen, wie er in fich felber ift, von 
Angeficht zu Angefiht? Suche ihn nicht jenſeits der Wolken, 
du kannſt ihn allenthalben finden, wo bu bift. Schaue an dad 
Leben feiner Ergebenen und du ſchaueſt ihn an; ergieb dich felber 
ihm, und du findeft ihn in deiner Bruſt ).“ 

Der letzte und höchfte Standpunkt erhebt fich über den eben 
befchriebenen und macht zu feinem Gegenftande, was in der Reli⸗ 
gion Zuftand und lebendige Thatfache ift: er erflärt die Thatfache 

*) Ebendaſelbſt. V Vorl, S. 471—472, 


922 

der Religion, die Einheit und den Zufammenhang des göttlichen 
und menfchlichen Lebens, dad Wie dieſes Zuſammenhanges. Er 
verhält fi zur Religion, wie bad Erkennen zum Leben: das ift 
der Standpunkt des Wiſſens, ber einen, abfoluten, in füch 
vollendeten Wiffenfhaft. Für die Religion ift die Einheit des 
göttlichen und menfchlichen Lebens abfoluted Factum. Die Wif- 
fenfhaft giebt die Geneſis dieſes Factums. Religion ohne diefe 
Erkenntniß ift einfacher Glaube. Die von der Erkenntniß durch⸗ 
drungene Religion ift Schauen. Diefer Standpunkt if noth- 
wendig, benn er ift die Erklärung der Religion; die Klarheit ift 
nothwendig, denn in ihr allein vollendet ſich das im Wiffen ge- 
gründete Leben *). 

"Religion und Wiffen find befcpauend und contemplativ, 
Darum ift die Religion nicht unpraktifch, nicht etwa ein anbäch- 
tiged Träumen oder eine Schwärmerei, die dad Gebrechen des 
geröhnlichen Myſticismus ausmacht; fie durchdtingt dad ganze 
Leben und ift darum kein abgefonderted Geſchäft, fondern fie er: 
blickt in jeder Lebenöfphäre den thätigen Willen Gottes und hei» 
ligt jeben Beruf, wie niebrig oder hoch er ſtehe. Sie wäre nicht 
Religion in des Worts realer Bedeutung, wenn fie nicht eine 
folche wirkfame Verklärung des ganzen menſchlichen Lebens 
wäre”). 

Die fünf Stufen der Weltanfiht find demmad 1) ber 
Standpunkt der Sinnlichkeit, 2) der Sittlichkeit, 3) ber höheren 
Moralität, 4) der Religion (Glaube), 5) der Wiffenfchaft 
(Schauen). Auf dem erften Standpunkte gilt ald dad Reale bie 
Sinnenwelt, auf dem zweiten das orbnende Weltgeſetz (Sitten: 
gefes), auf dem dritten das erfchaffende Gefeh, auf dem vierten 


*) Ebendafelbft. W Vorl. 6, 472—473. 
**) Ghendafelbft, V Vorl, ©, 473—475, 





923 . 
die Einheit deö göttlichen und menfchlichen Lebens als Thatfache, 
auf dem fünften diefe abfolute Thatfache mit der Einficht in ihre 
Nothwendigkeit. Die beiden legten Standpunkte find jenfeits 
der Scheidewand, die im Selbſtbewußtſein befteht; bie beiden 
erften bleiben biefjeitö berfelben, der mittlere ſtrebt nach dem 
Durchbruch. 

Der erſte Standpunkt hat ſeine exemplariſche Darſtellung in 
jener allgemein geltenden Philoſophie, die Fichte irf den Grund: 
zügen des gegenwärtigen Zeitalter8 gefchilbert hatz der zweite ift 
dargeftellt in der „Eantifchen Eehre bis zur Kritik der praktifchen 
Vernunft“, der britte ift geahnt in Plato, berührt in Jacobi, 
der vierte ift erfüllt und empfunden in jedem wahrhaft religiöfen 
Leben, er will begriffen und fyftematifch entwidelt fein in ber 
Wiſſenſchaftslehre, die ſich auf den höchften Standpunkt erhebt*). 


8. Die fichte'ſche Religionölehre und das johan— 
neifhe Chriftenthum. 

Daß die Religion in der ewigen Einheit des göttlichen und 
menſchlichen Lebens wurzelt: diefe Einficht lebt in der Tiefe jedes 
wahrhaft religiöfen Bewußtſeins; fie ift als Religion im Chris 
ftenthume zur gefchichtlichen Erſcheinung gefommen und in „der 
ächteften und reinften Urkunde deffelben, dem Evangelium Io: 
hannis“ felbft ald Religionslehre ausgeſprochen und bargeftellt 
worden **). Hier ift der Punkt, wo Fichte auf dieſes ſchon wie⸗ 
derholt berührte Thema näher eingeht und durch die Ueberein- 
flimmung feiner Lehre mit dem Evangelium Johannis feine Ueber⸗ 
einftimmung mit dem Chriftentyume zu begründen fucht. Er 
fest erftend voraus, daß dieſes Evangelium johanneifch und äch— 

*) Ebendaſelbſt. V Vorl. ©. 466. 467. 469— 470. 

*) Chendafelbft. VI Vorl, ©, 476, 


924 


tefte Urkunde des Chriftenthumd fei; er erflärt zweitens den Sinn 
deffelben fo, daß fich die Uebereinftimmung mit feiner Lehre 
rechtfertigt. Wir können über die erfte Vorausſetzung nicht mit 
ihm reiten, weil die Eritifch=hiftorifche Frage und Unterfuchung, 
die ihr entgegenfteht, fpäteren Urſprungs ift, und wie es fich 
auch damit verhalte, doch die Hauptſache eingeräumt werden 
darf, daß in dieſem Evangelium das chriftliche Glaubenöprincip 
feinen tiefften dogmatifchen Ausdruck gewonnen; wir laffen bie 
zweite Vorausfegung gewähren, weil hier nicht der Ort iſt, den 
Sinn des Evangeliums zu beflimmen und Fichte's Erklärungs⸗ 
weife zu berichtigen; wir nehmen daher die leßtere nur als ein 
Zeugniß feiner Lehre, aldein „epifodifches”, wie er felbft fagt. 
Ewig, wie Gott felbft, ift fein Dafein, feine Offenbarung, 
die in nichts anderem befteht, als im Wiffen, im Bewußtſein, 
in Folge deffen erft Objecte entftehen, die Welt und die Dinge. 
Die Ewigkeit des Bewußtſeins leugnen, heißt die Ewigkeit der 
göttlichen Offenbarung, die Ewigkeit Gottes felbft verneinen und 
an deren Stelle den willkürlichen Schöpfungsact fegen. Diefe An: 
nahme ift nach Fichte „ber abfolute Grundirrthum aller falfchen 
Metaphyſik und Religionslehre”, „Da Urprincip des Juden: und 
Heidenthums“. „In Beziehung auf die Religionslehre ift das 
Segen einer Schöpfung baderfte Kriterium der Falſchheit; dad Ab: 
leugnen einer folchen Schöpfung, falls eine folche Durch vorherge- 
gangene Religionslehre gefegt fein follte, das erfte Kriterium der 
Wahrheit diefer Religionslehre *).” Als eine folche wahre Reli: 
gionslehre charakterifirt fich das Johannisevangelium gleich in 
den erften Worten. Es fagt nicht: „im Anfange fhuf Gott 
Himmel und Erde”, fondern ed fagt: „im Anfange war das 
Wort, der Logos” (die Weisheit), der geiftige Ausdruck, das 
*) Ebendaſelbſt. VI Vorl, &, 479, 





925 


Bewußtſein ald Dafein Gottes, „Gott war dad Wort, daſſelbige 
war im Anfange bei Gott; alle Dinge find durch daſſelbe ge: 
macht und ohne daffelbe ift nichts gemacht, was gemacht iſt.“ 
Das ewige Bewußtfein ift die ewige Menfchheit oder Menfch: 
werbung Gottes, die ewige Einheit des Göttlichen und Menfch- 
lichen, dad innerfte Wefen aller Religion. Die zeitliche Erfcheis 
nung bed Worts ift die Perfon Jeſu; in ihm ift dad Bewußt⸗ 
fein jener abfoluten Einheit des göttlichen und menſchlichen Das 
feins, diefe tieffte Erkenntniß der Wahrheit, wirklich gegenwär⸗ 
tig gewefen, zum erflenmale in der Welt, vor ihm hat fie keiner 
in diefer Klarheit und Stärke gehabt, nad) ihm find alle bie» 
fer Wahrheit, diefer Vereinigung mit Gott, diefer Seligkeit 
theilhaftig geworden durch ihn. So rechtfertigt ſich das chriſt⸗ 
liche Dogma fowohl in feiner metaphyſiſchen ald in feiner hifto- 
tifchen Bedeutung. Aber dad Seligmacyende liegt nicht im hiſto⸗ 
tifchen Glauben oder in der gefchichtlichen Anerkennung der Gott: 
menfchheit Jeſu, auch nicht in der äußeren ſtückweiſen und ent⸗ 
fernten Nachahmung feiner Perfon ald eines unerreichbaren 
Ideals, fondern in der Wiederholung beffelben religiöfen Ber 
wußtſeins und Lebens: „nur dad Metaphufifche, keineswegs aber 
das Hiftorifche, macht felig*).” 


*) Ebendaſelbſt. VI Vorl. 6. 477—491. 6.485. 

In der Perfon Jeſu war das Bewußtjein ber abjoluten Einheit 
des Göttlihen und Menſchlichen nicht fpeculativ begründet, aud nicht 
von außen ber durch Weberlieferung empfangen, fondern urſprünglich 
und unmittelbar, nicht Wiffenfchaft, fondern Religion. Sein eigenes 
Selbſt war ihm unabtrennbar von dem Göttlichen, daher die Einheit 
beiber ein Urfactum, das eine genetiſche ErHlärung ober metaphyſiſche 
Begründung weber bedurfte noch zuließ. Ebendaſelbſt. Beilage zur VI 
Vorl, ©. 567—574, 


926 
IL 
Das felige Leben. 

Jede nothwendige Beftimmung unfered Bewußtfeins ift zu⸗ 
glei ein Ausdrud unſeres Lebensgrades, eine beftimmte Höhe 
des Selbfigefühls, ein Affert des Seins. Won dem Grabe 
der Lebenderfülung hängt der Lebensgenuß, die Tiefe und 
Dauer unferer Befriedigung ab. Die ewige Dauer der Befriedi⸗ 
gung ift Seligkeit. Won jenen fünf Weltanfihten, welde eben 
fo viele Lebensſtandpunkte waren, ift jede mit einer eigenthüm⸗ 
lichen Art der Befriedigung und des Lebensgenuffes nothwendig 
verbunden: welche ift die feligmachende? Die Auflöfung diefer 
Frage, welche den zweiten Haupttheil der fichte’fchen Unterfuchung 
ausmacht, führt und auf jene fünf Standpunkte zurück, die jest 
als eben fo viele Stufen der Lebenöbefriedigung betrachtet fein 
wollen. 


1. Der Standpunkt ber Rullität. 

Jede Art des Selbfigefühls und Selbſtgenuſſes, wie niedrig 
oder hoch fie fei, febt eine gewiffe Stufe der Selbftändig- 
keit, eine Bufammenfafjung und Haltung des Bewußtſeins vor⸗ 
aus, die im Stande ift, den Charakter einer Weltanficht zu er⸗ 
fülen. Dazu gehört felbft auf der niedrigften Stufe eine gewiffe 
Eoncentration des geiftigen Lebens. Wo diefe völlig fehlt, da 
ift die baare Unfelbftändigkeit, dad Bewußtſein bietet hier der 
Welt keine Spitze, fondern nur eine ftumpf ausgebreitete Fläche, 
auf ber alles zerfließt und fich verwirrt, es kommt hier zu gar 
feinem beftimmten Eindrude, ſondern -alle8 verwandelt fih in 
Trivialität, der Geift ift wie Baal über Feld gegangen. Hier 
ift überhaupt Fein innere Leben, vielmehr bie geiflige Nicht 


927 


eriftenz, Fein wirkliches Sein und darum auch fein Wohlfein, 
fein Affect, weder Haß noch Liebe, fondern die abfolute Genuß: 
loſigkeit und Unfeligfeit in der unfähigften Form, ein „Zuſtand 
der Nullität”, der bei der Frage nach der Eebenöbefriedigung 
gar nicht mitzählt*). 


2. Die beiden entgegengefegten Grundpunkte. 

Nur wo ed zu einer beftimmten Weltanfiht fommt, prägt 
ſich eine Lebensform aus, die eigene Selbftändigkeit hat und 
fähig ift ihr Dafein zu genießen. Jede beſtimmte Weltanficht 
war ein nothwendiger Ausdrud des Bewußtſeins, das Bewußt⸗ 
fein felbft war in feiner Wurzel Offenbarung (Dafein) Gottes, 
„Form des ewigen unveränderlihen Seins”, „Selbfigeftaltung 
der abfoluten Realität”. Vermöge der Reflerion, welche die 
Grundform des Bewußtfeind ausmacht, fpaltet ſich das letztere 
in „fünf mögliche Anfichtpunkte der Realität”; jeder diefer 
Standpunkte ift möglich, dad Bewußtſein kann daher den einen 
fo gut einnehmen ald den andern. Hier eröffnet fih mithin 
innerhalb des nothwendigen Bewußtfeins (der Form des abfoluten 
Seins) ein Spielraum der Freiheit, in weldem das Ich ſich 
unabhängig macht von dem göftlichen Sein und eine eigene 
Selbftändigkeit behauptet. Da es außer dem ewigen Sein nichts 
wahrhaft Wirkliches giebt, fo fagt Fichte: „das abfolute Sein ſtößt 
fih aus von fich felbft, um lebendig wieder einzukehren in ſich 
felbft **).” (Er fpricht hier den Proceß des göttlichen Lebens in 
einer Form aud, die typifch geworben ift bei Hegel.) Sind nun 
Me jene Standpunkte durchlebt, fo ift damit auch alle mögliche 

*) Ebenbafelöft. VII Vorl. S. 492—498, Vgl. VIII Borl, 


S. 507. 
**) Ebendaſelbſt. VIII Borl, S. 512, 


928 


Freiheit und eigene Selbftändigfeit des Ich erſchöpft und es 
bleibt nichts übrig als die volle Einheit unfered und deö göttlichen 
Seind ohne das Gefühl der Trennung, ohne den Affect ber 
eigenen Selbftändigfeit. Wir werden daher in Betreff der Art 
und Weife, wie wir bie Welt nehmen und genießen, zwei „ent: 
gegengefegte Grundpunkte“ unterfcheiden müffen: „bie Anweſen⸗ 
heit und Abmwefenheit jenes Affects ber eigenen Selbſtändigkeit“ *). 


3. Glüdfeligkeit. 

- Auf der niebrigften Stufe der finnlihen Weltanficht fieht 
fi) dad Ich (nicht als veflectirended Wefen, fondern) ald Pro- 
duct der Reflerion, als befondereö, individuelles, finnliches Ich, 
ald Trieb und Bedürfniß, welches durch finnliche Objecte befrie: 
digt fein wil. Es ſucht daher den finnlichen Genuß, die Er: 
höhung feines organifchen Dafeins, diejenige Befriedigung, deren 
Ideal und Ziel die Glüdfeligkeit if. Es fucht diefe Glüdfelig- 
feit in der Sinnenwelt, in den Objecten feiner Umgebung. Iegt 
erfcheint dieſes Object als das glüdfeligmachende, jegt ein anderes. 
So veränderlih, ald dad finnliche Ich felbft, find die Objecte, 
die es begehrt. Daher ift hier die Glückſeligkeit ein völlig unge: 
wiffer, aus Einbildung und Enttäufhung zufammengefester und 
darum unfeliger Zuſtand. Zulegt erfcheint die Glüdfeligkeit als 
ein in der irdifchen Welt nicht zu erreichendes Ziel und darum 
ald dad Ideal einer Fünftigen himmlifchen Welt, gleichviel wie 
biefer künftige Zuftand geträumt wird, ob ald Elyſium, als 
Abrahams Schoß oder als riftliher Himmel. Immer aber 
find es die Objecte, die Umgebungen, von denen die Glückſelig⸗ 
keit abhängig gemacht wird, im Jenſeits fo gut ald im Dieſſeits. 
Die Umgebungen machen nicht felig. „Wenn ihr im zweiten 

*) Ebenbafelöft, VIII Vorl. ©. 508—514, 


929 


Leben euer Glüd wiederum von den Umgebungen abhängig machen 
werdet, werdet ihr euch ebenfo ſchlecht befinden, wie hier, und 
werdet euch fobann eines dritten Lebens tröften und im britten 
eines vierten und fo in's Unendliche, denn Gott kann weder noch 
will er durch die Umgebungen felig machen, indem er vielmehr 
fich felbft ohne alle Geftalt und geben will ).“ 


4 Rechtlichkeit. 

Die zweite Form der Weltanficht war der Standpunkt der 
Geſetzlichkeit. In der Erkenntniß und Erfülung des ordnenden 
Weltgefeges ift das Ich unabhängig von dem finnlichen Welt 
genuß, ed erfcheint fich als abfolut unabhängig, als lediglich in 
ſich felbft gegründet, als fein eigener Gott und fein eigener Heiz 
land. Der Genuß und Affect diefer feiner Selbftändigkeit ift 
die Rechtlichk eit, ein ſtoiſches Unabhängigkeitögefühl, eine 
Art prometheifcher Erhebung. Diefe Unabhängigkeit vom Genuß 
ift zugleich die Unempfänglicpkeit für jede Erfülung, die Uns 
fähigkeit zu jedem Genuß, eine unintereffirte Kälte, die reine 
Apathie, die gleichgültig ſchwebt zwifchen dem Gemeinen und 
‚Heiligen **). . 

Auf beiden Standpunkten herrfcht der Affect der eigenen 
Selbftändigkeit, auf dem erften als finnlicher Genuß, auf dem 
zweiten als Selbftgerechtigkeit; dort ift der Genuß Wahn und 
Tauſchung, bier „giebt es Feine folche Täuſchung, weil es über: 
haupt feinen Genuß giebt. Das wahre Sein ift nur eines, 
Was fi von ihm unterfcheidet und etwas Beſonderes für ſich 


*) Ebendaſelbſt. VIII Vorl, S. 522. Vgl. VII Vorl. 6. 498 
bis 500. VIII. S. 515. IX Vorl, S. 523. 
**) Ebendaſelbſt. VII Vorl. &.502—506. VIII Vorl. 6,516, 
IX Vorl. S. 823 u. 24. 
dil qer, Seſchichte der Philoſophie V. 59 


930 

fein will, ift keineswegs Sein, fondern nur eine Negation dei: 
ſelben, darum befchränkt, mangelhaft, unfelig. Der Weg zur 
Seligkeit fordert die Austilgung der falfchen, eingebildeten, genuß 
loſen Selbftändigkeit: die Selbftvernichtung in der Wurzel, die 
nichts übrig läßt ald die alleinige Wirkfamfeit des göttlichen 
Seins. Jetzt find die einzelnen Perfonen nicht mehr befonder 
Weſen für fich, fondern Drgane des göttlichen Lebens und wollen 
nichts anderes fein. Es ift nicht das Geſetz der Sinnenwelt, 
das fich in ihnen verkörpert, fondern die überfinnliche Melt, die 
ihnen erfcheint. „Der Menſch Tann ſich feinen Gott erzeugen, 
‚aber fich felbft ald die eigentliche Negation Tann er vernichten und 
fodann verfinket er in Gott*).” 


5. Schönheit. 

Diefe Weltanficht erhebt ſich über die vorhergehenden und 
begreift den Standpunkt der höheren Moralität. Die Erſchei⸗ 
nung des Göttlichen in menſchlicher Geſtalt iſt die Schönheit. 
Set ift es nicht mehr das Sittengefe und der Tategorifche Im 
perativ, ber und zum Handeln antreibt, fondern die Macht gött- 
licher Wirkſamkeit in und, das Walten ded Genius, die gött⸗ 
liche Begabung des Individuums, das natürliche Talent al 
Quelle und Wurzel deö geiftigen Lebensgenuſſes, der individuelle 
Charakter höherer Beſtimmung, der eigenthümliche Antheil jede 
Einzelnen an dem höheren überfinnlihen Sein. Das Ergreifen 
diefer eigenthümlichen Beftimmung ift hier unfere Lebensaufgabt, 
unfer Lebensgenuß. Was wir thun, thun wir aus göttlicher 
Mittheilung, aus einem empfangenen Beruf, nicht aus leerer 
Selbftändigkeitz es giebt hier keine Werkheiligkeit aus eigener 
Wahl. Unfer Sollen ift hier eined mit unferem Können, dieſes 
*) Ebendaſelbſt. VIII Vorl. ©. 518. 








‚931 


mit unferem Willen, der nicht durch Selbſtwahl gemacht wird, 
fondern eines ift mit der Wurzel unfered Dafeind. „Wolle fein, 
was du fein folft, was du fein kannſt und was du eben darum 
fein wit: das ift das Grundgefeg der höheren Moralität for 
wohl als des feligen &ebens*).” 


6. Religiofität. Die Liebe als Seligkeit. 

Die höhere Moralität ift das göttlich getriebene Handeln, 
das Ziel unferes Handelns ift bad glüdlich vollendete oder geluns 
gene Wert, Was gelingen foll, kann auch mißlingen; beides 
fteht auf dem äußeren Erfolge, der immer ungewiß bleibt. So 
lange wir den äußeren Erfolg wollen, muß der Nichterfolg ober 
das Mißlingen bed eigenen Werkes eine Nichtbefriedigung mit ſich 
führen, die unfere Seligkeit ftört. Diefe Störung ift der letzte 
zu überwinbende Mangel, fie treibt und nach innen, und eine 
tiefere Selbftprüfung erhebt und auf einen höheren Standpunkt, 
von dem aus bie äußeren Erfolge nicht mehr gewollt werden, und 
der darum das felige eben vollendet. Das ift der Standpunkt 
der Religiofität. Wir fehen die Welt ald Offenbarung Got: 
tes, die Geifterwelt als feine Erſcheinung, die Sinnenwelt ald 
die Sphäre der Geifterwelt: alles verwandelt fich unter dieſem 
Gefichtöpunkte in „das Reich Gottes”, welches unabhängig if 
von unferen Erfolgen**). 

Wenn diefe religiöfe Weltanficht in jedem lebt, fo iftin 
Wahrheit die Geifterwelt einig in ſich und eines mit ihrem Urs 
quell; fo ift, um den fichte ſchen Ausbrud zu wiederholen, das 
abfolute Sein lebendig wieder eingelehrt in ſich felbf. Die 
Einigkeit in der Geifterwelt iſt die religiöfe Menfchenliebe, die 

*) Ebendaſelbſt. IX Vorl, 6, 526—533, 

*) Ebendajelbft. IX, Bor, S. 533— 557. 

59* 


932 


Einheit mit ihrem Urquell ift unfere Liebe zu Gott, die Einkehr 
Gottes in fc ift die Liebe Gottes zu fich felbft. So ift die Eiche 
die abfolute Befriedigung, dad wahre Sein, die wahre Selig: 
feit. „Die Liebe ift höher denn alle Vernunft, und fie ift ſelbſt 
die Quelle der Vernunft und die Wurzel der Realität und die 
einzige Schöpferin des Lebens und der Zeitz ich habe dadurd 
den höchften realen Geſichtspunkt einer Seind= und Lebens⸗ und 
Seligkeitölehre d. i. der wahren Speculation endlich klar ausge 
ſprochen *).” 


In den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters hatte Fichte 
unterfchieden zwiſchen Wernunftreligion und Verftandesreligion; 
ex wollte dort nur von ber zweiten gerebet haben, welde die 
zeitliche Entwidlung der Menfchheit aus dem religiöfen Stand: 
punkte erleuchtet und begreiflich macht; er giebt hier bie erfkt, 
die dad menfchliche Leben betrachtet in feiner Sehnfucht nach und 
in feiner Einheit mit dem Eigen. 

Die Anweifungen zum feligen Leben verhalten ſich zu ihrem 
Beitalter ebenfo polemifch, als jene Grundzüge. Die herrſchen⸗ 
den Vorftelungsweifen des Zeitalterd find irreligiöß; dieſes hat ih 
den Glauben an das Ueberfinnliche durch feine oberflächliche finn- 
liche Denkart aus der Seele weggerebet oder, wo es ihn hat, 
verfälſcht und abergläubifch entftelt durch die finnliche Sudt 
nach Glüdfeligkeit. Der herrſchenden Aufklärung des Zeitalter 
ericheint alle Religion ald Superflition. Diefe Verachtung ber 
Religion ift eben fo abergläubifch, als der Aberglaube irreligiös 
iſt. Beide gehören zufammen und ergänzen das Bild einer ine 
ligiöſen Denkweiſe. Der Aberglaube ift „bie ſchwermüthige It⸗ 

*) Ebendaſelbſt. X Vorl, S. 538— 542, 





933 
religiofität, dagegen dasjenige, was das Zeitalter gern an fich 
brächte, wenn es könnte, nur ald Befreiung von jener Schwer 
müthigfeit, — die leichtfinnige Irreligiofität fein würde ).“ 

*) Ebendaſelbſt. XI Vorl, ©. 551—567. (©. 563 fig). ALS 
einen Verfuh, feine religiöfe Weltanficht poetifh auszubrüden, erwäh: 
ne ich hier bie beiden legten Sonette Fichte's. [S. W. III Abth. 
III Bd. B. Son. 2. 3. ©. 461 flgb.] 


Siebentes Capitel. 
Reden andiedenifhe Nation. 


A. Die nene Beit und das deutfche Volk. 


L 
Die Aufgabe ber neuen Zeit. 


41. Der Wendepunkt. 

Drei Jahre find vergangen, feitdem Fichte das gegenwärtige 
Zeitalter gefchildert hat als das ber eingewurzelten Selbſtſucht 
und darum ber vollendeten Sündhaftigkeit. Während diefer we: 
nigen Jahre ift jener dritte Abfchnitt der Weltzeit abgelaufen; | 
ſchon erhebt fi), im Anbruche begriffen, das neue Zeitalter der 
beginnenden Rechtfertigung, wie es die Grundzüge nannten. ! 

Die Einfiht in die Wurzel des Uebels ift der Anfang de 
Beſſern. Die legte Frucht, die das Zeitalter der Selbſtſucht 
hervorbringen Eonnte, ift zu "voller Reife gediehen, und wer 
Augen hat zu fehen, Tann ſich über den Grund des Verderbens 
nicht Tänger täuſchen. Das Reich der Selbftfucht ift zerftört, 
das deutfche Volk ift einem fremden Eroberer erlegen und trägt 
das Joch fremder Gewaltherrſchaft; es hat dad Vermögen fih 
felbft feine Zwecke zu fegen verloren, und damit ift die Herr: 
ſchaft der Selbftfucht auch zu Grunde gegangen. Es ift ein um 





935 


freiwilliges, aber nothwendiges Ende. In diefer Thatſache liegt 
ein weltgefchichtlicher Wendepunkt *). 

Der Untergang der Selbftfucht ift fein blindes, von außen 
bereingebrochened Verhängniß, fondern ihre eigene Frucht. Ihre 
Vernichtung fällt zufammen mit dem Gipfel ihrer Entwicklung; 
ihr Maß war voll, fie hatte in Deutfchland die Regierenden 
felbft ergriffen und war bie einzige Triebfeder des politifchen Hans 
delnd. Der Gedanke des gemeinfamen Vaterlandes in der Ges 
fammtheit hatte jede treibende Kraft verloren und war auögetilgt 
bis auf den Reſt; die Lenkung ber öffentlichen Dinge zeigte ſich 
nach innen fchlaff, nach außen feig, von einen felbftfüchtigen 
Intereffen erfüllt, dad Ganze verrätheriſch preisgebend. 

Wir find gefallen aus eigener Schuld. Wir önnen uns 
aufrichten auch nur aud eigener Kraft. Man muß fich den 
Grund des Unterganges Mar machen, um dad richtige Mittel 
der Abhülfe und den Weg ber Wiederherſtellung zu entdeden. 
Bir haben alle Urfahe Schmerz über unfer Elend zu empfinden, 
und wir wären rettungslos verloren, wenn wir und gleichgültig 
oder Teichtfinnig darüber hinmwegfegen könnten. Nur fol der 
Schmerz über dad Elend fein elender Schmerz fein, der ſich in 
Vorwürfen und Klagen ergeht, fondern jener männliche, muth: 
erfüllte, befonnene Schmerz, der dem öffentlichen Unglück in’s 
Geſicht fieht, das Uebel feft in's Auge faßt und vor allem der 
eigenen Verſchuldung fi) mit aller Klarheit bewußt wird. Die 
Einficht in den innerften Grund des Verderbens ift auch die Eins 
ſicht in den innerften Grund der Rettung. Diefe Einficht alein 


*) Weber bie gejchichtlichen Bebingungen, unter denen Fichte bie 
Reden an bie deutſche Nation hält, vgl. oben Buch IT dieſes Werts, 
Cap. V. Nr. II. III. 6. 313—323. Reben an die beutjche Nation, 
S. W. III Abth. IT Bd. I Rede. S. 264. Bl, Vorr. S. 259. 


936 


gewährt Troſt und macht, daß wir nicht verzweifeln. Das 
deutfche Volk trägt in feiner „Deutfchheit” dad Vermögen 
der Wiederherftellung. Das ift dad Thema ber fichte ſchen Reden; 
fie fprechen zu dem, von dem fie fprechen: es find „Reben von 
Deutfchen an Deutfche”*). 

Als Fichte fi mit dem Gedanken diefer Reden trug, be 
fhäftigten ihn mancherlei politifche Zeitbetrachtungen verwandter 

» Urt, die und aus feinem Nachlafje bekannt find und zum Theil 

Bruchftüde eined unvollendeten politifchen Werkes bilden. In 
- einem jener Bruchftüdte befchreibt er die Zeit deö Unterganges und 
die Urfachen des Verderbens, als ob er felbft fchon in einer ent: 
fernten Zeit und in einem republifanifch wiederhergeftellten Vater: 
Iande lebte. Damals, ald jene Selbftfucht herrfchte, die zuletzt 
alles in's Verderben flürzte, habe.die fittliche Verfchlimmerung 
zugenommen in gleichem Werhältniffe mit dem Alter und dem 
Range der Menſchen. Je älter und vornehmer, um fo egoifti: 
ſcher feien die Leute geworben; die fogenannten höheren Stände 
feien in der Genußfucht förmlich verfault, und die höchfte Stel: 
lung habe fi in der Regel mit dem niebrigften Egoismus ver- 
einigt**). 

*) Ebendaſelbſt. I Nee, S. 265— 271. 

**) Bruchſt. aus einem unvollendeten politiſchen Werke, geſchrieben 
im Winter 1806/1807 zu Königsberg. I. „Epifobe über unfer Zeitalter 
aus einem republilaniſchen Schriſtſteller“. S. W. III Abth. II BO. 
(Bol. Fragmente). Hier heißt es: „Die niederen Stände konnten nie 
malß fo tief finten, während bie höheren um fo tiefer, je näher fie dem 
Gipfel ftanden, fi) dem Abgrunde zuneigten. Doch konnte man bei 
alle dem nur von wenig Individuen unter ihnen jagen, daß fie bösartig 
oder gemaltthätig feien, denn Hierzu gebrach es Lei ber Mehrheit an 
Kraft, fondern fie waren in der Regel bloß dumm und unmifjend, feige, 
faul und niederträdtig.” (S. 523.) 


937 


2. Die fittlihe Erneuerung bed Volks. 

Liegt num der Grund deö gegenwärtigen Untergangs in bem 
fittlichen Verderben, welches das ganze Volt an Haupt und 
Gliedern ergriffen hatte, fo liegt auch die einzige Abhülfe nur in 
einer fittlichen Wiedergeburt des ganzen Volks an Haupt und 
Gliedern. Won außen kann nichts helfen, von innen nur eine 
Emeuerung von Grund aus. Das Bolt muß neu gefchaffen 
werden. Diefe neue Menfchenbildung kann nur durch Erziehung 
gefchehen ‚ durch eine fofche Erziehung, die auf den ganzen Men: 
ſchen geht, auf die gleichmäßige Ausbildung aller feiner Kräfte, 
die nicht etwa diefen ober jenen Stand, fondern die Gefammtheit 
des Volks im Auge hat und ihren Plan daher in größtem Um: 
fange anlegt: was wir bebürfen, ift eine neue Volkserzie⸗ 
hung nad) einem planmäßigen, durchgängig auf den Zweck der 

* fittlichen Wiedergeburt gerichteten Syſteme. 

Dad Band, welches biöher die Einzelnen an bie Gefammt: 
heit Inüpfte, waren die Einzelintereffen. Diefes Band ift zer: 
tiffen. Dieſes fo verbundene Ganze ift zu Grunde gegangen, 
eben weil es fo zufammenhing. Ein neues Bindungsmittel if 
nothwendig; Intereffen ganz anderer Art müffen von jegt an ben 
Einzelnen an die Gefammtheit feft und unauflöslic binden. 
Neue Intereffen fordern ein neues Selbft. Um dieſes hervorzu: 

on ber mit dem Alter zunehmenden Verſchlimmerung jagt Fichte: 
„Die fie über dreißig Jahre hinaus waren, hätte man zu ihrer Chre 
und zum Beften der Welt wünfchen mögen, daß fie ftürben, indem fie 
von nun an nur noch lebten, um fih und ihre Umgebung immer mehr 
zu verfhlimmern.* (6. 520.) 

(Aus biefer letzten Aeußerung ift im Munde der Leute die Sage 
entftanden, Fichte habe erklärt, man müffe die Menſchen, wenn fie 
dteißig alt fein, tobt ſchlagen.) 


938 

bringen, ift das einzige Mittel eine neue Erziehung, die von 
Teinem anderen Bolt auögehen und zunächft auf Fein anders 
Volk angewendet werben kann, ald von Deutfchen auf Deutſche. 
Wenn Fichte von der „Deutfchheit” redet, ald dem Vermögen 
fittlicher und politifcher Wiederherftellung, fo erblickt er in ih 
die Quelle einer neuen Volkserziehung *). 

Daß die Natur des deutfchen Volks in der That eine folde 
Quelle geiftiger Erneuerung iſt, bedarf einer tieferen Begründung. 


ıL . 
Dad deutfhe Volk als Urvolf. 
1. Die Sprade und beren Sinnbildlidkeit. 
Es ift die Frage, ob das deutfche Volk im Stande ift, die 
ihm geftellte Aufgabe zu löfen, ob jene intellectuelle. und mora⸗ 
liſche Erneuerung der Menſchheit von ihm ausgehen, in und an 


ihm erprobt werden kann, ob dem Beduürfniſſe der Zeit auch bie | 


Fähigkeit und das Vermögen des Volks gleichfommen ? 
Geiftige Lebenserneuerung von Grund aus ift überhaupt nur 
da möglich, wo jemand aus ureigenfter Kraft lebt und kein ge: 


liehenes, fondern ein urfprüngliches, in fich felbft gegründete | 


Leben führt aus unverfieglicher Quelle. In der Geiftesurfprüng- 
lichkeit Liegt die Bürgfhaft und die Kraft der Erneuerung. Bir 
tönnen ein folches Wermögen der Erneuerung einem Volke nur 
dann zutrauen, wenn es bei aller Veränderung feiner Wohnfikk, 
bei aller Vermiſchung mit anderen Völkern feine ureigene Geiftes: 
art rein und unverborben bewahrt hat, wenn ed in diefem Sinn 
ein Urvolf ift und geblieben ift. Iſt das deutfche Volk ein Ur: 
volk? Won feiner Urſprünglichkeit hängt feine Erneuerung und 


*) Reben an bie beutfche Nation, I Rebe. S. 271274, 








939 
feine Rettung ab: dieſe Bedingung in ihr voles Licht zu ſetzen, 
ift daher eine wefentliche Aufgabe der fichte ſchen Reden. 

Es giebt eine Probe, um die Sache zu entſcheiden: der 
deutlichſte Erfenntnißgrund des geiftigen Lebens ift die Sprache; 
das Urvolk redet eine Urfprache, und wo diefe gerebet wird, ift 
dad Dafein eine Urvolkes durch das ficherfie und Iebendigfte 
Zeugniß bewiefen. Wenn die beutfche Sprache eine Urfprache ift, 
fo ift daS deutſche Volk ein Urvolk, fähig zur fitlichen Wieder: 
geburt vermöge einer neuen Volkserziehung. Die deutſche Sprache 
zeugt für das deutfche Volk. Die Reden Fichte's ſtützen fich auf 
dieſes Zeugniß*). . 

Das Band, welches vermöge der Sprache Begriffe und 
Laute verbindet, iſt nicht willfürlich, fondern gefegmäßig: diefer 
Begriff wird in den menfchlichen Sprachwerkzeugen zu biefem 
Laut; es find nicht die Einzelnen, die fich nach willkürlicher Ver— 
abredung eine Sprache machen, fondern die menfchliche Natur 
felbft redet; die menſchliche Sprache ift darum in ihrer Wurzel 
eine einzige und durchaus nothwendige. Die Verfchiedenheit der 
Sprachen ober die Abweichungen von der menfchlichen Urfprache 
entftehen unter äußeren Einflüffen auf eine ebenfalls gefegmäßige 
Weiſe. Menfhen, die unter denfelben äußeren Einflüffen ver- 
einigt (eben und ihre eigene Sprache in fortgefeßter Mittheilung 
entwideln, bilden ein Bolt. Ebenfo nothwendig ald die Ent: 
ſtehung der Sprache ift deren Entwidlung. In dem geiftigen 
Leben ift die Erfaffung des Ueberfinnlichen fpäter als die ſinn⸗ 
liche Wahrnehmung. Daher entwidelt ſich auch in der Sprache 
erft die Bezeichnung ber finnlichen Gegenftände, dann ber Aus: 
drud des Ueberfinnlichen. Dieſer letztere ift ebenfalls (ſchon weil 
er ſprachlich ift) finnlih und nimmt feinen Ausgangspunkt von 

*) Ebendaſelbſt. IV Rebe, S. 311314, 


940 


der Bedeutung finnlicher Objecte; er kann daher dad Ueberfinn: 
liche nicht im eigentlichen, fondern nur im bildlichen Sinne be: 
zeichnen. So entfteht in der Sprache bie finnbildliche Aus 
drudsweife. Das Erfaffen des Ueberfinnlichen ift gleichſam ein 
Sehen mit dem Auge des Geiftes, unwillkürlich vergleichbar dem 
Sehen mit dem Auge des Leibes; daher nannten die Griechen bie 
Vorftellung des Ueberfinnlichen „Idee“ oder Geſicht (finnbildlih 
genommen). Je umfaffender und Harer das finnliche Erkenntniß⸗ 
vermögen entwidelt ift, um fo reicher und beftimmter kann fih 
die fombolifhe Ausdrucksweiſe der Sprache ausprägen. Ihre 
Ausbildung gefchieht auf Grund und nach Mafgabe unferer finn: 
lichen Vorſtellungen. 

Das Selbft ald Organ ber finnlichen Welt unterfcheidet ſich 
von dem Selbft ald Organ der überfinnlichen: dieſer Unterfchieb 
muß mit aller Klarheit erfaßt fein, damit der finnbilbliche Ein- 
drud überhaupt verftanden werde. Nun kann dad Ueberfinnliche 
in feinem Unterfchiede vom Sinnlichen jedem nur aus der eigenen 
inneren Erfahrung einleuchten; e8 will, um verflanden zu wers 
den, erlebt fein. Wir müffen unfer eigenes geiftiges Werkzeug 
in Bewegung fegen, um bei dem finnbildlichen Ausbrud zur 
Sache felbft zu kommen; fonft bleibt und das Wort (als Aus: 
druck des Ueberfinnlichen) bebeutungslos und tobt; die Sprade 
ergeht fi dann in Bildern ohne Sinn, in und fehlt die dem 
Bilde entfprechende innere Anfchauung, und wir brauchen Wör⸗ 
ter, wie man tobte Geräthfchaften braucht. Die Sprache ift nur 
in dem Maße lebendig, als fie deutlich iſt; fie iſt nurin dem 
Maße deutlich, als fie wirkliche, innerlich erlebte Anfchauungen 
ausdrüdt*). 


*) Ehenbafelbft. IV Rede. 6. 314—319. 





91 


2. Lebendige und todte Sprade. 

Setzen wir nun den Fall, daß ein Volk feine eigene Sprache 
aufgiebt und eine fremde annimmt, fo muß es entweber feinen 
Anſchauungskreis in die fremde Sprache oder fih in den Ans 
ſchauungskreis der letzteren einleben. Bis zu einem gemiffen 
Grade ift ein foldyes Einleben möglich; fo weit nämlich bie 
Sprache finnliche Gegenftände bezeichnet, Täßt fich die entfprechende 
Anfchauung leicht hervorbringen, der Gegenftand ift entweder be 
kannt oder läßt fich finnlich darftellen. Dagegen in dem ſinn⸗ 
bitdlichen Sprachgebiete Bann die Bedeutung des Worts auf ſolche 
Weiſe nicht erhellt werden: hier kommt alles auf die erlebten 
inneren Anſchauungen an, auf die Entwidlung und den Bil 
dungsgrad des geiftigen Lebens. Segen wir nun, daß eben diefe 
Anfchauungen dem Volke fehlen, welches eine fremde, gerade in 
diefem Gebiete fehr auögebildete Sprache annimmt, fo ift die 
nothwendige Folge, daß todte Worte gefprochen werben, und 
die fremde Sprache im Munde diefes Volkes abftirbt. 

Hier ift zwifchen Volt und Sprache eine Kluft, bie fich 
nicht füllt, fondern überfprungen wird durch den Abbruch der 
normalen Volksentwicklung, durd den Fünftlichen Eintritt in 
einen fremden Anſchauungskreis, der fich dem Geifte des Volkes 
äußerlich, hiſtoriſch, willkürlich auflegt. Die Worte werben er: 
lernt, die Laute nachgeahmt, die geiftige Bedeutung muß man 
ſich erklären laffen und als fertige Thatfache annehmen. Was 
man auf diefe Weife empfängt, ift nichts innerlich Exlebtes, fon- 
dern „die flache und todte Gefchichte einer fremden Bildung”. 
In dem ganzen Umkreife ihrer Sinnbildlichkeit ift die fo ange: 
nommene Sprache tobt für dad Wolf, das in fie eintritt; jener 
ſinnbildliche Beſtandtheil bleibt „die Scheidewand, an welcher 


942 


der urfprüngliche Ausgang der Sprache ald einer Naturkraft aus 
dem Leben und bie Rückkehr der wirklichen Sprache in dad Leben 
ſich bricht. Obwohl eine ſolche Sprache auf der Oberfläche duch 
den Wind ded Lebens bewegt werden und fo den Schein dei 
Lebens von fich zu geben vermag, fo hat fie doch tiefer einen 
todten Beftandtheil und ift durch den Eintritt des neuen An: 
ſchauungskreiſes und die Abbrechung des alten abgefchnitten von 
der lebendigen Wurzel*).” 

Lebendige und tobte Sprache verhalten fich daher, wie Lehen 
und Tod. Nur in einer lebendigen Sprache ift auch eine leben: 
dige Geiftebildung möglich; lebendig ift nur eine folche Bildung, 
die dad wirkliche eben ergreift und in allen feinen Formen bis 
in bie Tiefe durchdringt. Nur in einer lebendigen Sprache if 
daher dad ganze Volk bildfam und darum auch dad Volksleben 
gemeinfam; ed giebt nur in einer lebendigen Sprache im wahren 
Sinne des Worts ein Volk, Hier allein wird es mit der Bil 
dung ernft und gründlich genommen, fie fpielt nicht bloß auf bet 
Oberfläche des Lebens, fondern fteigt herab in die Tiefe des Ge 
müths. Geift oder was man fo nennt, kann man in jeder Sprache 
haben, Gemüth nur in einer lebendigen. Um eine fremde Bil: 
dung wahrhaft zu durchdringen, muß man fic) diefelbe gründlich 
aneignen; daß ift nur möglich, wenn man felbft ein eigenes Leben 
führt, man führt es nur in einer lebendigen Sprache. Daher 
wird der in einer lebendigen und ureigenen Sprache entwideltt 
Volksgeiſt ſich auch fremder Sprache und Bildung leicht be 
mächtigen, die Ausländer geiftig überfehen und beffer verſtehen 
tönnen ald diefe fich felbft. 

Sehen wir jest an bie Stelle des unbeftimmten Volks und 
der unbeftimmten Sprache bekannte gefchichtliche Größen. Die 

*) Ghbenbafelbft. IV Rede, S. 320-321, 


943 


germanifchen Völker, die frifchen Erben der chriftlichen Weltbil- 
dung bes Alterthums, haben die römifche Sprache erobert ober 
vielmehr fich von ihr erobern laſſen; fie find neulateinifche Völ⸗ 
fer geworben, mit einer einzigen Ausnahme: bie Deutſchen 
haben ihre Sprache behalten, „fie reden eine bis zu ihrem erften 
Auöftrömen aus ber Naturkraft lebendige Sprache, die übrigen 
germanifhen Stämme eine nur auf der Oberfläche fich regende, 
in der Wurzel aber todte Sprahe*).” Sie find das Volk der 
lebendigen Sprache, dad Urvolk, und da die lebendige Sprache 
dad Band ift, welches ein Volk zufammenhält und zu einem 
Ganzen macht, da nur in ihr wirklicher Volksgeiſt möglich ift, 
fo find die Deutfchen „das Volk ſchlechtweg im Gegenfage mit 
anderen von ihm abgeriffenen Stämmen”. In diefem Volke 
allein lebt noch bie geiftige Urkraft der Menfchheit, die neues 
eben fchaffen und mittheilen kann. Wenn diefe Bol? zu Grunde 
geht, fo ift die Menfchheit verloren **). 


5. Dad Volk der lebendigen Sprade. 
a. Einheit von Bildung und Leben. 

Aus diefer Natur des deutfchen Volks ergeben fich die noth⸗ 
wenigen und durch die Geſchichte bewährten Grundzüge feines 
Charakters. Wo das Leben eined Volkes von feinen urſprüng⸗ 
lichen Bedingungen nicht künſtlich abgefchnitten und losgeriffen 
wird, da ſtrömt es noch aus dem göttlichen Urquell alles geiftigen 
Lebens: es if daher in feiner Wurzel veligiös, es erzeugt in 
feiner Selbſterkenntniß ächte aus der Tiefe des Lebens gefchöpfte 
Philofophie, welche das ewige Urbild alles geiftigen Lebens 

*) Ebendaſelbſt. IV Rede. S. 325. 

) Chenbajelbft, V Rebe (Schluß). VII Rede. S. 860. Vgl. VIII 
Rebe (Anfang). 


944 


wiffenfihaftlihh erfaßt. Bier iſt das Denten wahrhaft lebentig 
Aus dem Leben gezeugt, firömt eö in das Leben zurück, bildend, 
geftaltend, fchaffend. Das lebenfchaffende Denken ift dichteriih; 
dad Vermögen unendlicher ewig zu erfrifchender und zu verjän- 
gender Dichtung gehört zu der Kraft eines Urvolkes; die Did- 
tung als beftändige Vermittlerin zwifchen Denken und Leben ge: 
hört ald ein nothwendiger Zweig zu feiner Bildung. Das Boll | 
einer lebendigen Sprache ift von Natur religiös, philofophiih, 
poetifch; hier gehen Religion, Philofophie, Dichtung nicht gleich 
gültig neben dem Leben her, fondern fie find wirkliche, ſchöpfe 
riſche Lebensmächte. 

Eben darin unterfcheidet ſich dad Urvolk von den anderen 
Völkern, die Deutfchen von ben neulateiniſchen Nationen. In 
ihm fuchen und vereinigen fich Geiftesbildung und Leben, bei 
den romanifchen Völkern find beide getrennt. Dort ift die Bil: 
dung lebendig, bier ift fie tobt; dort ift fie Volksſache, hier 
Standesfache ; diefe Trennung ſcheidet die fogenannten gebildeten | 
Stände von dem übrigen Volke, das als Pöbel verachtet wird. | 
Wie bei den Griechen die Römer, bei den Römern die Germa- 
nen für Barbaren galten, fo gilt bei den germanifchen Völker 
der chriftlichen Welt dad Barbariſche für gemein und dad Ri 
mifche für vornehm, das Wort aus germanifcher Wurzel für un: 
ebel, das gleichbebeutende aus römifcher für edel. Diefe Schei: 
dung, „als ob fie eine Grundfeuche des ganzen germanifcen 
Stammes wäre”, hat auch die Deutfchen angeftedt und hier im 
völligen Widerſpruch mit dem Wefen deö deutſchen Volkes „ben 
Glauben an die größere Vornehmheit des romanifchen Auslandes” 

- erzeugt. Man meint befjer zu fein nur dadurch, daß man in 
Rebe, Tracht, Sitte nicht ift wie dad Volk, daß man ben 
Schein des Undeutfchen und Ausländifchen annimmt. Alle Aus- 
Länderei entfteht aus ber Sucht vornehm zu thun. 


945 


Diefer Schein unächter Bildung wird durch bie fremde 
Sprache begünftigt. Eine in der Wurzel erflorbene Sprache hat 
eine formell vollendete Ausbildung, einen geſchloſſenen Umfang 
der Wörter, eine feſte Satzordnung, eine mechaniſche Fertigkeit, 
vermöge deren die Sprache fich felbft redet. Das find fcheinbare 
Vorzüge vor ber lebendigen Sprache, die eine ſolche Abgefchlof: 
fenheit nicht hat, fondern die jeder nach feinem Bedurfniſſe fchö- 
pferifch geftalten und in jedem Sage felbftthätig bilden muß. 
Wahre Bildung gründet fi auf Selbftthätigkeit und wird nur 
durch Fleiß und Anftrengung gewonnen. Jene Vorzüge find 
Ausdruck einer tobten Bildung und daher in Wahrheit nicht Vor⸗ 
züge, fondern Mängel*). 


b. Die Reformation. 

Daß die Deutfchen ein Urvolk find, dem es mit Religion 
und Geiftesbildung Ernft ift, haben fie durch die Weltthat der 
kirchlichen Reformation gefchichtlich bewährt. Wie die germani⸗ 
ſchen Völker das Chriftenthum von den Römern empfingen, war 
es verfälfcht durch heibnifchen Aberglaube. Man nahm für 
riftlich, was im Grunde heidnifch war und aus dem römifchen 
Alterthum herrührte. Man kannte das Alterthum nicht. Als 
man ed zu erkennen anfing, mußte man in bem Chriftentyume 
eine Mifhung ächter und unächter Beftandtheile entdeden, und 
die Kenntniß des Alterthums hätte die Reinigung des Chriftens 
thums zur nothwendigen und unmittelbaren Folge haben follen. 
Die Renaiffance enthielt den Beweggrund zur Reformation. Aber 
diefer Grund bewegte die Neurömer nicht, von denen bie Wie- 
dererweckung bed Alterthums ausging; fie erfannten die Wider 
ſprüche und unächten Beſtandtheile deö mit heidnifchen Vorſtel- 

*) Ebendaſelbſt. IV Rebe, ©. 328—339, 

Eifer, Seſqichte der philolophle v. 60 


946 


lungen vermifchten Chriſtenthums, aber fie lachten dazu, weil 
fie die Sache nicht ernft nahmen. Das Licht der Alterthumd- 
wiffenfchaft fiel zuerft in den Mittelpunkt der neurömiſchen Bit 
dung, aber mwurbe hier bloß zu einer Verftandeseinficht, ohne 
das Leben zu ergreifen und anders zu geftalten *). 

Der deutfche Geift nahm die Sache ernft; bier fiel das Licht 
der neuen Aufllärung in ein religiöfed Gemüth und erweckte den 
unmiberftehlichen Trieb zur Reinigung der Religion und zur Son- 
derung des ächten Chriſtenthums vom unächten. In dem ächten 
Chriſtenthum handelt es fih um die frage: was follen wir thun, 
um felig zu werben? 8 gilt das Heil der menfchlichen Seele. 
‚Hier ift der Irrthum und die Entftellung gleich dem Betruge um 
unfer Seelenheil. Wem dad Seelenheil der Anderen gleichgül- 
tig ift, der kann auch dad eigene nicht retten, einem Solchen 
liegt überhaupt dad Heil nicht ernflhaft am Herzen. Wer ed 
mit diefer Frage ernft nimmt, der muß ben Trieb haben, allen 
die Augen zu Öffnen, den Drang zur teligiöfen Reformation. 
So empfand Luther die Sache. Im ihm erfaßte die neue Anficht 
daß religiöfe Gemüth und wurde der Beweggrund einer religiöfen 
Weltthat. „Ihn ergriff ein almächtiger Antrieb, die Angft um 
dad ewige Heil, und biefer war das Leben in feinem Leben und 
feste immerfort dad Legte in die Wage und gab ihm bie Kraft, 
und die Gaben, welche die Nachwelt bewundert. Mögen andere 
bei der Reformation irdifche Zwecke gehabt haben, fie hätten nie 
gefiegt,, hätte nicht an ihrer Spige ein Anführer geftanden, ber 
durch dad Ewige begeiftert wurde; daß biefer, der immerfort das 
Heil aller unfterblichen Seelen auf dem Spiele ftehen fah, allen 
Ernftes allen Teufeln in der HöNe furchtlos entgegenging, iſt 


*) Ebendaſelbſt. VI Rede. ©. 344-346. 


947 


natürlich und durchaus Fein Wunder, Dieß ift nun ein Beleg 
von deutſchem Ernſt und Gemüth*).” 

Das deutfche Volk ergriff die Sache der Reformation mit 
Begeifterung und kampfte fie durch mit dem Muthe der Beken⸗ 
ner. Dad ift ein Beleg von der Eigenthümlichkeit des deutſchen 
Volks. Es hätte das Pabſtthum nie fo energifch befämpft, wenn 
es baffelbe nicht fo grünblic) durchdacht hätte, nach rüickwärts 
bis in feine legten Grundfäge, nach vorwärts bis in feine äußer- 
ſten Folgen; ed nahm das Pabſtthum ernfihaft, weit ernfihafter, 
als diefes fich felbft nahm. Diefer Ernſt ift es, den der auslän- 
diſche Geift ald Confequenzmacherei verfehrieen und nie hat be 
greifen können. Diefer Ernſt ift deutfches Weſen. Ihn nicht ver⸗ 
fiehen, iſt Ausländerei”*). 

©. Die dentiche Philofopgie. 

Die Reformation wurde der Hebel einer neuen Philofophie, 
in welcher der beutfche Geift dem ausländifchen gegenüber feine 
Denkart wiſſenſchaftlich bewähren ſollte. Das freie philsfophifche 
Denken entwidelte fich bei ben Deutfchen in einer von dem Aus⸗ 
lande grundverſchiedenen Richtung. Hier vertaufchte die Philos 
fophie eine Autorität mit einer anderen unb blieb, wie es der 
ausländifche Genius mit fich brachte, dogmatiſch. Was für die 
Scholaftiter die Kirche, für die erfien proteftantifchen Theologen 
das Evangelium war, wurden für Die neue Philofophie des Aus: 
landes die Sinne. „Ob fie wahr feien, darüber regte fich Eein 
Zweifel, die Frage war bloß, wie fie diefe Wahrheit gegen be: 
flreitende Ausfprüche vertheidigen könnten.“ So entſtand eine 
irreligiöfe und zugleich unfreie Philofophie, die Frucht eines un⸗ 
felbftändigen und abhängigen Geiſtes. „Wo ſelbſtändiger deut: 

*) Ebendaſelbſt. VI Rede. S. 346—348, 

)Ebendaſelbſt. M Rebe, ©. 348 357. 

60* 






ſcher Geift ſich regte, da genügte das Sinnliche ni 
entftand die Aufgabe, das Ueberfinnliche in der 
aufzufuchen und fo erft eigentliche Philofophie zu 
Leibniz ergriff die Aufgabe und befämpfte jene außlänbifche F 
Iofophie; Kant, nad) feinem eigenen Geftänbniß angeregt von 
einer Aeußerung bed Auslandes, brachte die Sache zum Durch- 
bruch ; die Wiffenfchaftslehre, die Philofophie der neuen Zeit, 
bietet die vollftändige Löfung*). 

Die Aufgabe einer neuen Philofophie hat dad Ausland an: 
geregt, der deutfche Geift hat fie gelöfl. Eine zweite der Philo⸗ 
fophie verwandte Aufgabe hat dad Ausland ebenfalls zu löſen ge 
fucht: die Errichtung eines vernunftgemäßen Staated durch bie 
feangöfifche Revolution. Der Verſuch ift vollfommen gefcheitert 
und mußte fcheitern. Ein folder Staat läßt ſich nicht aus jedem 
vorhandenen Stoffe aufbauen, er bedarf ein Volk, hervorgegan- 
gen aus einer neuen planmäßigen Volkserziehung, welche das 
Burgerthum des Vernunftſtaates zu ihrem Zweck hat. Diefe 
Bedingung fehlte. Sie-zu erfüllen, ift die Aufgabe der neuen 
im Aufgange begriffenen Zeit; das deutfche Wolf allein Tann 
diefe Aufgabe löſen. Ale mächtigen Factoren allgemeiner Bil: 
dung find in Deutfchland vom Volle auögegangen: dad beweift 
die Gefchichte der Reformation, die Gefchichte der deutfchen Reich: 
flädte; der Typus dieſes Volks ift der fromme, ehrbare, beſchei⸗ 
dene, bebürfnißlofe, für dad Ganze freigebige Geiſt des deut: 
ſchen Bürgerſtandes, der die vepublifanifchen Tugenden in fih 
vereinigt. „Die deutſche Nation ift die einzige unter den neu 
europäifchen Nationen, die in ihrem Bürgerflande ſchon feit Jahr⸗ 
hunderten durch die That gezeigt hat, daß fie die republikaniſche 
Verfaffung zu ertragen vermöge”**), 

y Ebedaſelbtt. VI Rede. 6. 851-858. 

**) Ehendafelbft, VI Rede. ©, 358—357. 





949 


&. Der deutfche und ausländifche Geiſt. 

Deutfchland ift dad germanifche Mutterland, die romani= 
Mipen Völker find die ausländifch gewordene germanifche Welt. 
Die weltgefchichtlichen Zortfchritte find Producte aus den Leiftun- 
gen beider. Werth und Bedeutung diefer Leiſtungen find fo vers 
ſchieden als die Charaktere der Wolkögeifter; der auslänbifche 
Seift verhält ſich anregend, der deutfche vollendend; jener giebt 
den Antrieb, diefer die Schöpfung; dort der erfte Schritt, hier 
der entfcheidende. Die Wiederbelebung der claffifhen Alter: 
thumöftubien geht von dem Auslande aus, ber deutfche Geift er: 
faßt dad Alterthum nicht ald ein Fremdes, fondern ald Beſtand⸗ 
theil ſeines Lebens, er Ducchdringt den Geift der claffifchen Welt 
und giebt ihn als eine lebendig gewordene Bildung ben anderen 
Völkern zurüd. In Italien die Renaiffance, in Deutſchland 
die Revolution; in England die Erfahrungsphilofophie, in Deutfch- 
land die Vernunftkritik und Wiffenfchaftölehre, in Frankreich die 
Revolution, in Deutfchland die Volkserziehung *). 

Der deutfche Geift und der ausländifche, zurückgeführt auf 
ihre Grundunterfchiede, verhalten ſich wie Urfprünglicfeit und 
Nihturfprünglichkeit, wie Leben und Tod. So unterfcheiden 
fich die Bildungsformen beider, ihr Glaube, ihre Philofophie, 
ihre Staatskunſt. Der ausländifche Geift im Gefühle feiner Ab: 
hängigkeit und Unfelbftändigkeit glaubt an ein Letztes, Feſtes, 
Stehendes, Todtes, feine Weltanficht ift ſinnlich und mechaniſch, 
„eine tobtgläubige Philofophie” ; ebenfo leblos und mechanifch ift 
feine Staatskunſt, fortwährend darauf bedacht, eine fefte und 
legte Ordnung ber Dinge zu finden, ein künſtliches Drud'» und 
Raderwerk, eine gefelfchaftlihe Mafchinentunft, die man am 

*) Ebendaſelbſt. V Rebe, S. 339—341. VINRebe. 6.354 figb, 
VII Rebe, ©. 359 fig. 





0 


beſten dadurch zu vereinfachen meint, daß man den Theil ber 
Maſchine, von dem alle geſellſchaftliche Bewegung auögeht, gut 
in Gang bringt; ald dad non plus ultra diefer Staatskunſt er: 
ſcheint daher Die Fürftenerziehung. Wo der ausländifche Geift in 
feiner Eigenthümlichkeit herrſcht, da gilt dieſe Betrachtungdweife ; 
wo fie gilt, da ift ausländifcher Geiſt; wo fie in Deutſchland 
gilt, wie z. 3. in ber gewöhnlichen Aufklärungsphilofophie, da 
iſt Außländerei und unbeutfches Weſen. Das todte beharrliche 
Sein iſt dem beutfchen Geifte nur ber Schatten des wahren; das 
wahre Sein ift urſprungliches Leben aus und in Gott, ſeliges 
Leben ; Philofophie ift die Erfenntniß deffelben, dad Staatsleben 
hat die Entwicklung und den Fortfchritt der Menfchheit zu feinem 
Zweck, die ihm entfprechende Staatökunft ift nicht Fürftenerzie 
bung, fondern Nationalerziehung. Wie einft bei den Griechen 
die Erziehung Politit war, fo wird jetzt die allerneuefte Staats⸗ 
kunſt wieberum die allerältefte*). 
IL - 
Die Vaterlandsliebe. 


1. Patriotismus und Religion. 

Dos felige Leben beginnt nicht erſt jenfeits des irbifchen, 
fonbern begreift dieſes in fich und mit ihm auch bad Leben eines 
Volks und deffen Entwidlung. In biefer Entwidlung offenbart 
ſich dad Ewige nad) einem geiftigen Naturgefeh ; die Gemeinfam- 
keit bed Geſetzes macht aus der Menge ein Ganyes, fie giebt das 
beftimmte Gepräge eines Volksgeiſtes, die Eigenthumlichkeit feis 
ner Wirkungsweife; fie ift, mad man ben „Nationalcharakter“ 
nennt. in Volt ohne urfprüngliches Leben hat Feine eigenen, 
in feiner Natur gegründeten Aufgaben, Fein gemeinſames Geſetz 

*) Ehenbafelbft, VII Rede. ©. 360366, 





951 


des Sortfchrittes, Feine nationale Entwicklung, alfo auch keinen 
Nationalcharakter. Diefer ruht im Glauben an die beftimmte 
Zortentwidlung, an bie nothwendige Aufgabe bed Volle. Wo, 
diefer Glaube fehlt, da fehlt der Nationalcharakter, da fehlt in 
der eigentlichen Bedeutung des Worts dad Boll, Nur ur 
fprüngliches Leben Tann ſich fortentwideln, einen Volksgeiſt bil- 
den, einen Nationalcharakter auöprägen. „Nur der Deutiche — 
der urfprüngliche und nicht in einer willkürlichen Satzung erſtor⸗ 
bene Menſch — hat wahrhaft ein Volk; der Ausländer hat Feines. 
Daher ift auch nur im deutfchen Geift Liebe zu feinem Volt mög: 
lich, Vaterlandsliebe im ächten Sinne des Worts“*). 

Wirkliche Vaterlandöliebe ift religiös, fie liegt in der Rich⸗ 
tung auf dad Ewige. Es giebt eine „irdifche Ewigkeit”, eine 
Fortdauer unferer Wirffamkeit auf Erden, die felbft nur möglich 
ift Eraft der Fortdauer und Fortentwidlung unferes Volks, kraft 
des fortbeftändigen Nationalcharakters. Um auf Erden ewig zu 
fein, müffen wir und in unferem Volksgeiſte verewigen; dad 
Eönnen wir nur, wenn wir ihm dienen, in feinen Aufgaben leben, 
für fein Dafein und feine Zwecke und aufopfern. Aufgehen in 
Gott ift Gottesliebe, religiöfes, feliged Leben. Aufgehen im 
Volksgeiſt iſt Vaterlandsliebe und patriotifches Leben. Gotted- 
liebe und Baterlandöliebe, feliged und patriotifches Leben fchließen 
einander nicht aus, fondern verhalten fich, wie Bedingung und 
Bedingtes. Was wir in unferem Volke lieben, ift fein urfprüng- 
liches Leben, feine Fortentwidlung, feine ewige Aufgabe; es ift 
der Volksgeiſt ald Offenbarung des Göttlihen. Patriotifche Ges 
finnung ift darum in ihrer Wurzel religiös und durchdrungen von 
dem Gefühle dieſes ihres Zuſammenhanges mit dem Ewigen ; fie 

reicht weit hinaus über ben Staat und bie gefelichaftliche Orb: 

*) Ebendaſelbſt. VIII Rede, S. 377—382, 


952 


nung, ihre Zwecke find höhere als bloß die Erhaltung des inneren 
"Friedens, bed Eigenthums, der perfönlichen Freiheit, des Le 
bens und des Wohlfeind aller. Das alles können wir haben auf 
unter dem Joch der Fremdherrſchaft, Leben und Unterhalt giebt 
es auch in der Sclaverei, wir können es behalten und als Bolt 
zu Grunde gehen, wir können das bürgerliche Wohl retten, viel: 
leicht vergrößern und unferen Nationalcharakter, unfere irdiſche 
Ewigkeit darüber preiögeben. Was ift bürgerliches Wohl gegen 
irdiſche Ewigkeit? Was ift Wohl gegen Heil? Das Wohl 
giebt der Staat, das Heil liegt im Vaterlande. Unfere irdiſche 
Ewigkeit ift unfer Volksgeiſt, unfer Nationalcharakter. Diefen 
zu veften und zu erhalten, muß alled andere aufgeopfert werden. 
So will es die Vaterlandöliebe, fie opfert dad Wohl für dad 
Heil, die bürgerliche Glüfeligkeit für die irdiſche Ewigkeit. 
nDie Verheißung eines Lebens auch hienieben über die Dauer des 
Lebens hienieden hinaus, — allein diefe ift es, die bis zum Tode 
für's Vaterland begeiftern Tann.” „Im Glauben an diefe Ber: 
heißung kampften die deutſchen Proteftanten,” „in diefem Glau 
ben festen unfere älteften gemeinfamen Vorfahren, das Stamm: 
vol? der neuen Bildung, ſich der herandringenden Weltherrfchaft 
der Römer muthig entgegen.” „Ihnen verbanken wir, die näd; 
ſten Erben ihred Bodens, ihrer Sprache und ihrer Gefinnung, 
daß wir noch Deutfche find, daß der Strom urfprünglichen und 
felbftändigen Lebens und noch trägt, ihnen verdanken wir alles, 
was wir ſeitdem ald Nation geweſen find; ihnen, falls es nicht 
etwa jest mit und zu Ende ift und der lebte von ihnen abge 
flammte Blutötropfen in unfern Adern verfiegt ift, ihnen werta 
wir verdanken alled, was wir noch ferner fein werden*)”. 

Staat und Volksgeiſt (Baterland) verhalten fich wie Mittel 
N Shenbafelbft, VEIT Rede. 6, 38290, 





958 


und Zweck. Wenn ed fih um die Erhaltung und Rettung des 
Volksgeiſtes handelt, dann muß die Baterlandöliebe den Staat 
tegieren und alles dem höchften Zwede unterorbnen. In Zeiten 
der Gefahr Hilft nicht mehr der Geift ber ruhigen bürgerlichen 
Liebe zu der Verfaſſung und zu ben Gefegen, da rettet allein 
bie verzehrende Flamme der höheren Waterlandöliebe, die die 
Nation ald Hüde des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit 
Freuden ſich opfert und der Unedle, der nur um des erflen willen 
da ift, ſich eben opfern foll*)". 


2. Patriotismus und Wiffenfhaftslehre. 

Wenn man der Vaterlandsliebe und dem Nationalgefühl, 
die Fichte in feinen Reben erhebt, genau auf den Grund fieht, 
fo wird man darin nichts dem Geifte der Wiffenfchaftslehre 
Fremdes ober Entgegengefegtes auffinden. Er kennt feinen ans 
deren Patriotismus als die Liebe zum beutfchen Volksgeiſt; Volk 
und Deutfchheit gelten ihm in ber gegenwärtigen Welt als gleich 
bedeutende Begriffe; das beutfche Volk ift ihm der Typus und 
einzige Repräfentant der Geifteäurfprünglichkeit, dad religiöfe, 
philoſophiſche, zur fittlihen Wiedergeburt der Menfchen durch 
eine neue Nationalerziehung berufene Wolf, Deutfcher Volks: 
geift und teformatorifcher Geift find ihm eined; das beutfche Volk 
gilt ihm als Träger und Organ ber fittlichen Weltentwiclung, 
als ber fortbewegende, die Menfchheit erneuende Geift, ald dad 
eigentliche Culturvol® der neuen Welt, ald bad Salz der Erbe. 
Nur in diefer Bedeutung ift es der Gegenfland feiner Liebe, nur 
barum hat in feinen Augen die Abftammung von biefem Volk 
einen Werth. Gefühl der Geiftesurfprünglichkeit und Nationale 
gefügt Fallen hier in denfelben Punkt; das befondere, an bie 
9) Ehenbafelbft, VIIL Rebe. 6, 376. 87. 


354 


Scholle gebundene, befchränkte, ausfchließende, mit einem Wort 
fpecifiiche Nationalgefühl, dad .die Wiffenfchaftslehre nicht kennt 
und welches die Grundzüge bed gegenwärtigen Beitalterd verwer⸗ 
fen*), erfcheinen auch in ben Reden an bie deutfche Nation keines» 
wegs ald eine berechtigte Empfindung, fondern ald Audländerei. 
Man laſſe fich nicht durch dad Wort über die Sache täufchen. 
Der Kosmopolitismus der Wiſſenſchaftslehre und der Patriotis- 
mus ber Reden find ein und derfelbe Begriff, fie find es nach 
Fichte's eigenem Ausſpruch, beide verhalten fi) wie Gattung und 
Species; Patriotismus ift „der beftimmte wirkliche Kosmopolitis: 
mus” *), Dad Selbftvewußtfein, welches die Wiſſenſchaftslehre 
zum Princip macht, und dad Nationalgefühl, welches die Reden 
fordern, haben venfelben Inhalt. Das deutfche Volk ift im 
Sinne Fichte's dad Ich unter den Völkern. Aus feinem anderen 
Grunde nennt er es Urvolk. Nur aus diefem Volke konnte bie 
wahre Philofophie, die Vernunfterkenntniß, die Wiſſenſchafts⸗ 
lehre hervorgehen; nur durch dieſe Einſicht iſt die ſittliche Ex: 
neuerung ber Welt möglich; die in das Leben eingeführte Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre ift jene neue Volkserziehung, von der nach Fichte das 
Heil der Deutfchen und damit das der Menfchheit abhängt, das 
Beitalter der „Wernunftwiffenfhaft” und „Vernunftkunſt“. 
Deutfche Waterlandöliebe und Begeifterung für die Wiffenfchafts- 
lehre und bie nur durch fie mögliche Regeneration der Menfchheit 
find daher bei Fichte ein und biefelbe Gefinnung. Die übrigen 
Völker follen ihr Heil von den Deutfchen empfangen, biefe kön: 
nen das ihrige nur aus fich felbft ſchöpfen, fie befigen es in ber 


*) Vgl. oben Gap. V biejes Buchs, Nr. II. 3. ©. 896. 97, 
Grdz. bes gegenw. Zeitalt. XIV Vorl. (Schluß). 

**) Der Batriotismus und fein Gegentheil. Patriot, Dialoge vom 
Jahr 1807. Nagel, W. III Bd. Erſtes Geſpräch. S. 227—29. 





%5 


reifften Frucht ihrer uxfprünglichen Geiſteskraft, in ber Vollen⸗ 
dung ber ächten deutfchen Vhiloſophie, in der Wiſſenſchaftslehre, 
deren Saat aufgehen ſoll in einer neuen Volkserziehung, in einem 
Volke als Frucht dieſer Erziehung. Das ſind die Grundgedanken 
Fichte's, aus denen ſein Begriff des Patriotismus nothwendig 
folgt. Auch Plato konnte als ächten griechiſchen Patriotismus 
folgerichtigerweiſe nichts anderes gelten laſſen als die Begeiſterung 
für ſeinen auf eine neue Erziehung gegründeten und zum Zweck 
einer ſittlichen Wiedergeburt der Hellenen entworfenen Staat. 
Die Reden an die deutſche Nation und die patriotiſchen Dialoge 
laſſen über dieſe Bedeutung der Vaterlandsliebe bei Fichte keinen 
Zweifel. Seder andere Patriotismus ald „abgefonderter und für 
ſich beftehender Zuftand“ ift ihm etwas völlig Werthlofes, Leeres, 
Gedankenlofes. So behandelt er z. B. in jenen Gefprächen den 
befonderen preußifchen Patriotismus”, In dem zweiten Ges 
fpräche wird ausführlich entwickelt, wie die patriotifche Gefinnung 
und Aufgabe keinen anderen Inhalt haben könne ald die Wiffen- 
ſchaftslehre im Bunde mit Peſtalozzi's Volkserziehung, wie da: 
von die Zukunft Deutſchlands und der Welt abhänge. „Auch 
bier iſt es wieberum die deutſche Nation, welcher der erſte Ur- 
heber des Vorſchlags angehört, welcher zuerft der Vortrag ge: 
macht worden, welcher noch unter allen übrigen europäifchen . 
Nationen die nöthige Selbftbefinnung und Selbftverleugnung, 
fo wie andern Thejls die erforderliche Gelehrigkeit am erften ſich 
zufrauen läßt. Und fo heißt es hier abermals: rettet nicht der 
Deutfche den Culturzuftand der Menfchheit, fo wird kaum eine 
andere europäifche Nation ihn retten. Wird er aber nicht gerettet 
und durch dieſes ihm einzig Übrige Zwifchenmittel zum höhern 
und abfoluten Heilmittel der Wiſſenſchaft heraufgerettet, ſo ver⸗ 
finkt der zweite menſchliche Culturzuſtand ebenſo in Trümmer, wie 


966 


ber erfte in Trümmer verfan?*).” In dem erſten Gefpräd heißt 
es: „übernimmt nicht der Deutfche durch Wiffenfchaft die Re 
gierung der Welt, fo werben bie nordamerikanifchen Stämme fir 
übernehmen und mit dem dermaligen Wefen ein Ende maden“)". 

Das Ergebniß lautet: die neue Zeit fordert eine neue Vollz 
erziehung. Die Deutfchen find fähig, dieſe Aufgabe zu löſen; 
fie allein find dazu fähig. Wie wird fie gelöft? 


*) Ebendaſelbſt. I Geſpräch. ©. 237. ©. 232. 33. Vgl. IC 
ſprãch. ©. 250. 

**) Ebendaſelbſt. I Gefpr. 6.243 flgb. H Geipr. S. 265—66. 

Im dem zweiten Geipräd findet fih ein merkwürbiger Ausfpnd 
Fichte's, der vielleicht Anlaß gegeben hat zu einem im Munde ber Leute 
ihm zugejchriebenen und vielfach wiederholten Dictum. Er ſoll geagt 
haben: „von allen meinen Schülern hat mic) nur Einer verftanden un 
diefer Eine hat mich mißverftanden.“ Das beißt fo viel als ‚mid 
hat niemand verftanden“. Das Legtere hat Fichte wirklich in jenem Ge 
fpräce gefagt: „Kant babe nur Einer verftanden, ber Urheber der Bir 
ſenſchafislehre; bie Wiſſenſchaſtslehre Habe in ihrem Principe keiner vor 
fanden.” (5. 252.) 

Neuerdings Hat man das Wort in ber obigen Umfchreibung von 
Fichte auf Hegel übertragen, und fo läuft es um, wie ber milefifche Dre 
fuß ober die Schale des Bathylles unter den fieben Weiſen. „Belannt: 
lich hat Hegel gejagt u. |. f.“, fo las ich unlängft jene Phraſe in einer 
unbebeutenben Zeitſchrift citirt, um über Hegel zu ſpaßen. Der gute 
Mann, ber mit biefem Citat Staat machen wollte, hätte von ſich jehft 
mit dem größten Rechte jagen können: „von allem was Hegel geſagt 
hat, weiß ich nur biefes eine Wort, und diejes eine Wort iſt nicht von 
Hegel“ 





Achtes Capitel. 
Reden an die dentſche Nation. 


B. Die nene Volkserzichung. 


I 
Die Erziehungsreform. 
4. Der Endzweck. 

Alle Bedingungen find vereinigt, um eine gründliche und 
durchgängige Reform ber Volkserziehung zugleich als eine Welt: 
aufgabe und eine beutfche Nationalfache erfcheinen zu laffen. Die 
fittliche Erneuerung der Menfchheit nach einem Zeitalter vollen 
deter und in ihren verberblichen Folgen erfülter Selbftfucht ift 
eine Weltaufgabe, nur [58bar durch eine Neubildung und gänzliche 
Umfchaffung des Menſchengeſchlechts von Innen heraus, durch 
eine von Grund aus neue Erziehung. Nur ein urfprünglicher 
Volksgeiſt, wie der deutfche, ift fähig, eine folche Erziehung an 
fich felbft zu vollziehen, zugleich deren Urheber und Gegenftand 
zu fein und den anderen Völkern auf diefer Bahn voranzugehen 
ald Vorbild und erfted Beifpiel. Die neue Weltaufgabe iſt deß⸗ 
halb zunächft eine deutſche Volksaufgabe. Nun aber ift die 
deutfche Volksurſprünglichkeit, dieſe erfte Bedingung unferer Er 
siehungsfähigkeit, felbft in ihrem innerften Beftande und in ihrer 


958 


öffentlichen Lebensform bedroht. Die Gemeinfchaft ber deutſchen 
Staaten, bie Verfaſſung ber deutfchen Wölferrepublif, welhe 
innerhalb des Ganzen bie eigene Art der Stammesglieder ſchont 
und erhält, ift die vorzüglichfte Quelle deutfcher Bildung und 
daß erſte Sicherungsmittel ihrer Eigenthümlichkeit. Nichts wir 
dem deutſchen Volksgeiſte verberblicher als eine Einheit in Form 
monarchiſcher Gentralifation, bie es dem Gewalthaber möglid 
machte, „irgend einen Sproß urfprünglicher Bildung über den 
ganzen beutfchen Boden hinweg für feine Lebenszeit zu zerdrüden. 
„Diefe Einheit wäre ein großes Mißgefchid für die Angelegenheit 
deutſcher Vaterlandöliebe gewefen, und jeder Edle über die gan 
Oberfläche des gemeinfamen Bodens hinweg hätte Dagegen fih 
ſtemmen müſſen.“ Iſt nun aber eine ſolche Alleinherrfchaft gar 
eine Fremdherrſchaft, fo ift die dem beutfchen Volksgeiſt ar 
gemeffene, feine Urfprünglichkeit und eigene Art erhaltene 
Lebensform nicht bloß gefährbet, fondern gerabezu vernichtet, und 
es iſt jest die erſte Aufgabe der beutfchen Bürger, die Erhaltung 
ihrer Selbftändigfeit in eine andere, von den Regierenden undb: 
bängige Lebensform zu retten. Die einzige Form, die ihnen 
übrig bleibt, ift die Erziehung; fie iſt das einzige Mittel, niht 
bloß um bie neue ber Welt nothwendige Menfchenbilbung zu er 
zeugen, fondern auch um die vorhandene dem deutfchen Geift i 
genthümliche Bildung zu erhalten. Dieß macht die neue Voll 
erziehung in ganz befonderer Weife zur deutfchen Nationalſache: 
fie ift der einzige Weg nicht allein unferes Fortſchritts, fondem 
zugleich unferer Rettung*). 

Das Ziel der neuen Erziehung ift die fittliche Selbfkändig 
keit ald Frucht der Bildung; diefe Frucht zu reifen und aus den 

*) Reben am bie deutſche Nation, Rebe IEL. ©. 298, Rede IX. 
6, 397, 398, 





959 
Bedingungen, welche fie fordert, hervorgehen zu laſſen, iſt ihre 
Aufgabe, die nur gelöft werben kann nach einer völlig ficheren 
Richtſchnur, nach einem genau entworfenen Plan, der alle jene 
Bedingungen wohl bebacht und richtig geordnet hat. Wie Bacon 
die Erfindung dem Zufalle entreißen und zu einer ficheren Kunft 
machen wollte, fo hat Fichte diefelbe Abficht in Betreff der Er- 
ziehung; bie baconifche Kunft geht auf die Entdedung fefter und 
unfehlbarer Gefege in der Natur, die fichte ſche Kunft geht auf 
die „Bildung eines feften und unfehlbaren guten Willens im 
Menſchen“. Ihres Zieles bewußt, fol die Erziehung in jedem 
Punkte durchaus planmäßig und methodifch handeln. Nun ift 
ſittliche Selbftändigkeit nicht denkbar ohne das innigfte Wohlge: 
fallen am Guten, ohne den freien vorbilblichen Zweck, ben wir 
nur dann erfüllen, wenn er und ganz erfüllt; er iſt der unfrige 
nur dann, wenn wir fein Vorbild aus eigener Kraft geftalten und 
entwerfen. Dazu aber gehört eine geiflige Kraftäußerung, eine 
intellectuelle Selbftthätigkeit, welche gereift fein will durch eine 
normale Geiftedentwidlung, durch eine umfaffende und gleich: 
mäßige, d.i. harmonifche Ausbildung aller menfchlichen Grund» 
vermögen. Verſtandesklarheit und Willensreinheit find die bei- 
den nothwendigen Factoren ber fittlichen Bildung. Zur Lauter: 
keit ber Gefinnung gehört die Klarheit des Denkens. So lange 
wir von unferm dunklen Selbfigefühle beherrfcht und getrieben 
werben, fuchen wir den Genuß und fcheuen ben Schmerz; die 
Selbftfucht ift dunkel, fie muß durch Klarheit erſtickt werben: 
diefe Klarheit ift zu erziehen. „Indem auf diefe Weife flatt des 
dunfeln Gefühls die klare Erfenntniß zu dem Allererſten und zu 
der wahren Grundlage und Ausgangspunkte des Lebend gemacht 
wird, wird bie Selbftfucht ganz übergangen und um ihre Ent 
widlung betrogen. Denn nur das dunkle Gefühl giebt dem 


960 


Menſchen fein Selbft als ein Genußbebürftiges und Schmerz: 
ſcheuendes; keineswegs aber giebt es ihm alfo der klare Begriff, 
fondern biefer zeigt es ald Glied einer fittlichen Ordnung, und 
es giebt eine Liebe zu dieſer Ordnung, welche bei der Entwidtung 
des Begriffs zugleich mit angezündet und entwicelt wird, Mit 
der Selbftfucht bekommt diefe Erziehung gar nichts zu thun, weil 
fie die Wurzel deffelben, das dunkle Gefühl, durch Klarheit er: 
ſtickt; fie beftreitet fie nicht, ebenfowenig als fie biefelbe ent- 
widelt, fie weiß gar nicht von ihr. Wäre es möglich, daß diefe 
Sucht fpäter dennoch ſich regen follte, fo würde fie das Herz 
ſchon angefült finden mit einer höheren Liebe, die ihr den Platz 
verfagt.” „Der Grundtrieb bed Menfchen, wenn er in Mare Er: 
kenntniß überfegt wird, geht nicht auf eine fchon gegebene und 
vorhandene Welt, welche ja nur leidend genommen werben Eann, 
wie fie eben ift, und in ber eine zu urfprünglich fchöpferifcher 
Thatigkeit treibende Liebe Feinen Wirkungskreis ‚fände; fondern 
er geht, zur Erkenntniß gefteigert, auf eine Welt, die da werben 
fol, eine apriorifche, eine folche, die da zukünftig ift und ewig: 
fort zukünftig bleibt)". 


2. Weg und Methode. 

Das Ziel der Erziehung zeigt den Weg und die Methode: 
durch Klarheit der Erfenntniß zur Reinheit des Willens! Die 
klare Selbfterfenntniß erleuchtet und läßt dem Willen keine an: 
dere Richtung als die Liebe zum Guten, fie macht bie Sittlich- 
keit zur Nothwendigkeit und fchließt mit ber Selbſtſucht die 
ſchwankende und charakterlofe Willkür im Princip, aus. Die Er 
ziehung wird daher nichts geben, was fie nicht lebendig machen 
ober in Leben verwandeln Tann. n 

*) Ebendaſelbſt. Rebe IL ©. 283. Rede VI. S. 301—304. 

[4 
£ 


} 





961 


Nichts ift gemiffer als das eigene Handeln, Feine Erkennt: 
niß deßhalb Elarer als bie felbfterzeugte, ald das Bemußtfein des 
eigenem Thuns. Erkenne, was du thuſt; erzeuge, was bu er⸗ 
kennſt: iſt daher die einfache Regel, nach welcher die National⸗ 
erziehung den menſchlichen Verſtand in Abſicht auf die Klarheit 
ausbildet. Die aus intellectueller Selbſtthatigkeit gewonnene und 
gereifte Erkenntniß ift allemal auch die lebendigſte und klarſte; 
fie ift nicht bloß der unfehlbare Weg zur Sittlichkeit, fon- 
dern ber Weg der Sittlichkeit felbft; denn wer ſich gewöhnt, fein 
Object felbft zu erzeugen, dem wird die Selbftthätigfeit und das 
Handeln ein ſolcher Gegenftand der Liebe, daß er ſich unmöglich 
mehr in die Abhängigkeit der Begierden bringen und wie ein 
Ding, beftimmen läßt von Dingen. 

Das unmittelbare Bewußtſein ber eigenen Thätigkeit nennt 
Fichte Anſchauung, fie gilt ihm als Wefen des Selbſtbewußt⸗ 
fein und. Grundform des Ich. Erſt vermöge der Selbftanfchaus 
ung wirb die Thätigleit zum Ich. Daher ift zur Entwicklung 
des Selbftbewußtfeind der gründlichfte und ficherfte Weg die 
methodiſche Bildung der Anfchauung, die (mie alle methobifche 
Bildung) mit den Elementen beginnt. Auf diefem Wege wird 
die Selbfithätigkeit, welche die Wiſſenſchaftslehre begreift, wirt: 
lich in Bewegung gefeßt, und damit werben die Bedingungen 
pädagogifch erfüllt, aus denen die Selbfterfenntniß des Ich ober 
die Wiſſenſchaftslehre von felbft einleuchtet. Nur durch eine fol: 
he planmäßige und mit den ächten Elementen des Geiftes ver 
traute Erziehung kann die Wiſſenſchaftslehre ind Leben einge: 
führt und das Zeitalter der „Vernunftwiſſenſchaft und Vernunft: 
Zunft” zum Durchbrüch gebracht werden. Was bad Verftändniß 
der Wiſſenſchaftslehre in dem Bewußtfein des Zeitalterd hindert, 
ja unmöglich macht, ift eine ſolche dem Weſen des Ich entfrem: 


Bier, Sefhiäte der Phlofophle V. 61 


962 


dete und verbildete Denk⸗ und Empfindungsweife, die nur durch 
eine gründlich reformirte und auf das richtige Ziel hingelenkte 
Erziehung aus dem Wege geräumt werben kann. Die Idee bie: 
fer neuen Erziehung ift eine Frucht der Wiſſenſchaftslehre; die 
Herrfchaft der letzteren wird die reiffte Frucht der in das Leben 
eingebrungenen und praktifch gewordenen Erziehung fein. Man 
Tann ber menfchlichen Geift erft richtig erziehen, wenn man ihn 
richtig verfteht, wen man feine wahren Elemente und Grund: 
factoren erkennt. Diefe Erkenntniß will die Wiſſenſchaftslehre 
fein; daher ift es natürlich, daß aus ihr eine neue Faſſung der 
Erziehungsaufgabe und methode hervorgeht. 


3. Anfhauung und Sprade (Lefen und Schreiben). 

Die zu erziehende Anfhauung braucht dem Zöglinge nicht 
künſtlich angebildet zu werden, denn fie lebt in ber geiftigen Men- 
fchennatur und ift deren eigentlicher Factor; daher befteht die Auf- 
gabe der Erziehung auch nur darin, die Anfhauung zweckmaͤßig 
und richtig zu leiten. In diefem Punkte findet Fichte den Grund: 
fehler der bisherigen Erziehung; ſtatt den Geift des Zöglings in 
der Anſchauung haften und einwurzeln zu laſſen, hat fie ihn gleich 
von vornherein der Anfchauung entrüdt und damit das geiftige 
Leben feiner Wirklichkeit entfremdet und in eine Schattenwelt lee⸗ 
rer Worte und Begriffe verfentt. Die Anſchauung ift Bewußt: 
fein des eigenen Thuns; die erhellte und richtig geleitete An: 
ſchauung ift Selbftverftändigung; Worte find Mittel zur Verſtän⸗ 
digung mit anderen. Erſt muß man über ſich felbft verftändigt 
fein, bevor man ſich mit anderen wahrhaft verftändigen kann. 
Wird das Wort nicht gebraucht ald Zeichen einer erlebten An⸗ 
ſchauung, fo bezeichnet es überhaupt nichts wirklich Bekanntes, 
fo hat es feinen lebendigen Inhalt, fondern ift leer, wie ein Schat⸗ 





963 


ten, fo wird durch ben Gebrauch ber Worte nur die Täufchung 
erzeugt und beförbert, als ob man wiffe, wad man in Wahrheit 
nicht weiß. Dann wirkt die Sprache nicht erleuchtend, fondern 
verdunkelnd; ihr vorzeitiger Gebrauch entfrembet und entwöhnt 
uns ber Anfchauung und ertöbtet auf diefe Weiſe das geiftige Le- 
ben, ſtatt ed zu weden. Aus Worten, die man nicht verfteht, 
werben dann allgemeine und abflracte Begriffe, die man noch we⸗ 
niger verfteht, und fo treibt die falfche, der Anfchauung und bes 
ten Zeitung unkundige Erziehung den Zögling von Schatten zu 
Schatten. Wie man bisher die Sprache als Erziehungsmittel 
gebraucht hat, mußte fie verberblich wirken, denn fie wurde nicht 
naturgemäß an die lebendige Anſchauung angefnüpft, fondern 
durch Auswendiglernen dem Gebächtniffe eingeprägt, und ber 
Zögling gewöhnt zur „frühen Maulbraucherei”, die nichts zur 
Selbftverftändigung beiträgt, diefe vielmehr umgeht und nur die 
Fertigkeit giebt, den Tauſchhandel der Phrafen zu treiben. So 
brachte man eine Scheinreife hervor, die als Meiſterſtück der Er⸗ 
ziehungskunſt angefehen wurde, während im Kern das geiftige 
Leben hohl und über ſich felbft völlig im Unklaren blieb. Das 
Spracpvermögen ohne lebendige Anſchauung bilden, heißt das 
giftige Leben in der Sprache abtöbten und den Zögling von Grund 
aus verpfufchen. Was bei den Volkern tobter Sprachen dad 
Schickſal gemacht hat, das thut hier bie blinde Erziehung und 
erntet diefelben Früchte*). 

Zum Sprachgebraud) gehört auch dad Lefen und Schrei⸗ 
ben. Fehlt jenem die lebendige Anſchauung, fo bildet er nicht, 
fondern dreffirt; dann ift auch dad Leſen und Schreiben nur eine 


*) Bol. Patt. Dial. IT. Nachgel. W. III 3b. S. 270. Reben. IX. 
S. W. III Abth. IT Bd. S. 409. Aphorismen über Erziehung (1804). 
S. W. UI Abtch. II Bd. ©. 354, Nr. 2. 
61* 


%4 


fortgefeßte Sprachbreffur, eine Fertigkeit ohne Bildung, eine 
mechanifche Abrichtung, die das wahre Ziel der Menfchenerziehung 
verfehlt und ihm völlig zuwiberläuft. Sobald die Erziehungs: 
kunſt nicht weiß, worin die geiftige Natur befteht und worum & 
ſich in ihrer Bildung handelt, wird fie bie Anſchauung umgehen, 
dad Sprechen, Lefen und Schreiben als Bildungsmittel über: 
ſchätzen und eben deßhalb von Grund aus falfch anwenden. Sit 
wird den Geift, flatt zu entwideln, breffiren. 


4. Peſtalozzi's Erziehungsſyſtem. 

Nun iſt freilich die Schwierigkeit groß, wie die Wiffenfchafts 
lehre mit ihrem Erziehungsplan Eingang finden fol in ein Zeital: 
ter, das durch feine intellectuelle und moralifche Verdorbenheit 
unvermögend ift, ben Geift derfelben zu faſſen. Diefelbe Ber: 
borbenheit, bie des Heilmitteld bedarf, ift eben darum, weil fie 
dieſe Verdorbenheit ift, deffelben unfähig. Hier bewegt fich die 
Wiffenfchaftölehre mit ihrer päbagogifchen Abficht in einem offen: 
baren Cirkel; fie müßte das Zeitalter ſchon ergriffen haben, um 
es ergreifen zu können; es ift nicht abzufehen, wie fie ihm bei: 
Tommen und bie Kluft ausfüllen fol, die fie von dem herrfchen: 
den Bildbungdzuftande trennt. Das Zeitalter müßte für die Wiſ 
ſenſchaftslehre ſchon erzogen fein, um von ihr erzogen zu werben; 
es müßte ſich ein Glied finden laffen, an welches bie Wiſſenſchafts 
lehre von ſich aus anknüpfen Tann: ein Glied, worin ſich der 
fruchtbare Keim und die Anlage einer neuen Volkserziehung ſchon 
lebendig bethätigt. 

Die deutfche Philofophie hat durch ihre tiefe Geifteserfennt: 
niß das Princip lebendiger Selbſtanſchauung vorbereitet in Leib: | 
niz und entbedt in Kant, Die Erziehung hätte fich diefem Prin- 
cipe gemäß längft umgeftalten, die Geiftesentwidlung zu ihrer 





965 


Aufgabe machen, die Anſchauung zu deren Richtfchnur nehmen 
mäffen, wenn nicht ein anderes Syſtem die Herrfchaft gewonnen 
und ber Welt eingerebet hätte, daß der Geift von Natur leer 
und völlig abhängig fei von gegebenen Eindrüden. Die locke ſche 
Philofophie trägt die erfte Schuld jener intelectuellen Verdorben⸗ 
heit, Die das Zeitalter unfähig macht, der Richtung der Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre zu folgen. Daher ift ed nicht zu erwarten, daß dad 
erfte praktiſch thätige Glied einer neuen Volkserziehung von der 
Philofophie unmittelbar herfommt. | 

Der geforderte Anknüpfungspunkt ift in der That vorhan⸗ 
den und wirffam, ohne die Stütze eines philofophifchen Syſtems 
oder einer philofophifchen Schule. Die Kunft, die Anſchauung 
der Zöglinge zu leiten, liegt in ihrem Grundriſſe vor und wird 
ſchon fleißig getrieben. Die neue Erziehung ift ind Leben getre 
ten burh Johann Heinrich Peftalozzi. In dem richtig 
gefaßten Grundgedanken Peſtalozzi's liegt dem Keime nach das 
ganze Syſtem der neuen zur Umbildung ber Nation berufenen 
Erziehung. „Peſtalozzi's Gedanke iſt unendlich mehr und un⸗ 
endlich größer, denn Peſtalozzi ſelbſt, wie denn jedes wahrhaft 
genialiſchen Gedankens Verhaltniß zu feinem ſcheinbaren Urheber 
daſſelbe iſt. Nicht er hat dieſen Gedanken gedacht, ſondern in 
ihm hat die ewige Vernunft ihn gedacht, und der Gedanke hat 
gemacht und wird fortmachen den Mann. An der Geſchichte und 
Enthullung dieſes Gedankens, wie fie mit einer für ſich ſelbſt 
zeugenden Wahrheit und mit einer kindlich reinen Unbefangenheit 
in Peſtalozzi's Schriften vorliegt, könnte man, daß eine Wahr: 
heit, die den Menfchen einmal ergriffen, ohne Wiffen oder eiges 
ned Zuthun des Menfchen ſich in ihm fortgeflalte und troß ber 
allermächtigften Hinderniffe dennoch zulegt durchbreche zu Licht 
und Klarheit, im finnlicher Deutlichkeit darlegen.” Er fuchte 


966 


ein Hülfsmittel für das arme verwahrlofte Bolt und fand mehr, 
als er fuchte: er fand das einzige Heilmittel für die gefammte 
Menſchheit. „In diefer Bedeutung, nicht als intellectuelle Erzie 
bung nur bed armen gebrüdten Volkes, fondern ald bie abfolut 
unerläßliche Elementarerziehung ber ganzen Fünftigen Generation 
und aller Generationen von nun an muß man den peſtalozzi ſchen 
Gedanken faffen, um ihn richtig zu verftehen und ganz zu wür⸗ 
digen*).” „An ihm," fagt Fichte in den Reden, „hätte ich 
ebenfo gut, wie an Luther, die Grundzüge bed beutfchen Gemüths 
darlegen und den erfreuenden Beweis führen können, daß biefes 
Gemüth in feiner ganzen wunderwirkenden Kraft in dem Um: 
kreiſe der beutfchen Zunge noch bis auf diefen Tag walte. Auch 
er hat ein mühenolles Leben hindurch im Kampfe mit allen mög: 
lichen Hinberniffen, von innen mit eigener hartnädiger Unklar: 
heit und Unbeholfenheit, und felbft höchſt fpärlich auögeftattet 
mit ben gewöhnlichften Hülfsmitteln ber gelehrten Erziehung, 
äußerlich mit anhaltender Verkennung, gerungen nad) einem bloß 
geahnten, ihm felbft durchaus unbewußten Ziele, aufrecht gehal⸗ 
ten und getrieben durch einen unverfiegbaren und allmächtigen 
und beutfchen Trieb, die Liebe zu dem armen verwahrloften Volke. 
Diefe Liebe hatte ihn, ebenfo wie Luther, nur in einer anderen 
und feiner Zeit angemefjenen Beziehung, zu ihrem Werkzeuge 


gemacht und war das Leben geworben in feinem Leben, fie war | 


der ihm felbft unbekannte fefte und unmittelbare Leitfaden dieſes 

feines Lebens, der ed hindurchführte durch alle ihn umgebende 

Nacht, und der den Abend beffelben krönte mit feiner wahrhaft 

geiftigen Erfindung, die weit mehr leiftete, denn er je mit feinen 

tühnften Wünfchen begehrt hatte. Er mwollte bloß dem Volke 

helfen, aber feine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdehnung ge 
*) Patr, Dialog. N. W. IIIBb, ©. 267—268, 


967 


nommen, hebt dad Volk, hebt allen Unterſchied zwifchen dieſem 
und einem gebildeten Stande auf, giebt ſtatt der gefuchten Volks⸗ 
erziehung Nationalerziehung, und hätte wohl dad Vermögen, ben 
Völkern und dem ganzen Menfchengefchlechte aus der Tiefe feines 
dermaligen Elend: emporzubelfen. Diefer fein Grundbegriff 
ſteht in feinen Schriften mit volllommener Klarheit und unver⸗ 
kennbarer Beſtimmtheit da*).” 


5. Fichte und Peſtalozzi. 
Das Abe der Empfindung, Anſchauung und Kunſt. 

Fichte Inüpft daher feinen Erziehungsplan an Peſtalozzi's 
bereitö praktiſch gewordene Erziehungdart dergeftalt an, daß er 
den Grundgedanken der Ießteren in feiner ganzen Tragweite ers 
faſſen und folgerichtig ausbilden will. Peſtalozzi's Erziehungs: 
foftem gilt ihm als Vorſchule zu jener menfchlichen Selbſterkennt⸗ 
niß und Weltanfchauung, welche die Wiſſenſchaftslehre giebt, als 
die nationale Propädeutik für das Zeitalter der Vernunftwiſſen⸗ 
ſchaft und Vernunftkunft. Was er an dieſem Syſtem mangels 
haft findet, liegt nicht im Princip, fondern in der Ausführung, und 
folgt aus der wohlgemeinten, aber beſchränkten Abficht, die Per 
ſtalozzi bei feiner Erziehungsreform zunächft im Sinn hatte. Er 
wollte dad arme verwahrlofte Volk auf pädagogiſchem Wege ret⸗ 
ten. Diefe Abficht verengt den Charakter feiner Erziehung und 
nöthigt fie, ihr Werk zu beſchleunigen und dem praktifchen Nutzen 
unterwürfig zu machen. Daher wird auf gewiſſe brauchbare Fer⸗ 
tigfeiten ein übergroßes Gewicht gelegt und im Widerfpruch mit 
dem eigentlichen Grundgedanken, ber die methobifche Leitung der 
Anſchauung bezweckt, die Gedächtnigübung durch Auswendigler- 


*) Reden an bie deutſche Nation, IX. S. W. III Abth. Il Bd. 
S. 402— 403, 


968 


nen, dad Lefen und Schreiben überfchägt und verfrüht. In al: 
Ien diefen Stüden bedarf dad Syſtem gewiſſer Berichtigungen, 
die fich von felbft ergeben aus der Erweiterung feiner urfprüng- 
lichen Abficht. Der Grundgedanke enthält die allein richtigen 
Bedingungen nicht bloß zur Volksbildung im engen Sinn beö 
Worts, fondern zur Menfchenbildung im weiteften Sinne; er 
gilt für ale Volksclaſſen ohne Unterfchied und begründet daher 
ein Syſtem der Nationalerziehung, welches nicht mehr an bie 
Schranke und darum aud) nicht mehr an jene päbagogifch =utilis 
fischen Rückſichten gebunden ift, welche der Drud der Schranke, 
ihm auflegt*). . 

Es ift ganz richtig, daß Peſtalozzi die Einführung in die 
unmittelbare Anfchauung ald den erften Schritt der Erziehung 
betrachtet, aber er hätte zum erſten Object diefer Anſchauung nicht 
die räumlichen Dinge, auch nicht (wie er es in feinem „Bud 
für Mütter” thut) den Körper des Kindes nehmen follen, denn 
der Körper des Kindes ift nicht dad Kind felbft; auch ſollte un⸗ 
ter den Mitteln, dem Zöglinge von dunkeln zu klaren Begriffen 
zu verhelfen, nicht das Medium der Worte oder der Schall 
als das erfte gelten. Das alles find Mißgriffe, die nicht ber 
Grundgedanke feines Syſtems verſchuldet, fondern jene utiliftifche 
Nebenrücficht, nämlich die proviforifche Sorgfalt für das Volk, 
veranlaßt hat. 

Der unmittelbare Gegenftand unferer Anfchauung ift unfere 
eigene Thätigkeit, deren elementarfte Form nicht die willkürliche 
Erzeugung oder Gonftruction, fondern die unwillkürliche Empfin- 
dung oder bad Gefühl unferer Bebürfniffe und. Eindrüde aus- 
macht. Hier finden wir daher ben erften Gegenftand unmittel- 


*) Chendaf, Rede IX. 6, 404 fig, Vgl. damit Batr. Dialoge, IL, 
S. 268 u, 269, 





969 

barer Anſchauung. Das Klarmachen der Gefühle, dad beutliche 
Erfaffen deſſen, was eigentlich empfunden wird, ift daher natur 
gemäß das erfte Bedurfniß umferer Selbftanfhauung und des⸗ 
halb die erfte Aufgabe einer auf die Leitung derfelben beachten 
Erziehung. Das erfte Mittel der Selbftbefinnung ift der Aus: 
drud der Empfindung, dad Auöfprechen der Bedürfniffe; das 
Kind lerne zuerft auöfprechen, was es wirklich empfindet, es 
lerne diefe Empfindungen genau unterfcheiden, auf feine Gefühle 
merken und auf diefe Weife zugleich fich felbft ald ein befonnenes, 
freied Ich davon abfondern. Die Elemente diefer erften Anfchaus 
ung geben „bad Abc der Empfindung” („ber Befinnung auf bie 
Nichtfreipeit‘). Das ift die wahre und erfte Grundlage alles Uns 
terrichtö, der eigentliche Inhalt eines Buchs für Mütter*). 

Der zweite Gegenftand der Anfchauung find die äußeren 
Objecte, die räumlichen Dinge, Geftalten und Figuren. Der 
Zögling lerne, diefe Objecte nachbilden, ihre Bilder entwerfen 
oder vermöge der Einbildungskraft in allen Theilen wiedererzeu⸗ 
‚gen durch die freie That der Conftruction. Er werde ſich biefes 
feined Thuns bewußt und dadurch eingeführt in die unmittelbare 
Anfhauung der Größen: und Mafverhältniffe („dad Abc der 
Anfhauung”). If ihm das Object völlig befannt und durchs 
fihtig, fo darf ihm gefagt werden, wie es heißt; erft dann ift 
das Wortzeichen am richtigen päbagogifchen Ort, nicht feüher. 
Der Weg ber Anfchauung geht von ben Objecten und Bildern 
zu den Worten und Begriffen; der umgekehrte Weg führt in die 
Schatten: und Nebelwelt und verleitet zur „frühen Maulbraus 
herein"), 

*) Reben am die deutſche Nation. IX. 6. 406—409. Patr. Dia 
Iog. II. 6.270, 

**) Reben, IX. 6, 409 flgb. 





970 

Das Dritte iſt die freie Bewegung des Körpers, bie Uebung 
der körperlichen Kraft, „das törperliche Können“, die leibliche 
Kunſtfertigkeit, „dad Gewißmachen von Hand und Fuß”, wei 
ches ebenfalld durch eine richtige und planvolle Zeitung ſtufen⸗ 
mäßig entwidelt werden und mit der geiftigen Ausbildung Hand 
in Hand gehend fortfchreiten will. Diefen Theil der Elementar- 
erziehung, ben Peflalozzi zwar angeregt, aber nicht methodiſch 
bargethan hat, nennt Fichte „dad Abe der Kunſt“. Die Anlei: 
tung bes Zöglingd, zuerft feine Empfindungen, dann feine An- 
ſchauungen ſich klar zu machen und feinen Körper kunſtfertig zu 
bilden, macht den erften Haupttheil der neuen beutfchen Natio- 
nalerziehung*). 

6. Die fittlihe Erziehung. Der Erziehungäfaat. 

Der zweite Haupttheil umfaßt die bürgerliche und religiöfe 
Erziehung. Iſt der Zögling in der Anfchauung einmal einhei- 
mifch und feftgewurzelt, fo braucht er feine Welt nicht zu verän: 
dern, fondern nur zu fleigern, und bie Erziehung hat nichts an: 
deres zu thun, ald ihn auf diefem Wege richtig und planmäßig 
zu leiten**). Inder Natur des Ich ift der normale und noth⸗ 
wendige Entwidlungdgang angelegt; die Wiſſenſchaftslehre hat 
gezeigt, wie dad Weſen des Ich in der Selbftanfchauung befteht, 
wie ſich diefe flufenmäßig erhebt und mit jedem Schritte erweitert 
und vertieft. Immer umfaffender und heller wird der Erleuch⸗ 
tungskreis unferer Selbftanfchauung, bis fie zulegt den tiefften 
Grund ihres eigenen Weſens durchdringt und fich erfaßt als eine 
(unmittelbare) Erfcheinungdform bed göttlichen Lebens. Die fals 
ſche Erziehung entfremdet das Ich feiner Natur und bringt es 


*) Ebendaſ. Rede IX. S. 410flgd. X. S. 411. 
) Ebendaſelbſt. X. S. 412, 


9m . 


aus dem Wege lebendiger Selbftanfchauung in die Schattenwelt 
todter Begriffe; die richtige Erziehung macht, daß es jenen nor= 
malen und naturgemäßen Weg ergreift und unter ihrer Leitung 
fefthält, bis ihm feine wahre Natur zur zweiten Natur geworden 
und eö jegt unmöglich ift, die eingelebte Richtung je zu verlaffen. 
Die in dem Ich begründete und durch die Selbftanfhauung fort⸗ 
ſchreitende Entwidlung zu erkennen, war die Aufgabe der Wifs 
ſenſchaftslehre. Diefe Richtung zur pädagogifchen Richtfchnur zu 
machen, ift die ganze Aufgabe und Kunft der fichte ſchen Erzie⸗ 
hungslehre. So genau und innig ift der Zufammenhang zwiſchen 
Fichte's Wiffenfhaftölehre und feinem Plan einer neuen Exzie 
bung, die darum auch nicht auf einen befonderen Stand, fon= 
dern auf dad Ich als folches gerichtet ift und, angewendet auf 
das deutfche Wolf (diefed Ich unter den Wölfern), eine nationale 
Geltung in uneingefchränktem Sinne ded Worts beanfprucht*). 

Zur Sittlichleit erziehen, heißt den fittlichen Grundtrieb zur 
Anſchauung und zur Geltung bringen, damit er die bewußte und 
herrſchende Triebfeder der Handlungen werde, Nun ift bie eins 
fachfte und reinfte Geftalt des Sittlichen der „Trieb nach Ach 
tung“, der nur befriedigt werden kann, indem man Achtungd- 
würdiges hervorbringt. Was aus felbftfüchtiger Begierde gefchieht, 
iſt verächtlich und wird nicht etwa beffer dadurch, daß die Thä⸗ 
tigkeit intellectueller Art iſt. Achtungdwirdig ift allein die Ueber: 
windung der Selbftfucht (die Selbftbeherrfchung und Selbſtver⸗ 
leugnung). Auf diefen Punkt richte ſich daher die fittliche Er— 
ziehung; fie gewöhne den Zögling an eine gefegmäßige Unterord⸗ 
nung, aus welcher die freiwillige Hingebung hervorgeht. Die 
Unterwerfung unter dad Geſetz iſt nothwendig und verdient Feine 

*) Bol. Aphorismen über Erziehung. (1804.) S. W. UI Abth. 
II Bd. 6.353. 





92 


befondere Anerkennung; erft die freiwillige Hingebung oder Auf- 
opferung ift anerfennenöwerth und verbienftlich; erſt die Aufopfe- 
rung darf belohnt werben, aber fie darf feinen anderen -Lohn 
haben und begehren als ſich felbft; fie fei der Lohn der gefehmä- 
ßigen Unterwerfung; nur wer dem Geſetze vollkommen gehorcht 
hat, foll dad Verdienſt aufopfernder Handlungen erwerben bür- 
fen, nur ein folder ift der Aufopferung fähig und würdig *). 

Es giebt nur ein Gefeg, dem unbebingt zu gehorchen, den 
fittlichen Trieb entwidelt, und es giebt nur einen Gegenftand, 
für den fi) aufzuopfern, den fittlichen Trieb befriedigt: das ift 
das Ganze ober der fittliche Gefammtzwed der Menfchheit. Es 
giebt nur eine Art, diefen Geſammtzweck in lebendiger Anfchau- 
ung darzuſtellen: das ift die fittliche Gemeinfchaft. Daher ift es 
nothwendig, daß die Zöglinge ein pädagogifch georbnetes Gemein: 
wefen bilden, in welchem jeber als Glied eines Ganzen ſich füh: 
len, ben Gefegen beffelben gehorchen, für die Geſammtzwecke ar⸗ 
beiten und auf diefe Weife reifen kann zur Erfüllung nationaler 
und weltbürgerlicher Pflichten. 

Der Trieb nad) Achtung, der die Grundform alles fittlichen 
Triebes und dad Element aller fittlihen Entwidlung ausmacht, 
erzeugt in bem Kinde dad Streben geachtet zu werben; es fucht 
die Zufriedenheit der Eltern, die Achtung der Erwachfenen. In 
dem Maße, als der Zögling fich geachtet fieht, achtet er fich ſelbſt. 
Unwillfürlic macht er das erwachfene Gefchlecht, dad er vorfin- 
det, zu feinem Vorbilde. Das Kind will werden, wie die Er: 
wachfenen. In der Nachahmung, die daraus nothwendig hervor 
geht, liegt für den fittlichen Trieb die Gefahr einer großen und 
grundfchädlichen Verirrung, der eine richtige Erziehung bei Zeiten 
vorbeugen muß. ft dad erwachfene Gefchlecht verdorben, fo 
muß dad nachwachfende Gefchlecht, indem es jenes fein Vorbild 
Reben an bie deutſche Ration, X. &, 414—419, 





. 973 


zu übertreffen fucht, nothwendig noch verborbener werben. „Der 
Menſch,“ fagt Fichte, „lebt fi zum Sünder, und das biöherige 
menfchliche eben war in der Regel eine im fleigenden Fortfchritte 
begriffene Entwidlung der Sündhaftigkeit.” So ift jenes Zeit: 
alter „vollendete Sündhaftigfeit” gefommen, welches abzethan 
werden fol durch eine von Grund aus neue Erziehung. Hier 
giebt es fein anderes Mittel, ald daß diefe Erziehung ihre Zög⸗ 
linge aus dem „verpeftenden Dunftkreife” entfernt und einen reis 
neren Aufenthalt für fie errichtet. „Wir müffen fie in die Ge 
feufchaft von Männern bringen, die durch anhaltende Uebung und 
Gewöhnung wenigftend die Fertigkeit fi) erworben haben, fich 
zu befinnen, daß Kinder fie beobachten, und das Vermögen, 
wenigftend fo lange ſich zufammenzunehmen, und bie Kenntniß, 
wie man vor Kindern erfcheinen muß; wir müffen aus biefer 
Geſellſchaft in die unfrige fie nicht eher wieder zurüdlaffen, bis 
fie unfer ganze Werderben gehörig verabfcheuen gelernt haben 
und vor aller Anſteckung dadurch völlig gefichert find*).” 

Die Aufgabe der neuen Nationalerziehung fordert demnach) 
einen abgefonderten und gefchloffenen Erziehungäftaat, der in ſei⸗ 
nen Böglingen die beiden Gefchlechter, und in deren Ausbildung 
Lernen und Arbeiten vereinigt. Zur perfönlichen Selbftftändig- 
keit gehört auch die öfonomifche, die Durch Arbeit gewonnen wird. 
Die Erziehung zur Arbeit ift daher ein nothwendiger nationals 
päbagogifcher Zweck. Es iſt der allererfte Grundſatz der Ehre, daß 
jeber den eigenen Lebensunterhalt auch der eigenen Arbeit und 
nicht etwa den fervilen Künften des Kriechend und Schmeichelnd 
verdanfe. Darum fol jeder arbeiten lernen. Die Nationaler: 
ziehung begreift deßhalb auch die wirthfchaftliche Erziehung 
in fih, und der Erziehungsftaat bildet zugleich ein bkonomiſches 
Tr) Ehenbofelbft, Rebe, X. S. 421-422, 


974 


Gemeinwefen, zu deſſen Erhaltung die Zöglinge durch ihre Arbeit 
beitragen. Dabei fol die Arbeit nicht etwa ald todted Werk be: 
trieben werben, fondern felbft ald erziehendes Element wirken, ald 
ein wichtiger Factor in der Ausbildung und’ Entwidlung ber 
menſchlichen Selbftthätigkeit. Derfelbe Grundfag, der für das 
Lernen gilt, leite auch das Arbeiten. Wie die Objecte der Er⸗ 
kenntniß, follen auch die des praktiſchen Gebrauchs fo viel ald 
möglich felbft erzeugt werben: jenes gefchieht durch die intellec- 
tuelle Arbeit, diefes Durch die mechanifche (Arbeit im engeren Sinn). 
Was von allen pädagogifch zu leitenden Handlungen gilt, gelte 
auch von ber mechanifchen Arbeit: fie werde zu einem Gegen- 
ſtande Iebendiger Anfchauung, zu einem verftänbigen, von der In⸗ 
telligenz erleuchteten Thun. Erſt dadurch wirkt bie Arbeit erzie⸗ 
hend und bildend; fie bildet nicht bloß das mechanifche Können, 
fondern die Anfhauung und damit dad Ich: fo erfüllt fie den pä⸗ 
dagogifchen Zweck und macht den Zögling felbftändig nicht bloß 
in öfonomifcher,, fonbern zugleich in intellectueller Hinficht, fie 
bildet und entwidelt die ganze Perfon. Die beiden Hauptarten 
der zu erziehenben Arbeit find die Production und Fabrikation: 
die Ausübung deö Ader: und Gartenbaues, der Viehzucht und 
derjenigen Handwerke, been man in biefem Beinen Erziehungs: 
ſtaate bebarf. Auf diefe Weile macht die Nationalerziehung ihre 
Zöglinge zugleich tüchtig für die Öffentlichen Arbeitäzwede bes 
Staat: fie erzieht tüchtige Arbeiter, wie fie dad nationale Ge: 
meinwefen braucht. Um fich zu erhalten, braucht die Nation 
den Arbeitöftand; um fortzufchreiten, braucht fie den Lehrſtand. 
Auch die Gelehrten müffen, wie bie Arbeiter, durch die National 
erziehung hindurchgegangen fein; beide empfangen ald Zöglinge 
diefelbe Elementarbildung und gehen erft von da an getrennte 
Wege, wo die mechanifche Arbeit ald befonderer Erziehungszweig 


975 


auftritt. Hier fordert ber künftige Gelehrtenberuf eine andere 
Art der Beichäftigung und Zeiterfüllung. Welche Zöglinge für 
diefen Beruf taugen und darum von der mechaniſchen Arbeit ab⸗ 
zufondern find, entfcheidet die Mationalerziehung lediglich nach 
der Befchaffenheit und dem Grade der Begabung”). 


n. 
Die Ausführung des Plans. 


1. Die Mittel der Ausführung. 

Der neue Erziehungsplan ift in feinem Grundriß entworfen. 
Auf ihm fleht die Rettung der Nation, auf ihm allein. Daher 
Tann nicht mehr die Nothwendigkeit feiner Ausführung, fondern 
nur deren Art und Weife in Frage kommen. Die biöherige Er- 
ziehung war entweber Privatfache, ober fo weit fie volksthümlich 
war, lag fie in den Händen ber Kirche, die dad Erziehungsge— 
ſchaft in-den katholiſchen Ländern aus eigener Machtvolllommen: 
beit, in ben proteflantifchen im Auftrage der Staatsgewalt aus: 
übte. So blieben die Elemente der Volksbildung befhränkt auf 
ein „bischen Chriftentyum”, Leſen und, wenn es hoch kam, Schrei= 
ben; und dad Ziel der Gelehrtenbildung hatte vorzugsweiſe bie 
Geiftlichen im Auge ald die fünftigen Volkslehrer. Die Volke: 
ſchulen, wie die Gelehrtenfchulen, waren fo verfaßt, daß eine 
wirkliche Volksbildung daraus unmöglich hervorgehen konnte. 
Um dieſe in's Leben zu rufen und den entworfenen neuen Plan 
auszuführen, muß der Staat felbft die Sorge für die Er 
ziehung übernehmen. An die Stelle der Privaterziehung und der 
kirchlich geleiteten Volksſchule tritt die öffentliche Erziehung, wel 
he der Staat orbnet, und die ausnahmslos gilt für alle. 

Es ift nicht zu fürchten, daß die Koften einer folchen Erzie⸗ 

*) Ebendafelbft. Reben. X. S. 422— 427, 





976 


bung einen zu großen Aufwand ber Staatömittel verurfachen. 
Im Gegentheil, was der Staat für die Erziehung verwendet, 
wird er auf anderen Gebieten mit taufendfältigen Zinfen wieder: 
einbringen. Es giebt auch, finanziell betrachtet, Fein befferes Ge- 
ſchaft ald die Nationalerziehung, keinen größeren Nationalreid- 
thum als die Volksbildung. Die öffentliche, richtig angelegte 
umd geleitete Erziehung liefert dem Staat gefchulte Soldaten, 
tüchtige Arbeiter, ehrenhafte Bürger. Ex wird Feine Arme zu 
ernähren, weniger Verbrecher zu firafen und zu bewachen und 
feine Bertheidigung, wie feine wirthſchaftlichen Intereffen auf das 
Beſte beforgt haben. Nichts bezahlt der Staat theurer, als ben 
Mangel guter Bürger; nichts ift ihm einträglicher als eine Er: 
ziehung, die gute Bürger hervorbringt. Darum ift die öffent 
liche Erziehung unmittelbarer Staatözwed, den zu erfüllen, der 
Staat felbft fein Zwangsrecht brauchen darf. Zwingt er zum 
Kriegsdienſt, warum fol er nicht auch zur Erziehung zwingen 
dürfen? . 

Wenn erft ein beutfcher Staat diefe wichtigfte feiner Pflich- 
ten begriffen hat und zur Löfung der Aufgabe Hand ans Werk 
legt, fo werben andere deutſche Staaten folgen, und es wirb bald 
ein Wetteifer entflehen, der nie ein beſſeres Ziel gehabt hat. 
Gerade die Vielheit unferer Staaten bringt ed mit ſich, daß ei- 
ner dem anderen den Rang abzulaufen fucht, und es giebt feine 
Sache, der ein ſolcher Wettftreit vortheilhafter fein könnte, als 
die Aufgabe der Nationalerziehung. Sollten aber die Staaten 
diefe Sache in Stich laſſen, fo muß man hoffen, daß große 
Gutöbefiger oder Städte aud eigenen Mitteln den Verſuch mas 
hen und angehende Gelehrte fich finden werden, die mit Freu 
den in den Dienft einer folchen Erziehungsanftalt treten. Es 
wird an Zöglingen nicht fehlen. Sollten die Eltern ihre Kinder 





977 


dazu nicht hergeben wollen, fo nehme man die armen, verwaiften, 
auögeftoßenen Kinder und halte fi) an Lehrer der peſtalozzi' 
Then Schule*). 


2. Einigkeit in deutfher Gefinnung. 

Der Verſuch muß gemacht werden. Der Erfolg wird ihn 
rechtfertigen. Je umfaffender und energifcher er unternommen 
wird, um fo eher wird dad neue Gefchlecht dafein, welches wir 
brauchen. Bisdahin fönnen wir nichtd Beſſeres thun, als inner 
lic) dem neuen Bürgerthum und annähern, uns in beutfcher Ge— 
finnung befeftigen, ben Charakter diefer Gefinnung pflegen, eis 
nig in dem, was der Zeit noththut, umerfchütterlich feft in der 
Ueberzeugung, daß die deutfche Nation erhalten werden müffe 
und nur durch eine neue Erziehung erhalten werden könne. Diefe 
Ueberzeugung werde durch nichts ſchwankend gemacht. Eine 
Menge Trugbilder find dagegen im Umlauf und verfuchen die 
Gemüther zu berüden. 

Viele täufchen ober laſſen fich damit täufchen, daß ja bie 
deutfche Sprache und Literatur erhalten bleibe, auch wenn die 
Nation ihre politifche Selbftändigkeit einbüße. Was gilt denn 
eine Sprache, die ein Winfeldafein nothdürftig fortfriftet? So 
lebt noch heute dad Wendifche fort. Was gilt eine Literatur, des 
ven Sprache aufgehört hat zu regieren und darum auch aufgehört 
hat wahrhaft zu leben? Jeder vernünftige Schriftfteller will 
feine Gebanten zur Geltung und Herrſchaft bringen; er will in 
feiner Weife regieren, er braucht deßhalb eine regierende Sprache, 
eine Sprache, in ber regiert wird, die Sprache eines Volks, das 
einen felbftändigen Staat ausmacht. Ohne die politifche Selb: 

. fländigkeit ihres Volks haben Sprache und Literatur ihre Würde 


*) Ebendaſ. Rebe- XI. 6. W. II Abth. U Bd. S. 428 -444. 
diſqer, Geſqicte der phileſophie V. 62 








978 


und damit ihren Werth verloren. Auch die Wiſſenſchaft will re: 
gieren und umgeftaltend einwirken auf das Leben des Volks; fie 
Kann nichts ausrichten in einem politifch gefallenen Volke, fie kann 
den Verluft politifcher Selbftändigkeit nicht erfegen, da mit diefer 
ihre eigene Lebensbedingung erlofchen iſt. Wie follen wir auf eine 
tünftige beutfche Literatur rechnen dürfen, da wir fchon jet Feine 
mehr haben, da fchon jetzt die Furcht vor dem fremden Gewalt: 
herrſcher überall in deutfchen Landen fo viele Gemüther erfchredt 
vor einem vaterländifchen Worte? Entweber hat dieſer Gewalt: 
herrfcher Geifteögröße genug, um auch in dem befiegten Bolle 
die geiftige Selbftändigkeit und deren Pflege zu achten: dann ift 
die Furcht vor ihm ungerecht; oder er ift kleinlich gefinnt und 
haßt die deutfche Geiftesart: dann ift die Furcht vor ihm erbärm: 
lich. „Sol denn nun wirklich, einem zu gefallen, dem damit 
gedient ift, und ihnen zu gefallen, bie ſich fürchten, dad Men: 
ſchengeſchlecht herabgewürdigt werden und verfinten, und fol kei: 
nem, dem fein Herz es gebietet, erlaubt fein, fie vor dem Ber: 
falle zu warnen?” „Mas wäre denn das Höchfte und Letzte, bad 
für den unwillfommenen Warner daraus erfolgen könnte? Ken: 
nen fie etwas Höheres, denn den Tod? Diefer erwartet und ohne 
dieß alle, und es haben von Anbeginn der Menſchheit an Edle 
um geringerer Angelegenheit willen — denn wo gab es jemals eine 
höhere ald die gegenwärtige? — der Gefahr deſſelben getrogt. 
Wer hat dad Recht, zwifchen ein Unternehmen, das auf dieſe 
Gefahr begonnen ift, zu treten?” „Das Nächte, was wir zu 
thun haben, ift dies, daß wir und Charakter anſchaffen und 
durch eigenes Nachdenken eine fefte Meinung bilden über unfere 
wahre Lage und bad fichere Mittel, diefelbe zu verbeſſern ).“ 

*) Ebendaſelbſt. Rebe XII. ©. 444 — 459. (Vgl, mit ber le 
ten Stelle II Bud) dieſes Bandes, Gap: V. S. 320 figd,) 





979 


3. Die politifhen Trugbilder. 
Gleichgewicht, Welthandel, Univerſalmonarchie.) 

Deutſch geſinnt oder von der nationalen Aufgabe des deut⸗ 
ſchen Geiſtes erfüllt fein, heißt zugleich einig fein. Was bie 
deutſche Einigkeit aufhebt oder ſtört, widerſtreitet auch der beut« 
ſchen Gefinnung und ift in feiner Wurzel undeutfch und auslän- 
difchen Urſprungs. Es giebt gewiſſe Vorftellungen, die felbft 
mit dem Scheine politifcher Grundſatze bekleidet find und ein gro⸗ 
Bes Anfehen auch unter und gewonnen haben, obwohl fie dem ' 
deutſchen Geift und der deutfchen Einigkeit von Grund aus zus 
widerlaufen. Es ift zur Gründung und Pflege deutſcher Gefins 
nung fehr wichtig, fich diefer Trugbilder bewußt zu werden und 
ihren unbeutfchen Charakter zu durchſchauen. Diefe Trugbilder 
verhalten ſich zur deutſchen Gefinnung, wie nad) Bacon die Idole 
zu unferem wahren und naturgemäßen Denken. 

Die deutſche Einigkeit giebt die feftefte Grundlage zu einer 
neuen politifhen Ordnung der Dinge. Wad bisher das euros 
paiſche Staatenſyſtem regulirt ober vielmehr verwirrt hat, war 
der Gedanke des fogenannten Gleichgewichts. Wären die deut ⸗ 
Then Völker in ihrem gemeinfchaftlichen Waterlande in der Mitte 
Europas wahrhaft einig, fo hätte das europäifche Gleichgewicht 
feinen natürlichen, unverrüdbaren Schwerpunkt, und es wäre 
nicht nöthig, ein fünftliches Gleichgewichtsſyſtem für Die europäs 
ifchen Machtverhältniffe zu erfinden. Das kunſtliche Gleichge: 
wicht ift der Urfeind der deutichen Einigkeit, die eigentliche Urs 
fache unferer Zwiefpältigkeit und Trennung und alles daraus ent» 
ftandenen Elends, deſſen legte Frucht der Verfall und politifche 
Untergang der gefammten Nation ift. Erſt ift das chriftliche 
Europa dur die Ländergier der Völker und den raubfüchtigen 

62* 


980 
Eifer nach gemeinfchaftlicher Beute, die feiner dem anderen laſ⸗ 
fen und jeder dem anderen abjagen mochte, getheilt und in einen 
Zuſtand beftändiger Welthändel und ungleiher Machtverhältniffe 
gebracht worden, deren Ausgleichung dann in jenem kunſtlichen 
Sleihgewichtöfgfteme vergeblicherweife gefucht wurde; dann hat 
dieſes Syſtem auch die deutfchen Völker, die ihrer Lage und ih- 
. ren Intereffen nad) demfelben fremd waren, durch ausländifche 
Machinationen ergriffen und damit feinen Eingang in dad Herz 
Europas gefunden. Die Deutſchen find nicht die Urheber, auch 
nicht die Theilnehmer der Gleichgewichtöpolitit geweſen, fondern 
fie Haben fi in das Net derfelben hineinziehen laſſen und find 
dad Object, die Beute, bad Opfer diefer Politik geworben. Jede 
Verrüdung des Gleichgewichts muß jegt in Deutfchland ausge: 
glichen und die deutfchen Staaten zu Zulagen gemacht werben zu 
den Hauptgerichten in der Wage des europäifchen Gleichgewichts. 
„Wäre nur wenigftend Deutichland Eins geblieben, fo hätte es 
auf ſich felbft geruht im Mittelpunkte der gebildeten Welt, fo 
wie die Sonne im Mittelpunkte der Welt; es hätte fi in Ruhe 
erhalten und durch fich feine nächfle Umgebung und hätte durch 
fein bloßes Dafein allen dad Gleichgewicht gegeben.” Der Ge 
danke eines künſtlich zu erhaltenden Gleichgewichts ift in feiner 
Nichtigkeit zu durchdringen. Es ift einzufehen, daß nicht bei 
ihm, fondern allein bei der Einigkeit der Deutfchen unter fich fel- 
ber das allgemeine Heil zu finden fei”). 

Es liegt nicht im Intereffe und in der Aufgabe der Deut: 
ſchen, fich an beutegierigen und eroberungsfüchtigen Welthändeln 
zu betheiligen. Im diefe verflochten, machen fie feine Beute, 
fondern werben dazu gemacht. Was von den Welthändeln gilt, 

*) Reben an bie deutſche Nation, XIII. S. W. III Abth, U Bd. 
©. 464, 65, 


| 





981 


ebenbafjelbe gilt den Deutfchen gegenüber auch vom Welthandel. 
Sie follen fi) von beiden unabhängig erhalten. Ihre politifche 
Selbftändigkeit und Einigkeit fordert auch die öfonomifche, bie 
Handelöunabhängigkeit, die Schließung des deutfchen Handelö- 
flaated. Das ift dad zweite Mittel ihres Heil. Die Abhängig: 
Feit vom Welthandel, die mercantile Verbindung mit England 
Hat auch in den gegenwärtigen Kriegen und zum Schaben gereicht; 
fie hat den Vorwand geliefert, daß wir ald Abläufer befriegt und 
als Marktpla& zu Grunde gerichtet werden”). 

Am wenigften aber follte der deutfche Geiſt fich blenden laſſen 
durch das Trugbild des Caſarismus und der „Univerfalmonar- 
chie“, welches, durch die Begebenheiten der Zeit begünſtigt, als 
politifches Ideal vorgefpiegelt und von vielen aus Thorheit oder 
knechtiſchem Sinne geglaubt wird. Eine Univerfalmonarchie muß 
alles centralifiten und gleichförmig machen wollen; fie vermifcht 
und verreibt alle menfchliche Mannigfaltigkeit und erzeugt dadurch 
eine Abftumpfung und BVerflahung des geiftigen Lebens, bie 
um fo verderblicher wirkt, je urfprünglicher die Anlagen und Keime 
der geiftigen Natur. find. Nichtd verträgt fich weniger mit ber 
deutfchen Geifiesart, als die Univerfalmonarchie. Sie ift auch 
in ſich felbft zweckwidrig; denn fie kann nur durch Mittel er— 
reicht werben, die am Ende fie felbft zerflören. Die Kräfte, die 
fie zu ihren Eroberungen braucht, müflen von zwei Bedingungen 
getrieben werden, von ber Verheerungsſucht und von her Raub: 
ſucht, von barbarifcher Rohheit und erbarmungslofem, raffinirtem 
Eigennug. Mit ſolchen Kräften kann man die Erde zwar aus: 
plündern, verwüften und zu einem dumpfen Chaos zerreiben, 
nimmermehr aber zu einer Univerfalmonarchie ordnen **). 

*) Ebendaſelbſt. ©. 465— 67. 

**) Ebendaſelbſt. S. 467—69. 


982 


In dieſen Urtheilen iſt Fichte fich gleich geblieben. Die 
Gleichgewichtspolitik, der Welthandel und die Univerfalmonardie 
find ihm ſtets als politifhe Grundübel erfhienen. Er verwirft 
fie in den Reben an bie deutfche Nation, wie früher in feinen 
Beiträgen über die franzöfifche Revolution und in feiner Rechts 
lehre ). 

Reinigen wir alſo unſere Geſinnung von allen jenen Trug: 
bildern und Idolen. Unfere gegenwärtige Aufgabe ift deutſch ge: 
finnt fein, in diefer rein beutfchen Gefinnung zufammenhalten 
und feftfiehen. Mit den Waffen find wir befiegt; feien und 
bleiben wir unbefiggt in der Gefinnung! Wir kämpfen nicht 
mehr mit Waffen, fondern mit Grundfägen, Sitten, Charakter. 
In diefem Kampfe werben wir fiegen, wenn wir feine Waffen 
rein und unbefledt erhalten. Dazu müffen wir ablegen die an: 
genommenen Untugenden, die ber beutfchen Gefinnung wider: 
ſtreiten. Wir haben und gewöhnt, fremde Sitten, die man 
gute Lebensart” nennt, unferer eigenen Weife, unferer deutfchen 
Eigenthümlichkeit vorzuziehen. Seien wir, was wir find, ohne 
fremde Tünche; halten wir unfere Eigenthümlichkeit feft, auf bie 
Gefahr, dem Audlande lächerlich zu erfcheinen. Wir haben und 
an innere Zwietracht gewöhnt und durch gegenfeitige Worwürfe, 
Anklagen und Beſchuldigungen dem Auslande gezeigt, wie man 
und ſchmahen kann. Diefe Befhuldigungen find ungerecht, denn 
unfer Unglüd ift nicht die Schuld einzelner, fondern aller, 
nicht dad Werk von Perfonen, fondern ganzer Zeitalter; fie find 
zugleich unklug, denn fie entwürdigen und vor dem Auslande 
unb geben und ber Geringfhägung beffelben mit Recht Preis. 

*) Ueber das Gleichgewicht und bie Univerfalmonardjie vgl. Buch IL. 


biefes Bd. Cap. IX. 6.391 — 393; über ben Welthandel vgl. Buch III. 
Cap.X. 6. 648652, 


983 


a Die Unfitte der Schmähfchriften fol aufhören. Machen wir und 
„ zur Pflicht, Reine zu lefen, fo wird feine mehr gefchrieben were 
den. Hüten wir und enblich auch vor ber indirecten Selbſtſchma⸗ 
bung. Wir ſchmaͤhen und indirect, indem wir dem Auslande 
x fehmeicheln. Auch die Lobpreifung der Gewalt, bie und be: 
herrſcht, auch die Bewunderung bed „großen Genies”, welches 
die Gewalt hat, iſt unwürdig, felbft wenn, fie aufrichtig if. Der 
Mafftab, wonach fie die Größe ſchätzt, ift undeutfch. „Unfer 
Maßftab der Größe bleibe der alte: daß groß fei nur dasjenige, 
mad der Ideen, die immer nur Heil über die Völker bringen, 
fähig fei und von ihnen begeiftert; tiber die lebenden Menfchen 
aber laßt und das Urtheil der richtenden Nachwelt überlaffen*).” 





4. Der Entfhluß zur Thät. 

Die fittliche Erneuerung und Wiedergeburt des beutfchen 
Volkes war ber Inhalt der Reben. Diefe Aufgabe ift aus ber 
Epoche des Zeitalterd und den Gefchiden der Nation gerechtfer: 
tigt. Es iſt gezeigt, worin fie beſteht; daß ber deutfche Geift 
berufen und fähig ift, fie zu löfen; daß die Löfung eine neue 
Menfchenbildung, eine gründlich umfchaffende Nationalerziehung 
fordert, die den Gedanken Peſtalozzi's aufnimmt, folgerichtig 
entwickelt, umfaffend anwendet. Der Plan und die Mittel ſei⸗ 
ner Ausführung find den Grundzügen nad) bargethan. In ihm 
liegt der fefte Vereinigungspunkt deutfcher Gefinnung, der Halt 
deutfcher Einigkeit, die Befreiung von allen Trugbildern, welche 
ben gefcichtlihen Gang des beutfchen Volks in die Irre geführt 
und von fremden, feindfeligen Bedingungen abhängig gemacht 
haben. 

Jetzt handelt es ſich darum, den deutfchen Gedanken zur 

*) Neben an bie deutſche Nation, XII. S. 470—476, 


984 


That zu machen, vor allem zur inwenbigen That, zur lebendr 
gen, unerfchütterlicy feften Gefinnung, die jeder aus freier Ueber: 
zeugung faffe, die alle auf gleiche Weiſe durchdringe. Diefe Ge 
finnungsthat ift das Erſte und kann fofort gefchehen. Die Ent: 
ſchließung ift leicht, denn was fie hindert, kann nur Selbfttäu: 
ſchung fein, und die Zeiten der Selbfttäufhung find vorüber. 
Nachdem die biöherigen Zuflände zu Grunde gerichtet und durd 
eigene Schuld gefallen find, ift e8 unmöglich, den Wahn, ber 
fie erhalten möchte, fortzufegen. 

Wir haben zu wählen zmwifchen einem erniebrigten Dafein 
und dem ficheren Untergange auf der einen Seite und einer ehren: 
vollen Zortdauer, die zu glorreicher Wiederherftellung führt, auf 

der anderen. Wer aus lebendiger Einficht zuerft den Entfchlug 
zur nationalen Erneuerung ergreift, hat die Pflicht, die ande 
ten aufzuforbern, benfelben Entſchluß zu faflen. Diefe Pflicht 
wollen die Reben erfüllt haben. 

Die Aufforderung geht an alle, an Jugend und Alter, an 
Gefhäftgmänner und Denker, an Fürften und Bolt. Die Jüng: 
linge follen durch die klare Einficht ihre Einbildungskraft Läutern, 
das Alter feine Selbftfucht ; die Uneigennügigen follen die Jugend 
berathen, die Eigennügigen wenigftens dad Werk der Erneuerung 
nicht ſtören; die Gefchäftgmänner’follen ſich Durch das, was fie 
dad praftifche Leben nennen, nicht verengen und gegen bie Den: 
ter einnehmen laffen, die ihrerfeitd nicht vergeffen mögen, daß bie 
Ideen die Probe des Lebens zu beftehen haben; die Fürſten werden 
ihren Beruf, der fie zur Leitung der Völker erhebt, am beften erfül- 
Ien, wenn fie auf dem Wege der Erneuerung bie Erften find in 
GSefinnung und That. 

Die Aufforderung gefchieht im Namen aller. In ihr redet 
die Stimme ber Vorfahren und ber Nachkommen; im ihr verei⸗ 


985 


nigt fich der deutfche Genius mit dem des Auslandes zu berfel- 
ben Mahnung. Die alten Deutfchen, unfere früheren Vorfah— 
ten, haben umfonft dad alte Römertyum mit leiblichen Waffen 
befiegt, wenn wir jeßt dad neue Römerthum nicht mit den Waf- 
fen des Geiftes befiegen, den einzigen, die und geblieben find. 
Die proteftantifchen Glaubensfämpfer, unfere fpäteren Vorfah— 
ren, haben umfonft für die Glaubenöfreiheit und die Herrfchaft 
des Geiftes geftritten, wenn wir biefen ſchwererkämpften Geift 
jet zu Grunde gehen laffen und nicht alles thun, ihn zu erhal 
ten und in die ihm beftimmte Weltherrfchaft einzufegen. Unfere 
Nachkommen werben umfonft leben; fie werden eine Gefchichte 
haben, welche der Sieger macht, wenn wir nicht dafür forgen, 
daß fich unfer geiftiges Leben an Haupt und Gliedern erneut, 
Geiftiger Erneuerung bedarf die Menfchheitz fie erwartet fie von 
den Deutfchen. 

„Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, fo wie 
mit ihren Mängeln, ift verfunfen durch die eigene Unwürde und 
durch die Gewalt eurer Väter. Iſt in dem, was in dieſen Re 
den dargelegt worden, Wahrheit, fo feid unter allen neueren 
Völkern ihr eö, in denen ber Keim der menfchlichen Vervollkomm⸗ 
nung am entfchiedenften liegt, und denen der Vorfchritt in der 
Entwicklung derfelben aufgetragen ift. Geht ihr in dieſer eurer 
Wefenheit zu Grunde, fo geht mit euch zugleich alle Hoffnung 
des gefammten Menfchengefchlechts auf Rettung aus der Tiefe feiner 
Uebel zu Grunde.” „Es ift daher Fein Ausweg: wenn ihr ver: 
fintt, fo verfinkt die ganze Menfchheit mit, ohne Hoffnung einer 
möglichen Wiederherftellung *).” 

*) Edendaſelbſt. Rede XIV. &.481—499, (Bgl. mit dem Schluß 
IL Bud dieſ. Bd. Cap. V. S. 321. 322.) 


Neuntes Capitel. 


Der Univerfitätspien. 


Zu wieberholten malen haben wir in der Entwidlung der 
fichte ſchen Lehre darauf hingewiefen, welche Bedeutung fie der 
Aufgabe und dem Berufe des Gelehrten zufchreibt; wie eö ber 
Gelehrte fein fol, der die Bedingungen, welche ben Geift bes 
vorhandenen Zeitalter8 ausmachen, auf dad Klarfte begreift und 
die Bildung des ünftigen erzieht, wie fich biefer Beruf in dem 
Gelehrten verkörpern und den fittlichen Charakter deffelben be= 
Dingen fol. Ich erinnere an die jenaifchen Vorleſungen über die 
Beſtimmung —, an die erlanger über dad Weſen ded Gelehrten, 
vor allem an bie hierhergehörigen Abfchnitte der Sitten und 
Pflichtenlehre*). 

Die Erziehung der Welt durch den Gelehrten ift aber felbft 
bedingt durch die Erziehung zum Gelehrten, bie einen wichtigen 
Beftandtheil und den höchften der Nationalerziehung ausmacht. 
In den Reden an die beutfche Nation hat Fichte die Grundlinien 
ſeines neuen Erziehungsplanes entwidelt; er hat bezeichnet, bis 
zu welchem Punkte an der elementaren Grundlage derfelben auch 
die Erziehung zum Gelehrten theilnimmt, aber er hat hier die ei- 
gentliche Anwendung auf die fpecififche Gelehrtenerziehung offen ge: 

*) Vgl. oben III Buch dieſes Bd. Cap. XVI, ©. 761-770. 


987 


laffen. Es handelt fich bei der letzteren um die Aufgabe ber nie- 
deren Gelehrtenfchule und der Univerfität, alfo um die Frage, 
welche Richtſchnur die von Fichte entworfene Nationglerziehung 
der Univerfität vorfcpreibt, welche Umbildung diefer ihrer höchſten 
Lehranftalt fie fordert. In diefem Punkte begegnete die national- 
päbagogifche Frage dem damals angeregten und zur Ausführung 
beftimmten Plane einer in der preußiſchen Hauptſtadt neu zu 
gründenden Univerfität. Auch Fichte war in dieſer Sache um 
feinen Rath gefragt worden und hatte ihn in einer Denkfchrift 
gegeben, welche ben Reben an die Nation vorauögeht und bie 
Anwendung feiner nationalen Erziehungsreform auf dad Univer: 
fitätöwefen enthält. Gedanken zu Univerfitätöreformen hatten 
ihn ſtets befchäftigt, aber nirgends fo gründlich und umfaſſend 
als in diefer nach Zeitpunkt und Richtung ben Reden nahe ver: 
wandten Denkfchrift*). 


L 
Die Univerfität ald Erziehungsanftalt. 


4. Die Kunſtſchule der Wiffenfhaft. 

Die Univerfitäten follen eine Bildung geben, welche ber 
Staat braucht und auf die er rechnet. Alle wirkliche Bildung 
ift Feucht der Erziehungs fie kann nicht bloß auf gut Glüd über 
liefert, fondern fie will planmäßig erzogen werben. Die Unis 
verfitäten gehören als nothwendiges Glied in den Geſammtorga⸗ 
nismus der Rationalerziehung und follen darum fein, was bie 
bisherigen nicht find: Erziehungsanftalten, nicht bloße Lehrs ober 
fogenannte freie Bildungsanftalten **). 


*) Debueirter Plan einer zu Berlin zu errichtenben höheren Lehr: 
anftalt. (1807.) S. ®. III Abth. III Bb. ©. 95 — 204. .- 
1I Bu) bief. Vd. Cap. V. 6, 392-324. 

**) De, Plan u. ſ.w. J Abſchn. 5.13, Amer, 


988 

Aber auch als bloße Lehranftalten, ganz abgefehen von dem 
erziehenden Charakter, der ihnen fehlt, find die vorhandenen Uniz 
verfitäten zum großen Theile unfruchtbar. Die mündlichen Lehr⸗ 
vorträge find größtentheild nur Wiederholungen der ſchon im 
Drud vorhandenen gelehrten Literatur, fie fagen das ſchon Ge: 
drudte noch einmal, fie lehren eigentlich nicht, ſondern recitiven 
bloß und thun damit etwas im Grunde Ueberfläffiged. Die Zu: 
börer können die Bücher felbft Iefen, ja fie thun fogar beffer, 
wenn fie benfelben Gegenftand lieber lefen ald hören, denn fie 
konnen lefend die Sache weit aufmerkfamer verfolgen und felbft- 
thätiger burchbringen, als wenn fie fi) bloß hörend verhalten. 
Das Hören ift paffiver als das Leſen. So find die alabemifchen 
Vorträge, fo weit fie ven Inhalt vorhandener Bücher wieberho: 
len, nicht bloß überflüffig, fondern fogar ſchädlich. Sie machen 
den Büchern eine für den Lernenden verberbliche Concurrenz. 
Diefer denkt: du brauchft nicht zu hören, was bu ebenfo gut und 
beffer lefen kannſt; du brauchft nicht zu leſen, was du zu hören 
befommft. Dadurch wirb er leicht verführt, keines von beiden 
zu thun; im Vertrauen auf die Bücher hört er die Vorträge nicht, 
im Hinblid auf die letzteren lieſt er die Bücher nicht. So Iernt er 
überhaupt nicht und verfchwendet die Zeit. Es ift allerdings wahr, 
daß die Univerfitäten, namentlich die neueren, auch dazu bei⸗ 
tragen, bie gelehrte Literatur zu verbeffern, aber erſtens gefchieht 
das immer nur von wenigen und kann durch Feine in der Orga⸗ 
nifation einer Univerfität enthaltene Bedingung verbürgt wer- 
den, und bann kommt biefe Arbeit nur ben Büchern zu gute und 
erfüllt Feine eigenthümliche alademifche Kehraufgabe, Beinen felb- 
ftändigen nur der Univerfität angehörigen Zweck“). 

Ihr höchſter Zweck ift die Erziehung durch Wiffenfchaft und 

*) Deb, Plan, I Abſchn. $. 1. 2. 8. 


989 


zur Wiffenfchaft. Diefe ſoll fid der Geifter dergeſtalt bemachti⸗ 
gen, baß fie ganz in ber Wiffenfchaft leben, daß ihr Denken und 
Arbeiten Feine andere Form Eennt als bie wiſſenſchaftliche. Dann 
erſt iſt die Wiffenfchaft lebendig geworben, fie ift gereift zum Könz 
nen, zur Kunft. Diefe Kunft ift lehrbar. Ihre Schule ift die 
„wiffenfchaftliche Kunftichule”. Eine folche wiffenfchaftliche Kunſt⸗ 
ſchule ift nothwendig, fie gehört in das Syſtem der Nationaler: 
ziehung, fie bildet den naturgemäßen Gipfel jener Pädagogik, des 
ven Wurzel Peſtalozzi erfunden hat. Die Wurzel ift die allger 
meine Volksſchule, der Stamm ift die niedere Gelehrtenfchule, 
die Krone ift die höhere Gelehrtenfchule, die Univerfität. Men: 
ſchenbildung im Großen und Ganzen ift der Zweck der Nationals 
erziehung ; fie foll aus den Händen des Minden Ungefähr heraus: 
fommen und unter das leuchtende Auge einer befonnenen. Kunft 
geftellt werden, nicht bloß in ihren Elementen, auch in ihrer 
Vollendung. Das ift die Abficht, in welcher Fichte feinen Unis 
verfitätöplan entwidelt*). 


2. Lehrer und Schüler. 
Das Profefjorenjeminar. 

Die Bedingung aller wiffenfchaftlichen Thätigkeit und Ar⸗ 
beit liegt darin, daß man bie Kunft der wiffenfchaftlichen Aneig⸗ 
nung befist, das wiffenfchaftliche Verſtehen und Lernen, „bie 
Kunft des wiffenfchaftlichen Verſtandesgebrauchs⸗“. Diefe Kunft 
zu erziehen, ift die eigentliche pädagogifche Aufgabe der Univerfis 
tät, die dazu einen Vorrath von Kenntniffen, gleichfam den erften 
Stoff für die zu Abende Kunft, ald Frucht der niederen Gelehr⸗ 
tenfchule in dem Zoglinge vorausſetzt und, um ihre Aufgabe zu 
löfen, den letzteren nicht bloß als ſtummen Zuhörer nehmen darf, 

Ebendaſelbſt. I Abſchn. 5.4 u. 5. $. 13, Coral, 


990 


der auf gut Glüd ſich dem Einfluß ber Vorträge und dem eige- 
nen Genius überläßt; vielmehr fordert fie ein lebendige und 
perſonliches Eingehen des Lehrers auf den Schüler, einen Wech- 
felverkehr und eine fortlaufende gegenfeitige Mittheilung beider, 
welche nothwendig bie Form bed dialogifchen und ſokratiſchen Un: 
terrichtö annimmt. Der Schüler muß im Geifte der wiſſenſchaft⸗ 
lichen Kunft antworten und fragen lernen, er muß die Kunft der 
wiffenfchaftlichen Arbeit und Darflellung im fchriftlichen Vor— 
trage felbfithätig ausüben, indem er Aufgaben löft, weldye der 
Lehrer ihm fielt. Daher fordert jener akademiſche Wechſelver⸗ 
kehr Eramina, Gonverfatorien, Aufgaben und Ausarbeitungen, 
nicht zum Zweck des mechanifchen Einiernens, fondern in Abficht 
auf die zu erziehende Kunft des wilenfchaftlichen Denkens *). 

Diefer Zweck kann nicht durch eine beiläufige Beſchaͤftigung 

„ mit vwiffenfchaftlichen Obfecten, ſondern nur dann erfüllt werben, 

wenn ber alademifche Zögling mit feinem ganzen Leben fi in 
die Wiffenfchaft verfenkt und in ihr aufgeht. Daher forbert das 
atabemifche Leben eine ausſchließende Richtung auf die Zwecke 
der Wiffenfchaft und deßhalb eine völlige Abfonderung von der 
„allgemeinen Maſſe des gewerbtreibenden und bumpfgenießenden 
Bürgertjums”, eine Ifolirung von dem Getriebe der gemöhnlis 
chen Lebenöinterefien und eine Freiheit von dem Drud ber ge: 
wöhnlichen Lebensforgen, damit in dem akademiſchen Leben alle 
Intereffen gefammelt und gerichtet bleiben auf die Sache ber 
BWiffenfchaft. Gerade in diefer Rüdficht find die Heinen Univer⸗ 
fitätöftädte den alademifchen Lebendbebingungen günftiger als 
die großen **). 

Es ift der Zweck der Univerfität, wiſſenſchaftliche Künſtler 

*) Ehenbafelbft, J Abſchn. .5—8.9. . 

Ebendaſelbſt. I Abſchn. 5. 10. 


9 

zu erziehen. Darin liegt eine weitere Aufgabe, an welche bie bis 
herigen Univerfitäten Baum gebacht haben. Alles Leben will ſich aus 
ſich feioft fortpflangen, auch bad miffenfehaftliche und afabemifce. 
Es ift nicht genug, wiſſenſchaftliche Kunftfertigkeit zu erziehen, 
es müſſen auch folche erzogen werben, die felbft wieder im Stande 
find, wiffenfchaftliche Künftler zu bilden. Die Kunft der wiflens 
ſchaftlichen Künftlerbifvung nennt Fichte den höchften Grab der 
voiffenfchaftlichen Kunft. Die Univerfität, wie fie nach Fichte's 
Abficht werden fol, muß zugleich die Bedingungen in fich ents 
halten, um eine Pflanzſchule Tünftiger Univerfitätslehrer, ein 
„Profeſſorenſeminarium“ zu fein. Wir haben Seminarien für 
Prediger, Schullehter u. |. f., aber keines für akademiſche Lehrer. 
Wie das afademifche Lernen, fo bleibt nach den bisherigen Eins 
richtungen auch dad akademiſche Lehren dem Gerathewohl übers 
laſſen; keines von beiben wird gelernt, weil keines von beiden 
gelehrt wird, weil ed feine Erziehunggiebt, die ſich um die aka⸗ 
demifche Bildung kümmert, weil mit einem Worte unfere Unis 
verfitäten feine Exziehungsanftalten. find und fein wollen *). 


1. 
Die Ausführung bed Plans. 


1. Die philoſophiſche Kunſtſchule. 

Der Begriff einer wiſſenſchaftlichen Kunſtſchule giebt bie 
Grundidee, wonach Univerfitäten gegründet und umgeflaltet wer⸗ 
den follen. Die Ausführung deö Planes fordert die Anknüpfung 
an bie gegebenen akademiſchen Werhältniffe; dad vorhandene ges 
lehrte Erziehungsweſen ift der zu organificende Stoff. Wie der 
Entwurf einer neuen Nationalerziehung den Anknüpfungspunkt 
au feiner Verwirklichung in der vorhandenen peſtalozzi ſchen Schule 

*) Chenbafelbft, I Abſchn. 8.11 u, 12, 


992 


findet, fo bieten die vorhandenen Univerfitäten einen Ausgangs 
punkt für die wiflenfchaftliche Kunſtſchule in der afabemifchen 
Geltung der Philoſophie und des philofophifchen Unterrichts. Die 
Philoſophie ift die allgemeine Wiffenfchaft, welche die gefammte 
geiflige Thatigkeit wiſſenſchaftlich erfaßt und als Wiſſenſchafts- 
lehre den Beruf hat, das Reich des Wiſſens zu ordnen und zu 
durchdtingen. Bon hier aus läßt ſich die wiſſenſchaftliche Kunſt⸗ 
ſchule am erften in’s Leben rufen und geflalten. Zunachſt muß 
bie Ppilofophie in wiſſenſchaftliche Kunſt, der philoſophiſche Un- 
terricht in Kunſtſchule verwandelt werben. Es handelt ſich ba 
ber vor allem um die Bildung einer philofophifchen Kunſtſchule. 
Die Kunft der Philofophie ift dad Philofophiren. Phile 
fophiren lehren und philofophiren lernen ift daher die Aufgabe der 
philofophifchen Kunſtſchule. Wer biefe Kunft verſteht, iſt ein 
philoſophiſcher Künftler. Wer in einer befonderen Wiffenfchaft 
Künftler werden will, muß zuerft ein philoſophiſcher Künftter fein, 
denn bie befondere wiſſenſchaftliche Kunft ift nur die Beftimmung 
und Anwendung ber allgemeinen philoſophiſchen Kunſt. Da es 
fi nun im Philofophiren um dad methodifche Suchen und Auf: 
finden der wiſſenſchaftlichen Einficht handelt, fo würde der Zwec 
einer philoſophiſchen Kunftfchule verfehlt werden, wenn man ein 
fertiges dogmatifches Syſtem in den Vordergrund ftellen wollte, 
Die fertige Anficht, die ausgemachte Behauptung ruft ben Wi⸗ 
derftreit der Thefen und damit die Polemik hervor, die nicht in 
der Aufgabe der philofophifchen Kunftfchule liegt. Darum wird 
auch der bildende philofophifche Kunſtler zunächft nur einer fein 
dürfen, ber zwar Fein fertiges Syſtem lehrt, wohl aber ein fol: 
ches hat, denn er könnte das Philofophiren nicht lehren, wenn 

er nicht mit feiner Philoſophie zu Ende gelommen wäre, alfo ein 
philoſophiſches Syſtem hätte*). 

*) Ebendaſelbſt. II Abjn, 9.14 — 5. 18. 








993 


2. Die Fahmiffenfhaften und deren Encyflopäbie. 
Die Faeultãten. 

Wie die Philofophie von den grundlegenden Principien fort 
ſchreitet und herabfleigt zu den einzefnen Wiffenfchaften, das 
Reich des Willens ordnend, jedes befondere Zach begründend, 
eintheilend, umfaffend, die unphilofophifchen Beſtandtheile (die 
nicht Gegenftand des wiſſenſchaftlichen Berftandesgebrauchs find) 
ausſcheidend, fo wirb daffelbe die philofophifche Kunftichule thun 
und für jebeö befondere Fach den allgemeinen und umfaffenden Theil 
d. i. die Encyklopädie der beftimmten Wiſſenſchaft zur Grund: 
lage und zum Ausgangspunkte des wiflenfchaftlichen Unterrichts 
machen. Vermöge diefer encyklopäbifchen Grunblegung hängt 
jede befondere Wiſſenſchaft gleichfam in den Angeln ber Philoſo⸗ 
phie und wird von ihr getragen. Bei dem Encyklopadiſten in 
diefem Sinn ift die eigentliche Vertretung bed Fachs, in ihm ift 
der philoſophiſche Künftler und der Fachlehrer eine Perfon, und 
da Fichte's ganzer Reformplan darauf auögeht, den Geift und 
die Lehrart der Philofophie auf dem alabemifchen Unterrichtöges 
biete durchzuführen, fo erhelt von hier aus die Bedeutung, die 
er der encyklopadiſchen Vorlefung und dem Encyklopädiften bed 
Fachs zufchreibt. Jede encyklopadiſche Vorleſang giebt zugleich 
die gefammte auf das Fach in allen feinen Theilen bezügliche ir 
teratur, deren Kritik und die Anweiſung zur richtigen Auswahl 
und Art der Lectüre. Es iſt zu wiederholen, daß unter Ency⸗ 
klopädie hier nicht ein Aggregat, fondern die Wiffenfchaft in ih: 
ter inneren Bollftänbigkeit und „organifchen Ganzheit“ verſtan⸗ 
den fein will”). . 

Der Encyklopadiſt hat die Herrfchaft über das Zach, dem er 


*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $.19—21. 
diſqher, Geſchichte der Phllofophie V. 63 


994 


vorfteht; er kennt ed am gemauften, durchdringt ed am tiefftm 
und wird am beften wiflen, das Studium feiner Wiſſenſchaft in 
den befonderen Theilen zu leiten und den Lehrplan feftzuftelen. 
Um aber für jebe Wiflenfchaft den richtigen Encyklopadiſten zu 
finden und durch ihn ober mit ihm die Beſetzung ber unterm 
Eehrftellen zu beftimmen, fol der in einem Comit6 vereinigt 
Rath der erften Fachgelehrten gehört werben. 

Die allgemeinfte Wiffenfchaft ift die Philofophie, näcft in 
die Philologie „als das allgemeine Kunftmittel aller Verſtndi 
gung”. Die befonderen Wiflenfchaften find Mathematik un 
Geſchichte. Die gefammte Gefchichte theilt fich in die „Gefhiht 
der fliegenden Erfcheinung und in die ber bauernden“. Di 
erfte ift Die vorzüglich fo genannte Gefchichte oder Hiftorie mit ir 
ren Hülfswiffenfchaften, die zweite bie Naturgefchichte, dern 
theoretifcher Theil die Naturlehre. 

Vor dem Lehrplan ber wiſſenſchaftlichen Kunftichule erſchein 
die Trennung und Sonbereriften; ber fogenannten Zacultäten, 
insbefonbere der drei oberen, unhaltbar. Wenn man abjieit, 
was entweder nicht Gegenſtand des wiffenfchaftlichen Berflands 
gebrauch ift, wie z. B. die geoffenbarte Theologie, ober zu 
praktiſch⸗ techniſchen Einübung gehört, fo fallen Theologie un 
Jurisprudenz mit Ppilofophie, Philologie und Gefcyichte, die De 
biein mit der Naturwiſſenſchaft zufammen, und es ift Fein wiſſen 
ſchaftlichet Grund, fie als befondere Fächer davon abzutrennen ) 


35. Die afademifhe Genoſſenſchaft. 
Negularen, Nobizen, Socii. 
Wie nun der Lehrplan der wiffenfhaftlichen Kunftiule Ir 
diglich aus wiffenfhaftlichen Gründen beftimmt wird, fo organ 
*) Ghenbafelöft. IL Abſchn. 8. 22—27. 








x 95 ” 

firt ſich die Körperfchaft der Böglinge auch nur nach wiflenfchaft- 
lichen Motiven. Damit iſt von felbft jeder äußere Zwang ausge⸗ 
ſchloſſen. Die Theilnahme an ben Prüfungen und Converfato: 
tien fteht frei; fie charakterifirt dad erfte Lehrjahr. Ebenfo frei 
flieht die Eöfung der wiffenfchaftlichen Aufgaben; die gelungene, 
durch das fachkundige und Eunftverftändige Urtheil bewährte Leis 
fung charakterifirt den Beruf zum wiffenfchaftlichen Künſtler 
und damit den Antritt einer höheren Stufe. Aus der Maffe der 
Lernenden unterfcheidet fich jet eine befondere Claſſe, die fich 
aus freiem Antriebe organifirt. Sie flimmen überein in der Net 
gung und dem erprobten Talent für ein rein wiffenfchaftliches 
Leben. Daraus entfteht eine Genoffenfchaft, die zufammenlebt, 
einen einzigen großen Haushalt, eine ökonomiſche Gemeinichaft 
bildet, mit dem akademiſchen Lehrkörper im innigften Wechfels 
verkehr fleht: eine anerfannte Claſſe Studirender, für deren Ers 
haltung und forgenfreied Dafein direct auf Staatskoſten geforgt 
wird. Sie find unter den Stubirenden die „Regularen”, 
geihfam die „forgfältig gepflegte Baumfchule”, während bie 
übrige Maffe wild wächft und nicht eigentkich Angehörige, fon- 
dern nur „Bugewanbte” ober „bloße Seit der Univerfis 
tät find. 

Das ſtudirende Publicum theilt ſich demnach in dieſe beiden 
Hauptclaſſen: Regularen und Socii. Unter den letzteren werben 
ſolche ſein, die ſich einen Platz unter den erſten durch wiſſenſchaft⸗ 
liche Ausarbeitungen erwerben wollen, auch wiſſenſchaftlichen 
Sinn und Talent haben, aber noch nicht die Probe beſtanden 
(vieleicht auch die Probe ohne glücklichen Erfolg ſchon einmal ver⸗ 
fucht) haben: diefe „Candidaten der Regel” können fi von den 
übrigen Socii ald eine befondere Glaffe unterfcheiden und eine 
Privatgenoffenfchaft, eine Art „Noviziat” bilden, ein Ver: 

63* 


996 
bindungsglied zwiſchen den Regularen und den Socii. So un- 
terfcheibet fich das ſtudirende Publicum in Regularen, Novizen, 
Socii. 

Die Regularen ſind als Studirende erprobt und vom Staat 
anerkannt, fie bilden unter der Autorität und Garantie des let 
teren eine afabemifche Familie, unter befonderen Geſetze, deren 
Schutz fie durch Ausſtoßung verlieren. Dann treten fie in die 
Maffe der Socii zurüd und fallen, wie dieſe, unter die allge: 
meingültigen Polizeigefege. Ihr Unterfchied von dem übrigen 
fludirenden Publicum und ihre nähere Zufammengehörigkeit mit 
dem alabemifchen Lehrkörper fol durch ein mit ben Profefforen 
gleiches Ehrenkleid, welches fie tragen, nach außen kenntlich ge: 
macht werden. Aus den Regularen geht durch Erwählung er: 
probter Talente das Profefiorenfeminar hervor, aus biefem bie 
wirklichen Profefforen. Die ordentlichen akademiſchen Lehrer ha: 
ben ihr lernendes Publicum in den Regularen, die außerorbent: 
lichen fuchen dad ihrige unter den Socii*). 


4. Akademiker und Meiſter (Doctoren). 

Die alademifche Lehrthätigkeit bedarf einer eigenthümlichen 
Jugendfriſche und Geiſtesgewandtheit, die mit den Jahren abs 
nimmt, felbft ohne daß fich die Geiſteskraft vermindert. Darum iſt 
für die Univerfität, die einen felbftändigen Zweck zu erfüllen hat, 
eine fortwährende Erfriſchung der Lehrkräfte durch Erneuerung 
nothwendig und in demfelben Maße ein periobifches Außfcheiden 
ber alten. Die ausgeſchiedenen Lehrer werben befhalb nicht un: 
brauchbar. Wie aus den Regularen ein Profefforenfeminar her- 
vorgeht und eine Pflanzfchule Iehrender Künftler bildet, fo find 
dieſe letzteren felbft eine Pflanzfchule ausübender Künftler. Sol 

*) Ghenbajelbft. IT Abjn. $. 28—39, 





97 


die Wiffenfchaft wirklich Lebensrichtſchnur und „Wernunftkunft” 
werden, fo liegt es in der Natur der Sache, daß ein wiſſenſchaft⸗ 
liches Leben biefe drei Epochen durchläuft: die des lernenden, 
Iehrenden und ausübenben Künftlers. Die lernenden Künftler 
find die Regularen, die lehrenden bie Profefforen, die ausüben 
den die Staatömänner. Die auögefchiedenen Univerfitätslchrer 
treten in bie, höheren Gefchäftöfreife des bürgerlichen Lebens, fie 
können unabhängig vom Lehramt die Wiffenfchaft pflegen und 
fortbilben, fie find im mobernen (franzöſiſchen) Sinne des Worts 
Atademiker, und in Rückſicht auf die Angelegenheiten der Unis 
verfität bilden fie den „Rath der Alten”, der mit den ausüben 
den Lehrern zufammen ven „Senat" ausmacht. Zu biefen Afas 
demikern gehören auch die gelehrten Specialitäten. 

Wer die Erziehung der wiffenfchaftlichen Kunftfchule voll 
endet hat und diefe Vollendung durch die Probe bewährt, wirb 
Meifter (nicht der Künfte, fondern) der Kunft fchlechtweg. 
Das Meiſterthum allein giebt rechtmäßigen Anfpruch auf die ers 
fin Xemter im Staat. Die Probe befteht in einer fchriftlichen 
Arbeit, deren Aufgabe von ben Eehrern geftellt wird mit päba= 
gogifcher Rückſicht auf bie Geiſteseigenthümlichkeit des Candida: 
ten. Er fol zeigen, daß er Schwierigkeiten bemeiftern kann. 
Erſt darin zeigt fih der Meifter. Daher wird ihm ein Thema 
aufgegeben, welches für feine (dem Lehrer bekannte) Geiftesart 
befondere Schwierigkeiten enthält. Die Ausarbeitung gefchieht 
in der deutfchen Sprache, weil fie lebendig und ſchöpferiſch iſt. 
In der Philofophie Tann niemand Meifter fein, ohne zugleich Leh⸗ 
ter fein zu können. Daher ift der Meifter in diefer Wiffenfchaft 
nothwendig au „Doctor”. Nicht jeder Meifter braucht Leh⸗ 
ter zu fein, wohl aber jeber Lehrer Meifter. Daher hat der Doc⸗ 
torgrad ohne Meiftertypum Feine Bedeutung, er bezeichnet „bie 


998 


gewöhnlichen oder gemeinen Doctoren”, die man beffer „Zitulr: 
doctoren nennen follte, fie haben im günftigflen Falle bemielm, 
daß fie etwas gelernt haben und follten „docti“, aber nicht „do 
etores“ heißen*). 

Da und bier die pädagogifhe Aufgabe der Univerfität, we 
fie Fichte im Zufammenhange mit der Idee der Nationalerziefug 
faßt, hauptſächlich intereffirt, fo laſſen wir bei Seite, was fh 
auf die öfonomifchen Bedingungen der Anftalt bezieht, die At 
der Verwaltung, die Dotationen und Einkünfte, die Befolw 
gen und Remunerationen, die Vertheilung ber Regulatsſteln 
auf Kreife und Städte, die Zahlftellen, Befreiungen, Honorar 
: wfef Die Vorfchläge, die Fichte in diefer Rückſicht macht, ie 
rufen ſich auf die Beifpiele der englifchen Univerfitäten, der Stift 
und fächfifchen Fücftenfchulen. Ueberall, wo Fichte auf rein prik 
tifche Fragen eingeht, bemüht er fich, vieleicht im Gefühl, dej 
er in feinem Elemente nicht ift, um fehr genaue Detailbefim 
mungen, bie von ber Hauptſache abliegen**). 

IL 
Univerfität und gelehrte Welt. 


1. Die afademifhen Jahrbücher. 
Kunſtbuch, Stofſbuch, Bibliothek. 

Wichtiger als die bkonomiſche Seite der akademiſchen Er: 
anſtalt, iſt und die literariſche, die mit ber geiſtigen Aufgabe i 
unmittelbarem Zuſammenhange ſteht. Wenn die Univerfität da 
ihr eigenthümlichen Zweck erfült, fo ift ihre Fortentwidlung fr 
gleich eine Geſchichte der wiflenfchaftlichen Kunft, ein ununtr | 
brochener Fortgang und Fortſchritt des wiſſenſchaftlichen Erben 

*) Ehenbafelbft. IT Abfehn. 8. 40—45. 

**) Ghendajelbft. IL Abi, 5. 46—57, 


999 


Der Fortgang ift die immerwährende Anfriſchung und Erneuerung 
des afademifchen Körpers in Lernenden und Lehrenden; der Fort: 
ſchritt ober die Weiterbildung befteht in dem Wachsthum der 
wiffenfchaftlihen Kunft, die immer mehr Stoff in Wiffenfchaft 
auflöft und die Klarheit der auögebilveten Begriffe erhöht: in 
dieſer ertenfiven und intenfiven Zunahme, in diefer „Erweiterung - 
und Verklärung der Begriffe”. Diefe Gefchichte will documen⸗ 
tirt und in dem Archiv eines Buchs, das ſich periodiſch erneuert, 
niedergelegt werben. So entftehen die „Jahrbücher der wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Kunſt“, das eigentliche Journal der Univerfität, 
deren „acta literaria“. Das nächfte und unmittelbare Object 
‚einer folchen Zeitſchrift find die Ergebniffe und Früchte der eige- 
nen akabemifchen Arbeit; fie hat einen felbftändigen und aus eis 
gener Kraft gewonnenen Inhalt und darum nichtd gemein mit 
den gewöhnlichen Recenfiranftalten, Bibliothefen und Literatur⸗ 
zeitungen. Auch die Arbeiten der Studirenden, welche vor dem 
Urtheile der Lehrer die Probe beftanden haben, follten in diefe 
Zeitfchrift aufgenommen und Fein Stubirender zu einer gelehr⸗ 
ten Würbe zugelaffen werben, ber nicht einen ſolchen Beitrag 
aufweiſt. Der Plan einer. periodifchen Univerſitätszeitſchrift dies 
fer Art hat Fichte ſchon in Erlangen befchäftigt und gehört zu - 
feinen akademiſchen Reformibeen *). 

Es liegt im Intereffe und in der Aufgabe der akademiſchen 
Bildung, ‚über den jedemaligen Stand der Wiffenfchaft literas 
riſch orientirt und deßhalb im Klaren zu fein über den wiſſen⸗ 
ſchaftlich ſchon organifirten und den noch zu organifivenden Stoff. 
Man muß wiffen, wie weit in jedem Zeitpunkte bie wiffenfchaftz 


*) Ebendaſ. III Abſchn. 8. 58—60. Bol, Plan zu einem per 
riodiſchen fehriftftellerifhen Werke an einer deutſchen Univerfität (1805). 
© ®. III Abth. U Bd. S.207—216, 


1000 

liche Arbeit gebichen ift, und was als Aufgabe übrig bleibt. dr 
biefem Zwede forbert Fichte eine genau perisbifche Buchführung 
doppelter Art, er unterſcheidet nach jenen beiden Geſichtspunlien 
Kunſtbuch / und „Stoffbuch“. Im dad Kunftbuc der Unis: 
fität gehören die encyklopadiſchen Anfichten der Lehrer, der Inte 
geiff der wiffenfchaftlichen Einfihten in jebem einzelnen Zah, 
gleichſam das Corpus jeder Wiſſenſchaft, die probehaltigen Ar 
beiten der Schüler, die Beiträge ber Meiſter. Das Stoffbuh 
enthält ein wohlgeorbneted literarifches Repertorium und die auf 
der Univerfität gemachten wiſſenſchaftlichen Entdedtungen, dir 
den Stoff der Wiffenfchaft bereichern *). 

Was außerhalb der Univerfität in der wifjenfchaftlichen Welt 
literariſch geleiftet wird, muß auf dem Gebiete der Univerfität 
befannt und nu&bar gemacht werben. Die bloß hiſtoriſche Kennt: 
niß der neuen Bücher giebt der Meßkatalog. Diefe Kenntniß 
hat feinen Nuten. Die gewöhnlichen Eiteraturzeitungen par: 
phrafiren den Meßkatalog und haben für die Buchhändler einen 
mercantilifchen Nuten, aber Feinen wiffenfchaftlichen für Studi: 
ende. Es bedarf darum einer akademiſchen Zeitfchrift, meld 
die neuen Bücher fichtet und das irgend Werthvolle anzeigt le 
diglich in wiffenfchaftlicher Abficht: „Sahrbiicher der Fortfchrit 
des Buchweſens oder eine Bibliothek der Akademie” **). 


2. Wechſelverkehr der Univerfitäten. 

Die eigentlichen und nächften Zeiftungen der Univerfität find 
nicht literariſch, fondern didaktiſch und pädagogifch. Ale Unr 
derfitäten find beſtrebt, die wiffenfchaftliche Erziehung zu fördern 
Im diefer gemeinfchaftlichen Abſicht fühlen fie fic verbunden und 

*) Debuc, Plan u. f. f. III Abſchn. 8.6164. 

) Ehenbafelbft, III Abſqhn. $. 65. 


1001 


auf gegenfeitige Förderung angewiefen. Sie bedürfen deßhalb 
des fortwährenden lebendigen Wechfelverkehrs als Mittel zur Wech⸗ 
ſelwirkung. Defhalb follte jede Univerfität unter den Mitgliedern 
jeder anderen einen Repräfentanten haben, der ihr fchriftlich Be— 
richt erftattet, und ebenfo ſollte jede Univerfität einige ihrer Zög⸗ 
linge nach vollendetem Studium an andere Univerfitäten ſchicken, 
um dort zu leben und aud eigener Anfchauung die genauften und 
lebendigften Berichte zurüdzubringen. 

Auf diefe Weiſe kommen die Univerfitäten in ben friedlich 
ften und Heilfamften Wettkampf, fie erziehen und verbreiten Klars 
beit und Geifteöfreiheit, fie wetteifern in diefer Wirkfamkeit, die 
nothwendig eine Erneuerung der menfchlichen Verhaltniſſe herbei⸗ 
führt und in die große Idee der Nationalerziehung zugleich vollen 
dend und begründend eingreift”). 


*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. $. 66 u. 67. 

Die Orundgebanten ber Univerfitätsreform, melde Fichte in bem 
„bebucirten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranftalt” 
ausführlih entwidelt, find ſchon in einer etwas früheren, ebenfalls für 
bie preußifche Regierung beftimmten Dentſchriſt enthalten, ich meine bie 
„Ibeen für bie innere Organifation ber Univerfität Erlangen”. (Win 
ter 1805/1806). Nachg. W. Bb. III. ©. 275— 294. Die wahre 
bafte Akademie fei erft zu jchaffen, bie bisherigen Univerfitäten mit ihren 
Lehrvorträgen, welche zum großen Theil den Inhalt vorhandener Bücher 
tecitiren, feien unfruchtbar; an ihre Stelle foll die wiſſenſchaftliche Kunfte 
ſchule treten, bie den Buchinhalt in lebendiges Beſihthum der Schüler 
verwandelt, Daher ftatt ber fortfließenden Rebe bie wechſelſeitige Uns 
terredung, bie Prüfung und Anleitung des Schülers zu eigenen wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Leiftungen , welche die Fortſchritte der wiſſenſchaftlichen Kunfte 
bildung darthun, unb zur Aufnahme biefer Arbeiten eine fortlaufende 
Zeitſchriſt, welche bieſe Fortſchritte öffentlich bocumentiren fol: „Jahr 
bücher der Fortſchritie ber wiffenfcjaftlichen Kunft*. Je mehr die Uni: 
verfität in bie Aufgabe einer wiſſenſchaftlichen Kunſtſchule eingeht, um 


1002 


fo mehr gewinnt fie au) ben Charakter wirklicher alademiſcher Univer- 
falität, um fo mehr muß ber befchränfte Charalter der „Brovinzialuniver- 
fitäten® und bamit aud) bie „Univerfitätsfperre* aufhören. Fichte ſelbſt 
will in Jena innerhalb feines Lehrgebiete3 zum erftenmal den praftifchen 
Verfuch einer philoſophiſchen Kunſtſchule gemacht und bie Fruchtbarkeit 
berfelben erprobt haben. Wenn eine folde Ginrictung überall in das 
Lehrgebiet ber alademiſchen Wifienfchaften eingeführt und zum organifis 
enden Princip der gefammten alademiſchen Lehranftalt erhoben werben 
tonnte, fo würde damit jene Umbildung herbeigeführt werben, in ber 
Fichte die Heilfamfte Reform ber Univerfität findet. So bildet feine erfte 
alademiſche Lehrthätigleit in Jena ben Keim zu feinen ſpäteren bie Uni— 
verfität betreffenden Reformplänen, die dann in jenen Plan ber allge 
meinen Nationalerziehung einmünben, ben Fichte unter dem Einfluſſe 
Beftalozzi'3 faßt und ausbildet. Beide Männer begegnen einander in 
demſelben padagogiſchen Grundgedanken: Peſtalozzi's Ausgangspunlt 
unb Gebiet ift bie unterſte Stufe der Erziehung, die Vollsſchule; Fichtes 
Ausgangspunkt und Gebiet ift die höchſte Stufe der Erziehung, bie 
Univerfität. Doch giebt Fichte dem Gedanken eine Tragweite, bie alle 
Erziehungsgebiete ald organiſche Entwidlungsftufen in ſich begreift und 
planmäßig ordnet, 


Zehntes Kapitel. 
Die beiden Entwicklungsperioden der Wiffenfchaftstehre. 


J. 
Das Verhältniß der beiden Perioden. 


1. Anknüpfungspunkte. 

Die Schriften, deren Inhalt wir in den vorhergehenden Ca⸗ 
piteln entwickelt haben, find (mit Ausnahme bed Univerſitäts- 
plans) die von Fichte felbft herausgegebenen Hauptwerke feiner 
legten Periode, charakteriſirt Durch die gemeinfame Tendenz, die 
Grundgedanken der neuen Philofophie in der Form eroterifcher 
Lehre und öffentlicher auf weite Kreife berechneter Vorträge eins 
leuchtend zu machen und dadurch veformatorifch einzuwirken auf 
die Denkweiſe des Zeitalterd. Bei aller Verſchiedenheit ihrer 
Themata, die zum Theil durch die Zeitumftände veranlaßt wurs 
den, bilden diefe Schriften eine in fich zufammenhängende Reihe. 
Der Univerfitätöplan gehört in den Gefammtplan ber neuen Na- 
tionalerziehung, die das eigentliche Thema ber Reden an bie 
deutfche Nation ausmacht; diefe Reden bezeichnet Fichte felbft ald 
eine Fortfegung feiner Vorträge Über die Grundzüge bed gegen 
wärtigen Zeitalterö, welche legteren nach Fichte'8 eigenem Aus: 
fpruch mit den Anmweifungen zum feligen eben und mit den Vor- 

” 


1004 


leſungen über bad Wefen des Gelehrten „ein Ganze” bilden. 
Wie genau aber dieſes Ganze mit ber Glaubenölehre zufammen- 
hängt, die Fichte in feiner Schrift Aber die Beſtimmung des 
Menfchen entwidelt, darauf haben wir fchon früher ausdrüdlich 
bingewiefen*). Und die Schrift über die Beftimmung des Men- 
ſchen, welche die legte Periode des Philofophen eröffnet, bezeich- 
net wieberum Fichte felbft als das am weiteften gebiehene und 
fortgefchrittene Glied in jener Entwicklungsreihe feiner religion: 
phifofophifchen Ideen, deren erfied Glied der Aufſatz über den 
Grund unfered Glaubens an eine göttliche Weltregierung war, 
der bie Veranlaffung zu dem Atheismusſtreit gab. In dem Grund: 
gedanken, woraus die Wiffenfchaftslehre erleuchtet wird, ift bie 
Schrift über die Beflimmung des Menfchen einverflanden mit 
dem fonnenklaren Bericht und beide mit dem Verſuch einer neuen 
Darftelung der Wiffenfchaftölehre (aus dem Jahr 1797) und mit 
der Grundlegung der Sittenlehre. So knüpft fi) Glied an 
Glied, und wir fehreiten an der Richtſchnur fichte ſcher Schriften 
aus ber berliner Periode in bie jena’fche zurück, ohne das wir ir⸗ 
gendwo die Kette unterbrochen finden durch den Eintritt eines 
neuen Princips. 

Unterfcheiden wir die Themata der in bem legten Buch die 
ſes Werks von und betrachteten Schriften, fo find es folgende: 
ber erfte Verſuch einer neuen Darſtellung der Wiſſenſchaftslehre 
giebt den Begriff der abfoluten Identität ald den Grund und die 
Wurzel alles Bewußtſeins, ber. fonnenklare Bericht den Begriff 
der Wiſſenſchaftslehre ſelbſt, die Beſtimmung bes Menſchen den 
des Glaubens, die Grundzüge des gegenwärtigen Beitalters ben 
der Bernunftentwidlung ober der Gefchichte der Menfchheit, bie 


*) Bud) III dieſes Mb, Gap. II. S. 858859, 


1005 
Anweifungen zum feligen eben den Begriff der Religion, bie 
Reben an die Deutfchen den Plan und Entwurf einer neuen 
Nationalerziehung. Daß und wie biefe Themata unter einander 
zufammenhängen und fich gegenfeitig tragen, ſoll bie horange- 
gangene Darftellung fo ausführlich gezeigt haben, daß es über 
flüffig ſcheint, darauf zuräczukommen. 


2. Streitfrage in Betreff der fpäteren Lehre. 

Nachdem über den Text der legten Periode und ihren Zu: 
fammenhang mit der vorhergehenden diefe Thatfachen feftgeftelit 
find, wenden wir und zu ber flreitigen Frage, wie ed fich mit 
den Veränderungen und Umgeftaltungen verhält, welche die Wiſ⸗ 
ſenſchaftslehre in dem legten Abfchnitt der Geſchichte des Philo- 
fophen erfahren haben fol? Einige wollen hier eine fo wer 
fentliche Veränderung in den Grundgedanken Fichte's entbeden, 
daß fie von einer „neuen, fpäteren Lehre”, wohl gar von einem 
zweiten fichte ſchen Syſteme reden, während Andere beftreiten, 
daß überhaupt eine Veränderung ber Lehre ftattgefunben habe. 
Gegen die erfle Anficht zeugt die Thatfache, die wir bereits feſt⸗ 
geftelt und aus den Schriften Fichte's bewiefen haben: der nir⸗ 
gends unterbrochene Zufammenhang beider Perioden, wie er in 
den vom Fichte felbft herausgegebenen Merken am Tage liegt. 
Gegen bie zweite Anficht fpricht die Thatſache, daß Fichte immer 
von neuem verfucht hat die Wiſſenſchaftslehre darzuftellen, und 
daß die von ihm hinterlafienen Borlefungen der fpäteren Zeit ſich 
von der urfprünglichen Form des Syſtems vielfach umterfcheiden. 
Wir konnen nicht in Abrede fielen, daß in den ſpäteren Dar⸗ 
ſtellungen der Wiſſenſchaftslehre ſich eine eigenthümliche Veran⸗ 
derung geltend macht, aber wir beſtreiten (ſchon auf Grund der 
feſtgeſtellten Thatſachen) jeden Abbruch und erkennen in dieſer 


1008 


die Naturphilofophie an der Schwelle des neunzehnten! Cs ik 
der Geift der Aufklärung, von dem er fich durchdrungen fühlt, 
als er die Denkfreiheit vertheidigt, die Wiſſenſchaftslehre gründet; 
es find die Feinde ber Aufklärung, die er im Atheiömuöftreite be: 
kampft; es ift der Urheber der Naturphilofophie, den er zuerſt 
als den genialften Anhänger der Wiſſenſchaftslehre willkommen 
beißt. Dagegen in der legten Periode ift ed die Aufklärung dei 
achtzehmten Jahrhundert, die er ald platten Rationalismus tief 
verachtet, deren Urheber er in Locke's Philofophie findet, ber 
„ſchlechteſten“, die ed gebe, deren Typus er in Nikolai auffielt 
und geißelt, deren Zeitalter er in den Grundzügen ald das der 
- vollendeten Selbftfucht und Sünbhaftigkeit harakterifirt, bem 
er ben Untergang wänfcht und verkündet; jegt will er fogar un 
ter den erften Gegnern feiner Religionslehre, denen er den Bor 
wurf bed Atheismus zurüdgab, die Aufklärer nach dem Bor: 
bilde Nikolai's gemeint haben. Es ift daneben die ſchellingſche 
Naturphilofophie, die er in den Vorlefungen über dad Weſen dei 
Gelehrten warnend ald Rückfall in den alten Dogmatismüs be 
zeichnet, die er in den Grundzügen als Kehrfeite des platten Ro 
tionalismus, ald deffen Zwillingsgeburt, ald unächte Specule: 
tion, als eitel Schwärmerei und Phantafterei verurtheilt umd, 
wo er kann, erbittert befämpft. Und in bemfelben Maße, als 
ex biefe beiben (einander felbft entgegengefesten) Richtungen von 
fich abftößt, nähert er fich dem Gegner beider, einem Mann, 
mit dem er in der Beurtheilung der Tantifchen Lehre einverflan 
den, aber dem er in Abficht auf dad wahre Syſtem der Philoſo 
phie abfolut entgegengefegt war: ich meine Jacobi, mit Dem Fichte 
in feiner Beftimmung des Menfchen foweit übereinftimmt, daf 
er den Glauben als die einzig mögliche Erfaffung des wahrhaft 
Wirklichen bejaht; er nennt ihn im fonnenklaren Bericht einm 





1009 


mit Kant gleichzeitigen Reformator der Philofophie, in feiner 
Schrift gegen Nikolai einen ber erften Männer des Zeitalters, eis 
ned der wenigen Glieder in der Ueberlieferungdfette wahrer Gründ⸗ 
lichkeit. Jacobi's pofitive Bedeutung fteigt in den Augen Fichte'd 
in demfelben Maße, als feine Abneigung gegen die Verſtandes⸗ 
aufffärung, fein Widerwille gegen die ſchelling ſche Naturphilos 
fophie zunimmt. Ich will damit nicht fagen, daß Fichte bem Vor⸗ 
bilde Jacobi's nachgegangen fei und fich dem Einfluffe deffelben 
‚unterworfen habe, eine folche Gefügigkeit und Aneignung frem⸗ 
der Standpunkte lag nicht in feiner Art; aber wenn man für 
feine Glaubens» und Religionslehre, wie fie in der Beftimmung 
des Menfchen, den Grundzügen bed gegenwärtigen Zeitalters, 
den Anmeifungen zum feligen Leben hervortritt, einen mitbeftim- 
menden Einfluß von außen fucht, fo follte man nicht an Schleier- 
macher, fonbern vor allem an Jacobi denken. 

Es ift richtig, daß fich die Verwandtſchaften, die geiſtigen 
Afinitäten und Gegenfäge der Wiffenfchaftslehre mit der Zeit ge: 
ändert haben. Vergleicht man fie mit jenen beiden in Lebensan⸗ 
ſchauung und Literaturfreifen einander feindlichen Vorſtellungs⸗ 
arten, die man mit den Namen „Rationalismus (Aufllärung)” 
und „Romantik“ typifch zu bezeichnen liebt, fo kann nicht ges 
leugnet werben, daß in ihrem Fortgange die Wiſſenſchaftslehre 
fi) von dem erfteren ab⸗ und ber legteren zuneigt, obwohl auch 
bier die Rechnung nicht rein aufgeht. Denn wir dürfen nicht 
vergeffen, daß fich in Fichte mit der Freundfchaft für Schlegel 
der Widerwille gegen Schelling vereinigt. Ale diefe Beziehuns 
gen aber freundlicher und feindlicher Art, die in dem Leben und 
der Lehre des Philofophen während der legten Periode hervortres 
ten, gelten und nicht als Urfachen, fondern ald Symptome einer 
inneren Veränderung, welche die legte Entwidlungdform ber 

Bif@er, Geſqhlchte der Philofopbie V. 64 


1010° | 


Wiſſenſchaftslehre ausmacht. Es handelt ſich um die Einfiit 
in deren innere Urfachen. 
u: 
Die beiden Entwidlungsformen der Wiffen: 
ſchaftslehre. 

4. Die Entwidlungsform ber erſten Periode. 

Verfolgen wir den Gang der Wiffenfchaftölehre in ih 
erften Periode, die man auch wohl die urfprüngliche Form derie: 
ben nennt, fo zeigt fich ein allmaliges Wachsthum des Softems, 
welches, je weiter es greift und fein Reich ausdehnt, um fo tieſn 
und umfaffender auch fein Princip ausdrüdt. Das geſchicht 
allemal, wo ein Syftem von einem Grundgedanken aus ſich fr 
bendig entwidelt und nicht als etwas in allen Theilen Fertigd 
ſich bloß darftelt und auseinanderſetzt. ine ſolche Entwidlung 
befchreibt einen fletigen Fortſchritt, der an Feiner Stelle feinm 
Tert unterbricht. Und die fichte’fche Wiffenfchaftölehre bietet in 
eminenter Weiſe, ihrer fortfchreitenden Entwidlung und ber Ein 
beit ihres Princips fich in jedem Momente deutlich bewußt, Di 
Beifpiel eine ſolchen Syſtems. 

Mit der Aufgabe, dad Wiffen in der gewöhnlichen Fom 
der Erfahrung, das Syſtem unferer nothwendigen Borftellungn, | 
das empirifche Bewußtfein zu erflären, beginnt die Wiffenfaftt: | 
lehre unb zeigt, wie das begrünbende Princip nur eines fein und 
wie dieſes eine Princip nur in ber felbfleigenen That gefucht wer: 
den Tönne, die im Bewußtfein diejenige Bedingung fegt, une 
der dad Ich notwendig theoretifch ausfällt und eine Reihe 
umvermeiblicher Borftellungsweifen entwidelt: eine Bedingung 
bie, weil fie das theoretifche Ich begründet, eben darum nict 
aus ihm begründet werben kann. Jett ift biefe Bedingung fehl 





1011 


zu begründen, &o entfteht eine zweite Aufgabe, die aus ber ers 
ften nothwendig folgt. Es ift abzuleiten, woher jene urfprüng- 
liche Schranke im Ih, jene Selbfteinfchräntung kommt, bie 
für das theoretifhe Ich eine fefte Vorausſetzung bildet. Die Abs 
leitung kann nur aus dem abfoluten Ich gefchehen. Die Löfung 
der Aufgabe gefchieht durch das praktifche Ich. Jetzt erfcheint 
die Urthätigkeit ald Streben und das Ich als ein Syſtem noths 
wendiger Triebe, worunter die Borftellungdtriebe, von denen dad , 
Syſtem der nothwendigen Vorftelungen abhängt. Aber in dem 
unenblichen Streben ift felbft wieber eine neue Aufgabe enthalten, 
die aus dem Wefen des Ich folgt, darum nothwendig zu ihm ges 
hört, von ihm gefeßt und gelöft werben muß. Das Ich ift fich 
felbft Object, es ift in feinem Urftreben ſich felbft Zweck; das abe 
folute Ich ift Aufgabe, Idee. Die Idee deffelben ſoll verwirklicht 
werben; ber Urtrieb, der dad Syſtem aller übrigen Triebe fors 
dert und vollendet, ift der fittliche Trieb. Das praktifche Ich 
¶ Syſtem der Triebe) gründet ſich auf bad fittlihe Ich, auf 
das Ich ald Freiheitötrieb, als Freiheitögefeg (Sittengefeb), als 
Gewiſſen. Das Gewiffen umfaßt und begründet da gefammte 
Pflichtgebiet, auch die Rechtöpflichten; das fittliche Ich umfaßt 
und begründet das praktifche Ich auch in feiner Rechtöfphäre, 
das praktifche Ich umfaßt und begründet das theoretifche Ich, 
welches legtere das finnliche Ich und damit die Sinnenwelt in 
fich begreift. Die Grundform des theoretifchen Ich war die Eins 
bildung (Vorftelung), die Grundform des praftifchen das Stres 
ben (Xrieb), die Grundform des fittlichen dad Gewiffen. 
Durchlaufen wir die Kette der Bedingungen, in denen bad 
Syſtem der Wiffenfchaftölehre hängt, vorwärts (progreffio) fchreis 
tend von ber Bedingung zu dem Bebingten, fo lauten bie 
Sclüffe: Feine abfolute Einheit von Subjet und Object, Fein 
. 64* 


1012 


Ich als Selbſtzweck, Fein Ich als Trieb auf ſich felbft, Fein 
fittliches Ich, überhaupt Fein Ich ald Trieb, Fein praktiſches 
Ich (kein Ich als ausſchließende Freiheitäfphäre, Fein individuel- 
les Ich), Fein theoretifches Ich, Fein wahrnehmendes Ich (fein 
empirifched Bewußtfein), Feine Welt ald Object der Wahrneh⸗ 
mung, feine Sinnenwelt. 

Durdjlaufen wir diefelbe Kette, nach rüdwärts (regreſſiv) 
fhreitend von dem Bedingten zur Bebingung, fo lauten bie 
Sclüffe: Feine objective Weltvorftelung, fein empirifches Be 
wußtfein, kein theoretifches Ich (keine Einbildung, fein Ich als 
vorftelende Thatigkeit), Bein befchränktes Ich, Feine Selbftbe- 
ſchränkung des Ich, kein Ich ald Trieb, kein praktifches Ich, 
tein Ich ald Freiheitötrieb, Tein Ich ald Gewiffen, Fein fittliches 
Ich, kein Ich als Selbftzwed,, Fein Ich als abfolute Einheit von 
Subject und Object, überhaupt kein Ich, kein Selbſtbewußtſein. 

Wir müffen diefe Kette vollenden. "Steigen wir aufwärts 
in der Reihe der Bebingungen, fo fehlt dad letzte Glied; 
fleigen wir abwärts in der Neihe des Bebingten, fo fehlt das 
erſte Glied. Das Ich ald abfoluter Selbftzwed war die oberfte 
Formel, in der dad ganze Syſtem der Wiffenfchaftslehre enthal: 
ten war. Wäre dad Ich nicht diefer abfolute Selbſtzweck, fo 
wäre es Fein Ich. Wäre die Reihe aller durch das Ich gefebten 
Bedingungen diefem Zwecke nicht untergeorbnet, als fein Mate: 
rial und Mittel, fo wäre der Zweck nicht abfolut. Er wäre es 
nicht, wenn die Sinnenwelt, das finnliche und individuelle Ich 
nicht lediglich fein Mittel und Organ wäre, Das Ich ift diefes 
Organ ald Wille, der feiner Beftimmung unmittelbar gewiß ift; 
diefe Gewißheit ift Glaube, moralifcher Glaube, der eines ift 
mit der fittlichen oder pflichtmäßigen Gefinnung. Die perfönlic: 
fittliche Gefinnung ift dieſes Organ, nur fie. Die Gefinnung 


. 





1013 


wäre nicht ſittlich, wenn fie Erfolge außer fih wollte; und ber 
Zweck, der fie erfüllt, wäre nicht abfolut, wenn er diefe Erfolge 
nicht hätte, nicht das wahrhaft Wirkliche wäre, unabhängig von 
dem Willen und der Freiheitöfphäre der einzelnen Perfon. Sol 
daher jener abfolute Zweck (ohne welchen das Ich feinen innerften 
Grund und damit ſich felbft verliert) in Wahrheit gelten, fo muß 
er gelten als weltbeftimmender und weltorbnender Zweck, ald 
moralifche Weltorbnung, fo muß dad Ich ald Glied und Organ, 
nicht aber’ ald Schöpfer diefer Weltordnung (fich felbft) gelten, fo 
muß dieſe Ordnung angefehen werden ald dad Unbedingte, in 
fich felbft Beruhende, ſich felbft Vollziehende, als lebendige Welt: 
ordnung (ordo ordinans), ald Weltregierung, als göttliche Welt: 
regierung, ald Gott felbft. 

Das Ich ift nichts ohne den abfoluten Zweck, den es fich 
ſelbſt ſetzt; es ift nichts ohme dieſes Vorbild; dieſes Vorbild iſt 
nichts, wenn es ein bloßes Bild, ein Schatten des Ich iſt; es 
iſt wirkliches Vorbild nur, indem es Urbild iſt und das Ich ſein 
Abbild. Das Verhaltniß zwiſchen dem Ich und feinem abſoluten 
Zweck erreicht erft dann die gültige Form, wenn es ſich umkehrt. 
Der Zweck iſt das Unbedingte, Erſte; das Ich iſt unmittelbar 
davon abhängig und dadurch geſetzt, es iſt dad Bedingte und 
Zweite. Dieſe Umkehrung macht und in ihr beſteht der religiöſe 
Glaube. Die Gewißheit meiner ſittlichen Beſtimmung, der 
Glaube an die Pflicht iſt moraliſcher Glaube. Die Gewißheit 
der moraliſchen Weltordnung, der göttlichen Weltregierung, bie: 
ſes Gottesbewußtfein, iſt religiöfer Glaube. Glaube ich nicht, 
daß mein abfoluter Zweck Weltzwed ift, wie will ich an die Wirk: 
lichkeit und den ewigen Beſtand diefes Zwecks glauben? - Glaube 
ich nicht an diefen ewigen Befland, Eraft deffen der Zweck fort: 
dauert und fortwirkt, auch wenn ſich mein Wille davon zurüd- 


1014 


zieht, wie will ich noch glauben, daß biefer Zweck abfolut iſt und 
in Wahrheit meine höchſte Beflimmung? Wie will ic feiner 
auch nur moralifch gewiß fein? Der religiöfe Glaube erweitert 
und befeftigt nicht bloß, fondern begründet den fittlichen Glau- 
ben, die moralifche Gewißheit; diefe ruht auf ihm. So grün- 
det fich daß fittliche Ich auf das veligiöfe, wie ſich dad praktifche 
auf dad fittliche (die Triebe auf den Urtrieb) und dad theoretifche 
Ic) auf das praftifche gründet. Hier erft vollendet fich die Wiſ⸗ 
ſenſchaftslehre und erreicht den Punkt, der, je nachdem wir ih 
en Gang betrachten, das erfte oder letzte Glied ausmacht. Die: 
ſes Glied ift die Religion oder dad Gottesbewußtfein, dad reli⸗ 
giöfe Ich, das Ich als Bild Gottes. 

In ihrer erften Periode hat die Wiſſenſchaftslehre einen Ent: 
widlungdgang zurüdgelegt, der mit der Begründung des empiri- 
ſchen Bewußtſeins beginnt und mit der des religiöfen endet; fie 
ift emporgeftiegen von dem theoretifchen Ich zum praktifchen, zum 
fittlihen, zum religiöfen ; vom finnlichen Bewußtfein zum Frei: 
beitöberoußtfein, zum Gewiffen, zur Religion; von der Sinnen- 
welt zur fittlichen Welt, zur fittlichen Weltorbnung, zur gött⸗ 
lichen Weltregierung, zu Gott. Sie hat das religiöfe Ich als 
letztes Glied gewonnen, fie hat in diefem letzten Gliede zugleich 
den legten und tiefften Grund aller im Ich nothwendig geſetzten 
Beftimmungen erkannt, fie weiß, daß biefer legte Grund in 
Wahrheit der erfte ift. Hieraus ergiebt fich die einleuchtende 
Aufgabe, jest ihren Gang umzukehren, von dem erften Gliede 
auszugehen und ihr ganze Syſtem aus biefem Princip zu ent: 
werfen. Diefe Aufgabe leitet die letzte Periode der Wiſſenſchafts⸗ 
lehre. Wenn hier ein Abbruch wäre, fo müßte derfelbe da ge: 
ſucht werden, wo Fichte den Uebergang macht von dem fittlichen 
Glauben zum religiöfen, alfo in einem Punfte, ber innerhalb 





1015 


der erften Periode liegt. Iſt aber in diefem Punkte ein ununters 
brochener Fortgang, fo ift nirgends ein Abbruch, 


2. Die Entwidlungsdform der legten Periode. 

= Die Wiſſenſchaftslehre als Theofophie. 

Die Aufgabe ift: dad Syſtem der Wiffenfchaftölehre in feis 
nem ganzen Umfange aus einem Guß und bem einen Princip dar: 
zuftellen, welches ber religiöfe Gefichtspunkt fordert... Diefe Auf: 
gabe hat Fichte gehabt und fich geſetzt, aber nicht gelöft, weil 
ihm der Tod zuvorfam*). Es bleiben daher nur Bruchftüde, 
Verſuche und Skizzen zur Löfung übrig, abgefehen von jenen po: 
pulären Vorträgen, aus denen der Charakter der neuen Entwid- 
lungsform unverkennbar hervorleuchtet, wie das leßte Buch ber 
Beftimmung des Menfchen, die Vorträge über dad Wefen des 
Gelehrten, die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalterd und vor 
allem die Anmeifungen zum feligen Leben, die Fichte felbft als 
den „Gipfel und helften Lichtpunkt“ diefer feiner populär ent 
widelten Lehre bezeichnet. 

Es ift auch unmittelbar klar, in welche Beleuchtung die 
Wiſſenſchaftslehre durch diefe neue Entwicklungsform eintritt. Ihr 

Princip ift das Ich ald Wild oder unmittelbarer Ausdruck Got: 
ted. Alle im Ich und durch daffelbe nothwendig gefehten Ber 
flimmungen erfcheinen jegt ald Offenbarungsformen des göttlichen 
Lebens, und die Wiffenfchaftölehre felbft, ohne die Richtſchnur 
bes kritiſchen Idealismus zu verlaflen, ſtützt fich ald Spftem auf 
eine veligiöfe oder theofophifche Grundlage, auf den Begriff des 
abfolut Realen, auf Gott. Daraus erflärt fi) noch näher 
jene ſowohl gegen die Verſtandesaufklarung ald gegen bie Naturs 


*) Bol, II Buch dieſes Vd. Cap, VL S. 335. 


1016 


philofophie gerichtete Abneigung, welche den neuen Entwicklungs⸗ 
gang der Wiſſenſchaftslehre auf Schritt und Pritt begleitet. 

Wird aber Gott ald Princip des Ich, als der ewige Urgrund 
aller.Erfcheinungen begriffen, fo muß der Begriff Gottes fo ges 
faßt werden, daß er unabhängig ift von allen erft im Ich mög: 
lichen und durch daſſelbe gefeßten Beftimmungen, unabhängig 
alfo von allen Unterfchieden, aller Mannigfaltigkeit, aller Ver⸗ 
änderung: er muß gefaßt werben ald dad eine fich felbft gleiche, 
wandelloſe, unveränberliche Sein, ein Begriff, der auf ben er⸗ 
fen Bli an eleatifche oder neuplatonifche Vorſtellungsweiſen er 
innern, aud) eine Verwandtſchaft mit Spinoza zeigen Bann und 
daher in der fichte ſchen Wiſſenſchaftslehre einen frembartigen Ein: 
drud macht. So ift ed gefommen, daß man bie neue Entwid- 
lungsform ber letzteren für eine neue Lehre gehalten hat, bie ber 
urfprünglichen Lehre Fichte's widerftreite und geradezu mit ihr 
breche, 


b. Die Wiſſenſchaftslehre als Identitãtslehre. 

Indeffen liegt auch hier der Zufammenhang beider Entwid: 
lungöformen beutlich am Tage, und die zweite erfcheint auch in 
diefem Punkte als die nothwendige und ununterbrochene (in ber 
Form der Umkehrung gebotene) Fortführung der erften. Das 
Ich ift in feinem Wefen nothwendig die abfolute Identität von 
Subject und Object; es ift in feiner Form (in dem Acte des 
Selbſtbewußtſeins) nothwenbig die Trennung beider. Ohne jene 
Identitaͤt Fein Ich, ohne dieſe Trennung auch Fein. Im 
Grunde des Ich find Subject und Object unmittelbar eines und 
müſſen es fein, fonft wäre dad Ich unmöglich; im Ich felbft find 
fie getrennt und müſſen es fein, fonft wäre dad Ich ebenfalls un- 
möglich. Sie find getrennt und ſollen daher durch dad Ich ver: 





1017 


einigt werben. So wirb jene Einheit in ber Wurzel des Ich zur 
Getrenntheit im Ich und ebendadurch zur Aufgabe der Vereini: 
gung für dad Ich. Ohne diefe Aufgabe der Vereinigung, in wel 
her Einheit und Trennung verbunden find, ift dad Ich unmög- 
lich. So wirb der. Grund des Ich zu deſſen Aufgabe und Zweck. 
Ober, was baffelbe heißt: der abfolute Zweck des Ich muß ge: 
fest werden als deſſen Grund. Das ift der Punkt, auf deffen 
Einficht alles antommt, um den Uebergang von ber erften Ent: 
wicklungsform der Wiffenfchaftölehre zur zweiten richtig zu ver⸗ 
ftehen und zu beurtheilen: derfelbe Punkt, den wir, um jenen 
Uebergang begreiflich zu machen, ſchon erhellt haben. Was im 
Grunde des Ich ewig eines ift, fol in der Aufgabe oder im End» 
zwecke des Ich wieber vereinigt werden. Die Einheit iſt; bie 
Vereinigung ſoll fein; zwifchen beiden die Trennung, ohne wel: 
he die Vereinigung unnöthig wäre, Das Bewußtſein trennt, 
was unmittelbar eines ift; die Trennung forbert die Vereinigung, 
fie verwandelt dad Sein in ein Sollen. Hebe jenes Sein 
(die Identität) auf, und das Ich ift unmöglich; hebe diefes 
Sollen auf, und die Vereinigung, die Trennung, dad Bes 
wußtfein, dad Ich ift unmöglih. Won der Einheit durch die 
Trennung zur Vereinigung: das ift der Typus des ganzen Lehr: 
begriffs. Sein Inhalt ift die abfolute Identität ald Grund und 
Zweck des Ich, ald Sein und Sollen, ald ewiger Lebensgrund 
und ewiges Lebensziel, als göttliches Leben. Im ber Anerken⸗ 
nung unferer zu löfenden Aufgabe, unter dem Zwange des Sol: 
lens, leben wir fittlich; in der Erkenntniß der ewig gelöften 
Aufgabe, hingegeben an das göttliche Sein, leben wir felig. 
Das göttliche Leben ift alles in allem, dad AU-Eine. In Rüd- 
ficht auf dieſes Thema geftaltet fih die Wiſſenſchaftslehre zur 
Identitätslehre, Wenn fie als Theofophie der Naturphilo: 


1018 


phie wiberftreitet, fo wetteifert fie mit ber letzteren ald Ipentitätd- 
pbilofophie, ein Wetteifer, der die Entgegenfegung nicht vermin: 
dert, fonbern nur dazu beiträgt, fie zu fchärfen. 

Daß aber die Identitätölehre in der‘ Wiffenfchaftöiehre an: 
gelegt ift, daß biefe Anlage fchon in der erften Entwicklungsperiode 
deutlich hervortritt, um fo deutlicher, je tiefer die Unterfuchung 
dringt und fortfchreitet, das ift von und wieberholt gezeigt wor: 
den. Ich erinnere an die Grundlegung ber Sittenlehre, an ben 
Verſuch einer neuen Darftellung der Wiffenfchaftslehre vom Jahr 
1797, an bie gleichzeitige zweite Einleitung in die Wiſſenſchafts⸗ 
lehre, an den fonnenklaren Bericht, wo Fichte die Identität „Das 
Unbedingte und Charafteriftifhe des Selbftbewußtfeins” nennt, 
an das zweite Buch der Beftimmung des Menſchen, in welchem 
Fichte aus dem Princip der Identität die Thatfachen des Be— 
wußtſeins erleuchtet*). 


3. Die Wiffenfhaftslchre vom Jahre 1810. 

Bon den fehriftlichen Urkunden diefer neuen Entwicklungs⸗ 
form der Wiffenfchaftölehre hat Fichte felbft nur eine herausgegeben, 
die ald Schluß feiner Wintervorlefung von 1809/1810 die kurze 
Summe des Ganzen enthält: „bie Wiſſenſchaftslehre in ihrem 
allgemeinen Umriffe” **). 

Es bleibt dabei, daß es ſich in der Wiſſenſchaftslehre um 
die Erflärung und Begründung ded Willens, um das Wiffen 
ſchlechtweg und in biefer Frage um dad wahrhaft Seiende han- 
delt. Das wahrhafte Sein ift das abfolute Sein, welches durch 
ſich ift, wodurch alles andere if. Das abfolute Sein ift Gott, 

*) Vgl. Bud III dieſ. 3b. Cap.II. S. 476, Cap. XII. &. 689 
flgd. Bud IV. Cap.I. S. 801—804, S. 809, Cap. IL ©. 818. 

*) 6, W. JAbth. II Bd. S. 693— 709, 


1019 


er ift das eine, wanbellofe, unveränberliche Sein. Setzen wir 
in Gott die Trennung von Subject und Object, fo ift die abfo: 
Iute Einheit, das abfolute Sein und damit dad Weſen Gottes 
aufgehoben. In eben diefer Trennung befteht das Wiffen. Das 
Wiſſen fest Unterfchiede, von denen das göttliche Sein unabhäns 
gig ff. Daher ift das Wiffen nicht Gott, es ift von Gott uns 
terfchieben, e if außer Gott. Nun ift das göttliche Sein alles 
in allem. Mithin ift dad Wiffen Sein Gottes außer Gott, d. h. 
es ift „Aeußerung Gottes”, nicht eine Wirkung Gottes, 
denn dieſe würbe ben Charakter der Veränderung in fich fchließen, 
fondern unmittelbare Folge des abfoluten Seins, deffen „Wild 
oder Schema”. Nun ift außer Gott Fein Sein an ſich denkbar, 
kein inneres auf fich beruhendes Sein, fein vom Wiffen unab» 
hängiges; alfo befteht alles Sein außer Gott im Wiffen, alles 
Sein außer Gott ift Bild oder Schema Gottes *). 

Nicht um eine Verwirklichung Gottes ift ed zu thun, denn 
ex ift abfolut wirklich, fondern um eine Verwirklichung des Bil: 
des Gottes oder des Wiſſens. Nicht durch Gott kann diefe Ver⸗ 
wirklichung gefchehen, nicht er felbft macht fein Bild, denn die 
wäre eine Veränderung in ihm felbft, die mit feinem Weſen ftreis 
tet, fondern dad Wiffen vollzieht aus eigenem Vermögen das 
Bild Gottes ober, was daſſelbe heißt, es verwirklicht fich felbft. 
Es ift daher zu faffen als ein felbftthätigeö, freies, entwicklungs⸗ 
fähiged Vermögen. Alles Sein aufer Gott ift Selbfiverwirk- 
fihung und Selbftentwidlung des Wiſſens. Alles Sein außer 
dem abfoluten Sein ift Aufgabe, nur zu löfen im Wiffen. Die 
Löfung ift dad im Wiſſen vollendete Bild Gottes. Wie ge: 
ſchieht diefe Vollendung? 

Alles Wiſſen iſt für ſich, es iſt Selbſtanſchauung, ſich ſelbſt 

*) Die Wiſſenſchaftslehre in ihrem allg. Umriſſe. 8. 1. 


1020 


Sehen. Was es ift, das fol es ausdrücken, dazu fol es ſich 
(aus ſich) entwideln. Es ſoll ſich feldft fehen ald Bild des gött- 
lichen Lebens. Im dieſer Aufgabe ift eine Reihe von Aufgaben 
enthalten. 

Das Wiſſen ift Bild, es ift näher gefagt dad Vermögen 
oder die Thätigkeit bed Bildens. Um ſich als diefe Tätigkeit 
zu erkennen, muß ed diefelbe entwideln, es muß bilden, e8 muß 
fein Product ald Bild erkennen, d. h. von etwas unterfcheiben, 
das ihm nicht ald Bild, nicht als fein Product, ſondern als 
Wirklichkeit oder von ihm unabhängiged Object erfcheint. Bevor 
das Wiffen ſich felbft ald Bild und bildende Thätigkeit einleuch- 
ten kann, muß ihm etwas ald unmittelbare Wirklichkeit einleuch⸗ 
ten. Außer dem Wiffen (ald Bild Gottes) ift nichts wirklich, 
Alfo kann das Wiffen nur feine eigene Wirklichkeit unmittelbar 
vorftelen, ohne fich feiner vorftellenden und bildenden Thätigkeit 
darin bewußt zu fein. Seine reflerionslofe Selbftanfchauung ift 
das Erſte. Das Product (Bild) erfcheint ald vorhandenes Ob- 
jet. Das Anfchauen ift ein „Hinfchauen”. „Das Wiſſen ift 
unendliches, ſelbſtaͤndiges, wirkfames Sein. Es ſchaut feine 
Unendlichkeit hin als Raum, feine Selbftändigfeit als Dafein 
im Raum, ald raumerfüllendes Dafein, ald Materie, feine 
Wirkſamkeit als blinded Vermögen zu wirken, als ein Getrieben 
werden, ald Trieb, ald Trieb zur Wirkſamkeit auf die Körper: 
welt, darum ald unmittelbare Beziehung der Körperwelt auf fein 
eigenes Dafein, d. h. es ſchaut nicht bloß Körper, fondern ihm . 
fühlbare, ſinnlich wahrnehmbare Körper, Träger innerer Quas 
litäten. Es muß ſich felbft in unmittelbarer Beziehung auf die 
Körperwelt d. h. felbft ald Körper erfcheinen; ed muß andere 
Körper auf feinen Trieb beziehen und erfcheint fich deßhalb als 
Sinn; es muß die Wirkfamkeit feines eigenen Körpers un 


1021 


mittelbar auf andere Körper beziehen und erfcheint fich deßhalb als 

Organ. Es ſchaut feine eigene Wirkfamkeit hin ald unend⸗ 

liches gegebenes Vermögen, d. h. als eine unendliche Reihe auf ein: _ 
ander folgender Glieder, ald Zeit. Und da eö diefe feine Wirk- 

famfeit unmittelbar auf bie Körperwelt bezieht, fo erfcheint ihm 

auch die Körperwelt ald gegeben nicht bloß im unendlichen Raum, 

fondern auch in der unendlichen Zeit. Dieſes ganze Gebiet der 

Anſchauung iſt die unmittelbare (reflerionslofe) Selbftanfhauung 

des Wiſſens, dad bewußtloſe Product und Bild deffelben, der 

Ausdrud des bloßen Vermögens*). 

Das Gebiet der Anfchauung ift unendlich, unbeftimmt, 
mannigfaltig. Nun ift die Anſchauung der Sinnenwelt in Raum 
und Zeit die unmittelbare Selbſtanſchauung des Wiffend. Diefe 
Selbſtanſchauung ift darum eine mannigfaltige, eine Mannigfals 
tigkeit Sichanfchauender d. h. „eine Welt von Ichen”. Jedes 
hat fein Anfchauen für fich, es ift unmittelbar anſchauend fein 
Anfchauen, es ift in diefer Anfchauung ein einziges, in fich vers 
ſchloſſenes, gefondertes, jedem anderen unzugängliches Ich, ein 
Individuum. Auf dem befchriehenen Gebiete der unmittel⸗ 
baren Selbſtanſchauung zerfällt daher das Wiffen in bie Vielheit 
getrennter einzelner Individuen**). 

Dad Wiffen fol ſich einleuchten als Bild, ed muß ſich das 
her von etwas unterfcheiden, dad ihm nicht ald Bild, fondern 
als unmittelbare Wirklichkeit einleuchtet, es muß fich von feiner 
Anſchauung unterfcheiden, es muß ſich Daher als Anfchauung und 
deßhalb (innerhalb der letzteren) ald Individuum vollziehen. Jetzt 
unterfcheidet fi) das Wiſſen von der Anſchauung; und da diefe 
im Triebe wurzelt und „zufolge des Triebes dad Vermögen am 

*) Ebendafelbft, $.2— 8.9. ©. 697— 702, 

*) Ehendajelbft, 8.11, S. 703 flgd, 


1022 


Anſchauen hängt und in demfelben gefangen bleibt, fo ift der 
Act, wodurch dad Wiffen fid) von ber Anſchauung unterſcheidet, 
eine Losreißung vom Triebe, eine Erhebung über das ganze Ge: 
biet der Anfchauung. Jetzt fieht dad Wiffen unmittelbar fein ei- 
genes Licht, es fchaut ſich nicht mehr hin, fondern fieht fich ein, 
es ift (nicht mehr Anfchauen, fondern) Denken, Intelligiren, 
reines Denken“). Das Gebiet der Anſchauung war unendlich 
mannigfaltig, das Denken ift Einheit. In der Anfchauung 
zerfallt das Wiſſen in die vielen Ich, in eine Welt getrennter 
Individuen; indem es fic) von der Anfchauung unterfcheidet und 
denkend erfaßt, ift ed dad eine Ich und erkennt ſich als ſolches 
in der gegebenen Vielheit der che, es erblidt fich in einer Welt 
(nicht mehr getrennter, fondern) gleicher Individuen, es forbert 
deren gegenfeitige Anerkennung, bie unmöglich wäre, wenn je: 
des Individuum feine befondere Welt für fich hätte, wenn nicht 
für jedes Individuum die Sinnenwelt (dad Gebiet der Anſchauung) 
diefelbe wäre, wenn nicht alle in ihrer Grundanfchauung über: 
einftimmten. Die Einheit bes Ich macht die urfprüngliche Ueber- 
einftimmung der Individuen in Rüdficht der Anfchauung und 

* Sinnenwelt. Daß die Sinnenwelt für alle diefelbe ift, diefe ihre 
„allgemeine Uebereinſtimmbarkeit / macht ihre Wahrheit und Rea- 
tät; fie hat Beine andere**), 

Im Denken erkennt ſich das Wiffen (fieht fich ein) als bad 
eine Ich, deffen Träger unmöglich die Anfhauung oder ein 
Object der Anfchauung, alfo unmöglich das Individuum fein 
Tann. Das Denken begründet die Anfchauung, alfo kann es 
nicht durch fie begründet fein; es kann feinen Grund und Trä 
ger nur in dem einen Sein haben, welches durch fich iſt, in dem 

*) Ebenbafelbft. 8.10, ©. 702— 703. 

**) Ebendaſelbſt. $. 10. ©. 702. 708, 8. 11, ©. 704—705, 


1023 


abfoluten Sein, unmittelbar in ihm. 8 erblidt ſich als unmit⸗ 
telbare Folge des göttlichen Seins, ald Bild Gottes, ald Ver: 
mögen dieſes Bildes, „ald fein könnend allein Schema bed gött⸗ 
lichen Lebens". Wiffen ift Bild, Schema. Wenn fi dad Wif- 
fen erfennt als Bild Gottes, fo ift diefes Wiffen Bild des Bil: 
des, Schema ded Schema, Schatten des Schattend; es ift ald 
bloßes Wiſſen leer, es ift nicht, was es feinem Weſen und Ver: 
mögen nad) ift, denn als wirkliches Vermögen ift es Bild Got: 
tes; ..ald bloßes Selbftbewußtfein dagegen ift ed nur Bilb des 
Bildes. So ift dad Wiffen nicht, was ed in Wahrheit ift, 
was e3 fein fol. Bild Gottes zu fein, ift in dem leeren Wiſſen 
oder in dem bloßen Selbftbewußtfein (Ich) die nicht erfüllte Be 
fimmung, das nicht vollzogene Vermögen, alfo bie zu erfüllende 
Beftimmung, dad auszuwirkende Vermögen, nicht bloß ein Kön⸗ 
nen, fondern ein Sollen. Indem das Wiſſen diefe feine Leer 
heit und Nichtigkeit ald bloßes Wiffen einfieht, befinnt es ſich 
auf fein wahres Wefen und erfaßt fein Können ald Sollen*). 
„Wenn ich nun von einer Seite fallen laſſend das nichtige Anz 
ſchauen, von der anderen das leere Intelligiren, mit abfoluter 
Freiheit und Unabhängigkeit davon mein Vermögen vollziehe, was 
wird erfolgen?" „Ein Wiffen, deſſen Inhalt weder hervorgeht 
aus der Sinnenwelt, denn biefe ift vernichtet, noch aus ber Bes 
trachtung ber leeren Form des Wiffend, denn auch diefe habe ich 
fallen laſſen, fondern dad da ift durch fich felbft, fchlechtweg, 
wie es iſt, fo wie das göttliche Leben, deffen Schema es ift, ſchlecht⸗ 
weg durch fich felbft ift, wie es iſt. Ich weiß nun, was ich 
fouen,u 

Mein Sein ift mein Sollen. Diefed Sol ift hell einleuch⸗ 

*) Ebendafelbft. $..10. S. 703. $. 12. ©. 705706, 

**) Ghendafelbft. $. 13. ©. 706— 707. 


1024 


tend, einfach und abfolut. Werm ich aber, was ich foll, nur 
weiß, fo ift dad Sollen Object des Wiſſens, Bild des Bildes 
und finft in die Schattenwelt. Es ift nicht Schatten, fondern 
Iautere Wirklichkeit, nicht bloßes Wiffen, nicht Product mei: 
ned Vermögens, fondern beffen treibendes Princip; es ift nicht 
durch mein Können bedingt, fondern beffen Bebingung. Das 
von dieſem Sol zugleich erleuchtete und getriebene Bermö- 
gen ift der Wille, einfach und abfolut in fi), ein reales und 
zugleich intelligente Princip, derjenige Punkt, in welchem In: 
telligiren und Anfchauen oder Realität ſich innig durchdringen. 


Der Wille ift das wirkliche Bild Gottes. So endet die Wiffen- 


ſchaftslehre „in eine Weisheitslehre, das ift in den Rath, nad) der 
in ihr erlangten Erkenntniß, durch welche ein in fich felbft kla⸗ 
ver und auf ſich felbft ohne Verwirrung und Wanken ruhender 
Wille allein möglich ift, ſich wieder hinzugeben dem wirklichen 
Leben, nicht dem in feiner Nichtigkeit Dargeftellten Leben des blin- 
den und unverftändigen Triebes, fondern dem an und ſichtbar 
werben follenden göttlichen Leben*).” 

Hier haben wir die von Fichte felbft beurkundete neue Dar: 
ftelung der Wiffenfchaftslehre, nicht ausgeführt, fondern fEizzirt, 
aber fo, daß und der Typus biefer neuen Entwidlungsform voll: 
kommen einleuchtet. Won dieſem ficheren Punkte aus nehmen 
wir zum Abſchluß unferes Werkes die Einficht in den endgültigen 
Stand der Wiffenfchaftslehre und orientiren und über die Lei: 
flungen der legten Periode, fo weit fie die fpecielle Ausbildung 
der Wiflenfchaftölehre betreffen und aus dem Nachlaffe Fichte’ 
bekannt find. 

*) Ebendaſelbſt. 8.13. 14. &, 707— 709, 


Elftes Capitel. 


Nachgelaffene Schriften. Uene Sorm der Begründung und 
Anwendung des Syſtems. 


Die Thatſachen des Bewußtſeins und die neue Staatslehre. 


L 
Neue Form der Propädeutik, „Die Thatfahen bes 
Bemwußtfeins.” 
Borlefungen bon 1810/1811 und 1813, 


Alle übrigen auf die Wiffenfchaftölehre bezüglichen Arbeiten 
der letzten Periode gehören in ben Nachlaß des Philofophen und 
find faft ſammtlich akademiſche Vorträge, bie mit immer neuer 
Gewandtheit danach ftreben, den Begriff und die Aufgabe, den 
Geift und die Methode der Wiffenfchaftslehre einleuchtend und 
anfhaulid zu machen. Das Neue und Intereffante liegt in der 
Lehrart und in der dibaftifchen Wendung. Für die didaktiſche 
Behandlung eines Syſtems find zwei Vorftellungsweifen befon- 
ders fruchtbar: die propädeutifche Begründung und die Anwen: 
dung. Daher fuchen wir unter jenen nachgelaffenen Vorträgen 
mit befonderem Intereffe zunächft diejenigen auf, welche die zur 
Weisheits⸗ oder Lebenslehre entwidelte Wiffenfchaftölehre propä= 
deutiſch begründen. Es find die Vorlefungen über „bie That 


fachen des Bewußtfeind” aus dem Winter 1810/11 und aus dem 
Bilder, Geſchichte der Pbllofephie V 65 


1026 


Sommer 1813. Die erfte und wichtigfle wurde bald nad) bem 
Tode des Philofophen aus dem Nachlaß herausgegeben (1817). 

Die propadeutiſche Begründung ift allemal eine Probe di: 
daktifcher Kunft, und Fichte war ein Meifter im Lehren. Wir 
haben diefe Meifterfchaft Eennen gelernt an den beiden Einleitun- 
gen in bie Wiffenfchaftsiehre vom Jahr 1797. Wie fich jene 
beiden Einleitungen zu der erften Entwidlungsform der Wiffen: 
ſchaftslehre, ähnlich verhalten ſich die beiden Worlefungen über 
die Thatfachen des Bewußtſeins zur zweiten, nur daß ihre Aus: 
führlichkeit die Grenze der propädeutifchen Abficht überfchreitet. 
Die Vorlefungen aus dem Jahre 1813 find nur ffizzirt, weniger 
entwidelt, auögearbeitet, didaktiſch geordnet, ald die früheren 
Vorträge, aber in manchen Punkten fehr erleuchtend, namentlich 
in ber ſummariſchen Charakteriftit der Wiflenfchaftölehre*). 


1. Die Wiffenfhaftölehre ala Phänomenologie. 
Die Wiſſenſchaftslehre giebt die Entwicklungsgeſchichte des 
Bewußtſeins von der niebrigften Stufe bis zur höchften, von ber 
äußeren Wahrnehmung bis zum feligen Leben. Die Haupt 
epochen diefer Entwicklung find die Thatfachen des Bewußtſeins, 
die jeder in fich vorfindet. Diefe Thatfachen auseinander zu ſetzen 


=) Die Ipatfahen des Bewußtſeins. Vorleſ. 1810/1811. (Cotta 
1817.) S. ®. IAbth. II Bd. S. 541—691, Die Thatſachen beö 
Bewußtſeins (Vorleſ. 1813). Nagel, W. I Bd. S.401—574. Fichte 
nennt „bie Thatfachen bes Bewußtfeins“ feine erfte und einzige Einleitung 
in bie Wiſſenſchaftslehre und bezeichnet die Vorlef. von 1813 ala eine 
zweite Einleitung, weil fie nicht bloß das gewöhnliche Bewußtſein, fon: 
bern folde Zuhörer vorausfege, bie fhon über das Verhaͤltniß ber Logit 
zur Philoſophie aufgellärt find. (Nachgel. W. I. ©. 406.) Aehnlich 
unterſchied Fichte feine beiben Einleitungen in die Wiſſenſchaftslehre vom 
Jahr 1797, 


1027 


und zu durchſchauen, in Verbindung zu bringen und als Ent⸗ 
widlungsepochen einleuchten zu laffen, die Punkte zu firiren, die 
in ihrer Reihenfolge die Linie beftimmen, welche die Wiſſenſchafts- 
lehre conftruirt: das iſt die Abficht und Aufgabe diefer propäbeus 
tiſchen Vorträge. . Das Gebiet der Wiſſenſchaftslehre reicht fo 
weit, ald die Tragweite der Reflerionsform und die nothwen⸗ 
dige Reihe der Reflerionen. Daraus ergeben fich die Grenzpunkte. 
Sie beginnt mit der Thatſache des Bewußtſeins, die fich re: 
flexionslos vollzieht, aus welcher die Reflerion hervorgeht, und 
fie endet vor dem abfoluten Sein, in welchem Feine Reflerion 
flattfindet, zu dem alles Wiſſen ſich ald Bild und Erſcheinung 
verhält. Alles Sein außer Gott ift Erfcheinung oder Bild Got: 
tes, alle Erfcheinung befteht im Wiffen und deſſen nothwendigen 
Reflerionen. Das Wiffen ift die Erfcheinung ober „bad Dafein 
Gotted”. Alles Sein außer Gott ift „Sein im Verſtande“; 
„der Verftand ift das abfolute Element und der Träger alles Das 
feind.” Daher die Aufgabe der Wiffenfchaftölehre darin beſteht, 
„die Verftandesform zu analpficen”. Die Philofophie macht das 
Dafein (Erſcheinung) verftändlich, fie fol, wie Jacobi gefagt hat, 
„Dafein enthüllen”. Die Wiſſenſchaftslehre iſt nicht Seinslehre, 
ſondern „Erſcheinungslehre“, fieift Phänomenologie*). Nun 
befteht alle Erſcheinung im „Sichverftehen” und in der nothwen⸗ 
digen Reihe, die dad Sichverſtehen befchreibt. „Dieſes Leben und 
ſich Bewegen des Verſtehens“, die Linie, die es bildet und durch 
läuft, ift das Gebiet der Wiſſenſchaftslehre. Die Erfcheinung 
ift daher erſt vollendet, wenn fie fich volllommen verftanden hat. 
Diefes volle Verftändniß giebt die Wiflenfchaftslehre. Daher 
ſteht die Tetere nicht außer der Erſcheinung, fondern gehört felbft 

*) Wir brauchen dieſes Wort, um an biefer Stelle unwilltärlid, 
den Blid des Leſers von Fichte auf Kegel zu richten. 

65* 


1028 


zu ihr, weil fie diefelbe volltommen umfaßt und begreift... Sie 
ift „die Erſcheinung in ihrer Zotalität”*). 


2. Wiſſenſchaftslehre und Raturphilofophie. Mate- 
rialiamus und individualififher Idealismus. 

Wer die Erfcheinung nicht als folche verfteht und durchſchaut, 
der nimmt fie als das wahrhaft wirkliche Sein. Das ift der 
Grundirrthum aller falfchen Philofophie, die Wurzel alles Dog- 
matismus, dad Vorurtheil, welches der Wiſſenſchaftslehre ſchnur⸗ 
ſtracks zuwiberläuft und die Geifter unfähig macht, fie zu faffen. 
Aus ihm flammt die Naturphilofophie. Sie ſetzt dad abfolute 
Sein in die Erfcheinung, die felbft in den Gegenfat von Natur 
und Ich zerfällt. Unter diefer Vorausſetzung wird gefchloffen: 
das Abfolute ift entweder Natur oder Ich, nun iſt das Ich 
nicht abfolut, alfo if die Natur das Abfolute. Die Vorausſetzung 
ift falſch. Natur und Ich find Erfcheinungsformen. Das Abs 
folute ift, aber es ift weder Natur noch Ich; es if außer dem 
Ich und der Natur, es giebt dem erſten und erft vermittelft def 
felben auch dem zweiten den nöthigen Haltpunkt: fo fchließt bie 
Wiffenfchaftölehre**). 

Die Sinnenwelt ift eine nothwenbige Erfcheinung des Wiſ⸗ 
ſens. Daß wir alle Diefelbe Welt vorftellen, diefe überein: 
ſtimmende Weltvorſtellung ift eine nothwendige Erſcheinung des 
allgemeinen Wiſſens, „des einen unmittelbar geiſtigen Lebens, 
das alle Erſcheinungen, auch die Ich» Individuen, ſchafft und in 
ſich begreift.” Wird die Materie zum Princip gemacht, fo kann 


*) Ihatfachen bes Bewußtſeins (1813). Nachg. W. I Bd. S. 408 
—410, &, 421. XIX Bortr. S. 561 flgb. XX Bortr. &.568— 71. 

+) Sat ber Bemuftfins (1810). TI Wfän, Gap. V. ©. D. 
J Abth. IIBb. S. 618—619, 


1029 


die Vorftelung, die Weltvörftellung, das Ich, die gegenfeitige 
Anerkennung. ber individuellen Ich nicht erklärt werben; gilt das in⸗ 
dividuelle Ich ald Princip, fo ift e3 unmöglich, die Allgemein: 
gültigkeit der Weltvorftellung, die übereinftimmende Anfhauung, 
den Raum zu erklären. Das Erfte gefchieht im Materialismus, 
dad Zweite im „individualiftifchen Idealismus.” Daher ift die 
Wiffenfchäftslehre Feines von beiden*). Sie erflärt die Erſchei⸗ 
nungen weder aud ber Materie noch aus dem inbividuellen Ich, 
fondern aus dem Wiffen als ſolchem; fie erflärt aus dem Wiſſen 
bloß Erfcheinungen, darunter das individuelle Ich, nicht etwa 
Dinge an fih. Es ift grundfalfch zu meinen, daß die Wiflen- 
ſchaftslehre aus fich herausgehe, daß fie aus dem Wiffen etwas 
‚anderes ableite als die Erfcheinungen, daß fie das Ich zum 
Schöpfer der Dinge an fich mache und noch dazu das individuelle 
Ih. „Nicht aus fich ſelbſt herausgehend, etwa abwärts, ald 
Schöpferin eined Seins außer ihr, wie etwa viele die Wiffen- 
ſchaftslehre verftanden haben, als wolle fie bie Dinge an ſich aus 
dem Ich erfchaffen laffen, welches abfurd wäre: fie kann aber 
auch nicht Über fich hinaus aufwärtd mit diefem Princip gehen, 
und. felbft Gott, inwiefern er in der Erfheinung ift, ift ihre 
Selbftgeftaltung. Durch die Befchräntung auf diefe Einheit des 
Objects ift die Wiſſenſchaftslehre feftgefchloffen -und bleibt ge: 
fhloffen *).” 


3. Dad Wilfen als felbfländige Entwidlung. 

Das Wiffen befchreibt eine in ſich nothwendige Entwiclung, 
ein in fich felbftändiged Leben, unter deſſen Erfcheinungsformen 
das individuelle Ich gehört. Daher ift das Wiflen nicht etwa 


*) Chbenbafelbft, II Abth. Cap. V. S. 623—626, 
er) Waiſ. des Bew, (1813), XX Vortt. ©, 565, 


1030 
eine Eigenſchaft, der ein Ding als Träger zu Grunde liegt. 
Es ift fo wenig Eigenfchaft des Menfchen, als der Raum Eigen: 
ſchaft des Körpers ift. Wer das Wiflen als menfchliche Eigen: 
ſchaft anfieht, verhält ſich zur Wiffenfchaftölehre, wie der, wel: 
her den Raum als Förperliche Eigenfhaft nimmt, zur Mathe 
matik. Der Eine fieht die Natur des Wiffend fo wenig ein als 
der Andere die bed Raumes. Die Entwicklung des Wiſſens if 
bie nothwendige Reihe der Reflerionen. Jede Reflerion ift eine 
Erhebung über die Thätigkeit, auf welche veflectirt wird. Jede 
Erhebung diefer Art ift eine Befreiung des Bewußtſeins, eine 
Entfeffelung der Freiheit, bie auf ber niebrigften Stufe in ber 
größten Gebundenheit ift, „eine fortgehende Erhöhung feines Le⸗ 
bens zu immer höherer Freiheit”. Diefe Entwicklung hat ihre 
beftimmten Geſetze, ihre beftimmten Thatſachen. Die Einficht 
in die Gefege giebt die Wiffenfchaftslehre; „eine Darlegung ber 
Thatſachen wäre gleichfam eine Naturgefchichte der Entwidlung 
biefes Lebens*).” 
& Das theoretifche Vermögen. 

Die niebrigfte Stufe ift die äußere Wahrnehmung, in 
welcher das Wiffen mit feinem Object zufammenfällt, in daſſelbe 
aufgeht, und diefed darum als etwas Gegebenes erfcheint. Die 
Reflerion ergreift dad Object, verwandelt es in ein bloßes Bild 
und weiß dieſes Bild als fein Probuctz das Wiffen wird Ein: 
bildung und befreit ſich dadurch von feiner Gebundenheit in 
der äußeren Wahrnehmung. Die Einbildung iſt eine reale Be 
freiung des geiftigen Lebens. Das Object der Wahrnehmung 
find die Dinge, das der Einbildung die Vorftellungen oder Bil: 
der der Dinge. Auf der niedrigften Stufe des Bewußtſeins gilt 

*) That. bes Bew, (1810). II Abſchn. ©. 687—691. 





1031 

der Sag: bie Dinge find. Auf der zweiten gilt der Sat: bie 
Vorftellungen oder Bilder der Dinge find. Die Reflerion auf 
dieſes Object erhebt das Bewußtſein auf eine höhere Stufe, e& 
erfaßt feine eigene vorftellende oder bildende Thätigkeit, fo ent⸗ 
ſteht das Wiffen vom Wiffen, das freie Bewußtfein, dad Ich. 
Jetzt bleibt dad Wahrnehmen und Einbilden nicht mehr fich felbft 
überlaffen, fondern wird von bem freien Bewußtſein gerichtet 
und regiert. Auf diefe Weife bringt dad Bewußtſein Wahrneh: 
mung und Einbildung in feine Gewalt; es firirt die Wahrneh- 
mung und macht fie aufmertfam, ed erneuert und reprodu⸗ 
cirt die Wahrnehmung vermöge der Einbilbung; es bildet fich eine 
Vorftellungsreihe, in der jedes Glied bedingt ift Durch die vorherge: 
henden, das gegenwärtige durch die vergangenen, unb die vergange- 
nen gegenwärtig gemacht werben durch die Erinnerung”). 


b. Das praftifche Vermögen. 

Das Bewußtſein ftellt vor, reflectirt auf feine Vorftellungen 
und wird ihrer inne. Dadurch macht e8 fein (fich als) theoreti- 
fched Vermögen frei. Es muß feiner Freiheit inne werden. Es 
muß fich als freie Wirkfamteit erfaffen, als freie, auf ein Object 
gerichtete Thätigkeit. Ohne Widerſtand Fein Gegenftand für eine 
freie Thätigkeit. Ohne Vorftelung des BWiderftandes feine Mög- 
lichkeit, fich der eigenen Freiheit bewußt zu werden. Daher bie 
Nothwendigkeit der Vorftellung einer (nicht bloß räumlichen, ſon⸗ 
dern) Förperlichen, materiellen Welt, einer auf Widerſtand lei⸗ 
ftende d. h. körperliche oder materielle Dinge gerichteten Thätig: 
keit, die Nothwendigkeit eigener Förperlicher Kraft, alfo eines 
körperlichen, leiblichen, individuellen Ih. Das Wiflen kann 
feiner Freiheit nur inne werden ald einer gehemmten, einge 
Ahen. des Bew. (1810). J Abſchn. Cap. I— VL. 


1032 


fhränkten, ausfchließenden Sphäre der Wirkſamkeit, al eins 
individuellen Ich, dem andere Individuen feines Gleichen gegen 
überftehen. Die Thatfache der unmittelbaren Selbftanfchauung 
(Ich) vervielfältigt fi. Was ſich vervielfältigt, ift nicht da 
Wiſſen, fondern bloß deffen Anfhauung. Das Wiffen bleibt 
Eines. In der Anſchauung find die Individuen getrennt und bil: 
den jedes eine Welt für fi; im Denken, das fi über die An 
ſchauung erhebt und von ihrer Gebundenheit befreit, find fie Ei 
ne3 und bilden Ein Ich, eine Gemeine von Individuen, ein Sp’ 
ftem von Ichen. Die unmittelbare Anſchauung und das abfolute 
Denken find die beiden Grundfactoren. des Bewußtſeins. „Ein 
Syſtem von Ichen, ein Syſtem organifirter Leiber diefer, eine 
Sinnenwelt find die drei Hauptflüce der objectiven Weltvorfte: 
lung*).” 


© Das höhere Bermögen. 

Das Wiſſen ift Eines; feine Erfcheinungen find Entwid: 
lungsformen dieſes felbftändigen und einigen Lebens. Was das 
Wiſſen ift, muß es für ſich fein, es muß fid) in feiner Lebens 
einheit erfaffen und feiner felbft inne werden als eines ungetheilten 
einigen Lebens. Das gefchieht durch Einkehr in fich felbft. Diefe 
Einkehr ift bedingt durch die „abfolute Selbftentäußerung des Wif: 
ſens“, d.h. durch jene unmittelbare Selbftanfchauung, in der ſich 
das Wiffen erfcheint ald vorhandene Welt. Die Entäußerung 
iſt die Anſchauung, die Einkehr dag Selbftbemußtfein. So iſt 
die Einkehr bedingt und vermittelt durch die Anfchauung. Das 
Bewußtfein, in welchem dad Wiffen feine Einheit (ſich ald Eine) 
erfaßt, geht durch die Anfchauung hindurch. Diefer Durchgang 

*) Thatf. des Bew, (1810). II Abſchn. That. des Bew, in Be 
ziehung auf das praktiſche Vermögen, Cap. I— VI. 


1033 


punkt {ft die Individualität. So ift das Individuum nicht 
Träger des Wiffend, fondern eine Erſcheinungsform deſſelben. 
Um aus feiner Entäußerung oder Anſchauung in fi einzukehren 
und-fich als den einigen Grund und Trager alled Lebens zu er: 
faffen, muß fi) dad Wiffen als individuelles Bewußtſein gleich: 
fam zufammenziehen und concentriren. Die Individuen find 
die Goncentrationen des einen Lebens, die concentrirten Lebenser⸗ 
ſcheinungen bes Wiſſens, in denen das Wiffen erft eigentlich le— 
bendig, felbftthätig, praftifch wird; fie bilden veränderliche Freis 
heitöfphären innerhalb der fehenden unverändetlichen Sinnenwelt, 
In der Sinnenwelt.erfcheint das Leben als ſtehendes Object, als 
Subftantivum, als „vita“; im Individuum erfcheint ed ald Thätig- 
keit, als Zeitwort, ald „vivere“. Die Individuen find Erfchei: 
nungen eines und befjelben Lebens: daher befteht zwifchen ihnen 
Feine Kluft, ſondern Gemeinfchaft. Jedes beftimmt feine Wirk; 
famteit felbft und handelt frei in feinem Gebiet; die Selbftbe: 
ſtimmung des einen bedingt die der anderen und umgekehrt, aber 
nicht unmittelbar, fonbern vermittelt durch gegenfeitige Anerken⸗ 
nung und dad Bewuß tſein freier Selbftbeftimmung. Daher 
ift Die Gemeinſchaft (Wechfelwirkung) der Individuen nicht phyſi⸗ 
fcher, fondern moralifcher Nerus*). 

In der Sinnenwelt und der Gemeinfchaft freier Individuen 
erfcheint demnach das eine eben, das in fich felbftändige und eis 
nige Wiſſen: das Wiſſen ald freies Leben oder als Freiheit. 
So ift die gefammte Welt, um alleö in einem zu fagen, bie 
nothwendige Exrfcheinungsform der Freiheit. Ohne diefe Erſchei⸗ 
nungsform kann bie Freiheit ihrer felbft, kann das Wiflen feiner 
als abfoluter Freiheit nicht inne werden. Nennen wir dad Be 


*) Thatſ. des Ber. (1810), LIT Abſchn. Vom höheren Vermögen, 
Cap. I—IH. S. 634—655, 


1034 


wußtfein der abfoluten Freiheit Sittlichleit, fo ift die Welt die 
nothwendige Bebingung, unter welcher die abfolute Freiheit fih 
felbft erfcheint oder fich felbft anfhaut, „Daher ift das eine ke 
ben der Freiheit im Grunde nicht anderes ald die Anfchauungs 
form der Sittlichkeit ).“ 

Die bloß formale Freiheit ift leer, fie ift Mittel des abfolu 
ten Zwecks oder des Endzweds. Der Endzweck ift das Sitten: 
geſetz. If nun die Freiheit der innerfte Lebensgrund der Welt 
(die nichts anderes ift ald Erfcheinung ber Freiheit), fo ift der 
Endzweck, um deſſen willen allein die Freiheit ift, „das abſo⸗ 
lute Seinsprincip der Natur”, fo find auch die Individuen Pro- 
ducte des Endzwecks, d. h. jedes Individuum ift und hat eine be 
ftimmte fittliche Aufgabe, es ift ein Glied in der fittlichen Orb: 
nung ber Dinge, in ber die Lebendaufgaben felbft eine nothwen⸗ 
dige Reihenfolge der Generationen und Weltalter bilden. Nur ald 
Glied der fittlichen Weltordnung, nur in der Erfüllung feiner 
fittlihen Aufgabe ift das Individuum ewig und ungerftörbar 
gültig. Das Sittengefeh erfüllen, heißt daffelbe wollen. Das 
Sittengefeg wollen, heißt nichts andered wollen als dieſes Geſetz. 
Iſt der Wille eined mit dem Sittengefeg, fo ift er unverrüdbar. 
Nur der unverrücbare Wille if wirklicher Wille, nur diefer Wille 
iſt feſtes, unwandelbares Sein. Das Individuum ift ewig nur 
als Wille, als ein folcher Wille. Unter dem Zwange des Trie 
bes ift das Individuum unfrei; in Uebereinffiimmung mit dem 
Sittengefeß ift e8 auch nicht frei, denn es kann nicht mehr Be 
liebiges wollen. Wo alfo bleibt die formale Freiheit? Sie ift 
im Triebe noch nicht und im fittlichen Willen nicht mehr gegen: 
märtig; fie ift alfo nur möglich zwifchen beiden, im Webergange, 
in ber Erhebung vom Triebe zum Sittengefeg. Diefe Erhebung 
y Ebendaſ. III Abſchn. Cap. IIL. S. 666 flod. 





1035 
iſt nur durch Freiheit möglich. Diefe ift nichts anderes ald Mittel 
Dazu, nothwendiges Mittel. Die Erhebung ift zugleich die Ver: 
nichtung der Freiheit, ihre Selbftvernichtung. „Die abfolute 
Freiheit fteigert ſich durch ſich felbft in eigener factifcher Vernich⸗ 
tung zum Willen )).“ 

Das Sittengefeß ift der abfolute Zweck, aber ber Endzweck 
iſt nicht das Abfolute ſelbſt. Wie ſich die Welt (Sinnenwelt 
und Welt der Individuen) zum Endzwede verhält, fo verhält 
ſich diefer zu dem höheren, wahrhaft abfoluten Princip. Das 
Sittengefeß war bad Princip des Lebens, dieſes die Erſcheinungs⸗ 
form oder Anfchaubarkeit des Sittengefeged. Mithin wird das, 
wozu das Sittengefeg fich verhält, wie zu ihm Welt und Leben, 
das Princip des Sittengefeges fein, und dad letztere die Erſchei⸗ 
nungsform oder Yeußerung biefed Princips. Was alfo ift das 
Princip des Endzweds? Was macht fih in ihm anfchaulich 
ober fichtbar**)? 

Das Leben, für fi genommen, ift endlofer Wandel, fort: 
mährendes Entftehen und Vergehen, unaufhörliches, abfolutes 
Werden. Das Leben fol gedacht werden, denn es iſt Erſchei⸗ 
nung des Wiffens; das abfolute Werden läßt ſich nicht denken. 
Was gedacht werden fol, muß ben Charakter der Dauer und 
Einheit haben. Diefen Charakter hat und giebt nur dad Sein. 
Soll das Leben gedacht werben können, fo muß das Werden eis 
nen dauernden, wandellofen, ewigen Inhalt haben; e8 muß im 


*) Ebendaſelbſt. IIT Abſchn. Cap. IV. Das Eittengefeg als Prin⸗ 
cip des Lebens und dieſes ala Anſchaubarkeit bes erften. ©. 657— 679, 
Bıl, Cap. V. 6. 680, 

=) Ghenbafelöft, III Abſchn. Cap. V. Die Anſchluung Gottes 
als Princip des Sittengeſetzes ober be3 Endzweds, unb Dies al als Aeuße⸗ 
tung ber erfteren. S. 680— 681, 


1036 


Werden ein unveränderliches Sein geben. Das Sein im Werben 
iſt die Abficht, der Zweck, das unverrücbare Ziel alles Werdens. 
Nur ald Endzwed kann das Sein im Proce des abfoluten Ber: 
dens erfcheinen und fichtbar hervortreten. Daher ift der Endzwed 
das Sein in Verbindung mit bem Leben (Werben), Im biefer 
Verbindung allein wird aus dem Sein Endzwed, Der End: 
zwed ift daher bie Erfcheinung des Seins, wie bad Leben bie 
des Endzwecks. Der Endzwed: hat feinen Halt im Sein, wie 
das Leben in ihm. Ohne Sein fein Endzweck, kein eben. 
Alfo muß das Sein gedacht werden als unabhängig und abgefon- 
dert vom Werben. Im der Verbindung mit ihm ift es Endbzwed; 
von biefer Verbindung frei, if e8 nicht Endzwed‘, fondern „Sein 
ſchlechtweg“, das abfolute Sein ober Gott*). 

Im Endzwed ift Sein und Werden (Leben) verbunden; er 
ift „dad Sein bed Leben”, „dad Sein der Freiheit”, „bie Aeuße— 
tung des Sein: im Werben“; Nun ift ber das Leben durch 
dringende Endzwed gleich der Sittlichkeit. Daher fagt Fichte: 
nSein der Freiheit oder des Lebens und Sittlichkeit 
find durchaus eins **).” 

In dem bloßen Werben giebt ed Feinen Stilftand, Feine 
Dauer, Feine Möglichkeit des Fefthaltend, des Anfchauend. Nur 
in der Form der Anfchauung wird dad Sein im Werben 
gegenftändlich und ſichtbar. „Das Grundfein des Lebens: ift 
barum in feiner Form eine Anſchauung.“ Sie ift das in jeber ein» 
zelnen Aeußerung Beftehende, biefelbe zum Stehen oder Stillſtand 
Bringende, durch die ganze unendliche Reihe wirklich Dauernde, 
Die unmittelbare Anſchauung bebingt und vollendet die Reihe 

*) Ebenbajelbft, III Abſchn. Cap. V. ©. 681—688, - 


Ebendaſelbſt. III Abſchn. Cap. V. S. 683. Refultat und An- 
merkung. 


— 





1087 


der Reflerionen, fie ift die Grundform bed Lebens und Wiffens, 
welche beide Ausdrüde durchaus gleichbedeutend find. Ihre erfte 
und niedrigfte Form ift die Sinnenwelt, ihre legte und höchfte 
die fittliche Gewißheit; beide unmittelbar einleuchtend und dauernd, 
zwiſchen beiden die Reflerionsformen des Wiſſens, bedingt und 
getragen von der Anfchauung. 

Das ganze Leben (Wiffen) iſt demnach Anfhauung, Bild, 
Erſcheinung. Esift Anfhauung nur, weil ihm ein Sein inwohnt, 
das dem Werden Dauer und Einheit giebt. Das Leben ruht in 
der Anfchauung, diefe im Sein, das als ſolches unabhängig 
von der Anfchauung, jenfeits alles Werdens abſolut in fich ifl. 
Das abfolute Sein ift Gott, dad Leben darum in feinem eigent⸗ 
lichen Sein „Bild Gottes”. 

„And fo haben wir denn den legten und vollkommenen Auf⸗ 
ſchluß erhalten über den Gegenſtand unſerer Unterſuchung: das 
Leben oder auch das Wiſſen. Das Wiſſen iſt allerdings nicht ein 
bloßes Wiſſen von ſich ſelbſt, wodurch es in ſich ſelbſt zerginge 
und zu nichts würde, ohne ale Dauer und Anhalt; ſondern es 
ift ein Wiffen von einem Sein, nämlich von dem einen Sein, 
das da wahrhaft ift, von Gott, keineswegs aber von einem Sein 
außer Gott, dergleichen außer dem Sein des Wiſſens felbft oder 
der Anfchauung Gottes durchaus nicht möglich ift, und die Ans 
nahme eines foldhen reiner und Blarer Unfinn. Nur kommt diefer 
einzig mögliche Gegenfland des Wiffens im wirklichen Wiffen nie: 
mals rein vor, fondern immer gebrochen an indgefammt noth⸗ 
wenbige unb in biefer Nothwendigkeit nachzuweifende Formen des 
Wiſſens. Die Nachweiſung diefer Formen ift eben die Philofos 
phie oder die Wiſſenſchaftslehre ).“ 


*) Ghenbafelbft, TIL Abſchn. Cap. V. &. 683—685, 


1038 > 


I. 
Neue Form der Anwendung. „Die Staatölehre". 
1818 (1820). 
1. Borausfegung. 

Die Thatfachen des Bewußtſeins verhalten fi zur Wiſſen⸗ 
ſchaftslehte, wie Naturgefchichte zur Naturlehre. Vergleichen 
wir die Thatfachen des Bewußtfeind mit der (gleichzeitigen) Wif: 
ſenſchaftslehre in ihrem allgemeinen Umriffe, fo erhellt die durch 
gängige Uebereinftimmung beider. Es bleibt noch übrig, die 
neue Entwidlungsform des fichte ſchen Syſtems auf dem Gebiete 
der Anwendung ober in einer Darftellung Tennen zu lernen, die 
ſich zur Wiffenfchaftölehre verhält, wie angewendete Mathematit 
zur veinen, ober praktiſche Naturwiffenfchaft zur theoretifchen. 
Diefe Darftelung findet fich in den Borlefungen über „die Staats 
lehre ober das Verhältniß des Urſtaats zum Vernunftreiche” (aus 
dem Sommer 1813), bie fieben Jahr fpäter aus dem Nachlaſſe 
des Philofophen veröffentlicht wurden. 

Schon in jenen früheren „populären” Vorträgen über die 
Grundzüge deö gegenwärtigen Zeitalters und das Weſen des Gelehr: 
ten, in den Anweifungen zum feligen &eben und den Reben an die 
deutfche Nation erfchien die vollendete Wiſſenſchaftslehre im Lichte 
der Anwendung. Daher die Staatöiehre vom Jahr 1813 mit 
dieſen Vorträgen in allen wichtigen Punkten völlig übereinftimmt: 
in ber Lehre vom Urvolk und Urflaat, von dem zu ertichtenen 
Vernunftreiche, von ber Bedeutung des Gelehrten als des fit: 
lichen Weltbildners und Regenten, von der Nothwenbigkeit und 
dem Zwedte der Nationalerziehung, von dem Einklange zwiſchen 
chriſtlichem Gotteöglauben und Vernunftwiſſenſchaft (Wiſſen⸗ 
faftstehte). 





1039 


Die Voraudfegungen, auf welche ausbrüdlich „die Staats⸗ 
lehre” fich gründet, find in der „Wiſſenſchaftslehre in ihrem all⸗ 
gemeinen Umriſſe“ entwidelt worden und bilden deren Summe, 
„Nur Gott iſt; außer ihm nur feine Erfcheinung; in der Er 
ſcheinung das einzig wahrhaft Reale die Freiheit, in ihrer ab- 
foluten Form, im Bewußtſein, alfo ald eine Freiheit von Ichen. 
Diefe und ihre Freiheitsproducte dad wahrhaft Reale. An dieſe 
Freiheit num ift ein Gefeß gerichtet, ein Reich von Zwecken, das 
Sittengefeg ; dieſes darum und fein Inhalt die einzig realen Ob: 
jecte. Die Sphäre der Wirkfamkeit für fie die Sinnenwelt, 
diefe nichts denn das; in ihr Feine pofitive Kraft bes Wider: 
flandes ober des Antriebed. Wer diefe Antriebe gelten läßt ober 
diefem Widerſtande weicht, ift unfrei, nichtig. Nur durch die 
Freiheit ift er Glied der wahren Welt, ift er burchgebrochen 
zum Sein*)" 

Die Philofophie kann weder Dualismus noch Materiali- 
mus (Naturphilofophie) fein: nicht Dualismus, fondern Ein- 
heitslehre; nicht Materialismus, fondern Erkenntniß= und Frei⸗ 
heitölehre. Die Freiheit Bild des abfoluten Seins, bie Welt 
Bild oder Exfcheinung der Freiheit (bed Wiſſens): in biefer Grund 
anſchauung ruht die Philofophie. Die Freiheit ift entweder ur⸗ 
fprünglich und fchöpferifch, oder fie ift überhaupt nicht; fie ift Prinz 
cip, alles Andere ihr „Principiat”. Freiheit heißt „Principfein”. 
Gilt die Natur ald Erſtes oder auch nur als etwas Anfichfeiendes, 
fo ift die Freiheit unmöglich. Daher giebt es unter dem Gefichtd: 
punkte der Naturphilofophie Beine Freiheit. Wer die lehtere bes 
jaht, muß fie als abfolut fchöpferifches Princip, den Willen als 

*) Die Staatslehre ober bad Verhältniß bes Urftantes zum Ver⸗ 


munftreiche, III Abſchn. Vorausfegungen. S. W. II Abth. II Bd. 
S. 431. 


1040 

einzig möglichen Schöpfer der Natur nehmen: er ſchafft nicht 
eine gegebene, feiende, fonbern eine fein folende Welt, dad Bor: 
bild der wahren. Dieſes Vorbild ift die erleuchtende und ziel: 
feßende Richtſchnur des Lebens; daher die Philofophie als Frei- 
heitslehre zugleich geftaltend und leitend das Leben felbft ergreift. 
Als Leiterin des Lebens ift die Freiheitslehre praktifche oder ange: 
wendete Philofophie*). 


2. Aufgabe. 

Die Freiheit erfcheint in einer Welt (Gemeine) bewußter 
Individuen, deren gemeinfchaftliche Sphäre der Wirkſamkeit bie 
Sinnenwelt ift. Jedes diefer Individuen ift unbedingt frei, die 
Geltung und Erhaltung der individuellen Freiheit darum ein noth⸗ 
wenbigeö Gefeg: das Rechtögefeh gegenüber den Hemmungen 
und Störungen, welche die Freiheit deö einen Indivibuums durch 
die der anderen erleidet. Solche Störungen können fein, aber 
fie dürfen und follen nicht fein. Sie nöthigen das Rechtsgeſetz, 
die Form des Zmangögefeged anzunehmen; es vernichtet bie ger 
ſchehene Freiheitöverlegung durch die Strafe, es verhütet die be: 
gehrte durch die Furcht vor der Strafe, alfo durch einen Natur: 
trieb, und herrfcht darum wie ein Naturgefeh. Die Rechtdan- 
ftalt ift zugleich Zwangsanſtalt. Daß eine Rechtsanftalt errichtet 
werde, forbert das Vernunftgeſetz; daß fie zugleich ald Zwangs⸗ 
anftalt auftritt, gebietet die Noth; daher die Rechtöverfaffung, in 
welcher ber Zwang herrfcht, noch eine Nothverfaffung iſt. Die 
vorhandenen Rechtöverfaffungen find ſolche Nothverfaffungen, fie 
berrfchen nicht allein durch das Vernunftgeſetz, fordern mit Hülfe 
des Naturgeſetzes; fie find daher noch Bein wahrhaftes Vernunft: 
reich. Die Rechtöanftalt ſoll ein Vernunftreich fein. Sie wird 

*) Chenbajelbft, J Abſchn. Allg. Einl, S. 369—389, 





1041 


es, indem fie den Charakter der Nothverfaffung und Zwangban⸗ 
ftalt-ablegt. Das ift bie zu löfende Aufgabe. Es ift im Rechtö- 
geſetz eine Forderung enthalten, die noch nicht erfült ift, ein 
Beſtandtheil, der noch nicht zur Geltung gefommen*). 

Recptögefet iſt Freieitögefeg. in Freibetägefeg, welches 
zwingt, enthält einen.offenbaren Widerfpruch. Das Rechtsge⸗ 
fe fordert bie unbebingte Geltung der individuellen Freiheit; der 
Zwang, ben es ausübt, ift das directe Gegentheil derfelben. Alfo 
ift es der Zwang, der aufhören fol. So lange er unentbehrlich 
ift, herrſcht die Nothverfaſſung. Wenn er aufgehört hat nöthig 
zu fein, ift an die Stelle der Nothverfaffung dad Vernunftreich 
getreten. Alſo ift die Aufgabe, den Bwang entbehrlich zu mas 
chen. Er ift entbehrlich, fobald ſtatt der Naturtriebe Fein ande: 
red Motiv die menfchlichen Handlungen beftimmt, ald bie Ber: 
nunfteinficht. Demnach befteht die Löſung der Aufgabe darin, , . 
daß diefe Einficht ausgebildet und entwickelt wird. Dieß gefchieht 
durch Belehrung und Erziehung. Daher wird bie Rechtsanftalt 
zugleich Erziehungsanftalt fein müffen, weil fie nur dadurch bie 
Bedingung in fich aufnimmt, wodurch der Zwang allmälig ent 
behrlich gemacht werden und dad Wernunftreich zur Ausbildung 
kommen Tann. 

Und zwar wird mit der Rechtöanftalt die Erziehungsanftalt 
zugleich müffen errichtet werden, weil fonft ein Zwang ausge⸗ 
übt wird, ohne die Abficht ihn entbehrlich zu machen, ein Zwang, 
der ſich zur Freiheit nicht als Hülfsmittel verhält, fondern ver⸗ 
nichtend. Im Reiche der Freiheit, innerhalb deffen die Rechts⸗ 
verfaffung liegt, Tann überhaupt der Zwang Feine andere Gel 
tung beanfpruchen ald eine vorläufige; er gilt, bis die Vernunft: 

*) Chendafelbft, J Abſchn. S. 389400, V Abſchn. Von der 


Errichtung des Vernunftreiches. S. 432—433, 
Bifher, Geſdichte der Phlloſophie V. 66 


1042 


einficht ihn entbehrlich macht. Darum ift auch nur derjenige 
Zwang rechtmaͤßig, ber vor der Wernunfteinficht fich rechtfertigen 
läßt, von dem der entwidelte Verſtand einfieht, daß er nöthig war, 
weil ohne ihn der Rechtözuftand und bie Ausbildung ber Freiheit 
unmöglic; gewefen wäre. Aller Zwang barf nur um ber Frei⸗ 
heit willen flattfinden. Nur wer bie Zwecke und Forderungen 
der Freiheit einfieht, darf den Zwang ausüben; nur wer biefe 
Einficht nicht oder noch nicht hat, erleidet den Zwang. Daraus 
erhellt, was zur Rechtmäßigkeit des Zwanges gehört. Es iſt 
nicht genug, daß er gerechtfertigt werben kann; er muß auch ge: 
techtfertigt fein wollen, d.h. er muß alles thun, um in denen, 
die er beherefcht, die Vernunft, die ihn rechtfertigt und entbehr: 
lich macht, zu erzeugen; er muß mit dieſer Abficht gefchehen und 
darum von vornherein mit ber Belehrung verbunden fein, bie zu 
jenem Ziele hinführt. Die Zwangsanftalt ift nur dann eine Rechts: 
anftalt, wenn fie zugleich Erziehungsanftalt ift. 

Das Recht zum Zwange gründet fich daher auf dad Vermoö⸗ 
gen und den Willen, ihn zu verantworten. Nur wer beides hat 
und im Stande ift, die ganze moralifche und rechtliche Verant⸗ 
wortlichkeit bes Zwanges auf fi zu nehmen, darf Zwingherr 
ober Herrfcher fein. Er muß die Forderungen und Zwecke ber 
menfchlichen Freiheit mit der höchften Klarheit durchſchauen und 
diefe Einficht vor den Anderen voraushaben. Nur der höchfte 
menſchliche Verſtand berechtigt zum Herrſchen. Die Aufgaben 


der menschlichen Freiheit find nach Zeiten und Völkern verſchie⸗ 


den. Daher ift es ber höchſte menfchliche Verſtand feiner Zeit und 
feines Volkes, dem es gebührt zu herrſchen, weil er allein ben 
Zwang, den er ausübt, rechtfertigen kann und will. Er ſieht 
das Ziel voraus, wonach die menfchlihen Kräfte ringen; er un 
terfcheibet mit heller Einficht das nähere und fernere Ziel und 


1043 


durchſchaut fo bie jedesmalige Beſtimmung des Menſchengeſchlechts. 
Er ſteht auf dem Standpunkt, wohin die anderen erſt kommen 
ſollen. Daher kann er allein fie führen, Die Menſchheit 
würde ihr Ziel verfehlen, wenn fie es nur blind erreichte. Sie 
muß die Nothwendigkeit defjelben einfehen. Daher ift die Füh- 
tung nothwendig zugleich Belehrung und Erziehung ; fonft wäre 
fie die Führung einer Heerde, nicht freier Individuen. Nur wer 
bie Menfchheit erziehen kann, barf fie beherefchen, bis das Ziel 
der Erziehung erreicht iſt. 

So ift die Freipeitögefchichte (Weltgefchichte) in ber That eine 
fortfchreitende Erziehung des Menfchengefchledhtö, deren Biel ver 
vollkommene Rechtözuftand oder dad Bernunftreich if, in dem 
der letzte Reſt der Bwangsanftalt auögetilgt worden. Ohne Er: 
ziehung ift die Gefchichte nicht möglich. Aus dem erzogenen Ges 
fchlecht wird ein erziehended. Wie aber beginnt die Erziehung? 
Welches ift das erſte erziehende Gefchleht? Es muß eine Urer⸗ 
ziehung geben, fonft kann bie Gefchichte, bie Erziehung, die Lö— 
fung der Aufgabe, um bie e& fich handelt, keinen Anfang neh⸗ 
men, alfo überhaupt nicht flattfinden *). 


3. Löfung der Aufgabe. Dad Urvolk und die Geſchichte. 
. Die alte Welt, 

* Die Erziehung fordert einen erfien Ausgangspunkt, einen 
Urfprung, der Feine erziehenden Bedingungen vorausſetzt, ein 
ergiehended Urgefchlecht, welches von Natur im Befige der 
Früchte ift, die in allen folgenden Gefchlechtern erft die Erziehung 
reift und hervorbringt. Diefes Geſchlecht ift unmittelbar „ſitt⸗ 
licher Natur”... In ihm find die fittlichen Einrichtungen ur 
fprünglich gegeben, Staat, Familie, Ehe: es ift ein Urvolk 


*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. S. 436470, 
66* 


1044 


ein Normalvolt, dad Vorbild der menfchlichen Entwidlung. So 
muß es fein, denn fonft wäre Die Erziehung ein endlofer Regreß, der 
ſich in nichts auflöſt. Das ift unmöglich. Das Bild Gottes 
Bann nicht dem Untergange und dem Zufall preiögegeben fein. 
„Gott ift,” „er probirt nicht *).” 

Das Urvolk bedarf Feiner Erziehung; ed ift, was die übrige 
Menfchheit durch Erziehung werden fol. Die Erziehung geht 
von dem Urvolk aus; ihr Gegenftand ift ein zweite der Erzie⸗ 
bung bebürftiges Urgefchlecht ohne urfprüngliche fittliche Einrich⸗ 
tungen. Die Vereinigung dieſer beiden Urgefchlechter giebt den 
Anfangöpunft der fittlihen Entwidlung, der Erziehung des 
Menſchengeſchlechts, der Geſchichte. 

Die Glieder bes ſittlichen Urvolls gründen, ſei ed durch Co— 
loniſation oder durch Eroberung, in dem zweiten Urgeſchlechte 
der bloßen Naturvölker die ſittlichen Einrichtungen, den Rechts⸗ 
zuſtand, den Staat; ſie geben das ſittliche Geſetz, ſie offenbaren 
es als göttlichen Willen. Sie herrſchen, die anderen werden be⸗ 
herrſcht. Ihre Herrſchaft gilt unbedingt. Was in ihnen Natur: 
glaube war, wird in dem beherrfchten Gefchlecht „Autoritäts: 
glaube”. Aufdiefe Autorität urfprünglicher, unmittelbar gött: 
licher Abkunft gründet fich die Staatsordnung und, wie es hier 
nicht anders fein kann, die bürgerliche Rechtöungleichheit. Der 
Staat gilt als abfolute göttliche Anordnung, der Einzelne ift 
ihm unbebingt hingegeben und untergeordnet. Die Staatsmächte 
find göttliche Autoritäten, der religiöfe Glaube geftaltet fich. mytho⸗ 
logiſch und polgtheiftifch. Das ift der fittliche Typus der alten Welt, 
am reichften entwidelt in den griechiſchen Staaten, am deutlich: 
ften und reinften dargeftellt in dem am meiften ariftofratifchen und 
veligiöfeften Staate des griechifchen Alterthums, in Sparta, 

*) Ebendaſelbſt. II Abſchn, 6, 471, " 





1045 


Die menfchliche Einficht fol frei werden. Dahin zielt bie 
Entwidlung. Der Verſtand erhebt fich gegen den Xutoritäts- 
glauben, erfchüttert ihn auf allen Gebieten und untergräbt da= 
mit dad eigentliche Princip des Alterthumd in feiner. Wurzel. 
Diefe Epoche, die den Beginn einer neuen Zeit bedeutet, macht 
Sokrates. j 

Der.Zortgang von dem. Autoritätöglauben zum Verſtandes⸗ 
princip ift zugleich der Fortgang von der bürgerlichen Rechtsun⸗ 
gleichheit zur Gleichheit, vom ariftofratifhen Staat zum demo: 
?ratifchen, von dem Autoritätäftaat, ber in feiner Wurzel theos 
kratiſch ift, zur conftitutionellen Rechtöorbnung. In dem Streit 
der Patricier und Plebejer um bie bürgerliche Rechtögleichheit ent» 
widelt ſich diefer Fortgang in der römifchen Welt. 

Die vollommene Befreiung der individuellen Einfiht ift 
der Untergang ded antiken Staats. Die Sorge für dad perfön- 
liche Wohl und die perfönliche Bildung wird zum Hauptintereffe, 
und der Staat gilt nur ald Bedingung, um dieſes Intereffe fo 
behaglich ald möglich zu befriedigen, „ald das Gehege, innerhalb " 
deffen wir ficher find”. Mit dem Eigennug und dem Triebe nad) 
individuellen Wohlfein: fteigt der Luxus, die Verachtung der 
Götter, die Gleichgültigkeit gegen den Staat; dad Regieren felbft 
incommobirt, und man läßt ſich gern ben Herrfcher geben, am 
liebſten einen erblichen, um in Ruhe leben und genießen zu kön: 
nen. Was fich über den gemeinen Eigennuß erhebt und dem 
Staate zumwenbet, ift nicht mehr der einfache Patriotismus, dad 
Erfültfein von gemeinnügigen und öffentlichen Zwecken, fon 
dern perfönlicher Ehrgeiz, Liebe zum Ruhm, Selbftgefühl her- 
vorragender Kraft, nicht Religiofität, fondern „Genialität”; 
es find die Kränze des Miltiades, die den Themiſtokles nicht 
ſchlafen laffen*). 

*) Ehenbafelbft. III Abfcn, Alte Welt, S. 497—520. Vgl. 


1046 
b. Die nene Welt. 

Die alte Welt ging von der bürgerlichen Rechtöungleichheit aus 
und mit der entwicelten bürgerlichen Rechtögleichheit zu Grunde. 
Innerhalb ihrer Anfchauungsweife blieb die Gleichheit bedingt 
durch dad Bürgertum. Daß der Menfch als ſolcher frei und 
in dieſer Freiheit die abfolute Gleichheit der Menfchen begründet 
fei: dieſe Einficht blieb dem Alterthum verborgen. Das Ehriften: 
thum offenbart fie und legt damit die Grundlage der neuen Welt, 

Was das Chriftenthum offenbart, dad Reich der Freiheit 
als Reich Gottes, als Aufgabe und Ziel der Menfchheit, iſt ein 
Geſetz, unabhängig von aller individuellen Willkür, von jeder 
perfönlichen Autorität, die ewige Wahrheit felbft, mit welcher 
die Verftandeseinficht, je tiefer fie entwickelt ift, um fo gründ- 
licher übereinftimmt. Daher iſt hier im Princip der Sache Fein 
Widerſtreit zwiſchen Autoritätöglauben und Verſtandeseinſicht. 
Ale achte „Sokratik“ und Philoſophie iſt dieſem Glauben gegen: 

‚Über Durchdringung und Bejahung. 

Die chriſtliche Lehre, richtig verſtanden, iſt abſolut wahr 
und abſolut neu. Das wahrhaft Wirkliche iſt die rein geiſtige, 
überſinnliche Welt, dad Himmelreich, der ewige Wille Gottes; 
der Menfch ift ewig, wenn er diefen Willen thut, er thut ihn, 
wenn er bem eigenen Willen gänzlich abftirbt, nicht durch den 
äußeren Tod, ſondern durch die innere Wiedergeburt, Es giebt 
nur dieſe eine Heilsordnung: Selbſtvernichtung und Selbfiver: 
leugnung. Alles außer Gott ift nichtig. Der Glaube an ein 
felbftändiges Sein außer Gott ift antichriſtlich und heidniſch. 
Aller Glaube an äußere Wunder und Zeichen, an äußere Ent: 
fündigung und Ermählung ift todt und in feiner Wurzel heidniſch. 
Grundzüge de3 gegenw. Beitalt, Borlef. IX — ZU. Bud. IV dieſes Bd. 
Cap. V. 6, 882—892, 


1047 


Ein folder Glaube als Bedingung oder Beſtandtheil der chrift: 
lichen Seligkeitölehre iſt chriftliche Befchneidung. Zu biefem Glau⸗ 
ben verhält fi die wahre Einficht, wie Paulus zu den Juden, 
und Luther zu ben Papiften. 

Die Menfchheit fol} fich mit eigener Freiheit erbauen zu ei» 
nem Reiche Gottes, in dem alle menfchliche Freiheit aufgegeben 
und hingegeben ift an ihn. Dazu bebarf fie eines Vorbildes, das 
fich zur neuen Welt ähnlich verhält, als das Urvolk zur alten: 
eined Bildes diefer Beftimmung des ſich Ertödtens und Hinge— 
bens, in dem vorbildlich und darum urfprünglich verwirklicht iſt, 
maß die Menfchheit verwirklichen foll. Diefes Vorbild muß das 
ber eine wirkliche Perfon fein, deren Selbſtbewußtſein unmittel: 
bar und volltommen zufammenfäut mit ihrem göttlichen Beruf, 
deren Wille, wie er aufging, gefangen war im. höheren Willen, 
die durch ihr Sein war, wie fie ale machen wollte. Diefe 
Perfon ift Jeſus, er zuerfi, er allein und einzig. Das einzige 
Mittel der Seligkeit ift „der Tod der Selbfiheit”‘, der Tod mit 
Jeſus, die Wiedergeburt. Er ift unmittelbar und von Natur, 
was die Menfchen aus eigener Freiheit nach feinem Vorbilde wer: 
den follen: er ift „der geborene Sohn Gottes”; feine ges 
ſchichtliche Erfcheinung daher eine ewig gültige Hiftorifche Wahr: 
heit. Aber der bloße Gefchichtöglaube an ihn trägt zur Seligkeit 
nichts bei. Den Weg zur Seligfeit muß man gehen. "Die Ge 
fchichte, wie diefer Weg entdeckt und geebnet worden, hilft nicht 
zum Gehen. 

Auf die Thatfache der gefchichtlichen Erſcheinung Jeſu als 
des eingeborenen Sohnes Gottes gründet fich der chriftliche Ge: 
ſchichtsglaube. Der gefchichtliche Sag wird um feiner ewigen 
Geltung willen in ein Syſtem metaphyſiſcher Säge verwandelt, 
in bie Lehre von der Gottmenfchheit Zefu, der Dreieinigkeit Got⸗ 


1048 


tes, der Nothwendigkeit der Rechtfertigung, Verſohnung, Ent: 
fündigung der (von Gott ausgeſchloſſenen und außerhalb feiner be 
findlichen) Menfchheit. So bekommt das Chriftenthum einen hir 
ſtoriſch dogmatifchen Lehrinhalt, in dem fid die ewige Wahrheit 
des chriftlichen Glaubens mit heibnifchen und wiberftreitenden 
Vorſtellungsweiſen mifcht. So enitfteht die Aufgabe, bie ewige 
Wahrheit von jener Vermiſchung zu reinigen, mit ber Elarfien 
Einficht zu durchdringen und von allem Magifchen zu befreien, 


denn alles Magifche in der Religion ift heibnifchen Urfprungs. | 


Diefe Einficht ift das Ziel des wahrhaft chriftlichen Lebens und 
die ächte Erfüllung der Weiffagungen Jeſu. 

Er hat verfündet, daß nach ihm ber heilige Geift kommen 
wird und durch biefen dad Reich Gottes auf Erden, die Bolk 
endung feined Werkes, Der heilige Geift ift gegründet in der 
göttlichen Anlage des Menfchen für die überfinnliche Welt, in 
dem natürlichen Licht, welches und unfere göttliche Beftimmung, 
Gott felbft und in der Perfon Iefu den geborenen Sohn Gottes 
erleuchtet, auf diefe Weife ihn bezeugt, und und dadurch in ale 
Wahrheit leitet. Diefer heilige. Geift ift die in den Kern dei 
menfchlichen und alled Lebens eingebrungene, von dem hiſtori⸗ 
ſchen Glauben unabhängige, aber den ewigen Inhalt deffelben 
beftätigende Einficht. 

Das Chriftentyum ift nicht bloß Lehre, fondern Princip ei⸗ 
ner Weltverfaffung, Gründung eines Reiches, des Reiche 
Gottes, welches eines ift mit dem Vernunftreihe, mit dem Hat 
begriffenen und freudig erfüllten Gefege des Chriſtenthums. In 
diefem Reiche herrfcht nur das Gewiſſen und Fein Zwang mehr. 
Es ift die Auflöfung des Staates als einer Zwangsanſtalt. Das 
Reich Tann nur kommen und der Zwang nur entbehrlich gemacht 
werben burch eine des Zieles Mar bewußte, zur Kunft der Men 





1049 
ſchenbildung entwickelte, fortvauernde Erziehung. Diefe Erziehung 
iſt ein unentbehrlicher Beſtandtheil des Reiches, ‘der Zwang dage⸗ 
gen nicht bloß zu entbehren, ſondern auszutilgen. 

Dieſes Ziel der Zeiten iſt angezeigt durch den Gang der Ge⸗ 
ſchichte. Das Werk des Alterthums war der abſolute Staat, 
das hiſtoriſche Chriſtenthum forderte die abſolute Kirche; der Ueber⸗ 
gang geſchah durch die Unterwerfung des Staats, der freiwillig 
den Primat der Kirche anerkannte und ſich ihm fügte: durch den 
germaniſchen Staat. Unter der Herrſchaft der Kirche wird der 
Staat entgöttert und zu einer rein menſchlichen Einrichtung, zu 
einem Werke des weltklugen Verſtandes gemacht. Die Entgötte: 
rung bed Staates ift zugleich eine Freigebung des Verſtandes. 
Der Glaube an die Staatsgötter ift vernichtet. Unabhängig von 
dieſem Glauben, erneuern fich bie Alterthumsſtudien. Jetzt wird 
der Widerftreit der heibnifchen Vorſtellungsweiſe mit der chrift 
lichen erkannt; gegen die vorhandene Wermifchung beider erhebt 
fi) der Proteftantismus mit der Glaubensreformation, welche 
die chriftliche Lehre von den hiftorifchen Sagungen und Traditio⸗ 
nen frei macht und auf die fehriftlichen Urkunden ald legte Quelle 
zurückführt. ber diefe Urkunden find felbft traditionell bedingt 
und bebürfen einer Auslegung und Erklärung, die jegt bei Feiner 
anderen Macht mehr gefunden werden kann, als der wiffenfchaft: 
lichen und philofophifchen Einfiht. So ift die Befreiung ber 
Philofophie felbft die Frucht und dad Werk der (Firchlich geleite: 
ten) Geſchichte. Die in ihrer freiften und tiefflen Einficht mit 
dem ewigen Inhalt des Chriftenthums einverftandene Wiffenfchaft 
iſt die reiffte Frucht der Philofophie, die Entdeckung Kant's und 
der Wiffenfchaftölehre, welche Ießtere zugleich das Ziel, bie Auf: 
gabe und Kunft der Erziehung erkannt hat ald die neue Richt 
ſchnur der Zeiten. Auch die chriftlichen Staaten treiben nad 


1050 


biefem Ziel. Ihre Vielheit erzeugt ben Wetteifer und biefer über: 
all dad Streben nach Machtentwidlung, bie ihre größten Hinder⸗ 
niffe in der Unbildung und dem Unverftanbe der Bürger, in den 
Privilegien der Geburt und bed Beſitzes findet. So fordert bad 
Staatöintereffe felbft die Einführung der bürgerlichen Rechtögleich- 
heit, die Verbefferung des Schulwefend, die Reform ber allge: 
meinen Volkserziehung, und fo reift nothwendig in allmäligem 
Fortſchritt ein fittlicher Zuftand, in welchem Einfiht und Bil- 
dung den Schulzwang, frieblicher Völkerverkehr den Krieg und 
Kriegszwang von felbft aufhören machen, fo daß zulegt die her⸗ 
gebrachte Zwangsregierung nichtd mehr zu thun findet. 

Ale gefchichtlich wirkfamen Zactoren ebnen die Bahn nad) 
dem Ziele, welches die Wiſſenſchaftslehre erkennt, und worauf 
fie mit aller Befonnenheit und Kunft die Erziehung des Men- 
ſchengeſchlechtes richtet. Im demfelben Maße, ald die Rechtsan⸗ 
flalt Erziehungsftaat wird, hört fie auf, Zwangsanſtalt zu fein, 
und nähert ſich dem Vernunftreiche. Dieß ift der Grundgedanke 
der neuen Staatölehre, die darin mit den Reden an die deutſche 
Nation und den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters völlig 
übereinftimmt *). 

Staatslehre u. |. m. (1813), III Abſchn. Neue Welt, S. 520 
—600, gl. Grundzüge des gegenw. Beitalterd, Vorl, XIIT— XIV. 


"Neben an die beutfihe Nation. VI. VII. X. Bol, Bud IV dieſes Bd. 
Gap. V. 6.892897, VII. 6. 9454-950. VIII. 6. 975—977. 


Zwölftes Capitel, 


Gefammteinheit und Chorakterifiik der ſichte ſchen Lehre. 
Giſſenſchaftslehre. 1806.) 


L 
Sefammteinheit. 


1. Charakteriſtik der neuen Darftellung der 
Wiſſenſchaftslehre. 

Die Wiſſenſchaftslehre in ihrem allgemeinen Umriſſe aus dem 
Jahr 1810 gilt und als die ſicherſte und gewiſſermaßen einzige 
Urkunde ber neuen Entwicklungsform. Diefes ift ihr Grundge— 
danke und ihre Summe: alles objective Sein ift im Wiffen be: 
gründet, das Wiffen felbft im abfoluten Sein (Gott); alle Welt: 
vorftellung (ale Erſcheinungen des Bewußtſeins) find Objectivi- 
rungen des Wiſſens, das Wiffen felbft ift unmittelbare Aeuße— 
rung (Bild) Gottes; das Bewußtſein ift der Durchgangspunkt 
und Uebergang vom abfoluten Sein zum obiectiven oder, was 
daffelbe heißt, vom realen Sein zum vorgeftellten. Das Bewußt⸗ 
fein ift eine auf fich felbft veflectirende Thätigkeit; was ed tut, 
das muß es zu einem Gegenftande feiner Reflerion machen, den 
es wieder zum Gegenftande einer neuen Reflerion macht. Die 
Refleriondform ift feine Grundform. Jedes Reflerionsprobuct ift 
Bild und Bild des Bildes. Darum ift innerhalb der Reflerionds 


1052 


formen, innerhalb alfo des Bewußtfeind, innerhalb der Vorſtel⸗ 
lungen und der Erfcheinungdwelt nichts an ſich Reales, fondern 
lauter „Bildweſen“. Entweder alfo giebt ed überhaupt Fein rea⸗ 
les Sein, ober es ift unabhängig von aller Reflerionsform, von allem 
Bewußtfein; entweder ift das reale Sein gar nicht, ober es iſt 
abfolut, lediglich aus und durch fich felbft. Nun ift alles Be 
wußtfein und ale Reflerion relativ, fie bezieht ſich auf eine ihr 
vorausgeſetzte Thätigkeit (in Reflerion auf welche fie entfteht), diefe 
Grundthatigkeit ift als Reflerion wieder bezogen auf eine ihr vor- 
auögefeßte, und fo fordert dad Bewußtſein, um überhaupt fein 
zu können, in letzter oder erfter Inſtanz eine Grunbthätigkeit, die 
nicht wieber in einer Neflerion, nicht wieber in einem Bewußt⸗ 
fein gegründet fein kann, fondern im Sein felbft, im Sein, das 
ſchlechtweg aus ſich iſt, im abfoluten Sein oder Gott, unmittel- 
bar in ihm begründet, unmittelbare Folge Gottes, Aber wir 
dürfen nicht fagen: Got macht biefe auf fich refletirende Thaͤ— 
tigkeit, denn er würde dann felbft eine folche Thätigkeit fein, er 
würde felbft in die Reflerionsform eingehen, und die Reihe ber 
. Reflerionen würbe ald göttliches Bewußtfein von neuem beginnen, 
das Bewußtfein und damit dad Bildwefen würde unter neuem 
Namen fein altes Spiel von vorn anfangen, und es gäbe fein 
reales Sein als ſolches. Daher ift dad Bewußtfein zwar unmittel⸗ 
bare Folge Gottes, aber nicht deffen Wefen und That, fondern 
nur fein Bild oder Schema. Nicht Gott macht fein Bild, fon- 
bern das Bewußtfein ift und macht ed; Bild Gottes zu fein, ift 
fein Vermögen, feine Thätigkeit, feine Aufgabe. Nicht Gott 
macht dad Bewußtſein, fondern dieſes vollzieht fich felbft. Der 
möge ber bloßen Reflerion Tann eö feine eigene Thätigkeit immer 
nur abbilden und in-Bildivefen verwandeln; es Tann daher ver: 
möge ber Reflerion dad Bild Gottes nicht fein, fondern fih 





1053 


höchſtens ald folches wiffen d. h. Bild des Bildes fein und- wie- 
der Bild vom Bilde des Bildes. Die Neflerion verwirklicht das 
Bild nicht, fondern entfernt ſich davon, fie Bann daher die Aufs 

- gabe des Bewußtſeins nicht löfen, bie reale Beftimmung deſſel⸗ 
ben nicht erfüllen. 

Um daher Bild Gottes zu fein, muß das Bewußtſein die 
Reflerionsform fallen laffen. Wenn wir aber vom Willen die 
Refleriondform abziehen, fo bleibt die Grunbthätigkeit übrig, wel⸗ 
he unmittelbar dad Bild Gottes zu verwirklichen ſtrebt. Dieſes 
aus ſich felbft thätige Sein nennt Fichte „Eeben”. Man kann 
Das Bild Gottes nur fein, wenn man ed lebt. Dieſes lebendige, 
fich felbft treibende Vermögen, dem das Bild Gottes als fein Ziel 
und Endzwed unmittelbar einleuchtet (dieſes Ich, welches weiß, 
was es ſoll) nennt Fichte „Wille“. Der feiner. ewigen Beftim- 
mung gewiffe und in ihr ruhende Wille ift das unmittelbare Bild 
Gottes, er ift Bild des göttlichen Seins, er ift ſeliges Leben*). 

Der Wille fordert die Einficht der ewigen Beflimmung, er 
muß erleuchtet fein von dem Soll, er muß unmittelbar wiffen, - 
was er foll, er fordert daher dad Wiſſen, dad Bewußtſein. Um 
aber Wille in diefem Sinne zu fein, dazu ift nöthig, daß wir 
die Nichtigkeit der Refleriondformen burchfchauen ; um dieſe Nich⸗ 
tigkeit zu durchſchauen, müffen. die Refleriondformen in ihrer 
Nothwendigkeit gefegt und entwidelt werden. Dieß gefchieht in 
der nothwenbigen Entwicklungsgeſchichte des Bewußtſeins. Die 
Einficht in diefe nothwendige Entwicklungsgeſchichte giebt die Wif- 
fenfchaftslehre ,. fie begründet. dadurch und nur dadurch ‚die Ein- 
ficht in die Nichtigkeit jener Nefleriondformen, und fie begründet 
durch diefe Einficht und nur dadurch die „Lebenslehre“. 


*) gl. ob, S 1023, unt, ©, 1034, 


1054 


2. Die Identität der alten und neuen Lehrform. 

Vergleichen wir jest die Wiffenfchaftslehre in ihrer neuen 
Entwicklungsform, wie fie der allgemeine Umriß vom Jahr 1810 
und dargelegt hat, fo liegt die Uebereinftimmung mit der Reli⸗ 
giondlehre, wie fie Fichte in den Anweifungen zum feligen Leben 
entwidelt, Har am Tage. 

Vergleichen wir fie mit der erflen Entwidiungsform der 
Wiſſenſchaftslehre, fo leuchtet ein, daß bie urfprüngliche Lehre 
in der neuen Form vollkommen biefelbe geblieben ift: — nämlich 
bie Einfiht in die Entwicklungsgeſchichte des Bewußtfeins, in 
die nothwendige Reihe feiner Reflerionsformen. An diefem Cha- 
rakter, in dem bie Wiſſenſchaftslehre beſteht, ift nicht das 
Mindefte geändert. Hier ift, abgefehen von den Worten, den 
Wendungen und der Darſtellungsart, nicht einmal eine fchein- 
bare Differenz. Und wo die Differenz zu fein fcheint, in dem 
Fortfchritt von der Wiffenfchaftölehre zur Lebenslehre, da ift fie 
in Wahrheit nicht wirklich, denn dieſer Zortfchritt ift fo alt, als 
die Entwidlungsgefchichte der Wiffenfchaftslehre felbfl. Oder 
meint man, Fichte habe je die Refleriondformen und deren Pro- 
ducte für Dinge an fich gehalten; er habe je bezweifelt, daß es 
ein abfolutes Sein, ein wahrhaft Seiendes gebe; er habe biefes 
Sein je wo anders gefucht, ald im Grunde und in der Wurzel, 
in ber Urbebingung alles Bewußtfeind, da er doch von vornher⸗ 
ein wußte, daß es unter ben Objecten des Bewußtfeind nie 
gefunden werben Fönnte, da er doch ſchon in der erflen Grund: 
lage ber Wiflenfchaftslehre gezeigt hatte, wie alle jene Objecte, 
die und als gegeben erfcheinen, notwendige Producte der Ein: 
bildung find? - 

As Fichte das Ich zum Princip der Wiffenfchaftölehre machte, 


1055 


war er darüber vollkommen im Klaren, daß dieſes Ich als ſub⸗ 
jectives Bewußtfein in der Reflerionsform (Trennung von Sub: 
ject und Object) beftehe, Durch diefe Reflerionsform gebrochen und 
in eine endlofe Reihe von Reflerionen aufgelöft werde, daß ed in 
nichts zerfließe. Man vergeffe nicht, mit welcher Klarheit Fichte 
diefen Sag entwidelt hat in jenem Verſuch einer neuen Darftels 
lung der Wiffenfchaftslehre, den er in demfelben Jahre fchrieb, 
als feine beiden Einleitungen in die urfprängliche Wiflenfchafts: 
Lehre felbft. Es ftand fchon damals feſt: entweder ift dad Ich 
nichtig, ober es ift die abfolute Einheit von Subject und Object, 
es ift deren unmittelbare Ipentität. Unmittelbar ift diefe Iden⸗ 
tität, weil refleriondlos, weil durch Feine Reflexion getrennt, 
weil von aller Reflerion unabhängig. Unabhängig von aller Re 
flerion ift allein dad wahrhaft wirkliche, abfolute Sein, welches 
durch fi iſt. Dieſes Sein ift eined mit jener Identität, und 
wenn Fichte beide unterfcheidet, fo gefchieht ed nur darum, weil 
der Begriff der Ioentität noch den einer Beziehung in fich fchlies 
Ben könnte, die ber Begriff bed abfoluten Seins völlig aus⸗ 
fchließt, weil Ipentität nach Tantifhem Sprachgebrauch noch 
Reflexionsbegriff ift. 

Das Ich Tann nicht gefegt werben ohne ein abfolutes Sein, 
dad ihm unmittelbar zu Grunde liegt. Diefer Gedanke verändert 
an ber Wiflenfchaftölehre felbft gar nichts, er iſt auch ihrer ur 
fprünglichen Form keineswegs fremd. Dad Ich muß daher ge: 
fegt werden ald bie abfolute Erſcheinungsform des abfoluten Seins, 
als Bild oder Schema Gotte. Der Begriff des abfoluten Seins 
oder des Abfoluten ſchlechtweg ift daher in der Wiſſenſchaftslehre 
feine dogmatifche, fondern eine Fritifche Beftimmung, denn es 
iſt gefegt in Rüdficht auf das Ich, als deffen nothwendige Urs 
bedingung, ohne welche dad Ich nicht fein Tönnte, es ift nichts 


1056 


anderes als das von aller Reflerion unabhängige Sein des Ich 
felbft, das Ich, nicht ald Reflerion, fondern als urfprünglices 
und abfolutes Leben. 


I. 
Fichte's Selbſtcharakteriſtik. 
Bericht Über die. Wiſſenſchaftslehre aus dem Jahr 1806. 
1. Anti-Schelling. 

Hören wir jebt Fichte'S Zeugniß felbft über das Verhältnif 
der neuen Darſtellung der Wiffenfchaftölehre in ihrem Verhaltniß 
zur alten. Wir wiflen bereits, wie er in der Vorrede zu feiner 
Religionslehre ausdrüdlich erflärte, daß ſich feine urſprüngliche 
Lehre in keinem Stücke geändert habe, daß die Lebenslehre deren 
hellſter Gipfel und Lichtpunkt ſei. In demfelben Jahre (1806), 
als er die Anweifungen zum feligen eben herausgab, ſchrieb er 
den (aus feinem Nachlaß veröffentlichten) „Bericht über den Be: 
‚griff der Wiſſenſchaftslehre und deren bisherige Schickſale“. Nir: 
gends hat ſich Fichte fo deutlich und unummunden über dad Ver: 
haltniß ber beiden Entwicklungsformen ber Wiſſenſchaftslehre, ni: 
gends fo wegwerfenb und leidenſchaftlich verblendet gegen bie ſchel⸗ 
ling'ſche Naturphilofophie auögefprochen ald in diefem Berichte. 
Hier behandelt er Schelling nicht bloß ald einen zweiten Nikolai, 
er nennt ihn auch fo. Daß Schelling der Wiffenfchaftslehre 
„Subjectivismus“ vorgemworfen,. erfcheint ihm als der gröbſte Un: 
verftand, ald das niebrigfte Mißverfländniß; ed war der Bor 
wurf, daß Fichte dad fubjective Ich zum Princip gemacht habe. 
Daß die Naturphilofophie die Sinnenwelt unabhängig vom fub: 
jectiven Bewußtfein und vom Wiffen überhaupt nehme und ald 
Ding an ſich behandle, erklärte Fichte für abfolute Unphilo: 
fophie und Antiphilofophie. Er will in dem Philofophen Schek 





1057 


ling ein Beifpiel „der allgemeinen Schlaffheit und Geiftiofigkeit 
des Zeitalter8”, einen Repräfentanten der allgemeinen Seichtig- 
keit“ hinſtellen, ähnlich wie er ed fünf Jahre vorher mit Nikolai 
gethan hatte. Daß Schelling in feiner legten Schrift „Philofos 
phie und Religion“ (1804) den Hervorgang der endlichen Dinge 
aus dem Abfoluten als Abfall betrachte, darin zeige fich jener 
alte und veraltete bogmatifche Dualismus, der die Materie für 
ein Ding an ſich halte und in der Wurzel materialiftifch gefinnt 
feiz fo fei die ganze fogenannte Naturphilofophie in ihrem letzten 
Grunde nicht weiter als „ftodgläubiger Empirismus“ nach dem 
Vorbilde Nikolai's. Mit diefem Syſtem vertrage fich weder Gott 
noch Moralität. Er fage das zur Charakteriſtik eines ſolchen 
Syſtems, nicht ald Gefinnungsvorwurf gegen bie Perfon des Phi: 
lofophen. Daß Schelling die Erkenntniß der Einheit alles Seins 
mit dem göttlichen Sein fuche, fei eine löbliche Abficht, die Fichte 
ebenfalld habe, nur fei der Unterfchied, daß er leifte, was jener 
nicht leiften Tönne, fondern nur daran herumrede, „Und fo 
werfe ich ihm denn,“ fchließt die kategoriſche Erklärung „als Phi⸗ 
loſophen ganz und unbedingt weg, und ald Künfter erfenne ich 
ihn für einen der größten Stümper, die jemald mit Worten ge: 
ſpielt haben*).” 


2. Wiffenfhaftslehre und Lebenslehre. 

Fichte firirt hier den Begriff der Wiffenfchaftölehre genau fo, 
wie wir von Anfang an dad Problem berfelben beftimmt. Sie 

*) Bericht über ben Begriff ber Wiſſenſchaftslehre und deren bisherige 
Schickſale. (Geſchr. 1806.) Cap. IL. S. W. III Abth. III 36, 
&.384—407. Vol. damit „Bemerkungen bei ber Lectüre von Schel⸗ 
ling's tranafe. Idealismus.“ (1801.) „Zur Darftelung von Schelling's 
Hoentitätsfgftem in ber Zeitfchr. für fpecul, Phyſit.“ Nachgel. W. III BD, 
6. 368—389. 

Fifher, Gefhläte der Phltofophie V. 67 


1058 


habe bie durch Kant's Entdeckungen an die Menfchheit geftellte 
Aufgabe ergriffen und gelöſt. Kant's Ausführung fei hinter der 
Aufgabe zurüdtgeblieben und konnte das Ziel nicht erreichen, denn 
er habe die Vernunftvermögen nur inbuctiv hergeleitet, in ver- 
ſchiedene Zweige gefpalten und nicht in ihrer abfoluten Einheit 
erfaßt. Die Bernunftgefeße zu deduciren, durch eine wahre De: 
duction aus der Urquelle zu erfchöpfen und ald das, was fie find, 
darzulegen: barin habe die Aufgabe und Leiftung der Willen: 
ſchaftslehre befanden. Sie durchſchaute und ließ durchfchauen 
die Nichtigkeit aller Producte der Reflerion, bie 
das Grundgefeg des Wiſſens ausmacht. Wenige nur erfannten 
diefen Geift der Wiffenfchaftölehre und meinten jetzt, fie müſſe 
eben darum falfch fein, weil fie alle Realität auflöfe, und eine 
Realität denn boch fei und fein müfle. Auch könne die Wiffen- 
ſchaftslehre felbft nicht umhin, eine Realität anzuerkennen, indem 
fie „ein fubiectiveösobjectived Sein, ein wirkliches und concret 
beſtehendes Ich” ald Ding an fich vorausſetze. Diefe Auffaffung 
habe die Wiſſenſchaftslehre wirklich verfälfcht. Die Einen fan- 
den in ihr gar nichts Reales, die Anderen fuchten es, wo es un: 
möglich fein Ponnte, nämlich innerhalb der Reflerion. „Das 
Yublicum,” fagt Fichte, „will Realität, daſſelbe wollen auch 
wir, und wir find hierüber mit ihm einig. Die Wiſſenſchafts⸗ 
lehre hat den Beweis geführt, daß die in ihrer abfoluten Einheit 
erfaßt werben könnende und von ihr alfo erfaßte Reflerionsform 
feine Realität habe, fondern lediglich ein leeres Schema fei, bil: 
dend aus fich felber heraus durch ihre gleichfalls vollſtandig und 
aus einem Princip zu erfaffenden Zerfpaltungen in ſich felbft 
ein Syftem von anderen ebenfo leeren Schemen und Schatten, 
und fie ift gefonnen, auf diefer Behauptung feft und unmandels 
bar zu beftehen.” Das Publicum Eennt die Realität nur in der 





1059 


Reflerionsform, daher glaubte es durch bie Miffenfchaftslchre 
"le Realität vernichtet. Sollte diefem Publicum geholfen 
ssappy fo müßte man vor feinen Augen bie Form, in ber es 
“ibt, ablöfen und nun zeigen, „baß zwar feine Reas 
‚3 aber alle Realität vernichtet fei, fondern daß 
we der Form und nach ihrer Zerftörung erft die 
vealität zum Worfchein komme. Diefed letztere ift 
an ·cdeid ‚ge Aufgabe, welche wir zu feiner Zeit durch eine neue 
zlichft freie Vollziehung der Wiſſenſchaftslehre in ihren 
und tiefſten Grundlagen zu löfen gebenten.” Er habe, 
asp Fichte fort, feit lange das Werfprechen einer neuen. Dar 
\ un ng der Wiffenfchaftslehre gegeben. Eine ſolche Arbeit würde 
" Erfüllung jenes Verſprechens fein. Indeſſen habe er fidh dies 
10 Pußerfprechend fchon längft entbunden und fchiebe die Erfüllung 
aagnsmweiter hinaus, weil ihm immer beutlicher geworden, „baß 
An alte Darftellung der Wiſſenſchaftslehre gut 
Ind vorerft ausreichend fei”. „Da ich foeben die ehes 
malige Darftellung der Wiffenfchaftölehre für gut und richtig er⸗ 
Härt habe, fo verfteht es fih, daß niemals eine andere 
Lehre von mir zu erwarten ift, ald die ehemals an 
das Yublicum gebrachte. Das Wefen der ehemald dar 
gelegten Wiſſenſchaftslehre beftand in der Behauptung, daß die 
Ichform oder die abfolute Reflerionsform der Grund und bie 
Wurzel alles Wiffend fei, und’ daß lediglich aus ihr heraus alles, 
was jemals im Wiffen vorfommen könne, fo wie ed in demſel⸗ 
ben vorkomme, erfolge.” „Diefen Charakter wird ber Leſer in 
allen unferen jegigen und fünftigen Erklärungen über Wiffen: 
ſchaftslehre unverändert wiederfinden *).” 
_ Bier Jahre fpäter erfüllte Fichte den Grundzügen nach je⸗ 


y Chenbafelbft I Cap. S. 361—369, 


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0” 


Jpung 


67* 


1060 


ned Verfprechen, von dem er hier fagt, daß es Faum noch erfült 
zu werben brauche, weil ed eigentlich ſchon gelöft ſei. Er ent: 
warf die neue Darftelung ber „Wiffenfchaftölehre in ihrem all⸗ 
gemeinen Umriß“. Sie gilt ihm nicht ald eine neue, fondern 
ald eine mit der alten völlig identifche Lehre. Nachdem biefe 
gezeigt hat, was dad Reale nicht ift, fo leuchtet unmittelbar 
ein, was das Reale iſt. „Sollte ſich,“ fagt Fichte in dem Be 
richt vom Jahr 1806, „die Ichform Elar durchdringen laffen, fo 
würden wir einfehen, was an und und unferem Bewußtfein le 
diglich aus jener Form erfolge, und was fomit nicht reines, fon: 
dern formirted Leben fei, und vermöchten wir nun dieſes von un: 
ferem gefammten Leben abzuziehen, fo würde erhellen, was an 
und ald reines und abfoluted eben, was man gewöhnlich dad 
Reale nennt, übrigbleibe. Es würde eine Wiffenfchaftslehre, 
welche zugleich die einzigmögliche Lebenslehre ift, entftehen*).” 

Diefe Lebenslehre gab Fichte in demſelben Jahre, ald er den 
Bericht fehrieb. Es waren die Anweifungen zum feligen Leben. 
Die Wiffenfchaftölehre, welche die Lebenslehre in fich begreift, 
indem fie in der „Weisheitslehre“ gipfelt, gab er vier Jahre fpd: 
ter in ihrem allgemeinen Umriß. 

*) Ebendaſ. I Cap. Zur vorläufigen Erwägung. S. 369—371. 





Dreizehntes Kapitel, 


Gefammtrefultat und Kritik. 
(Wiffenfhaftstehre. 1801.) 


L 
Summe, 

Die Gefammteinheit der fichte'fchen Lehre in ihrem ganzen 
biftorifchen Umfange ift aus der volftändigen Entwicklung berfel: 
ben feftgeftelt, in Uebereinftimmung mit Fichte'd eigener Anſicht 
und den auöbrüdlichen Erklärungen, bie er wiederholt darüber 
abgegeben hat. Man darf diefe Sache nicht aus vereinzelten, da 
oder dort aufgelefenen Ausfprüchen beurtheilen, aus deren Wort: 
laute man leicht eine Menge Widerfprüche zufammenfegen Tann, 
die alles verwirren; am wenigften barf man ſich an den Buch⸗ 
faben der nachgelaffenen ffizzirten Vorlefungen halten, in denen 
Fichte den Zuhörern gegenüber unaufhörlich nach Klarheit ring, 
jeßt verfichert, daß er in diefem Ausdruck die höchfte Klarheit ers 
veicht habe, jetzt verfpricht, die Sache werde an einem anderen 
Ort erft zu völliger Klarheit kommen, fortwährend mit dem Ver⸗ 
ftändniffe erperimentirt und häufig der didaktifchen Wendung zu 
Liebe das Licht dergeftalt auf einen einzelnen Punkt zufammen- 
sieht, daß ſich die übrigen darüber verdunkeln. Ueberhaupt. lei⸗ 
den diefe Borlefungen an einem Mangel der den Leſer leicht er: 
müden und ungeduldig machen Tann: fie rücken kaum von ber 


1062 


Stelle und wiederholen immer wieder an demfelben Punkt das 
Experiment des Klarmachend, zum vermeintlichen Beſten de Zu: 
börerd, häufig zum Nachtheil der Sache. Nirgends hat Fichte 
feiner Meifterfchaft im Lehren fo fehr im Wege geftanden, ald in 
biefen fpäteren Vorleſungen über die Wiffenfchaftslehre, die er 
felbft gewiß niemald in der Form herausgegeben haben würde, 
in der wir fie jest Iefen. Dieß gilt befonberd von den Vorle- 
fungen aus dem Jahr 1804. Seine ganze Lehre war in ihm 
ſelbſt fo völlig Anſchauung und Leben geworden, daß fie anfing 
dem abftracten Lehrvortrage zu widerftreiten, daß ihm felbft der 
ſprachliche Ausdrud, der die Zeichen abgelöfter und todter Be— 
griffe an die Stele der ganzen und lebendigen Anfchauung ſetzt, 
ald eine Ertöbtung ber Iegteren erſchien. Er fühlte, daß man 
feine Anfhauungsweife haben und in ihr leben müffe, um feine 
Worte zu verftehen. So fagt er einmal in feinen patriotifchen 
Geſprachen: „die Sprache liegt in ber ‚Region der Schatten. 
Was ich daher auöfpreche, ift nie meine Anſchauung felber, und 
nicht da, was ich fage, fondern das, was ich meine, ift unter 
meinem Auöbrude zu verftehen‘).” Seine Einleitungsvorlefuns 
gen im Herbft 1813 beginnt er mit der Erflärung, die Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre fege einen „neuen und befonderen Sinn“ voraus, den 
fie zur Anſchauung der Freiheit und des Lebens jenfeitd aller Na: 
tur erheben wolle, fie fordere und entwidle den Sinn für ben 
Geiſt, das Sehen des Geifted, die Anſchauung bed Schaffens 
uff”). Es iſt diefelbe Wiſſenſchaftslehre, von der Fichte 
noch im fonnenklaren Berichte gefagt hatte, fie verhalte fich zu 
ihrem Object (dem wirklichen Bewußtfein), wie die Demonftra: 
tion, eines Uhrwerks zur wirklichen Uhr. Je mehr-aber die Wif- 
Nachg. Werte. III Bd. ©. 258, 


**) Einleitungsvorleſg. in die Wiſſenſchaftslehre (1818). Nachgel. 
W. I, 6.1—23, 


1063 


ſenſchaftslehre Lebenslehre fein will und in ihrer Vollendung mit 
dem religiöfen Leben felbft zufammenfällt, um fo ſchwieriger wird 
ihr das Eingehen in bie demonſtrative Form der Entwidlung. 

" Ihre ganze Summe liegt in dem Sat: alles objective Sein — 
Erſcheinung oder Bild des Wiſſens (Sehens); das Wiffen felbft = 
Erſcheinung oder Bild des abfoluten Lebens. „Dieß ift nun das 
abfolut Neue unferer Lehre,“ fo- lautet einer der legten Säße je: 
ner legten Einleitungsvorlefung in die Wiffenfchaftölehre, „dieſes 
Dreifache, daß der abfolute Anfang und Träger von allem reines 
Leben fei, alles Dafein und alle Erſcheinung aber Bild oder Se: 
hen dieſes abfoluten Lebens fei, und daß erft dad Product dieſes 
Sehens fei die objective Welt und ihre Form*).” Die objeetive 
Welt ift nichts als Erfcheinung, fie ift durchgängig phänomenal, 
ihr Grund und Träger ift das Wiſſen; dad Wiffen ift nichts 
als Erſcheinung, ed ift durchgängig. phänomenal, fein Grund 
und Träger ift dad abfolute Sein (Gott). Vergleichen wir mit 
diefer Summe die beiden Entwicklungsperioden ber Wiſſenſchafts⸗ 
lehre, fo erleuchtet die erfte vorzugäweife den phänomenalen Cha= 
rakter ber Welt, und die zweite vorzugämeife den phänomenalen 
Charakter des Wiſſens; wir haben gezeigt, wie von dem erflen 
Gliede notwendig und ohne Abbruch fortgefchritten werden muß 
zum zieiten, und dieſes fchon enthalten und mitgeſetzt ift in je⸗ 
nem. So laffen fich in der fürzeften Formel die beiden Entwick- 
lungsperioden unterfcheiden und verfnüpfen. Diefe Formel er: 
leuchtet ihre Eigenthümlichkeit und zugleich. ihre innere Einheit. 


IL 
Ungelöfte Probleme, 
1. Wiſſen und Welt. Das naturphiloſophiſche Problem. 
Sind nun die beiden Grundaufgaben, in denen die gefammte 
*) Ebendaſelbſt. Nachgel. W. J Bd. S. 101. 


1064 


fichte ſche Lehre beftcht, auch wirklich gelöft? Die erfte betrifft 
die Begründung ber objectiven Welt aus dem Wiſſen (Freiheit), 
bie zweite die Begründung des Wiffend aus dem Abfoluten (Gott). 

Was dad Bemwußtfein felbftthätig erzeugt, das läßt ſich aus 
ihm ableiten und begründen: das Reich der bemußten Zwecke, 
ber freien Handlungen, bie fittliche Welt. Diefes Gebiet liegt 
im Erleuchtungöfreife der Wiffenfchaftölehre, und die letztere fins 
det daher auch in ber Sittenlehre ihr eigentliches heimifches Ele- 
ment. Anders dagegen verhält es fich mit dem Inbegriff derjeni⸗ 
gen Erfceinungen, welche dad Bewußtfein genöthigt ift ald vor⸗ 
gefunden und gegeben zu betrachten, nicht als fein Product, fon 
dern als fein Object: mit der Natur und Sinnenwelt. Die 
Wiſſenſchaftslehre will dad Syſtem unferer nothwendigen Vor⸗ 
ſtellungen, den Inbegriff unſerer Erfahrungsobjecte ableiten, fie 
will diefelben vor dem geiftigen Auge entfliehen laffen. Die Na— 
tur ift dieſes Syſtem nothwendiger Vorftellungen. Daher ent 
hält die Aufgabe der Wiſſenſchaftslehre dad Problem einer Nas 
turphilofophie als unerläßlichen Beftandtheil. Nun hat die Wiſ⸗ 
fenfchaftsiehre ein Syſtem der Naturphilofophie nicht gegeben, fie 
bat diefen Theil ihrer Aufgabe materiell nicht gelöfl. Es wäre 
zu viel gefagt und falfch, wollte man daraus fchließen, daß fie in 
Betreff des Naturbegriffs nichts geleiftet habe. . 

Was fie in diefer Rüdficht geleiftet Hat, läßt fih auf fol⸗ 
gende Punkte zurüdführen. Nehmen wir die Natur ald Kör- 
perwelt in Raum und Zeit, fo bat die Wiffenfchaftölchre Raum 
und Zeit aus dem theoretifchen Ich als nothwendige Anſchauung, 
fie hat den Raum ald unmittelbare Selbftanfhauung des Wiſ⸗ 
ſens dargethan, fie hat das raumerfüllende körperliche Dafein 
(Materie) ald nothwendigen Widerftand aus dem praktifchen Ich 
(Streben) abgeleitet. Nehmen wir die Ratur als finnliche Welt, 


1065 


fo fteht fie unter der Bebingung der Empfindung und Wahrneh: 
mung, unter der Bedingung des finnlichen Ich; die Wiſſenſchafts⸗ 
lehre hat aus dem theoretifchen Ich die Nothwendigkeit der Em: 
pfindung und Wahrnehmung, fie hat aus der Freiheit und deren 
Einfhräntung die Nothwendigkeit des Börperlichen, leiblichen, 
finnlichen Ich deducirt. Sie hat aus dem fittlichen Ich ald eine 
elementare Bedingung deſſelben die Nothwendigkeit des Triebes 
bewieſen, der, unabhängig von aller Reflexion wie er iſt, fein 
Freiheitöproduct, fondern nur Naturproduct fein könne, darum 
eine Natur ald organifches Spftem, ald organifirendes Ganzes 
fordere. Nehmen wir endlich die Natur im Ganzen ald dad 
Reich bewußtlofer Thätigkeit, fo hat die Wiffenfchaftslehre auf 
das Klarfte bewiefen,. wie dad Bewußtfein in fich felbft eine 
Grundthätigkeit vorausfege, in Neflerion auf welche es erft ent⸗ 
fteht, die darum nothwendig bewußtlofe Thätigfeit, bewußtloſes 
Bilden fein müffe, deffen Producte ald Objecte von außen er= 
ſcheinen und dem bewußten Ich als wirkſames (reales) Nicht-Ich, 
ald Natur entgegentreten. Kein vorftellendes Ich ohne Raum 
und Zeit, fein ftrebended Ich ohne widerftrebendes Nicht: Ich, 
ohne fremde Körper, kein freies Ich ohne eigene finnliche Indie 
vidualitat, Fein fittliches Ich ohne Naturtrieb, Fein Naturtrieb 
ohne organifched Naturfyftem, ohne organifirende Natur; Fein 
Bewußtfein überhaupt ohne bewußtlos producirende Einbilbung, 
ohne Naturproduction *). 

Es Hieße daher von der Wiſſenſchaftslehre in Wahrheit nichts 
wiffen (außer etwa durch gedankenlofes Hörenfagen), wollte man 


*) Bol. Buch III dieſ. Bandes Cap. V. ©. 534—537. Cap. VI. 
6.556566. (Bud IV. Cap. II. S. 831—834); Buch III. ur 
VID. &.600—607, Cap. ZI. &,700— 708, Bud. IV. Cap. XI. 

S. 1040 flgb. 


1066 

meinen, ihr Princip fei naturlos, fie habe den Zuſammenhang 
zwifchen Ich und Natur ganz außer Acht gelafien und den Na— 
turbegriff gar nicht berührt, Sie hat die Natur im Ich begrif- 
fen und aus ihm die Nothwendigkeit derfelben bewieſen. Bäre 
die Natur ein von dem Ich und allem Bewußtfein unabhängiges 
Ding an fih, fo wäre Vorſtellung und Inteligenz, Bewußtſein 
und Ich unmöglih. Das Bewußtſein ift und gilt in Ruckſicht 
auf die Natur oder objective Welt ald nothwendiges Prius. Un: 
möglich ift daher die Natur ald Ding an fih. Nothwendig alfo 
muß fie gefaßt werben ald Object und Product ded. Bewußtſeins. 
Nun wirkt die Natur im Unterſchiede vom Ich bewußtlos, fie 
wirkt nicht ald Ich, fondern ald Nicht: Ich. Soll daher die Na- 
tur möglic) fein, fo muß es im Ich bemwußtlofe Production ge 
ben, ein Nicht: Ich, welches nicht jenfeits des Ich ift, fondern 
von der Sphäre beffelben umfaßt wird, alfo emen Theil ober 
ein Quantum deö Ich bildet, Fein ertenfived Quantum, fondern 
ein intenfived (Thätigleitöquantum), eine Potenz (Grad) des Ich, 
mit einem Worte: ein Nicht:Ich, welches noch nicht Ich ift: ein 
werdendes Ich. Diefe bewußtloſe Thätigkeit hat die BWiffen- 
ſchaftslehre als productive Einbildung aus den Bedingungen des 
Ich, diefes Nicht: Ich hat fie aus der Quantitätsfähigkeit ( Theil⸗ 
barkeit) des Ich deducirt. „Licht und Finſterniß,“ fagt fie an 
der einfchlägigen Stelle, „find überhaupt nicht entgegengefeht, 
fondern nur den Graden nach zu unterfcheiden. Finſterniß ift 
bloß eine fehr geringe Quantität Licht. Gerade fo verhält es ſich 
zwifchen dem Ich und dem Nicht:Ich*).” 

Der Begriff der Natur ald des werdenden Ich ift durch die 
Wiſſenſchaftslehre nicht bloß gefordert, fondern ausdrücklich ges 
fegt. Die Erleuchtung der Naturerfheinungen aus biefem Be— 

*) Vol. oben Buch III. Cap. IV. &,517flgb. 


1067 


geiff iſt die Aufgabe einer Naturphilofophie, deren Löfung die 
Wiſſenſchaftslehre nicht felbft gegeben hat, aber ald nächften Fort⸗ 
ſchritt verlangt. Die Natur will fo erflärt werden, daß aus ihr 
felbft die Möglichkeit ihrer Objectivität und Exkennbarkeit, die 
Möglichkeit einer Naturwiffenfchaft einleuchtet. Das fordert die 
kritiſche Philofophie; die Grundlage dieſes Naturbegriffs giebt 
die Wiffenfchaftölehre; den erften Verſuch einer ſyſtematiſchen Lö⸗ 
fung der darin enthaltenen Aufgabe macht Schelling. Wie 
es kam, daß Fichte diefen Fortfchritt gänzlich verfannte, weil er 
Die ſchelling ſche Lehre bloß ald Naturphilofophie und diefe ledig⸗ 
lich ald Dogmatismus anfah, ift eine Frage, auf die wir jetzt 
nicht eingehen können, weil ihre Beantwortung das Syſtem 
Schelling's vorausſetzt. 

Ber die Natur fo erklärt, daß daraus die Unmöglichkeit er⸗ 
belt, fie überhaupt zu erklären, zu erkennen, zu wiſſen; wer 
die Natur fo faßt, daß diefe Natur jede Art der Naturwiffen: 
ſchaft unmöglich macht, der hat den Beweis in der Hand, daß 
er fi im Principe geiret hat. An diefem Punkte fcheitert jeder 
Dualismus, jeder Materialismus. Won hier aus erleuchtet ſich 
für jedes Auge, das fehen will, die Nothwendigkeit der Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre und einer auf fie gegründeten Naturphilofophie. 

Unmittelbar gewiß kann und nur die eigene Thätigfeit und 
deren Product fein. Die außer und befindliche Erſcheinungswelt 
(Sinnenwelt, Natur) ift und unmittelbar gewiß. Sie könnte 
es nicht fein, wenn fie nicht Ausbrud und Product der Thatig⸗ 
keit wäre, bie wir felbft find, wenn nicht die Natur Ich, und 
das Ich Natur wäre. Sie muß jenes (unmittelbar gewiß) fein, 
da fie diefes ift. Der Realismus fußt auf dem Sat von der 
unmittelbaren Gewißheit des Dafeind der Außenwelt, der Rea⸗ 

lismus fehe zu, welches Syſtem im Stande ift, dieſen feinen 


1068 

Sat zu rechtfertigen; er ſelbſt mit feinen gewöhnlichen Begriffen 
gewiß nicht, ebenfowenig der Dualismus, ebenfo wenig der Ma: 
terialismus; nur die kritiſche Philofophie und die Wiſſenſchafts⸗ 
lehre vermag den Realismus in feinem Fundament zu beglaubi- 
gen. Nur fie ift in diefer Rüdficht wahrhaft realiſtiſch. Wäre 
die Natur, wie der fogenannte Realismus will, ein vom Be 
wußtfein vöNig unabhängiges Ding an fich, wie folte ihr Dafein 
dem Bewußtſein unmittelbar einleuchten? 

„Dieß,“ ſagt Fichte in feiner Darſtellung der Wiffenfchaft- 
lehre vom Jahr 1801, „ift der wahre Geift des trandfcendentalen 
Idealismus. Alles Sein ift Wiffen. Die Grundlage des Uni: 
verfums ift nicht Ungeift, Widergeift, deffen Verbindung mit 
dem Geifte fich nie begreifen ließe, fondern felbft Geiſt. Kein 
Tod, keine leblofe Materie, fondern überall Leben, Geift, In- 
telligenz: ein Geifterreich, durchaus nichts anderes“).“ Und in 
den Einleitungsvorlefungen vom Jahre 1813 heißt ed von dem 
„gegebenen Sein”, welches dem äußeren Sinn ald Sein an fi 
erfcheintz „es wird erblickt nicht in feinem Sein, fonbern in ſei⸗ 
nem Werden und Entfiehen aus einem Anderen, weldyes in 
ihm nur gebunden und gefeffelt ift, in welcher Gebundenheit, die 
bier offenbar wird, eben dad Sein befteht. Alfo in diefer Ent- 
ftehung des Seins wird gefehen nicht dad Sein, fondern das im 
Sein Gebundene, ohrie Zweifel Freiheit, Leben, Geifl. Der 
neue Sinn ift demnach der Sinn für den Geiſt; der Sinn, für 
den nur Geift ift und durchaus nichtd Anderes, in dem auch 
daB Andere, das gegebene Sein, annimmt die Form des Geiſtes 
und fic) darein verwandelt, dem darum das Sein in feiner eige- 

*) Darftellung der Wiſſenſchaftslehre (1801). I Theil 8.17. S. 
W. IAbth, U Bd. ©. 35, 


1069 


nen Form in der That verfchwunden ift*).” Daß die Natur ber 
mußtlofer oder gebundener Geift ſei, — diefe Grundanfchauung, 
von der die fpätere Naturphilofophie lebt, — iſt nicht bloß eine 
Folgerung aus der Wiflenfchaftölehre, fondern deren ausdrückliche 
Erklärung, und zwar eine ſolche, in der alle Entwicklungsfor⸗ 
men berfelben übereinflimmen. Die Entwidlung diefed Natur: 
begriffs zu einem Syſtem der Naturphilofophie, welches bie fich⸗ 
te ſche Wiflenfchaftölehre nicht giebt, ift daher eine nothwendige 
Fortbildung der letzteren. 

Diefen Naturbegriff gefest, fo leuchtet ein, wie dad Ich in 
einer doppelten Bedeutung gelten muß, deren Nichtunterfcheis 
dung von jeher das gröbfte Mifverftänbniß der Wiffenfchaftslehre 
ausmachte. Das Ich gilt einmal ald das nothwendige Prius ber 
Natur, als die Naturproduction felbft; es gilt dann als das 
nothwendige Naturrefultat oder Naturprobuct, wodurch der Sag, 
daß dad Ich fich felbft fegt oder aus fich felbft reſultirt, nicht 
aufgehoben, fondern vielmehr beftätigt wird: es refultirt aus der 
Natur ald aus feiner eigenen, immanenten Vorausſetzung. Fichte 
felbft erflärt in feiner Sittenlehre, dad Ich als (reflerionslofer) 
Trieb fei Naturprobuet, organifched Naturproduct, Gebilde ber 
organifirenden Natur, leibliches finnbegabtes Individuum, dad 
als Object des Selbftbewußtfeind das individuelle Ich ausmacht. 
So weit das Ic Individuum iſt, gilt es ald Naturproduct, nicht 
aber ald Naturproducent, und es ift der Wiffenfchaftölehre nie eins 
gefallen, dad Gegentheil zu behaupten, welches abfurd wäre, 
Auch wenn die Rechtslehre aus der Freiheit die Individualität 
ableitet, fo gilt ihr bie letztere als Organ und nothwendige Be: 
dingung zur individuellen (perfönlichen) Zreiheit, keineswegs aber 


*) Einleitungsvorlefungen in bie Wiſſenſchaftslehre (1813), Nachg. 
W. IB. 6,19, 


1070 


als deren Product, als ob das Ich ſich mit Reflerion und Will: 
tür zum Individuum made. Ohne Natur wäre dad Indivis 
duum, ohne Freiheit dad Ich unmöglich; das individuelle Ich 
muß daher aus beiden abgeleitet werben, d.h. es folgt aus ber 
Freiheit mittelbar (durch die Natur) ald Individuum und unmit- 
telbar ald Ich. Das Ich ald Naturprincip ift demnach von 
dem Ich ober, genauer gefagt, von dem Individuum ald Natur- 
product genau zu unterfcheiden. Als Naturprincip-ift es (nicht 
das individuelle, fondern) das allgemeine oder abfolute Ich, die 
abfolute Freiheit, die Fichte auch Wiffen oder Sehen (Licht, Licht 
zuftand) nennt, die fich abbildet als Natur, individuelles Ich, 
Gemeine der Ich, Rechtöwelt, Vernunftreich und ſich vollendet 
als veligiöfes Leben, indem es die Refleriondform fallen läßt und 
damit die Trennung und Selbftheit überwindet. Nom Stand: 
punkt des Individuums aus erfcheint bie Sinnenwelt als bad Ge⸗ 
gebene und Reale, die Natur ald dad wahrhaft Wirklihe; vom 
Standpunkt des abfoluten Ich aus erfcheint fie ald Bild, als 
Freiheitöprobuct, ald Mittel zur Verwirklichung der Freiheit, als 
Schauplatz ber fittlichen, auf den Endzweck gerichteten Tätigkeit. 
Aus dem Geſichtspunkte der Natur betrachtet, erfcheint das In: 
dividuum als ein „organifches Naturprobuct”; aus dem Gefichts- 
punkte des Endzwedes betrachtet, erfcheint. bad individuelle Ich 
als „‚Probuct bed Endzweds“, als Glied einer fittlihen Weltord⸗ 
nung, als Erſcheinung einer beftimmten fittlichen Aufgabe. Auf 
diefem Standpunkt ſteht die Wiſſenſchaftslehre. Aus dem Wil: 
fen begründet fie die Erſcheinungswelt. Wie begründet fie das 
Wiſſen? Das ift die zweite Grumbfrage. 
72 Bein (Gott) und Wiffen. 
Begründung des Wiffens aus dem Abfoluten. (Die Wiffenfchafteichre aus 
dem Jahr 1801.) 
Das Wiffen felbft ift Bild, und alle feine anſchauende und 


1071 

teflectivende Thatigkeit erichöpft fich im Bilden und Abbilden; 
es ift als Freiheit Vorbild oder Endzweck, und alles fittliche Hans 
deln erfchöpft fich in dem Streben, den Endzwed zu verwirklichen. 
Das Bild ift nicht das Reale, aber es fordert ein Reales, wos 
rauf es ummittelbar fich bezieht, das ed unmittelbar ausdrückt. 
Dad Reale ift jenfeitd ded Wiſſens, unabhängig von ihm, nicht 
Bild noch Bilden, nicht Werben noch Vielheit: es iſt im Un- 
terfchiebe von aller Erfcheinung, von aller Mannigfaltigkeit und 
Veränderung, dad abfolute, eine, wandelloſe Sein,. dad Ab: 
folute als ſolches, Gott. 

Ohne Realität kein Bild, ohne Sein fein Wiffen. Zwi⸗ 
ſchen beiden nicht8 Drittes. So ift dad Wiffen nicht bloß abhän- 
gig vom Sein, fondern unmittelbar von ihm abhängig, es 
ift feine Erſcheinung (Bild), feine unmittelbare Folge. Das 
Wiſſen begründet die Welt aus fich und begreift fie als fein Abz 
bild, es begründet fich aus dem Abfoluten und begreift ſich ald 
deffen unmittelbare Erfcheinung. Wie ift diefe Begründung mög: 
lich? Indem es die Welt aus fich begründet, geht ed nicht über 
fi Hinaus. Indem es fi) aud dem Abfoluten begründet, geht 
es über ſich hinaus.” Wie ift dad möglih? Wie kann das Wiſ⸗ 
fen über ſich hinausgehen und die Form der Anfchauung und Res 
flerion durchbrechen ? 


a. Urſprung und Grenze des Wiſſens. 

Diefe Ableitung hat Fichte, fo viel ich fehe, nirgends fo bes 
ſtimmt zu geben verfucht, als in ber Darftellung der Wiflen- 
(haftölehre vom Jahr 1801. Das Wiffen ift nicht das reale 
Sein, denn es ift Bild; es ift nicht das Abfolute, denn es ift 
Reflerion und befchreibt eine nothwenbige Entwicklungsreihe, die 
als ſolche die Form der Mannigfaltigkeit und Veränderung an 


1072 


fid) trägt. Das Wiffen entfpringt, aber ed entfpringt aus fich, 
fonft wäre es nicht Freiheit. Nun ift dad Willen, was es ift, 
für ſich; e8 muß daher auch in feinem Urfprunge für fich fein, 
ober, was baffelbe heißt, fein Urfprung muß ihm einleuchten. 
Das Wiſſen durchdringt und durchſchaut fich felbft, alfo muß es 
auch feinen Urfprung durchſchauen. Urfprung ift Grenze. Das 
Wiſſen durchſchaut feine Grenze. Die Grenze des Wiſſens ift 
Nichtfein des Wiſſens, Nichtwiffen. Nun ift alles im Wiſſen 
umfaßt und durdy daffelbe gefegt, alles objective Sein; das 
Nichtfein des Wiſſens if einzig und allein das abfolute Sein. 
Wenn daher dad Wiſſen feinen Urfprung und feine Grenze durch 
ſchaut, fo fieht es nothwendig fein eigenes Nichtſein, d.h. es 
fieht das abfolute Sein und fich felbft als deffen unmittelbare 
Folge, „ES findet in fi und durch fich fein abfolutes Ende 
und feine Begrenzung: — in ſich und durch ſich, fage ich; es 
dringt wiffend zu feinem abfoluten Urfprunge (aus dem Nichtwif: 
fen) vor und kommt fo durch fich felbft (d. i. in Folge feiner ab: 
foluten Durchfichtigkeit und Selbfterfenntniß) an fein Ende, 
Dieß ift nun eben bad große Geheimniß, dad da Feiner hat er 
blicken tönnen, weil es zu offen baliegt, und wir allein in ihm 
alles erblidden: befteht das Wiffen eben barin, daß es feinem Ur: 
fprunge zuficht, ober noch ichärfer, heißt Wiſſen ſelbſt Sürfich- 
fein, Innerlichkeit des Urſprungs; fo ift es eben Bar, daß fein 
Ende und feine abfolute Grenze auch innerhalb diefes Fürſich fal- 
len muß. Nun befteht aber laut unferer Erörterungen und bes 
Haren Augenfcheind das Wiffen eben in diefer Durcdringlichkeit, 
in dem abfoluten Lichtcharakter, Subject» Object, Ich: mithin 
ann ed feinen abfoluten Urfprung nicht erbliden, ohne feine 
Grenze, fein Nichtfein zu erbliden. Was ift denn nun daB abs 
folute-Sein? Der im Wiffen ergriffene abfolute Urfprung deſ⸗ 


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1073 


felben und daher das Nichtfein des Wiſſens: Sein, abfolu- 
tes Sein, weil das Wiffen abfolut if. Nur der Anfang des 
BWiffens ift reines Sein; wo dad Willen fchon ift, iſt fein 
Sein, und alles, was fonft noch etwa für Sein (objectives) ge: 
halten werden könnte, ift diefes Sein und trägt feine Geſetze. 
Und fo hätten wir und von afteribealiftifchen Syſtemen zur Genüge 
getrennt. Das reine Wiſſen gedacht als Urfprung für ſich und feinen 
Gegenſatz als Nichtfein des Wiſſens, weil es fonft nicht entfpringen 
Tönnte, iſt reines Sein. (Ober fage man, wenn man ed 
nur vecht verftehen will, die abfolute Schöpfung, als Erſchaf⸗ 
fung, nicht etwa als Erfchaffenes, ift Standpunkt des abfoluten 
Wiſſens; diefes erſchafft eben ſich felbft aus feiner reinen Mög: 
lichkeit, als das einzig ihm vorauögegebene, und biefe eben ift 
das reine Sein)*).” 

So kommi nach Fichte das Wiffen zum Begriffe des abfos 
Iuten Seins, und die Wiffenfchaftölehre (ald Wiſſen slehre) dazu, 
ein folches Sein zu fegen. ° Sie begründet nicht dad Wiffen aus 
dem Sein, fonbdern dad Sein aus dem Wiſſen; fie zeigt nicht 
dad Sein ald den Realgrund des Wiſſens, fondern das Wiflen 
als den Erkenntnißgrund des Seins; fie begreift dad Wiffen in 
Rückſicht auf das objective Sein (Welt) ald Realgrund, in Rüd: 
ſicht auf das abfolute Sein (Gott) ald Erkenntnißgrund. So 
wird auch dad abfolut Reale von der Wiffenfchaftölehre aus dem 
Idealgrunde erkannt. Ober, wie fih Fichte ausdrückt: „fie lei⸗ 
tet dad Sein aus dem Wiffen ald deſſen Negation ab, ift alfo eine 
ideale Anficht deffelben, und zwar die höchfte ideale Anficht**).” 





*) Darftellung der Wiſſenſchaftslehre aus dem Jahr 1801. 1Th. 
8.26. 5. W. I Abth. II Bd. ©. 63, 
**) Ebendaſelbſt L $. 26. ©. 64. Bol. 8. 27. ©. 68. $. 29. 
S. 73, 
Blfäen, Gefäihte ber Phllofophie V. 68 


1074 
b. Der Ioentitätspunkt von Sein und Willen. (Fichte und Schelling.) 
If nun das Wiffen der Erkenntnißgrund des abfoluten 
Seins, fo muß es ſich felbft betrachten ald deffen Folge, und 
zwar, ba dem abfoluten Urfprunge, des Wiſſens nichts anderes ald 
das abfolute Sein vorauögehen kann, ald deffen unmittelbare 
Folge. Indem dad Wiſſen feinen tiefſten Grund (Urfprung) 
durchſchaut, erkennt es unmittelbar das abfolute Sein. Das 
Erfaffen des abfoluten Seins ift Denken, das ſich Erfaflen des 
Wiſſens („dad Fürfich ded Entfpringens‘) ift Anfhauung. Hier 
find daher Denken und Anfchauen unmittelbar vereinigt. Indem 
das Wiſſen von dem abfoluten (ihm entgegengefegten) Sein aus⸗ 
geht in feinem Entfpringen, fo find in diefem Punkte abfoluted 
Sein und Wiffen, oder abfoluted Sein und abfolute Freiheit (Noth: 
wendigkeit und Freiheit), dad abfolut Objective und das abfolut 
Subjective untrennbar, unmittelbar vereinigt ober identifch. Sie 
find nicht indifferent, denn fie find entgegengefeßt; wohl aber 
find fie identiſch, denn dad Wiffen geht unmittelbar aus dem ab: 
foluten Sein hervor. Hier ift der abfolute Standpunkt oder 
Focus, in dem dad abfolute Wiffen anhebt, hier die unüberfteig: 
liche Grenze der Wiſſenſchaftslehre: „nicht der Indifferenzpuntt, 
fondern der Identitätspunkt beider, die imperceptible, nicht 
weiter ergreifbare, erflärbare, fubjectivirbare Einheit des abfolu: 
ten Seind und Fürfichfeind im Wiffen, über welche felbft die 
Wiſſenſchaftslehre nicht hinausgehen fann*).” Hier fallen Idea: 
les und Reales, dad Grundprincip ded Idealismus (Wiffen) und 
das Grundprincip des Realismus (Sein) ſchlechthin zufammen. 
Die Ipentität in diefem Sinn bildet den tiefften Grundbegriff der 
Wiſſenſchaftslehre. Sie widerftreitet ald Wiſſenſchaftslehre der 
ſchelling ſchen Naturphilofophie (ob mit Recht oder Unrecht, bleibe 
*) Ebendaſelbſt. ITh. 8.29. ©. 74 u. 75. 


1075 

hier dahingeſtellt); fie wiberftreitet ald Identitätslehre in dem 
‚eben befchriebenen Charakter dem Begriff der abfoluten Indiffe⸗ 
renz, worauf Schelling fein Syſtem gründet, „Das Fürfichfein 
des abfoluten Urfprungs ift abfolute Anfhauung, Lichtquelle oder 
abfolut Subjectived; das daran ſich nothwendig anfchließende 
Nichtfein ded Wiffend und abfolute Sein ift abfoluted Denken, ' 
Quelle ded Seind im Lichte, alfo da ed im Wiffen doch ift, das 
abfolut Objective.” „Wären Subjectived und Objectived ur: 
fprünglich indifferent, wie in aller Welt follten fie je different 
werden? Ob denn bie Abfolutheit fich felbft vernichtet, um zur 
Relation zu werden? Dann müßte fie ja eben abfolutes Nichts 
werden, fo daß vielmehr diefed Spftem, ftatt abfoluted Iden⸗ 
titätöfoftem, abfoluted Nulitätsfyftem heißen ſollte ).“ 


©. Der Uebergang vom Sein zum Wiffen. (Fichte und Spinoza.) 

Man weiß, daß fich die fcheling’fche Identitäts- oder In: 
differenzlehre mit dem Syſteme Spinoza’8 verglichen hat. Auch 
Fichte vergleicht die Wiffenfchaftölehre in der Darftellung vom 
Jahre 1801 mit der Lehre Spinoza's und erhellt in dieſer Aus— 
einanderfegung fehr deutlich den entfcheidenden Punkt ſowohl der 
Uebereinftimmung ald des Gegenfaged. Man hat namentlich den 
Charakter ded Gegenfaged, der mit dem unveränderten Geifte der 
Wiſſenſchaftslehre zufammenfält, zu wenig beachtet und darum 
die Verwandtſchaft beider Syſteme für größer und die fogenannte 
„ſpätere Lehre” Fichte's für fpinoziftifcher gehalten, als fie iſt. 

Das abfolute Sein gilt der Wiffenfchaftölehre ald Grund 
und Träger bed Wiffend; demnach verhält fi dad Wiffen zum 
Sein, wie dad Accidens zur Subſtanz. Diefed Verhältniß gilt 
auch bei Spinoza. Hier ift der Berührungäpunft. Dagegen 


*) Ebendaſelbſt. J Th. 8. 27. S. 65 u, 66. 
68* 


1076 


hat Spinoza etwas gänzlich überfehen und nicht zu erBlären ver: 
mocht: den Webergang von ber Subftanz zum Accidens. „Er 
fragt nach einem ſolchen Uebergange nicht, daher ift im Grunde 
keiner: Subſtanz und Accidens kommen in Wahrheit nicht aut: 
einander; feine Subftanz ift Peine, fein Accidens iſt Feines, fon- 
dern er nennt daffelbe nur bald fo, bald fo und fpielt auß der 
Taſche.“ Die Wiſſenſchaftslehre erleuchtet diefen Uebergang. Hier 
iſt der abfolute Gegenfa beider Syſteme. Den Uebergang macht 
das Wiffen, genauer gefagt „die Grundform des Wiffend, in 
der die Nothwendigkeit einer Spaltung und Unenblichleit für das 
Bewußtſein liegt.” Diefe Grundform ift die Reflerion. Die 
Reflerion ift eine That der Freiheit, der formalen Freiheit. Diefe 
ift ed, welche den Webergang vollzieht, dad Wiſſen trennt- und 
abfondert von dem abfoluten Sein. Das ewig Eine liegt. fchlecht: 
bin alem Wiffen zu Grunde: in diefer Rüdficht ift die Wiffen- 
ſchaftslehre „Unititmus (ky xal mäv)." Das wirkliche (fac- 
tifche) Wiffen ift durch Reflerion geſetzt und in ihr befangen, es 
kann ald ſolches das abfolut Eine niemald erreichen; das ab: 
folute Sein ift das Ienfeitd alles wirklichen Wiſſens: in dieſer 
Rüdficht ift die Wiffenfchaftdlehre „Dualismus”*). 


d. Die Zufälligkeit des Urſprungs. 

Einmal bad Wiffen geſetzt, entwidelt fi die Reihe der Re 
fleriondformen und die Welt der Erfcheinungen nach nothwendi: 
gen Gefegen, die nicht anderd fein fönnen. - Aber daß überhaupt 
das Wiffen zum Dafein kommt, gefchieht durch einen Act abſolu⸗ 
ter Freiheit, der als folcher auch nicht ſein könnte. Was aus 
bloßer Freiheit gefchieht, Tann ebenfo gut auch nicht gefchehen 
und ift daher feinem Urfprunge nach zufällig. Was von dem 
Urfprunge des Wiffend gilt, gilt notwendig auch von allen da⸗ 
*) Ghendafelöft, IL X. $. 32, ©, 86-89, 








1077 . 

durch bedingten Formen und Erfcheinungen. &o ift die Welt 
zwar nothwenbig ald Erfcheinung und Gebilde des Wiffens, aber, 
wie dieſes felbft, zufällig im Urfprunge ihre Dafeind. Das 
Zufällige ift in fich nichtig und beſtandlos. Wer der Welt und 
dem Wiſſen auf den Grund fieht und diefen durchſchaut, er- 
kennt die Zufälligkeit ihre Urfprungs und barin die Nichtigkeit 
ihres Dafeind. Daher jener fichte ſche Ausſpruch, der auf den 
erften Bli fo peſſimiſtiſch erſcheint, daß Schopenhauer bamit 
übereinftimmen Pönnte: „wenn man von einer beften Welt und 
ben Spuren ber Güte Gottes in diefer Welt redet, fo ift Die Ant: 
wort: bie Welt ift die allerfhlimmfte, die ba fein 
Tann, fofern fie an fi ſelbſt völlig nichtig iſt.“ 
Indeffen überhöre man nicht, was unmittelbar folgt und je 
nem Sage den peffimiftifchen Charakter nimmt: „boch liegt in 
ihr eben darum die einzig mögliche Güte Gotted verbreitet, daß 
von ihr und allen Bedingungen berfelben aus die Intelligenz ſich 
zum Entſchluſſe erheben Tann, fie beffer zu machen*).” 

Weil die Welt in ſich nichtig ift, darum liegt in ihr. die 
Moglichkeit, von ihr Iodzukommen. Weil fie von einer Bedin⸗ 
gung abhängt, die durch Freiheit gefegt ift, darum kann die 
Freiheit den Standpunkt des Wiſſens oder der Weltvorftellung 
ändern und vermöge ber Reflerion von Stufe zu Stufe erhöhen. 
Beil fie mit Feiner gegebenen Form des Bewußtſeins zufammen: 
fat, denn jede ift durch fie bedingt, darum kann die Freiheit 
fich über jebe erheben, von allem gegebenen Inhalt abftrahiren 
und zulest, indem fie die ganze Reflerion und dad Wiſſen bis in 
feinen Urfprung durchſchaut, die Zufäligkeit dieſes ihred eigenen 
Productd einfehen. Die Abftraction von allen Objecten der Ans 
ſchauung läßt dem Wiffen nichtd übrig ald die leere Denkform, 

*) Ebendaſelbſt. IWh. 8.47. 9.48. 6, 157. 


1078 

das formale Denken mit feinen Gefegen: in ihm befleht die &o- 
gie und alle fogenannte Ppilofophie, die über biefe Reflerionsform 
bed endlichen Verſtandes nicht hinaußfommt und unfähig ift, ie 
das Unbedingte zu erreichen. Die Erhebung über ben endlichen 
Verſtand giebt dem Wiffen die Einficht in alled Wiffen, in den Urs 
fprung beffelben, in die Zufaͤlligkeit dieſes Urſprungs: das ift Die Er⸗ 
bebung, die dad Wiffen zur Wiffenfchaftölchre macht, die Anſchau⸗ 
ung, in welcher bie letztere ruht, und bie felbft vorbringt bis zu 
der abfoluten Grenze des Wiſſens. „In der Erhebung über alle 
Wiſſen, im reinen Denken des abfoluten Seind und der Zufäl⸗ 
ligkeit des Wiſſens ihm gegenüber ift der Augpunkt der Wiſſen⸗ 
ſchaftolehre *)." 


35. Das theoſophiſche Problem. 

Jetzt können wir urtheilen, wie ſich die fichte ſche Philofophie 
zu ihrem zweiten Hauptprobleme verhält: zu der Frage nach der 
Begründung ober Genefid des Wiffend aud dem Abfoluten. Sie 
bat gezeigt, wie dem Wiffen mit der Einficht in feinen eigenen 
Urſprung ber Begriff ded abfoluten Seins nothwendig aufgeht, 
wie ed im Lichte des abfoluten Seins die Zufälligkeit feines eige⸗ 
nen Urfprungd und Dafeind erkennt und damit zugleich die Nich- 
tigfeit ber Welt. Der Uebergang vom Wiffen zum Sein ift er: 
belt: fo weit reicht das Licht der Wiffenfchaftölchre, es ift der 
lebte Punkt, den fie erleuchtet. Der Uebergang vom Sein zum 
Wiſſen bleibt dunkel. Wir fehen das Wiffen vor und ald Er— 
kenntnißgrund bed Abfoluten, aber nicht dad Abfolute ald Reals 
grund des Wiffend. Die Begründung des Wiſſens aus dem Ab⸗ 
foluten, alfo aud) die mittelbare Begründung der Welt aus Gott 
iſt demnach eine nicht gelöfte Frage. 

*) Ghendafelbft, IIXE. 9.48. 6, 157—163, 


1079 


Die Wiffenfchaftölchre Läßt jenen Uebergang vom Sein zum 
Wiſſen (von Gott zur Welt) in einem charakteriftifchen Zwielicht. 
In demfelben Augenblick, wo bie eine Seite erhellt wird, ver: 
dunkelt fi) allemal bie andere. Was die eine Hand giebt, wird 
in bemfelben Augenblid von der anderen genommen. Sept heißt 
es, das Wiffen fei die „unmittelbare Folge” des Abfoluten, und 
zugleich wird erklärt, dad Abfolute fei nicht der hervorbringende 
Grund des Wiſſens; jest gilt das abfolute Sein ald der Grund 
des Wiffens, und zugleich gilt das Iehtere ald ein Entfpringen 
aus fi, fein Urfprung als ein Act der Freiheit, feine Entfte: 
bung daher ald zufällig. Diefe Wiederfprüche kehren wieder und 
variiren in verfchiedenen Formen. 

Diefe Widerfprüche find nicht von ungefähr, fondern ein 
harakteriftifcher (keineswegs incorrecter) Ausbrud des Syſtems; 
fie fallen diefem zur Laft, nicht etwa dem Denken ober der Aus: 
drucksweiſe des Philofophen ald ein Fehler, ben er hätte vermei⸗ 
den können. Verſetzen wir und zur Beurtheilung der Sache ganz 
in den Standpunkt der Wiffenfchaftölchre. Kein Object ohne 
Bewußtfein, Fein Bewußtſein ohne Selbftbewußtfein (Ich), Fein 
Selbftbewußtfein ohne abfolute Einheit von Subject und Object, 
ohne abfolute (von Feiner Reflerion zerſetzte) Identität beider, 
Die Wiffenfchaftölehre fordert dieſe Identität ald Grund und Prin⸗ 
cip alles Wiſſens. Iſt aber die Identität Urgrund und Bebin- 
gung aller Reflerion, fo ift fie von biefer unabhängig, alfo felbft 
nicht Reflerion, nicht Wiffen, nicht Bild, fondern Realität, abs 
folut Reales, abfolutes Sein. Ohne diefen Begriff Tann die 
Wiffenfchaftölehre ihr Princip (dad Ich) nicht ausdenken und voll⸗ 
enden. Es ift darum nothwendig, daß fie dad abfolute Sein 
(Gott) als Urgrund alles Wiffens behauptet, daß fie dieſes als 
die unmittelbare Folge bed erften betrachtet, daß fie in dem 


1080 


Urfprunge des Wiffens den Identitätöpumkt beider erblickt. Aber 
fie darf als Wiſſenſchaftslehre nicht über das Wiffen hinauögehen, 
fie erfaßt nicht das abfolute Sein ald ſolches, ſondern den Be: 
griff deffelben, der jenfeitd aller Anfchauung nur dem „reinen 
Denken” einleuchtetz dad abfolute Sein felbft, das Reale als 
ſolches bleibt, unabhängig von biefem Begriff, jenſeits alles 
Wiffend. Damit löft fi die unmittelbare Einheit des Seins 
und Wiſſens wieder auf, ber „Identitätöpunkt” beider’ verfchwin- 
det, das Reale und Ideale klafft auseinander, der Uebergang 
von bem einen zum andern erfcheint unmöglich, und die Wiffen: 
ſchaftslehre felbft bekennt an diefer Stelle offen ihren dualifti- 
ſchen Charakter. Sie fei „Unitiömus in idealer Hinficht, Dua⸗ 
lismus in realer” *). Kein Wiffen ohne Selbftbemußtfein, ohne 
Freiheit. Der erſte Satz, mit dem die Wiffenfchaftölehre an: 
fing, behält feine Geltung: „das Ich fett fich felbft, es iſt durch 
nichts anderes geſetzt.“ Es ift in feinem Urfprunge eine That 
der Freiheit, es ift als folche auch nichtfeintönnend, d. h. zufällig; 
erſt Dadurch wird es dem abfoluten Sein gegenüber ‚wirklich ac 
cidentell, und dieſes dem Wiflen gegenüber ‚fubftantiell; erft in 
diefem Lichte erhellt der Uebergang von der Subſtanz zum Acci: 
dens, den Spinoza niemals erklärt hat noch erftären konnte, 
So finden wir auf dem tiefften Grunde der Wiſſenſchafts⸗ 
lehre einen unmittelbaren Zufammenftoß voiberflreitender Vor⸗ 
ſtellungsweiſen. Im der legten Begründung bes Wiſſens erklärt 
ſich die Wiſſenſchaftslehre pantheiſtiſch („unitiftifch”), dualiftifch, 
indeterminiftifch, und fie kann feinen diefer Züge entbehren, ohne mit 
einer ihrer Grundbedingungen in Widerfpruch zu gerathen. Hebe 
den Begriff des abfoluten Seins auf als des AU: Einen, dad allem 
Wiſſen ſchlechthin zu Grunde liegt: fo ift dad Wiffen unmög: 
*) Ebenbafelbft, I Th. 8.32, 6, 89, - 





1081 


lich. Hebe den Gegenfag von Sein und Wiffen (Realität und 
Bild) auf, das Sein jenfeitd des Wiſſens: fo ift dad Sein ald 
folches unmöglich. Hebe in Rüdficht des wirklichen Wiſſens die 
Zufälligfeit feines Urfprungs auf: fo iſt die Freiheit unmög- 
lich. Die Bejahung des abfoluten Seins als des All-Einen 
(& xal röv) macht die Wiffenfchaftsiehre pantheiftifch oder, 
wie Fichte ſich ausdrückt, „unitiſtiſch“. Die Bejahung des rea⸗ 
len Seins jenſeits des Wiſſens (oder im Gegenſatz zu dieſem als 
dem Idealen) macht die Wiſſenſchaftslehre dualiſtiſch; die Beja- 
hung der Freiheit, die dad Wiffen aus fi) entfpringen läßt und 
zum Dafein bringt, macht die Wiſſenſchaftslehre indetermini⸗ 
ſtiſch. 

In dieſem Zuſammenſtoß widerſtreitender Erklärungsweiſen 
findet die Löſung des legten Problems der Wiſſenſchaftslehre kei: 
nen Ausweg. Die Frage nach der Begründung des Wiffend 
aus dem Abfoluten ift nicht bloß ungelöft, fie bleibt es auch. 
Sie erfcheint unter dem Standpunkt der fichte ſchen Wiffenfchafts: 
lehre als unlösbar, ald deren Grenzproblem, wie die kan— 
tifche Philofophie ſolche Grenzprobleme gefunden hatte. Fichte 
entdeckt ben Uebergang vom Wiffen zum Sein, aber nicht mehr 
den Rückweg vom Sein zum Wiſſen. Hier ift flatt des Ueber: 
gangs die Kluft, der Hiatus. Innerhalb des Wiſſens ift für 
die Wiſſenſchaftslehre ale begreiflich; aber das Dafein oder bie 
Entftehung des Wiffens felbft ift nach ihrer eigenen Erklärung z u⸗ 
fällig, womit die Möglichkeit der rationalen Löfung ihr Ende 
erreicht hat. (In diefem Punkte ließe fich die fogenannte ſpä⸗ 
tere Lehre Fichte's weit eher mit der fogenannten fpäteren 
Lehre Schelling’8 vergleichen, ald mit ber gleichzeitigen, denn 
fie berührt in gewiffer Rüdficht die Theorie, welche die Noth— 
wendigkeit von der Freiheit, dad „Nichtnichtfeinfönnen” von 

Wilder, Geſchichte der Philofophie V. 69 


1082 


dem „Auchandersfeinkönnen”, bie rationale Philofophie von der 
irrationalen, die negative von der pofitiven zu fcheiden be 
muht iſt.) 

Soll das Problem gelöſt und das Wiſſen wirklich aus dem 
Abſoluten begründet werden, fo muß dieſes gefaßt werben als 
ber erzeugende Grund des Wiffend. Die Grenze, welche die fich⸗ 
te ſche Wiſſenſchaftslehre nicht überfchreiten konnte, wird über- 
fhritten. Aus dem Grenzproblem wird jest bad Grunbpro= 

. blem der Philofophie, die zur Löſung biefer Aufgabe eindringen 
muß in dad Wefen und die Tiefe des Abfoluten und hier ihren 
Standpunkt nehmen. Die Frage nach dem Abfoluten ald dem 
Realgrunde des Wiffens ift nur theofophifch zu löfen. Ich 
ſage „theofophifch”, um weder „myſtiſch“ noch „theologifch” zu 
fagen. Das Erkenntnißproblem, die kritiſche Grundfrage der 
Philoſophie, fieht ſich nach Vollendung der Wiffenfchaftslehre. un: 
mittelbar mit dem Gotteöbegriffe verknüpft; jet wird der Got: 
teöbegriff in Verbindung mit dem Wiffen eine notwendig zu lö— 
fende Aufgabe der Philofophie.  Diefed Problem nenne ich (nicht 
theologifch, fondern) theofophifh. Das theofophifche Problem 
rüdt in den Vordergrund ber Philofophie, ed wird dad letzte Ziel 
der ſchelling' ſchen Lehre, dad Element der baader’fcen; bie 
Philofophie will „Wiffenfchaft des Abfoluten” werden, in biefer 
Abſicht begegnen einander Kraufe und Hegel. 

So gewinnen wir aus dem Geſichtspunkte der Wiſſenſchafts⸗ 
lehre und ber Einficht in ihre Probleme einen Blid auf die Fort- 
entwidlung der Philofophie und die nothwendige Ausbildung natur 
philofophifcher und theofophifcher Syſteme; wir können von Fichte 

- Richtungslinien ziehen nach Schelling, Baader und Hegel, Wie 
verfchieben diefe Standpunkte unter ſich fein mögen, fie liegen 
ſammtlich in der metaphyſiſchen Richtung, fie ſetzen dad Real⸗ 





1083 
princip in das Abfolute, fie kommen ſchließlich auch darin über: 
ein, daß fie das Abfolute ald Proceß faflen. . 

Ale diefe Standpunkte, die Wiffenfchaftölehre eingefchloffen, 
haben ihre contrabictorifchen Gegentheile, die ebenfalls Stand» 
punkte und Träger philofophifcher Syſteme werden und ſich eben⸗ 
falls von hier aus erleuchten, 

Das abfolute Sein ift Fein Gegenftand der Erkenntniß, denn 
alle menfchliche Erfenntnif gründet fi auf unfere Selbſterkennt⸗ 
niß, auf Selbftbeobachtung oder innere Erfahrung, die empiris 
ſcher Natur iftz die wiffenfchaftliche Selbftbeobachtung ift Pſy⸗ 
hologie, dieſe daher die philofophifche Grundwiffenfchaft: ber 
Standpunkt, den Fried ald „neue Vernunftkritik“ der ganzen 
übrigen nachkantiſchen Philofophie entgegenſetzt. 

Das abfolute Sein ift Realprincip und als folches Gegen 
ftand metaphufifcher Erkenntniß, aber es ift nicht Proceß, fonft 
wäre es Widerfpruch und als folcher undenkbar. Es ift abfolut 
widerſpruchslos und einfach, die „abfolute Pofition”, unabhängig 
von allem Denken. Der Begriff des Realen ober Seienben ift 
fein thesfophifches, fondern ein rein metaphyſiſches (ontologifches) 
Problem, nur lösbar, indem dad Denken bearbeitet und von ben 
Widerfprüchen befreit wird, die es von Natur unfähig machen, 
das wahrhaft Seiende zu erkennen. Das Denken in widerfpruchd- 
vollen Begriffen ift incorrect, und alle Identitätsſyſteme gründen 
ſich auf ein widerſpruchsvolles und darum incorrected Princip. 
Daß ift der Standpunkt Herbart's, der mit Fichte dad wider: 
ſpruchsloſe Sein ald dad Reale bejaht und das in der Reflerionds 
form befangene Ich für widerſpruchsvoll und darum unmöglich 
erklärt, für einen incorrecten, durch die Metaphyſik zu berichti 
genden Begriff. Der Standpunkt Herbart's ift durch die Wis 
fenfchaftslehre pofitio motivirt, wie der von Fried negativ. 

69* 


1084 


Dad Realprincip, welches als dad All⸗Eine ſämmtlichen 
Erfcheinungen zu Grunde liegt umd den eigentlichen Gegenfland des 
metaphyſiſchen Grundproblemd ausmacht, ift nicht dad Abfolute, 
denn bad Abſolute iſt nicht real, fondern ein Abftractum, um fo 
leerer, je allgemeiner, um fo allgemeiner, je abftracter es ift. 
Das wahrhaft Wirkfame oder Reale ift das Individualprincip, 
der Wille zum Dafein, zum Leben: der Einzelwille, der fein 
Dafein macht, die Dafeinsform allmälig fleigert bi zum Leben, 
dieſes zum Erkennen, biefes zu allgemeinen Begriffen, zur praf: 
tifhen Vernunft im Sinne der Lebens: und Weltklugheit, zuletzt 
auf der höchften Stufe fich felbft bis in fein innerſtes Weſen 
durchſchaut, die Selbftfucht ald Träger und Kern der Erfchei: 
nungöwelt erfennt, in dieſer Selbfterfenntniß die Nichtigkeit der 
Welt und die eigene Nichtigkeit einfieht und nun in der Selbſt⸗ 
verneinung, welche Welt und Begierden fallen läßt, die höchfte 
Lebens: und Weltweiöheit erreicht. Es ift der Standpunkt 
Schopenhauer’s, der ſich felbft aus der Bantifchen Lehre un- 
mittelbar ableitet, allen übrigen nachkantiſchen Richtungen ent: 
gegenfest, vor allem den theofophifchen Syſtemen widerſtreitet. 

Nachdem wir die Wiffenfchaftölehre in allen ihren Entwid- 
lungsformen durchwandert und von ihrer legten Höhe aus das 
Ganze überfchaut haben, erfennen wir in einem freien Umblid 
die Gegend und Hauptzüge der nachkantifhen Philofophie wieder, 
die wir dad erftemal, gleich im Anfange diefed Werks, von dem 
kantiſchen Standpunkt und dann, am Schluffe bes erften Buchs, 
von Jacobi's antifantifhem Standpunkt aus gefehen hatten. 
In Fichte vollendet ſich in folgerichtigem Fortfchritt der erſte 
geſchichtliche · Entwicklungsabſchnitt der Fritifchen Philofophie. 
Hier entfcheiden fich die Fünftigen Probleme. Aus der kantiſch⸗ 
fichte ſchen Lehre folgt unmittelbar die fchelling: hegel ſche. > 





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