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Doz» Google
LENOX LIBRARY
Banerott Collection.
Purchaced tn1893.
]
hen Band.
YaL
Fisher
Doz» Google
.r
/ Geſchichte
der neuern Philoſophie
Ruuo Fiſcher.
——
Fünfter Ban.
Fichte und ſeine Vorgänger.
Zweite Abtheilung.
Seidelberg.
Verlagsbuchhandlung von Friedrich Ballermann.
1869.
gt
con Rsiedsid Brommanı
in dene.
Geſchichte
der neuern Philoſophie.
Fünfter Band.
Bweite Abtheilung.
Fünftes Capitel.
Die productive Einbildung als theoretifches Grundvermögen.
L
Debuction der Einbildungsfraft.
1. Die unabhängige Thätigkeit ald Inbegriff aller
Realität.
Die Rechnung der Wiffenfchaftslehre hat zu der Einficht ges
führt, daß die (durch das Selbſtbewußtſein geforderte) Wechfel-
beftimmung nur möglidy ift unter der Bebingung einer unabhän -·
gigen Thatigkeit, die das theoretifche Grundvermögen ausmacht.
Was diefe Thätigkeit näher ift, Tann nur aus Inhalt und Form
der (durch fie bedingten) Wechſelbeſtimmung einleuchten.
Den Inhalt der Wechfelbeftimmung bildet der Gegenfa& von
Ich und Nicht Ich. Die Wechfelbeftimmung felbft befteht darin,
daß genau fo viel Realität, ald in dem einen jener beiden Facto⸗
ren gefegt wird, in dem andern aufgehoben werden muß, und
umgekehrt. Die Summe biefer Realität wird mithin durch bie
Bechfelbeftimmung weder vermehrt noch vermindert, fie bleibt
conſtant; alfo ift der Inhalt in feiner Zotalität von der Wechſel⸗
beftimmung unabhängig und liegt derfelben zu Grunde, Realität
ift Thatigkeit. Die Totalität des realen Inhalts ift mithin eine
526
unabhängige Thätigkeit ald Realgrund der Wechfelbeftimmung.
Wenn es eine ſolche unabhängige Thätigkeit ald abfolute Totali-
tät nicht giebt, fo kann es auch Feine Wechfelbeftimmung geben,
in der ſtets genau fo viel Realität in dem einen Gliede gefeht wer⸗
den muß, als in dem anderen aufgehoben wird, und umgekehrt.
Die unabhängige Thätigkeit ift der Inbegriff aller Realität
oder die abfolute Totalität des Realen ).
2. Dad Nicht-Ich ald Grund der unabhängigen Thä—
tigkeit.
Dogmatifcher Realismus.
Nun ift das Ich der Inbegriff aller Thätigkeit. Wird in
dem Ich die Thätigkeit aufgehoben oder vermindert, fo ift das
Ich nicht mehr der Imbegriff aller Thätigkeit, es ift nicht mehr,
was es feinem Weſen nach ift, es ift vermöge feines Leidens ein
qualitativ Anderes. Der Grund des Qualitativen ift Realgrund.
Diefer Realgrund feiner veränderten Qualität kann nicht das
Ich felbft fein, alfo ift diefer Realgrund etwas vom Ich. Verfchie-
denes, d. h. das Nicht: Ich. Iſt aber dad Nicht-Ich ber Real⸗
grund des Leidens im Ich, fo muß dem Nicht: Ich eine dieſem
Leiden vorauögefegte, alfo unabhängige Thätigkeit zugefchrieben
werden. Dann gilt dad Nicht: Ic) ald die Urfache, bie das Lei-
den im Sch hervorbringt; es ift dann die Urfache der Vorſtellun⸗
gen, ber abfolute Realgrund, der Inbegriff aller hervorbringen⸗
den Thatigkeit, die allein wirffame Urfache: das Nicht-Ich ift
die Subftanz und dad Ich ift Accidens. Wird die unabhängige
Thatigkeit in diefer Weife beftimmt (das Nicht⸗Ich ald Realgrund
von Allem), fo haben wir das Syſtem des „Dogmatifhen
Realismus”, der feinen Typus in der Lehre Spinoza's gefun-
*) Ehenbajelbft, II Heil. 9.4. 6. 15152,
*
den hat. Mit dieſer Belt ve abhängigen Thatigkeit wird
das Ich felbft aufgehoben und für unmöglich erklärt. So noth⸗
wendig dad Ich ift, fo unmöglich if daher die dem Ich voraus:
gefebte unabhängige Thätigkeit des Nicht: Ich*).
5. Dad Ih ald Grund der unabhängigen Thätigkeit.
Dogmatifher Idealismus.
Das Ich ift der Inbegriff aller Thätigkeit. Im Ich wird
Thätigleit aufgehoben oder Leiden geſetzt. Durch die unabhän-
gige Thätigkeit des Nicht:Ich kann dieſes Leiden nicht geſetzt wer⸗
den, alfo kann es nur durch bie Thätigkeit des Ich felbft geſetzt
fein. Das Leiden im Ich ift demnady nur verminderte ober bes
ſchrankte Thätigkeit. Beſchrankte Thätigkeit aber ift aud das
Nicht: Ich. Wie alfo unterfcheidet fich jet noch dad befchränkte
Ich vom Nicht⸗Ich? Unterfcheiden aber müffen beibe fich laſſen,
denn fie find einander entgegengefest. Nun läßt fi das bes
ſchrankte Ich vom Nicht:Ich nur unterfcheiden, wenn es iſt, was
das Nicht» Ich nie fein ann: unabhängige ober abfolute Thä-
tigkeit. Die befchränkte Thätigkeit des Ich muß demnach zugleich
abfolute Thätigkeit fein. Was aber ift das für eine Thätigkeit,
die zugleich abfolut und befchränkt ift? Sie ift abfolut oder uns
abhängig, wenn fie durch nichts bebingt, alfo ganz fpontan ift,
fie ift befchränft, wenn fie ſich auf ein Object bezieht; es handelt
fih daher um eine Thatigkeit, die fi mit völliger Spontaneität
auf ein Object bezieht: dieſe Thätigkeit ift die Einbildungs⸗
fraft. Der Begriff der Einbildungskraft ift noch nicht erwiefen
und deducirt, er ift nur vorausgenommen ald dad Ziel, welches
der Zefer, um fich in diefem ſchwierigſten Theile der Wiſſenſchafts⸗
lehre leichter zurechtzufinden, ind Auge faffen möge **).
*) Ehendafelbit. IL. 8.4. 6, 152— 157.
**) Ehbenbajelöft. IL. 8.4. ©. 157—160,
528
Wird das Leiden im Ich aus der unabhängigen Thätigfeit
des Nicht: Ich als feinem Realgrunde erklärt, fo haben wir dad
Syſtem bes bogmatifchen Realismus (Spinoza), deſſen Unmög-
lichkeit einleuchtet. Wird das Leiden im Ich aus der grundlofen
Thätigkeit des Ich erklärt, fo haben wir den „Dogmatifchen Idea⸗
lismus“ (Berkeley), dem zwar nicht die fachliche, wohl aber die
philofophifche Begründung abgeht und darum der dogmatifche
Realismus fortwährend widerftreitet. Beide Syfteme bilden ei⸗
nen im Begriffe deö befchränften Ich begründeten Widerftreit:
diefen Wiberftreit begreift und enthüllt der kritiſche (Bantifche)
Idealismus, die Wiffenfchaftslehre Löft ihn”).
4. Die Form der unabhängigen Thätigkeit.
Uebertragen und Entäußern.
Die unabhängige Tätigkeit ift in Rückſicht der Wechfelbe:
flimmung von Ich und Nicht⸗ Ich formbeftimmend, Wie muß fie
befchaffen fein, wenn durch fie die Form des Wechſel-Thuns und
Leidens beftimmt werben fol? Worin befteht die Form ded Wech⸗
ſels? So viel Realität in dem einen Gliede gefegt wird, fo viel
wird in dem andern aufgehoben und umgekehrt. Mithin hat die
Wechſelbeſtimmung in jeder ihrer Handlungen immer mit beiden
Sliedern zu thun: die Form ihrer Thätigkeit ift allemal ein
Wechſeln oder ein Uebergehen von einem Gliede zum andern.
Ohne ein ſolches Uebergehen kann weder im Nicht: Ic Tätigkeit
noch im Ich Leiden flattfinden. Soll in das Nicht: Ich Thätige
keit gefegt werden, fo muß im Ich genau fo viel Thätigkeit auf-
gehoben oder, da das Ich der Inbegriff aller Thätigkeit ift, vom
Ich auf das Nicht: Ich Übertragen werben. Das Ich überträgt
einen Theil feiner Thätigkeit auf dad Nicht Ich; es befchränkt
*) Ebendaſelbſt. IL. $. 4. ©. 155, 56,
629
bie eigene Thätigkeit; da ed ber Inbegriff aller Thätigkeit ift,
fo begrenzt es diefe feine Zotalität und geht von ber abfoluten
Totalität zur begrenzten über. Diefer Uebergang ift nur mög:
lich, indem es eineh heil feiner Realität (Thätigkeit) von fich
ausſchließt oder, was baffelbe heißt, indem ed fich feiner Realität
zum Theil entäwßert. Jene Ausſchließung iſt eine Entäußerung.
So if die Thätigkeit im Nicht: Ich nur durch Uebertragung,
das Leiden im Ich nur durch Entäußerung möglich: daher
befteht die Form jener unabhängigen Thatigkeit im Uebertragen
und im Entäußern*).
Vergleichen wir den Inhalt der unabhängigen Thätigkeit
(Spontaneität und Beziehung auf ein Object) mit diefer Form
(Uebertragung und Entäußerung), fo leuchtet ein, daß fich beide
gegenfeitig beflimmen und fordern. Diefer Inhalt kann Feine
andere Form, diefe Form keinen andern Inhalt haben.
Vergleichen wir den Inhalt der Wechfelbeftimmung (Ber:
haͤltniß der Wechfelglieber) mit ihrer Form (Eingreifen ber Gtie-
der), fo leuchtet ebenfalls ein, wie beide einander völlig entfpre«
hen und ein folches Verhältniß nur in einer ſolchen Form ſtatt⸗
finden fann.
Vergleichen wir endlich die unabhängige Thätigkeit als diefe
Einheit von Inhalt und Form mit der Wechfelbeftimmumg als
diefer Einheit von Inhalt und Form, fo ift Mar, daß beide eines
find, daß fie fich gegenfeitig beflimmen, alfo eine vollkommene
Syntheſe bilden: eine Handlung, die durch einen Kreislauf in
fi) felbft zurädgeht*").
*) Chenbafelbft. II. 8. 4. ©. 160— 166,
**) Ghendafelöft, IT. 8. 4. ©, 166171.
diſder, Gefäläte der Phllofonkie. V. 34
530
5. Ideal-Realismus.
Dualitativer Idealiomus umd Realismns. Oxnantitativer Idealiemus und
Realismus.
Die unabhängige Thätigfeit iſt demnach beftimmt und bie
Bebingung gefunden, welche ben in der Wechſelbeſtimmung ent:
baltenen Widerſpruch auflöft. Es war der Widerfpruch zwiſchen
der Caufalität des Nicht: Ich und der Subftantialität des Ich.
Der gefundene Begriff ift daher auf biefe beiden Arten ber Wech-
felbeftimmung anzuwenden. Es giebt in dem Nicht Sch Feine
vorauögefegte urfprüngliche Thätigkeit: diefe Annahme, welche
ben dogmatifchen Realismus charakterifirt, ift unmöglich. Alle
Thatigkeit ober Realität des Nicht: Ich ift Feine urfprüngliche,
fondern eine übertragene. Soll aber Thätigkeit auf das Nicht:
Ich übertragen werden, fo muß boch dad Nicht: Ich zur Auf:
nahme berfelben gegeben, alfo ald etwas von dem Ich Verſchie⸗
denes unb. Unabhängiges vorhanden fein. Das Webertragen ſetzt
dad Dafein deöjenigen voraus, dem übertragen wird. So er:
ſcheint das Nicht:Ich ald Ding an fich, und wir begegnen hier
einer unmöglichen Faſſung.
Unter Feiner Bedingung darf das Nicht Ich ald Ding an
fich gefaßt werden. Es ift dem Ich nicht vorausgeſetzt, fondern
nur entgegengefeßt. Das Ich feht etwas fich entgegen, indem
es Thatigkeit in fich aufhebt ober Leiden in fich ſetzt. Das
Setzen eines leidenden (befchränften) Ich ift dad Setzen eines thä⸗
tigen Nicht: Ich. Nennen wir die Thatigkeit bes Ich den Ideal⸗
grund, die Thätigkeit des Nicht: Ich dagegen den Realgrund, fo
leuchtet ein, daß der Realgrund keineswegs vorausgefegt, ſon—
dern aus dem Idealgrunde erklärt fein will. Diefe Erklärung
meife bildet den Geſichtspunkt zu einem ‚wirklichen Idealrealis-
mus, „Ideal: und Realgrund find im Begriffe der
531
Wirkſam keit (mithin überall, denn nur im Begriffe der Wirk:
famkeit kommt ein Realgrund vor) Eind und Ebendaf-
felbe*),”
Die Löfung bes Widerfpruchd und die Entſcheidung der Sa-
he liegt.in der Erklärung der in dem Ich vorhandenen Schranke.
Woher die Einfhränfung bes Ich? In der Auflöfung dieſer
Frage unterfcheidet Fichte die verfchiedenen Arten des Idealismus
und Realiömus. Der Idealismus erklärt dad Borhandenfein je
ner Schranke bloß aus dem Ich, der Realismus erklärt fie
nicht aus dem Ich. Wird die Einfchränfung des Ich aus der
Beſchaffenheit (d. h. abfoluten Thätigfeit) des Ih erklärt, fo
haben wir den Standpunkt, den Fichte den „qualitativen Idea⸗
lismus nennt; wird fie aus ber Befchaffenheit (Xhätigkeit) des
Nicht: Ich begründet, fo haben wir den „qualitativen Realid:
mus”, Wird fie aus einer beftimmten Handlungsweiſe (d. h.
aus den Geſetzen) des Ich abgeleitet, fo haben wir den „quantitatis
ven Idealismus‘; wird fid nicht abgeleitet, fondern ald etwas
betrachtet, das im Ich vorhanden ift ohne Zuthun des Ich, fo
haben wir den Standpunkt, den Fichte „quantitativen Realis-
mus” nennt und dem Eritifchen (Eantifchen) Idealismus gleich
fest).
6. Das mittelbare Seben.
Der qualitative Realismus iſt ein unter dem Princip der
Wiſſenſchaftslehre unmöglicher Standpunkt: dad Nicht-⸗Ich darf
weder als Realgrund noch als Ding an ſich gefaßt werben; mer
der darf in ihm eine urfprüngliche Thätigfeit noch darf es felbft
als Subftrat einer zu übertragenden Thätigkeit vorausgeſetzt wer«
*) Ebendaſelbſt. IL. 9.4. ©. 171—175, .
**) Chendafelbft. IL $. 4. ©. 184—187.
34*
532
den. Es wird mithin überhaupt nicht vorausgeſetzt, fondern bloß
entgegengefebt. Alles Entgegenfegen ift aber nur möglich in
Rückſicht auf ein Geſetztes. Das Ich fest ein Nicht: Ich bloß
dadurch, daß es entgegenfeßt; es fegt entgegen, indem ed ſich
entgegengefest d. h. bie eigene Thatigkeit einfchränft, Mithin ift
alles Entgegenfeßen ein vermittelteö oder mittelbares Segen.
As ein folches mittelbared Segen will die unabhängige: Thätige
keit beftimmt fein. Was in das Ich nicht gefeht wird, wird in
das Nicht: Ich übertragen d. h. ald Nicht:Ich geſetzt. Ober, wie
fih Fichte auch ausdrückt, jedes Glied wird gefeßt durch das
Nichtfeßen bed andern. Ohne ein ſolches mittelbares Setzen ift
Bein Entgegenfegen (bed Ich), Fein Nicht: Ich,. Feine Schranke
im Ich, fein Bewußtfein möglich. Daher erklärt Fichte dieſes
mittelbare Segen für dad Geſetz bed Bewußtfeins*).
7. Borftellen und Einbilden.
Subject und Object.
Das Ic) fest entgegen, d. h. es ſetzt ſich entgegen: es ſetzt
ein Object. Das Nicht-Ich iſt weder Realgrund noch Ding an
ſich, ſondern Object. Objerte find nur für (in Rüdficht auf)
ein Subject und dieſes wieder ift nur möglich im Unterfchiede von
einem Objecte. Daher fein Subject ohne Object und umgekehrt.
Die unabhängige Thätigfeit oder das mittelbare Setzen ift
demnach ein Segen von Subject und Object. Jedes Glied ift an
bad andere gebunden, benn es iſt dem anderen entgegengefeßt.
Das Object wird gefegt Durch Aufhebung des Subjects und ums
gelehrt. Das Ich feht mittelbar entweder ein Object ober ein
Subject. Es ſetzt das Object: fo muß es dad Subject aufheben
d. h. die eigene Thätigkeit einfchränfen,, alfo Leiden in fich fegen
y obendaſelbſt. IL. 8.4. ©, 181—188,
633
und biefes fein Leiden auf das Object ald Realgrund beziehen,
d. h. ed muß in ihm die Vorftellung einer vom Ich unabhän:
gigen Realität des Nicht» Ich entfichen. Es fett das Subject:
fo muß es das Object aufheben, die Thatigkeit deſſelben eins
ſchranken oder Leiden in dad Object ſetzen und dieſes Leiden auf
die Thätigfeit des Subjects als Realgrund beziehen; es muß die
eigene Thätigkeit ald Urfache de im Objecte gefesten Leidens be
trachten, alfo die Vorftelung einer vom Nicht: Ich unabhängigen
Realität des Ich erzeugen, d.h. die Worftellung ber Freiheit*).
Das mittelbare Segen ift alfo ein Borftellen oder Einbilden.
Bohlgemerkt: das Nicht: Ich iſt nicht der Realgrund bes im Ich
geſetzten Leidens, fonft wäre es Ding an fi, fondern es muß
als diefer Realgrund vorgeftellt ober eingebildet werben. Es ift
diefer Realgrund nicht als Ding an fi), fondern ald nothwen⸗
dige Vorſtellung des Ich. Diefe Vorſtellung bringt das Ich
nothwendig aus ſich hervor: die unabhängige Thätigkeit ober
das mittelbare Seen muß daher beflimmt werben ald dad Ber:
mögen Borftellungen hervorzubringen ober als die probuctive
Einbildungskraft.
Ohne dieſe probuctive Einbildungskraft giebt es Feine Vor⸗
ſtellung von der Realität des Nicht: Ich, Fein mittelbare Segen
von Subject und Object, Feine unabhängige Thätigkeit, die in
jenem mittelbaren Setzen befteht; feine Wechfelbeftimmung von
3 und Nicht: Ich, die jene unabhängige Thätigfeit als Bebin-
gung fordert; Feine Vereinigung von Ich und Nicht-Ich, bie
ohne Wechfetbeftimmung nicht ftattfinden kann; keinen Gegenfag
von Ich und Nicht: Ich, Fein fegended und entgegenſetzendes Ich,
kein urfprüngliche® Ich, alfo überhaupt Fein Ich, Feine Intelli-
genz, keinen Geift.
*) Ebendaſelbſt. IL. 8.4. 6. 183, ©. 189.
534
Die probuctive Einbildungskraft ift demnach dad theoretifche
Srundvermögen. „Ohne diefed wunderbare Vermögen,” fagt
Fichte, „läßt ſich gar nichts im menfchlichen Geifte erklären und
es dürfte fich gar leicht der ganze Mechanismus des menfchlichen
Geiſtes darauf gründen *).”
I
Einbildung und Selbftbewußtfein.
1. Die bewußtlofe Production.
Das Product als Object.
Bir haben gefehen, wie die Wiſſenſchaftslehre nach der Richt:
ſchnur ihrer Methode die productive Einbildungskraft als die
Grundbedingung der Wechielbeftimmung und des theoretifchen
Ich deducirt. Verſuchen wir jest, dad gewonnene Ergebniß auf
lürzerem Wege zu erreichen und durch eine einfache, von dem
ſchwerfälligen und weitläufigen Apparat der Methode freie Be:
trachtung vollfommen deutlich zu machen. Wir find an einer
Stelle, die dad Verftändniß der Wiffenfchaftölehre entfcheidet und
daffelbe zugleich mit großen Schwierigkeiten umgiebt. Bleibt
diefer Punkt dunkel, fo bleibt die ganze Wiffenfchaftölehre un:
verftanden und mit ihr die folgenden Syfteme, die aus ihr her:
vorgehen.
Das theoretifche Ich (die Wechſelbeſtimmung) fordert eine
Thatigkeit des Ich, bie zugleich unabhängig und beſchränkt ift,
die fich mit völliger Spontaneität auf ein Object bezieht. Ber
flimmen wir, welcher Art diefe Tätigkeit fein muß. Sie ift
nur dann unabhängig, wenn fie durch nichts bedingt, vielmehr
alles durch fie bebingt ober gefeßt iſt; die unabhängige Thätig-
keit des Ich ift darum nothwendig probuctiv. Alles ift ihr Pro:
*) Ghenbajelbft. IL. $, 4. S. 208.
535
duct. Zugleich fol diefe Thaͤtigkeit befchränft fein, fie fol einen
Gegenftand haben, auf den fie fich bezieht, Weil die Thätigfeit
des Ich unabhängig ift, darum ift fie production; weil fie be:
ſchrankt ift, darum iſt fie objectin (fie hat Objecte). Sie fol
beides zugleich fein: das ift nur möglich, wenn fie eine ſolche
Tätigkeit ift, deren Producte zugleich ihre Objecte, oder deren
Dbjecte ihre eigenen Probucte find. Nun ift Object die Vorſtel⸗
lung eines von mir unterfchiebenen Wefend, dad mir gegenübers
ſteht, deſſen Thätigkeit mich beftimmt und einfchränft: alfo die
Vorſtellung der Realität des Nicht: Ich. Das Object erfcheint
dem Ich ald ein fremdes Product. Daher kann jene Thär
tigfeit des Ich, die zugleich unabhängig und befchränkt (pro⸗
ductiv und objectiv) ift, nur eine ſolche fein, welcher die eige:
nen Probucte als fremde Producte oder ald Dinge außer ihr
erſcheinen.
Sobald ich aber in meiner Thätigkeit zugleich auf dieſelbe
reflectire, ſo Tann dad Product derfelben mir nur ald mein
Product erſcheinen, nicht als etwas Reales außer mir, nicht als
din meine eigene Thätigkeit beftimmendes und einſchränkendes Ob:
jet, Als ein ſolches kann mein Product mir daher nur dann err
ſcheinen, wenn ich in meiner Thätigkeit nicht auf diefelbe reflec⸗
fire oder, was daffelbe Heißt, wenn ich in meiner. Thätigkeit mir
derfelben als ber meinigen nicht bewußt bin. Alfo kann nur in
der bewußtlos producirenden Thätigkeit des Ich das eigene Pros
duct ald ein fremdes erfcheinen. Nur die Producte einer folchen
Thatigkeit erfcheinen zugleich ald Objecte von außen unb Fönnen
nicht anders erfcheinen. Eben diefe Thätigkeit ift Die Einbildung.
Sie ift völlig fpontan ; aber in diefer völlig fpontanen und darum
unabhängigen Thatigkeit kann das Ich ſich nur fegen als be
ſtimmt durch ein Nicht: Ich. Hier fiehen wir auf dem Grunde
536
des theoretifchen Ich. Das Vermögen ift entdeckt, das ben
Grundfag der theoretifchen Wiffenfchaftölehre trägt.
Diefe Entdeckung ift höchſt wichtig. Die bewußtlofe Pro-
duction ift der Grund und Kern bed Bewußtfeind, die Bedin⸗
gung, durch welche das legtere allein möglich iſt. Wie follte ed
anders möglich fein? Das Bewußtſein fest in fich die bewußt-
Iofe Thätigkeit voraus. Denn da dad Bewußtfein nur möglich
iſt durch Reflerion auf die eigene Thätigkeit, fo kann die Thä—
tigkeit, in Reflerion auf welche dad Bewußtſein entfteht, offen=
bar nicht felbft bewußt fein. Sobald wir vorftellen, ohne auf
unfere vorftellende Thaͤtigkeit zu reflectiren, d. h. fobald wir bes
wußtlos vorftellen, erfcheinen uns die Producte unferer Thätig-
keit (die Bilder) ald Objecte von außen. Jedes Traumbild be
weift die Wahrheit diefed Satzes. Das eigene Product erfcheint
ald fremdes, ald Object außer und, als Nicht-Ich, wenn es
bewußtlos probucirt wird. Diefe berußtlofe Production ift die
Einbildungskraft. Wermöge derfelben ift das Ich vorgeftellte
Welt, Vorftelung der Dinge. Vermöge der Reflerion auf dieſe
feine Vorftellung ift es Selbftbewußtfein. Daher ift die produc⸗
tive Einbildungskraft die Bedingung des Bewußtſeins, des Ich.
2. Alle Realität ala Product der Einbildung.
„Es wird demnach hier gelehrt”, fagt Fichte, „Daß alle
Realität — es verſteht fih für uns, wie ed denn in eis
nem Syſtem der Trandfcendentalphilofophie nicht anders verflan-
den werben foll — bloß durch die Einbildungsfraft
hervorgebracht werde. Einer der größten Denker unferes
Beitalterd, der, fo viel ich einfehe, das gleiche lehrt, nennt dieß
eine Tauſchung durch die Einbildungskraft. Aber jeder Täu⸗
ſchung muß ſich Wahrheit entgegenfegen, jede Täuſchung muß
537
fic) vermeiben laffen. Wenn denn nun aber erwiefen wirb, wie
es im gegenwärtigen Syſteme erwieſen werben fol, daß auf
jene Handlung der Einbildungsfraft die Möglich:
teit unferes Bewußtfeins, unferes Lebens, unfer
res Seins für uns d.h. unferes Seins als Ih fi
gründet; fo kann biefelbe nicht wegfallen, wenn wir nicht vom
Ich abftvahiren follen, welches fich widerfpricht, da das Abftca-
birende unmöglich von ſich felbft abftrahiren kann; mithin täufcht
fie nicht, fondern fie giebt Wahrheit und die einzig mögliche
Wahrheit. Annehmen, daß fie tauſche, heißt einen Stepticide
mus begründen, der das eigene Sein bezweifeln lehrt *).”
Mm.
Die Wiffenfhaftslcehre als pragmatifhe Gefhichte
des menſchlichen Geiftes.
1. Das Ziel der theoretifhen Wiffenfhaftslehre.
Mit diefer Einficht in die Natur und das Vermögen ber
Einbildungskraft haben wir die theovetifche Wiſſenſchaftslehre
noch keineswegs befchloffen, ſondern erft begründet. Wir flehen
auf dem Grunde deö theoretifchen Ich und haben gefunden ,: auf
welche Weiſe allein die Handlung möglich ift, bie den Grund:
fag der theoretifchen Wiſſenſchaftslehre (die Wechfelbeftimmung)
ausführt, Die Einbildungskraft fest ihr Probuct als ein frem⸗
bed, als ein Object außer ihr, d. h. vermöge der Einbildungs:
kraft fett das Ich fich ſelbſt als beflimmt durch das Nicht: Ich,
nur vermöge einer folchen Thatigkeit. Alle anderen Dentmög-
lichkeiten find methobifch erprobt und auögefchloffen worden.
Aber Aber das Ich ift nicht bloß, fondern es iſt fir fih. Das
y Ebendaſelbſt. IL, 8.4. 6.227, Ar. 18.
838
Sein für ſich if feine Weſenseigenthümlichkeit, ohne welche es
aufhören würde, Ich zu fein. Es liegt daher in dem Charakter
des Ich, daß es für fich ift, was es ift. Es iſt micht genug,
daß es ſich fegt als beſtimmt durch bas Nicht Ich: es muß ſich
ſo auch für ſich ſetzen, d. h. ed muß dieſe feine Thätigkeit er⸗
kennen oder in das Bewußtſein erheben; es muß erkennen, daß
ſein Object ſein Product iſt. Das Ich ſetzt ſich als beſtimmt
durch dad Nicht⸗Ich, d. h. es iſt productive Einbildungskraft.
Es iſt nicht genug, daß es Einbildungskraft iſt: es muß dieſe
Einbildungskraft auch für ſich fein, es muß dieſe feine Thaͤtig⸗
keit ins Bewußtſein erheben oder, was daſſelbe heißt, erkennen,
daß ſein Object das Product ſeiner Einbildungskraft iſt. Nehmen
wir, das Ich habe den Standpunkt gewonnen, auf dem es ein⸗
ſieht, daß es ſich ſetzt als beſtimmt durch das Nicht-Ich, ſo iſt
es nicht bloß theoretiſch, ſondern es iſt für ſich theoretifches Ich,
es weiß ſich als ſolches, es erkennt ſich als den Grund ſeines
theoretiſchen Verhaltens, d. h. es erkennt den Grundſatz der theo⸗
retiſchen Wiſſenſchaftslehre. Wenn das Ich dieſe Einſicht er⸗
reicht hat, ſo iſt aus dem theoretiſchen Ich ſelbſt der Grundſatz
der theoretiſchen Wiſſenſchaftslehre hervorgegangen; dieſer Grund⸗
ſatz iſt Reſultat geworden und damit haben wir das untrügliche
Zeugniß, daß die theoretiſche Wiſſenſchaftslehre ihren Kreislauf
vollendet, ihr Spftem befchloffen hat.
Es ift alfo klar, welche Aufgabe die theoretifche Wiffen-
ſchaftslehte noch zu löfen hat, Ihr Kreislauf befchreibt zwei
Hälften. Bon dem Grunbfag ber theoretifchen Wiſſenſchaftslehre
zum Grundvermögen des theoretifchen Ich (productive Einbil-
dungskraft): das iſt die erfte Hälfte; von diefem Grundvermögen
zurück zu jenem Grundfag: bad ift die zweite, . Die erfte hat
fie befchrieben, die zweite ift moch zu befchreiben. Es ift jetzt zu
539
erkennnen, wie bie Einbildungskraft vollftändig ind Bewußtfein
erhoben wird ober wie aus dem theoretifchen Grundvermögen
der Grundſatz beffelben (für dad Ich) hervorgeht.
2. Die Methode der Entwidlung.
(Schelling und Hegel. Schlegel und Novalis.)
Diefe Erhebung gefchieht von Stufe zu Stufe. Diefen
Stufengang ober diefe Entwidlung macht nicht etwa die Wiſſen⸗
ſchaftslehre vermöge ihrer Methode, fondern dad Ich (die Intelis
genz) felbft vermöge feiner Natur. Denn es ift die Natur und
das nothwendige Geſetz der Intelligenz: was fie ift, für ſich zu
fein; was fie thut, ind Bewußtſein zu erheben. Diefes Geſetz
treibt die Intelligenz von der unterften Stufe ihres theoretifchen
Verhaltens bi zur höchften, wo fie begreift, daß ihr Object ihr
eigenes Product iſt.
Die Methode der Wiſſenſchaftslehre fällt alſo von jetzt an
mit dem naturgemäßen Entwidlungsgange der Intelligenz zu⸗
fammen ; fie hat diefen Entwicklungsgang nur zu betrachten und
darzuftellen: die Wiffenfchaftslehre wird daher von jegt an, wie
ſich Fichte ausdrückt, „die pragmatifche Gefhichte des
menſchlichen Geiſtes“.
In dieſer Aufgabe und ihrer Löſung erkennen wir das von
Fichte gegebene Vorbild und Motiv für die nächften Syſteme, die
auf die Wiſſenſchaftslehre und aus derſelben gefolgt find. Die
felbe Aufgabe fette fich Schelling in feinem „trandfcendentalen
Vealismus"; diefelbe Hegel in feiner „Phänomenologie des
Seiftes"; der Kenner weiß, was diefe Werke in der Geſchichte
unferer deutfchen Philofophie bedeuten. Kein Punkt in dem
ganzen Umfange der fichte’fchen Lehre hat eine größere Tragweite
als die Begründung des theoretifchen Ich. durch bie probuctive
540
Einbildungskraft und die darin enthaltene Aufgabe. Bon bie
fem Punkte aus übte die Wiffenfchaftslehre ihre Anziehungskraft
auf Novalid und Fr. Schlegel und erfchien einen Augenblid
lang dem Geifte der romantifchen Schule, der die Macht der
Einbildungskraft vergötterte, als die ihm wahlverwandte Philo-
fophie. Was Kant durch feine Lehre von der transſcendentalen
Apperception für Fichte war, das ift Fichte durch feine Theorie
und Entwidlung der Einbildungskraft für Schelling und Hegel
geworben.
3. Grenzpunkte der Entwicklung.
Die noch zu Iöfende Aufgabe der theoretiſchen Wiſſenſchafts⸗
lehre hat die naturgemäße Entwicklung des theoretifchen Sch zu
ihrem Gegenftande. Dadurch ift fie genau beftimmt und in fefte
Grenzen eingefchloffen. Die Grenzpunkte jener Entwicklung find
auch die Grenzpunfte der pragmatifchen Gefchichte des Geiftes:
der Ausgangspunkt ift die niedrigfte, der Endpunkt die höchfte
Stufe jener Entwicklung. Im Anfange erſcheint dem Ich fein
eigenes Probuct bloß ald Object, am Ende erfcheint dem Ich
das Object ganz als fein Product. Zuerft ſetzt das Ich fein Pro:
duct al Object, d. h. es ſetzt ſich als beftimmt durch das Nicht-Ich;
zuletzt ſetzt das Ich ſein Object als Product, d. h. es erkennt,
daß es fich ſetzt als beſtimmt durch das Nicht-Ich.
4. Geſetz der Entwidlung.
Auch dad Geſetz der ganzen Entwicklung ober der fortſchrei⸗
tenden Erhebung ift vollfommen beftimmt. Das Geſetz heißt:
Ich —Ich, oder was das Ich ift, iſt ed für ſich; was es thut,
erhebt es ind Bemußtfein. Eben diefe Erhebung ift der noth:
wendige Fortfchritt von der niederen Stufe zur höheren. Setzen
541
wir, dad Ich fei in einer gewiffen Thätigfeit, mit der es zu⸗
nächft zufammenfällt, gleih A, fo wirb durch die nothwendige
Reflerion auf diefe Thätigfeit A verwandelt in gewußtes A.
Die Thätigkeit aber, durch welche A ift, und diejenige, durch
welche A gewußt wird, verhalten fich wie die niedere Thätigkeit
zur höheren. So verändert dad Ic) feine Thätigkeit und damit
ſich felbft oder feinen Standpunkt, d.h. es erhebt ſich von ber nie:
deren Stufe zur höheren.
Diefen Stufengang haben wir jest im Einzelnen zu be
traten. Fichte hat denfelben entwickelt in der Grundlage ber
gefammten Wiffenfchaftslehre ald „Deduction der Vorftelung”
und in dem „Grundriß des Eigenthümlichen der Wiffenfchafts-
lehre in Rückſicht auf das theoretifche Vermögen”. Die „De
duction” giebt die Gründzlige ber ganzen Entwidlung, der „Grund:
tip” enthält nur „das Eigenthümliche ver Wiſſenſchaftslehre“ d.h.
die Hauptpunkte, in denen fie ſich von der kantiſchen Vernunft
kritik unterfcheidet. Was dieſe vorausſett, will die Wiflen-
ſchaftslehre deducirenz wo jene anfängt, endet daher diefe ben
Grundriß ihres eigenthümlichen Inhalts. Dieſe ihre eigenthüm⸗
liche Leiſtung iſt die Deduction der Empfindung und Anſchauung.
Sechſtes Capitel.
Die Entwicklung des theoreliſchen Ich.
L
Die Empfindung.
4. Der Zufand bes Leidens.
Was das Ich ift, kann es nur durch fich fein. Was das Ich
ift, muß ed auch für fich fein, d. h. es darf nicht bloß fein, ſon⸗
dern muß auch erkennen, was ed ift. Diefe beiden Gefege, Die
mit dem Wefen bed Ich felbft eines find, bedingen und erflären
deſſen nothwendige theoretifche Entwidlung *).
Den Charakter der erften-und niedrigften Stufe in biefer
Entwicklung haben wir bereits beftimmt. Dem Ich erfcheint fein
eigenes Product gar nicht als fein Product, fondern ald etwas
ohne fein Zuthun Vorhandene, als etwas ihm von außen Ge-
gebened. Was dem Ich gegeben ift, kann nur in ihm gegeben
fein; was im Ich gegeben ift ohne fein Zuthun, kann nur ald
Aufhebung oder Einfchränkung feiner Thätigkeit gegeben fein:
als Gegentheil der Thätigfeit, ald Zuftand und Leiden, als lei⸗
dender Zuſtand. Das Erfte wird daher fein, daß das Ich ſich
*) Grundriß des Gigenthümlicen der Wiſſenſchaftslehre. $. 1.
S. W. I Abth. IB. 6.333,
513
als leidend (nicht fest, fonbern) findet. Es findet einen Zuſtand
vor, es findet denfelben in ſich vor, es findet fich als leidend
(afficirt), d.h. edempfindet. Die erfte Stufe ift daher ein
Finden, ein ſich und in ſich Finden (Infihfindung), Empfinden
(Empfindung) *).
2. Thätigkeit und Leiden.
Wenn wir die Thatfache der Empfindung, an welchem Bei⸗
fpiel e8 immer fei, analpfiren, fo fehen wir leicht, unter wel:
hen Bedingungen allein Empfindung flattfinden kann. Die Em:
pfindung ift in uns, fie ift ein fubjectiver Vorgang, Affection,
ein Eindrud, den wir empfangen; fie ift in diefer Rückficht ein
Leiden. Uber das bloße Leiden ift nicht Empfindung, ber bloße
Eindruck ift noch keine Empfindung. Zur Empfindung gehört,
daß wir das Leiden und aneignen und zu dem unfrigen machen;
ohne dieſe Thätigkeit ift Empfindung nicht möglich. So ift jede
Empfindung ein Product aud den beiden entgegengefehten Facto⸗
ten ber Thätigfeit und bed Leidens, fie iſt ein Probust dieſes im
Ich vorhandenen Widerſtreits. Das gemeinfchaftliche Product
diefer beiden entgegengefegten Factoren, wenn ed nicht gleich nichts
fein fol, Bann nur etwaß fein, das weber bloß Thatigkeit noch
bloß Leiden ift, alfo die Thaͤtigkeit im Zuſtande · des Leidens, die
Thatigkeit ald Vermögen: „als ruhende Thätigkeit, ald Stoff
ober Subftrat der Kraft” **). Segen wir im Ich den Widerſtreit
von Thätigkeit und Leiden ; beibe dürfen fich nicht gegenfeitig aufs
heben, fie müffen ſich vereinigen, was nur gefchehen Tann, inz
dem fie ſich gegenfeitig begrenzen; fegen wir dad Ich in den Zu⸗
*) Ehenbafelbft. $. 2. Etſtet Lehrſat. III. S. 339,
**) Ehenbafelbft. 9.2. L S. 335336. Vol. $. 3, Zweiter
Lehtſah. L. 6. 340-341,
544
fland biefer Begrenzung, fa kann es nichts anders fein als Em-
pfindung*). s
3. Reflerion und Begrenzung.
Wie aber folgt aus dem Wefen des Ich die Notwendigkeit
der Begrenzung? Diefe Einficht giebt die Deduction der Em:
pfindung, welche die kantiſche Kritik nicht gegeben und Fichte
hier zum erften male verſucht hat.
Das Ic iſt reine, durch nichts eingefchränkte, unbegrenzte
Thatigkeit; was das Ich ift, muß es für fich fein; es ift Thatig⸗
keit und zugleich Reflerion auf diefelbe. Es veflectirt feine Thä—
tigkeit. Wird die Thätigkeit reflectirt, fo geht fie nicht ununter-
brochen fort ind Unbegrenzte; die Reflerion erzeugt Unterbrechung,
Begrenzung der Thätigkeit und wendet diefe dadurch in das Ich
felbft zurüd. So ift das Ich vermöge feiner Reflerion in ſich
zurückkehrende Thätigkeit; vermöge biefer Thätigkeit kommt das
Ich zu fich, findet ſich, fühlt fih. Wäre es bloß unbegrenzte
Thätigkeit ohne.Reflerion, fo wäre es fein Ich. Alſo vermöge
der Reflerion, welche die unbegrenzte Thätigkeit hemmt und in
fich zurücktreibt, finbet fich erft das Ich und entſteht erſt für fich.
Es entſteht durch ſich, es ift fein eigenes Product, aber ed kann
noch nicht wiffen ; daß es felbft der Grund feiner Entſtehung iſt;
es iſt noch nicht felbftbewußtes Ich. Was alfo ift dieſes fo ent⸗
ftanbene Ich )?
Das Ich begrenzt feine Thaͤtigkeit, indem es dieſelbe refler⸗
tirt. Dieſe Reflexion iſt auch ſeine eigene Thätigkeit. Aber in⸗
dem es auf feine Thaͤtigkeit reflectirt, veflectiet es nicht auch zus
gleich auf diefe feine Reflexion. Diefe tritt daher nicht ind Be—
*) Ebenbafelbft. 8.3. III. S. 345—348,
) Ebendaſelbſt. 8.3. VL B. ©. 359, 360.
345
wußtfen, fie ift alfo bewußtloſe Thätigkeit. Was fie produ⸗
cirt, erfcheint darum dem Ich nicht ald (von ihm) hervorgebracht,
fondern als (von außen) gegeben. Das Product jener erflen Re
flerion {ft die Begrenzung. Die Begrenzung erſcheint als von
außen gefegt und kann hier nicht anderd erfcheinen. Alfo kann
hier das Ich fich als begrenzt auch nur finden, es findet ſich
leidend, d.h. es empfindet. Und fo kann dad Ich vermöge feir
ner erften Reflerion (auf der erften Stufe feiner Entwiclung)
nichts anderes fein ald Empfindung”).
Die Begrenzung des Ich ift Product einer Thätigkeit, auf
welche das Ich nicht veflectirt, alfo einer bewußtloſen Thätigkeit,
mithin iſt Diefe Begrenzung für das Ich felbft zunachſt nicht fein
Product, fondern fein gegebener Buftand, in dem es fich leidend
verhält und als leidend findet. Sein Selbfigefühl fäut mit fei-
ner Begrenztheit und feinem Leiden zufammen. Es fühlt fich
begrenzt: dieſes Gefühl feiner Begrenztheit ift zugleich ein Ge:
fühl des Nichtkönnens ober des Zwanges, und von einem folchen
Gefühl iſt jede Empfindung begleitet**).
IL
Anfhauung.
4. Reflerion auf die Empfindung.
Was das Ich ift, muß es für fich fein. Es muß fih als
dad, was es ift, felbft fegen, inbem es darauf reflectirt. Nun
ift und findet fich das Ich als begrenzt, es muß ſich daher jetzt
*) Ehendafelbft. 8.3. VL. Vgl. damit Grundlage der gef. Wiflen-
ſchaſtsl. Debuction der Vorftellung. I. S. 227—229. Hier nennt
dichte , Anſchauung“, was er im Grundriß genauer als „Empfindung“
bezeichnet.
**) Grunbriß bes Eigenthümlichen u. |. f. h. su A. 6,367,
Bilder, Gefäläte der Phllofophle V.
546
als begrenzt felbft fegen, auf feine Grenze reſlectiren und eben
dadurch fiber diefelbe hinausgehen. Die Reflerion auf die (un⸗
begrenzte) Thätigkeit ift notwendig deren Begrenzung, die Res
flerion auf bie Begrenzung ift nothwendig Hinauögehen über die⸗
felbe. Ienfeits der Grenze kann nichts andered gefeßt werden
als dad Begrenzende. Indem alfo bad Ich über feine Grenze
hinausgeht, fest es nothwendig ein Begrenzendes. „Es reflectirt
mit Freiheit; aber ed Tann nicht reflectiven (Grenze fegen), ohne
zugleich abfolut etwas zu probucien ald ein Begrenzendes ).“
Es ſetzt dad Begrenzende nothiwendig fi) ald dem Begrenzten
entgegen un fehließt baffelbe von fich aus. Was aber dem Ich
entgegengefebt (von ihm auögefchloffen) wirb, kann nichts andes
red fein ald bad Nicht Ich.
2. Dad Ih ald Anſchauung.
Die Reflegion auf die Empfindung (Begrenzung) ift baher
eine Thätigkeit, beren Product nothwendig etwas (bad Ich) Bes
grenzendes, ihm Entgegengefebtes d. h. ein Nicht: Ich if. Ins
dem aber dad Ich auf feine Empfindung veflectirt, veflectirt es
nicht zugleich auf biefe feine Reflerion; diefe Reflerion ift eine
Thätigkeit, in welcher das Ich nicht fich felbft ſieht; es ſieht ſich
nicht handeln, alfo handelt es bewußtlos; bad Product feiner
Thatigkeit (dad Nicht: Ich) erfcheint ihm daher nicht ald fein
Product, fondern ald Object außer ihm, das ohne fein Zuthun
vorhanden ift**).
In diefem Object ift fich das Ich zunächft feiner eigenen
Thatigkeit nicht bewußt, und da es überhaupt noch Feiner eiges
*) Ebendaſelbſt. 9.3. VIL S. 384.
**) Ghenbafelbft. 8.3. VI. B. ©. 360-363,
647
nen Zhätigkeit fich bewußt ift, fo iſt es mit feiner ganzen Tha⸗
tigkeit im Objecte verloren. Diefes feiner eigenen Thatigkeit vers
geffene, in bad Object verlorene und gleichfam verſenkte Ich ift
die Anfhauung, bie erfte, urfprüngliche Anſchauung, „bie
fumme, bewußtfeinlofe Contemplation”*).
3. Empfindung und Anfhauung.
Das Ich in feiner Begrenzung (als begrenztes) ift Gefühl,
Empfindung, aber ald Ich ift ed nicht bloß Empfindung, fon
dern ift, was ed ift, für ſich, es ſetzt fich ald empfindend und
unterfcheivet bavon bad Empfundene. Es feht ſich als begrenzt
durch ein Begrenzendes, ihm Entgegengeſetztes, von ihm Ausge:
ſchloſſenes. Das ihm Entgegengefebte ift Nicht-Ich. Im der
Anfhauung des Nicht: Ich fühlt fic das Ich begrenzt. Begrenz⸗
tes und Begrenzendes, Empfindung und Anfchauung, das Ge
fühl der Begrenztheit (ded Nichtkönnens ober bed Zwanges) und bie
Anſchauung des Nicht Ich find (im Ich) mit einander verbunden.
Keine Anſchauung ohne Gefühl des Zwanges, Fein Gefühl des
Zwanges ohne Anfchauung.
Das Gefühl des Zwanges entfpringt aus der Begrenztheit
des Ich, und diefe felbft entfteht durch bie (urfprüngliche) Re:
flerion; die Anſchauung entfteht, indem das Ich auf feine Be:
grenztheit (Empfindung) reflectirt und dadurch Über feine Grenze
hinausgeht, alfo durch bie fpontane Thätigkeit des Ich. Ans
ſchauung und Gefühl des Zwanges verhalten fih daher, wie
Spontaneität und Reflerion, wie Freiheit und Begrenztheit, wie
*) Ebendaſelbſt. 8.3, IV. ©. 349, VI. S. 364. VII. ©. 370.
®gl damit Grundlage ber gef. Wiſſenſchaſtslehre. Deduction der Vor⸗
fellung. IL. S. 229 — 281,
35 *
548
Production und Beihränkung. Beide müffen vereinigt werben.
Wie ift eine ſolche Vereinigung möglich *)?
UL
Anfhauung und Einbildung.
1. Reflerion auf die Anfhauung: das Bild.
Das Ich ift in der Anſchauung bed Nicht Ich zugleich ge:
bunden und frei, ed if beides zugleich, indem es auf bie An:
ſchauung reflectirt. Worauf es veflectirt, das ift dem Ich ger
geben, das ift ohne fein Zuthun vorhanden, darin alfo ift das
Ic, völlig beftimmt durch die Wirkfamkeit des Richt: Ich; we
nigftens erfcheint dem Ich auf feinem gegenwärtigen Standpunkte
das Angefchaute ald Product des Nicht: Ich und muß ihm fo er⸗
fcheinen. Aber daß es darauf veflectirt, iſt feine eigene freie Thaͤ⸗
tigkeit. Es kann nur reflectiren auf bie in der Anfhauung ges
gebenen Unterfchiebe, aber es durchläuft biefelben mit Freiheit,
zählt fie auf, prägt fie ein. Vermöge diefer Tätigkeit ſetzt es
die Anſchauung in fich und bildet diefelbe nach. Im der Reflerion
auf bie Anſchauung ift dad Ich nachbildende Thätigkeit und des
ren Product dad Bilb**).
2%. Vorbild und Rachbild.
Das Bild ift mit Freiheit entworfen und zugleich vollkom⸗
men beſtimmt, es fol einem von ihm völlig unabhängigen Ob-
jecte entfprechen, es wird alfo gefeht als Nachbild. Das Ob-
ject, beffen Nachbild es ift, wird damit geſetzt al Vorbild. Das
Bild ift Product der eigenen Thätigkeit des Ich und erfcheint
*) Grunbriß des Eigenthümligen u. f. f. 8. 3. VIL. S. 367 —
368,
*) Ebendaſelbſt. $. 3. 0.2. 6, 373375,
549
dem Ich als fein Product; das Vorbild iſt davon unabhängig,
& ift nicht Product ber Thätigkeit bed Ich, es gilt ald vorhan⸗
den ohne alles Zuthun des Ich; es wird damit gefegt ald etwas
vom Ich Unabhängiges, Reales, d.h. ald wirfliches Ding.
Hier entfleht für dad Ich der Unterſchied der Idealität und Reali-
tät, der Vorſtellungen und der Dinge, des Subjectiven und Ob:
jettiven *).
Das Bild ift Product der Tätigkeit des Ich, das wir:
liche Ding ift Product der Wirkſamkeit des Nicht Ich. So ha
ben wir Ich und Nicht» Ich, beide in Wirkfamkeit, jebes in feiner
Virkſamkeit unabhängig von dem anderen. Aber die Producte
der beiden von: einander unabhängigen Wirkſamkeiten follen fich
verhalten, wie Nachbild und Vorbild, d. h. fie folen überein
fimmen; die Wirkfamkeiten des Ich und Nicht: Ich find mithin
von einander unabhängig und zugleich harmoniſch. Wie ift diefe
Harmonie möglih? Wir haben hier dad Ich, wie es fich felbft
betrachtet auf dem dogmatiſchen Standpunkte: es nimmt bie
Objerte al won ihm völlig unabhängige Dinge, es nimmt feine
Vorflelungen als entflanden durch eigene, fpontane, von den Din:
gen unabhängige Thätigkeit, es fest feine Erkenntniß in die Har:
monie beider, d. h. in bie Vorſtellungen, welche den Dingen ge:
miß find.
5: Die Anfhauung ala Vorbild,
Wäre dad wirkliche Ding in Wahrheit etwas von bem Ich
völlig Unabhängiges (Ding an fih), fo könnte es niemald Wor-
bild fein, weil das Vorbild doch auch Bild, Vorſtellung, alfo
etwas im Ich ſein muß. Unter einem dem Ich nothwendigen
*) Eendaſelbſt. 3.8. 0.2. S. 375.
550
Geſichtspunkte erfcheint diefem fein eigenes Probuct als etwas ihm
Fremdes, von ihm Unabhängige, ald Object außer ihm, in deſ⸗
fen Anſchauung das Ich, feiner eigenen Thatigkeit nicht bewußt,
ſich verliert. Im Wahrheit ift das wirkliche Ding nichts anderes
als unfere erfte, urfprüngliche, unmittelbare Anſchauung, ald
das im feine Anfchauung verlorene Ich. Wenn alfo dad Ich dad
wirkliche Ding in ſich nachbildet, fo bildet es feine Anfchauung
nad, fo reptobucirt es fein eigenes Product: es reprobueirt (mit
Bewußtfein), was es (ohne Bewußtfein) probucirt hat. Das
durch ift die Harmonie zwiſchen Ding und Vorftellung vollkom⸗
men erklärt und ift nur fo zu erflären: bie Anfchauung ift der
Grund aller Harmonie zwiſchen unferen Vorftellungen und ben
Dingen *),
Um den Grund biefer Harmonie zwifchen Ding und Vorſtel⸗
lung zu begreifen, muß man den Grund ihres Unterfchiedes in
der Wurzel erfaßt haben, und dieſe Einficht ift nur möglich,
wenn man dad Wefen des Ich wahrhaft burchbringt. Dad Ich
ift abfolute Freiheit, unbegrenzte productive Thatigkeit. Alle
feine Objecte find in Wahrheit feine Product. Wenn fi dad
Ich feiner Freiheit (unbegrenzten Thätigfeit), indem es handelt,
auch bewußt fein könnte, fo würde es alle feine Producte ald die
feinigen, alle Objecte als feine Producte wirklich einfehen, und
der ganze Unterfchied zwifchen Ding und Vorſtellung, zwiſchen
Realität und Idealität fiele weg. Der wirkliche und tieffte
Grund biefes Unterfchiedes liegt daher in der Unmöglichkeit, ſich
feiner freien Thatigkeit in ihrem ganzen Umfange bewußt zu
werben. Und der Grund biefer Unmöglichkeit ift: daß biefelbe
Bedingung, welche dad Bewußtſein ermöglicht, zugleich die
freie Thätigkeit begrenzt und aufhebt. Diefe Bedingung ift bie
*) Ghenbafelbft. $. 3. 0. 2. S. 377.
551
Reflerion. Um mir meiner Thätigkeit bewußt zu werben, muß
ich auf diefelbe reflectiren, und indem ich auf fie reflectire, halte ich
fie feft, mache fie aufhören, verwandle fie in ein Product. Da:
ber muß dem Ich die Welt gebrochen erfcheinen in Vorftellungen
und Dinge, Idealität und Realität”). Diefe Einficht löſt das
fonft unlösbare Problem. Es ift, wie Fichte es bezeichnet, „bad
überrafchendfte, die uralten Berirrungen endende und bie Ver:
nunft auf ewig in ihre Rechte einfegende Refultat **)."
4. Innere und äußere Anſchauung.
Dad Ich ift urfprüngliche, unbegrenzte Thatigkeit; ald Refle:
Fon auf feine urfprüngliche Thätigfeit ift und findet ſich das Ich
begrenzt. Vermöge der Reflerion auf die Empfindung fest ſich
das Ich als Anſchauung (angefchautes Nicht-Ich) und durch die -
Reflerion auf die Anſchauung ald Vorftelung (Einbildung).
Wir haben hier dafjelbe Object zweimal gefegt: ald Vorbild
md Nachbild, als Anfchauung und Bild, ald wirkliches Ding
und Vorftellung. Weide müfjen auf einander bezogen werden.
Wir wiflen bereits, wie bie Einficht des Beobachters, die mit
dem Standpunkte der Wiſſenſchaftslehre zufammenfält, dieſe
Frage nimmt und löſt. Jetzt aber nehmen wir die Frage nicht
wie fie für die Einficht des Beobachters, fondern wie fie für das
3 ſelbſt liegt, wie fie bad Ich felbft unter feinem gegenmärti-
gen Gefichtspunkte nehmen muß, ich meine dad Ich, für welches
das Product feiner Anfchauung ein fremdes von ihm unabhängie
903 Object iſt.
Das Ich iſt ſich im Bilden feiner eigenen Thatigkeit bes
wußt; es ſetzt dad Bild als fein Product, es entwirft daſſelbe
*) Ebendaſelbſt. . 8. VILB. 6. 871.
*) Ehenbajelbft, &. 3. VIL. S. 370,
552
mit abfeluter Zreiheit; das vollkommen beſtimmte Bilb iſt ein
inneres Object, und die Handlung des Beflimmend (daB im freien
Bilden begriffene Ich) daher innere Anfchauung. Aber das
Bild wird beſtimmt durch feine Merkmale, jedes biefer Merk:
male foll die Eigenfchaft eined wirklichen Dinges ausbrüden, alfo
iR das Ich genöthigt, in feinem Bilden zugleich auf jene Eigen-
ſchaften zu reflectiren; das Bild will nicht bloß aus dem Ich,
fondern zugleich durch etwa3 außer dem Ich erklärt fein. Auf
diefes Etwas außer ihm muß daher dad Ich in feiner bildenden
Thatigkeit gerichtet fein. Diefe nach außen gerichtete Betrach-
tung ift die äußere, mit der inneren nothiwenbig verknüpfte An-
ſchauung. Wie find beide verfnäpft*)?
5. Subfantialität und Wirkſamkeit des Nicht-Ich.
Das Ic) bezieht das Bild in ſich auf etwas außer fih. Es
fest die Merkmale des Bildes (und damit bad Bild felbft) als
Eigenfchaften, denen etwas außer bem Ich zu Grunde liegt; es
fest alfo dad Nicht: Ich ald Subſtrat ber in dem Bilde ausge—
drüdten Eigenfchaften, ober dad Nicht: Ich gilt dem Ich ald das
Subſtrat diefer in dem Bilde auögebrückten Eigenjchaften; die
Merkmale des Bildes gelten als Eigenfchaften des Richt: Ich,
Nun ift das Bild Product der freien Thätigkeit des Ich,
Jedes Product ber Freiheit hat, wie bie freie Handlung felbft,
den Charakter der Zufälligkeit. Diefen Charakter haben daher
(für das Ich) das Bild und deſſen Merkmale. Sie gelten daher
als bie zufälligen Eigenfchaften, deren vorausgeſetztes Subftrat
das Nicht: Ich ift. Aber dad Nicht: Ich felbft erfcheint dem Ich
nicht ald Product feiner freien Thätigkeit, alfo nicht als zufällig,
fondern ald das dem freien Handeln (dem Zufälligen) Entgegen
9 Gbenbafelöft. 9. 3.- VIL S. 882—88,
58
gefetste d. h. als etwas Nothwendiges. So unterfcheibet dad Ich
in dem Nicht: Ic Rothwendiges und Zufälliges, es unterfcheibet
ein nothwendiges und zufällige Nicht: Ich, die beide verbunden
fein müſſen. Nothwendig if das Nicht-⸗ Ich als Subftrat oder
Träger der Eigenfchaften, zufällig find diefe ſelbſt. Die Ber
bindung beider giebt den Begriff der Subſtanz mit ihren Acci⸗
denzen (bie Kategorie der Subflantialität) *).
Was aber von dem Nicht: Ich überhaupt gilt, wird auch
von ihm gelten müffen, fofern es die Subſtanz ausmacht, der
die Eigenfchaften ald Accivengen zulommen: es erfcheint bem Ich
nicht ald fein Product, ſondern ald ein fremdes; feine Hand⸗
lungsweiſe hat für dad Ich nicht ben Charakter ber freien oder
zufälligen, ſondern der nothwendigen Wirkſamkeit: es gilt daher
als dad von dem Ich unabhängige wirkliche Ding, als die aus
Nothwendigkeit wirkende Urfache (Kategorie der Caufalität) **).
6. Die Einbildungstraft ala Urfprung der Kategorien.
Fichte im Verhältniß zu Hume und Kant.
Was von dem Nicht: Ich gilt, gilt auch von feiner Eu
ſtantialitat und Gaufalität. Das Nicht- Ich ift dad bewußtlofe
Product der Einbildungskraft; alfo iſt es die Einbildungskraft,
durch welche die Kategorie der Cauſalität erzeugt wird. Erſt
aus der Einbildungskraft kommt dieſe Kategorie in den Verfland,
Die fogenannte Kategorie ber Wirkſamkeit zeigt ſich demnach
hier als lediglich in der Einbildungskraft entfprungen : und fo ift
8, es kann nichts in den Verfiand kommen außer
duch die Einbildungskraft**).” Der Verſtand macht die
*) Ghenbafelöft. $. 3. VII. ©. 385.
*) Chenbafelbft. $. 3. VII. 6, 386,
**) Ghenbajelöft. 9.3. VIL ©. 386. Rr.2.
554
Kategorie nicht, er macht fie nur gefegmäßig. Hume hat richtig
gefehen, daß die Kategorie der Gaufalität in der Einbildungskraft
ihren Urfprung hatz er hat mit Unrecht gerade deöhalb ihre ob-
jective Gültigkeit beftritten. Aehnlich Maimon. Kant nimmt die
Kategorien ald urfprüngliche Denkformen; aber um ihre objertive
Anwendbarkeit zu ermöglichen, läßt er in feinem transſcendenta⸗
len Schematismus die Einbildungskraft fie bearbeiten; er hat bie
Sefegmäßigkeit der Kategorien richtig beurtheilt, nicht deren Ur:
fprung. „In der Wiſſenſchaftslehre entſtehen fie mit den Ob⸗
jecten zugleich und, um biefelben erft möglich zu machen, auf
dem Boden ber Einbildungskraft *).” Hume und Maimon fa:
gen: „weil bie Gaufalität in der Einbildungskraft entfpringt, da⸗
zum ift fie auf die Obiecte felbft nicht anwendbar, darum ift
biefe Anwendung eine Taͤuſchung.“ Wielmehr ift hier die Täu⸗
ſchung ber Skeptiker. Hätten fie nur den Urfprung bed Objects
ebenfo richtig beurtheilt ald den der Kategorien! Die Wiffen-
ſchaftslehre Löft das Räthfel. Weil die Caufalität aus ber Ein-
bildungskraft entfpringt, darum und nur darum ift fie anwend-
bar auf die Objerte. Denn biefe haben mit den Kategorien ge-
nau benfelben Urfprung. Verkennt man biefen Urfprung ber
Objecte, läßt man biefe oder etwas in ihnen ohne Zuthun des Ich
gegeben fein, wie will man bie Erkenntniß erflären? Wie will
man den Skepticismus widerlegen? Hier iſt die Schwäche des
bißherigen Kriticiömus. „So geht der Skepticismus und ber
Kriticismus, jeder feinen einförmigen Weg fort, und beide blei⸗
ben fich felbft immer getreu. Man kann nur fehr uneigentlich
fagen, daß der Kritifer den Skeptiker widerlege. Er giebt viel-
mehr ihm zu, was er fordert, und meiflend noch mehr, als er
fordert; und befchränkt lediglich die Anfprüche, die derfelbe mei-
y öobendaſelbſt. 9.3. VIL 6, 387. Rr. 3.
655
ſtens gerabe ‚wie ber Dogmatiker auf eine Erfenntniß des Dinges
an füh macht, indem er zeigt, daß dieſe Anfprüce ungegrün⸗
det find*).” -
7. Subfantialität und Wirkſamkeit des Id,
Bir haben dad Bild im Ich und die Merkmale bed. Bildes
gefekt als.Eigenfchaften bed Dinge außer dem Ich. Diefe Eigens
fchaften find Aeußerungen des Dinge, dieſe Aeußerungen find
beftimmt durch die nothwenbige Wirkungdweife des Dinges: fo
muß dad Ich aus dem Gefichtöpunkte der Einbildung in der Ans
ſchauung bie Sache nothwendig betrachten.
Was von den Merkmalen des Bildes gilt, wird auch von
dem Bilde ſelbſt gelten müffen. Sind die Merkmale Wirkungen
des Dinges, fo ift daB Bild im Ich ein Product des Dinges, fo
ift dad Ich von außen beftimmt und hört damit auf zu fein, was
es iſt: das Ich felbft iſt aufgehoben, mit ihm die Einbifdung,
nit dieſer dad Bild.
Diefe Aufhebung ift unmöglich, Das Bild bleibt im Ich;
außer ihm bleibt das Ding in feiner nothwendigen Erxiſtenz und
Birkfamkeit. Das Bild ald ſolches iſt bloß Product des Ich,
es iſt ald dieſes Product etwas Bufäliges, eb ift für das Ich
ſelbſt zufällig und hat feinen Beſtand und Grund nur im Ich.
Aber das Ich felbft iſt nicht zufällig. Alſo unterfcheibet fich dad
Ic) von feinem Bilde ald das nothwendige Ich (Ich an fich) von
feiner zufälligen Beftimmung. Ich und Bild im Ich verhalten
fih, wie das Ding an ſich zu feinen Eigenfchaften: fie verhal⸗
ten fich wie Nothwenbiges und Zufälliges, wie Subflanz und Ac-
cidens, Urfache und Wirkung ’*).
*) Ebendaſelbſt. $. 3. VII. ©. 388—89. Ar. 5.
**) Ghendafelbit. $. 3. VII. ©.389—90.
Bir haben mithin unter dem Geſichtspunkte der Einbildung
daſſelbe Verhaͤltniß fowohl im Ich ald im Richt: Ich. Wir ha-
" ben das Ich für ſich und ihm gegenüber ein Nicht: Ich (Ding);
jenes ift Ich an ſich, dieſes ift Ding an fi), beide find von
einander völlig unabhängig und in ihrer Unabhängigkeit wirkfam.
Dem handelnden Ich fleht dad handelnde Nicht: Ich entgegen;
was in dem einen gefchieht, ift ganz unabhängig von dem andern
und barum für bad andere zufällig.
Das Nicht: Ich Handelt für fi; was es hervorbringt, if
nur fein Product, Ebenſo handelt dad Ich für fich; was es her
vorbringt, ift ebenfalld nur fein Product. Das Product des
Nicht: Ich iſt feine Aeußerung, feine Erfheinung; das Product
des Ich ift feine Vorſtellung, fein Bild. Daß biefes Bild die
Eigenfchaften des Dinges ausdrückt, iſt für dad Ich ebenfo zu-
fallig als für das Nicht-Ich ).
Wenn aber beide nothwendig wirkſam ſind und keines von
beiden die Wirkſamkeit des anderen aufhebt, ſo wirken ſie, wie
unabhängig fie auch von einander fein mögen, doch zuſammen,
alfo vereinigt. Ihre Bereinigung aber ift, da feines vom anbern
abhängt, rein zufälig: fie ift „Das ohngefähre Zufammentreffen
der Wirkſamkeit des Ich und des Nicht: Ich in einem Dritten,
dad weiter gar nichts ift noch fein kann, als bad worin fie zu⸗
fammentreffen**).” Was ift dieſes Dritte?
. W.
Raum und Zeit. A. Der Raum.
4. Die Stellung ber Frage.
Das Ich ſetzt dad Bild ald fein Product und zugleich als
*) Ebendaſelbſt. 8.3. VIL S. 390,
*) Ebendaſelbſt. 9.3. VIL 6. 391.
687.
entfprechenb dem ‚wirklichen Dinge außer ihm, welches betrachtet
wird ald Product des Nicht: Ich. Nehmen wir den Standpunkt
ein, in welchem das Ich fich gegenwärtig befindet (dev Anfchaus
ung und Einbildung), fo gilt bier die Webereinftimmung zwifchen
Bild und Ding, zwifchen Ich und Nicht Ic; umter ber Boraud-
feßung, daß beide von einander völlig unabhängig find und wire
ten: die Uebereinftimmung gilt demnach als ein zufälliges Zu⸗
ſammentreffen und muß als folches von dem anfchanenden Ich
vorgeftellt werben. Ohne diefe Vorſtellungsweiſe ift für das Ich
feine Uebereinſtimmung zwiſchen Bild und Ding, alfo auch Feine
Reflerion auf die Anſchauung möglich, benn in diefer Reflerion
wird das Bild geſetzt als Nachbild des wirklichen Dinges; iſt
aber bie Reflerion auf die Anſchauung nicht möglich, fo giebt es
aud) feine Ankhauung für dad Ich, Feine Anſchauung ald Ich,
alfo überhaupt Feine Anſchauung. Kurz gefagt: ohne jene Vor⸗
flellungsweife, in welcher das zufällige Zuſammentreffen zwiſchen
Ic und Nicht: Ich gefegt ift, giebt es keine Anſchauung, oder
jene Vorſtellungsweiſe ift die nothwendige und ausfchließende Ber
dingung aller Anfhauung. Die Bedingungen, unter benen als
lein ein folches Zufammentreffen zwiſchen Ich und Nicht: Ich (für
das Ich) ftattfinden Fann, find zugleich die Bedingungen, unter
denen allein Anſchauung möglich ift. Welches find biefe Be-
dingungen?
2. Die zu unterfheidenden Anfhauungen.
Das Ich foll fein Zufammentreffen mit dem Nicht Ich ald
ein zufälliges vorftellen, alfo muß es vor allem ein Richt Ich
überhaupt (etwas außer fich) vorftelen; bieß gefchieht vermöge
ber Anſchauung. Diefe Anfhauung muß als eine zufällige
gefegt fein, fie muß für dad Ich den Charakter der Zufalligkeit
haben. Nun ift das Zufällige als ſolches dem Nothwendigen ent⸗
gegengefegt, und fein Charakter iſt nur in biefer Entgegenfegung
einleuchtend. Soll daher eine Anſchauung als zufällige geſetzt
fein, fo muß fie von einer anderen unterfchieden werben können,
bie den Charakter der Nothwendigkeit hat, ober es muß der zu:
fälligen Anfchauung eine andere als nothwendige fih entgegen-
feßen laſſen. Es handelt ſich mithin um den Unterfchied der
Anſchauungen, um eine foldje Unterſcheidung, bie fid nicht auf
die eigenthämlichen Beichaffenheiten, auf bie inneren Beftimmuns
gen der Anfchauungen bezieht, fondern auf bie äußeren, d. h. auf
dad Verhältniß der Anfchauungen. Diefe geforderte Unterſchei⸗
dung if die Bedingung, umter welcher allein etwas als zufällige
Anfhauung im Ich geſetzt, dad zufällige Bufammentreffen zwi⸗
ſchen Ich und Richt: Ic) vorgeflellt werden, alfo überhaupt An-
ſchauung für das Ich ftattfinben kaun; fie ift die ausſchließende
Bedingung aller Anfhauung, die Bedingung, unter welcher et=
was ald Object nicht einer Anſchauung überhaupt, fondern einer
folden Anſchauung geſetzt wird, bie von einer andern unter-
ſchieden werden Tann”).
35. Die zu unterfheidenden Objecte (Kräfte).
Welches .alfo ift-die Bedingung ber auf ſolche Weiſe zu un⸗
terfcheidenden Anfchauungen? Nehmen wir die Objecte der An=
ſchauung, wie fie das Ich felbft nimmt, ald Probucte des Nichts
Ich, als Erfcheinungen und Aeußerungen freier von dem Ich
unabhängiger Kräfte. Die Aeußerung der einen Kraft ſoll fich
zu der einer andern, wie dad Zufällige zu dem Nothwendigen ver-
haften, jene ſoll durch biefe bebingt fein. Da aber bie Kräfte
frei und von einanber unabhängig wirken, fo kann es nicht bie
cxendaſelbſt. 9.4. I-IL. 6, 892—394,
559
Art, fondern nur die Sphäre der Wirkfamfeit fein, in welcher
die eine durch bie andere bebingt if. Jede Kräft hat ihr Gebiet,
ihre Wirkungsſphare, innerhalb deren die ihr eigenthlimliche Aeu⸗
Berung ftattfindet. Die Wirkungsfphäre der einen Kraft fei zus
fällig, die der andern nothwendig, jene fei bebingt durch diefe,
Bie ift das möglich?
Segen wir die Wirkungsfphäre einer Kraft y als nothwen⸗
dig, fo heißt das: in diefer Sphäre Tann Teine andere Kraft
wirffam fein ald y, die Wirkfamkeit jeder anderen Kraft iſt von
diefer Sphäre auögefchloffen; bie Aeußerung einer anderen Kraft
x ift alfo infofeen durch die Kraft y bedingt, als fie in der Wir
fungöfphäre dieſer Kraft nicht flattfinden kann, fondern nur in
einer davon auögefchloffenen Sphäre,
4. Die gemeinfhaftlide (Praftlofe) Sphäre.
Wenn aber eine Kraft die Wirkungsfphäre einer andern von
ſich auöfchließt und dadurch bedingt, fo müffen die auöfchließende
und auögefchloffene Sphäre zufammentreffen, fie fordern daher
ein gemeinfchaftliches Drittes. Die Kräfte müffen auf dieſes ge:
meinfchaftliche Dritte bezogen werben, und ba fie in ihrer Wirk⸗
famteit frei find, fo darf jenes Dritte nichts fein, wodurch die
Wirkſamkeit der Kräfte geftört oder eingeſchränkt werben könnte:
& darf alfo felbft Feine Kraft haben, nicht felbft wirkfam fein,
und da alle Realität Kraft und Wirkſamkeit haben muß, wird je:
ne Dritte Feine Realität fein bürfen*).
5. Das Continuum.
Die Kraftfphären treffen zufammen, indem bie eine von ber
andern nothwendig auögefchloffen wird. Im ber Sphäre ber
Kraft y_ darf feine andere Kraft wirken, diefe Sphäre iſt aus⸗
*) Ebendaſelbſt. $. 4. III. 6, 285—97,
560
ſchließend mit der Kraft y verbunden, fie ift die Sphäre bloß
biefer Kraft. Die Kraft x darf in diefer Sphäre nur deshalb
nicht wirkfam fein, weil hier die Kraft y wirft; wo alfo y zu
wirken aufhört, da ift der Grund, welcher die Wirkſamkeit der
Kraft x auöfchließt, nicht mehr vorhanden, da tritt diefe Wirk-
ſamkeit ein: die Kraft x beginnt daher in eben dem Punkte zu
wirten, wo y zu wirken aufhört. Die Wirkungsſphären beider
Kräfte, die ſich verhalten als zufällige und nothwendige, audge-
ſchloſſene und auöfchließende, hängen fo zufammen, daß fie durch
nichts Leeres getrennt find; mithin iſt jenes dritte Gemeinfchaft-
liche, jene gemeinfchaftliche Sphäre ohne Kraft, in der die wirt
ſamen Sphären zufammentreffen, kein Interruptum, fondern
ein Continuum*).
6. Der Raum ald Product der Einbildung.
Diefe gemeinfchaftliche, continuirliche, durch nicht unter
brochene, durch nichts begrenzte Sphäre ift der Raum. Ohne
Raum laffen fich die Wirkungsfphären der Kräfte nicht. unter:
beiden, alfo auch nicht die Zufälligkeit und Nothwendigkeit ihrer
Aeußerungen, alfo auch nicht die der Objecte, auch nicht die der
Anfhauungen. Mithin Tann ohne Raum Feine Anfchauung im
Ich den Charakter der Zufälligkeit haben; ohne Raum ift daher
dad zufällige Zufammentreffen zwifchen Ich und Nicht-Ich un:
vorftelbar, alfo die Anfchauung felbft unmöglich. Der Raum
iſt demnach) die Bedingung aller Anſchauung der wirklichen Dinge
(aller äußeren Anfchauung) **).
Der Grund ber Anſchauung iſt das Ich als Einbildungs-
kraft; der Raum ift deren Product. Da aber dad Ich in feine
*) Ebendaſelbſt. $. 4. III. ©. 397—99,
**) Ebendaſelbſt. $. 4. IV. ©. 400,
561
Anfhauung verloren ift oder auf feine eigene anfchauenbe Thatig⸗
keit nicht veflectirt, fo Fann ihm der Raum nicht als fein Pro-
duct, fondern muß ihm ald gegeben erfcheinen: es kann bie
Raumberhältniffe nicht aus fich ableiten, fondern muß fie den
Dingen felbft zufchreiben *).
7. Der leere Raum.
Endloſe Theilbarteit. Wechſeiſeitige Ausfchfiekung.)
Aber das Ich ift nicht bloß Anfchauung, fondern zugleich
Keflerion auf die Anfchauung. Im diefer Reflerion iſt es frei;
& kann auf dieſes Object ebenfogut ald auf jenes reflectiven; es
iR zufäßig, auf welches Object die Reflerion ſich richtet. Jedes
Object ift in dieſer Rückſicht für das Ich zufällig; Fein Object
if für das Ich fo nothwendig mit einem geroiffen Raume verbun-
den, daß nicht die Einbilbung ein anderes Object ebenfo gut in
diefen Raum ſetzen könnte. Daher kann das Ich jeden beftimmten
Raum, weil ihm berfelbe nur zufällig mit dem Objecte verbunden
erfheint, von biefem abfondern; es Tann mithin den Raum von
allen Objecten abfonbern, d. h. den Ieeren Raum vorftellen **).
Das Ic kann nur im Raum und durch denfelben Ans
fhauungen und Objecte unterfcheiden, e8 Tann den Raum auch
ohne alle Objecte vorftellen; was jest im leeren Raum unferfchie:
den wird, find Räume, in denen wieber nur Räume zu unter
fheiden find: fo erſcheint der Raum als theilbar ind Endlofe.
Da nun dad Ich jeden Raum als eine für dad Object zu⸗
fällige Wirkungsſphäre betrachtet, fo erfcheint unter biefem Ge:
fihtspunkte kein Raum in Rülckſicht auf fein Object als bloß
nothwendig oder ausfchliegend und ebenfo wenig ald bloß zufällig
cder außgefchloffen, fondern jeder erfcpeint in Rüdfiht auf fein
*) Ebendaſelbſt. 8.4. IL. S. 394—95.
**) Chenbafelbit. 8. 4. IV. 1. S. 400,
Bifäer, Geidihte der Phlefaphle. V. 36
562
Object als ausſchließend und ausgefchloffen zugleich, d. h. ber
Raum felbft erſcheint ald eine gemeinfchaftliche, ausgedehnte, ſte⸗
tige, unendlich theilbare Sphäre, in ber die Dinge ſich wech
felfeitig. ausfchliegen ).
B. Die Zeit,
1. Der Vereinigungspunft zwifhen Id und Nicht-Ich.
Die Bedingung ift ausgemacht, unter ber allein eine Ans
ſchauung im Ich als zufällig gefegt werden kann. Gegen wir
eine folche Anſchauung. Sie ift ein Vereinigungspunft (Punkt
de3 Zufammentreffens) zwiſchen Ich und Nicht: Ich. Es fei der
Punkt d, er ift (ald geſetzt durch dad Ich) zufällig, aber fofern
er gefegt it, Tann Feine andere Anfchauung ald die gegebene in
ihm flattfinden; er ift mithin in Rüdficht auf alle andern An:
ſchauungen (Objecte) ausfchließend oder entgegengefeht**).
Es muß demnach jenem erften Object ein anderes entgegen-
gelegt werden, bad einen andern, von d auögefchloffenen und
diefem entgegengefeßten Punkt fordert: es fei der Punkt c, wie
derum ein Bereinigungspunkt zwifchen Ich und Nicht: Ich. Der
Punkt d ift zufällig (abhängig von ber Freiheit des Ich), der
Punkt c ift in Rüdfiht auf d nicht zufällig, ex iſt dem Punkte d
entgegengefekt, alfo das Gegentheil des Zufälligen d. h. noth=
wendig. Der Punkt d ift zufälig in Rüdficht auf den Punkt c
d.h. er ift von ihm abhängig; der Punkt c iſt nothwendig in
Rüdficht auf den Punkt d, d. h. er iſt von diefem nicht abhängig:
ber Vereinigungspunkt d. ift bedingt durch ben Bereinigungs- |
punkt c, nicht umgefehrt***).
*) Ebendaſelbſt. 8. 4. IV. ©. 400. V. ©. 402—408.
**) Ghenbafelbft. $. 4. VIII. 8. ©. 407.
***) Ebendaſelbſt. $. 4, VIIL 8—9. ©. 407—408,
563
2. Die Reihe der Punkte. Zeitreihe.
Nun ift der Punkt e ebenfalls gefegt durch das Ich, er iſt
in diefer Rüdficht zufällig; zugleich iſt er ebenfalls ausſchließend
und entgegengefegt, alfo fordert er einen neuen Vereinigungs⸗
punkt b, der fich zu c verhält, wie c felbft zu d. Ebenfo wird
der Vereinigungspunft b einen neuen Vereinigungspunft a for
dern, der fich zu b verhält, wie bzuc, wieczud; dift be
dingt durch c, wie dieſes durch b, wie dieſes durch a; d ift alfo
bedingt und abhängig von c, b, a; c von b und a; bvona;
nit umgelehrt a von b, c, d, nicht b von c und d, nicht c
von d*).
Die Vereinigung von Ich und Nicht: Ich gefchieht demnach
in einer Reihe von Punkten d, c, b, a .... Das Verhaltniß
diefer Punkte ift genau beſtimmt: jeder ift von einem andern be
fimmten Punkte abhängig, der von ihm nicht abhängt: fie bil:
den alfo eine nothwenbige Folge d. h. eine Zeitreihe*).
Im Raum haben wir gegenfeitige Abhängigkeit (wechfelfei-
fige Ausſchließung), in ber Zeit einfeitige Abhängigkeit; dort bes
dingen a und b fich gegenfeitig, hier iſt b durch a bedingt, nicht
aber umgekehrt: im Raume find bie Dinge zugleich, in der
dit nacheinander,
Die Zeit ift alfo nur möglich als die Reihe der Vereini:
gungspunkte zwifchen Ich und Nicht Ich, fie ift nur möglich als
Anſchauung des Ich; daher giebt es abgefehen von biefer An:
ſchauung feine Zeit. Abgefehen von dieſer Anſchauung, find bie
Dinge nicht nacheinander, ſondern zugleich; dann müßte jedes
feinen Raum an fich haben, dann wäre der Raum eine Eigen:
*) Ehendafelbft. $.4. VIII. 10-11. 6, 408.
*#) Ebenbafeldft, 8.4. VIIL 12. ©. 408,
36*
564
ſchaft der Dinge an fich, ober die Dinge an fi müßten im
Raume fein, road unmöglid) ift*).
3. Gegenwart und Vergangenheit.
Nehmen wir in ber Beitreihe den Punkt, von dem Fein an-
derer abhängt, fo ift diefer Punkt die Gegenwart **); die 3
reihe, von welcher die Gegenwart abhängt, nennen wir bie Ver:
gangenheit. Da nun die Zeit nichts außer dem Ich ift, dad Ich
felbft aber nicht vergeht, fo giebt ed im eigentlichen Verftande
keine Vergangenheit. ine Vergangenheit ald wirklich ſetzen,
bieße eine Zeit fegen, die unabhängig vom Ich, alfo ein Ding an
fi wäre. „Die Frage: ift denn wirklich eine Zeit vergangen?
ift mit der: giebt ed denn ein Ding an fich oder nicht? völlig
gleichartig.” Vergangenheit ift die für und vergangene Zeit, das
ift die Zeit, die wir in der Gegenwart vorftellen oder denken,
das ift die Zeit, die wir als vergangen fegen ***).
4. Bergangenheit, Gegenwart, Bemwußtfein.
Freilich müfjen wir eine Zeit als vergangen fegen, weil wir
fonft keine ald gegenwärtig fegen fünnen. Die Vergangenheit ift
für und nothwendig, denn fie ift die Bedingung der Gegenwart
und diefe ift die Bedingung des Bewußtfeind. Ohne Vergan-
genheit eine Gegenwart, Fein Bewußtſein. Warum?
Das Bewußtfein ift nur möglich durch die Reflerion auf
unfere eigene freie Tätigkeit. Wir werden unferer Thatigkeit
als ber unfrigen nur im Gegenfag zu dem Object (Nicht: Ich)
inne. Ober was badfelbe heißt: unfere Thätigkeit wird für uns
*) Ebendaſelbſt. $.4. VIII. 14. S. 409,
**) Ebendaſelbſt. $. 4. VIII. 18, ©, 409,
*er) Ebendaſelbſt. 8. 4. VIIL 14.2. ©. 409,
565
erſt frei in der Reflerion auf die Anfchauung, in der Richtung
auf dad Object, das wir mit Freiheit vorftellen und nachbilden.
Wir Fönnen das Object mit Freiheit ergreifen, unfere nachbil⸗
dende Thätigfeit auf dieſes Object fo gut richten als auf ein an:
deres; wir haben die Reflerion auf die Anfchauung frei. Das
Object, auf welches wir reflectiren, ift deshalb für und zufällig.
Die freie Reflerion äußert ſich daher in der zufällig gefeßten
Anfhauung. Die zufällig gefeste Anfchauung ift Die Gegenwart.
Erſt in der fo geſetzten Anſchauung, in biefer freien Reflerion,
wird ‚und bie eigene Thätigfeit wirklich gegenwärtig: dieſe
Gegenwart ift dad Bewußtfein. Die Gegenwart ift harakterifirt
durch die zufällig gefegte Anfchauung, durch die Freiheit der Re⸗
flerion. Nun aber kann Feine Anfchauung ald zufällig geſetzt
werben, ohne zugleich als abhängig von einer anderen Anſchauung
gelegt zu fein, die in Rückſicht auf jene als deren nothwendige
Vorausfegung gilt, alfo in einem Zeitpunkt flattfinden muß,
welcher der Gegenwart vorhergeht, d. h. in einem vergangenen
Moment. .
Kein Beroußtfein ohne Freiheit und Identität. Die Frei:
heit der Reflerion ift nur möglich in ber Gegenwart. Aber die
Gegenwart felbft ift ein Moment, der nur möglich ift im Zus
fammenhange -mit einem frühen, der ihm vorauögeht. Die Ge:
genwart des Bewußtſeins ift daher nicht möglich ohne Vergan⸗
genheit. Oder wie ſich Fichte ausbrüdt: „es giebt gar keinen
erften Moment des Bewußtfeind, fondern nur einen z wei⸗
ten*)."
Die kantiſche Vernunftkritit läßt Naum und Zeit ald urs
fprüngliche Vernunftformen gegeben fein. Fichte zeigt, wie dad
Ich zu dieſen Formen kommt, wie fie zum Ich gehören und
*) Ebenbafelbft, 8.4. VIII. 14.b. ©. 410.
566
nothwendig aus demfelben folgen. Eben darin befteht „das Ei:
genthämliche der Wiſſenſchaftslehre“: fie beducirt, was die kan⸗
tifche Kritik vorausſetzt; fie Löft dad Problem, das Kant offen
gelaſſen und Reinhold wohl bemerkt, auch zu löfen bie Abficht
gehabt, aber nicht wirklich gelöft hatte,
V.
Das Ich als denkende Thaätigkeit.
1. Der Verſtand.
Das Ich iſt Anſchauung und Einbildung, productive und
reproductive Einbildung. Nur vermöge der (reproductiven) Ein⸗
bildung wird die Anſchauung wirklich im Ich und für daſſelbe
gefegt; nur vermöge der Anfchauung wird die Empfindung für
dad Ich; nur vermöge der Empfindung ift dad Ich begrenzte,
in fich zurückkehrende Thätigkeit, d. h. findet ſich das Ich als fol-
ches. Oder daffelbe anders ausgedrückt: das Ich ift unbegrenzte
Thätigkeit, alfo ſoll auch die unbegrenzte Thätigkeit — Ich fein,
diefe -Aufgabe löft die Empfindung; das Ich ift Empfindung,
alfo ſoll auch die Empfindung — Ich fein, diefe Aufgabe Löft die
Anfchauung; dad Ich ift Anfhauung, alfo fol auch die An-
fhauung = Ic) fein, diefe Aufgabe löſt die Einbildung.
‚Hier fahren wir in derfelben Weife fort: die Einbilbung foll
= Ich fein. Sie ift als ſolche die in der Anfchauung gegenwär⸗
tige, auf die Objecte ber Anfchauung reflectivende, dieſelbe nach⸗
bildende Thätigkeit. Wie die Anfhauung, feht auch die Einbil-
dung fich ind Unbegrenzte fort. Es fommt darum vermöge der
bloßen Einbildung zu keinem beftimmten Product. Ein folches
Product zu fegen, muß bie Thätigkeit (Anſchauung und Einbil-
dung) begrenzt ober ihr Product firirt werden. Die Begrenzung
geſchieht durch bie MReflerion; biefe Meflerion ift durch das Ich
|
667
ſelbſt gefordert, denn eine Thätigkeit, auf welche deren Subject
nicht veflectiet, iſt fein Ich. Soll daher die Einbildung = Ich
fein, fo muß das Ich auf feine bildende Thätigkeit reflectiren,
diefelbe begrenzen, beren Probuct firiren.
Diefed Firiren ift ein Feſtſetzen und Feſthalten. Das Ich
macht, daß die Probucte der Einbildung feftftehen, es bringt fie
zum Stehen und macht fie dadurch haltbar und behaltbar : biefe
Thatigkeit des Fixirens, dieſes Vermögen des Feſthaltens ift der
Verſtand. Das im Verſtande befeſtigte Bild iſt die wirkliche
Vorſtellung (Begriff) des Dinges, das gedachte Object).
2. Die Urtheilskraft.
Das Ich iſt ſich dieſer Vorſtellungen als ber ſeinigen be:
wußt; fie find die Producte feiner Thaͤtigkeit, die Objecte feiner
freien Reflerion. Was das Ich thut, Darauf muß es reflectiven.
Als Reflerion auf die Einbildung und deren Producte if ed Ver⸗
and, Was iſt es ald Neflerion auf den Verfland und bie im
Verſtande enthaltenen Objecte? Es hat feine Reflerion frei, alfo
kann es auf das beftimmte Object fowohl veflectiven als nicht ve
fletiren; es kann ſowohl auf A ald Nicht- A refletiven, es
ſchwebt zwifchen Auffaffen und Nichtauffaffen umd ift in biefer
Freiheit zunächft völlig unbeftimmte Tätigkeit. Es Tann daher
zur wirklichen Thatigkeit auch nur durch fich felbft beftimmt wer⸗
den. Die Freiheit des Reflectirens und Nichtreflectirens wird auf
beflimmte Objecte bezogen; auf ein beflimmtes Object nicht res
flectiren, beißt davon abflrahiren: fo verhält ſich das Ich in
Rüdficht der Vorfiellungen (Berftandesobjecte) veflectirend und
*) Grundlage ber gef. Wiſſenſchaſtslehte. Debuctien der Vorſtel⸗
lung. IIL 6.231—234, VII. 241,
568
abftrabirend, Merkmale verbinbenb und trennend, d. h. urt hei⸗
lend. Verſtand und Urtheilskraft bedingen fich gegenfeitig*).
3. Die Vernunft.
Als Urtheilökraft hat dad Ich die Freiheit, feine Reflerion
auf ein beftimmted Object zu richten oder Davon abzuſondern. Es
ann von dem beflimmten Object abftrahiren, alfo kann ed auch
von jedem beflimmten Object abftrahiren, mithin auch von alz
len: fein Abftractionsvermögen ift abfolut. Das Ich ift Urtheilö-
kraft. Was es ift, muß es für fich fein: es reflectirt auf feine
Urtheilökraft. Indem ed auf biefelbe veflectirt, richtet es fi auf
kein beſtimmtes Object, abftrahirt ed von allen, wird es ſich alfo
feines abfoluten Abftractionsvermögens bewußt.
Dadurch wird es fich bewußt, daß es fich von allen Objec⸗
ten abfondern kann, daß alfo Fein Object zu feinem Wefen gehört
als etwas davon Unabtrennbared; es wird ſich mithin feines ur⸗
fpränglichen und reinen Weſens bewußt: dad Ich in dieſer feiner
unbebingten und reinen Subjectivität if die Vernunft, das
Bervußtfein derfelben ift dad Selbftbewußtfein. Das abfolute
Abftractiondvermögen ift daher die Quelle, aus welcher das
Selbftbewußtfein entfpringt. Je mächtiger dieſes Vermögen ift,
je weiter es um fich greift und das Ich von immer mehr Objec-
ten frei macht, um fo mehr nähert fich bad empirifche Selbſtbe⸗
wußtfein dem reinen. Man kann diefe mit ber Macht des Ab⸗
firactiondvermögend zunehmende Freiheit bes Selbſtbewußtſeins
verfolgen „vom Kinde, dad zum erftenmale feine Wiege verläßt,
bis zum popularen Philofophen, der noch materielle Ideen- Bil:
der annimmt und nad) dem Sige ber Seele fragt” und von bie:
fem hinauf bis zur Wiſſenſchaftslehre **).
*) Ebendaſelbſt. VIII. ©. 241—43,
**) Ebenbajelbft, IX. ©. 243—45, .
569
VI.
Summe und Schluß der theoretiſchen
Wiſſenſchaftslehre.
Iſt nun das Ich feiner völligen Freiheit von den Objecten
fi) bewußt, fo ift ihm auch Mar, daß es durch nichts beftimmt
werden kann als durch fich felbft, daß ed nur mit fich felbft in
Wechſelwirkung fleht; daß alfo, wenn es durch ein Object be:
ſtimmt wird, es ſich dazu felbft beſtimmt oder „fich felbft geſetzt
hat als beftimmt durch das Nicht-Ich“. Dieß aber war der
Grundſatz der theoretifchen Wiſſenſchaftslehre. Diefer Grundſatz
iſt jeßt für das Ich geworben: das Ich ift nicht bloß theoretifch,
fondern weiß und erkennt fich ald ben Grund feines theoretifchen
Verhaltend. Damit hat die theoretifche MWiffenfchaftölehre den
ihr vorgegeichneten Lauf befchloffen und ihre Aufgabe gelöft.
Der Gang war einfach und naturgemäß. Das Ich mußte
thätig fein, es mußte auf feine Thätigkeit reflectiren und da⸗
durch eine neue Thatigkeit hervorbringen, auf bie es wieder re:
flectiren mußte. Jede diefer Reflerionen war eine Erhebung.
Es veflectirt feine urfprüngliche Thätigkeit und findet ſich felbft
als begrenzt; es veflectirt auf feine Empfindung und erhebt fich
zur Anſchauung, es veflectirt auf feine Anfchauung und bildet,
was es anfchaut (reproductive Einbildung); es veflectirt auf feine
Einbildung und verfteht, was es bildet (Verſtand); es reflectirt
auf ſeine Vorſtellungen und urtheilt, was es vorſtellt; endlich
es reſlectirt auf fein Urtheilsvermögen und erfaßt ſich als die
Nacht, von allen Objecten abſtrahiren zu können: als reine Sub⸗
jettivitat, als das Ich, dad nur durch ſich ſelbſt beſtimmt wird.
Siebentes Kapitel.
Grundlegung der praktiſchen Wiſſenſchaftslehre.
Das praktifhe Grundvermögen. Verhältniß des
theoretifchen und praktifchen Ic.
L
Das Streben.
1. Das neue Problem. Die Begründung bes
tHeoretifhen Id. |
Die theoretifche Wiffenfchaftslehre hat gezeigt, wie fich dad |
Ich als vorftellendes Weſen (Intelligenz) entwidelt und in not: |
wendigem Fortſchritte bis zu der Einſicht erhebt, welche ber
Grundſatz ber theoretifchen Wiffenfchaftölehre ausfpricht. Es er:
kennt fi) ald das unabhängige Ih, das nur mit ſich felbft in
Wechſelwirkung fteht und nur durch ſich felbft beftimmt wird.
Wenn ſich dieſes Ich noch zu einem Nicht Ich verhält, fo Fann
es ſich dazu nur beſtimmend verhalten: es Tann fich nur fegen
als beftimmend das Nicht: Ich. Hier ift der Uebergang zu dem
Grundſatz der praftifchen Wiffenfchaftölehre. So wie die theore:
tifche Wiſſenſchaftslehre ihre Aufgabe gelöft hat, eröffnet ſich die
der praftifchen *).
*) Grundlage der gef. Wiſſenſchaſtslehte. III Theil. Grundl. ber
Wiſſenſchaſt des Praltiſchen. $. 5. II Lehrſat. S. 246247.
571
Nun aber ift in der theoretifchen Wiſſenſchaftslehre felbft ein
Problem zurüdgeblieben, das in ihrem Gebiete nicht aufgelöft
werden Eonnte, und deffen Löſung wir von der tiefer gehenden
Einſicht der praktiſchen Wiffenfchaftslehre erwarten. Dad theo-
retifche Ich namlich beruht in feinem ganzen Umfange auf einer
Voraudfegung, die als ſolche niemals Gegenftand für daB theos
vetifche Ich werden, alfo niemals in deſſen Bewußtfein eintreten
kann. Iened abfolute Abftractionsvermögen, welches dem Ich
feine Unabhängigkeit von allen Objecten Har macht, ift bedingt
durch Die Reflerion auf die Urtheilökraft, welche felbft durch den
Verſtand bedingt ift, wie diefer durch bie Einbildung und An⸗
ſchauung, wie dieſe durch die Empfindung, welche letztere eben
darin beſteht, daß ſich das Ich begrenzt findet. Für dad theore-
tifche Ich ift diefe Grenze gegeben. Es ift für das theoretifche
Ich volfommen unmöglich, diejenige Thätigfeit, welche Ans
ſchauung und Empfindung erzeugt, ſich gegenftänblich zu machen
oder in fein Bewußtſein zu erheben; es ift darum unmöglich, weil
dem theoretifchen Ich dad Bewußtſein der eigenen Thätigkeit erft
entfteht in der Refleriom auf die davon unterfchiebene und ihr ent⸗
gegengefegte Thätigkeit des Objects oder des (angefchauten) Nicht
Ih. Für das theoretifche Ich iſt feine Begrenzung eine ur⸗
ſprüngliche (nicht Durch eigene Thätigkeit erzeugte) Thatfache, eine
fefte, umauflösliche, undurchdringliche Worausfegung, eine in
ihm durch das Nicht: Ich geſetzte Schranke,
2. Der Anfof.
Sehen wir dad Ich unter die Bedingung der Schranke,
laſſen wir ihm ein begrenzendes Nicht Ich entgegengefekt fein,
fo folgt von hier aus alles mit der Nothwendigkeit, welche die
theoretifche Wiſſenſchaftslehre dargethan hat: fo ift dad Ich noth⸗
672
wendig Intelligenz, fo folgt aus den Geſetzen der Sutelligenz
nothwendig die Art und Weile, wie dad Rict:Ich aufgefaft und
» vorgefellt wird. * Alle Beſtimmungen des Richt: Ich, ſoſern es
Dbject des Ich ift, find durch die Intelligenz gegeben, aber das
Richt: Ich ſelbſt iſt (für die Intelligenz) nicht durch diefelbe ge:
geben. Was aber ift das Nicht⸗Ich nad) Abzug aller diefer Be
ſtimmungen, die ſich aus ber Intelligenz erflären? Es if nur
etwas das Ich Begrenzendes ober, genauer gefagt, etwas, wo⸗
durch das Ic, genöthigt wird, ſich zu begrenzen und feine Thä-
tigkeit zu hemmen: es ift die Bedingung, unter weldyer jene
Einfehränkung flattfindet. Meine Thätigkeit wird gehemmt, in
dem fie einem Anftoß begegnet, ber fie zurüdtreibt. Das Richt:
Ich ift diefer „Anfloß”, nichts anderes. Laſſet das Ich in ſei⸗
ner Thatigkeit einem Anfloß begegnen, und es wird nothwendig
Intelligenz mit allem, was baraus folgt; es wird jenes theore
tiſche Ich, deſſen Entwicllung und Umfang die theoretifche Wiſ⸗
ſenſchaftslehre ausgemeſſen hat. Aber woher diefer Anſtoß? Er
iſt für das theoretifche Ich unerklärlih. Darum ift die Frage:
woher der Anftoß? für das theoretifche Ich unauflöslih. Und
doch ift fie nothwendig, denn fonft bleibt das theoretifche Ich ſelbſt
feiner ganzen Vorausſetzung nach unbegreiflih*).
3. Deduction bed Anſtoßes.
Hier alfo ift dad nächfte aufzulöfende Problem: die Deduc⸗
tion jenes Anſtoßes. Er ift aus dem theoretifchen Ich nicht ab-
zuleiten; er wird alfo (mern überhaupt) nur aus dem praktifchen
Ich abgeleitet werden können. Sollte uns nun das praktiſche Ich
wirklich jenen Anftoß erflären, fo würde es in der That den Er
klarungsgrund des theoretifchen Ich ausmachen, und dann wäre
*) Gbenbafelbft, IIE Zeil, 9. 5. J. S. 248 fiod.
673
bie praßtifche Bernunft, was fie unter bem Geſichtspunkt der Pris
tifchen Ppitofophie fein fol, der bewieſene Grund der theoretifchen.
Wir machen zuvörderſt die Aufgabe deutlich, indem wir fie
in die Formel der Wiffenfchaftslehre bringen. Das Ich ald Ins
teligenz ift von etwas außer fich abhängig; dad Ich ald ſolches
(dad abfolute Ich) ift von nichts außer fich abhängig: alfo ift
ein Widerftreit zwifchen dem abfoluten Ic und dem Ich als Ins
telligenz. Diefer Widerſpruch ift zu löſen.
4. Dad abfolute Jh und die Intelligenz.
Das Ich ald Intelligenz kann nicht aufgehoben werben, ſon⸗
dern nur die Bedingung, welche das Ich ald Intelligenz von et⸗
was Anderem abhängig macht. Die Intelligenz ift die alleinige
Urfache ihrer fo beftimmten Vorſtellungen; daß es aber überhaupt
Intelligenz und Vorftellungen giebt, ift bewirkt durch einen An-
ftoß, der von etwas außer dem Ich, von einem Nicht: Ich aus:
geht. In diefer Rücficht ift das Nicht» Ich die Urfache der In:
telligenz und der Vorftelungen überhaupt. Hier ift der Punkt,
der den Widerfpruc ausmacht, denn in diefer Bedeutung des
Nicht Ich liegt jene Abhängigkeit der Intelligenz, welche dem
abfoluten Ich wiberftreitet. Könnte nun dad abfolute Ich felbft
die Urfache des Nicht-Ich fein (fofern dieſes die Urfache der Vor:
ftelungen überhaupt ift), fo würde es dadurch mittelbar die Ur
fache der Intelligenz fein; das Ich ald Intelligenz wäre von
nichts abhängig als von dem Ich felbft, und damit wäre jener
Widerſtreit gelöft*).
5. Daß feßende und entgegenfegende Id.
Wie aber kann das abfolute Ich Urfache des Nicht⸗Ich fein?
Diefes ift dem Ich entgegengefeßt. Wenn dad Ich überhaupt ent»
*) Ebenbafelbft, IIL 9. 6. J. 6, 251,
574
gegenfeht, fo Bann bad Probuct dieſer feiner Thätigkeit nur
ein ihm Entgegengefegtes fein d. h. Nicht-Ich. Das entgegen:
ſetende Ich ift offenbar die Urſache des Nicht: Ih, mithin faßt
ſich die Frage in die Zormel: wie kann dad abfolute Ich entge-
genſetzen ?
Das Ich ſetzt ſich ſelbſt; darin beſteht feine Thatigkeit, fein
Weſen. Wenn es außer dieſer abſoluten Thätigkeit im Ich noch
eine andere giebt, ſo kann dieſe nur beſtehen im Entgegenſetzen
oder im Setzen des Nicht: Ich. Die Frage heißt alſo: giebt es
außer der abfoluten Thätigkeit des Ich noch eine andere? Jede
andere Thätigfeit muß eine der abfoluten entgegengefegte, alfo
eine Einfchräntung derfelben fein. Das Ich fchränkt fi ein —
es fest entgegen — es ſetzt ein Nicht: Ich*).
6. Reine und objective Thätigkeit.
Dad Ich muß daher zwei einander entgegengefehte Thätig-
keiten in ſich fegen, ed muß der Grund beider fein, um Urfache
des Nicht Ich fein zu können. Wie aber kann dad Ich eine
folche Einheit entgegengefegter Beftimmungen fein, ohne Durch
diefen Widerfpruch fi felbft aufzuheben?
Die eine der beiden Tätigkeiten ift ſetzend, bie andere ent⸗
gegenfegend; jene ift unendlich und unbefchränkt, diefe ift endlich
und beſchränkt. Die unendliche Thätigkeit bezieht ſich allein auf
dad Ich ſelbſt, fie iſt in fich zurficigehende, durch nichts gehemmte,
reine Thätigfeit, die endliche dagegen ift entgegengeſetzt, alfo iſt
auch ihr etwas entgegengefegt, fie hat einen Widerfland, der fie
einfchränft, einen Gegenſtand (im genauen Sinne bed Worts),
auf den fie fich bezieht, fie ift infofern objectiv. Die beiden ents
gegengefehten Xhätigkeiten verhalten ſich demnach ald unendliche
>) Ghenbafelift, IIL 9.5. L 6, 258.
575
und endliche, in fi zurücdgehende und von außen befchränkte,
reine und objective Thätigkeit. Die Frage heißt: wie
fönnen reine und objective Thätigkeit im Ich eine und biefelbe
fein *)?
7. Das unendlide Streben.
(Das abfolute und theoretiſche IA.)
Wenn e8 eine Thätigkeit giebt, im welcher unendliche und
endliche, reine und objective Thätigkeit wirklich eines find, fo
würde darin dad abfolute und intelligente Ich vereinigt und
der Widerſpruch beider gelöft fein. Die unendliche Thätigkeit iſt
unbefchränft, die endlicye ift beſchraͤnkt; fol die Thaͤtigkeit beides
zugleich fein, fo muß fle über die Schranke und zwar über jede
hinausgehen; fie wird gehemmt, aber ſtellt ſich aus jeder Hem⸗
mung wieder her, die Unendlichkeit ift nicht ihr Zuſtand, fon-
dern ihr Biel, d. h. fie firebt ind Unendliche, fie ift unendliches
Streben oder firebt unendlich zu fein”).
Sobald das abfolute Ic, gleichgefegt wird dem abfoluten
Streben, haben wir die Löfung der Aufgabe. Es giebt Fein
Streben ohne Hemmung, ohne Ueberwinbung eined Widerſtan⸗
des, ohne daß ihm etwas wiberftrebt: alfo fein Streben ohne
Widerſtreben, ohne Widerſtand, ohne Gegenftand, ohne Schranke.
Ohne Streben kein Object (kein Nicht Ich), ohme Object Fein
Ich als Intelligenz, Fein theoretifches Ich. Das abfolute Ich
macht das Streben nothwendig, dieſes den Widerſtand (Gegen:
fland), diefer den Anftoß und damit die Intelligenz. Daher gilt
der Sag: ohne abfolutes Ich Fein abſolutes Streben, ohne die ⸗
ſes kein Object, kein theoretifches Ich; kurzgeſagt: ohne abfolu=
*) Ebendaſelbſt. III. 8.5. IL ©. 254—257.
Ebendaſelbſt. TIL. $. 5. UI. S. 258—261, Bel, ©. 266,
576 |
|
166 34 kein theserfiihes. Se ih des ahininte Ich die Bebingung
ber Mögiisteit des tbesmetiihen. Ser in ber Bereinigungd-
yusıtt beider, um bem es fi handelt“). |
IL
Das praftiihe Id.
41. Dei Id als Grund dei Etrebeni. |
(Eentripetale und centrimmgaie Ribunmg.)
Wenn das Ic) ins Unendliche firebt und in biefem unenb-
lichen Streben fein Weſen beſteht, fo iſt der Anſtoß bebucirt, der
Die Bedingung bes theoretiſchen Ich ausmacht. Alſo haben wir
noch, damit Feine ice bleibe, aus dem Ich felbft dad Streben
zu deduciren. Wo ift im Ic der Grund des Strebend?
Das Streben fordert ein Widerfireben, alfo entgegengeſetzte
oder verſchiedene Thatigkeiten. Wo iſt in dem reinen ſich ſelbſt
gleichen Ich der Grund einer ſolchen Verſchiedenheit, eines ſol⸗
hen Zwieſpaltes? Was dem Ich widerſtrebt, iſt ihm fremdar⸗
tig; was im Ich iſt, kann nicht anders ſein als ihm gleichartig.
Wo iſt in dem reinen Ich etwas, das ihm zugleich fremdartig
und gleichartig ware? Die Thatigkeit eines anderen Weſens
kann es nicht ſein, denn das Ich iſt abſolut, es iſt — Alles.
Mithin kann es nur feine eigene Thatigkeit fein, und jenes Fremd⸗
artige kann fich daher nicht auf die Art ber Tätigkeit, fondern
nur auf deren Richtung beziehen **). °
Iene Verſchiedenheit in dem reinen Ich, welche das Stre
ben bebingt, kann nur eine Werfchiebenheit ober ein Gegenfas in
dem richtungen feiner Thatigkeit fein; hier aber giebt es keinen
“) Gbenbafelöft, III. 8,5. II. ©. 261— 262,
“) Gbenbafelbft, III. 9.5. IL. 6.271272,
577
anderen Gegenfa& als die Richtung nad) außen und die nad) in
nen. Wie folgt ein ſolcher Gegenſatz aus dem Ich felbft?
Das reine Ich ift reine Thatigkeit, in welcher nichts Ande-
res geſetzt wird als das Ich felbft; die Thätigkeit des Ich bezieht
ſich nur auf das Ich, fie ift unendliche, in ſich zurüdigehende
Tätigkeit: Fichte harakterifirt dieſe Thätigkeit durch den Aus⸗
druck „centripetal”. Wie aber kann dad Ich vermöge feiner
Thatigkeit in fich zurüdgehen, wenn es nicht aus fich heraus:
geht? Die centripetale Thätigkeit hat in fich felbft die Voraus⸗
ſetzung der centrifugalen. Sol die Thatigkeit des Ich die Rich
tung nach innen nehmen, fo muß fie die Richtung nach außen
haben, denn jene ift ja nur die Umwendung biefer: die Thätigfeit
des Ich könnte nicht centripetal fein, wenn fie nicht „centrifu⸗
galt" wäre”). R
Diefer Gegenſatz in den Richtungen feiner Thätigfeit folgt
einleuchtend aus dem Ich felbft, fo einleuchtend, daß wir dad
Ich in feinem Wefen aufheben würden, wenn wir eine jener bei-
den Richtungen feiner Thätigkeit verneinen wollten, Was dad
Ich iſt, iſt es für ſich. Es ift, was es thut. Es ift, was es
iſt, für ſich, indem es (nicht bloß thätig iſt, ſondern) auf feine
Thatigkeit reflectirt. Dieſe Reflexion iſt ſein Geſetz. Erſt durch
fie wird die Thätigkeit des Ih = Ih. Die Reflerion iſt nach
innen gerichtete Thatigkeit; fie giebt der Thätigkeit die Richtung
nad) innen, fie ift zurückgetriebene, begrenzte Thätigkeit. Die
Xhätigkeit, welche reflectirt wird ober auf welche die Reflerion
geſchieht, ift alfo nothwendig nach außen gerichtete, centrifugale,
unbegrenzte Thatigkeit.
Alſo muß auf die umenbliche Thätigkeit des Ich durch die
Reflerion ein Anftoß gefchehen, fie muß gehemmt, fie darf durch
*) Chenbajelbft, ILL. $. 5. IL. 6 278-274.
Bilder, Selhihte der Phllofophie. V. 37
578
dieſe Hemmung nicht vernichtet werben, fie maß alfo über bie
Schranke hinausgehen, über jede Schranke, d. h. fie muß ins
Unendlihe fireben. Within liegt der Grund des Strebens in
der Reflerion, und deren Bedingung in der unendlichen Tpätig-
feit, welche fein Ich wäre, wenn fie nicht reflertirt, zurüdge:
trieben, gehemmt würbe*).
2. Die Jdee des abfoluten Id.
Des Ich ift nur für ſich oder, was daſſelbe heißt, es ift
nur Ic vermöge ber Reflerion. Die Tendenz zur Reflerion ift
eines mit feinem Weſen. Diefe Tendenz zu befriedigen, muß
das Ich aus fi herauögehen und damit aufhören, nur in fich zu
fein; es muß auf diefe feine (nach außen gerichtete) Thätigkeit
teflectiren und fie dadurch begrenzen, es muß über diefe feine
Schranke hinauögehen und zwar ind Unendliche. Alſo ift Die Un-
endlichkeit nicht fein Zuftand, fondern fein Ziel, feine Aufgabe,
fein Streben. Es ift nicht, fondern fol! unendlich fein. Wir
haben demnach dad Ich, für welches das abfolute Ich nicht Zu:
fland ift, auch nicht Gegenftand, fondern Idee, nicht ein
Seiendes, fondern ein fein Sollendes: dad Ich, welches feine Un⸗
endlichteit nicht genießt, fondern erftrebt, nicht hat, fondern zum
Bwedt hat.
Das abfolute Ich ift abfolut; das Ich mit der Idee des ab:
foluten Ich ift nicht unendlich, fondern ſoll es fein. Diefes Ich
ift daher von dem abfoluten zu unterſcheiden. Die Idee ift ein
unendliche Object, alfo Bein endliches, wirkliches, reales, Das
Ich mit dem realen Object ift theoretifch, das Ich mit dem un:
endlichen oder idealen Object ift daher von dem theoretifchen wohl
zu unterfcheiben: es iſt weder abſolutes noch theoretifches Ich, es
y Ghenbafelöft, III. 6. IL. &. 274—276,
579
ift das ind Unendliche firebende, darum nad) außen thätige,
praftifche Ich.
3. Bereinigung bes abfoluten, praftifhen und
theoretifhen Ic.
Für das Ich ift die UnendlichFeit Zweck, Aufgabe, Streben,
Wille. Abfolut fein heißt hier abfolut fein wollen d. h. praktiſch
fein. Das Ich kann nur abfolut fein, indem ed praktiſch ift
(d. h. ind Unendliche ftrebt oder das abfolute Ich zum Biel hat);
& kann nur praftifch fein (ftreben), wenn es auf einen Wider
fand ſtößt, auf einen Gegenftand, auf eine Schranke, die ed
zu überwinden hat, und welche felbft in dem Ich die theoretis
ſche Thätigkeit notwendig bedingt. Alfo Fein abfolutes Ich,
fein praftifches. Was das Ich praktiſch macht, ift die Idee
des abfoluten Ich. Kein praftifches Ich, Fein theoretifches.
Was das Ich theoretifch macht, iſt der Anftoß, der Wiberftand
(Gegenftand), den das praftifche fordert: hier ift der Vereinigungs-
punkt zroifchen dem abfoluten, praktiſchen und intelligenten We:
fen des Ich*).
4. Die reale und ibeale Reihe.
Kein praktifches Ich, Fein theoretifches und umgekehrt,
Gicht es Fein theoretifches Ich, Fein Object für dad Ich, fo giebt
es auch feinen Anftoß, keinen Widerftand für fein Streben, alfo
kein Streben ind Unenbliche, Fein Handeln, Fein praktifches Ich.
Das praktifche und theoretifche Ich verhalten fich, wie Zweck und
Mittel; das theoretifche ift das Mittel des praktiſchen: um prak⸗
tiſch fein zu Eönnen, muß das Ich theoretifch fein.
Das Ich muß auf fich felbft reflectiven. Es felbft ift Tha⸗
tigkeit, unendliche Thatigkeit, (vermöge der Reflerion) unend-
*) Ebendaſelbſt. III. $. 5. IL 6.277.
37*
580
liches Streben, weldyes bie Schranke einfchließt. Das Ich re:
flectirt auf feine Schranke: fo ift e8 theoretiſch; es veflectirt auf
feine Unendlichkeit, es macht diefe zu feinem Biel ober das abfo-
lute Ich zu feiner Idee: fo iſt es praktiſch. Dort entſteht die
Reihe des Wirklichen (deffen, was ift), bier die Reihe des
Idealen (deffen was fein foll)*).
5. Charakteriſtik der Wiſſenſchaftslehre.
Gdealismus, Realismus, praktiſcher Idealismus, abſoluter Idealismus.)
‚Hier konnen wir deutlich ſehen, wie mit dem Fortſchritt ih⸗
rer Probleme und deren immer tiefer dringenden Löſung auch der
Charakter der Wiſſenſchaftslehre ſich immer beſtimmter ausprägt
und die Namen rechtfertigt, die Fichte zur Bezeichnung feiner
Lehre gebraucht hat. Die erfte Frage hieß: woher unfere noth:
wendigen Worftelungen? Die Antwort der Wiſſenſchaftslehre
war: fie folgen allein aus ber Intelligenz, deren nothwendige
Handlungen fie find. Im diefer Rüdficht ift und nennt fi die
Wiſſenſchaftslehre „Idealismus“. Aber woher die Intelligenz?
So lautet die zweite Frage. Sie ift bedingt durch etwas außer
ihre, fie hat eine Vorausfegung, die ſich aus dem theoretifchen
Ich nicht erflärt; ift die Intelligenz Idealgrund, fo ift jenes et⸗
was außer ihr Realgrund: die Begründung der Intelligenz aus
einem Realgrunde Nicht Ich) ift „Realismus“, und ald ſolchen
harakterifirt ſich hier die Wiſſenſchaftslehre. Woher aber jener
NRealgrund, jened die Intelligenz bedingende Nicht-Ich? So
lautet die dritte Frage. Offenbar kann e8 nur geſetzt fein durch
das Ich felbft. Wenn alfo das Nicht: Ich in Rückſicht auf die
Intelligenz als Realgrund gilt, fo ift dad Ich (nicht theore-
tifche Ich) in Rüdficht auf das Nicht-Ich deffen Idealgrund :
*) Ebendaſelbſt. S. 277.
581
fo erfcheint die Wiffenfchaftölehre als Realismus oder Idealismus,
je nachdem man dad Nicht: Ic, betrachtet; fie ift beides zugleich,
fie ift und nennt ſich deßhalb „Real-Jdealismus oder Ideal⸗Rea⸗
lismus. Aber welches Ich ift der Grund des Nicht⸗Ich? Nicht
das theoretifche Ich, fondern das ind Unenbliche ftrebenbe d. h.
praftifche Ich: hier haben wir den „praftifchen Idealismus“,
als welchen die Wiſſenſchaftslehre ſich bezeichnet. Endlich bie
legte Frage, Woburch ift das Ich praktiſch? Was fest das
Ich in die Thätigkeit des unendlichen Strebend? Die Idee des
abfoluten Ich! So wird die Wiſſenſchaftslehre in der Erflä-
rung und Begründung bed praktifchen Ich „abfoluter Idealis-
mus”. Sie ift Idealismus, indem fie unfere nothwendigen
Vorſtellungen durch die Intelligenz begründet; fie ift Realismus,
indem fie die Intelligenz felbft durch das Nicht: Ich begründet;
fie ift praftifcher Idealismus, indem fie dad Nicht: Ich aus dem
praftifchen Ich begründet; fie ift endlich abfoluter Idealismus,
indem fie das praktifche Ich aus dem abſoluten begründet.
6. Der titanifhe Charakter des fihte’fhen Id.
Thatigkeit des Ich und Streben find iventifh. So wenig
bie Thätigkeit des Ich aufgehoben werben kann, fo wenig dad
‚Streben. Würde dad Ziel des Strebens erreicht, fo würde in
diefem Punkte dad Streben aufhören, fo wäre die Thätigkeit voll⸗
endet, fo wäre feine Thätigkeit, alfo Fein Ich mehr. Dad
Streben ift darum nothwendig unendlich, unaufhörlich; alfo
bleibt auch das Wiberfireben, der Gegenftand, das theoretifche
Ich. So wenig das Ich je aufhören Tann praktifch zu fein, fo
wenig kann ed je aufhören theoretifch zu fein. Man hat bad
fichte ſche Ich titaniſch,⸗fauſtiſch genannt; der Ausdruck darf
gelten, wenn man dabei an dad Ic) denkt, das ind Unenbliche
582
firebt und diefes unendliche Streben ſich zum Geſetze macht. Das
ift der ausgefprochene Grundzug des göthe’fchen Fauſt: „Werd'
ich beruhigt je mich auf ein Zaulbett legen, fo fei es gleih um
mich gethan l
7. Streben und Einbildung.
Die Grundform bes theoretifchen Ich ift die Einbildung, die
Grundform des praftifchen iſt bad Streben. Kein Streben ohne
Gegenftand; Fein Gegenftand für und ohne Einbildung. Kein
Streben ohne Ziel jenfeitd der Schranke, jenfeits des Gegenftan-
ded, jenſeits der Anfchauung; feine Vorſtellung dieſes Zieled ohne
die ſchaffende, über die Anfchauung hinausgehende Einbildungs-
kraft. „Won diefem Vermögen,” fagt Fichte, „hängt es ab, ob
man mit ober ohne Geift philofophirt. Die Wiſſenſchaftslehre
ift von der Art, daß fie durch den bloßen Buchflaben gar nicht,
fondern daß fie lediglich durch den Geift fich mittheilen Täßtz weil
ihre Grunbideen in jedem, ber fie fiubirt, durch die ſchaffende
Einbildungsfraft felbit hervorgebracht werden müffen, Einbil:
dungskraft aber nicht anders ald durch Einbilbungskraft aufge
faßt werden kannꝰ).“
I.
Das Syſtem der Triebe,
41. Streben, Widerfireben, Gleichgewicht.
Wir haben jegt die Grundform bed praktifchen Ich näher
zu beflimmen. Iſt dad Ich gleich dem unendlihen Streben, fo
ift auch das unendliche Streben gleich Ich; kann bad Ich nicht
aufhören zu ftreben, fo kann auch dad Streben nicht aufhören,
ein Ich zu fein. Was das Ich ift, iſt es für ſich; es muß ſich
=) Ebenbajelbft. II. $. 5. IL. ©. 284.
583
ſetzen, ald bad, was es ift: dieſer Grundſatz aller Wiffenfchafts-
lehre ift anzuwenden auf das unendliche Streben.
Kein Streben ohne Gegenftreben; fein Widerftand, Fein
Streben. Geben wir, daß ber Widerftand das Streben aufhebt,
fo wäre fein Streben mehr; feßen wir, daß umgekehrt dad Stre:
ben den Widerſtand aufhebt, fo wäre auch Fein Streben mehr.
Das Streben foll fein. Alfo dürfen Streben. und Gegenftreben
einander gegenfeitig nicht aufheben, fondern müffen ſich das
Gleichgewicht halten: „im Streben des Ich wird zugleich ein Ge
genftreben des Nicht: Ich geſetzt, welches dem erfteren dad Gleich
gewicht halte*)."
2. Das Streben ald Trieb. Dad Ich ala Gefühl
des Triebe.
Eraftgefühl.)
Das Ich findet demnach fein Streben begrenzt oder, ge:
nauer gefagt, es findet ſich in feinem Streben begrenzt. Darin
liegt zweierlei: es findet fich 1) als flrebend und 2) ald begrenzt.
Streben und Widerſtreben halten einander dad Gleichgewicht, fie
hemmen ſich gegenfeitig, aber Feines von beiden ift die Wirkung
des anderen. Das Streben ift nicht von außen, fonbern bioß
durch das Ich felbft geſetzt, es wirkt nicht nach außen, ſondern
nad) inmen, eö ift fomohl in feinem Urfprung als in feiner Wir⸗
kungsart durchaus fubjectio: dieſes fubjertive Streben nennen
wir Trieb. Das Ich findet fich begrenzt d. h. es fühlt, es
fühlt feine Grenze, es ftößt auf einen Widerſtand, der ſich in
ihm ald Gefühl des Zwanges ober bed Nichtkönnend äußert *).
Das Ic) findet fein Streben begrenzt, d. h. es ift fowohl
*) Ebendaſelbſt. III. 8. 6. Dritter Lehrſat. ©. 285 fig.
**) Ghenbafelbft. III. $. 7, Vierter Lehrjag. S. 287—289.
684
Trieb ald Gefühl, es ift beides zugleich: es fühlt fi als Trieb
ober es fühlt fich getrieben. Trieb ift Streben aus eigenem Ber-
mögen, aus eigener innerer Kraft, Gefühl bes Triebes ift Kraft-
gefühl: dieſes Kraftgefühl ift das Princip alles Lebens (noch nicht
des Bewußtſeins), e8 macht die Grenzſcheide zwifchen Leben und
Nicht Leben*).
3. Der Trieb als Refleriondtrieb.
(Borftellungstrieb. Fichte und Schopenhauer.)
Der Trieb entfpringt nur aus dem Ich umb bezieht fich zu⸗
nächft auch nur auf diefeß: es ift der Trieb zum Ich. Nun ift
das Weſen des Ich, daß e& für fich ift, und es kann nur für fich
fein, indem es (auf fich) veflectirt. Der Trieb des Ich, der
nichts anderes fein kann als der Trieb zum Ich, iſt darum noth⸗
wendig Refleriondtrieb. Aber die Reflerion fordert Begrenzung
und biefe fordert ein Begrenzenbed. Was das Jch begrenzt, ift
(für daffelbe) Object. Die Reflerion braucht ein Object, ber
Reflerionötrieb ift daher nothwendig Trieb nach einem Object; nun
Tann ein folches für das Ich nur gefegt werben durch die ibenle
Thatigkeit des Vorſtellens: der Trieb nach einem Object ifl da:
ber nothwendig Vorftellungötrieb**).
Das Ich ift Streben, es ift ald Streben Trieb und zwar
nothwendig Vorſtellungstrieb: dieſer Trieb ift ed, der bad Ich
zur Intelligenz macht. Wie der Trieb oder das Kraftgefühl die
Grenze bezeichnet zwifchen Leben und Nichtleben, fo bezeichnet
der Vorftellungstrieb die Grenze zwifchen Intelligenz und Nicht:
Intelligenz. Die Intelligenz ift bedingt durch den Trieb, bad
*) Ghenbafelbft. IIL, $. 8. Zünfter Lehrſat. I.a. S. 292. III.
S. 296. V. S. 297. Bgl. 8.9. Sechſter Lehrſat. I. 1. ©. 298,
**) Ebendaſelbſt. III. 8.8. S. 291 —294,
|
|
\
685
Syſtem unferer Borftellungen ift abhängig von unferem Triebe
(Willen). Es iſt der Trieb, der bie Intelligenz macht; es ift
der Trieb, der fie fleigert; der Erhöhung bed Triebes folgt
die Erhöhung der Einficht: hier haben wir die Unterordnung ber
theoretifchen Gefege unter bie praktifchen, unter das eine prak⸗
tiſche Gefeg, und damit ein Syſtem, welches Einheit und Zu⸗
fammenhang in den ganzen Menfchen bringt. Diefes Syſtem
zerftört von Grund aus den Determinismus und Fatalismus,
ber unfer Wollen und Handeln abhängig macht von unferen Vor⸗
ſtellungen ). Wie der Verftand, fo der Wille: fagt Spinoza.
Wie der Wille, fo ber Verfland; wie der Trieb, fo die Intelli⸗
genz: fagt Fichte, und nach ihm hat diefen Sat niemand nad
drüdticher behauptet ald Schopenhauer, der es aber vorzieht, bie
Wiffenfchaftstehre in Schatten zu flellen, um nicht felbft im
Schatten der Wiſſenſchaftslehre zu ſtehen.
4. Realität und Gefühl (Glaube).
(Fichte und Jacobi.)
Der Xrieb will Objecte Haben, er will vorftellen. Aber bie
vorftellende (ideale) Thätigkeit überhaupt ift bedingt‘ durch die
Begrenzung ber realen, d. h. dadurch, daß bie urfprüngliche Thäz
tigkeit des Ich einen Anftoß erfährt, der von etwas außer ber
Intelligenz (Richt Ich) ausgeht. Das Ich findet fich begrenzt,
& fühlt ſich. Nur unter der Bedingung biefes Gefühls ift das
Vorftellen überhaupt, alfo auch der Vorſtellungstrieb möglich:
fein Gefühl, Feine Begrenzung, kein Widerfland, Fein Streben,
fein Trieb,
Wir nennen die Bedingung, unter welcher die Intelligenz
edet die ibenle Thatigkeit des Ich überhaupt flattfindet, den Real:
” Ehenbafelbft. III. 8. 8, II. ©, 294— 295.
586
grund deſſelben oder die Realität als ſolche: dieſe auf dad Ich
bezogene Realität ift deſſen Begrenzung, bie auf bad Ich be:
zogene Begrenzung oder die Begrenzung als Ich ift das Gefühl,
das Ich findet fich begrenzt, d.h. es fühlt. Was es fühlt, iſt
nur fein eigener Zuſtand, es fühlt fich ſelbſt, es ift zugleich füh:
lend und gefühlt. Es fühlt ſich als begrenzt, ald gehemmt,
als begrenzt durch etwas, das ihm Widerſtand entgegenfeht;
fein Selbſtgefühl ift oder äußert fich Daher als Gefühl des Zwanges
oder des Nichtlönnend. Das Ich, in dem es fühlt, veflectirt nicht
auf fein Fühlen, es erfcheint ſich darum nicht al8 thätig, fondern
bloß als leidend; das Gefühlte ift für das fühlende Ich nicht
das Ich felbft, fondern das, wodurch ed begrenzt wird: bie
Realität des Dinged. „Daher ſcheint die Realität des Dinge
gefühlt zu werden, da doch nur das Ich gefühlt wird.” „Hier liegt
der Grund aller Realität.” Realität (etwas außer der Vorſtellung)
ift für das Ich nur möglich durch eine Thätigkeit, in welcher die Re
flerion auf diefelbe ausgefchloffen ift und nothwendig außgefchloffen
fein muß, d. h. durch eine Thätigkeit, deren ſich das Ich als ſolcher
nicht bewußt ift noch bewußt werden kann. Diefe Thätigfeit iſt das
Gefühl. Daher ift für das Ich nur auf Grund bed Gefühls
Realität möglich; was wir aber nur im Gefühl erfaffen, bad
wird nicht gewußt, fondern geglaubt: baher kann die Realität
überhaupt nur geglaubt werden, ober, wie Fichte fi ausbrüdt:
„an Realität überhaupt, fowohl die des Ich ald des Nicht-Ich,
findet lediglich ein Glaube ftatt*).” Hier ift der Berührung:
punkt zwifchen Fichte und Jacobi,
5. Produetionstrieb. Bedürfniß.
Das Ich iſt Trieb, Trieb zur Reflerion, zut Vorſtellung. Aber
*) Ebendaſelbſt. IIL 8. 9. Sechſter Lehrſat. IL. 5. ©. 301.
687
die Vorſtellung überhaupt ift bedingt durch etwas Reales, das ihr
zu Grunde liegt. Alfo ifl der Trieb nothwendig Trieb zur Realität,
das ift der Trieb, etwas außer dem Ich hervorzubringen: Produc-
tionstrieb. Der Trieb ift Streben, dad Streben ift Durch das Wider⸗
ftreben im Gleichgewicht gehalten, es kann das Widerftreben nicht
fortfchaffen; es kann außer fich nichtö hervorbringen, es hat außer
fi) Feine Eaufalität. Mithin ift der Productionstrieb ein Stre-
ben ohne Wirkung, ein Wollen und Richtkönnen, ein Sehnen,
das als Bedurfniß, als Ohnmacht, Mißbehagen, Leere gefühlt
wird: das Ich fühlt einen Productionötrieb, d. h. ed fühlt ein
Sehnen nach etwas Realem oder es fühlt fich bedürftig ).
Das Gefühl des Sehnens und dad Gefühl des Zwanges find
in dem Ich zugleich vorhanden; fie müffen vereinigt werben.
Daß Gefühl des Sehnens (Probuctionstrieb) fordert bie Thatig⸗
feit nach außen, das Ich fol etwas außer ſich hervorbringen, es
fol beftimmend fein; das Gefühl des Zwanges (Nichtlönnens)
dagegen ſetzt dieſer Thatigkeit die unüberfleigliche Schranke. Wie
ift die Vereinigung möglich? "
6. Befimmungsdtrieb.
Streben und Widerſtreben bleiben im Gleichgewicht, dieſes
Gleichgewicht ift nicht aufzuheben, es iſt die nicht fortzufchaffende,
gegebene Realität, der vorhandene, alle Thätigkeit und alled Stre:
ben bedingende Stoff. Das Ich kann diefen Stoff weder her
vorbringen noch vernichten; fein Probuctiondtrieb kann ſich daher
nicht auf den Stoff als folchen, fondern nur auf eine Beſtimmung
deffelben beziehen, auf eine Modification diefer Beftimmung: der
Productionstrieb äußert fich daher nothwendig ald Beftimmungs-
trieb),
*) Ebendaſ. III. $. 10. Siebenter Lehrf. Nr. 14. 6.301— 308,
**) Cbendaſ. II. $. 10, Nr. 16, 6. 307.
688
Wie muß diefer Trieb handeln? Wenn feine Handlungs:
weife die Realität felbft, dad wirkliche Ding, beflimmen könnte,
fo würde der Trieb Caufalität außer fi haben, er würbe dann
nicht begrenzt, alfo nicht verbunden fein mit einem Gefühl des
Zwanges, bed Nichtlönnend, des Sehnens; ed würde dann mit
dem Gefühl des Zwanges bad Gefühl überhaupt und mit diefem
bie Bedingung des Lebens, der Intelligenz, des geiſtigen Dafeins,
alfo das Ich felbft aufgehoben fein*).
So nothwendig das Ic) felbft ift, fo nothwendig ift der Be
flimmungötrieb begrenzt. Seine Handlungsweiſe geht nicht auf
dad Ding felbft, fondern auf dad Ich, fie befteht in der ibenlen
Thatigkeit; was fie heroorbringt, find ideale Mobificationen
d. h. Beflimmungen im Ich, welche notwendig geſetzt und nach
dem uns befannten Gefege ebenfo nothwendig auf das Ding über
tragen werben: es find fubjective Beftimmungen, bie ſich in ob:
jective verwandeln. So äußert fi der Beflimmungdtrieb im
Bilden und Nachbilden **).
7. Trieb nah Wechſel.
In biefer Handlungdweife bleibt der Beftimmungstrieb ver-
möge feiner Schranke (Gefühl des Zwanges) an dad Object
gebunden, er bleibt in feinen Handlungen durch bie Beſchaf⸗
fenheit der Dinge felbft befchränkt; fein Probuctionsbebürfniß
bleibt unbefriedigt. Da er das Object felbft nicht hervorbringen
Tann, fo will er das gegebene wenigſtens beftimmen und verän:
dern; da er die wirklichen Befchaffenheiten der Dinge felbft nicht
verändern kann, fo will er wenigftens ihre Borftellungen verän:
dern, d. h. er will mit den Objecten wechfeln. Der Productions»
*) Cbenbafelöft, III. $.10. Nr. 19. ©. 308.
**) Ebendaſelbſt. TIL. $. 10, Nr, 21. 6,313,
589
trieb geht auf Realität, aber auf eine andere ald bie gegebene,
auf eine der gegebenen entgegengefegte, auf eine nicht gegebene,
fondern hervorzubringenbe: das ift fein urſprüngliches Streben.
Nun iſt die Realität überhaupt für dad Ich nur möglich durch
das Gefühl; der Trieb nach einem Wechſel der Objecte ift daher
der Trieb nach einem Wechſel oder nach einer Veränderung ber
Gefühle. Wie ſich der Productionstrieb als Beftimmungstrieb
äußert, fo äußert fich diefer ald „Trieb nach Wechfel” *).
Wie aber kann dad Ich einen Wechfel oder eine Werändes
rung der Gefühle in fich feßen? Was dad Ich feht, gefchieht
durch Reflerion; die Reflerion auf ein Gefühl giebt diefem bie
Beftimmtheit, macht daraus ein beſtimmtes Gefühl, das Gefühl
von etwas d. b. Empfindung. Wie aber fünnen verſchiedene
oder entgegengefehte Gefühle in eine und diefelbe Reflerion geſetzt
werden? Offenbar muß bieß gefchehen, wenn dad Ich die Ver:
änderung feiner Gefühlözuftände in fich erfahren und jenen Trieb
nad) Wechfel befriedigen fol. Jedes Gefühl ift eine Begrenzung
des Ich und dieſes muß auf feine Begrenzung reflectiren. Wenn
alfo ein Gefühl durch ein anderes beftimmt und begrenzt wird,
fo muß das Ich auf beide reflectiren, weil es das eine nicht fegen
kann ohne das andere**),
8. Der Trieb nad Befriedigung.
Nun giebt ed zwei Gefühle, die zufammengehören, weil fie
einander entgegengefeßt find und nothwendig auf einander hin-
weifen. In dem erflen Gefühl wird das zweite gefucht als beffen
Erfühung, in diefem wird jenes vorauögefegt: biefe beiden Ge:
*) Ebendaſelbſt. III. $. 10. N.31. ©, 321,
) Cbendaſelbſt. III. $. 11. Achter Lehrfag. Nr. 1-4, 6, 322
24,
590
fühle find Bedür fniß und Befriedigung. Kein Bedürfniß
ohne Sehnen nach Befriebigung, Feine Befriebigung ohne voraus⸗
geſetztes Bebürfniß. In dem Gefühle ber Befriedigung ift noth⸗
wenbig bie Beziehung geſetzt auf das Gefühl, das ſich nach Be:
friebigung fehnt, auf das Beblirfniß, welches felbft Gefühl der
Nichtbefriedigung war. Das Gefühl der Befriedigung ift nur
möglich durch einen Uebergang aus dem Zuftande des Bebikf:
niffes in den der Erfüllung, alfo durch eine Beränderung im Zur
ftande des Fühlenden, durch eine Gefühlöveränderung. Die
Handlung, welche die Befriedigung hervorbringt, entfpricht dem
Triebe nach Wechfel, dem Beftimmungstriebe, dem Productions:
triebe: hier find Trieb und Handlung in wirklicher Webereinftim:
mung, dad Gefühl diefer Uebereinftimmung ift daher nothwendig
Zuftimmung oder Beifall. Das Gefühl der Befriebigung if
von Beifall begleitet; dem Gefühle der Befriedigung entgegenge:
ſetzt ift das der Nichtbefriebigung, das bloße Sehnen, in welchen
Trieb und Handlung einander widerſtreiten, alfo eine Dishar⸗
monie beider flattfindet, deren Gefühl nothwendig von einem Mif-
fallen begleitet wird.
9. Der Trieb um bed Triebes willen.
Der fittliche Trieb.
Wonach das Ic) ſich fehnt, ift das Gefühl, das es mit
feinem Beifall begleitet: das Gefühl der Befriedigung. Worin
die Befriedigung befteht, ift die Harmonie zwifchen Trieb und
Handlung: in diefer Harmonie ift dad Ich in Uebereinſtimmung
mit fich felbft. Der Trieb ded Ich Bann ſich nur beziehen auf das
Ich. Was er im Ich wirklich hervorbringen will, ift dieſe Har⸗
monie zroifchen Trieb und Handlung, die völige Harmonie beider.
Was if dad für ein Trieb, der auf diefe Harmonie auögeht?
591
Trieb und "Handlung find dann wirklich eins, wenn bie
Handlung, welche den Trieb befriebigt, nicht dieſes oder jenes Ges
fühl, nicht dieſes oder jened Object, fondern nichts anderes ift ald
der Trieb felbft: es ift der durch fich felbft befriebigte Trieb, das
durch fich felbft befriedigte Streben, „ein Trieb um des Triebes
willen”, ein Streben, das nicht diefes oder jenes haben will,
fondern feine Befriedigung bloß in ſich felbft d. h. nicht im Er:
folg, fondern allein im Streben findet. Das ift der abfolute
Trieb, der Fein anderer fein Bann als der fittliche, als das praf-
tiſche Ich ſelbſt.
„So find die Handlungsweiſen des Ich durchlaufen und er⸗
ſchöpft, und das verbürgt die Vollſtändigkeit unferer Deduction
der Haupttriebe des Ich, weil ed dad Syſtem der Triebe abrun-
det und befchließt. Das Harmonirende, gegenfeitig durch ſich
ſelbſt beftimmte, ſoll fein Trieb und Handlung. Ein Trieb von
der Art wäre ein Trieb, der fic) abfolut felbft hervorbrächte, ein
abfoluter Trieb, ein Trieb um bed Triebes willen. Drüdt man
es ald Geſetz aus, fo ift ein Geſetz um des Geſetzes willen ein abs
ſolutes Gefeg oder der Bategorifche Imperativ: Du ſollſt ſchlecht⸗
hin! Eine Handlung ift beftimmt und beftimmend zugleich, heißt:
& wird gehandelt, weil gehandelt wird und um zu handeln, ober
mit abfoluter Selbftbeftimmung und Freiheit *).”
Das theoretifche Ich bildet ein Syſtem nothwenbiger Vor:
felungen, das praktifche Ich bildet ein Syſtem nothiendiger
Triebe, Beide Syſteme befchreiben einen Kreislauf, deſſen An:
fangs⸗ und Endpunkt dad Ich ifl. Das Ich mußte gleichgefegt
werben dem unendlichen Streben; bad Streben mußte gleich:
gefeht werden dem Ich. Wir faffen den ganzen Entwidlungs:
gang in folgendes Schema:
*) Chenbajelbft, IIL. $. 11. Nr. 12—18, 6. 326—27,
592
Ich ⸗ Streben
True⸗
Reflerionstricb — Borfellungstricb
ri nad) Re
Probuctiondtrieb
(Sehnen)
Beſtimmungstrieb — Trieb nach Wechſel
m Tr
Trieb nach Befriedigung
— A —_
Trieb nach Harmonie zwifchen
Trieb und Handlung
— —
Abfoluter Trieb
(Trieb um des Triebes willen)
(Streben um des Strebens willen)
— —
Sittlicher Trieb
u
Praktiſches Ich.
Hier hat auch die Grunblegung ber praktifchen und damit
die der gefammten Wiffenfchaftälehre ihren Kreislauf vollendet.
Achtes Capitel.
Princip und Grundlegung der Kechtslehre).
L
Die Deduction bed Rechts.
1. Aufgabe
Die erfte Aufgabe der philofophifchen Rechtslehre ift die Ab⸗
leitung des Rechtsgrundſatzes. Das Recht überhaupt ift fein will:
Fürliches Machwerk, fondern etwas in der menfchlichen Natur
nothwendig Gegründetes, die philofophifche Rechtslehre baher
nicht „Formularphilofophie”, fondern eine reelle philofophifche
Wiflenfchaft, die das Recht nicht als eine willkürliche Formel,
fondern als eine nothwendige Setzung betrachtet. In biefem
Punkte will Fichte von vornherein feine Nechtötheorie von den
geröhnlichen Lehren des Naturrechts unterſchieden haben, bie das
Recht von der Moral abhängig machen und ein Gebiet dafür in
Anfpruch nehmen, welches das Sittengeſetz frei läßt, nämlich
alle Handlungen, bie jenes nicht gebietet, nicht verbietet, fon-
dern erlaubt; fie leiten aus dem Sittengefeß ein Erlaubnißgefes
ber und beflimmen biefen (von dem Sittengefeß leer gelaffenen) _
der Willkur preisgegebenen Spielraum ald daS Gebiet bes Rechts.
*) Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wiſſenſchafts-
Ichte (1796). Sämmtl. Werke, II Abth. A. Zur Rechts- u, Sitten⸗
lehte, I Band,
dilfaer, Geſchicte der Philoſophie V. 88
694
So wird dad Recht zu etwas willkürlich Gemachtem, zu etwas
bloß Zormellem*).
Iſt das Recht eine nothwendige Handlung (Setzung), fo ift
es gefordert durch dad Selbftbewußtfein, fo gehört es zum Ich,
und ed muß gezeigt werben Lönnen, baß ohne daffelbe das Ich
felbft nicht möglich wäre. Es muß und einleuchten ald eine Be:
dingung der Möglichkeit des Selbftberußtfeind: dieſe Nachwei⸗
fung ift die Deduction des Rechts, biefe Deduction iſt die erſte
Aufgabe der Rechtölehre (ald einer „reellen philofophifchen Wiſ⸗
ſenſchaft) unter dem Gefichtöpunft der Wiſſenſchaftslehre.
Hier Inüpfen wir unfere Entwidiung unmittelbar an ben
Punkt an, bis zu welchem wir dad Syſtem geführt hatten. Das
urfprüngliche Selbftvewußtfein ift dad praktifche Ich; das prak⸗
tiſche (ſtrebende) Ich oder der Wille ift, wie fi) Fichte ausdrückt,
„die innigfte Wurzel des Ich”, unfer Wollen ift dad, was wir
allein unmittelbar wahrnehmen. Wenn fi nun zeigen ließe,
bag zum praftifchen Ich eine Handlung nothwendig (ald Bedin⸗
gung berfelben) gehört, welche den Rechtögrundfag enthält, fo
wäre dieſer bebucirt. Dann wäre weiter zu zeigen, daß er an⸗
wenbbar ift und welche Anwendung er forbert.
2. Die freie Wirkſamkeit des Id.
Das praktifche Ich fegt fich ald beftimmend das Nicht- Ich.
Die das Nicht: Ich beſtimmende Thätigkeit ift der Thätigkeit des
Nicht: Ich entgegengefegt, alfo ift dieſe auch ihr entgegengefeßt,
fie ift dadurch befchränkt, das praktiſche Ich mithin vermöge feiner
Schranke ein befchränktes ober enbliches Vernunftweſen. Die
Wirffamkeit des Nicht: Ich if nothwendig; alfo iſt bie derfelben
entgegengefegte Wirkfamkeit frei, die dad Nicht Ich beftimmende
*) Cbendaſelbſt. Einleitung S. 1—16.
595
Thätigkeit daher freie Wirkfamteit. Wenn alfo das praktiſche
Ich ſich fest als beftimmend das Nicht-Ich, fo ſetzt es ſich als
freie Wirkſamkeit oder beſtimmt ſich zu einer ſolchen Wirkſamkeit
d. h. es ſchreibt ſich freie Wirkſamkeit zu. Daher der erſte Lehr⸗
ſatz: „ein endliches vernünftiges Weſen kann ſich ſelbſt nicht ſetzen,
ohne ſich eine freie Wirkſamkeit zuzufchreiben ).“
Die freie Wirkſamkeit ift begrenzt. Was ihr entgegenfteht,
ift das Nicht:Ich, das nicht anderes ift ald das nothwendige
Object d. h. die Weltanfchauung bed Ich, die Sinnenwelt, bie
dem Ich al8 etwas außer ihm erfcheint. Diefe Sinnenwelt muß
dem Ich erfcheinen als ihm entgegengefeßt, d. h. in allen Punkten
als fein Gegentheil: als etwas Vorhandenes, Gegebenes, Dauern:
des, in feinem Beftande (Materie) Unveränderliches, veränberlich
nur in feiner Form **).
5. Die Aufforderung. Das Ich außer und.
Das Selbftberoußtfein ift nur möglich unter der Bebingung,
daß fich das vernünftige Wefen eine freie Wirkſamkeit zufchreibt;
diefe freie Wirffamkeit ift nur möglich unter der Bebingung, daß
ihr etwas entgegengefeßt wird, ein wirkliches Object, beffen
Segung felbft nur möglich ift in einem beflimmten Moment. Die:
fer Moment aber ſetzt einen früheren voraus, ber wieber einen
früheren vorausfegt und fo fort ind Endlofe. So ift die Segung
des Object unmöglich, alfo auch die der freien Wirkfamteit, alfo
auch das Selbftbewußtfein. Wir finden Feinen Moment, dafs
felbe anzufnüpfen; wir finden für bie freie Wirkſamkeit keinen
Anfang. Hier if daS zu Iöfende Problem.
So lange freie Wirkſamkeit und Object ſich gegenfeitig vor:
*) Chenbafelbft, Etſtes Hauptftüd, $.1. ©. 17—28.
NEbendaſelbſt. I. 8.2. Folgefag. S. 23—29.
88*
596
ausſetzen, ift das Problem nicht zu Iöfen. Wir müffen ein Ob-
ject haben, welches in uns den Anfang ber freien Wirkſamkeit
macht. Der Anfang ber freien Wirkfamteit ift Selbftbeftimmung
und Tann Fein anderer fein; alfo ift ein Object nöthig, welches
und zur Selbfibeftimmung beflimmt. Aber zur Selbſtbeſtim⸗
mung Pann niemand gezwungen werben; ber Zwang zur Selbft-
beftimmung wäre deren Vernichtung, alfo der vollfommenfte Wi-
derſpruch. Mithin darf jene Beftimmung zur Selbftbefiimmung
Beine Art der Neceffitirung fein. Wir müffen zur Selbftbeftim-
mung auf eine Art beftimmt werben, bie jeden Zwang oder jebe
Nöthigung ausſchließt. Nun ift, fobald wir durch ein Nicht:Ich
beftimmt werben, dad Gefühl des Zwanges in und unvermeiblich.
Mithin muß die Beftimmung, welche wir zwar von außen em⸗
pfangen, die aber in und jedes Gefühl des Zwanges auöfchliegen
fol, von einem Wefen ausgehen, welches Fein Nicht-Ich if, alfo
nichts anderes fein kann, als felbft Ich, ein Sch außer und.
Wir folen von außen (durch ein Object) beflimmt werben,
und felbft zur freien Wirkfamkeit zu beftimmen. Diefe Beftim-
mung darf kein Zwang fein, fie darf fich nur an unferen eigenen
Willen richten, fie kann demnach nur eine Aufforderung fein.
Es muß mithin Objecte außer und geben, die und zur Selbftbe-
flimmung auffordern, oder deren Wirkfamkeit ſich an unferen
Willen richtet. Man kann aber feine Wirkfamkeit an ein bes
flimmted Vermögen nur dann richten, wenn man eine Vorſtel⸗
lung von biefem Vermögen hat. Eine Wirkfamkeit, die ſich an
den Willen wendet, fest ald ihre Urfache ein Wefen voraus, dad
eine Vorftellung vom Willen hat. Man kann aber vom Willen
nur dann eine Vorftelung haben, wenn man felbft einen hat.
Darum kann jene Aufforderung nur von folhen Wefen ausgehen,
die felbft Willen und Vorftellung haben, die auf unferen Willen
597
einwirken, indem fie auf ihn einwirken wollen, die ihre Wirkung
auf und beabfichtigen. Die Aufforderung fchließt die Abficht ein,
die Abficht fest Willen und Verftand voraus. Kurz gefagt: die
Urfache jener Aufforderung kann nur ein vernünftiges Wefen fein,
wie wir find. Das Object außer und, welches den Anfang un-
ferer freien Wirkſamkeit bedingt, indem es und zur Selbftbeftim-
mung auffordert, muß felbft ein Subject freier Wirkſamkeit fein,
d.h. ein Ich.
Daher der zweite Lehrſatz: „dad endliche Vernunftweſen
kann eine freie Wirffamkeit in der Sinnenwelt fich felbft nicht
zuſchreiben, ohne fie auch anderen zuzufchreiben, mithin auch ans
dere enbliche Vernunftwefen außer fi anzunehmen *).”
4 Dad Rechtsverhältniß.
Da jebed Vernunftwefen eine folhe Einwirkung fremder
Freiheit auf die eigene ald nothwendig fegen muß, fo wird bamit
eine gegenfeitige Einwirkung freier Wefen auf einander oder eine
freie Wechſelwirkſamkeit ald nothwendig d. h. ald die Bes
dingung gefeßt, unter ber allein eine Beſtimmung zur freien
Wirkſamkeit, alfo diefe felbft und damit das Selbftbewußtfein
möglich iſt.
Die freie Wirkfamteit ift bedingt durch die Aufforderung von
außen, deren Urfache felbft ein vernünftiges und freies Weſen
fein mußte; die Aufforderung zur Selbſtbeſtimmung wendet fich
an meinen Willen, an meine Freiheit, fie will mich nicht nöthi⸗
gen, fie will nur meine Selbftbeftimmung weden: fie gründet
fi mithin auf die Anerkennung meiner Freiheit. Daher will
der Andere, da er ſich zu mir nur aufforbernd, nicht zwingend
verhält, auch feine eigene Freiheit nicht auf Koften der meinigen
y Ebendaſelbſt. I Hptſt. 8. 3. Zweiter Lefrjag. S. 30—40.
598
geltend machen, vielmehr in Anerkennung meiner Freiheit die ſei⸗
nige einfchränfen und eine Sphäre beftehen laffen, in welder
mein Wille feinen eigenen freien Spielraum befchreibt. Kurz
gefagt: ich werde von dem Andern als freies Weſen behandelt
und anerkannt, das Zeugniß biefer Anerkennung iſt bie Auffor-
derung.
Nun war diefe Aufforderung für mich der Erkenntnißgrund,
daß es freie und vernünftige Wefen außer mir giebt; fie war da=
für der einzige Erkenntnißgrund, das einzige Kriterium, welches
mir die Freiheit eined anderen Wefend erkennbar macht. Ich
ann demnach nur dasjenige Wefen ald ein freied erkennen, wel
ches mir zeigt, daß ed meine Freiheit anerkennt und durch den
Begriff meiner Freiheit die feinige einſchränkt. Ober was dafs
felbe Heißt: für mich find nur diejenigen Wefen frei, die mich
als freies Wefen behandeln. Ich erkenne die fremde Freiheit nur
aus einer Handlung, bie aus ber Anerkennung der meinigen
folgt. Meine Vorftellung und Anerkennung der Freiheit des An⸗
dern ift lediglich dadurch bedingt, daß der Andere meine Freiheit
vorftelt und anerkennt. Der thatfächliche Ausbrud diefer Aner-
Tennung (bie Aufforderung) ift das einzige Kriterium, welches
mir den Anderen ald freied Wefen erkennbar macht.
‚Hier ift der Punkt, der in jedem freien Wefen die Bebingung
ausmacht, unter ber es allein die Freiheit anderer Wefen außer
ſich anzuerfennen vermag. Diefe Bedingung ift, daß es felbft
von bem Anderen ald freies Weſen behandelt wird, Nur dad
Weſen ift für mich frei, welches den Begriff von meiner Freiheit
hat und nad) diefem Begriffe handelt. Daraus folgt: 1) ich
Tann nur ſolche Wefen als frei erkennen, die mic) als freies We—
fen behandeln; 2) ich kann die Anerkennung meiner Freiheit nur
folchen Wefen anmuthen, die ich als freie Weſen behandle;
59
3) da ich die vernünftigen Weſen außer mir als folche nur zu er-
kennen vermag aus ihrer Anerkennung meiner Freiheit, fo muß
ich allen vernünftigen Wefen außer mir anmuthen, mic als freied
Befen zu behandeln *).
Die Anerkennung ber Freiheit ift darum fchlechthin gegen:
feitig; die Folge diefer Anerkennung ift, daß jedes vernünftige
Weſen feine Freiheit einfchränkt durch den Begriff der möglichen
Freiheit des Anderen: dieſe Einfchränkung der eigenen Freiheit ift
bedingt durch die Anerkennung der fremden Freiheit, dieſe Aner-
kennung ift dadurch bedingt," daß der Andere auch feine Freiheit
aus demfelben Grunde einfchräntt. Vernünftige Wefen find für
einander erkennbar nur durch dieſe gegenfeitige Anerkennung ihrer
Freiheit und die Darauf gegründete gegenfeitige Behandlungsweife:
diefe Wechfelwirkfamteit ift dad Rechtsverhältniß, der Satz
diefer Wechſelwirkſamkeit ift der Rechts ſatz“). Ohne ein fols
ches Rechtöverhältniß kann fich die Freiheit eine vernünftigen
Weſens nicht anerfannt finden; ohne eine folde Anerkennung
(Aufforderung) Tann ſich dad vernünftige Wefen Leine freie Wirk:
ſamkeit zufchreiben; ohne dieſes Segen der eigenen freien Wirk:
ſamkeit giebt es Fein Selbftbewußtfein, fein Ih, Das Rechtes
verhältniß ift demnach eine Bedingung der Möglichkeit des Selbſt⸗
bemußtfeind: damit iſt dad Rechtöverhältnig und der Rechtsſatz
dedueirt.
Die Deduction geſchieht nicht aus dem Sittengeſetz und
kann aus ihm nicht gefchehen. Das Sittengefeh kann ben Rechtö«
begriff von fich aus fanctioniren, aber nicht machen. Er gilt uns
abhängig von der Moral. Es ift möglich, daß die Moral in ges
*) Ehendafelbft. I Hptft. 8.4. Dritter Lehrjag. S. 41—45.
(6.44. 1. ©. 45. IL)
*) Ehenbafelbft, L.5. 4. ©. 52. III.
600
wiffen Fällen verbietet, was dad Rechtsgeſetz in jedem Falle er-
laubt: die Ausübung eined Rechtes. Das Sittengefeß fordert
den guten Willen und läßt nichts gelten, das nicht durch dieſen
geſetzt iſt; das Recht gilt auch ohne den guten Willen, es bezieht
ſich auf die Aeußerungen der Freiheit in der Sinnenwelt, auf
Handlungen, äußere Handlungen, und ift daher erzwingbar, wie
diefe. Die Sittlichkeit iſt nie erzwingbar*).
Damit ift die Grenze des Rechts und feine Tragweite be
flimmt. Das Rechtsverhaltniß befteht nur zwifchen Perfonen ;
das Recht bezieht fich daher auch nur auf Perfonen und erft durch
diefe, alfo mittelbar, auf Sachen; es geht bloß auf Handlun⸗
gen in der Sinnenwelt, aber nicht auf Gefinnungen **).
IL J
Die Anwendbarkeit des Rechts.
1. Das Ich als Perſon oder Individuum.
Das Rechtöverhältnig ift Bedingung des Selbſtbewußtſeins.
Welches find die Bedingungen ber Rechtögemeinchaft? Offen:
bar müſſen bie vernünftigen Weſen im Stande fein, überhaupt
gegenfeitig auf einander einzumirken, wenn zwiſchen ihnen eine
freie Wechfelwirkfamfeit (Rechtöverhättnig) ftattfinden ſoll; fonft
würde ber Rechtöfag zwar durch dad Selbſtbewußtſein gefordert,
aber in Wirklichkeit nicht anwendbar fein, weil die Bedingungen
fehlen, unter denen der Sag in Kraft tritt. Diefe Bebingun-
gen darthun, heißt die Anwendbarkeit bes Rechtsſatzes debuciren.
Die Frage lautet: welches find die Bedingungen, die dad Rechts⸗
verhältnig ermöglichen ?
Das Rechtöverhältniß fordert, daß jedes vernünftige Wefen
*) Ebendaſelbſt. I. $. 4. Coroll, 2, ©. 54.
**) Ebendaſelbſt. I. 8.4. Coroll, 3u. 4. ©. 55.
601
ſich eine freie Wirkſamkeit zufchreibt und diefelbe durch die An:
erfennung der Freiheit anderer einfchränkt. Es fchreibt ſich dem⸗
nach eine Freiheitäfphäre zu, bie ihm ausſchließend gehört, in
der es auöfchliegend wählt, in der fein anderer Wille gilt und
handelt als der feinige. Das Ich, welches eine Freiheitsſphäre
ausfchließend als die feinige feßt, beftimmt ſich dadurch im Un-
terfchiede von allen übrigen ald Wille für fi, ald Einzelmille,
d. h. als Perfon ober Individuum. Erſt hier kommt in ber
Wiſſenſchaftslehre der Begriff der Individualität zur Entfchei:
dung. Dad Ich ift Individuum (Perfon) als ausſchließender (in
einer nur ihm zugehörigen, darum eingefchränkten Freiheitäfphäre
allein thätiger) Wille. Die ausſchließende Beſtimmtheit der Frei⸗
heitsfphäre (Sphäre der möglichen freien Handlungen) macht ben
individuellen Charakter”).
Hieraus erhellt der Zufammenhang zwifchen Selbftbewußt:
fein und Individualität: das Selbftbewußtfein fordert Die Rechts⸗
meinfchaft, diefe fordert die wechfelfeitige Setzung und Ausfchlie:
ßung der Freiheitöfphären, alfo für jedes Ich eine eigenthümliche
Sphäre freier Handlungen: d. h. bie Perfönlichfeit oder Indivi⸗
dualität des Ich. Keine Perfonalität (Individualität), Fein
Selbftberußtfein.
2. Das Individuum ald Körper.
Das Ich ſetzt eine eingefchränfte Freiheitöfphäre ald die ſei⸗
nige, es fest fich ald Individuum. Jede Einſchränkung des Ich
ift eine Entgegenfesung, jede Entgegenfegung ift Segung eines
Nicht: Ich; mithin unterſcheidet das Ich fich von feiner einge
ſchränkten Freiheitäfphäre, ſetzt fich diefelbe entgegen ober, was
H Ghenbafelbft, II Hauptftüd, Deduction der Anwendbarkeit des
Rechtsbegriffs. 8. 5. Vierter Lehrjag. S. 56.
602
dafſelbe beißt, feht fie als gehörig zum Nicht Ich: als Zelt, |
als Theil der Welt. So ift das Individuum beſtimmt als
Theil der Welt oder als „materielles Ich"*).
Was dad Ic) ald von ſich unterſchieden ober außer fich fett,
iſt ein nothwendiges Product feiner geflaltenden Einbildungskraft,
ein nothwendiges Object feiner Anfchauung. Run ift die Be
dingung aller äußeren Anfchauung ber Raum. Das Individuum
als die durch dad Ich gefegte, eingefchränkte, von ihm unter:
ſchiedene Freiheitäfphäre ift darum nothwendig räumlic), auöge
dehnt, einen beflimmten Raum erfüllend d. h. körperlich. Das
Ich fest feine Individualität ald Körper, als feinen Körper;
diefe Segung ift eine nothwendige, bewußtlofe' Production, d. h.
das Ich findet fich ald Körper. Der Körper ift nichts anderes
als der Ausbrud oder die Erfcheinung der ausfchließenden, dem
Ich allein zugehörigen Freibeitöfphäre, als ber Umfang aller mög-
lichen freien Handlungen der Perfon, ald das Gebiet ober bie
Sphäre des individuellen Willens.
Die Bedingung der Rechtögemeinfchaft war die wechfelfe:
tige Auöfchließung ber Freiheitöfphären ; die Bedingung ber wech⸗
felfeitigen Ausſchließung (Unterfcheidung der Anſchauungen) über:
haupt war der Raum; wie follen fich die Freiheitöfphären wech⸗
felfeitig ausfchließen Fönnen, wenn fie nicht räumlich, ausgedehnt,
wiberftandsfräftig, törperlich find? Keine Rechtögemeinfchaft
ohne Individualität des Ich, Feine Individualität ohne Körper **).
3. Der Körper ald Leib,
Der Körper ift Willenderfcheinung, er ift nichts anderes,
Der Wille handelt, jede Handlung iſt eine Veränderung; alfo
*) Ebenbafelbft. IL. $. 5. I. ©. 57.
**) Ebendaſelbſt. IL 9.5. I-V. 6,5759,
608
muß der Körper, in welchen ber Wille erfcheinen und fi aus:
drüden fol, nothwendig veränderlic fein. Die Materie ſelbſt
ift unveränderlih, Alſo können die Veränderungen im Körper
nur Formveränderungen fein; bie Theile der Materie kön⸗
nen weder vermehrt noch vermindert noch in dem, was fie find, vers
ändert werben; mithin Tann fich Die Veränderung nur beziehen auf
das Verhaltniß oder Die Lage der Theile gegeneinander; bie Berän-
derung diefer Lage oder dieſes Werhältniffes ift die Bewegung der
Theile: der Körper, ber ben Willen ausdrüdt, muß deßhalb
aus bewegbaren Theilen beftehen.
Der Wille handelt frei, d.h. nach Zwecken ober Begriffen.
Die körperlichen Veränderungen oder Bewegungen, in benen ber
Wille erfcheinen fol, müffen darum Zwede (Begriffe) ausbrüden
oder zweckmaͤßig beftimmt fein. Wenn aber die Theile eines Kör⸗
pers eigene zwedimäßige Bewegungen haben, fo find fie Gliederz
der Körper, der aus folchen Theilen befteht, ift gegliedert oder
articulirt, er ift Leib oder Organismus (ein articulirted Ganze).
Sol alfo der Wille ſich in einem Körper ausdrücken, fo muß
biefer Körper ein Leib fein. Unfere außfchliegende Freiheitsſphäre
iſt unfer Leib*).
Keine Rechtögemeinfchaft ohne Individualität, kein indivi⸗
duelles Ich ohne Körper, Bein Förperliches Ich ohne Leib.
4. Der Leib als finnlihes Wefen.
(Niedere umd höhere Organe.)
Jedes Ich wählt und beftimmt in feiner Freiheitöfphäre aus-
fließend ſelbſt feine Handlungen: es ift in diefer Rüdficht per⸗
ſonliche Selbfibeftimmung. Aber bie perfönliche Selbſtbeſtim⸗
ung iſt bedingt durch perfönliche Einwirkung von außen. Nun
*) Gbendafelbft. IL 9.5. V—VL S. 50-61.
604
iſt die der äußeren Einwirkung allein ausgefegte Freiheitsſphäre
des Ich der Leib, alfo wird jene Einwirkung, deren unfere
Selbftbeftimmung bedarf, nur auf unferen Leib. gefchehen Fönnen,
und diefer wird daher für eine folche Einwirkung empfänglich fein
müſſen. Setzen wir nun, daß die Bedingung, welche ben Leib
dazu empfänglich macht, der Sinn ift, fo wird ohne den Sinn
die Einwirkung nicht gefchehen önnen, von welcher unfere
Selbftbeftimmung abhängt. Und da alles Bewußtſein durch un-
fere Selbftbefiimmung bedingt und nur durch die Reflerion auf
diefelbe möglich ift, fo leuchtet ein, daß der Sinn die ausfchlie
ßende Bedingung alles Bewußtfeind ausmacht.
Es wird auf meinen Leib von außen eingewirkt, Die her:
vorgebrachte Wirkung ift eine Veränderung in meinem leiblichen
Dafein, die nicht von meinem Willen auögeht. Wenn aber in
dem leiblichen Gebiete eine Thätigkeit flattfindet, welche nicht
der Ausdruck meined Willens ift, fo hört diefer Leib auf, die aus:
fliegende Sphäre meines Willens d. h. mein Leib zu fein.
Alſo kann durch äußere Einwirkung in meinem Leibe Feine fei-
ner Thätigkeiten gefeßt, fondern nur aufgehoben ober gehemmt
werben, und zwar nur unter ber Bebingung, baß bie gehemmte
Thatigkeit meine eigene ift, die ich als ſolche fege d. h. durch
meinen Willen in meinem Leibe hervorbringe. Ich bringe in
meinem Leibe burch die Wirkfamkeit meines Willens die Thätig-
keit hervor, welche burch die Wirkſamkeit von außen gehemmt
if. Was von außen in meinem Leibe gefchieht, ift bloß Eindruck.
Was von innen gefchieht (was ich in meinem Leibe hervorbringe),
ift Handlung meines Willens. Ich vermandle den Eindrud in
ein Product meines Willens oder in bie-wirfliche Thätigkeit
meines Leibes; ich empfange den Eindrud nicht bloß, fondern
bringe ihn felbft in mir hervor, indem ich ihn nachbilde, wahr
605
nehme, empfinde. Ich Tann den Eindrud nur unter biefer Bes
dingung empfangen. Was fonft den Eindrud empfängt, ift
ich weiß nicht was, aber ficherlich nicht Ich, nicht mein Leib ald
der meinige. Aufmeinen Leib ift eine äußere Einwirkung nur
unter der Bedingung möglich, daß ich die dadurch gehemmte
Thatigkeit felbft in diefem Leibe hervorbringe, daß ich ben Eins
drud nachbilde und empfinde.
Meine Selbftbeftimmung fordert die Einwirfung von außen;
diefe Einwirkung kann nur auf meinen Leib gefchehen, fie kann
nur flattfinden unter der Bedingung eined einbrudsfähigen und
mpfindungsfähigen d. h. eines finnlihen ober mit Sin-
nen begabten Leibes. Nach diefen beiden Bedingungen unter
fheiden fich Die Organe: der Eindruck wird empfangen durch „bad
niedere Organ” (dad von außen beflimmbare), die Empfins
dung wird gebildet durch „das Höhere”: beide zufammen nennt
Fichte „Sinn”*).
Die Einwirkung von aufen fol eine perfönliche fein; fie
fol ausgehen von einer Perfon, einem vernünftigen Weſen, dad
als ſolches mir nur dadurch erkennbar ift, daß es mir feine Ans
efennung meiner Freiheit erkennbar macht. Mithin muß jene
äußere Einwirkung eine folche fein, daß ich daraus zu erkennen
vermag, ihre Urfache fei ein vernünftiges Weſen; fie muß fo fein,
daß fie meine Freiheit nicht aufhebt, vielmehr ed von biefer abs
hängen läßt, ob ich die Einwirkung haben will oder nicht; fie
muß fo fein, daß der Eindrud ſich erſt durch meine Thätigkeit
vollendet, erſt Durch diefe meine Thätigkeit wirklich Eindrud in
mir wird. Ich muß zu erkennen vermögen, baf bie Urfache jer
ner Einwirkung keine andere Art des Eindrucks beabfihtigt hat,
*) Cbendaſelbſt. IL. 8.6. Fünfter Lehefag. I-IL. S. 61-66,
606
als einen ſolchen, deſſen Annahme oder Richtannahme von mei:
ner Freiheit abhängt, daß fie nicht anders auf mich einwirken
wollte. Wenn fie gewollt hätte, fo hätte fie auch anders auf
mid) eimvirfen können; fie hätte einen Eindruck auf mich aus
üben Können, ben ich bemerfen mußte, ber mir bie Freiheit der
Reflerion nicht ließ, alfo meine Freiheit nicht anerkannte, fon:
dern mir Zwang und Gewalt anthat. Hätte jene Urfache fo auf
mid) eingewirft, fo wilrbe fie als phofifche Kraft auf mich ald
phufiiche Kraft, fo würde fie bloß ald Körper auf mich bloß ald
Körper gehandelt haben. Sie würde fo gehandelt haben, wenn
fie mich für einen bloßen Körper, für ein Stüd Materie gehalten
hätte. &ie hat nicht fo auf mich eingewirkt, nicht als Kraft auf
Kraft, fondern ald Sinn auf Sinn, alfo hat fie mich nicht bloß
für einen Körper, fondern für einen finnbegabten Leib, für
ein Wefen mit eigener auöfchließender Freiheitsſphäre, für ein
vernünftiges Wefen, für eine Perfon anerfannt. Jene Urfache
alfo der Außeren perfönlichen Einwirkung auf mich muß felbft
phyſiſche Kraft ober Körper fein, um als folcher auf mich ein:
wirken zu können; fie muß vernünftig und frei fein, um ald
phyſiſche Kraft auf mich nicht einwirken zu wollen; fie muß finn:
licher Leib fein, um in der That bloß finnlich auf mich einzu:
wirken.
Die Rechtsgemeinſchaft fordert die freie Wechſelwirkſamkeit,
die nur moglich ift unter ber Bedingung einander auöfchließender,
indioidueller Freiheitöfphären, die auf einander nur einwirken
tönnen unter ber Bedingung körperlicher, leiblicher, finnlicher
Individualität. „Es ift hiermit das Kriterium der Wechſelwir⸗
Tung vernünftiger Wefen als folcher aufgeſtellt. Sie wirken noth⸗
wendig unter der Borauöfegung auf einander ein, daß der Ge:
genftand ber Einwirkung einen Sinn habe; nicht wie
}
607
auf bloße Sachen, um einander durch phyſiſche Kraft für ihre
Zwecke zu mobificiren ).“
5. Die Bildfamkeit des Leibes.
Das Selbftberoußtfein fordert ald Bedingung der Rechtsge⸗
meinſchaft das finnliche Ich, den Leib mit feinen höheren und
niederen Organen; biefer ift ein Theil der Belt, der Sinnenwelt,
von deren Einrichtung und Werfaffung die feinige abhängt, Das
ber ift es nothwendig, daß Perfonen, die eine Rechtögemeinfchaft
bilden, als freie Wefen auf einander einwirken, fich gegenfeitig
als gleiche behandeln follen, auch gleichartige Sinnlichkeit,
gleichartige Weltanfchauung, mit einem Worte diefelbe Sinnen
welt haben: Rechtögemeinfchaft ift nur möglich unter der Bedin⸗
gung einer gemeinfhaftlichen Sinnenwelt**).
Die Selbſtbeſtimmung jeder Perfon ift geknüpft an bie per-
fönliche Einwirkung von außen. Die Perfonen follen als ver-
nünftige Weſen, nicht als materielle Kräfte auf einander einwir⸗
ten; alfo muß jebe Perfon für die andere finnlich erkennbar fein.
Der finnlich erkennbare Ausdrud der Perfönlichkeit if ber Leib;
alſo muß vor allem der Leib ald ſolcher durch fein bloßes Dafein
im Raum, durch feine bloße Geftalt, zu erkennen d.h. er muß
fihtbar fein. Die Sinnenwelt muß daher die Bedingungen
enthalten, unter denen Geftalten überhaupt fichtbar fein Fön:
nm),
Aber der Leib muß nicht bloß, wie jede andere Geftalt, ſicht⸗
bar, fondern zugleich als ber Leib eines vernünftigen Weſens
etennbar fein. Die Anfchauung dieſes Leibes muß unfere Vor⸗
*) Ehbenbafelbft. IL. 8. 6. III. S. 65—69.
**) Ebendaſelbſt. IL. $. 6. IV—V. S. 69-72.
) Ghenbajelbft. IL. 8. 6. VI-VIL. 6, 72—76,
608
ſtellung nöthigen, den Begriff eines freien und gleichartigen We⸗
fend damit zu verbinden; er muß und erfcheinen als beſtimmt
durch den Begriff der Freiheit oder, was baffelbe heißt, ald bes
ſtimmt zur Freiheit. Aber wie kann ein Leib diefen Ausdruck der
Freiheit haben? Freiheit ift Selbfithätigkeit, felbfleigene Bil:
dung, welche die Bildungöfähigkeit oder Bildſamkeit vorausſetzt.
Ein Leib wird daher in dem Grade als frei erfcheinen, ald er den
Charakter der Bildſamkeit trägt und felbft ald Gegenftand und
Werk eigener Bildung erfcheint. Je bildfamer, um fo freier.
Je weniger die Bildung des Leibes durch den Bildungstrieb ber
Natur allein beftimmt und vollendet ift, um fo weniger if ber
Leib ein bloße Naturproduet, um fo mehr ift feine Ausbildung
auf bie Selbfithätigkeit deö eigenen Wefens, auf bie bildende
Einwirkung anderer Seineögleichen angewieſen, um fo größer
daher feine Bildfamteit. Kein Leib ift fo bildſam und von Na-
tur fo hülflos als der menfchliche. Eben diefe Hülftofigkeit von
Natur ift die Anweiſung an die Menfchheit, die Beftimmung zur
Freiheit. Eben hierin befteht ber Unterfchieb des thierifchen und
menfchlichen Leibes. Das Thier ift in feiner Weife ein vollen:
deted Naturproduct, ein erfüllter, mit allen Mitteln ausgerüfteter
Naturzweck; es befommt von der Natur weit mehr ald der Menfch.
„Iſt der Menſch ein Thier, fo ift er ein außerſt unvollkommenes
Thier, und gerade darum iſt er fein Thier*).” Es iſt fehr ge:
dankenlos, den Menfchen ald ein vollkommenes Thier zu betrach⸗
ten, denn gerabe was die Vollkommenheit des thierifchen Da:
ſeins ausmacht, die Ausrüſtung mit den zum Lebenszweck nöthigen
Mitteln, gerade diefe Vollkommenheit fehlt dem menfchlichen
Dafein. Der Menſch wird nicht ausgerüſtet, er fol fich ſelbſt
ausrüften. Die Pflege und Ausbildung feines Leibes ift fein und
*) Ebenbafelbft, II. $. 6. Goroll, 2,2. 6,82.
609
der Seinigen Werl. In der Bildſamkeit und Bildung dieſes
Leibes erfcheint die Freiheit; der Menfchenleib macht dem Mens
ſchen ein Weſen Seineögleichen erkennbar: „Menfchengeftalt ift
daher dem Menfchen nothmwendig heilig *).”
6. Innere Bedingung der Anwendbarkeit.
Der Rechtöfag ift nicht anwendbar, die Rechtögemeinfchaft
nicht möglich ohne freie Wefen, deren bloße Gegenwart in ber
Sinnenwelt (leibliche Erſcheinung) fie gegenfeitig nöthigt, einan-
der für Perfonen anzuerkennen. Das Dafein der Perfonen, ihre
törperliche, leibliche, finnliche Eriftenz, ihre Einwirkung auf ein⸗
ander vermittelft des Sinns find die äußeren Bedingungen ber
wirklichen Rechtögemeinfchaft ober der Anwendbarkeit des Rechts⸗
grundfages. Welches find die inneren Bebingungen **)?
Benn bie freien Weſen ſich gegenfeitig durch ihre leibliche
Erſcheinung zur perfönlichen Anerkennung nöthigen, fo befteht
darin ihre nothwendige und urfprüngliche Mechfelwirkung. Diefe
beftimmte Erſcheinung (bed menſchlichen Leibes) fordert diefen
beftimmten Begriff (eineö freien Weſens); jeder anerkennt den
Andern für eine Perfon. Das Ergebniß diefer Wechſelwirkung
iſt die gemeinfchaftliche Erfenntniß der ſinnlichen Coeriftenz freier
Perfonen.
Diefe Erkenntniß ift noch nicht die Rechtögemeinfchaft felbft.
Die letztere beſteht barin, daß jeber Einzelne jene Erkenntniß nicht
bloß hat, fondern nach ihr handelt, daß alle feine Handlungen
in Rüdficht der anderen Perfonen aus jener Erkenntniß folgen:
daß alfo jeber Einzelne in biefem Sinne folgerichtig oder confer
quent handelt. Wenn die Erkenntniß auch den Willen nöthigte
*) Ebendaſelbſt. IL. $. 6. VII Cotoll. ©. 738 - 86.
+) Ehenbajelbft, IL 8.7. I. ©. 85.
Bilder, Gefäläte der Yhllofophie. V. 39
610
ober ansfchließend beftimmte, To müßte jeder confequent han:
dein, fo wäre die Rechtögemeinfchaft gegeben, aber zugleich bie
Freiheit des Einzelnen und damit die Bedingung der Rechtöge:
meinfchaft felbft aufgehoben.
Jedes freie Wefen muß dad andere für Seineögleichen er:
kennen. Ob aber jede Perfon die andere auch ald freies Weſen
behandeln (d. h. comfequent handeln) will, ift lediglich bedingt
durch den Willen des Einzelnen. Wenn er will, kann er auch
anders handeln; es ift Fein abfoluter Grund vorhanden, ber ihn
zu einer confequenten ober gefeßmäßigen Handlungsweiſe nöthigt.
Das Sittengefeb allerdings verpflichtet mich abfolut, die Frei-
heit des Anderen zu tefpectiren, nicht eben fo dad Rechtsgeſetz.
In diefem Punkte liegt die Grenze zwifchen Moral und Natur
recht: dort gilt die Verpflichtung jedes vernünftigen Weſens, die
Freiheit aller vernünftigen Wefen außer ihm zu wollen, abfolut
und unbedingt, hier dagegen nur relativ und bebingt*). Cie
kann im Naturrecht nicht anders gelten. Meine Handlungsweife
gegen anbere ift bedingt durch das Rechtsgeſetz, welches felbft be-
dingt ift durch die Nechtögemeinfchaft und nicht weiter reichen
Tann, als dieſe felbft**).
Aber die Rechtögemeinfchaft gilt nicht unbedingt. Sie be
ruht auf dem gemeinfchaftlicyen Wollen, und diefes felbft ift ab:
hangig von dem Betragen jedes Einzelnen. Meine Handlungs:
weife gegen ben Anderen ift durch das Rechtsgeſetz felbft an eine
Bedingung geknüpft, bie zufälliger Art ift, die fein und auch
nicht fein Bann. Ich behanble den Andern ald freies Weſen un:
ter der Bedingung, daß er mich auch fo behandelt, nur unter
*) Ebendaſelbſt. II.
g7.L .
#*) Gbendafelbft, IL. $.7. L S. 86—88,
811
diefer Bebingung. So will es bad Rechtsgeſetz. Wenn mich
nun ber Andere nicht fo behandelt? So ift zwiſchen und. die
Rechtögemeinfhaft und damit das Rechtsgeſetz aufgehoben *).
Nun ift die Rechtögemeinfchaft eine nothwendige Bedingung
des Selbſtbewußtſeins und barf ald.folche nicht aufgehoben wer⸗
den. Daher muß auch bad Rechtsgeſetz felbft in feiner Aufhebung
güftig bleiben. Giebt es Fälle, in denen ihm zuwidergehandelt
wird, fo muß dad Rechtsgeſetz auch ‚für diefe ihm wiberfireitenden
File gelten. Wie ift das möglich? „Wie mag ein Gefeh ger
bieten dadurch, daß ed nicht gebietet; Kraft haben dadurch, daß
& gänzlich ceffiret; eine Sphäre begreifen dadurch, daß es bie:
felbe nicht begreift? **).” Hier ift in den inneren Bedingungen
der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs der ſchwierige Punkt.
Das Rechtsgeſetz gebietet, daß fich die Perfonen ald freie
Weſen gegenfeitig anerkennen und behandeln. Ich behandle dem⸗
gemäß den Anbern als freied Weſen und habe ein Recht, daß er
mich wieder fo behandelt; er thut es nicht und hat dadurch nach
dem Mechtögefege felbft das Recht verloren, von mir als freies
Weſen behandelt zu werben. Jetzt gebietet mir das Rechtsgeſetz
nicht mehr, die Freiheit des Anderen zu reſpectiren; es verbietet
mie nicht mehr, vielmehr erlaubt es mir, fie anzugreifen; es
ſpricht mich von der Verpflichtung los, die meine Willkür in
Schranfen hielt, und fegt mich dem Andern gegenüber wieder in
den Stand ber Willkur, ich darf jest nad) dem Rechtsgeſetze felbft
die Freiheit des Andern auch meinerfeits angreifen, d. h. ich habe
ein Recht, ihn zu zwingen. Dad Rechtsgeſetz felbft giebt mir in
diefem Falle ein Zwangs recht, es berechtigt den rechtswidrig
*) Ebendaſelbſt. IL. 8.7. IL. &.88—89,
)Ebendaſelbſt. IL $.7. IV.. ©. 90,
39 *
612
Behanbelten zur willtürlichen Behandlung der Perfon, bie feine
Freiheit verlegt hat”).
Die Amwendbarkeit des Rechtsbegriffs fordert mithin bie
Möglichleit des Zwangsrechts. Ohne Zwangsrecht Fein durch⸗
gängig gültiges Rechtegeſet, feine giültige deechsgemeinſchaft.
Aber wie konnen Rechtögemeinfcaft und Zwangsrecht vereinigt
werden, ba doch ber Zwang bad Gegentheil der Freiheit und da⸗
mit der Rechtögemeinfchaft ift? Wie iſt innerhalb ber Rechtsge⸗
meinfchaft ein Zwangsrecht möglich? Das ift die aufzulöfende
Frage.
II
Die Anwendung des Rechtsbegriffs.
Die Hauptprobleme.
1. Dad Urredt.
Wir kennen bad Gefeh der Rechtögemeinfchaft und alle Auße⸗
ren und inneren Bedingungen feiner Anwendbarkeit. Jetzt han⸗
delt es fich um bie foftematifche Anwendung ſelbſt. Aus diefer
Aufgabe erhellt ſchon die Eintheilung des Syſtems der Rechts
lehre oder die Drbnung ihrer Hauptprobleme.
Das Rechtsgeſetz fordert: daß jedes freie Wefen feine Frei:
heit durch ben Begriff der Freiheit des Anderen einfchränfe, daß
es fich diefe Einſchränkung zum Geſetz mache, alfo die Freiheit
anderer, obwohl es diefelbe ftören kann, niemald angreifen wolle,
fondern aus freien Stüden ſich dazu entfchließe, fie zu achten **).
Was fehlechterdingd nicht verlegt werden barf, find Diejenigen
Rechte, auf deren Anerkennung alle Rechtögemeinfchaft beruht:
das find die Bedingungen des perfönlichen Daſeins, ohne welche
*) Ebendaſelbſt. IL. 8.7. V. 6. 90-91.
..**) Cbenbafelbft, III Hptitüd. 8.8, L 6,92,
813
es überhaupt.feine Rechtöverhältniffe giebt. Den Inbegriff diefer
Bedingungen nennt Fichte die Urrechte. Worin beftehen bie
Urrechte? Das“ iſt die erſte Frage ).
2. Das Zwangsrecht.
Nun ſollen die Urrechte zufolge des Rechtsgeſetzes nicht ver⸗
legt werden, aber fie können es vermöge der menſchlichen Willkür,
die ſich an das Geſetz nicht kehrt; ihre Unverletzbarkeit kraft des
Geſetzes fchließt die Möglichkeit der Verlegung durch die (rechtd-
widrige) Willkür nicht aus. Im diefem Fall erlaubt das Geſetz
dem rechtswidrig Behandelten dad Zwangsreht. Wie und
unter welchen Bedingungen find Zwangsrechte möglih? Das
ift die zweite Frage **).
An fich ift der Zwang kein Recht. Er kann ed nur fein in
einer beflimmten Form, bie dad Geſetz feftftelt. Das Geſetz
allein kann zum Zwange berechtigen; es kann nur den zum
Zwange berechtigen, ber das Geſetz anerkennt und ſich ihm unter:
wirft, Mur der rechtmäßig Handelnde darf zwingen; er darf
nur dann zwingen, wenn feine Urrechte verlegt find, und den
Zwang nur gegen die Perfon audtiben, die jene Rechte verlegt hat.
Mithin iſt zur Anwendung des Zwangsrechts bie erſte Be—
dingung, daß feſtgeſtellt wird, ob wirklich die Urrechte verletzt
ſind. Dieſe Feſtſtellung iſt ein Urtheil, und zwar nach der Richt⸗
ſchnur des Rechtsgeſetzes: ein ſolches Urtheil iſt ein Rechtsſpruch
oder ein Gericht. Bevor daher ein Zwang rechtmäßig ausgeübt
werden darf, muß gerichtet werben. Kein Zwangsrecht ohne
vorhergehendes Rechtöurtheil, Mer berechtigt fein fol zu zwin⸗
gen, der muß berechtigt fein zu richten ***),
*) Ebendaſelbſt. III. 8. 8, I. ©. 92—94.
**) Ebenbajelbft. IIL 8. 8. IL &.94—95,
**%) Ebendaſelbſt. III. $. 6. ILa. ©, 95.
614
Das Zwangsrecht ift bedingt durch bad Rechtsgeſetz und
veicht daher auch nicht weiter ald dieſes. Die Verlegung der Ur-
rechte ift zugleich die Nichtanerkennung des Rechtögefeges. Hier
iſt der Punkt, der dad Zwangsrecht zugleich motivirt und begrenzt.
In Rüdficht der verlegten Urrechte darf es auögeübt werben bis
zu deren Wiederherſtellung (Genugthuung, Entſchädigung); in
Rüdficht auf die Nichtanerfennung des Geſetzes darf es ausgeübt
werben, bis ber Andere das Geſetz anerkennt und ſich demfelben
unterwirft. Mit diefer Unterwerfung, fobald fie eintritt, erlifcht
dad Zwangsrecht ).
Aber wo iſt das Kennzeichen, daß dieſe Unterwerfung wirk⸗
lich ſtattfindet, daß der Andere ſich in der That dem Geſetze fügt,
daß er demſelben nicht mehr zuwiderhandeln wird? Das einzige
Kennzeichen, woraus die Anerkennung des Geſetzes einleuchtet,
find die Handlungen, in dieſem Falle die Fünftigen Handlungen,
die gefammte künftige Erfahrung, Die Zukunft iſt ungewiß.
Es ift ungewiß, ob ber Andere das Gefeg von jest an anerfen=
nen und befolgen wird. Seine bloße Verficherung giebt Feine
Gewißheit. Da nun das Zwangsrecht nur eintreten darf, fobald
die Nichtanerfennung des Gefeged gewiß ift, fo ift die Ausübung
deſſelben ebenfalls ungewiß. Hier fommt die Anwendbarkeit des
Zwangsrechts mit fich felbft in Widerſtreit. Wie ift diefer Wi-
derſpruch zu Iöfen**)?
Die Urrechte dürfen nicht verlegt werden. Sind fie verlegt
- worden, fo muß ihre Wiederherftelung erzwungen werben dür⸗
fen; und zugleich wi ich die Sicherheit haben, daß fie in Zu:
kunft nicht mehr verlegt werben. Diefe Sicherheit für die Zu-
kunft, dieſe Garantie oder Gemährleiftung der Urrechte ift nur
*) Ebendaſelbſt. IIT. 8.8, I. 6, 9697.
**) Ehenbajelbft, ILL. 5. 8. IL. S. 97—99.
815
auf eine einzige Art zu geben: die Perfonen müffen ſich die ge
genfeitige Störung der Freiheit freiwillig unmöglich machen. Die
Sicherung und Bertheidigung der Urrechte fol nicht mehr bei
dem fein, ber in der Sache Partei ift, fondern bei einem Drit:
ten. Diefer allein fol das Recht haben zu entſcheiden, ob eine
Verlegung der Urrechte wirklich flattgefunben hat; er allein fol
richten, er allein fol den Angreifenden zurüdtreiben und das
Zwangsrecht gegen den Beleidiger ausüben. Diefem Dritten un
terwerfe ich alle Bedingungen meines Zwangsrechts: das Rechtes
urtheil und bie phyſiſche Macht, natürlich unter der (nach dem
Rechtsgeſetz felbfiverftändlichen) Bedingung, daß die Anderen
daffelbe thun. Und zwar gefchieht diefe Unterwerfung unbe:
dingt, ba jede bebingte oder eingefchränkte Unterwerfung dem
Zwangsrechte der Einzelnen neuen Spielraum geben würde*).
Kein Naturrecht ohne Zwangsrecht, welches bie Urrechte
vertheidigt und ſchützt; feine Sicherheit des Schuges ohne Ga:
rantie; keine Garantie ohne eine dritte Macht, ber durch unbe:
dingte Unterwerfung alle Bedingungen der Boangeredte zur al⸗
leinigen Ausübung übertragen werben.
Damit ſtehen wir nor einem neuen Problem. Das Zwangs⸗
recht iſt nur anwendbar unter einer Bedingung, die mit der Frei⸗
heit, alſo mit dem Naturrechte ſelbſt ſtreitet. Wir ſollen unſere
Freiheit unbedingt unterwerfen; wir ſollen es thun um der Frei⸗
heit willen. Das Rechtsgeſetz fordert die gegenſeitige Anerken⸗
nung ber perfönlichen Freiheit, die Garantie dieſer Anerkennung,
darum die Unterwerfung. Es fordert zum Zwecke der Freiheit
deren Gegentheil. So widerflreitet das Rechtsgeſetz ſich felbfl.
Wie ift diefer Widerfpruch zu löfen?
*) Ebendafelöft. III. 8.8. IIL 6. 99-101.
616
5. Das Staats recht.
Die Unterwerfung gefchieht nach dem Rechtsgeſetze, welches
felbft unter der Bedingung der Freiheit fteht. Die Unterwerfung
gefchieht daher mit vollfommener Freiheit, d. h. mit ber Ueber
zeugung, daß meiner rechtmäßigen Freiheit durch die Unterwers
fung fein Abbruch gefchieht; fie gefchieht unter einer Bedingung,
welche mir meine Freiheit und deren Rechte garantirt *).
Wie ift eine folhe Garantie möglih? Ich muß ficher
fein können, daß von jenem Dritten Fein Rechtöurtheil gefpros
chen wird, das meine Rechte verlegt, Bein rechtswidriges Urtheil;
daß alle Fünftigen Rechtöurtheile nach der Richtſchnur des Rechts
normirt find und daher nur nach diefer Richtſchnur, d. h. nach
beftimmten oder pofitiven Gefegen, ertheilt werden können, die
von vornherein jede Willkür des Richters ausſchließen. Die Ne
gel des Rechts, angewendet auf beſtimmte Objecte, ift dad poſi⸗
tive Geſetz; dad Geſetz, angewendet auf beſtimmte Perfonen, ift
das Rechtöurtheil. Der Rechtsſpruch ift nur das Geſetz felbft in
feiner Anwendung; das Gefes ift der unabänderlich feſtgeſetzte,
von aller gefeglichen Willkür unabhängige Wille, der Wille des
Rechts, alfo auch mein eigener Wille. “Daher Tann ich mich
dem Gefeß unbedingt unterwerfen mit vollfommener Freiheit ;
und ich Tann mich auf diefe Weife nur dem Gefe unterwerfen.
Jene Garantie alfo ift allein durch Gefege möglich. Aber
wie können Gefege, bie zunächft nur Säge und Begriffe find,
eine folche Garantie leiften? Dffenbar nur unter der einen Ber
dingung, daß dad Geſetz Macht ift, alleinige Macht, Oberge⸗
malt, Das Gefeh muß herefchen, und zwar auf eine ſolche
Weiſe, daß es felbft niemals rechtswidrig handeln, nie bei einer
rechtswidrigen Handlung ſtumm bleiben kann. Hier ift es Har,
*) Ebendaſelbſt. III. 9.8, IV. 6, 101— 102,
617
unter welcher Bedingung allein Rechtögemeinfchaft und Zwangs⸗
recht vereinigt werden können. Ihre Vereinigung ift nur dann
möglich, wenn nichts herrſcht ald das Geſetz, wenn Geſetz und
Macht volllommen eines find, wenn bie Macht immer mit dem
Geſetze, und die Gefegwibrigfeit immer mit der Ohnmacht zuſam⸗
menfält. Die Bedingungen diefer Vereinigung find zu finden.
In der Sinnenwelt ift nichts mächtiger ald das freie We:
fen, unter freien Wefen ift nichtö mächtiger als ihre Vereinigung.
Wenn daher dad Geſetz der gemeinfchaftliche Wille ift, fo ift es
auch der mächtigfte Wille, die größte Macht, die Herrſchaft; fo
ift jede Ungerechtigkeit gegen den Einzelnen zugleich eine Unge—
techtigfeit gegen Alle; fo ift eine gefegwidrige Handlung, bie in
ihrer Auflehnung gegen die größte Macht nothwendig ſcheitert,
ein Unrecht, das feine Ohnmacht in der Beftrafung erfährt. Die
Herrſchaft der Gefege iſt nur möglich in dem gemeinen Weſen
oder dem Staat. Was iſt der Staat? Das iſt die dritte Frage
in der Anwendung der Rechtslehre.
Neuntes Kapitel.
Die Staatslehre.
L
Die Urrehte und das Zwangsgeſetz.
1. Leib, Eigenthum, Selbfierhaltung.
Das Rechtögefeh fordert die Urrechte, zu deren Vertheidi⸗
gung und Schuß (im Fall der Verlegung) die Zwangsrechte, zu
deren Anwendung die Herrfchaft der Gefege oder ven Staat. Ur:
rechte und Zwangsrechte find baher die beiden Bedingungen, be:
ten nothmendige Vereinigung den. Staat fordert.
Nur im Staat und durch benfelben find die Zwangsrechte
anwendbar, nur durch deren Anwendung find die Urrechte gültig.
Mithin giebt es abgefehen vom Staat feine eigentliche Geltung
der Urrechte, es giebt feinen befonderen Stand der Urrechte und
in diefem Sinn Feine Urrechte des Menfchen. Der Begriff der
Urrechte, nicht ihre Geltung, geht dem Staate voran, und ed
muß daher vor allem audgemacht werben, worin biefer Begriff
befteht*).
Die Urrechte begreifen die Bedingungen in fich, unter denen
allein Perfonen in der Sinnenwelt möglich find, Nun beſteht
die Perfönlicheit darin, die freie Urfache ihrer Handlungen zu
fein. Wenn die Bedingungen aufgehoben werden, unter denen
7) Kiegheslehre. I Cap. Deduction be Urrechts. 8.9, ©. 110-111.
619
eine Perfon in der Sinnenwelt ald freie Urfache (abfolute Cauſa⸗
lität) handeln kann, fo ift die Möglichkeit der Perfon felbft auf:
gehoben. Die erfte Bedingung, ald freie Urſache in der Sins
nenwelt zu handeln, ift daher die finnliche Erfcheinung der Per:
fon, ber Leib ald Repräfentant bes Ich in der Sinnenwelt, dad
finnliche Ich felbft. Mein Leib ift frei; Peine andere Perfon darf
ihn zum Gegenftande ihrer unmittelbaren Einwirkung d. h. ihres
Zwanges machen: dad ift das erſte Urrecht. Als freie Urſache
handeln, heißt nach Begriffen oder Zweden handeln. Ich kann
in der Sinnenwelt nur dann zweckmäßig handeln, wenn ich Ob⸗
jete nach meinen Zwecken behandeln, alfo meinen Zweden unter:
ordnen Bann, Diefelben Objecte können nicht zugleich durch
meine Zwecke und durch bie eined Anderen beftimmt werben.
Alſo muß ih, um zwedimäßig handeln oder Perfon in der Sin-
nenwelt fein zu können, Objecte ausſchließend beflimmen, nur
nad) meinen Zwecken behandeln und biefen ausſchließend unters
orbnen dürfen. Die auäfchliegende Unterordnung ber Objecte
unter meine Zwede macht fie zu meinem Eigentum. Ohne Ei-
genthum Feine Perfon: das ift das zweite Urrecht. Alles zweck-
mäßige Handeln befteht in einer Reihe von Hanblungen, die von
der Gegenwart in bie Zufunft geht. Ich kann mir Beinen Zweck
in der Gegenwart ſetzen, ohne feine Verwirklichung in der Zus
kunft zu wollen, ohne alfo meine eigene Zukunft d. h. die Fort:
dauer meiner Perfon, die Fortdauer meines Leibes, meine Selbſt⸗
erhaltung zu wollen: das ift daß dritte Urrecht. Nur unter bie:
fen Bedingungen des mir eigenen, von fremder Zwange unab-
hängigen Leibes, des Eigenthums und der Selbfterhaltung kann
die Perfon in der Sinnenwelt ald freie Urfache handeln; nur fo
iſt perfönliches Dafein in der Sinnenwelt überhaupt möglich *).
*) Ebendaſelbſt. L 8. 10—1L, 6. 112— 119,
620
2. Die Rechtsgrenzen und beren Sicherung.
Diefe Urrechte find unverlegbar. Sie werben verleht, wenn
ein Anderer von feiner Freiheit und feinen Urrechten gegen mich
einen rechtöwibrigen Gebrauch macht. Können aber die Urrechte
vechtöwibrig gebraucht werden, fo muß ihr rechtmaͤßiger Gebrauch
feine beftimmte Grenze haben. Diefe Grenze ift beflimmt durch
die gegenfeitige Anerkennung der Perfonen, ihrer Freiheit, ihrer
Urrechte. Aber diefe Anerkennung ift problematif und muß es
fein in Rückſicht der Objecte, welche ausſchließend nur in bie
Freiheitsfphäre diefer Perfon falen. Um das Eigenthum des
Anderen anzuerkennen, muß ich wiffen, welche Objecte fein Ei:
genthum find. Keiner kann und barf alles befigen, das Eigen:
thum jedes Einzelnen iſt ein endliches Quantum; aber biefes
Quantum muß beflimmt, beutlich begrenzt, ‚die Grenze muß
äußerlich bezeichnet fein durch eine Declaration. Jeder muß
fein Eigenthum declariren. Entfleht in dieſer gegenfeitigen De:
claration ein Streit, indem biefelben Dinge von verfchiedenen
Perfonen beanfprucht werden, fo ift eine Entſcheidung nothwen⸗
dig, die micht von den Parteien felbft, fondern nur von einem
Dritten abhängen kann.
Keine. Perfon ohne Eigenthum; kein Eigentyum ohne ges
genfeitige Anerkennung des Eigenthums, Erſt durch dieſe wird,
was vorher nur factifcher Befig war, rechtögültiges Eigentum.
Keine gegenfeitige Anerfennung ohne gegenfeitige Declaration und
ohne die Bedingungen, unter benen jeder Streit über Mein und
Dein rechtsgliltig entfchieden werben kann *).
Segen wir, die Urrechte feien beſtimmt und durch gegen⸗
feitige Verabredung in fefte und beutlich bezeichnete Grenzen ein:
geſchloſſen, fo ift die nächſte nothwendige Forderung bie Sicherheit
*) Gbenbajelöft, I. 8.12. ©, 120-136,
621
des fo gegebenen Rechtözuftandes. Keiner darf feine Rechtögrenze
überfchreiten. Wenn dazu jeber ben guten, mit dem Rechtsgeſetz
innerlich übereinftimmenben Willen hat, fo kam fich jeder auf
jeden verlaffen, und die gegenfeitige Sicherheit ift begründet in
der rechtlichen Gefinnung, in ber gegenfeitigen Treue, womit
jeder an ben getroffenen Werabrebungen feftpält. Dann beruht
die Mechtögemeinfhaft auf dem Grunde der Gefinnumg, auf der
Moralität und ift im Grunde fchon eine fittliche Gemeinfchaft*).
Indeffen dürfen wir hier das Gebiet der Rechtögemeinfchaft
nicht überfchreiten und innerhalb defjelben Beinen Anfprud auf
die Moralität der Gefinnung, fondern nur auf bie Legalität der
Handlungsweife machen. Das Rechtögefeh fordert die Sicherheit
des Rechtözuftandes. Diefe Sicherheit giebt bie rechtliche Gefin-
nung, aber diefe Gefinnung und dad Vertrauen auf diefelbe (ger
genfeitige Treue und Glauben) ift Durch Fein Rechtsgeſetz hervor⸗
zubringen. Um aber bie geforderte Sicherheit zu gewährleiften,
wird bad Rechtsgeſetz für bie Legalität der Handlungdweife, die
es allein beanfprucht, zu forgen haben; es wirb Veranftaltungen
treffen müffen, welche bie Handlungen in der Richtſchnur und
den Grenzen bed Rechts halten und zu dieſem Zwecke ben guten
Willen zwar keineswegs auöfchließen, aber entbehrlich machen.
Das Recht muß gefichert fein, felbft wenn ber gute Wille dazu
nicht vorhanden ift**).
Sind die Urrechte jeder Perfon ihrem Umfange nach begrenzt
und die Rechtögebiete beſtimmt, fo befteht jede Rechtsverletzung
in der Nichtachtung ber Rechtögrenzen. Diefe Nichtachtung ift
entweder gewollt oder nicht gewollt, entweder abfichtlich oder un⸗
abſichtlich: im erften Fall ift der Wille rechtswidrig, im anderen
*) Ebenbajelbft. II Cap. 8. 18. S. 1837—139,
**) Ebendaſelbſt. IL. 9.14. 6. 1989-40. Bgl.6. 142, '
622
unachtfam. Der rechtäridrige Wille ift der in ber Handlung
auögefprochene Wille zu ſchaden, det unachtſame ſchadet ohne es
zu wollen; jener überfchreitet die Rechtsgrenze, die er Eennt,
diefer beachtet (aus Nachläffigkeit) die Rechtsgrenze nicht, die er
kennen und beachten follte: durch beide ift die Sicherheit des
Rechtözuftandes bedroht; gegen beide find daher jene Veranſtal⸗
- tungen zu richten, welche den Rechtözuftand fichern.
3. Dad Zwangsgefeh und deffen Prineip.
Die Veranftaltung, welche dad Rechtsgeſetz trifft, muß ein
Geſetz und, da der Rechtszuſtand in jedem Augenblide verlegt
werben kann, ein ſtets wirffames Geſetz und zwar ein folches
fein, welches den Willen, auch den gefegwidrigen, nöthigt, recht
mäßig zu handeln, d. h. ein Zwangsgeſetz.
Jeder Wille handelt nad) feinen Zwecken. Wenn aus feiner
Handlung die Erreichung des Zwecks folgt, fo handelt er zweck⸗
mäßig; folgt das Gegentheil, fo handelt er zwedwidrig d. h. fo,
vie er nicht handeln will. Ich will A haben und erreiche das
Gegentheil von A. Dabei kann der Iwed richtig und nur bie
Handlungsweife falſch ober thöricht fein. Wenn ich aber, gerade
darum, weil ich A will, das Gegentheil von A erreiche, fo ift
nicht bloß meine Handlungsweiſe, ſondern der Zweck felbft zweck⸗
widrig, fo handle ich nicht bloß, wie ich nicht handeln will, ſon⸗
bern ich will etwas, das ich nicht will; fo kann ich A unmöglich
wollen. Mein Wille vernichtet ſich in biefem Falle felbft, er ift
der Grund feiner eigenen Vernichtung.
In diefem Falle nun fol ſich jeder unzechtmäßige Wille bes
finden; er ift dann in die Lage gebracht, fich ſelbſt zu vernichten.
Was der unrechtmäßige Wille begehrt, iſt ein Vortheil auf Koften
und zum Schaden des Anderen: das iſt fein Zweck; bad Gegen:
623
theil diefes Zwecks ift das Uebel, welches ihm zuftößt, fein eigener
NachtHeil und Schaden. Wenn nun jeded Unrecht nothwendig
zum eigenen Schaben audfchlägt, fo ift jeder rechtöwidrige Zweck
zweckwidrig, fo ift jeder unrechtmäßige Wille in der Lage, etwas
zu wollen, dad er nicht will und damit fich felbft zu vernichten.
Er ift es durch den Caufalzufammenhang zwiſchen Unrecht und
Uebel. Diefe nothwendige Verbindung macht bad Gefeg, das
Zwangsgeſetz. Hier if dad Princip aller Zwangsgeſetze, auf das
fi) die peinliche Gefeßgebung gründet. Das Zwangsgeſetz ift
diejenige Beranftaltung des Rechtsgeſetzes, kraft deren jeber un-
techtmäßige Wille fich nothwendig felbft vernichtet. Der rechts⸗
widrige Wille ift fo weit gegangen, bie Rechtögrenze zu über:
fhreiten; das Zwangsgeſetz treibt ihn durch bad Uebel, daß er
ſich felbft vermöge beffelben zuzieht, in feine Grenzen zurüd.
Der unachtfame Wille ift nicht weit genug gegangen, um bie
Rechtsgrenze deutlich zu fehenz er hat ben Anderen (ohne ed zu
wollen) befchäbige, und der Verluſt fällt auf ihn felbft zurück.
So treibt ihn dad Zwangsgeſetz zur Vorſicht, damit er die Gren-
zen wohl in Acht nehme. Die Folge ift, daß jeder ſich in feinen
ihm zugemeffenen Grenzen hält, und fomit dad Gleichgewicht des
Rechts ſich wiederherſtellt *).
Kein Rechtszuſtand ohne Zwangsgeſetze, kein wirkſames
Geſetz ohne Macht, ohne zwingende Macht, deren Träger nicht
der Einzelne fein kann, fondern nur die Vereinigung ber Perſo⸗
nen, das Gemeinwefen, ber Staat. Kein Naturrecht ohne
Zwangsrecht, feine zwingende Macht ohne die Herrichaft der
Geſetze: daher iſt das Naturrecht in ber That nur im gemeinen
Weſen und unter pofitiven Gefegen möglich; der Staat ift dad
*) Ebendajelöft, IL. 8. 14. ©. 189— 145,
624
vealifirte Naturrecht, er ift nicht deſſen Aufhebung, ſondern Ber:
wirklihung*).
I.
Die Staatsordnung.
1. Aufgaben: Staatöbürgervertrag, Befeßgebung.
Der Rechtözuftand, der zu feiner Aufredhthaltung die Zwangs⸗
gefege fordert, ift nur in und durch den Staat möglich. Wie ift
der Staat felbft möglich, der Rechtöftant? Es muß eine zwin⸗
gende Macht errichtet werden, bie nichts anderes will und wollen
Tann als den Rechtszweck, die Sicherheit des Rechtözuftandes, die
Sicherheit aller. Jeder Einzelne will feine eigene Sicherheit, er
will dieſe vor allem, er orbnet diefem feinem Privatzwedfe den
gemeinfamen Zweck unter. Darum barf die zwingende Macht
ober bie Gewalt niemald ein Privatwille fein, ſondern nur der
gemeinfame Wille. Diefen zu finden iſt die erfte Aufgabe. „Es
iſt die erfle Aufgabe des Staatsrechts und der ganzen Rechtsphi—
tofsphie, einen Willen zu.finden, von dem es fchlechthin unmög⸗
lich fei, daß er ein anderer fei als der gemeinfame Wille,” ober
was bafjelbe heißt: „einen Willen zu finden, in welchem Privat:
wille und gemeinfamer fonthetifc vereinigt feien**).”
Der gemeinfame Wille ift der übereinflimmende; die Weber
einſtimmung kann nur gefunden werden durch Uebereinfunft ober
Vertrag: es ift daher der Staatöbürgervertrag, der den gemeinfa=
men Willen findet und feftfielt. Diefe Feſtſtellung ift dad Ge
ſetz. Die Geſetzgebung hat zwei Aufgaben: die Feflfegung der
Rechte und gegenüber den Rechtäverlegunger? die Fefkfegung der
*) Ghenbafelbft. IL. $. 15. S. 145—149.
**) Ebendaſelbſt. III Gap. $. 16. IL. S. 151.
625
Strafe. Die Löſung ber erſten Aufgabe gefchieht in der bilrgers
lien, bie der zweiten in der peinlichen Gefehgebung *).
2%. Staatögewalt und Confitution.
Der gemeinfame Wille fei gefunden, das Geſetz fiche feſt;
es fol herrſchen, ber gemeinfame Wille foll die Gewalt haben.
Diefe Gewalt ift die Staatögewalt; fie führt die Gefege aus
d. h. fie regiert. Zur Ausführung der Gefege gehört 1) die
Macht, die Rechtsverletzung zu verhüten: bie Polizeigewalt,
2) die. Macht zu urtheilen, ob eine Rechtöverlegung ſtattgefunden
hat: die richterliche Gewalt, 3) die Macht, bad Unrecht zu ber
frofen: die Strafgewalt. Die Staatögewalt regiert, richtet
und fteaft; den Inbegriff diefer Befugnifle nennen wir bie Eres
tutive ober die Rechtsverwaltung **).
Nun hängt ber ganze Rechtözuftand davon ab, daß Macht
und Geſetz vollkommen eines find. Die Staatögewalt kann nur
gefegmäßig handeln. Was fie thut, iſt gefeblich; wenn die öf:
fentliche Gewalt felbft ungerecht handeln könnte, fo würde eben
dadurch die Ungerechtigkeit gefeßmäßig und der Rechtszuſtand un⸗
möglich. Within muß es unmöglich gemacht fein, daß fie unge
techt handelt; es muß ein Gefeh geben, welches die Rechtsver⸗
waltung feft an bad Geſetz bindet: ein Gefeh zur Sicherheit bed
Gefeges, zur Garantie, daß die Regierung nicht: gefegmibrig
handeln Tann. Dies Geſetz iſt das Fundamentalgeſetz des Stan»
te3 ober bad conftitutionelle***).
Wenn diejenigen, die dad Recht zu vertreten haben, thun
*) Ebenbafelbft, III. 8. 16, IH. ©, 152—158.
®*) Gbenbafelbft, IIT 8.16. IV. ©, 153— 155. Del, VIL
S. 166,
Ebendaſelbſt. M. 8.16. V. e. 155-167.
Bilder, Befhiäte ber Philofophie. V. 40
626
und laſſen Eönnen, mas fie wollen, fo ift Feine Sicherheit gege:
ben, daß fie. gefetmäßig handeln, daß fie niemald Unrecht thun.
Diefe Sicherheit ift nur dann vorhanden, wenn die Erecutoren
für ihre Handlungen Rechenſchaft ablegen mäffen oder verant⸗
wortlich find, Der Rechtöftaat ift bebingt durch bie Beraritwort:
lichkeit der Rechtsverwalter; ohne’ biefe Verantwortlichkeit giebt
es keinen Rechtsſtaat. Mithin ift eine Macht möthig, der fie ver-
antwortlich find, die dad Recht, die Erecutoten zur Rechenfchaft
zu ziehen, und damit bie Aufgabe hat, die Rechtsverwaltung zu
beauffichtigen: eine beauffichtigende Macht ober ein Epherat.
Wenn Erecutive und Ephorat zufanmmenfallen, fo giebt es Fein
Ephorat. Within müffen beide Mächte getrennt fein: in diefer
Trennung beſteht die conftitutionelle Bedingung, vor ber bie
Möglichkeit des Rechtsſtaats abhängt. Wie aber fol die Execu⸗
tive und wie bad Eyhorat gebildet werden *)?
3. Bildung der Executive. Die Staatäformen.
Eined leuchtet fogleich ein. Da Executive und Ephorat nie
zufammenfallen bürfen, weil fonft Ricyter und Partei eine Per:
ſon waren, fo fann. in feinem Fall die Gemeinde felbft (Alle) die
Ererutive führen. Wenn bie Gemeinde felbft dad Recht verwaltet
und Unrecht thut, wer fol fie richten? Außer ihr giebt eö Zeinen
Richter; ed giebt niemand, der fie zur Verantwortung ziehen
tönnte, fie iſt darum unverantwortlich, Unverantwortlich vegiexen,
heißt deöpotifch regieren. Regiert bie Gemeinde ſelbſt, fo haben
wir bie Demokratie; die demokratiſche Verfaſſung ift nothwendig
despotifch, fie ift unter allen Verfaſſungen die allerunficherfte, fie
ift nicht bloß unpolitiſch, ſondern ſchlechterdings redhtäwidrig **).
*) Ghenbafelbft. IL. 8. 16. VI. ©. 157—160.
**) Ebendaſelbſt III. 8.16. VI. 6, 158-— 160.
627
Die Ererutive Tann daher niemald bei der Gemeine felbft
fein, weil dadurch die Möglichkeit des Ephorats ausgeſchloſſen
wäre, Alſo kann fie nur audgelibt werben buch Vertreter ber
Gemeine d. h. durch Repräfentanten, Diefe Vertretung erlaubt
verfchiedene Formen, Entweder ift der mit der Staatsgewalt
bekleidete Repräfentant Einer oder eine Koörperſchaft: im erften
Gall ift die Verfaffung monarchifch, im zweiten republikaniſch.
Die vegierende Körperfchaft wird entweder durchgängig gemählt
oder ergänzt fich durchgängig durch Cooptation oder bildet ſich
zum Theil durch Wahl, zum Theil durch Eooptation: Im erſten
Fall haben wir die reine (vechtmäßige) Demokratie, im zweiten
die reine Ariſtokratie, im britten eine aus beiden gemiſchte Form
(Asiflo- Demokratie). Entweder wird der Repräfentaut geboren
oder gewählt; wird er gewählt, fo haben wir ein Wahlreich, das
entweder unbefchränft oder befchränkt if. Es giebt eigentlich nur
eine wirkliche Schranke: die Geburt, If dad Wahlrecht bedingt
durch die Geburt, fo haben wir die erbliche Ariftofratie; wird der
Repräfentant geboren, fo haben wir die erbliche Monarchie oder
die Adelsherrſchaft (dad Patriciat); beides vereinigt ſich in der feu⸗
dalen Monarchie, in welcher bie oberfte Gewalt bei dem erblichen
König und die höchſten Staatsämter bei dem Geburtdabel find,
Me Berfaffungen find rechtmäßig unter der Bedingung des
Ephorats, alle find vechtäwibrig (deöpotifch) ohne dieſe Bedingung.
Unter den rechtswidrigen kann man nur noch fragen, welche am
wenigften zweckwidrig iſt? Offenbar die, in welcher die Regen»
ten, wenn fie ungerecht handeln, am meiften zu fürchten haben;
das ſind bie erblichen Gewalthaber, bie für ihre Nachkommen bes
forgt fein müffen und bei denen daher das eigene Intereffe, wenn
fie es richtig verflehen, ein Palliativmittel bed Ephorats bildet”).
*) Ghenbefelbft, III. 8. 16, VL 6.161163,
40*
628
Mit der Executive ift die gefeßmäßige Staatsgewalt conſti⸗
tuirt. Ihre Träger find Repräfentanten der Gemeine, ihre
Macht daher Feine urfprüngliche, fondern eine fibertragene, ge
gründet auf den befonderen Webertragungscontract, der als confli-
tutionelles Geſetz die abſolute Uebereinftimmung aller Staatsbür⸗
ger fordert. Handelt es ſich um die Feſtſtellung des gemeinſamen
Willens, fo iſt nie die Majorität, ſondern nur die vollkommene
Einſtimmigkeit deren rechtögültiger Ausbrud, Die Nictüberein
flimmenben müffen entweder der Majorität beipflichten, wodurch
bie Einftimmigkeit entfleht, ober fie Bönnen in einem Staat, mit
deffen Grundlagen fie nicht einverftanden find, nicht leben ).
IA die Staatsgewalt feftgeftelt, fo tepräfentirt fie den ge
meinfamen Willen, Im Unterfchiebe davon if jeber andere Wille
Privatwille, ber fich dem gemeinfamen ſchlechterdings unterzuorbs
nen hat; ber Staatögewalt gegenüber find die anderen Bürger
nur ein Aggregat von Unterthanen, Feine Gemeine, kein Bolt;
denn fle find Gemeine nur als gemeinfamer Wille, und biefer ift
allein in der Staatögewalt rechtsgültig repräfentirt, nicht in der
Summe ber einzelnen Bürger,
Die Staatögewalt ift nicht Privatwille; ihre Handlungen has
ben Beine Privatzwecke; ihre Träger müffen von Privatzweden und
Privatperfonen unabhängig und deshalb fo geſtellt fein, daß ihre
perſonliche Unabhängigkeit vollkommen gefichert iſt. Alle Aeußerun⸗
gen der Staatsgewalt ſollen mit dem Geſetz, alſo auch unter ſich
übereinftimmen, jeder Bürger von dieſer Geſetzmaͤßigkeit und Ueber:
einftimmung aller Regierungshandlungen überzeugt fein konnen:
was bie Regierung thut, muß daher der öffentlichen Beurtheilung
ausgeſetzt fein und deshalb ben Charakter voller Publicktät haben**).
*) Ebenbafelöft. III. 8.16. VII. S. 164 fig.
**) Ebendaſelbſt. II. $. 16. VIIL S. 1866-68,
629
Wenn num aber die Staatögewalt felbft das Recht verlekt,
fei es daß fie in einem beflimmten Falle dad Geſetz nicht ausübt
ober felbft geſetzwidrig handelt, fo ift dadurch die Einftimmigkeit
ihrer Handlungen und damit die Gerechtigkeit felbft aufgehoben,
nicht bloß für diefen, ſondern für alle Fälle, die vorhergehenden
und fünftigen. Es giebt Feine Gerechtigkeit mehr. Es ift auch
Feine Möglichkeit vorhanden, für den einzelnen Fall an.eine höhere
Inftanz zu appelliren, denn es giebt feine höhere Inſtanz, weil
es Beine höhere Staatögewalt geben Tann ald die höchfte. Ihre
Rechtöfpräche find inappellabel *).
4 Bildung ver Ephorats.
Hier entſteht die Frage: was ſichert uns die durchgängige
Geſetzmaßigkeit aller Handlungen der Staatsgewalt? Da es im
Reiche ber Möglichkeit liegt, daß fie Unrecht thut, fo muß in
ber Verfaffung bed Staats ein Zwangsgeſetz gegen dad mögliche
Unrecht ber Staatögewalt enthalten fein, ein Geſetz, das felbft
conftitutioneller Natur ifl, Was für ein Geſetz erfüllt diefe Bes
dingung ?
Die Staatögewalt ift fir ihre Handlungen zwar in jedem
einzelnen Falle inappellabel, aber für ihre Handlungsweife übers
haupt nicht unverantwortlih; fie muß zur Rechenfchaft gezogen,
verantwortlich gemacht,. gerichtet werden können. Aber. wer fol
fie richten? Offenbar nicht fie felbft fich ſelbſt; fonft wäre Rich:
ter und Partei eine Perfon. Auch nicht der Einzelne als folcher,
denn er ift Unterthan der Staatögewalt; alfo nur bie Gemeine.
Nun giebt ed feinen anderen gemeinfamen Willen, als ben in
der Staatögewalt bargeftellten, es giebt biefer gegenüber Beine
Gemeine. Wie fol die Gemeine fie richten können? Um zu
*) Ebendaſelbſt. III. 8.16. IX. S. 168—69,
630
richten, muß fie fi verfammeln, Wer fol fie zufammenberufen
dürfen? Hier liegt die Schwierigkeit. ‚
Nur das Geſetz felbft kann ed thun, das Staatsgrundgeſetz.
Es muß daher in der Gonftitution der Fall vorgefehen unb, wenn
er eintritt, die Gemeine befugt fein, als folche zu handeln. Die
Conſtitution könnte deßhalb die Beſtimmung getroffen haben, daß
fih von Zeit zu Zeit die Gemeine verfammeln folle, um bie
Rechenſchaft der Regierung abzunehmen. Aber ed wäre nicht
zwedimäßig, die Gemeine ohne Noth zu verfammeln. Die Eon
flitution wird daher die Verfammlung der Gemeine nur für den
Fall der Noth beftimmt haben. Der Fall der Noth ift die Un:
gerechtigfeit der Regierung. Fir diefen Fall wird bie Gemeine
verfammelt, um die Staatögemalt zu richten.
Aber vorher muß geurtheilt werden, daß der Fall der Noth
wirklich eingetreten ift. Wer fol die Macht haben, dieſes Ur:
theil zu fprechen? Nicht die Gemeine felbft, da fie erft durch ein
folches Urtheil als Gemeine zufammentreten und handeln darf;
noch weniger bie Staatsgewalt ober beliebige einzelne Perfonen.
Alfo ift zu diefem Zweck eine befondere, durch die Conſtitution
beſtimmte Macht nöthig, welche dad Amt hat, die Sitaatögewalt
zu beauffichtigen, ihre Hanblungsweife zu beurtheilen, ben Fall
der Noth zu erkennen, in diefem Fall die Gemeine zufammen zu
rufen. Diefe Macht ift dad Ephorat*).
5. Dad Staatsinterdiet.
Das Ephorat iſt ald ſolches von der Staatsgewalt vollkom:
men unabhängig, beide Gemwalten find getrennt, das Ephorat
daher gar nicht erecutiv, fonbern nur prohibitio, nicht pofitio,
fondern nur negativ, ähnlich wie bie römifchen Volkstribuuen.
*) Ebenbafelbt, IIL 8. 16. IX. 6, 19-171, .
Es extlart: bie Regierung. hat ungerecht. gehandelt; da mm die
ganze Rechtögültigkeit der Staatögewalt in der Geſetzmaßigkeit
aller ihrer Handlungen befteht, fo ift die (für ungerecht befun-
dene) Staatsgewalt aufgeheben und. feine ihrer Hanbluugen mehr
gültig. Die Macht des Ephorats ift nur prohibitiv, aber abſo⸗
lut prohibitio: ihr Spruch ift das Staatsinterdiet ).
Auf diefen Spruch tritt bie Gemeine zufammen. Der Pros
ceß wird inſtruirt; die Ephoren find bie Kläger, die Staatöger
walt ift im Anklagezuftand, bie Gemeine ift Richter. Wird bie
Staatsgewalt freigefprochen, fo find bie Ephoren ſchuldig, dad
Gemeinweſen durch Aufhebung des ganzen Mechtöganges in eine
große Gefahr gebracht zu haben. Im ſolchen Fällen ift auch der
Irrtum ein Öffentliches Verbrechen; der Schulbige in diefem
Fall hat ben Staat gefährdet, feine Schuld ift Hochverrath**).
Die Ephoren felbft müffen in ihrer perfönlihen Stellung
unabhängig fein von allen beſtechlichen Einflüffen der Staatsge⸗
walt und abfolut unverlegbar für jeden. Sie find ſacroſanct;
ihre Verlegung ift Hochverrath; fie werben ernannt nicht durch
die Staatögewalt, fondern durch bas Volk; fie haben ihre
Macht nicht tebenslänglich, und jeder Ausſcheidende ift feinem
Nachfolger Rechenſchaft ſchuldig über feine Amtsführung. CB
müßten daher alle Ephoren beftechlich fein, wenn einer es if,
Darum ift die letzte Gefahr, die es für die öffentliche Sicherheit
giebt, fo gut als undenkbar: daß fich mämlic die Erecutpren und
Ephoren zur Unterdrückung des Volkes vereinigen. Sollte des
aͤußerſte Fall eintreten, fo wird entweder dad Volk fich aus freien
Stüden erheben umd der öffentlichen Ungerechtigkeit .ein "Ende
machen, ‚ober Einzelne werben eine Mebellion verfuchen, von der
*), Eendaſelbſt. ILL. $. 16. IX. S. 172,
**) Ehenbafelbft. III. &. 16. IX. 8.172177,
682
ren Ausgange ed abhängt, ob bad Recht die Macht haben foll
oder nicht*).
Die hier entwickelte Staatsordnung hat Beinen anderen Zweck,
als den Rechtöweg zu fichern. Ie vorfichtiger für alle Fälle die
Sicherheitdanftalten getroffen find, um fo weniger wird es nöthig
fein fie zu brauchen. Das formulirte Geſetz nöthigt die Men:
ſchen, bedächtig zu handeln und fich nach ber Formel zu. richten,
wodurch man am ficherften ift, Fein Unrecht zu thun. Eben def:
halb „ift die Formel eine der größten Wohlthaten für den Men:
ſchen“. Wo biefe Anftalten getroffen find, find fie überflüffig,
und nur da, wo fie nicht find, wären fie nöthig **).
I.
Die Gründung bed Staates:
1. Der Eigenthumdvertrag.
Es ift nicht genug zu fagen, daß ber Rechtsſtaat fich auf
den Staatöbürgervertrag gründet; ed muß gezeigt werden, wie
der Staat aus dem Bertrage hervorgeht und aus welchem? Alle
Rechtsgemeinſchaft fordert die gegenfeitige Anerkennung ber Per⸗
fonen in der wechfelfeitigen Ausſchließung ihrer Freiheitöfphären.
Da fi die perfönlichen Willendgebiete wechelfeitig anerfennen
und ausſchließen follen, fo liegt darin, daß fie auch in einander
gerathen und fich gegenfeitig flören können. Sie können ed, aber
wollen es nicht; fie wollen fich gegenfeitig.nicht bekämpfen, ‚fon
bern vertragen, alfo jeden Streit, in welchem verfchiedene Per:
fonen biefelben Objecte beanſpruchen, gütlich beilegen. Diefe
Abficht ift den Perfonen gemeinfam, fonft wäre eine Rechtöge-
meinfchaft nicht möglich; Iſt der Vertrag gefchtoffen, fo ſind
*) Cbendaſelbſt. II. 8.16. X—XIU. 6, 177—184,
**) Ebendaſelbſt. IT. Kl 16. XV. S. 185—187,
683
dadurch die verſchiedenen Willen in Rüdficht ſowohl der Form
ald der Materie (der Objecte) wirklich geeinigt: wir haben ben
formaliter und materialiter gemeinfamen Willen. Diefer Wille
erſtreckt fich weiter als ber Privatzweck des Einzelnen. Ich will
nicht bloß dad Meinige; ich verpflichte mich zugleich, das des
Anderen nicht zu wollen, nicht zu begehren; mein Wille erſtreckt
fi demnach mit auf die fremde Freiheitöfphäre, aber nur nega⸗
ti0, Wenn ic) ben Vertrag einmal verlehe, fo habe ich ihm to⸗
tal verlegt; er ift fo gut als vernichtet. Der Vertrag muß daher
dauernd fein oder ald Geſetz gelten”).
Der Vertrag loſt die möglichen (bon der Natur keineswegs
auögefehloffenen) Streitigkeiten der Perfonen und dringt dadurch
itre verfehiebenen Sreibeitäfphären in das richtige, Durch den ges
meinfamen Willen felbft feſtgeſetzte Werhältnig. Der Streit
entſteht durch Anfpruch verfchiedener Perfonen auf biefelben Ob:
jete. Das fireitige Object kann nicht der Leib fein, niemand
kann ben Leib des Anderen ald ben feinigen beanfpruchen; Ob⸗
jet des Streites find daher nur Sachen, und ber darauf bezügs
liche Vertrag iſt Eigenthumsvertrag. Ohne Eigenthumsvertrag
keine Rechtögemeinfchaft, Fein Staat, alfo auch fein Staatsbür⸗
gerertrag. Der Eigenthumsvertrag ift daher ber erfle Theil
oder die erfle Bedingung bed Stantöbürgernertrages**).
Diefer Satz enthält ſchon alle die Folgerimgen in fich, wel:
de den eigenthümlich focialiftifehen Charakter ber fichte ſchen
Politik ausmachen. Wenn nämlich der Eigenthumövertrag bie
erſte Bedingung bed Staatöblirgervertrageö bilbet, fo können nur
*) Grundlage bes Naturrechts. Bmeiter Theil oder angewanbtes
Naturtecht. 1797. (. W. I Abt), A.I Bd.) J Abſchn. . 17. A. 6.191
—194,
**) Ebendaſelbſt. J. $. 17. B. &,195—196.
854
Eigentkämer Gtuatöblirger werben, fo maiffen alle Stantähärger
Eigenthümer fein, und da feine Parfon von ber Rechtsgemeinſchaft
und vom Staatörecht ausgeſchloſſen fein darf, fa muß jede Per
fon Eigenthum haben. Da ferner der Staat für die Sicherheit
des Rethtözuflandes zu forgen hat, biefe Sicherheit aber baten
obhängt, daß jeder das Eigenthum des Anderen anerkennt unter
der Bedingung, daß auch das. feinige anerfannt wird, abfe unter
der Bedingung, daß auch er Eigenthämer iſtz ſo Tolgt, daß ber
Staat baflir forgen muß, daß jeder Eigentum hat.
2. Der Shug- und Vereimigungsvertrag:
In dem Eigenthunsoettrage werpflichtet fid bie Derfon bloß,
das fremde Eigenthum nicht antaften zu wollen, unter der immer
boranögefeßten unb felbfiverfkänblichen Bedingung, daß much bad
ihrige nicht angetaftet wird; ihr Wille in Kückſicht auf das fremde
Eigenthum iſt vermöge diefed Vertrages bloß negativ. Das ift
nit genug. Das Eigentum jedes Einzelnen farm verlegt wer
ben; bie Verlegung hebt den ganzen Vertrag und. damit das
Eigenthum felbft auf. Soll alfo der Eigenthumsvertrag gelten,
fo ift zu feiner Sicherung ein zweiter Vertrag wöthig, welcher
bie zweite Bebingung des Staatsbürgervertrages ausmacht: ber
Schutzverttag. Ich verpflichte mich, das Eigenthum des Anbes
ven nicht bloß nicht angreifen, fanbern gegen jede Verletzung
fügen und vertheidigen zu wollen ;- bie Leiflung, zu welcher der
Eigenthumsvertrag mich verbindet, war nur negativ; Die des
Schufwertrages ift pofitio*).
‚Hier entfteht eine Schwierigkeit. Wie ift die Rechtöbegrün-
dung des Schutzvertrages möglih? Die Leiftung ift bedingt
durch die Gegenleiftung; fie wird erft Durch dieſe rechtlich begrfin-
y Ebendaſelbſt. L-$. 17. B. 6.197198,
53
det. Wie kann eine poſitive Leiſtung rechtlich begründet werben ?
Die Gegenſeitigkeit macht auf jeder Seite die Berpflichtung zur
Leiſtung problematifch. Jeder ſagt: ich brauche erſt zu leiften,
wenn der Andere geleiſtet hat. So ſetzt die Beiftung auf jeder -
Seite ſich felbft voraus. Im Vertrage verſpreche ich die Leiſtung;
rechtöfräftig und bindend wird der Vertrag durch die Erfüllung
bed Verſprechens; iſt diefe Erfüllung (eiftung) eine fünftige, fo
ift der ganze Vertrag problematifch.
Nun darf der Schugvertrag nicht problematiſch fein, denn
fonft wäre ed aud) .der Gigenthumdvertiag. Es giebt nur eine
Bedingung, unter der er. aufhört problematiſch zu fein: wenn
die Erfüllung nicht. in bie Zufunft geftellt bleibt, fonbern mit
dem Berfprechen felbft in einen Act zufommenfällt. Die Cm
trahenten im Schutzvertrage geben ihr Verſprechen und erfüllen es
zugleich, indem fie eine ſchücdende Macht errichten helfen welche
im Stande ift, die Eigenthumsrechte jedes Einzelnen zu fihern. -
Diefe Macht. ifi der Staat. Der Schutzvertrag iſt nur dann
rechtskraftig und rechtsgultig, wenn jeder Contrahent můt dieſem
Bertrage zugleich in den Staat eintritt oder, was daſſelbe heißt,
Staatsbürger wird. Dadurch thut jeder dad Seinige, um deu
Andern zu fchügens beide begeben ſich unter eine gemeinfame
Schutzmacht. Wer iſt jetzt der Bufchligende? Wer hat den er»
ſt en Anſpruch auf den Beiſtand jener Schutzmacht? Offendat
nicht dieſe oder jene beſtimmte Perſon, ſondern wer zuerſt in ſei⸗
nem Rechte verletzt wird. Und weil ein ſolcher Angriff, je den
treffen ann, fo find alle auf gleiche Weiſe Gegenſtand der
Schutzmacht, d.h; jebe einzelne Perfon nicht als ſolche, ſondern)
ald Glied des in jener gemenfamen Macht vereinigten Ganzen,
Vie der Eigenthumvertrag zu feiner Aufrechthaltung ben Schub:
vertrag fordert,. fo fordert dieſer ‚zu feiner- Geltung ben Verei⸗
63%
nigungdvertrag, der bie Einzelnen zu Gliedern eines Gan-
zen macht und dadurch beri gemeinfamen Willen in ein Gemein-
weſen oder einen Staat verwandelt. So vollendet und erfüllt
ſich in diefen beiden Bedingungen des Eigenthumd= und Schug-
(Bereinigungö)vertraged der Staatsburgervertragꝰ).
3. Verhältniß ded Einzelnen zum Staat”).
Der Einzelne leiftet dem Staat, was er ihm ſchuldig iſt;
er giebt feinen Beitrag und begründet dadurch feinen rechtsgülti⸗
gen Anfpruch auf den Schuß des Staates für fein ganzes Eigen:
thum, für ben ganzen Umfang feiner perfönlichen Freiheitsſphäre.
Die bürgerlichen Pflichten und Rechte ſtehen in Wechſelwirkung
und bedingen fich gegenfeitig.
Hieraus erhellt das dreifache Verhältniß des Einzelnen zum
Staat: er ift durch die Erfüllung feiner bürgerlichen Pflichten
Glied des Staats, Miterhalter des Ganzen, Theilhaber an ber
Souverämetät; er ift in feinen Rechten durch die Macht des Ge—
ſetzes gefichert ſowohl ald befchränft; überfchreitet er feine Rechte,
verlegt er feine Pflichten, fo tritt ihm das Geſetz als richtende
Macht gegenüber, er. wird dem Gefeg unterworfen, und zwar
kraft des Vereinigungsvertrages, ber den Unterwerfungdvertrag
einſchließt. So iſt das Individuum innerhalb des Staates Theil⸗
haber an der Souveränetät, fo weit es feine Pflichten erfüllt,
und Unterthan im eigentlichen. Verſtande, fobald es feine Pflich-
ten verleht. :
Aber dad Individuum ift nicht bloß Glied des Staats; es
gehört in den Staat nur mit. einem: Theil feiner Freiheitsſphäre,
denn nur auf gewiffe Leiſtungen hat der. Staat rechtögültigen
*) Ebendaſelbſt. L 8.17. B. S. 198— 204,
*) Ebendaſelbſt. L 8. 17. B. S. 204-209.
637
Anſpruch; außerhalb derfelben ift das Individuum frei und nur
von ſich felbft abhängig. Hier ift die Grenze zwilchen Menſch
und Bürger, zwifchen Menfchheit und Bürgerthum: die menſch⸗
liche und perfönliche Freiheit umfaßt mehr als bloß dad Gebiet
der bürgerlichen Rechte und Pflichten; der Staat hat die Pflicht,
die Perfon in dem ganzen Umfange ihrer Freiheit zu fchügen, aber
die Freiheit fällt nicht ihrem ganzen Umfange nad) in den Staat.
Zehntes Kapitel.
Die Politik anf Grund des Naturrechtes.
Die Gefegebung und der geſchloſſene Handelsftaat.
I
Die Eivilgefeggebung.
1. Das Recht leben zu fönnen.
Dad Princip des Selbftbewußtfeind fordert die Rechtöge:
meinſchaft, diefe fordert zu ihrer Verwirklichung den Staat und
diefer zur Sicherung der Öffentlichen Gerechtigkeit die verant-
wortliche Staatögewalt d. h. die Bildung der Erecutive und des
Ephorats und die Trennung beider. Darin befteht die beftimmte
Staatdordnung, deren Grundlage beftimmte Verträge auömachen.
So weit ift die Rechtölehre entwickelt. Aber es ift nicht genug
zu fagen, daß im Staat die Gefege herrſchen; ed muß gezeigt
werben, welcher Art die Gefege find, deren Herrfchaft den Rechts:
flaat ausmacht. Es ift nicht genug, die Sicherheit der Gefeheö-
hertſchaft in einer beflimmten Staatöform zu fordern; ed muß
gezeigt werben, mit welchen Mitteln diefe Sicherheit wirklich er-
reicht wird. Es handelt ſich in der Löfung biefer Fragen um die
Anwendung bed Naturrechts d. h. um die auf dad Naturrecht ge
gründete Politik.
Was der Staat fehügen foll, find die durch ben Eigenthumds
63
vertrag · feſigeſetzten, im Staatsburgervertrage beflätigten Rechtt
der Einzelnen. Das feftgefegte und beſtätigte Recht iſt Geſetz; das
Geſetz, welches die Grenzen des Mein und Dein feſtſtellt, iſt das
Civilgeſetz. Worin beſtehen bie zu ſchuüthenden Eigenthumsrechte?
Alles Eigenthum if anerkannter Beſitz; aller Beſitz beſteht
in dem ausſchließeaden Gebrauche gewiſſer Objerte, alſo in einer
durch Zwece beſtimmten Thatigkeit, die jede fremde Einmiſchung
ausfchließt. Nun geht jede durch Zwecke beſtimmte Thätigfeit
von der Gegenwart in die Zukunft. Ohne Biel (d. h. Zufmft)
feine gegenwärtige Thätigkeit, ohne dieſe keine künftige, keine
Erreichung des Zield. Alle Thatigkeit mithin if bedingt durch
einen in die Zukunft gerichteten Willen, der nicht:möglich.ift ohne
den gegenmärtigen. Wunſch nach Fortdauer. Segen wir die Fort
bauer als gefiährbet, ſo iſt das Lehemögefühl geheunnt; das Ge:
fühl dieſer Hemmung iſt Schmerz, Gefühl des Mangels, Bes
durfniß, Lebensbedürfniß, dad enpfunden witb als Hunger und
Durſt. Det Wanſch nach Fortdauer.ift zunachſt der Trieb, dies
Bedurfnißz zu befriedigen, der Trieb, legen zu Böanen, der
Nohrungstrieb: die erfle und urfprünglice Triebfeder unſerer
Thatigkeit. Jeder will leben können; bie Objecte, um leben zu
Tönnen,. ſind die Lebensmittel; jeber will die zu feiner Erhaltung
nothigen Lebenämittel haben, und da aller Beſit durch die eigene
Thatigkeit bedingt if, fo will jeder durch jeine Thatigkeit ſich
die näthigen Lebensmittel verſchaffen aber, was daßſelbe beißt,
von feine Arbeit leben Können”). ‘
Die Möghehleit, fein leibliches Daſein fett au erhalten,
if offenbar die erfte Bedingung.heh perſonlichen Daſeins in deu
Einnenwelt und ber Fortbawer heffeiben, alſo ein Urrecht der
*) Ebendeſelbſt. N Wehen. & 18. & 210-218,
0
Perfon: das erfle aller Urrechte, ein nothwenbig anzuerkennendes,
zu beflätigenbeö, zu fligendes Recht.
% Das Recht auf Arbeit.
Wenn jemand nicht fo viel hat, um leben zu Fönnen, fo
bat er nicht, was er zu haben berechtigt iſt; er hat das Seinige
wicht. Er anerkennt das fremde Eigenthum unter der Bebingung,
daß auch das feinige anerkannt wird; nun befigt er nichts; alfo
fehlt materiell die Bedingung, unter weldyer feine Anerkennung
erfolgt und nach dem Rechtsſatz allein beanfprucht werden barf.
Bo bleibt ihm gegenüber die Sicherheit des fremden Eigentums?
Wo bleibt, wenn auch nur Einer Noth leidet, die Sicherheit
Aller? Der Nothftand ift eine Sicherheitsfrage. Der Staat
fol für die. Sicherheit ſorgen; alfo darf er Feinen Nothſtand dul⸗
den®),
Es darf im Staate Beinen geben, der nicht von feiner Ar
beit lebt und leben Tann, weber Müffiggämger nach Nothleidende,
Mithin muß der Staat dad Recht haben, die Datigkeit ber
Einzeinen zu beauffichtigen, um ben Müffiggang zu verhindern,
und bie Macht, Unterfiügumgsanftalten zu gründen, um ben Ar
men zu helfen. Unterftügungsanftalten find Sicherheitsanftalten.
Iedem Gliede des Staats ift das Recht, eine Perfon zu fein (Ur
vecht) gewährleiftet, alfo in erfler Linie das Recht, leben zu
trmen: „baher hat der Arme ein abfolutes Zwangsrecht auf Un»
terflügung.” Jeder ſoll von feiner Arbeit leben können: mithin
hat jedes Mitglied des Staats (nicht. bloß die Pflicht zur, fon
bern) auch dad Recht auf Arbeit.
Es wird daher die bürgerliche Gefekgebung fo eingerichtet
fein müffen, daß der Staat diefe Aufgaben löfen, biefe Bedin⸗
Tr) Erendaſelbſt. IL. 8.18, &, 212-218,
64
gungen erfüllen, jebem feiner Bürger dad Recht auf Arbeit und
Eigentum fihern kann. Diefer Geſichtspunkt macht den fichte“
ſchen Staat focialiftifch und hat unter anderem auch die Theo-
tie des gefchloffenen Handelsſtaats zu feiner Folge.
Die erſte Aufgabe des Staats ift bedingt durch das erfte
aller Urrechte: er foll jedem das Necht fichern, durch feine Arbeit
leben zu können. Diefe erfte Aufgabe und ihre Löſung ift durchs
aus focialötonomifh. Der Staat hat dafür zu forgen, daß
1) die zum Lebensbedürfniß nöthigen Objecte in einer der Anzahl
der Bürger entfprechenden Menge durch Arbeit erzeugt werben,
2) daß jeder durch feine Arbeit erwerben kann, was er braucht,
35. Die dffentlihen Arbeitözmweige.
Die nächften für das Lebensbedurfniß nothwendigen Objecte
find Erzeugniffe der Natur, die durch menfchliche Arbeit hervor
gebracht werben müſſen: die erfte und wichtigfte Arbeit ift daher
die natürliche Production; die zweite Aufgabe ift die durch bie
menfchlichen Lebenszwecke geforderte Verarbeitung der Naturpro=
ducte (des Rohftoffs): die technifche Arbeit, deren Ergebniß das
Kunftproduct ober Fabrikat iſtz jeder muß durch feine Arbeit er=
werben können, was er braucht, der Producent die ihm nöthigen
Fabrikate, der technifche Arbeiter die ihm nöthigen Naturproducte
(Lebensmittel) ; die dritte Aufgabe ift daher, daß Producte und
Fabrikate gegen einander umgetaufcht werben: bie Arbeit, welche
diefen Tauſch vermittelt, iſt der Handel. Mithin fordert der Staat
zur Löſung feiner öfonomifchen Aufgabe drei öffentliche Arbeits
äweige: natürliche Production, Fabrikation, Handel; er fordert
dem gemäß drei Arbeitöftände: Probucenten, Fabrikanten, Kauf
leute”).
*) Ebendaſelbſt. IL. 8. 19. A-E. & 217—237,
Sifer, Geſqhicte der Phllofophie V. 4
642
4. Die natürlige Production.
(Aderban und Bergbau, Biehzucht und Jagd.)
Die natürlihe Production bezieht fih auf Minerale,
Pflanzen und Thiere. Die beiden erften Reiche gehören dem
Boden an. Der Gegenftand der natürlichen Production ift Daher
1) Grund und Boden, 2) die Thiere; in der erſten Rückſicht ift
die Arbeit der natürlichen Production Aderbau und Bergbau, in
der zweiten Viehzucht und Jagd. Aderbau und Viehzucht haben
es mit der Eultur der Objecte zu thun, mit dem Anbau des Bo-
dens, mit der Zähmung, Pflege und dem Gebrauch der Thiere.
Bergbau und Jagd Fönnen ihre Objecte nicht durch Eultur erzeu⸗
gen, ſondern haben fie zu finden; der Bergbau die Minerale, um
fie an die Oberwelt zu fchaffen, wo fie dann weiter für menſch⸗
liche Lebenszwecke nugbar gemacht werden; bie Jagd die wilden
Thiere, um fie zu vernichten und durch ihre Vernichtung theils
dem Aderbau zu nügen, dem diefe Thiere ſchaden, theild ein
Material zu liefern, welches für menfchlice Lebenszwecke weiter
nugbar gemacht werden kann.
Was die Perfon erarbeitet, ift ihr Product, ihr Beſitz und
durch die Anerkennung von Seiten des Geſetzes ihr Eigenthum.
Alle natürlichen Probucte, die durch Cultur (ded Bodens und
der Thiere) gewonnen werden, fallen in den perfönlichen Beſitz
und können daher gefegmäßiges Privateigentyum fein. Anders
verhält es ſich mit den Dingen, welche die Natur allein produs
cirt und die nur zu finden find. Es liegt in den Bedingungen
des Bergbaued, daß er mit den vereinigten Kräften und Mitteln
einer fortdauernden Gefellfchaft beffer und zweckmaͤßiger betrieben
werden Tann, als durch den Einzelnen; daß daher am beften der
Staat den Bergbau beforgen wird und die Producte deſſelben
643
Staatseigenthum ober natürliches Regal find. Die Geſetzgebung
bat hier im Einzelnen die Grenzen zu beftimmen zwiſchen Res
gal und Privatbefig. Es liegt in ber Natur der Jagd, deren
nächfter Zweck die Sicherung des Aderbaues ift, daß ihre Arbeit
dem zur Laft fällt, der die öffentliche Sicherheit zu beforgen hat,
alfo der Obrigkeit; da aber das erlegte Wild zugleich Vortheile
gewährt, auf welche die Obrigkeit Teinen Anfpruch hat und die
Privateigenthum fein können, fo muß bie Obrigkeit die Jagdge⸗
tehtigfeit an Privatperfonen veräußern und zu diefem Zweck bad
äußere Gebiet derfelben in einzelne Reviere einteilen. Auch hier
wird die Geſetzgebung zu beflimmen haben, wie weit die natür⸗
liche Jagdgerechtigkeit des Landeigenthümers reicht.
Die Producte des Aderbaues und der Viehzucht fallen in
den Privatbefig; das Culturland und die zahmen Thiere können
und müſſen Privateigenthum fein, fo weit der Staat keinen An-
ſptuch darauf hat. Alles Eigenthum, welches erft durch den
Staat gefichert und damit rechtögültig wird, ift dem Staäte ver-
pflichtet; diefer hat daher Anfpruc auf einen Theil des Eigen-
thums, auf einen Theil der Producte. Cine gewiſſe Abgabe ift
der Eigentümer dem Staate ſchuldig und leiftet fie zunächft in
Probucten oder Naturalien felbft. Nach diefem Abzug iſt das
Uebrige abfolutes Privateigenthum *).
5. Die Fabrikation (Zünfte).
Die Verarbeitung ber Naturproducte zum Dienfte der menſch⸗
lichen Lebenszwede ift die Aufgabe der Techniker oder Künſtler,
wie fie Fichte im weiteften Sinne des Wortd nennt, Die öffent:
liche Arbeit ift notwendig geteilt; nur ein beflimmter Theil
der Bürger ift zur Fabrikation ausſchließend berechtigt und
**) Ghenbafelbft, IL. 8. 19. A—C. 6. 217231.
41*
644
bildet daher einen gefchloffenen Arbeitöftand oder eine Zunft. Da
nun bie Fabrifation felbft wieder in fo viele verfchiedene Arbeits:
zweige fich theilt, fo bilden die Fabrikanten fo viele verfchiedene
Bünfte. Die Gewerbefreiheit ift damit auögefchloffen. Nur biefe
Bürger haben dad Recht, biefe beflimmten Fabrikate zu machen;
nur von ihnen bürfen bie anderen Bürger diefe Fabrikate kaufen.
Der Staat wird daher Sorge tragen müffen, daß die gelieferten
Arbeiten gut, die Fabrikanten alfo zu ihrer Arbeit nicht bloß berech⸗
tigt, ſondern auch befähigt find; er wird mithin bad Recht dazu
nicht ohne Prüfung erteilen bürfen. Zu diefer Prüfung find ber
flimmte Regierungscollegien nöthig, die am beften mit den Zünfs
ten felbft zufammenfallen *).
6. Der Handel.
Der Fabritant muß von feiner Arbeit leben können. Dazu
braucht er Naturprobucte und muß diefe daher buch feine Fa⸗
brifate erwerben können. So ift der Tauſch zwifchen Natur:
producten und Fabrikaten nothwendig. Was ift zu biefem Tauſche
nothwendig? Offenbar vor allem fo viele Naturproducte, daß da⸗
von die Fabrifanten auch leben können: die Zahl der Fabrifanten
ift demnach bedingt durch die der Producenten und durch die Maffe
der innerhalb des Staats erzeugten Producte. Auch muß bet
Tauſch in jedem Augenblicke ftattfinden Fönnen; daher ift ein fort-
währender, ununterbrochener Umtaufch nothwendig, ber die be
ſondere Arbeit der Kaufleute erfordert. Nur diefe find zu dieſer
Arbeit berechtigt, nur fie Dürfen Producte und Fabrikate kaufen und
verkaufen und müffen von diefer ihrer Arbeit leben können: ihre Zahl
ift daher abhängig von der Zahl der Probucenten und Fabrikanten.
Nun ift der Tauſch aber nur möglich, wenn bie Producen-
*) Ghenbafelbft. IL. $. 19. D. &.123— 234.
645
ten verkaufen. Was fie zu verkaufen haben, ift ihr abfolutes
Privateigenthum; fie haben darüber die ausfchließende Verfügung
und können daher den Preis fo hoch ftellen als fie wollen. Ihre
Producte find die nothwendigften; können fie den Preis derfelben
nach Willkür fleigern, fo liegt e8 in ihrer Hand, die anderen
Bürger in Nothftand zu bringen. Aber der Staat darf den Noth:
fland nicht dulden, den bie Producenten hervorrufen können.
Er muß daher im Stande fein, den Preis ber Lebensmittel auf
ein beftimmtes Maß herabzufegen, ohne deßhalb die Producenten
zu zwingen. Das kann er nur, wenn er im Verkaufe der zum
Leben nothwendigen Producte mit den Probucenten und ber zur
Arbeit notwendigen Fabrikate mit den Fabrikanten concurrirt:
diefe Concurrenz ift möglich dur Staatsmagazine, und buch
die Naturalabgaben der Bürger ift der Staat im Beſitz folder
Magazine *).
7. Das Gelb.
Der Staat fann auf ben Preis der Lebensmittel beſtimmend
einwirken. Aber wie will er die Probucenten nöthigen, überhaupt
zu verfaufen? Er darf in das abfolute Eigenthumsrecht nicht
eingveifen, vielmehr ift er verpflichtet, daffelbe in feinem ganzen
Umfange zu ſchützen. Und doch muß er fordern, daß bie Lebens⸗
mittel verfauft werben, denn ber Stoff biefer Producte ift den
anderen Bürgern unentbehrlich. Alfo ift der Staat genöthigt,
Anfpruch zu machen auf den Stoff des Eigenthumd, ohne auf das
Eigenthum ſelbſt Anfpruch machen zu dürfen; er muß daher dad
Eigenthum felbft unabhängig machen von feinem Stoff, d.h. er
muß eine Form erfinden, die alles Eigenthum repräfentirt, ben
Werth aller Objecte: diefe Form ift dad Geld, das Zeichen, für
*) Ehendafelöft, IL 9.19, E. 6, 234—237,
646
welches im Staat zu jeder Zeit alles zu haben ift, was man
braucht. Die Summe des im Staate umlaufenden Geldes ve
präfentirt ben Inbegriff alles Werkäuflichen auf der Oberfläche
des Staatd. Beide Größen bleiben in einem beftändigen Ver⸗
haltniß. Iſt die Menge des Geldes größer ald die der Waaren,
fo werden diefe um fo theurer und dad Geld um fo billiger, ebenfo
umgekehrt. Der Staat macht das Geld, er giebt ihm die Gel:
tung, die daher nur conventionell iſt. Je weniger der Stoff,
aus welchem dad Geld gemacht wird, unter die Waaren gehört
oder felbft ein zwedtmäßiges und werthvolles Object iſt, um fo
zwedcmaßiger ift dad Geld; es repräfentirt bloß den Werth der
Dinge, ohne felbft einen anderen Werth, ald bie conventionelle
Geltung zu haben. Daher empfiehlt fich bad Papier: und Le:
dergeld, beffen Geltung nur fo weit reicht, als der Staat, der
fie ihm giebt. Zugleich fordert der Weltverkehr die Eriftenz ei:
nes durch feinen Stoff (feltener und werthuoller Metalle) überall
gültigen Kaufmitteld d. h. Gold: und Silbergeld: Weltgeld im
Unterfchiede vom bloßen andeögelbe*).
8. Dad Haustcht.
Daß in Geld verwandelte Eigenthum iſt reines ober abfolu-
tes Eigenthum: es ift bad, was jedem von den Probucten feiner
Arbeit übrig bleibt nach Abzug aller dem Staate ſchuldigen Ab-
gaben und Leiftungen. An biefes Eigenthum hat daher der Staat
gar feinen Anſpruch; Abgaben vom Gelbbefig find, wie ſich Fichte
ausbrüdt, „abfurd“, denn es find Abgaben von etwas, das erft
dann mein ift, nachdem ich alle dem Staate ſchuldigen Abgaben
geleiftet habe,
N,
*) Gienbafelö, IL 9.19, F. 6, 287— 239,
647
Wohl aber hat der Staat die Pflicht, dieſes mein reines Eis
genthum zu ſchützen: er hat demnach etwas zu fügen, deſſen
Beftand er nicht näher kennt, auch zu unterfuchen Fein Recht
hat; er kann daher den Geldbeſitz der einzelnen Perfon nicht Direct,
fondern nur indirect ſchützen, indem er den Ort fichert, in welchem
die Perfon mit ihrem reinen Eigenthume fich ausſchließend aufhält:
das iſt die Wohnung. 8 giebt eine perfönliche Freiheitöfphäre,
welche vom Staate unabhängig und deßhalb von ihm nicht anges
taftet fondern nur geſchützt werden barf: das Privathaus. Je—
der ift Herr in feinem Haufe; Feiner darf mein Haus betreten,
ohne daß ich es will; er muß anklopfen und ic) herein fagen, be
vor er eintreten darf: der Niegel des Haufes ift die Grenze zwis
ſchen der Staatögewalt und Privatgewalt; die öffentliche Gewalt
reicht bis zum Schloffe des Haufes, nicht weiter. Der häusliche
Verkehr fleht nicht unter der Aufficht des Staats, nicht unmittel:
bar unter der Hut ber Geſetze; feine Sicherheit ruht allein in dem
perfönlichen gegenfeitigen Vertrauen. Hier, wenn irgendwo,
muß Treu und Glaube gelten. Eben darum ift das Gaftrecht
heilig, weil e Feine andere Grundlage hat ald diefe. Ein Menfch,
dem Treu und Glaube nichts gelten, ift im häuslichen Leben
Gift. Und gegen dieſe Vergiftung des haͤuslichen Verkehrs durch
ehrlofe Perfonen Tann der Staat das Haus nur [hügen, fo weit
er im Stande und durch die Gefege berechtigt iſt, die Ehrloſig⸗
keit öffentlich zu kennzeichnen )).
9. Kauf. Schenkung. Teſtament.
Das Eigenthum entſteht zunächft durch Arbeit, dann durch
Uebertragung, durch Dereliction von ber einen und Acquifition
*) Ebendajelbft, IL. 8.19, F. ©. 240. G—H. 6, 24046,
648
von ber anderen Seite. Uebertragung kann gefchehen burch Kauf-
contract, Schenkung (Erwerbung ohne Yequivalent) und Teſta⸗
ment. &o weit dad Eigenthum unter die Aufficht des Staats
fäUt (darunter fällt alles Eigenthum mit Ausnahme des Geldes
und der Dinge, welche innerhalb der häuslichen Sphäre liegen,
alfo alles relative Eigenthum), muß ber Staat wiflen, wer
Eigenthümer if. Die Veränderung ber Eigenthümer darf daher
nicht ohne öffentliche Anerkennung und Beftätigung flattfinden,
die Uebertragungöverträge nicht ohne gerichtliche Form.
Die Rechte Überhaupt find bedingt durch das Dafein der
Perfonen in der Sinnenwelt. Dieſes perfönliche Dafein hebt
der Tod auf. Was macht ein Teſtament, das doc ben Willen
eines Todten auöfpricht, rechtsgültig? Es ift nicht der Wille
des Todten, fondern des Lebenden, der Rechtökraft ausübt und
in Rüdfiht auf fein Vermächtniß (lebten Willen) die Rechtögül:
tigkeit fordert. Die Ueberzeugung von ber Gültigkeit der Teſta⸗
mente ift ein Gut für den Lebenden und ein Motiv feiner. Arbeit,
Jeder im Staat ift Eigenthümer; jeder will die Ueberzeugung ha⸗
ben, daß fein Bermächtniß gelten wird, bie fichere Ueberzeugung,
die nur möglich ift durch die gefeßliche Geltung der Teſtamente.
Es ift demnach der allgemeine Wille d. h. der Wille aller Einzel:
nen (volonte de tous), der den Teſtamenten gefegliche Rechtögül-
tigkeit verfchafft, ohne welche jedes hinterlaffene Eigenthum her⸗
renloſes Gut fein und darum Staatögut werden wiirde).
2.
Der gefhloffene Handelsftaat.
Wir kennen jet den Umfang und bie Befchaffenheit ber
*) Ebendaſelbſt. IL 8.19. K. ©. 255— 259.
649
Rechte, welche die allgemeine Anerkennung fordern und bebirfen,
deren Sicherung daher die Aufgabe und den Zweck des Staats
ausmacht. Obgleich Fichte feine Theorie vom gefchloffenen Han
delsſtaate nicht in feiner Rechtölehre felbft behandelt hat, fo ift fie
doch unmittelbar in diefer begründet und nur aus ihr zu verfiehen.
Darum ift in dem Zufammenhange der fichte ſchen Philofophie hier
der Punkt, davon zu reden *).
Der Staat fol dad Eigenthum ſichern, alfo auch die Be:
dingungen, welche dad Eigenthum erzeugen, d. h. Arbeit und
Abſatz. Diefe Bedingungen folen jedem Staatsbürger gefichert
fein. Alſo muß auch ber Staat die Bedingungen in feiner Macht
haben, unter denen er allein im Stande ift, jene Garantie zu
leiften. Nun fordern die Lebensbedürfniſſe die Arbeit der Pro:
buction, Fabrikation und des Handels: es ift daher die Theilung
der Öffentlichen Arbeit in Arbeitözweige und Arbeitöftände noth-
wendig. Die Grumdlage des Staats ift ökonomiſch, landwirth⸗
ſchaftlich. Nach der Zahl der Probucenten muß fich die ber Fa:
brikanten, nad) beiden die der Kaufleute richten. Diefes Ver:
haltniß muß der Staat feftfegen ımd veguliven, fonft kann er die
Garantie nicht leiſten, die er leiſten fol. Es ift das Gleichge:
wicht des Verkehrs im Staate, welches den Nothſtand unmöglich
macht **).
Diefes Gleichgericht herzuftellen und zu erhalten, muß der
Staat die Arbeits und Erwerbszweige fehließen. Daher Aus:
fchließung ber Gewerbefreiheit. Nun fol der Handel den Tauſch
der Probucte und Fabrikate vermitteln; er ift alfo bedingt durch
*) Der geſchloſſene Handelsſtaat. Ein philoſophiſcher Entwurf als
Anhang zur Rechtslehre und Probe einer fünftig zu liefernden Politik.
1800. S. W. I Abth. A. I Band.
**) Der gefehlofiene Handelsſtaat. J Buch. I Cap.
650
die beiden Arbeitözweige der Producenten und Fabrikanten; rer:
den diefe gefchloffen, fo ift Die nothiwendige Folge davon die Schlie:
ßung des Handels. Das Gleichgewicht des Verkehrs ſoll nicht
geftört werden dürfen. Setzen wir nun, daß einheimiſche Pro-
ducte und Fabrikate auögeführt, ausländifche eingeführt werden,
fo ift jenes Gleichgewicht geftört. Es ift geftört durch den Han⸗
del mit dem Auslande. Daher Ausfchliegung des Freihandels,
wie ber Geiwerbefreiheit. Wie der Staat in Rüdfiht der Ge
fetzgebung und ber richterlichen Gewalt ein ausſchließendes Ganze
für ſich ausmacht, fo fol er ein folches Ganze für ſich auch in
Rüdficht des Handels fein: „geihloffener Handelsftaat”.
Daher Ausſchließung nicht bloß des Freihandeld, fondern auch
der Schußzölle, die Defraubationen und Schleichhandel, dieſen
heimlichen Handelskrieg, zur Folge haben *).
Die Bedingung ded Welthandel ift das Weltgelb: der
Staat hebt diefe Bedingung auf, indem er Kandeögeld einführt.
Die Bedingung des gefchloffenen Hanbelöftaates iſt die ausrei⸗
chende Production des eigenen Landes und bie Pflege ber einheis
mifchen Induſtrie; die erfte Bedingung aber der ausreichenden
Production if, daß die Natur des Staatsgebietes diefelbe ermög-
licht. Ein Staat, der diefe natürlichen Bedingungen nicht hat,
entbehrt die Grundlage einer felbftftändigen Eriftenz. Fichte
nennt diefe Bedingung „die natürlichen Grenzen des Staats‘.
Ein gefchloffener Handelsftaat ift nur möglich, wenn der Staat
feine natürlichen Grenzen hat d. h. in feinem Lande alle Bebin-
gungen befist zur ausreichenden Production.
Die Mängel der eigenen Lanbeöbefchaffenheit und der einhei⸗
miſchen Arbeit machen den Handel mit dem Auslande nothwendig.
*) Ebendaſelbſt. JBuch. I Cap. Zu vgl. VII Cap. u. II Bud.
VI Cap.
"651
Aber diefer Handel ſoll nicht bei den Kaufleuten, fondern beim
Staate felbft fein; diefer allein foll deshalb mit dem Monopole
des Welthandel, das er durch ein dazu beſtimmtes Handelöcolles
gium verwalten läßt, auch dad Weltgeld haben dürfen*).
Allerdings wird durch eine ſolche Schließung des Handels⸗
ſtaats der Verkehr der Einzelnen mit dem Audlande gehemmt,
der perfönliche Luxus eingefchränkt und die Lebensannehmlichkeiz
ten vermindert. Aber in demfelben Grade wird ber National
charakter in feiner Eigenthümlichkeit auögeprägt, der Lebensgenuß
und die Sitten vereinfacht. Mit dem Gleichgewichte ded Ver-
kehrs wird zugleich ber öffentliche Wohlftand erhalten, die Noth
und damit die Vergehungen aus Noth vermindert, bie innere
und äußere Sicherheit ded Staates befeſtigt. Wo aber bleibt
diefem gefchloffenen Handelöftaat gegenüber das Fosmopolitifche
Intereffe der Völker, das Intereſſe der Menfchheit und die Bes
förderung der Humanität? Dieſes Intereffe, antwortet Fichte,
liegt nicht im Handel, fondern in der Wiſſenſchaft; fie allein
macht den Bufammenhang der Menfchheit**).
Bir brauchen den Widerfpruch nicht erft hervorzuheben zwi⸗
fchen diefer Theorie und einer Zeit, in welcher die entgegengeſetz⸗
ten Syſteme der Gewerbe und Handelöfreiheit fiegreich fortfchreis
ten. Fichte's politifche Ideen haben etwas Lycurgiſches, und die
heutige Welt ift und will alles Andere cher fein als ſpartaniſch.
Der eigentliche Beweggrund ift focialiftifch, und in diefer Richtung
hängt Zichte'8 Politik mit unferem Jahrhundert zufammen. Sie
fordert vom Staat, daß er die Armuth unmöglich mache und
allen feinen Bürgern Arbeit und Abſatz garantire; fie berechtigt
deßhalb den Staat zu Einfepränkungen, welche die Ausfchliegung
*) Chenbafelbft. III Bug. III— VI Cap.
*) Ebendaſelbſt. III Bud. VII u. VII Cap.
652
der Gewerbe: und Handelöfreiheit zur Folge haben. Man muß
diefe Folgerungen aus ihrem nächflen Motive beurtheilen, welches
zur Löſung der ölonomifchen Staatsaufgabe die politifch richtigen
Mittel zu finden fucht, und nicht etwa meinen, baß die Prin-
cipien ber Wiffenfchaftslehre felbft mit der Geltung dieſer ſocial⸗
öfonomifchen Zheorie folidarifch verknüpft find,
II.
Die peinliche Geſetzgebung.
‚1. Ausfhliegung und Abbüpung. Das Strafgefeh.
Der Staat fichert das Recht durch bad Geſetz. Wie (dügt
er das Geſetz felbft gegen die geſetzwidrige, das Recht verlegende
Handlung? Iede gefegwidrige Handlung ift eine Nichtanerken:
nung des Gefeged und als folche im Widerftreit mit der Grund»
bedingung des ſtaatsbilrgerlichen Lebens; fie hebt den Vertrag
auf, welcher den Staat zum Schuge ded Bürgers verpflichtet.
Wer gefeßwidrig handelt, fteht nicht mehr unter dem Geſetz, er
iſt außer demfelben, außer der Rechtöficherheit, alfo fo gut als
rechtslos, exlex (vogelfrei),
Nun aber ift der Zweck des Staats die Sicherung und da⸗
rum Erhaltung der Einzelnen, foweit es die öffentliche Sicherheit
erlaubt. Wenn ed daher ein Mittel giebt, wodurch jene Aus:
ſchließung (welche der Vernichtung gleichlommt) vermieden wer-
den Tann, ohne bie öffentliche Sicherheit zu gefährden, fo wird
es dem Staatszweck entſprechen, baffelbe an die Stelle der Aus-
ſchließung zu fegen. Dieſes Mittel ift die Abbüßung: Abbüßung
im Staate ſtatt Ausſchließung aus dem Staate. Natürlich darf
es nicht die Wilfür fein, welche der Yusfchliegung die Abbüßung
vorzieht, weder die Willkür des Einzelnen noch die der Staats:
gemalt. Die Abbüßung ift vorgedacht im Geſetze. Jede geſetz⸗
"653
widrige Handlung ſoll (menn es bie öffentliche Sicherheit zuläßt)
im Staat abgebüßt werden dürfen; der Verbrecher hat das Recht,
flatt der Ausfchließung bie Abbüßung zu verlangen; ber Staat
hat die Pflicht, fie ihm aufzuerlegen. Diefer „Abbüßungsver-
trag” gehört in den Staatöbürgervertrag und bildet einen Theil
defjelben*).
Das Gefeg erklärt: wer gewiffe gefeßrwibrige Handlungen
begeht, fol diefelben auf beftimmte Weife abbüßen; es droht bie
Abbüßung an, in der Abſicht, die gefeßwidrige Handlung zu ver:
hüten. Wird fie dennoch begangen, fo muß jene Androhung
ausgeführt werben, weil fonft das Gefe& Fein Gefeg wäre. Die
Ausführung ift die Strafe. Das Gefeg, welches die Strafe an:
droht und beftimmt, ift dad Strafgefes und feine Macht die
Strafgewalt, die mit der Staatögewalt zufammenfält. Die
bürgerliche Gefeßgebung wird gefchligt durch bie peinliche, die
dem gefeßwidrigen Willen dad Gegengewicht hält **).
Durch die Abbüßung wird die Ausfchliegung vermieden, bie,
auf alle Fälle der Gefegesübertretung angewendet, dem Staatd:
zweck zuwider fein würde. Indeſſen giebt e8 Fälle, in denen der
Staatözwed oder die öffentliche Sicherheit die Ausſchließung for⸗
dert. Nicht in allen Fällen alfo ift die Abbüßung anwendbar,
und ihre Anwendung ift nicht überall, wo fie ftattfindet, dieſelbe.
Wie weit erfiredt ſich die Möglichkeit der Abbüßung? Wie weit
reicht dad Strafrecht?
Das Princip des Strafgefeges überhaupt ift ſchon feftgeftellt:
wer fremde Rechte verlegt, verlegt eben dadurch fich felbft; die
nothwendige und unfehlbare Wirkung feiner dem Anderen ſchäd⸗
) Grundig. bes Naturrechts. II Theil. IL Abſchn. 8. 20. (S. W.
IIAbth. A. IB.) ©. 260.
**) Ehenbafelbft, IL. 8.20. ©. 261—263,
. 054
lichen Handlung ift fein eigener Schaden. Wie die Urfache, fo
die Wirkung. Er wird einen ebenfo großen Verluſt erleiden
müſſen, als er dem Anderen durch feine Handlung zugefügt hat.
Das Princip der Strafe ift dad des gleichen Verluſtes (poena
talionis). Wie weit reicht diefes Princip? Auf welde Ber-
gehungen ift es anwendbar?
2. Arten ded Verbrechens.
Wir müffen die Arten und Grabe der Gefegesübertretung
unterfcheiden, um bie Grenze und Art der Abbüßung zu beflim:
men. Wir unterfcheiden den materialiter und formaliter rechts⸗
widrigen Willen: er ift materialiter rechtöwidrig, wenn er dem
Andern fchadet entweder aus Unachtfamkeit oder um des eigenen
Vortheils willen ; er ift formaliter rechtswidrig, wenn er fchabet,
um zu fchaden. Das Gefe bezweckt die Sicherheit aller, darum
die jedes Einzelnen. Wer daher den Schaden des Andern be
zwedt, will das Gegentheil des Geſetzes; ein folder ift abfolut
geſetzwidrig und begeht in feiner Handlung ein Verbrechen gegen
den Staat felbft, der Dadurch entweder unmittelbar oder mittel:
bar getroffen wird: im erften Fall ift dad Verbrechen politifcher,
im zweiten privater Natur. Auch das legtere ift Verbrechen ges
gen den Staat. Da der Staat jeden feiner Bürger zu ſchützen
bat, fo ift jede einem Bürger abſichtlich zugefügte Beſchädigung
eine Verlegung des Staates felbft, denn fie macht, da diefer (dem
Belchädigten gegenüber) feine Pflicht nicht hat erfüllen können.
Die politifchen Verbrechen gefährden direct die Eriftenz des
Gemeinwefend. Ihr Zweck ift die Vernichtung des Staats ent:
meer durch die Staatögewalt felbft, die zum Schaden des Staats
handelt, oder durch eine andere Macht, die ſich gegen ihn erhebt:
im erften Fall iſt dad Verbrechen Hochverrath, im zweiten
655
Rebellion; Hochverrath ift feinem Begriff nach nur möglich
durch die Obrigkeit felbft, Rebellion nur durch Privatperfonen*),
3. Arten der Strafe. Grenzen der Abbüßung.
Auf den nur materialiter rechtöwidrigen Willen ift die Ab:
büßung ohne Weitered anwendbar. Die Vergehungen aus Unacht⸗
ſamkeit und Eigennuß zielen nicht unmittelbar auf die Vernich⸗
tung des Geſetzes; fie fallen darum unter, nicht außer dad Ge
ſetz und Fönnen deßhalb abgebüßt oder geftraft werden. Hier ift
die Strafe nach dem Princip des gleichen Verluſtes anwendbar.
Ber den Anderen aus bloßer Unachtſamkeit beſchädigt, hat den
Schaden felbft zu tragen; feine Strafe ift der volle Schadenerfag.
Wer den Andern aus Eigennutz befhädigt, hat erſtens den ange
richteten Schaden und zweitens den Eigennug zu büßen; daher
trifft ihn als Strafe der vole Schadenerfag und außerdem ein
Vermögenöverluft, deſſen Größe dem verübten Schaden gleich
tommt. Hat ber Uebelthäter nicht genug, um die Buße zu zah⸗
len, fo bleiben als Xequivalent nur feine Kräfte übrig, um fie
abzuarbeiten. Die ald Buße auferlegte Arbeit gefchieht natürlich
unter der Aufficht des Staates, alfo in befonders dafür beftimm:
ten Häufern (Arbeitshäufern), wodurch für die Dauer der Ar:
beitszeit auch der Verluſt der Freiheit bedingt wird**).
Wie aber verhält es ſich mit der Abbüßung in Rüdficht auf
den formaliter böfen Willen? Mer den Staat felbft mittelbar
oder unmittelbar vernichten will, Tann unmöglich im Staate
bleiben. Staat und Staatöverbrecher find unverföhnliche Ge:
genfäge ; hier giebt es Fein anderes Mittel ald die Ausfchließung
des Verbrecher aus dem Staat. Die Ausfchliegung kann nicht
*) Ebendaſelbſt. IL. 8.20. IL-II. ©. 263—271,
**) Ghenbajelbft. IL. 8. 20. IV. &,271—72,
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nitt im mera!iühen, iozbern im reisen Eimer. Um diele
allein kümmert it ter E:aat: um tie Geitmiäigfeir, nicht um
tie Moralität des Billms. Were ver Mersiitit if die Pfliht
um ber Pflicht willen; Motiv der Geiesmifigfeit ijt die Liebe zu
dem eigenen Wohl, die Sorge für die eigene Sicherheit. Mar
wahrt die eigenen Rechte am beflen, wenn man fein fremdes ver:
dert; man lebt am ficherfien, wenn man geietmäßig handelt:
diefe Einſicht macht die politiſch gute Gefinmung, und deren An:
nahme die politiſche Beflerung des Verbrechers. Wer fein eige
nes Intereffe richtig verfieht, Tann nicht geſetzwidrig hanbeln.
Der Grundſatz der Sittenlehre fagt: liebe die Pflicht über alles!
Der Brundfat des Staats heißt: „liebe dic) felbft über alles und
deine Mitbürger um deiner felbft willen.” Politiſche Befferung
iſt Ruckkehr zur Sorge für die eigene Sicherheit.
In dieſer Bedingung liegt die Grenze der Ausfchlieung:
der Staat, Indem er den Verbrecher ausfchließt, macht zugleih
den Werfuch ihn zu beſſern; er ftößt ihn daher nicht aus, fondern
ſperrt ihn ab von ber übrigen Geſellſchaft; er fließt ihn aus,
indem er Ihn fo einfchließt, daß er unmöglich noch ſchaden Fan.
657
Aber die Gefängniffe werben zugleich Befferungsanftalten, Bucht
häufer im wirklichen Sinne fein müflen, in denen durch die
firenge Gewohnheit der Ordnung, der Arbeit, des Erwerbs der
verbrecherifche Wille gezüchtigt, disciplinirt, zur politifchen Beſ—
ferung getrieben wird. Iſt er unverbeſſerlich, fo trifft ihn nach
einem befimmten Termin die gänzliche Ausfchliegung*).
4. Die gänzlihe Ausfhliegung.
(Todesftrafe.)
Es giebt nur einen Fall, in welchem dad Verbrechen weder
durch gleichen Verluſt gebüßt noch der Werbrecher durch zeitweife
Ausſchließung gebefiert werden kann: das ift der abfichtliche, präs
meditirte Mord, Dieſes Verbrechen hebt bie Möglichkeit der
bürgerlichen Coeriftenz auf. Den Mörder diefer Art trifft daher
die abfolute Ausſchließung: er ift vollfommen rechtslos und aufer
dem Gefeg. Der Staat erflärt ihn Eraft des Geſetzes für rechts⸗
los; er bricht über ihn den Stab d. h. er zerreißt den Vertrag,
der ihm mit dem Verbrecher verfnüpft hat. So weit reicht dad
Gefeg und bie richterliche Gewalt des Staats, nicht weiter.
Bo dad Gefe aufhört, da hört der Staat auf. Wer außer
dem Geſetz ift, dem ſteht der Staat nicht mehr ald Staat gegen:
über, fondern als phyſiſche Macht. Was baher der Staat mit
dem auögefloßenen Mörder weiter thut, das thut er nicht mehr
als Staat, fondern als phyſiſche Gewalt. Wer rechtslos iſt, der
hat feine Rechte, und ihm gegenüber giebt es keine. Es giebt
daher Fein Recht, den Mörder zu töbten; es giebt auch Feines,
ihn nicht zu töbten: er ift bürgerlich vernichtet.
Es giebt Bein Recht, ihn zu töbten, aber möglicherweife
einen Grund: wenn es kein anbered Mittel giebt, den Mörber
*) Ebenbafelbft. IL. $. 20. IV. 6. 272—277.
Bifper, Gefläte der Phllofephie V. 42
unſchaͤdlich zu machen. Und unſchadlich muß er gemacht werden.
Dann ift fein Tod nicht Strafe, fondern Maßregel, Sicherungs:
maßregel. Wenn biefe Mafregel der Staat vollzieht, fo todtet
er nicht als Richter (beim es giebt Fein Recht zu tödten), fonbern
als Polizei; er töbtet amd Noth. Dann volljiehe ex die Maf:
regel, wie wan das Wothgebrumgene thut, nicht als Gegenftend
des Öffentlichen Schaufpiels, fondern ald etwas, beffen man
ſich fhämt und dad man daher den Augen der Menge verhält;
die Barbarei des Schaufpield und der Marter fei davon ausge
ſchloſſen. Die Tödtung des Mörders fällt nicht unter das Sffent:
liche Recht, fordern unter die notwendigen Uebel. Am befien
freilich, wenn man foldye Uebel vermeiden kann; das einzige Mit:
tet, bie Töbtung zu vermeiden, wäre emige Landesverweifung
mit der Unmöglichkeit, jemals zurückzukchren, ‚mit der offenkun ⸗
digen sub unauslöfchlichen Bezeichnung des Mörbers d. h. mit
dem Brandmal*). -
5. Gegenfag zwifden Kant’s und diqhtera Strafr
rehtätheorie.
Der Tod ift feine Strafe; ber Begriff der Todesſtrafe da
her ımgereimt. Hier ſetzt Fichte feine Theorie mit voller Recht
ber Santifchen entgegen: bei Kant gilt bie Strafe als. Zweck, bei
Fichte ald Mittelz. Kant ſett die Strafe in.die Vergeltung, Fichte
in die Verhlitung, Abbügumg, Beſſerung d. h. in die Sicherung
des Geſetzes. Dad Vergeltungsprincip erflärt: „Auge um Auge,
Bahn um Zahn.“ Domus folgt die Nothwendigkeit der Tobes:
firafe; der Mörder hat den Tod verdient, eu hat geöhte, fo
er werde getbdtet!
Hier if iſt die Verwitrung. Die Bergeikung ifrein morali⸗
5 obendaſelbk. IE $. 20. V. a--£& . 217.862.
668
fiber Begriff, kein juriſtiſcher, kein ſtaatsrechelicher, kein ſtrof⸗
rechtlicher. Die Vergeltung if. bei der göttlichen Gerechtigkeit,
nur bei ihr, fie erfolgt kraft der moraliſchen Ordnung ber Dinge,
mit welcher bie politiſche keineswegs zuſammenfällt. Kein Menſch
wird, laugnen, daß der Mörder den Tod verdient; daraus folgt
noch lange nicht, daß der Staat das Recht hat, ihn zu tödten;
es müßte. fich denn ber Staat für die moraliſche Weltordnung d. h.
für eine Iheofratie halten. Das altteflamentliche Wort: „Auge
um Auge,.Zahn um Zahn!" galt in einer Theokratie. Aber ber
Rechtsſtaat ift nicht theokratiſch; er ift Darum auch nicht befugt
zu wergelten, nicht berechtigt zu tößten*).
Es giebt zwei Arten der Strafe. Die ‚eine gründet ſich auf
den Vertrag, bie andere auf die Bernithtung (NuNität) des Ber
trages: jene .befteht in ‚ber Abbüißung und zeitweifen (relativen)
Ausfchhießung, Diefe in der gänzlichen (abfoluten) Ausſchließung.
Die letztere allein trifft den Mörder und nur ihn.
IV.
Verfaſſung und Polizei.
Die Rechtögemeinfchaft wird gefichert durch dad Gerigefeh,
dieſes durch das Strafgefeß; die Geltung beiber durch die Macht
der. Öffentlichen Gerechtigkeit, welche ſelhſt gefichert wirb Durch
die Verantwortlichkeit der Staatögewalt.-d. h. durch bie Berfaf-
fung (Gonſtitution). Diefe erlaubt verſchiedene Arten und For
men. : Weldye davon am beften angewendet wirb, ‚das hängt. ab
von dem gegebenen Berhältniffen des Landes und Volks und. ift
daher ‚Beine. Frage. der veinen Rechtälehre, ſondern der Politik,
weishe he bie-Rechtäprincipien ‚unter. empieifchen Bebingungen zu vers
*) Ebenbafelbft, IT. 8.20. V. Anmerlg. ° 28284, Vol.
6. 262, : . :
42°
660
wirklichen und barum bie Zweckmaßigkeitsfragen zu löſen hat,
betreffend die Zorm der Regierung, bie Ernennung der Obrigkeit,
die Art der Abgaben, den Gang des gerichtlichen Proceffes, bie
Baht und Beftimmung der Ephoren u. f. f. ).
Der abfolute Staatszweck ift die öffentliche Sicyerheit ; der
Staat hat die Pflicht, jede Verlegung der Sicherheit durch Un:
glüd und Unrecht zu verhüten, jedes begangene Unrecht zu be:
ſtrafen. Diefe Pflicht muß er erfüllen Fönnen und die dazu nd
thige Gewalt haben: eine Gewalt, deren befondere Aufgabe bie
Ausübung der Schutzpflicht und bie Auffindung jedes Schulbigen
ift, der das Geſetz verlegt hat. Diefe zur Erfüllung des Staatö:
zwecks fehlechthin nothwendige Gewalt, welche bie öffentliche Si:
cherheit in ihrem ganzen Umfange zu beauffichtigen, jeden Sch:
den zu verhliten, jebed Verbrechen zu entdeden, jeden Schuldigen
aufzufinden hat, ift Die Polizei, das ſtets wachſame Argusauge
des Staats, das nie gefchloffen fein darf. Was hilft dad Straf:
geſetz, wenn man den Schuldigen nicht hat? Was gilt die rich⸗
terlihe Gewalt ohne die polizeiliche? Die bürgerlichen Geſetze
fordern die polizeilichen. Jene ftrafen, biefe verhindern das Ber:
brechen und beugen den Handlungen vor, welde dad Strafgefes
bedroht; fie verbieten die Mittel, welche das Verbrechen begün-
fligen (das Civilgeſetz flraft den Meuchelmord, das Polizeigeſetz
verbietet die Windbichfe) **). ‚
Die Polizei fol jeden Schuldigen ohne Ausnahme entdeden:
das ift ihre durch den Staatszweck gebotene unbedingte Pflicht.
Der Schuldige Tann jeder fein; bie erſte Bedingung ift Daher,
daß die Polizei jeden kennt, der ſich im Staate aufhält, daß fie
das Recht und die Pflicht hat, jede Perfon zu legitimiven. Das
*) Ebendaſelbſt. IIT. 8.21. Nr.1. S. 286— 291.
**) Ghendajelöft. TIL. 9.21. Nr, 2. S. 291—295.
661
iſt nur möglich durch die genaueften Paßgeſetze, die jedem gebieten,
feinen Pag mit ſich zu führen und diefen fo einrichten, daß er
die Perfon unfehlbar identificirt (genaue Perfonalbefchreibung,
Portrait des Inhabers) und nicht oder nur äußerft ſchwer vers
fälfht werben kann (Einführung eines befonderen Paßpapiers,
welches nur bie Regierung befist). Es giebt zwei Verbrechen,
die der Sicherheit des Eigenthums außerordentlich gefährlich und
gewöhnlich ſchwer zu entdecken find: falſche Wechſel und Falſch⸗
münzerei. Fichte will in der von ihm vorgeſchlagenen Paßord⸗
nung dad Mittel gefunden haben, weldyes der Polizei in beiden
Fällen die Auffindung der Schuldigen möglich und leicht macht. -
So ernftlich iſt hier die Wiſſenſchaftslehre in die Paßorbnung
vertieft, daß im Einzelnen gezeigt wird, wie bad Paßſyſtem an⸗
zumenden und zu brauchen fei in Rücficht der Wechfelordnung
und des Ankaufs ber zur Falfchmünzerei dienlichen Stoffe. Dad
befte Mittel der Sicherheit im Staat ift die durchgängige Orb:
nung des öffentlichen Lebens und Verkehrs. Je georbneter und
polizirter der Staat iſt, um fo ficherer ift alles im Staat, um
fo weniger ift die Polizei zu fürchten und um fo weniger ift da⸗
ber eine geheime nothwendig *).
Hiermit ift die Rechtölehre erfchöpft und alles entwidelt,
was die Rechtögemeinfchaft in dem ganzen Umfange ihres Gebiets
zu ihrer Geltung und Sicherheit fordert.
V.
Summe der Rechtslehre.
Wir geben den ganzen Entwicklungsgang der Rechtslehre in
einer ſummariſchen Ueberſicht, die bloß die Hauptpunkte und den
ortfchritt von einem Gliede zum andern hervorhebt:
*) Ebendaſelbſt. IIL $. 21, Nr. 2, &.295—308,
682
Das Ich iſt nur möglich unter ber Bedingung einer freien
Wirkſamkeit, die es fich felbft zufchreibt. Zu diefer Setbftbeftims
mung muß e3 beftimmt d. h. aufgefordert werben. Die Urſache
diefer Aufforderung Bann nur ein vernünftiges Weſen außer dem
Sch d. h. ein anderes Ich fein.
Alſo fordert dad Ich die Coeriftenz vernünftiger Weſen, de:
ven gegenfeitige Anerkennung als freie Weſen, darum bie wechſel⸗
feitige Ausfchließung ihrer Freiheitöfphären d. h. die Rechtse⸗
meinſchaft.
Die Rechtsgemeinſchaft fordert, daß jedes Ich ſich fetzt als
ausſchließende, darum begrenzte Freiheitsſphäre, d. h. als Pers
ſon, als individuelles, körperliches, leibliches, ſinnliches Ich.
So fordert die Rechtsgemeinſchaft die Coexiſtenz der Perſonen in
der Sinnenwelt.
Die Bedingungen zum Daſein der Perſon in der Sinnen⸗
welt find die Ur rechte. Dieſe können verlegt werben, aber dilr⸗
fen es nicht. Sie folen gefichert fein. Ihre Sicherung ift das
Btwangsrecht, die Einrichtung einer zwingenden Macht durch ben
gemeinfamen Willen, die Herrfchaft der Gefege d.h. der Staat;
Der Staat fordert die Stantögewalt. Die Gerechtigkeit forbert bie
Verantwortlichkeit der Staatsgewalt (Berfaffung), 'die Bildung
des Ephorats, die Unabhängigkeit des Ephorats von der Executive.
Innerhalb des Rechtsſtaats werden bie Urrechte gefichert
durch das Eivilgefeg (Garantie des Eigenthums, des Rechtes
auf Arbeit und Abfag, die Theilung und Schließung der Ar:
beitözweige, die Schliegung des Handels). Dad Civilgefeg wird
gefichert Durch dad Strafgeſetz; dieſes fordert Abbüßung und
Ausſchließung (relative und abfolute). Die Bffentlihe Sicherheit
felbft wird gefichert durch dad Poliyeigefed (durchgängige Ord⸗
nung des Lebens im Staat).
Ehftes Capitel.
Oekonomik. Ehe und Familie.
Völker md Welt.
Alle menſchlichen Gemeinfhafter, ausgenommen bie rein
moraliſchen. die in den gegenfeitigen Befinnungen des Vertrauens, <
der Freundſchaft u. ſ. f. beſtehen, fardern und bedürfen bie Rechtse
form, entweder zu Ihrer. Begründung oder zu ihrem Schuß; ent⸗
weder werben fie durch ben Rechtsbegriff gemacht, ober diefer feht fie
voraus und wird auf bie ſchon vorhandene und ohne ihn erzeugte
Geweiuſchaft bloß angewendet. Der: Staat gründet ſich .auf den
Mechtsbegriff; im Unterſchiede von der ſtaatsrechtlichen ers
bindang: haben wit im Staate dad Leben der Familie, außerhalb
deſſelben das Leben der Volker. ‚Hier alfo entſteht Die Frage:
in: wie weit if auf das Leben der Familie und auf das der Bäl
Ber, yaleht-auf bie ganze: Menſchheit der Rechtsbegriff anwendbar?
Wir iſn Familienrecht, Völkerrecht, Weltbürgerreht möglich?
Wir heben ſchon gefehen, wie innerhalb dei Staats das
haͤusliche Beben eine gefchloffene, von ber öffentlichen ‚Gewalt
und Aufſicht unabhängige Sphäre für fich befchreibt. . Der Kern
des häuslichen Lebens ift die Familie und deren Grundlage die Ehe.
Der Rechtöbegriff kann die Ehe und Familie nicht machen; beibe
664
find Feine juridifche, fondern eine natürliche und fittliche Gemein
ſchaft, die der Rechtöbegriff vorausfegt und auf welche berfelbe
als auf etwas Gegebenes feine Formen anwendet. Die Anwen:
dung der Rechtöform auf die Ehe giebt bad Eherecht. Um aber
beftimmen zu fönnen, welche Rechtöform auf die Ehe paßt und
worin dad Eherecht befteht, muß man vor allem wiffen, was bie
Ehe felbft ift oder welche nothwendige Art menfchlicher Gemein-
fchaft fie bildet? Die erſte Aufgabe ift daher die Deduction der
Eher).
L
Das Wefen der Ehe.
4. Die beiden Geſchlechter.
Dad Selbftbewußtfein (Perfönlichkeit) fordert den lebendigen
Körper, die leibliche Individualität, die organifche Natur, wel⸗
he felbft wieber die Erhaltung der Gattung, die Fortpflanzung der
Individuen durch die Wirkfamkeit der bildenden Kraft verlangt.
Wären die Bedingungen zu diefer Wirkſamkeit immer vorhanden, fo
wäre bie bildende Naturkraft unaufhörlich wirkfam, fo würbe ein
beftändigeö Uebergehen, ein fortwährender Wechfel der Geſtalten
fattfinden, wobei ed zu Feiner beflimmten Geftaltung, zu Feiner
wirklichen Individualität kommen könnte. Die bildende Kraft
darf daher nicht immer wirkfam, die Bedingungen ihrer Wirk:
ſamkeit dürfen nicht immer vorhanden fein. Die Wirkſamkeit
muß flattfinden, wenn ihre Bedingungen vereinigt find. Alfo dür⸗
fen Die Bedingungen, unter denen die bildende Naturkraft d. h.
bie Gattung wirkt, nicht immer vereinigt fein; fie müffen mit
bin getrennt ober von einander abgefondert erifliren und erfl, um
*) Grundlage des Naturrechts. Erſter Anhang. Grundriß des
Familienrechts. I Abſchn. ©. 804—318,
685
jene Kraft in Wirkſamkeit zu ſetzen, vereinigt werben. Diefe
Vereinigung ift die Wirkfamleit der Gattung; diefe Trennung
ift Die Sonderung der Gefchlechter: es ift daher nothwendig, daß
die Gattung ſich in Gefchlechter theilt, um ihre Wirkfamkeit an
Bedingungen zu Inüpfen, bie nicht immer vereinigt find*).
Es muß ein Geſchlecht geben, welches alle Bedingungen in
fi enthält zur Bildung eined neuen Individuums, und ein zwei⸗
tes davon verfchiebenes Gefchlecht, welches bie Bebingungen ent
hält, durch welche jene in Wirkſamkeit gefegt und zur Entwick⸗
lung gebracht werben: dieſes Gefchlecht ift dad männliche, jenes
das weibliche. Das männliche iſt zeugend, dad weibliche empfan-
gend; jenes ift in der Hervorbringung neuer Individuen der tha⸗
tige, dieſes der leidende Factor.
Die bildende Naturfraft der Gattung muß ald Streben oder
Tendenz (Trieb) jedem der beiden Gefchlechter inwohnen: als Ge
ſchlechtstrieb, der Befriebigung fordert. An biefen Trieb ift bie
Erhaltung der Gattung geknüpft; in der Befriedigung beffelben
verhält fich das männliche Geſchlecht thätig, das weibliche leidend.
Nun ift in dem finnlichen Ich beides gegenwärtig: Selbft:
bemwußtfein und Naturtrieb, Vernunft und Gefchlechtötrieb; beide
gehören zu den Bedingungen der menfchlichen Natur; daher müfs
fen fie im Weſen derfelben vereinigt und dieſe Vereinigung felbft
eine nothwendige und urfprünglihe fein. Anders aber verhäft
fi die Befriedigung des männlichen Geſchlechtstriebes zum Selbſt⸗
bemußtfein, anders bie des weiblichen. Thaͤtigkeit entfpricht,
Leiden dagegen wiberfpricht dem Selbſtbewußtſein: darum kann
fich dad männliche Selbftbewußtfein wohl die Befriebigung des
Gefchlechtötriebed zum Zweck machen, niemald das weibliche.
Die Befriedigung des Gefchlechtötriebes ald Zweck wiberfpricht der
*) Ebendaſelbſt. I Abſchn. $. 1, S. 305—306,
weiblichen Natur, ihrem Selbſtbewußtſein, ihrer Vernlinftigkeit
ihrem geiſtigen Wefen. In biefem Punkte liegt das Problem”).
2. Selbſtbewußtſein und Geſchlechtstrieb.
Selbſtbewußtſein und Befriedigung des: Gefchlechtätriebes
find beide der weiblichen Natur nothwendig, eben fo nothwendig
iſt ihre Vereinigung. Es giebt eine Form, in welcher biefe Ver⸗
einigung unmöglich ift: unmöglich Bann ſich das weibliche Selbſt ⸗
bewußtſein die Befriedigung des Gefclechtötriebes. zum Zwech
machen. Alfo muß in der weiblichen Natur der Geſchlechtstrich
eine andere Form annehmen, eine Form, in welcher feine Ber
feiedigung Zwec fein kann in völliger Uebereinftimmung mit dem
weiblichen Selbftbewußtfein. Was dad Weib vermöge Ihrer Na⸗
tur befriedigen will, darf Für fie nicht der Gefchlechtätrieh fein;
diefer muß dem Weibe in einer anderen Form erfcheinen, nicht
etwa durch Reflerion oder durch Täuſchung, fondern im einer
Form, die felbft Naturtrieb ift, weiblicher Naturtrieb, der cha⸗
ratteriſtiſche Trieb der weiblichen Ratur: ein Trieb, den in der
Welt das Weib allein bat. Was ift dad für eine Form, für ein
nothwendiger, urfpränglicher rich?
In biefem Punkte find bie beiven Geſchlechter grundverſchie
den. Der-Mann kann fich die Befriedigung bed Gefchlechtötrier
bes zum Zweck machen, er darf fich diefen Zweck geflchen, er darf
feinen Trieb mit Selbftberoußtfein- befriedigen, dad Weib wie.
Es darf fich den Geſchlechtstrieb nicht gefichen und muß ihn bach
haben. Es iſt nicht Erziehung und Reflerion, fondern ihre ei⸗
gene Natur, die fie davon zurüdhält: eben darin heficht das
ewige Naturgefeh der weibliben Schamhaftigkeit. Der Denn
kann freien, bad Weib nie. Wenn ein Mann freit und eine ab-
0) Ghenbafelifl. 1. $.2—3. 6. 306-309,
667
ſchtagige Antwort: empfängt, fo iſt das erträglich; bie-äbfchlägige
Antwort des Weibes erklart bloß: ich: will mich dir nicht unters
werfen. Wenn aber ein: Weib freit und eine abfchlägige Antwort
erhält, ſo iſt fie ermiebrigt. Die Antwort heißt: du haft dich
mie unterworfen, ich / aber nehme deine Unterwerfung nicht art.
Die Frage, ob das Weib nicht ebenfo gut ein Recht habe zu freie
als der Mann, ift eine müßige Frage. Ebenfo müßig;, als
wenn man fragen wollte, ob der Menſch ein Recht Habe zu flie⸗
gen? ‚Warten: wir mit ber Nehtöfrage, bis er fliegt. . Ebenfo
warte man mit jener anderen. Rechtöfrage, bis bie Weiber freien,
Bis jetzt thun fie ed nicht. Was fie zurückhalt, ift fein äußerer
Bang; niemand hindert fie. Es ift ihre eigene Natur, die nicht
läßt, daß fie dad Freien als ſolches zu ihrem Zweck machen *);
::3 Die Liebe ald Grundform des weiblichen
Geſchlechtsttiebes.
Was der Naturtrieb des Weibes fordert, iſt bie Hiogebun
an einen Mann; ſie will ſich dem Mann hingeben, nicht um
ihrttwillen, fondern um des Mannes willen; fie giebt ſich ihm
din und:-für ihn. Die Hingebung für einen Anderen iſt Auf⸗
opferumg, Die Aufopferung aus Naturtrieb iſt Liebe, Daher
ift die Liebe jener Naturtrich, deſſen Form ver weibliche Ger
ſchlechtstrieb nothwendig und unwillkürlich annimmt. Sie hat
das Bedurfuiß zu lieben. Indem fie ſich einem Manne hingiebt,
will fie nicht ihren Geſchlechtstrieb, ſondern ihr Herz befrie⸗
digen: dieſe Befriedigung iſt der ihr eigenthümliche, bewußte
Zwec, den fie erfüllt als ihr Naturgeſetz. Die Liebe iſt ihre
That und ihr Selbſtbewußtſein: ſie iſt die einzige Form, in wel⸗
*) Ebendaſelbſt. J. 8.8. Nr, 2; ©; 309,
668
cher die Befriedigung des Gefdhlechtötriebes mit dem weiblichen
Selbfibewußtfein volllommen harmonirt.
Diefen Trieb hat nur bad Weib; nur dad Weib liebt; nur
durch das Weib kommt die Liebe unter die Menfchen. In der
Liebe des Weibes ift Trieb und Selbfibewußtfein, Natur und
Vernunft wirklich eines: biefe Liebe ift der innigfte Vereinigungs-
punkt beider, der einzige, den ed giebt; darum ift diefe Liebe
Das Beib giebt ſich dem Wanne hin aus Liebe; fie giebt
fih Hin für ihn, nur für ihm, für dieſen Einen, ber für fie
der Einzige ift, auch nothwendig der Einzige bleibt. Denn wenn
fie ſich je noch einem Anderen hingeben könnte, fo wäre jener ja
nicht der Einzige, fondern nur der Erſte, nur fo lange ber Beſte,
ald er der Erfle war, es war dann der erſte Befle, und ihre
Hingebung nicht Aufopferung und Liebe, fondern Hingebung ent-
weber aus Reflerion (für gewiſſe Zwecke) oder aus Gefchlechtötrieb,
in beiden Fallen im Widerſtreite mit der Natur des Weibes und
diefe erniedrigend. Die ächte Hingebung des Weibes ift notwendig
ausfchliegend, unbedingt und für immer. Es giebt nichts, dad
von biefer Hingebung auögenommen fein fönnte, es giebt Beinen
Vorbehalt, denn was immer dad Weib fich vorbehielte, würde
ihr mehr gelten als ihre Perfon, und damit wäre ihre perfönliche
Hingebung entwürbigt. Sie giebt dem Einen auöfchließend und
für immer ihr ganzes Dafein: fo will e die Liebe, die fonft nicht
Liebe wäre. Das Leben des Weibes fol ohne Reft in den Dann
aufgehen, und es ift dephalb ein ſchöner und richtiger Ausbrud
dieſes Verhältniffes, daß die Frau nicht mehr ihren Namen führt,
fondern den des Mannes*).
*) Ebendaſelbſt. L 8. 4—8.6. ©. 310 -313.
669
4. Die Sroßmuth des Mannes.
Wie aber wird der Mann, wenn er feiner Natur gemäß
handeln will, diefe Hingebung erwiebern? Das Erſte ift, daß
er bie Aufopferung und Liebe des Weibes in ihrem ganzen Um⸗
fange erkennt und würdigt; daß er einfieht, wie ſich dieſes Weib
freiwillig in feine Macht gegeben hat, alle ihre äußeren Schid:
fale, ihre ganze innere Seelenruhe. Im ihre Hingebung an bie:
fen Mann hat die Frau ihren ganzen Werth, ihr ganzes Selbſt⸗
bewußtfein gelegt. Wenn fie fi in biefem Punkte je erniedrigt
fühlen müßte, fo wäre grenzenlos, wie ihre Hingebung, ihr
Elend. Wenn der Mann einer folchen Liebe für ihn nicht wür⸗
dig ift, fo ift es gefchehen um das Selbftgefühl der Frau ,.. das
entweber zu niebrig ift, um ben Verluſt feiner Würde zu empfins
den ober in dem Bewußtfein der Erniebrigung zu Grunde geht.
Mit der Einficht, welche dad männliche Selbftbewußtfein
fordert, muß fi der Mann dieſes VBerhältniß klar machen und
bis auf den Grund durchſchauen. Er erkennt und würdigt die
Hingebung der Frau, verftcht was fie will und geht in biefen
Billen ein. Das ift die erfte feinem Selbftbewußtfein gemäße
Empfindung, womit der Mann die Liebe der Frau erwiedert.
Er will, daß in der Liebe zu ihm die Frau wirklich ihr Herz bes
friebigt, daß fic der innerfle und tieffte Trieb ihrer Natur in
diefer Hingebung an ihn volllommen erfült. Das gefchieht nicht,
wenn der Mann, durch bie Liebe der Frau nicht gerührt, ſon⸗
dern geblendet, fich ihr unterwirft und aus Schwäche fich beherr⸗
hen läßt. Dadurch wird das Selbfigefühl der Frau verfälfcht
und dad ganze Verhaltniß beider Gefchlechter verdorben. Die
Frau will ihr Selbftgefühl in ihrer Hingebung haben, nicht in
ihrer Herrſchaft; fie will von die ſem Manne beherrſcht fein,
6“
das ift ihr Stolz; dieſen Stolz darf ihr der Mann nicht nehmen.
Ebenfo wenig aber darf der Mann die Frau unterbrüden und
feine Herrſchaft gegen. fie brauchen, als ob fie fein willenloſes
Werkzeug wäre. Das hieße die freiwillige und gängliche „Hin:
gebung der Frau mit gemalffamer Unterdrückung ermiebern; das
würde paſſen wie bie Fauſt auf dad Ange. Sich als den Gewal⸗
tigen zeigen, ben Herrn fpielen, wo man es Bann. ohne jeden
Widerftand, ohne alle. Kraft, ohne jede Megung des Muthes!
Es giebt nichts, das Eleinlicher, niebriger, unmänndider wärel
Der unwürbigfte Gegenſtand weiblicher .Hingebung ift ein Mann,
der ein: Schwaͤchling ift oder ein Nichtswurdiger. Es giebt nicht,
dad einer Frau in ihrem Innerſten verächtlicher. ſcheinen muß, ald
ein ſolcher Mann, der das Gegenteil iſt aller ächten Männliche
keit, aller Kraft, aller Großmuth,
Die erfle Form der männlichen Empfindung, "weiche ie
auſopfernde Liebe der Frau annimmt und ermiebert, iſt die Groß⸗
muth, bie aus einer tiefen. Rührung. hervorgeht. Er will der
Bann fein, dem bie. Frau aus ihrem innerften Triebe ſich hin⸗
-geben darf, ganz und für immer; ex will ber fein, den die Frau
zu ihrem einzigen Lebenszwede macht, er. erkennt und durchſchant
den Willen der Frau bis auf den Grund und macht dieſen Willen
mit vollem Bewußtſein zu dem ſeinigen, zu einer feſten und. uns
erſchütterlichen Aufgabe feines Lebens. So wird der maͤnnliche
Wille eines mit dem weiblichenz die Wünſche der Frau werden
die Abfichten des Mannes, er ſpricht fie aus und etfüllt ſie als
die ſeinigen. So. nimmt der Mann hie: Seele der Frau in ich
anf, und bie großmüthige Entpfindung wird mehr und mehr eine
zarte. In dieſer zäctlichen- Gemeinſchaft volleadet ſich der Um:
taufch.ber. Herzen. Die: Liebe: der: Frau theilt ſich / dein Manne
wait; und: läutert „(eine Empfindungen. Er muß achtungsweeth
Lro3
fein wollen, denn nnd. wäre die Frau, wenn er es nicht waͤre
Wie kbunte er für ſie der Liebenswürdigſte feines Geſchlechts ſein,
weni:er nicht unbedingt achtungswerth, nicht in. der That ein
wirklicher. Ausdruck männlicher. Tüchtigkeit wäre *)? Bar
Sol. dad: Gefchlechtäverkältniß. zwifchen ‚Mann und. mu
ber felbfibewußten:Matur beider entſprechen, fo fordert sd: von
der weiblichen Seite Aufopferung für den Marin aus Trieb d. h.
Liebe and von ber männlichen: Anwoſereng mit Bean
de h. D——
5. Brarift der Ehe.
„Eine ſotche Verbindung beiber Geſchlechter ift deren wirt
liche Ergänzung: ımd. Einheit, bie. Gattung felbft,. die Verwirk⸗
lihung bed ganzen Menſchent fte:ift die vollfommene Vereinigung
zweirt Perfonen beider Geſchlechter, begrünbet durch ben Ges
ſchlechtstrich, vollendet durch ben Wechſeltauſch der Herzen, durch
eine Willenteinheit, in welcher die Frau die ächten Bedingungen
der weiblichen Natur ebenfo vollkommen erfült, al& der Mann
die der männlichen. Nur in diefer Verbindung kann der Mann
vollkommen Mann und’ dad Weib vollfonimen Weib fein. Dar-
um iſt eine folche Verbindung beider Befchlechter „Die nothwen-
dige Weiſe des erwachſenen Menfchen zus eriftiten“ **),
Dieſe Verbindung ift Ehe. Mur. in- ihr eriſtirt der ganze
Menſch; darum iſt die Ehe nicht Mittelifär. irgend. etwas Anderes,
ſondern ihr eigmer:Biwed.. Der Gefchledhtötrieb.ift. ihr Grund,
die Ergänzung: der Geſchlechter, die Liebe der. Frau, die Großs
muth. des Mannes, bad ganze darauf gegrändete genwirfchaftliche
und, innige Seelenlehen iſt ihr Inhalt. . Sie opchindet dieſe Frau
*) Ebendaſelbſt. J.Abſchn. $.7..5. 813 -316.
Ebendaſelbſt. I & 7. Coroll. Vol. 8. 8. S. 2116—-316.
672
mit diefem Mann: daher ift ihre der Würbe der Perfon einzig
gemäße Form bie Monogamie. Ihre Verbindung ift vollftändig,
untrennbar, ewig; wird fie nicht fo betrachtet, fo ift e8 auf der
weiblichen Seite nicht die Liebe und auf der männlichen nicht die
Großmuth, die beide verbindet, und wad Mann und Frau dann
vereinigt, wenn ed jene Empfindungen nicht find, mag alles an:
dere fein, nur feine Ehe*).
Wenn aber die Ehe ift, was fie nad) den Forderungen ber
menfchlichen Natur fein ſoll, fo enthält fie Die Kraft in fich, ben
Menfchen nicht bloß edel, fondern aufopferungsfähig zu machen; fo
liegen in ihr bie natürlichen Zriebfedern zur Tugend. Es giebt
auch zur Sittlichkeit ein natürliches Motiv, aber nur ein einzi-
ges: die Ehe. „Hier ift die Aufgabe gelöft: wie kann man das
Menfchengefchlecht von Natur aus zur Tugend führen? Ich ant-
worte: lebiglich Dadurch, daß das natürliche Verhältniß zwiſchen
beiden Gefchlechtern wieberhergeftelt werde. Es giebt Feine fitt-
liche Erziehung ber Menſchheit, außer von biefem Punkte aus **).”
u.
Das Ehe: und Familienrecht,
1. Die Freiheit der Ehe. Schutzpflicht des Staates.
Die Ehe ift deducirt. Sie ift gefordert durch die felbfibe-
wußte Natur der menfchlichen Gattung, alfo ſchlechterdings noth-
wendig in ſich; fie ift fein erfundener Gebrauch, keine willkür⸗
liche Einrichtung, Fein Rechtövertrag, darum auch Feine juri⸗
bifche, fondern eine natürlich moralifhe Wereinigung. Nicht
dad Recht macht die Ehe, fondern die Ehe ift die Bedingung
bes Eherechts. „Erſt muß eine Ehe da fein, ehe von einem Ehe
*) Ghendafelbft. I. 8.8. 6. 315—317.
**) Ebendaſelbſt. I. $. 7. Coroll. 2. ©, 315,
673
recht, fo wie erft Menſchen da fein müffen, ehe von Recht über:
haupt die Rede fein kann. Woher die erftere komme, danach
frägt der Rechtöbegriff ebenfo wenig, als er fragt, woher bie
legteren kommen *).” Die Frage ift nur, in wie weit die Rechts⸗
form anwendbar ift auf die Ehe; in wie weit diefe vermöge ihrer
eigenen Natur der öffentlichen Anerkennung und des öffentlichen
Schutzes bedarf. Es handelt fih um das Berhältniß der Ehe
zum Staat.
Die Ehe gehört zu den Bedingungen des menfchlichen Da-
feins, der menfchlichen Perfönlichkeit und als folche zu den Ur-
rechten, bie den Schuß ber Geſetze fordern. Was die Möglich
keit der Ehe vernichtet, muß der Staat für geſetzwidrig erklären.
Die erfte Bedingung der Ehe ift die Liebe der Frau, die freiwil-
lige Hingebung. Jeder in biefer Rückſicht geübte Zwang macht
die Ehe unmöglich; jeder Zwang diefer Art muß daher für geſetz⸗
widrig gelten, nicht bloß der unmittelbare, fondern auch ber
mittelbare. Als rohe Gewaltthat (Nothzucht) ift er nach dem
Geſetz eines ber nichtswürdigſten und ftrafbarfien Verbrechen,
welches gleich zu achten ift dem Morde. Indem der Staat die
weiblichen Urrechte ſchützt, fichert er zugleich die erfle Bedingung
zur Möglichkeit der Ehe. Eine erzwungene Ehe ift Peine. Die
Geltung der Ehe ift bebingt durch die freie Einwilligung ber
Frau, durch das Eheverfprechen; der Staat kann baher nur die
Ehe anerkennen und ſchiltzen, die ihm als ſolche gilt: darum muß
die freie Einwilligung durch einen Öffentlichen Act erklärt werben
(Zrauung). Die ehelich Verbundenen find ein Wille, eine
Rechtsperſon; als ſolche bebürfen fie ber öffentlichen Anerken—
nung, welche felbft die öffentliche Bekanntmachung und Beglau:
bigung der Ehe fordert. Dadurch wird die Ehe vechtögültig,
*) Ebenbafelbft. IT Abſchn. 8.9. S. 317—818.
Fifger, Gefhiäte der Phllofophie. V. 48
674
und nur als Ehe Tann bie Gefchlechtöverhinbung rechtgültig wer:
den‘).
Ohne rechtögültige Form if die Geſchlechtsvereinigung ent-
weber heimliche Ehe (Gingebung aus Liebe, Ehe ohne Ehever⸗
fprechen) ober Goncubinat (Zufammenleben zum Zweck der Ge
folechtöbefriedigung) ober Proflitution des Weibes (Hingebung
für Geld). Der Staat kann die moralifhe Selbflentwürdigung
nicht verbieten, darum dad Concubinat und die Profiitution ald
ſolche nicht hindern, noch weniger aber darf er fie anerkennen
oder fhügen. Das Concubinat hat gar Feine Rechtskraft; ber
Geſchlechtstrieb ift fein Gewerbe, die feilen Weiber können ihre
Eriftenz im Staate nicht durch einen Lebenderwerb rechtfertigen,
den dad Gefeg anerkennt. Daher darf ber Staat bie Proflitu-
tion nicht dulden, bean fie ift in feinen Augen erwerblos. Die
heimliche Ehe dagegen, welche die innere Geltung der Ehe befigt
und nur die äußere der Rechtöform entbehrt, wird durch das
+ Ehegefeß genöthigt, dieſe anzunehmen, wenn fie nicht ald Eon=
cubinat gelten will d. h. ald ein Verhältniß, welches die Frau
entehrt*").
2. Aufhebung der Ehe. Ehebrud. Scheidung.
Mit der Ehe ift jede andere außereheliche Geſchlechtsverbin⸗
bung ſchlechterdings unvereinbar; fie ift Die Vernichtung der Ehe
ober Ehebruch; fobald die inneren Bedingungen der Ehe aufge:
löſt find, if feine Ehe mehr vorhanden. Doch verhält es fich,
nad) der Natur der Gefchlechter, anders mit dem männlicyen
Ehebruch ald mit dem weiblichen. Bon Seiten der Frau ift der
Ehebruch der Beweis, daß fie den Mann nicht liebt und bie
*) Ebendaſelbſt. IL. $. 10—14. ©. 318—25.
Ebendaſelbſt. IL $.22—23. ©. 33136.
676
Verbindung mit ihm nur als Mittel für andere Zwecke gebraucht
bat. Damit ift die erfie Grundbedingung der Ehe vernichtet.
Es ift unmöglid, daß der Mann den Ehebruch der Frau erträgt;
wenn er ed that, fo trifft ihn die öffentliche Verachtung; er ift
entehrt. Hat dagegen der Mann die Ehe gebrochen, fo iſt die
Trage, ob die Liebe der Frau dadurch geflört ift, ob die Fran
diefen fhuldigen Mann noch lieben kann? Kann fie es nicht
mehr, fo ift die Grundbebingung der Ehe vernichtet, und es darf
von ber Frau nicht gefordert werben, daß fie die äußere Form
derfelben länger erträgt. Wenn aber ihre Liebe die Schuld des
Mannes überdauert, fo ift auch die Fortdauer der Ehe möglich.
Die Frau kann dem Manne verzeihen und wirb dadurch fo wenig
verächtlich, daß fie fogar um diefer Verzeihung willen bewunde⸗
rungswürdig erfcheinen kann; fie handelt großmüthig gegen dem
Mann. Freilich kehrt fich dadurch das ganze innere Verhältnig
der Ehe um, und fo kann es kommen, daß durch die Schuld ded
Mannes zwar die Ehe nicht aufgelöft, aber innerlich aus ihrem
Schwerpuntte gerückt und völlig verfchoben wird, weil von dieſem
Augenblid an die Großmuth auf die Seite der Frau fällt ).
Iſt die Ehe innerlich gelöft und hat fie damit aufgehört eine
wirkliche Ehe zu fein, fo ift die Folge, daß fie auch aufhört ver—
möge der Rechtöform für eine folche zu gelten. Die Auflöfung
diefer Rechtöform ift die Scheidung. Der Staat hat in Rüdficht
auf die Ehe Feine Zwangsgeſetze; er darf fie Durch Zwang weder
machen (im Gegentheil ſoll er fie gegen ben Zwang ſchützen) noch
hindern, er darf fie durch Zwang weder fcheiden noch ihre Scheis
dung unmöglich machen. Er hat der Ehe gegenüber die Schuß
pfliht; zur Ausübung derfelben muß er aufgefordert werben,
und die Eheleute felbft müſſen die Hülfe des Gefeges anrufen,
Tr) Ehendafelift, IL. $. 19-20. 6. 327—30,
43*
676
Dann giebt der Staat fein Rechtöurtheil. Entweder find beide
Theile einverftanden und erklären öffentlich, daß ihr Verhältniß
aufgehört hat, eine Ehe zu fein; fo kann der Staat fie unmög⸗
lich durch Zwang aufrecht halten, und die Öffentliche Scheibung
ift nothwendig; ober nur der eine Theil will Die Scheidung, wäh:
rend fie der andere nicht will; fo entfcheidet das Geſetz mach ber
Gültigkeit der Klage und nad) der Beichaffenheit der Schuld;
der weibliche Ehebruch begründet die unmittelbare Scheidung, der
männliche zunächft die Trennung und, wenn bie Frau auf ihrer
Klage befteht, auch die Scheidung”).
3. Die Ehe als Rechts perſon.
Die wirkliche Ehe ift eine wahrhafte Einheit des männlichen
unb weiblichen Willens, fie ift ein Wille und gilt daher dem
Staate gegenüber ald eine Perfon, als eine juriftifche Perfon,
die nach außen, alfo in allen öffentlichen Angelegenheiten, ber
Mann repräfentirt. Innerhalb der Ehe giebt es keine Rechts
ſtreitigkeiten, diefe treten erft ein mit der Auflöfung der Ehe und
werben dann nad) Rechtsgeſetzen entſchieden; innerhalb der Ehe
giebt es Feine Trennung der Willen, alfo auch Feine Zrennung
der Güter, erft mit der Scheidung der Perfonen kann bie Schei⸗
dung der Güter nach dem öffentlichen Rechtöurtheil eintreten **).
Der richtige Begriff der Ehe entfcheidet auch die Frage nach
ben öffentlichen Rechten der Frau. Es iſt grundfalſch zu fagen,
daß die Ehe mit ben öffentlichen Rechten der Frau im Wider:
ſpruch ſtehe; im Gegentheil fie fleht damit im vollen Einklang.
Erſt durch die Ehe tritt die Frau in alle öffentlichen Rechte ein;
*) Ebendaſelbſt. II. 8. 24—30, ©. 335—341.
Ebendaſelbſt. IL $.15—18. S. 325—27. Bel. $. 51.
© 341-483,
677
nur dafs fie diefelben nicht in eigener Perfon ausübt, fondern in
deren öffentlicher Ausübung ſich durch ihren Mann vertreten
läßt. Sie felbft lebt ganz in ihrem Mann und in ihrem Haufe:
das ift ihr eigener, innerfter Wille, Als Glied ber öffentlichen
Rechtögemeinfchaft und des Staats will fie nicht felbft auftreten,
fondern durch ihren Mann repräfentirt fein: daß ift bie ihr ges
bührende vornehme Stellung. In diefe kommt fie erft durch die
Ehe. Die Männer haben unmittelbaren Einfluß auf die öffent:
lichen Angelegenheiten; die Frauen haben unmittelbaren Einfluß
auf die Männer. Dadurch ift ihre Einwirkung auf das öffent:
liche Leben in der Sache gefichert. Wollen fie mehr, fo ift es
nicht mehr die Sache, bie ihnen am Herzen liegt, fondern ber
Schein der Sache, das Auffehen, die Gelebrität, mit einem
Wort alle jene eitlen Dinge, denen die Männer nachjagen; dann
ift es der Neid gegen bie Männer, der fie treibt und mehr beuns
ruhigt, als die Liebe zu dem eigenen Mann fie befriedigt. Da:
bei gewinnt die Frau nichts und verliert alles.
Was daher die öffentlichen Rechte der Frauen betrifft, fo
handelt es fich nicht um beren Befig, fondern um deren Aus-
Übung, und hier können ed nur die unverheiratheten Frauen fein,
welche die Ausübung in eigener Perfon beanfpruchen. Dieſes
Recht ſollen fie haben, fie follen jedes öffentliche Gefchäft betrei⸗
ben dürfen, nur kein Staatdamt, denn dieſes forbert die Vers
antwortlichkeit des Beamten, und um feine Handlungen felbft
verantworten zu können, muß der eigene Wille völlig unabhängig
ſein; nun aber giebt die Frau eben diefe Unabhängigkeit auf, fo
bald fie einen Mann liebt; daher müßte fie, um ein Staatdamt
verwalten zu Eönnen, dad (unmögliche) Berfprechen ablegen, fich
einer folchen Empfindung ſtets enthalten zu wollen”).
*) Ebendajelbft, III Abſchn. $. 32—38, S. 343— 358.
678
4. Familienrecht. Eltern und Kinder.
Wie die Ehe, fo ift auch dad Verhaͤltniß der Eltern zu den
Kindern ein natilrlich⸗ moraliſches, welches durch den Rechtöbe:
griff nicht gemacht, fondern worauf biefer nur angewendet wird.
Die Beziehung ber Eltern und Kinder zum Staate fordert, daß
ihr Verhältniß durch die Anwendung der Rechtsform ſich auch
als Rechtöverhälmiß geſtalte.
Die Zeugung des Kindes, bie Entwidlung deſſelben im
mätterlichen Leibe und die Geburt find natürliche Vorgänge, die
mit phyſikaliſcher Nothwendigkeit erfolgen und in welchen Die Na-
tur des menfchlichen Körpers denfelben Gefegen unterliegt, als
der thierifche. Aber bie menfchliche Natur enthält eine Grund:
bebingung, welche der thierifchen fehlt: das Selbſtbewußtſein.
Das mütterliche Bewußtfein von dem Augenblid an, wo es ein-
tritt, durchlebt die im mütterlichen Leibe reifende und an deſſen
Dafein und Erhaltung gebundene Entwidtung der Frucht, die
Schmerzen der Geburt, das Glüd der Befreiung, das Dafein
des Kindes. Die menfchliche Mutter ift ihres organifchen Zu:
fammenhanges mit dem Kinde, der auch nad) der Geburt fort:
dauert, fich bewußt; der Trieb des Kindes nach Nahrung und
der Trieb ber Mutter zum Nähren bed Kindes find natürlich ver:
bundene Triebe und ftehen als folche in einem organifchen Ver:
haltniß; die Mutter fühlt das Bedürfniß bed Kindes als ihr
eigenes; dad Kind ift unmittelbar ein Gegenftand des mütterli-
chen Mitleidves und der zärtlichften Sorgfalt, feine Erhaltung ift
in der Seele der Mutter zugleich natlirlicher Trieb und bewußte
Aufgabe. Nun ift vermöge ber ehelichen Zärtlichkeit der innigfte
Bunfc der Frau zugleich der Wille ded Mannes; auf die Zärt:
lichkeit für die Frau, die Mutter feined Kindes, gründet fich zus
nächft die näterliche Liebe und Sorgfalt, Beide Eltern find einig
679
in der Liebe für das Kind, fie wollen ſein Wehlſein, darum
müffen fie auch feine Freiheit wollen, darum müffen fie diefe
Freiheit foweit einfchränfen und bilden, ald es das Wohl des
Kindes fordert, d. h. fie müflen dad Kind erziehen, nicht bloß
phyſiſch umd intellectuell, auch moralifch. Dieß alles fordert die
bewußte menfchliche Natur von ben Eltern in Rückſicht auf ihre
Kinder, nicht ald Pflicht, fondern ald natürlich = fittliche Noth⸗
wendigkeit; dad Kind muß für die Eltern ein Gegenftand folder
Pflege, ſolcher Empfindungen und Aufgaben fein.
Die Familie lebt im Staate, die Eltern haben öffentliche
Rechte und Pflichten, fie bilden eine Rechtöperfon, welche der
Wann repräfentirt. Der Staat bedarf zu feinem Dafein und
feiner gleichmäßigen Zortdauer einer gleihmäßigen Volksmenge
und deren immer ſich erneuernden Ergänzung; er bedarf der Kin⸗
bererziehung und hat mithin ein Recht fie zu fordern und feinen
Bürgern zur Imangspflicht zu machen; er hat dadurch ein Recht
der Einwirkung auf dad Verhältniß der Eltern zu den Kindern.
Er fordert mit Recht die Erhaltung der Kinder und erflärt deren
Vernichtung (Kindesmord), weil dadurch der Staatszweck ges
fährbet wird, für ein ſtrafwürdiges Verbrechen. Wie aber, wenn
die Kinder ſchon von Geburt unfähig find, jemald Bürger zu
werben, wie der Staat fie braucht? An der Erhaltung folcher
Kinder hat der Staat Fein Intereffe, alfo auch keines dagegen,
daß fie ausgeſetzt und baburch mittelbar vernichtet werden; er
wird dieſes Verfahren nicht befehlen, auch nicht ausdrülcklich ers
lauben dürfen, aber er braucht es nicht ausdrücklich zu verbieten.
Hier finden wir Fichte wieder in feiner fpartanifchen Art: das
Eyhorat, der gefchloffene Hanbelöftaat, die Möglichkeit der Aus-
fegung untauglicher Kinder! In den beiden erften Punkten war
jene lykurgiſche Methode (wenigſtens für uns) unpraktiſch und un⸗
680
politiſch, in dieſem britten Punkt ift fie unter allen Umfländen
unmenſchlich. Zugleich ift hier ein handgreiflicher Fehler in feinem
Schluß: was ber Staat aus moralifchen Gründen niemals be
fehlen, niemals ausdrücklich erlauben darf, das darf er auch nicht
ſtillſchweigend erlauben, und hanbelt es fich dabei gar um die
Möglichkeit und die Bedingungen des perfönlichen Daſeins, fo
muß er ed nach feinem eigenen Princip aus Rechtögründen aus:
drücklich verbieten *).
Die Eltern ſollen die Pflicht haben, ihre Kinder zu erziehen,
alfo müffen fie auch das Recht haben, ihre Kinder zu behalten,
und dürfen baher nicht gezwungen werben, öffentliche Erziehungs:
anftalten zu brauchen; es darf fich niemand in ihre Erziehung
einmifchen, weil fonft ein gleihmäßiger und georbneter Gang
derfelben nicht möglich wäre; mithin muß der Staat den Eltern
die Herefchaft über ihre Kinder einräumen und garantiren als
ein Recht, ohne welches fie die Pflicht der Erziehung nicht erfül⸗
len können. Diefe Pflicht allein ift ed, welche die Herrſchaft der
Eltern über die Kinder rechtlich bedingt, alfo auch einfchränft,
Die Eltern Eönnen daher unmöglich daS Recht haben mit den
Kindern wie mit einem Eigenthume zu verfahren, fie dürfen die
felben nicht veräußern, mißhandeln u. f. f.; bier tritt ihnen nicht
bloß die Natur ber elterlichen Liebe, fondern ber Staat mit dem
Geſetz entgegen; fie dürfen es nicht von Staats wegen, Daher
bat auch der Staat diefe Herrfchaft der Eltern Über die Kinder
nicht bloß zu garantiven, fondern auch zu beauffichtigen.
Unter der Herrfchaft der Eltern find die Kinder unftei, un:
felbftändig, unmündig; ihr natürlicher Vormund ift der Vater,
fie werden frei, wenn fie aus ber väterlichen Gewalt heraudtreten,
wenn ihre Erziehung vollendet iſt. Ob fie es ift, darüber ents
*) Gbenbajelbft, IV Abſchn. $. 48. ©. 36162,
681
ſcheiden die Eltern, indem fie die Kinder frei laffen, ober ber
Staat, indem er fie für brauchbare Bürger erkennt, fei ed daß
er ihnen ein Staatdamt überträgt oder ein öffentliches Geichäft
zu treiben erlaubt. Die Verheirathung ift die Grenze der elterlis
hen Gewalt; da biefe Grenze durch den Willen der Eltern felbft
beftimmt wird, fo haben die Eltern in die Heirath der Kinder zu
willigen; da aber bie Ehe nicht gehindert werden darf, fo kann
dad Verbot der Eltern die Verheirathung auch nur aufſchieben,
aber nicht unmöglich machen. Kinder find als folche Feine (ſelb⸗
ftändigen) Perfonen, daher Tönnen fie Eigenthum weber haben
noch erwerben. Wenn fie felbfländig werben kraft des elterlichen
Willens, fo ift es natürlich, daß fie durch denfelben Willen auch
Eigenthümer werden, d. h. daß die Eltern fie auöflatten. Ueber
diefe Ausftattung entfcheidet Tediglich die Willkür und Güte der
Eltern , denn die Kinder find Feine Eigenthümer, alfo auch nicht
Miteigenthümer des elterlichen Guts. Ueber ihr Recht der Ins
teftaterbfchaft entfcheidet die pofitive Geſetgebung. Im Falle
einer Scheidung Tann ein Rechtöftreit über die Kinder entfliehen:
will feiner der beiden Eltern für die Erziehung forgen, fo wer:
den dem Water die Koften der Erziehung und ber Mutter diefe
felbft übertragen; will Dagegen jeber ber beiden Theile die Kinder
haben , fo fol der Mutter die Erziehung der Töchter, dem Vater
bie der Söhne gehören *).
IL
Völker: und Weltbürgerredht.
1. Voͤlkerrecht.
Das Selbſtbewußtſein fordert die gegenſeitige perfönliche Anz
ertennung der Menfchen als finnlicher Vernunftwefen und die
*) Ebenbafelbft. IV Abſchn. $. 39-61. ©. 355—368.
682
barauf gegründete Rechtögemeinfchaft, welche felbft ihren ficheren
Beſtand durch den Staat hat. Soll nun das Rechtsverhältniß
fo weit reichen ald dad Dafein menfchlicher Wefen, fo müßten
alle Menfchen Bürger deſſelben Staates fein und die ganze
Menſchheit eine einzige politifche Gemeinde ausmachen. Indefs
fen muß die Menfchheit vermöge der Befchaffenheit der Ertobers
fläche und ihrer Gebiete, vermöge ihrer eigenen inneren Unter
ſchiede, der Racen, Völker, Sprachen, Religionen, Bildungsfor⸗
men u. ſ. f. in eine Mehrheit verfchiedener und getrennter Staa⸗
ten zerfallen. Die Staatögemeinfchaft der gefammten Menfchheit
iſt daher unmöglich; auf ber anderen Seite ift dad Rechtöverhält-
niß der Perfonen nothwendig: alfo müffen bie Einzelnen in einer
(geficherten) Rechtögemeinfchaft fiehen können, ohne zugleidy in
derfelben Staatögemeinfchaft verbunden zu fein. ine Rechtöges
meinfchaft der Perfonen (in ihrer unbefchränkten Ausdehnung)
iſt aber nur dann möglich, wenn bie verfchiebenen Staaten felbft
in ein gegenfeitiged Rechtöverhältniß treten, d. h. wenn es ein
Völkerrecht giebt: mithin ift das Völkerrecht nothwendig, und
diefe Nothwendigkeit ift um fo dringender, je leichter bie Bürger
verfchiedener Staaten in Rechtöftreitigkeiten gerathen können, was
am erften der Fall ift bei Grenzflaaten, daher dieſe vor allem
ihre Grenzen reguliven, durch Verträge feftftellen und gegenfeitig
anerkennen müffen *). .
2. Geſandtſchaftsrecht.
Das Rechtöverhältniß der Staaten ift nothwendig, um bad
Daſein der Staaten felbft und die Rechtögemeinfchaft der Perfo:
nen nach innen und außen zu fihern. Um bie gegenfeitigen
*) Ghenbafelbft. Zweiter Anhang des Naturrehts, I. 8. 14,
Coroll, S. 368-871. "
683
Rechtöverhälmiffe feftzuftellen, milffen die Staaten ausdrücliche
Verträge fliegen, die auf der gegenfeitigen Anerkennung berus
ben: auf der Anerkennung der Selbftändigkeit und inneren Unab⸗
hängigeit jedes der contrahirenden Staaten. Jeder Staat hat
das Recht ſeine durch die Verträge von Seiten des anderen
Staates erworbenen Rechte zu wahren und zu beaufſichtigen.
Um dieſe Aufſicht führen zu können, muß er im fremden Staate
einen (dort refidirenden und innerhalb deſſelben unverleglichen) Ges
fandten haben, der ihn repräfentirt und feine Rechte überwacht ;
das Völkerrecht fchließt daher dad Gefandtfchaftsrecht in ſich ).
3. Kriegsrecht.
Jeder Staat muß für feine Sicherheit forgen und hat ein
Recht diefelbe zu erzwingen; ba nun die Nichtanerfennung eines
fremden Staats diefe feine Sicherheit gefährdet, fo hat jeder
Staat auf die Anerkennung des anderen ein Zwangsrecht. Der
auf die gegenfeitige Anerkennung gegründete Vertrag muß gehal:
ten werden ; wird er verlegt, fo hat der verlegte Staat das Recht,
den andern zu zwingen. Dad von einem Staat auf den andern
ausgeübte Zwangsrecht iſt der Krieg. Der Zweck des Kriegs ift
die Sicherung bed Friegführenden Staats, alfo die Vernichtung
des befriegten, die Vernichtung der Selbftändigkeit deffelben, ba
diefe der Grund der Gefahr iſt. Die Seibftändigkeit wird ver:
nichtet durch die Eroberung; daher ift diefe der eigentliche Zweck
jedes Kriegs. Das Mittel der Kriegäfährung ift die Gewalt der
Baffen, daher ift es auch nur die bewaffnete Macht, bie mit der
bewaffneten Macht Krieg führt und auf deren Vernichtung d. h.
auf die Entwaffnung berfelben ausgeht. Diefer Zweit ſchließt
die graufame Art der Kriegäführung, die Ausplünderung ber un⸗
*) Ehenbajeltft, I. $.3—11, 6. 873-326,
63
bewaffneten Bürger, die Werheerung, ben abfichtlichen Mord
uff aus*),
4 Bölferbund.
(Bundesgericht. Ewiger Frieden.)
Im Kriege ift das Recht auf der Seite des Siegerd; bie
fiegreiche Gewalt entfcheidet das Recht. Sol nun, wie die Ge
rechtigkeit fordert, nur dad Recht die Gewalt haben, fo müßte
es immer die gerechte Sache fein, welche fiegt, und es müßten
deßhalb Bedingungen eingeführt werben, unter denen bad Recht
allemal die fiegreiche d. h. die meifte Gewalt hat. Das ift nur
moͤglich, wenn ſich eine Menge Völker zum Schutze des Völker:
rechts vereinigen; und da im Völkerrecht bie politifche Selbſtän⸗
digkeit und Unabhängigkeit ber Staaten anerkannt ift, fo könnte
eine folche Vereinigung fein Völkerſtaat, fondern müßte ein Völ⸗
kerbund fein, der durch ein Bundesgericht über jede Verlegung
des Völferrechtö urtheilt und dieſes fein Rechtöurtheil im Noth⸗
fall durch Gewalt d. h. durch Executionskrieg zur Geltung bringt.
Durch einen folchen Völkerbund werben die völferrechtlichen Strei⸗
tigfeiten gerichtlich ausgetragen; ber verurtheilte Staat wird es
auf den Krieg nicht ankommen laffen, weil er der fchwächere iſt;
die Kriege werden auf diefe Weife verhindert, zuletzt unmöglich
gemacht und damit ber dauernde (ewige) Frieden hergeftelt, das
einzig rechtmäßige Verhältnig der Staaten **),
5. Weltbürgerrecht.
Innerhalb der Staatögemeinfchaft ift jeder Bürger rechtlich
geſichert; er ift es auch in allen fremden Staaten, die mit dem
feinigen völkerrechtlich verbunden find. Er fol es überall fein,
Ebendaſelbſt. I. 8. 12—14, 8.377—378,
**) Ebendaſelbſt. L $.15—20. 6.379 —382,
685
fo weit Menfchen leben, alfo auch außerhalb des Staats: und
Volkerrechts, d. h. außerhalb aller wirklich gefchloffenen Verträge.
Hier gilt das fogenannte Weltbürgerrecht, nicht die bürgerliche,
fondern die bloß menſchliche gegenfeitige Anerfennung der Perfos
nen, nicht der bereitö gefchloffene Vertrag (denn es ift feiner vor⸗
handen), fondern nur die Möglichkeit, gegenfeitige Verträge zu
fchließen. Dieſe Möglichkeit fol anerfannt werden ald Recht
jedes Menſchen gegenüber dem andern, ald Menfchenrecht: das
ift Bein Inbegriff erworbener Rechte, fondern nur die Fähigkeit,
Rechte zu erwerben, bie als ſolche mit den Bedingungen ber
menfchlihen Natur zufammenfält *).
*) Ebendafelbft. IT. $.21—24. ©. 382—388,
Zwölftes Kapitel.
Princip uud Grundlegung der Sittenlehre*).
L
Begriff der Sittenlehre,
41. Stellung und Aufgabe der Sittenlehre.
Die praktifche Wiffenfchaftslehre hatte in ihrer Grundlegung
dad Spftem der nothwenbigen Triebe entwidelt und in dem zus
legt gefundenen Begriff eined „Triebes um bed Triebes willen
(ſittlichen Triebes)“ diefelbe mit der Ausſicht auf das Sittengefeh
gefhloffen**); die Rechtölehre mußte wieberholt ihr Gebiet von
dem ber Sittenlehre unterfcheiden und damit fchon auf den Ger
genftand der letzteren hinweiſen. Jetzt nachdem die Grundlage
der gefammten Wiſſenſchaftslehre und auf berfelben dad Syſtem
der Rechtölehre in feinem ganzen Umfange feftgeftellt ift, erfcheint
die Begründung und Entwicklung der Sittenlehre ald bie nächfte
Aufgabe im Fortfchritte des fichte ſchen Syſtems. Und da in der
abfoluten Selbftthätigkeit und Freiheit das Princip fowohl der
Wiſſenſchaftslehre überhaupt als insbeſondere der Sittenlehre bes
fteht, fo läßt ſich vorausfehen, daß hier der Geift des ganzen
Syſtems fein eigentliched Element und feine Heimath finden, daß
*) Das Syftem der Gittenlehre nad ben Principien ber Wiſſen⸗
ſchaftslehre (1798), S. W. IT Abth. A. II Bo.
**) Bol, oben Cap. VII dieſes Buchs. Nr. III. 9, &.590—592,
687
in einem ihrer befonberen Gebiete die Wiſſenſchaftslehre ſich
deutlicher und vollftändiger ausprägen, daß unter dem Gefichts:
punkte der Sittenlehre dad Ganze bes fichte ſchen Syſtems in
einen hell erleuchteten Geſichtskreis treten wird. Nehmen wir
dazu die vorzügliche Kraft und methodiſch auögereifte Form ber
Darftellung, womit Fichte die Sittenlehre entwidelt hat, fo düürs
fen wir mit Recht erwarten, daß fich dieſes Werk, wie eö in ber
That der Fall ift, durch feinen claffifchen Werth umter allen
übrigen hervorhebt.
Die Diöpofition der Aufgabe liegt hier fo einfach als bei der
Rechtslehre. Es handelt fi) um dieſe drei Hauptpunfte: das
Princip der Sittenlehre, die Anwendbarkeit diefed Princips, die
Anwendung felbft.
2. Philoſophiſche Sittenlehre .
Die erfie Aufgabe ift daher die Feſtſtellung des Principe,
Nichts fteht in der Wiffenfchaftslehre feft ald dad Bewieſene.
Etwas im Geifte der Wiflenfchaftölehre beweifen, heißt allemal
darthun, daß ed nothwendig zum Ich gehört, nothwendig durch
das Selbftbewußtfein gefordert wird oder aus deſſen Bedingun-
gen folgt. Diefen Beweis nennt Fichte die Deduction. Es han⸗
delt fi daher in erfter Linie um bie Debuction bes Princips:
um die Ableitung des Sittengefeges aus dem Ich.
Es giebt ein menſchliches Thun und Laflen, welches von
äußeren Zweden völlig unabhängig ift: in diefer feiner Unabhäns
gigfeit unterfcheidet es fich von dem Erkennen (theoretifchen Thäs
tigkeit), in der Unabhängigkeit von allen äußeren Zwecken unter-
ſcheidet es ſich von dem bloß techtlichen Handeln. Dieſes völig
unabhängige Thun und Laffen ift fittlicher Art. Es ift nicht
willkürlich, fondern es findet fich dazu in dem menfchlichen Ges
688
müth eine Nöthigung ; gerade barin, in biefer nothwendigen Be:
ſchaffenheit, an der nichts wilfärlich gemacht ober geändert wer:
den kann, befteht Die moralifche oder fittliche Natur des Menfchen,
die daher aller Reflerion in uns vorausgeht und durch diefe nicht
gemacht, fondern bloß erkannt wird. Nehmen wir dad Sittliche,
wie es zunächft erfcheint und ſich und unwillkürlich aufdrängt,
als eine bloße Thatfache des Bewußtſeins und begnügen und bei
diefer nicht weiter dringenden Einſicht, fo entfleht „die factifche
oder gemeine Erfenntniß der fittlichen Natur“, die philofophifch
gar keinen Werth hat. Die philofophifhe Erkenntniß geht tiefer;
fie will jene Thatſache des fittlichen Bewußtſeins ergründen ober
aus ihren nothwendigen Bedingungen ableiten. Diefe Einficht
iſt die genetifche Erkenntniß des fittlichen Bewußtſeins, die Ablei⸗
tung deffelben aus dem Ich, die Debuction des Sittengeſetzes.
Dadurdy allein entfteht eine „Wiffenfchaft der Moralität”, eine
nXheorie des Bewußtſeins unferer moralifchen Natur” d. h. Sit:
tenlehre im Geift der Wiſſenſchaftslehre *).
3. Die Grundbedingungen des Sittliden.
Greiheit und Stoff.)
Dieſe Deduction hat eine Vorbedingung. Da alles ſittliche
Handeln in einer ſubjectiv völlig freien und unabhängigen Wirk⸗
famteit befteht, welche felbft nur möglich ift unter der Bedingung
eines zu überwindenden Widerftandes, oder ba alle fittliche Frei⸗
beit in und weſentlich Befreiung ift, die als ſolche etwas zu
Ueberwindenbed (etwas, wovon wir und zu befreien haben) vor⸗
ausſetzt, fo find die beiden Vorbedingungen, ohne welche übers
haupt von Sittlichkeit nicht geredet werden kann, bie Freiheit
— —*
*) Das Syftem ber Sittenlehre u. |. f. I Hptſtüd. Deduction des
Princips ber Sittlichkeit, Vorerinnerung zu dieſer Deduction. &.18— 18,
689
und ihr Gegenteil (der zu überwinbende Widerſtand, der und
gegebene, unfreie, widerſtrebende Stoff). Daher wird vor allem
die Thatfache diefer beiden Bedingungen aus dem Ich abgeleitet
‚ober beburirt werben müffen: das ift bie Aufgabe ber Einleitung
in bad Syſtem der Sittenlehre*).
Gehen wir aus von der Thatſache des gewöhnlichen ober
empirifchen Bewußtſeins, fo hat die Wiſſenſchaftslehre gezeigt,
wie biefe Thatſache nur „abgeleitet ‚werben kann aus einem Prin-
ip, welches ſelbſt nicht in die Form des Bewußtfeins eintritt
noch jemals in diefelbe eintreten Tann. Das gewöhnliche Bewußt⸗
fein ift Wiſſen von einem (und gegebenen) Object; ich Tann nicht
wiffen, daß etwas mir gegenüberfteht (außer mir iſt), ohne von
mir felbft zu wiſſen; daher ift dad objective Bewußtſein noth-
wenbig bebingt durch unfer Selbftbewußtfein, und dieſes beſteht
in dem Bewußtſein unferer eigenen Wirkſamkeit. Hier ift das
Princip: Ich der Wiffende und Ic der Wirkende bin ſchlecht⸗
hin baffelbe; bad wiſſende Ich iſt Subject, das wirkende Ich ift
Object (ded Selbfibewußtfeind); Subjet und Object (Wiffen
und Sein) find demnach hier fchlechthin Eines oder abfolut iden⸗
tifch. „Ich weiß von mir dadurch ba ich bin, unb bin baburch,
daß id von mir weiß”: dieſe unmittelbare Uebereinftimmung
zwiſchen Subject und Object, dieſe abfolute Ipentität beider iſt
das alleinige Princip alles Bewußtſeins.
Im Princip des Bewußtfeind find Subject umd Object abs
ſolut identiſch; in der Form des Bewußtfeins find beide ſtets ge⸗
trennt, und nur in biefer Trennung ift die Form des Bewußt⸗
feind möglich: daher kann jenes Princip in diefe Form nicht ein⸗
gehen. Dder, wie ſich Fichte ausdrüdt: „dad Eine, weiches ge:
trennt wird, das ſonach allem Bewußtſein zu Grunde liegt und
Einleitung, S. 1-12,
diſqer, Gefhläte der Phllofophle V. 44
‚690
zufolge deſſen das Subjective und Objective im Bewußtſein un-
mittelbar ald Eins gefegt wird, ift abfolut —= X, kann ald Ein-
faches auf Feine Weife zum Bewußtfein kommen *).”
Sind nun innerhalb des Bewußtſeins jene beiden Bebin-
gungen (Subject und Object) nothwendig getrennt, die im Grunde
des Bewußtfeind nothwendig Eines find, fo folgt daß die im
Bewußtſein Getrennten nothwendig vereinigt ober in Ueberein-
Rimmung gefegt werden mäffen. . Die Einheit Getrennter ift Ber-
bindung; die nothwendige Verbindung ift Cauſalverknüpfung:
daher iſt dad Bewußtfein, welches Subject und Object trennen
und zugleich vereinigen muß, nur möglich als (dad Bewußtſein
ber) Caufalverfnäpfung zwifchen Subject und Object.
Diefe Verbindung iſt nothwendiger Weife eine zweifache,
benn jede ber beiden Seiten muß ald Urfache und Wirkung der
andern gelten: 1) dad Object ift Urfache des Subjects, dieſes
folgt aus dem Object, es richtet fich nach ihm, d. h. ed ſtellt vor,
was dad Object if, der Begriff folgt aus dem Sein: dieſe Art
der Uebereinftimmung beider innerhalb der Trennung ift das Er-
tennen ober das theoretifche Ich; 2) dad Subject ift Urfache des
Objects, dieſes folgt aus dem Subject, es richtet fich nach ihm,
das Sein folgt aus dem Begriff (Zweckbegriff): dieſe Art der
Uebereinftimmung beider innerhalb der Trennung ift dad wir
kende oder praktiſche Ih. Darum ift alles Bewußtfein, weil
& in diefer doppelten Gaufalverfnüpfung (Uebereinſtimmung) zwi⸗
ſchen Subject und Objert beſteht, nothwendig ſowohl thenretifch
als praktiſch; und die Wiſſenſchaftslehre ald Begründung oder
Theorie bed Bewußtſeins nothwendig ſowohl theoretiſche ald prak⸗
tifche Wiffenfhaftölehre**). Die abfolute Einheit von Subject
*) Chendafelbft. Eml. Pr. 5. S. 5. Bergl. Fr. 1.
**) BVergl, oben III Bud, III Cap. Nr. IV. S. 505—507,
601
und Object (Princip des Bewußtſeins) muß innerhalb der Tren⸗
nung beiber (Form des Bewußtſeins) gleichfam gebrochen erfchei-
nen als Gaufalnerus, d. h. als theoretifche und praktiſche Ueberein⸗
fimmung. Iene befteht im Erkenntnißbegriff, diefe im Zweckbe⸗
geiff: fo geftaltet ſich die unmittelbare Uebereinſtimmung in der
Form des Bewußtfeind. Daher nennt Fichte den Erkenntniß⸗
und Zweckbegriff (dad Erkennen und Wellen) „eine befondere
Anficht jener unmittelbaren Webereinftimmung” ; und da biefe be
fondere Anficht (das theoretifche und praktifche Ich) mur bedingt
ift Durch die Form des Bewußtfeind und zugleich alle Arten der
Trennung und Uebereinftimmung zwifchen Subject und Object in
ſich ſchließt, fo darf Fichte erklären: daß „der gefammte Inhalt
alles möglichen Bewußtſeins durch die bloße Form deffelben ger
fest fei”*).
Kein Bewußtfein von irgend etwas ohne Bewußtſein des
eigenen Selbfteö, Fein Selbſtbewußtſein ohne Wahrnehmung ber
eigenen Thätigkeit, und diefe letztere feibft ift nicht wahrnehmbar
ohne Vorſtellung eined Widerſtandes von außen, der, von unfes
rer eigenen Thätigkeit völlig unabhängig und derfelben entgegen
geſetzt, als „bloße Objectivität” erfcheinen muß, „ald etwas nur
Beſtehendes, ruhig und tobt Worliegended, bad bloß ift, keines
wegs aber handelt, das nur zu befiehen ſtrebt und daher aller-
dings mit einem Mafe von Kraft zu bleiben, was es ift, ber
Einwirkung der Freiheit auf feinem eigenen Boden widerfirebt,
nimmermeht aber biefelbe auf ihrem Gebiete anzugreifen vermag“.
„So etwas heißt mit feinem eigenthlimlichen Namen Stoff.”
Ohne Vorſtellung eines folchen Stoffs keine Vorftellung eines un-
ferer Thätigfeit entgegengefegten Widerflandes, Feine Wahrneh⸗
*) Syftem ber Sittenlehre. Einleit. Nr. 5. S. 2— 6. Bergl,
Rr. 2. 3.4. 6.2—4.
44%
62
mung unferer eigenen Thatigkeit, Fein Selbſtbewußtſein, fein
Bewußtſein, kein Sein. Mit der Vorſtellung des Stoffe wilde
dad Bewußtfein felbft aufgehoben werben. Es ift Daher unmög⸗
lich, daß jene Vorftellung je aufgehoben wird; fie ift dauernd
und unveränberlich: fie folgt aud dem Geſetz des Bewußtfeind*).
Eben fo nothwendig ald die Setzung der bloßen Objectivi-
tät ober des Stoffs ift die Setzung der eigenen Thätigkeit, des
Subjectd als wirkfamer (realer) Kraft. Nun find im Bewußt-
fein Subject und Object getrennt. Das Subjective im Unterfchiebe
vom Objectiven ift Vorſtellung oder Begriff. Mithin muß in-
nerhalb diefer Trennung (ober des Bewußtfeind) bad eigene Thun
als eine Wirkſamkeit erfheinen, die vom Subject aus⸗ und auf
das Object übergeht, d. h. ald Caufalität des Begriffs oder als
Eaufalität durch den Begriff: fo allein kann fich im Bewußtſein
unfre abfolute Selbfityätigkeit darftellen. Diefe durch dad Ge
ſetz des Bewußtſeins geforderte Worftellung unferer abfoluten
Selbftthätigkeit heißt Freiheit. Der Begriff, als wirkfam vor-
geſtelit, if Zwedbegeif; Caufalität deß Begriffe if Bwerfthätig-
keit; die Setzung des Zwecks in Rüdficht auf das Object („der
Bwedbegriff, objectiv angefehen”) ift Wollen. Das Ich, vorge
ſtellt ald Princip der Wirkfamkeit, ift Wille. Soll der Wille auf
den Stoff wirken ober Eaufalität in der Körperwelt haben, fo muß
er felbft Stoff, materieller, articulieter Leib fein: Wille und Leib
iſt daher ein und baffelbe, von zwei Seiten betrachtet; was als
Subject Wille genannt wird, das heißt in feiner objectiven Er⸗
ſcheinung Leib. So beutlich ausgeſprochen und fo tief begrüns
det finbet fich bei Zichte das Princip ber ſchopenhauer ſchen
Eehre”*).
*) Ebendaſelbſt. Einl. Ar. 6. S. 6—8.
**) Chenbajelbft, Einl, Pr, 7 u. 8, 6, 8-11.
693
Die abfolute Selbſtthatigkeit erſcheint demnach in der Form
bes Bewußtſeins und nach dem Grundgefege des letztern zugleich
als Caufalität des Begriff und Caufalität des Stoffs, als Zweck-
thätigfeit und Nothwendigkeit, Freiheit und Materie, Wille und
Leib: ald diefe nothwendige Verknüpfung der beis
den Enden der ganzen Bernunftwelt*). Hier find bie
beiden Bedingungen, welche bie fittliche Thatigkeit fich voraußfegt.
„Das einzige Abfolute, worauf alles Bewußtſein und alles
Sein fid) gründet, ift reine Thatigkeit. Diefe erfcheint zufolge
ber Gefege des Bemußtfeind und insbeſondere zufolge feines Grund»
geſetzes als Wirkſamkeit auf etwas außer mir. Alles,
was in diefer Erſcheinung enthalten if, von dem mir abfolut
durch mich felbft gefeßten Zwede an, an dem einen Ende, bis
zum rohen Stoffe der Welt an dem andern find vermittelnde Glie⸗
der der Erfcheinung, ſonach felbft auch nur Erſcheinungen. Das
einzige reine Wahre ift meine Selbftändigkeit **)."
ID.
Die Deduction des Sitteng eſetzes *).
1. Beſtimmung der Aufgabe.
uUnſere Sittlichkeit beſteht in einem von allen äußeren Zwecken
völig unabhängigen Thun und Laffen, alfo in unſerer abfo-
Inten, bloß durch ſich beflimmten Selbfithätigkeit, d. h. in ei-
nem folchen Handeln, deſſen alleinige Gefeg ber Begriff ber
Selbſtthaͤtigkeit iſt. Wenn wir genöthigt find, dieſen Begriff
unferer abfoluten Selbftthätigkeit zur Norm unfered Handelns zu
machen oder und felbft in allen unferen Handlungen durch dies
*) Ebenbafelbft, Ein. Fr. 7. 6. 10,
**) Ebendaſelbſt. Einl. Nr. 9. S. 11—12,
*#+) Ghenbajelbft, I Hauptftüd. S. 18—62,
69
fen Begriff zu beftimmen, fo if die Selbfithätigkeit unfer Ge
ſetz (Sittengefeb). Wenn wir einfehen, warum wir genöthigt
find, den Begriff unferer Selbfithätigkeit zum Gefe unferes
Handelns zu machen, fo wird dadurch bad Sittengeſetz abge⸗
leitet und die Sittenlehre begründet. Wird diefe Nothwenbigkeit,
wie ed die Wiſſenſchaftslehre fordert, aus bem Ich abgeleitet, fo
ift Damit dad Sittengeſetz deducirt und bie erſte Aufgabe der Sit-
tenlehre gelöft. Das Ich muß feine Freiheit zu feinem Gefeg ma⸗
hen, ober es wäre fein Ich: fo nothwendig dad Ich, ebenfo noth-
wendig ift dad Sittengefeß; wird dieſes aufgehoben, fo ift damit
auch bad Ich felbft aufgehoben; wird das Ich gefeht, fo ift dad
Sittengefeg davon die nothwendige Folge. Die Einficht in die⸗
fen Zufammenhang ift der Punkt, um ben ed fich in der Deduc⸗
tion handelt.
Wir zergliedern die Aufgabe genau. Um feine Freiheit zu
feinem Gefeg machen zu Tönnen, muß das Ich 1) den Begriff
feiner Freiheit oder die Vorftellung feiner abfoluten Selbftthätig:
teit haben*); es muß daher 2) ſich eben diefer abfoluten Selbſt⸗
thätigkeit bewußt werden und alfo 3) in Wahrheit abfolut felbft-
thätig fein**).
2. Das Ih als abfolute Selbſtthätigkeit.
Das Ich iſt, was es ift, für fich; es ift die abfolute Einheit
des Subjectiven und Objectiven, ded Denkenden und Gebachten.
Das Bemußtfein trennt diefe Einheit, es trennt bad Denken
vom Gedachten, dad Wiſſen vom Sein und läßt dieſes (dad Ge
*) Bergl. oben S. 692.
*) Syſtem ber Gittenlehre. I Hauptftüd. Deduction. Vergl. mit
den obigen Bebingungen bie drei Aufgaben ber Debuction (8. 1 — 8. 3)
in umgelehrter Reihenfolge.
6%
dachte) als unabhängig vom Denken erfcyeinen. Was daher das
Ich unabhängig von feinem Denken ift, (dieſes urſprüngliche Sein)
ericheint dem letzteren ald etwas Gegebened, Vorgefundenes, ald
urfprüngliche reelle Kraft, die als folche nur ſich ſelbſt beſtimmt,
alfo in der abfoluten-Selbftthätigkeit befteht, nicht in der Wirk:
ſamkeit auf etwas Anderes, fondern in einer Selbftthätigkeit;
die nur fich zum Ziel hat, d. h. in der Tendenz zur Selbfithätig-
teit um ihrer felbft willen, alfo in der Tendenz zur abfoluten
Selbftthätigkeit. Diefe Tendenz nennt Fichte „dad objective Sein
des Ich”, Diefed „reelle Selbftbeflimmen feiner felbft durch fich
felbft” nennt er wollen, nur wollen. In diefem Wollen (ſich
wollen) beſteht das urfprüngliche Sein des Ich. Daher der
Satz: „ich finde mich ſelbſt ald mich felbft nur wollend*).”
3. Die Selbfithätigfeit ala Freiheit.
Das ganze Weſen des Ich befteht in der abfoluten Selbſt⸗
thätigkeit; die Tendenz zu diefer ift daher „Trieb auf dad ganze
Ich“. Das Ih muß, was es ift, wiſſen; jener Urtrieb, der
das objective Sein des Ich ausmacht, muß daher die Intelligeng
beftimmen, ex muß ſich als Gedanke äußern, als nothwendigen,
unmittelbarer, erſter Gedanke: diefe nothwendige Vorftellung uns
ferer abfoluten Selbftthätigfeit (Willens) ift dad Bewußtfein der
Freiheit. Wäre das Ich nicht urfprüngliche Tendenz zu abſolu⸗
ter Selbſtthatigkeit, fo wäre es kein Ich; wäre es fich dieſer
Tendenz (feines Wollens) nicht bewußt oder, was bafjelbe heißt,
ohne die Vorſtellung feiner Freiheit, fo wäre ed auch keines. So
nothwendig demnach das Ic) felbft, ebenfo nothwendig ift feine ur:
ſprüngliche Tendenz zu abfoluter Selbftthätigkeit und die Setzung
*) Ghenbafelbft. I Hauptftüd, 8.1. S. 18 flod. Dergl. $. 3.
6.60,
696
feiner Freiheit. Aber es ift nicht genug, daß es fich als frei
denkt: es muß diefe feine Freiheit als Geſetz vorftellen*).
4. Die Zreiheit ald NRothwendigkeit (Befeh).
Was das Ich ift (abfolute Iventität von Subject und Ob:
ject), trennt dad Bewußtfein in zwei von einander unterfchiedene
Seiten und fordert deren notwendige Vereinigung in der Form
ber Eaufalverfnüpfung: fo entfteht innerhalb des Bewußtſeins
auf ber fubjectiven Seite die Caufalität des Begriffs (Freiheit),
auf der objectiven Seite die des Stoffs (Nothivenbigkeit), Das
Ich ift die Identität beider Seiten und fordert Daher deren abfolute
Vereinigung; daher koönnen im Ich Freiheit und Nothwendigkeit
einander nicht entgegengefebt, ſondern müſſen eines fein: bie Frei»
heit ift ſelbſt nothwendig, fie ift dad Gefeß, dem wir und fchlech-
terdings unterwerfen. Dad Ich wäre nicht Ich, wenn die Freiheit
nicht Geſetz wäre; die Freiheit wäre nicht Geſetz (ſondern Zwang,
alfo nicht Freiheit), wenn wir nicht felbft fie zu unferem Geſetz
machten mit Freiheit und um der Freiheit willen; das Geſetz
wäre nicht Freiheit, wenn ed nicht autonom wäre. Wir follen
unfere Freiheit nach dem Begriff unferer Selbftänbigteit beftim-
men, ſchlechthin und ohne Ausnahme: das ift ein nothwendiger
Gedanke unferer Intelligenz, dieſer Gedanke ift das Princip der
Sittlichkeit: das Sittengefeg**).'
Die Deduction des Sittengefebes ift einleuchtend. Hier ift fie
in ihrer negativen Form: kein Sittengefeß, Feine Autonomie, Feine
Einheit von Freiheit und Geſetz (Nothwendigkeit), Feine Möglich
keit der Vereinigung beider, alfo auch keine Bereinigung von Sub:
ject und Object innerhalb der Trennung beider, alfo auch Feine
*) Ebenbafelbft, I Hauptftüd, $. 2.
**) Ghenbajelbft, I Hauptftüd, $. 8.
697
Möglichkeit der Trennung, Feine Möglichkeit des Bewußtfeind,
Fein Ich. Wir geben die Deduction des Gittengefehed aus dem
Ich in folgendem Schema:
Ich
Subject = Object
Bewußtſein (Kremnung)
—t — — —
Subject Object
— —
Selbſtthatigkeit Stoff
— —
Eaufalität des Begriffe Cauſalität des Stoffs
Freiheit Nothwendigkeit
Bereit — = Nothwendigkeit
Freibeitögefeg
— —
Freiheit unter dem Geſetz
der Freiheit
bſolute Autonomie)
Sittengeſetz.
II.
Anwendbarkeit ober Realität des Sittengefebes*).
4. Die Stellung der Frage.
Es ift bewiefen, daß aus dem Weſen des Selvſtbewußt⸗
ſeins das Sittengefe nothwendig folgt, daß demnach feine Gel:
tung im Ich und für daffelbe unbedingt feſtſteht; es iſt damit
noch nicht bewieſen, daß es mit derfelben Nothwendigkeit auch in
*) Ebendaſelbſt. II Hauptftüd. Deduction ber Realität und Ans
wenbbarteit bes Princips ber Sittlichleit. S. 68—156.
698
Rüdficht auf die Welt gilt, da es auf biefelbe anwendbar, in
ihr ausführbar iſt. Und was wäre bad Sittengefeh, wenn es
in der Welt nicht ausführbar wäre; wenn, was zufolge deſſelben
gefchehen fol, nicht gefchehen könnte? Nachdem das Sittenge:
fe& felbft dargethan worden, handelt es fich jegt darum, feine
Realität (in Rüdficht auf die Welt) zu deduciren.
Die Deduction gefchieht, wie die Wiffenfchaftslehre fie for-
dert. Es muß gezeigt werden, daß aus benfelben Bedingungen,
aus denen das Sittengefeb folgt, auch feine Ammendbarkeit auf
die Welt hervorgeht, daß beides begründet ift in dem Weſen des
Ih. Setze, das Sittengefeh könne in der Welt nichts ausrich⸗
ten ober habe auf biefe feine Gaufalität, fo Fönnte dad Ich nicht
fein, was es iſt. Hebe bad Sittengeſetz auf, fo ift dad Ich felbft
aufgehoben: diefe Nothwendigkeit if bewiefen. Hebe die Reali⸗
tät des Sittengefeßes auf, fo ift das Ich felbft ebenfalls aufgeho⸗
ben: diefe Nothwendigkeit ft jet yır beweifen.
Ich will gleich fagen, in welchem Punkte der Nero des Ber
weiſes liegt. Es verhält ſich mit dem fichte’fchen Beweife von
ber Realität des Sittengefeged ganz ähnlich ald mit dem kanti—
ſchen Beweife von der Realität der Kategorien. Wenn die Ka—
tegorien die Bedingungen find, unter denen eö fiberhaupt Erfah:
zung giebt, fo folgt felbftverfländlih, daß fie in aller Erfah:
rung gelten. Wenn das Sittengefeh als die Bedingung begriffen
werben muß, unter der ed überhaupt Welt giebt, fo ift feine
Ausführbarkeit (Geltung) in der Welt d. h feine Realität davon
die einfache und unmittelbare Folge.
Es wird daher alles davon abhängen, daß man von vorn-
berein die Frage richtig ſtellt. Nimmt man die Welt ald etwas
von dem Ich völlig Unabhängiges, als Ding an fi, fo ift die
Frage unlösbar und die Realität des Sittengeſetzes unmöglich.
699
Rimmt man dagegen bie Welt, wie fie alein zu nehmen ift, als
das nothwendige Objert des Ich, fo ſtellt fich die Frage fo, daß
die Loſung fich von felbft daraus ergiebt.
Setzen wir alfo, wie es die Wiflenfchaftslehre auf Grund
ihrer ſchon geführten Beweiſe verlangt, daß bie Welt gleich iſt
dem Objecte des Ich d. h. dem Nicht Ich; daß Ic und Nichte
Ich ſich gegenfeitig einfchränfen und darum in durchgängiger
Wechſelwirkung flehen; daß demnach was in dem befehränften:
(theilbaren) Ich gefchieht, nothwendig auch in dem Nicht-Ich
feine Wirkung äußert: fo ift die Frage nach der Realität des Sit:
tengefeßes (Caufalität deſſelben auf die Welt) gleichzufegen ber
Frage: wie bad Sittengeſetz wirkfam fein Fönne auf das befchränkte
Ich? Und da dieſes gleich ift dem leiblichen, finnlichen, empi=
tifchen Ich, fo handelt es fi in dem Hauptpunkte ber Sache
um bie Caufalität des Sittengefeges in Rüdficht auf dad ſinnliche
Ich. Nun ift das Sittengeſetz felbft nichts anderes ald der Aus⸗
drud des reinen Ich ober der abfoluten Selbftthätigfeit, die nur
fich zum Zwed hat: mithin zieht fich die ganze Frage in die For⸗
mel zufammen: wie das reine Ich wirkſam fein könne auf dad
empirifche Ich? Das reine Ich al die abſolute Selbftthätigkeit,
die nur fich zum Zweck hat, iſt die Tendenz zur abſoluten Selbfl-
thätigkeit, „ber Trieb auf dad ganze Ich”, „der Trieb der Kreis
heit um ber Freiheit willen“, kurzgeſagt: es ift reiner Trieb; dad
empiriſche, ſinnliche, leibliche, beſchränkte Ich ift ein Syſtem
beftimmter, finnlicher Triebe, kurzgeſagt: es iſt finnlicher Trieb.
Die Caufalität des Sittengeſetzes auf die Welt ift demnach gleiche
zuſetzen ber Gaufalität (bed reinen Ich auf das finnliche Ich oder)
des reinen Triebes auf ben finnlichen Trieb: damit find die bei-
den Seiten der Frage, die zunächft ald Gegenſatz erfcheinen, un⸗
ter gleichen Renner gebracht und die Frage fo geftellt, daß fie die
Bedingungen der Löfung in ſich ſchließt.
700
Auch laßt fi die Löſung felbft ſchon Hier vorausnehmen.
Denn da jene beiden Seiten ſich zu einander verhalten, wie das
Höhere zum Niederen oder wie dad Bedingende zum Bedingten,
fo wird es das Sittengeſetz fein müffen, unter deſſen Bedingung
das fittliche Ich und bamit zugleich das Nicht: Ich, alfo alles von
dem Ich Unterfchiebene d. h. bie Welt fieht; fo ift das Gittenge
fe nothwendig zugleich Weltgefeg, woraus feine Ausführbarkeit
in ber Belt, feine Anwendbarkeit auf die Welt, mit einem Worte
feine Realität von felbft einleuchtet.
2. Das Ich ald Trieb und Gefühl (Natur).
Um alfo dieſes zweite Problem der Sittenlehre aufzulöfen
und dad Verhältniß der beiben Triebe richtig zu faflen, müffen
wir auf den Begriff des Triebes näher eingehen. Was das Ich
urfprünglich ift, muß, wie ſchon gezeigt worben, bem Bemußt: |
fein als etwas Gegebenes oder Vorgefundenes erfcheinen. Das
Ich ift in feinem urſprünglichen Sein Tendenz ober Trieb zur
Selbſtthaͤtigkeit; es muß fic daher als Trieb (Wide) finden
oder, was baffelbe heißt, es muß ſich als „getrieben“ exfcheinen.
Dad Ich ald Bewußtſein oder Intelligenz; muß feiner felbft ald
eined Triebes inne werben ; biefe Erkenntniß hängt nicht von ber
Freiheit der Reflerion ab, fondern ift eine unwillkürliche und f
nothwenbige Beftimmtheit der Intelligenz d. h. Gefühl. Das
Ich ift Trieb und fühlt fich als folder; es ift Grund de Trie⸗
bed, der Trieb ift Grund des (dadurch erregten) Gefühls oder
mit andern Worten: „ich bin geſetzt objectiv als getrieben, fub-
jectio als fühlend biefen Trieb”. Diefe Setzung iſt von meiner
Reflerion und bamit von meiner Freiheit ganz unabhängig; &
giebt mithin ein urfprünglich beſtimmtes (der Reflerion vorausge |
ſetztes) Syſtem von Trieben und Gefühlen. Was aber unab-
701
hangig von der Freiheit feſtgeſetzt und beſtimmt iſt, heißt Natur“.
Jenes Syſtem der Triebe und Gefühle iſt demnach Natur.
Ich felbft bin ein folches Syſtem, ich bin als ſolches geſetzt, finbe
mic) fo vor, das Bewußtfein, ſo zu fein, drängt ſich mir un:
willfürlich auf: jene Natur ift demmady meine Natur, Daher
der Sag: „ich bin Natur, und biefe meine Matur ift ein
Zrieher),
3. Der Zrieb aldRaturproduct. Die Ratur-ald
organifhes Syſtem.
Bildungstrieb. Organifationstrieb,
Der Trieb felbft kann nicht willkuͤrlich geſetzt werden, er ift
aus einem Acte ber Freiheit nicht zu erflären; ebenfo wenig läßt
er fi denen als ein Glied des Naturmechanismus, denn in
der mechanifchen Gaufalverfnüpfung der Erfcheinungen wird die
Wirkſamkeit äußerlich fortgepflanzt von Glied zu Glied und bes
ruht Daher auf einer fortgefegten Mittheilung der Kraft; dagegen
ift der Trieb eine innere auf ſich felbft wirkfame, ſich felbft bes
fiimmende (alfo von außen nicht mittheilbare) Kraft”). Diefe
Selbſtbeſtimmung des Triebes kann aber nicht willkürlich ge
macht, nicht gewählt, durch keinen Begriff erzeugt werden; fie
it, wie fie ift, nicht durch Freiheit, alfo durch Natur gefegt und
will daher lediglich ald Naturproduct gedacht und erBlärt werben,
Bas vom Triebe ald ſolchem gilt, gilt auch von meiner Natur,
denn meine Natur ift Trieb. Daher muß fie gedacht werben ald
Naturprobuct oder ald Refultat der Beftimmtheit der ganzen Nas
tur, Ich bin Trieb, mein Trieb ift Selbſtbeſtimmung, diefer durch
*) Ghenbafelöft. IL Hptft. $.8. Fünfter Sehrfap. Nr.IV. ©,
107—109. Vergl. bamit Nr, III. €, 102— 107.
**) Ebenbafelbit, II Hpift, $. 8, Ar. V. ©. 109-111,
702
fich beflimmte Trieb ift Naturproduct, d. h. der Grund diefer |
Selbſtbeſtimmung liegt im Ganzen der Natur, dieſes Ganze
ift die Wechfelwirfung ber gefchloffenen Summe aller Theile,
mithin muß die Natur als ein folched Ganze gedacht werben, in |
welchem jeder Theil durch fich beftimmt und in diefer Beftimmt-
heit zugleich ein „Refultat ift von der Beſtimmtheit aller Theile
durch fich felbfl": als ein Ganzes, deſſen Theile jeder ſich ſelbſt
und zugleich alle fich wechfelfeitig beſtimmen, die insgeſammt da:
ber ſich gegenfeitig bedingen und bedürfen, d. h. als ein organi-
ſches Ganze. „Die Natur Überhaupt ift ein organifches Ganze
und wird ald ſolches gefegt*).”
In einem organifchen Ganzen ift jeder Theil durch fich ber
ſtimmt und bedarf zugleich die Vereinigung mit ben andern. Be |
durfniß ift Trieb. Jeder Theil hat fein Maß von Realität und |
zugleich den Trieb zu den anderm. „Kein Element ift fich ſelbſt
genug, nur für ſich und durch fich felbftändig; es bedarf eines an-
deren, und dieſes andere bedarf feiner: es ift in jedem der Trieb
auf ein fremdes.“ Diefes Streben jedes Theiles zur Bereinigung;
und Ergänzung mit den andern ift der Trieb zu bilden und fih |
bilden zu laffen: „Bildungätrieb”. Ein ſolcher Bildungs
trieb ift Daher nothwendig in der Natur. Das dadurch gebildete
Gaͤnze ift organifch: jener Bildungstrieb daher Organifationdtrieb
und als ſolcher Durch die ganze Natur verbreitet. Die Natur muß
daher gefegt werben ald organifirend, und ihr Refultat (meine
Natur) ald organifches Naturproduct **).
So gewiß ich bin, fo gewiß finde und fühle ich mich ald
Trieb und dieſen fo empfundenen Trieb ald Natur, als meine
Natur, als etwas durch Natur Geſetztes, als Naturprobuct;
*) Ebendaſelbſt. II Hptit. 8.8. VI S. 112—115.
**) Gendaſelbſt. II Hpti, 9.8. VIL S. 115—121.
703
aber meine Natur Bönnte nicht Naturprobuct fein, wenn nicht der
ganzen Natur in jedem ihrer Theile der Bildungstrieb inwohnte,
wenn nicht durch die ganze Natur der Trieb zur Organifation
verbreitet. wäre*).
Ich finde mich ald organifches Ratınyeoduct, als ein in fich
geſchloſſenes Ganze, in welchem jeber Theil vermöge der ihm eis
genthümlichen Beftimmtheit die Vereinigung mit den anderen be
darf und erfirebt, alle Theile insgefamt daher jeder aus eigenem
Trieb ihre Gemeinfchaft fuchen und erhalten. Das organiſche Na⸗
turproduct kann Demnach nur beftehen durch die fortgehende Wirk:
famteit des ihm inwohnenden Bildungstriebes, d. h. ed muß ges
dacht werden als fich felbft organifirend. Da nun alle Theile zus
fammengenommen (die Bereinigung aller biefer Theile) gleich ift
dem Ganzen, fo ift der auf diefe Vereinigung gerichtete Bildungs⸗
trieb in feiner fortgehenden Wirkſamkeit gleich dem Selbfter:
haltungstriebe des Ganzen, dem Triebe zum Dafein, nicht
zum bloßen Dafein, fondern zu diefer Durchgängig beftimmten Eri-
ſtenz und zu allen für diefe beſtimmte Eriften, nöthigen Bebin-
gungen. Diefer Selbfterhaltungätrieb ift die Bedingung, unter
der etwas als ein zur Erhaltung des Ganzen nöthiges Object be
gehrt wird. Nicht aus ber Natur des Objects, fondern aus
meiner Natur folgt die beftimmte Begierde (Begierde nach et
was); nicht dad Object ift der Grund der Begierde, fondern
meine Begierde ift der Grund, daß ein Naturding ihr Gegen
fand z. B. Nahrungsobject (Speife und Trank) wird**).
4. Der Trieb des Ih ald Sehnen.
Freiheit und Nothwendigkeit, Selbſtbeſtimmung und Natur.
Was ich bin, darauf muß ich (nach dem Geſetze des Ich)
*) Ebendaſelbſt. II Hptft. 8.8. VII. &.121—122.
**) Ghendafelbft, IL Hpift. 9. 9. Folgerungen. Ar. J. 6. 122
—124,
.704 5
reflectiven. Ich bin Trieb; alfo muß der Zrieb Object meiner
Reflerion werben, fonft wäre er nicht mein Trieb; ich muß fin:
ben (empfinden), daß mir etwas fehlt, ich habe nicht bloß das
Bebürfniß, fondern fühle es oder fehne mich wonach. Diefen fo
veflectirenden Trieb nennt Fichte „Sehnen“ oder „Gefühl des Be:
dürfniſſes ). Ich bin Natur, ich bin zugleich unmittelbar Ob-
ject meined Bewußtſeins: meine Natur ift barum nothwenbig
ein unmittelbare Object meined Bewußtſeins. Das Subject
dieſes Bewußtſeins bin ich felbft, als biefes Subject bin ich frei
und beflimme mit Freiheit mich ſelbſt. Nun fteht jedes Object
des Bewußtſeins unter ber Bebingung bed leteren; diefe Bebin-
gung ift dad Subject des Bewußtſeins, und dieſes Subject ift freie
Selbftbeftimmung. Was in mein Bewußtfein eintritt, ift da
her nothwendig abhängig von meiner Selbftbefiimmung ; dieſe
Abhängigkeit trifft baher auch den Trieb, der mir zum Bewußt-
fein kommt. Sobald der Trieb in mein Bewußtfein eintritt, er⸗
fcheint er in dem Gebiet, wo ich wirke, und kommt damit in
meine Gewalt; er ift jest empfundener Trieb, Sehnen, Gefühl
des Bebürfniffes d. h. Trieb zur Befriedigung. Es hängt nicht
von mir ab, daß ich ihn habe, es ift nicht meine Wahl, da ich
ihn empfinde, aber es hängt von mir ab, daß ich ihn befriedige,
‚Hier ift der bebeutfame Punkt, von dem aus ſchon das Gebiet
des Sittlichen anfängt fich zu erleuchten: die Grenze zwifchen
Nothwendigkeit und Freiheit, der Uebergang des Vernunftweſens
zur Selbftändigkeit”*).
5. Daß Sehnen als Begierde.
Ich bin vermöge meiner Natur Trieb, diefer Naturtrieb
*) Ghenbafelbft. IL Hpift. 8.9. M.IL. ©. 124—25.
**) Ghenbafelbft, Il Hptit, 9, 9. Nr. IIL S. 125—26,
705
wird vermöge meiner Reflerion Sehnen nad) etwas, Gefühl des
Bedürfniffes; jegt.twird dieſes (noch unbeftimmte) Sehnen auch
Object meiner Reflerionz es wird reflectirt, dadurch beſtimmt,
begrenzt, unterſchieden, was nur gefchehen Bann durch die Be—
ziehung auf-ein beftimmtes Object. Das Sehnen nach einem be:
fimmten Object (dad Gefühl, diefes ober jenes beffimmte Ding
zu bedürfen) ift Begierde. Vermöge der Reflerion auf den
Gegenftand wird dad Sehnen zum Begehren. Was den bloßen
Naturtrieb in Sehnen verwandelt, ift die erſte (nothwendige)
Reflerionz was dad Sehnen in Begierde verwandelt, iſt bie
zweite (freie) Reflerion: dieſe macht die Grenze zwifchen Sehnen
und Begehren. Die freie Reflerion macht die Begierde: darum
ift die Begierde auch von diefer Reflerion abhängig und Tann durch
diefelbe fowohl geſetzt als nicht gefeßt ober aufgehoben werben.
Es ift nicht nöthig, daß wir auf unfer Sehnen reflectiven, es ift
nicht nöthig, daß wir die Begierden in uns aufkommen lafs
fen, es ift nicht nöthig, daß wir ihnen nachhängen; wir können
fie loswerden, indem wir ihnen nicht nachhängen oder unfere Res
flerion mit voller Freiheit davon ablenken *).
Was wir auf Grund unferer Naturtriebe begehren, find
Naturobjecte, die wir haben oder auf irgend eine Weife mit und
vereinigen wollen, es fei Speife und Trank, oder freie Luft, weite
Ausfiht, heitered Wetter u. f. f. Die Naturobjecte find räum:
lich. Was fi mit Räumlichem vereinigen will, muß felbft
räumlich fein, daher müffen wir felbft mit unferen Naturtrieben
im Raum, alfo Materie, organifirte Materie, Leib, und zwar
Leib ald Werkzeug ded Willens d. h. beweglicher, articulirter Leib
fein®*),
*) Ghenbafelöft, IL Hptft. $. 9. IV. ©. 126-127.
**) Ebendaſelbſt. II Hptit. 8. 9. V. S. 127—128. Bol, oben
diſ her, Geſchihte der Phileſophle. V. 46
706
J
6. Der Urtrieb. Der Höhere und niedere Trieb.
Wir begehren die Naturobjecte aus feinem anderen Grunde
als vermöge unferes Naturtriebes und zu feinem anderen Zwecke
als zu deſſen Befriedigung. Befriedigung um der Befriedigung
willen ift Genuß; der bemußte Trieb war Begierde, Befriedi-
gung der Begierde (bewußte Befriedigung) ift Luft und zwar
&innenluft, da es der Zuftand unferer Organifation ober unferes
leiblichen Dafeins ift, aus welchem der Trieb folgt und auf ben
ſich die Befriedigung bezieht. Im der Befriedigung des Natur
triebes ift daher das finnliche oder organifche Naturwefen fich
felbft Zweck; dad Naturproduct hat Feinen anderen Zweck als fein
eigenes Dafein, es ift durchaus Selbſtzweck, weder fest es fich
felbft einen Zweck außer fich, noch kann ed von und aus einem ſol⸗
hen ihm äußeren Zwecke erklärt werden: „ed giebt nur eine innere,
teineöwegd eine relative Zweckmäßigkeit in der Natur.” Was
von jebem Naturwefen gilt, dad gilt auch von dem Ich, fofern
es Naturwefen, leibliches, finnliches Ich iſt: die Befriedigung
feiner natürlichen Triebe, der Genuß, die Luft ift ihm letzter
BZweck.
Aber das Ich iſt nicht bloß Naturweſen und Naturtrieb,
ſondern iſt ſich als ſolches Object, d. h. es iſt Bewußtſein. Als
Naturtrieb will es nur Genuß, und da dieſer durch das Object
bedingt iſt, fo iſt es in feinem Triebe nach Befriedigung abhän-
gig von dem Object; als Bewußtfein dagegen ift es abhängig
nur von fich felbft. So ift das Ich beides: Tendenz zur reinen
Thatigkeit als Selbftbewußtfein, und Trieb zur Befriedigung ald
Naturwefen; es ift die Einheit beider Triebe; beide find daher
in Beziehung auf die Debuction unferes Leibes III Bud. Eap. VIIL
PR IL 2—5. 6, 601-607.
707
im Ich urfprünglich eines. Diefe urfprüngliche Einheit beider
Triebe nennt Fichte den „Urtrieb”. Daß biefer Urtrieb ges
fpalten erfcheint oder entgegengefeßt in jene beiden Triebe, ift eine
nothwendige Folge des Bewußtſeins. Der Urtrieb ift, wie das
Ich ſelbſt, Subject Object. Das Bewußtfein trennt diefe abs
folute Einheit in die beiden Seiten Subject und Object; fo ent»
fteht die Entzweiung, der Urtrieb erfcheint innerhalb des Ber
wußtſeins ald objectiver und fubjectiver Trieb, ald Naturtrieb und
rein geifliger Zrieb (Freiheitötrieb), ald Trieb zum Genuß und
als Trieb zur Selbftändigkeit: „lediglich auf der Wechſelwir⸗
tung diefer beiden Triebe, welche eigentlich nur die Wechſelwir⸗
Eung eines und eben deffelben Triebes mit fich felbft
ift, beruhen alle Phänomene des Ich ).“
Was mithin den Urtrieb und die beiden Triebe fpaltet und
deren Grenze macht, ift dad Bewußtſein oder die Reflerion.
Vermöge ber Reflsrion fcheidet dad Subject ſich nicht bloß vom
Object, fondern erhebt ſich zugleich über dafjelbe, dad Reflec-
tirende erhebt fich über dad Reflectirte und fieht darum höher ald
diefeö, indem es daffelbe zugleich umfaßt. Der Trieb des Re
flectirenden und der des Reflectirten (der fubjective und objective
Trieb, der Freiheitötrieb und Naturtrieb) find daher einander
nicht gleich, fondern verhalten fi), wie dad Höhere zum Niede
ren, dad Umfaflende zum Umfaßten. [Nennen wir den berußten
Trieb Begierde, fo erhellt hier aus dem Weſen des Ich der Un:
terfchied des höheren und niederen Begehrungsvermögens.) Ver-
möge des Naturtriebes begehren wir den Genuß und machen und
abhängig von dem Object; vermöge des geiffigen Triebes begeh⸗
ten wir unfere Selbftändigkeit, widerftreiten dem Genuß und mas
hen und unabhängig von dem Object, wir erheben und kraft der
*) Ebendajelbft, II Hpift. 8.9. Anmerk. S. 130,
46%
708
Meflerion über den Naturtrieb, über unfere Natur und damit
über alle Natur. Und daß diefer erhebende, befreiende, auf
unfere reine Selbftthätigkeit gerichtete Trieb der höhere, mächtigere,
umfaffendere, jener andere auf den bloßen Genuß gerichtete da
‚gegen der niedere Trieb ift: eben dieß begründet in der menſch⸗
lichen Natur das ſit tl iche Verhalten. Beide im Ich vorhan:
denen Triebe wollen vereinigt fein, und da ber eine auf reine
Thatigkeit, der andere auf das gegebene Object (feiner Befriedi⸗
gung) auögeht, fo können fie nur fo vereinigt werden, daß in
demfelben Streben Thätigkeit und Object fich durchdringen : die
Vereinigung kann daher nur in einer „objectiven Thätigkeit” be
fliehen. Wenn aber die fittliche Thätigkeit notwendig eine objec-
tive fein muß, fo erhellt daraus die Realität des Sittengefebes
ober feine Anmwenbbarkeit auf die Welt der Objecte*).
7. Der fittlide Trieb.
Jener Urtrieb, der als die urfprüngliche Einheit beider Triebe
das Wefen des Ich und die Wurzel des Bewußtieind ausmacht,
Tann innerhalb des Bewußtſeins nur ald die geforderte Vereini-
gung des fubjertiven (rein geiftigen) und objectiven (natürlichen)
Triebes d. h. al8 ein aus beiden gemifchter Trieb erfcheinen, der
fein anderer ift, als der fittliche Trieb felbft.
Segen wir, daß es eine ſolche Vereinigung jener beiden
Triebe nicht gebe, fo würde bamit dad Selbftbewußtfein oder dad
Ich felbft aufgehoben fein. Dann würde entweder der reine ober
der natürliche Trieb allein und ausfchließend wirken: die alleinige
Wirkſamkeit des reinen Triebes könnte Fein anderes Refultat ha-
ben ald die abfolute Unabhängigkeit des Ich (micht ald Aufgabe,
fondern als Zuftand), d. h. die völlige Aufhebung des beſchränkten
*) Syftem ber Sittenlehre, II Hpift. 8.8. V. 6. 1238—131,
709
Ich, alfo auch die des Nicht:Ich, mithin die des Ich überhaupt;
die alleinige Wirkſamkeit des natürlichen Triebes dagegen würde
das Ich dem Objecte gänzlich unterwerfen, alfo die Unabhängigs
keit beffelben volltommen und damit dad Ich felbft aufheben,
So nothwendig daher dad Ich, ebenfo nothwendig ift die Vereini⸗
gung jener beiden Triebe d. h. der gemifchte oder fittliche Trieb*).
Was fordert der fittliche Trieb? Oder wie können die bei»
den urfprünglich identifchen, im Bewußtſein getrennten und ent
gegengefegten Zriebe wirklich vereinigt werden? Nicht fo, daß
der reine Trieb allein ‚handelt, ex würde dann nichts anderes ver-
mögen ald ben natürlichen Trieb zu verneinen und alles zu un
terlaffen, was diefer verlangt; fein ganzes Handeln wäre bloß
eine ſolche fortgefeßte Unterlaffung, eine folche fortdauernde gegen
unfere Natur gerichtete Selbftverleugnung, deren letztes Ziel Fein
anderes fein könnte ald unfere gänzliche Vernichtung, dad Er-
löfchen des Ich, nicht die moralifche Beflimmung, fondern die
myſtiſche Auflöfung.
Das bloße Unterlaffen ift Fein wirkliches Handeln. Das
Ich will handeln; alles wirkliche Handeln geht auf die Objecte,
das Ich könnte nicht auf die Objecte oder auf die Natur handeln,
wenn es nicht_felbft Natur, Naturkraft, Naturtrieb wäre; es
Tann wirklich handeln nur durch feinen Naturtrieb und kraft deſ⸗
felben. Unmöglich Tann ed daher biefen Trieb vernichten, uns
möglich vernichten wollen, ohne alles wirkliche Handeln, den
Willen und damit ſich felbft aufzugeben. Alles wirkliche Hans
dein geht daher nicht auf die Vernichtung des Naturtriebes, fon
dern auf die Befreiung von feiner Herrfchaft, auf feine Unters
ordnung unter den Zmwed? der Freiheit, auf die Verminderung uns
ferer Abhängigkeit von dem Naturtriebe, alfo auf unfere wach⸗
*) Ghbenbafelbft, IL Hptft, 9.12, ©. 147—158.
710
fende, fich immer mehr und mehr erweiternde Unabhängigkeit,
d.h. auf unfere fortfchreitende Befreiung: mithin befteht alles
wirkliche Handeln in einer Reihe von Handlungen, beren noths
wendiges Endziel unfere abfolute Unabhängigkeit ift in ber fort
fchreitenden Annäherung an dieſes Ziel. Unmöglih, daß es je-
mals vollkommen erreicht wird: bad erreichte Ziel wäre gleich der
Aufhebung des Ih. Die abfolute Unabhängigkeit ift nicht unfer
Buftand, fonbern unfere Aufgabe. Unfere Beſtimmung ift nicht
frei fein, fondern frei werden. Wir Fönnen daher unfere Ber
flimmung nur erfüllen, wenn wir diefem nothwenbig und unbe
dingt zu fegenden, niemals zu erreichenben Ziele nachſtreben, wenn
wir und bemfelben mehr und mehr nähern, wenn jede unferer
Handlungen in der Reihe diefer Annäherung liegt. Handle fo,
daß beine Handlung nie jenem Ziele widerflreitet, nie von ber
Richtung auf baffelbe abweicht, ftet in der Reihe liegt und fort⸗
fehreitet, die fich ihm nähert. Nur fo handelſt bu wirklich; nur
fo ift, was du thuft, eine wirkliche Handlung. Handeln ift beine
Beſtimmung. Die turzgefaßte Forderung bes fittlichen Triebes
beißt daher: erfüle jebesmal beine Beftimmung *)!
8 Das fittliche Gefühl oder das Gewiſſen.
Jeder Trieb muß ald folder unmittelbar empfunden ober
gefühlt werden. Worin befteht das Gefühl des fittlichen Triebes?
Was fich auf unferen Trieb, gleichviel welchen, bezieht,
das fällt in das Gebiet unferer Begehrungen, baran nimmt un=
fer Wille mittelbar oder unmittelbar Theil; diefe Theilnehmung
des Willens oder ber Begierde an einem Object, gleichviel wel
chem, nennen wir Intereffe; alles Interefje befteht nur in diefer
Theilnahme, es gründet fich flet3 auf den Trieb und wird, wie
*) Ebendaſelbſt. II Hpiſt. 12. ©. 149 u. 150,
711
diefer, gefühlt. Was wir fühlen, wenn wir und für irgend etwas
intereffiren, ift dad Verhältnig des Objectd zu unferem Triebe,
Entweder flimmt dad Object mit bem überein, was ber Trieb
will, ober es ift damit im Widerſtreit: dad Werhältniß ift daher
entweber harmonifch ober disharmoniſch. Diefe Harmonie ober
Disharmonie ift ed, bie gefühlt wird. Und da wir im Grunde im:
mer nur und felbft fühlen, ober da alles Gefühl im Grunde Selbſt⸗
gefühl ift, alles Intereffe bedingt ift durch das Intereffe für und
ſelbſt, fo ift, was wir fühlen, unfere eigene Harmonie ober
Dieharmonie, der Zuftand der Uebereinftimmung ober bed Wider:
ſtreites unferer mit und felbft, d.h. bie Uebereinftimmung ober
Nichtübereinftimmung zwiſchen dem, was wir in Wirklichkeit
find, und dem, was wir in Wahrheit fein wollen. Was wir
in Wahrheit fein wollen, ift der Ausdruck unſeres Ur- oder Grund:
triebeö, der identifch ift mit dem Ich felbfl. Diefer Trieb for
dert die Uebereinftimmung zwifchen dem urfprünglichen und dem
wirklichen (empiriſchen) Ich: biefe Uebereinftimmung befteht in
der richtigen Bereinigung des reinen und natürlichen Triebes.
Der Ausdrud des reinen Triebes ift eine Forderung, der
des natürlichen ein Sehnen; jener fordert die That, diefer begehrt
den Genuß, jener will die Freiheit um der Freiheit willen, biefer
den Genuß um des Genuffes willen; die Erfüllung des erften
Triebes gewährt daher eine andere Art ber Befriedigung und
darum ein andered Gefühl der Luft ald die ded zweiten. Wenn
wir den erften Trieb und mit ihm ben Urtrieb befriedigen, fo ha:
ben wir eine Forderung ober eine Aufgabe erfüllt, wir haben ges
than, was wir thun follten; wir haben erreicht, was wir mit
voller Freiheit und darum mit vollem Bewußtfein und zum Zwedck
festen: einefolche That ift nothwendig von bem Gefühle ber „Bil
ligung“ begleitet. Nun ift biefer Zweck unfer eigenfter, innerfler
712
Zweck, unfer Urtrieb, unfer urfprüngliches Weſen ſelbſt. Wir
haben mit biefer That unferem eigenen tieffien Selbft Genüge
geleiftet; eine ſolche That ift nothiwendig von dem Gefühle der
Zufriedenheit” begleitet. Hier erfcheint die Luft ald Billigung
und Zufriedenheit, die Unluft ald Mißbiligung (Verachtung) und
Verdruß. Diefes Gefühl ift fittlicher Art: es ift dad Gefühl un-
ſeres fittlichen Seins, dad Gefühl, daß wir find, was wir ver
möge unſeres urfprünglichen Weſens (Urtriebes) fein wollen, ober
daß wir ed nicht find. Dieſes Gefühl, welches, ald Bermö-
‚gen betrachtet, wir „bad obere Gefühlsvermögen” nennen könnten,
fo gut ald wir den höheren Trieb bad höhere Begehrungsvermö-
gen genannt haben, ift bad Gewiffen: das Gefühl ber Ueber:
einftimmung oder Nichtübereinftimmung unferes wirklichen (aus
unferer Handlungsweiſe erfolgten) Zuftandes mit unferem Urs
triebe, der auf die abfolute Freiheit ausgeht; dad Gefühl unferer
eigenen innerften Harmonie oder Disharmonie oder des Verhält
niſſes unferes Handelnd zu unferer abfoluten Freiheit. Diefer
Freiheit find wir uns in dem Gewiffen unmittelbar bewußt, und
da diefe Freiheit das Weſen des Ich und die Bedingung alles
Bewußtſeins ausmacht, fo ift dad Gewiffen unter allem gewiffen
das Gewiffefte. „Die Benennung Gewiſſen“, fagt Fichte, „ift
trefflich gewählt; gleichlam dad unmittelbare Bewußtſein deſſen,
ohne welches überhaupt Fein Bewußtſein ift, das Bewußtſein
unferer höheren Natur und abfoluten Freiheit.” Im Falle der
Uebereinftimmung hat dad Gewiſſen Frieden und Ruhe, im ent
gegengefegten Falle ift es unruhig und macht und Vorwürfe; es
gewährt Feine Luft, wie bie finnlichen Befriedigungen; man re:
bet von einem zufriedenen, aber nie von einem luſtigen Ges
wiffen*).
*) Gbenbafelbft. IT Hpift. 5. 11. S. 142— 147.
713
9. Die Pfligt und die Formel des Sittengefeges.
Das Gewiffen zeigt mitten in dem Bewußtſein unferes Hans
delns und Begehrens auf die Freiheit al unferen abfoluten Zweck
und if, wie diefer, unfehlbar und unverrüdbar. Diefe Freiheit
ift nothwendig, nicht ald vorhandener Zuftand, fondern als Ziel;
fie ift nicht Naturgeſetz, fondern Sittengeſetz; fie ift nicht, was
wir find, fondern was wir fein folen, nicht etwa in ber Abficht
auf etwas Anderes, fondern ald Endzweck. Dieſes unbebingte
Sol ift die Pflicht, die unfer Gefeg nur fein kann, wenn wir
fie als ſolches einfehen und daher felbft mit vollem Bewußtſein
zu unferem Geſetz machen. Sie will dad bewußte Ziel und dad
bewußte Motiv unferes Handelns fein. Die Pflicht wirft daher
nicht als Trieb, fie treibt nicht, wir müffen und felbft durch dad
Bewußtfein der Pflicht treiben, wir können deßhalb pflichtmäßig
handeln nie ohne Beſonnenheit, nie blind, nie überzeugungslos;
wir fönnen nur aus Ueberzeugung pflichtmäßig handeln und zu:
gleich von nichts inniger und fefter überzeugt fein ald von ihr.
Der Inhalt des Sittengefeges ift damit Mar und läßt fi
auf verfchiedene Weife auöfprechen in der fürzeften Formel, wel
he dad ganze Syſtem der Sittenlehre in ſich trägt: handle wirt
lich; du handelft nur wirklich, wenn du dich nie von ben Objecten
abhängig machſt, wenn jede deiner Handlungen in jener Reihe
fortfchreitender Annäherung liegt, deren Ziel die abfolute Unab:
bhängigfeit ift; alfo erfülle jedesmal deine Beftimmung, handle
nie ohne Ueberzeugung, nie gegen biefelbe, dann handelſt du ſtets
aus dem Bewußtfein der Pflicht um der Pflicht willen, dann
handelſt bu ftetö, wie es dad Gewiffen fordert. Es giebt daher
feine kürzere Formel als diefe: „handle nach deinem Ge—
wiffen!”
714
Die Realität oder Anwendbarkeit dieſes Geſetzes ift einleuch⸗
tend, denn fie ift in ihm enthalten und umfaßt. Das Sitten:
geſetz ift die Freiheit ald Zweck, ald Forderung. Wie könnte die
Zreipeit Forderung, die Befreiung Geſetz fein, wenn nicht bie
Unfreiheit Zuftand wäre, vorhandener, gegebener Zufland? Die
Unfreiheit ift das befepränkte, finnliche, natürliche Ich, das Ich
als Naturtrieb, ald Naturproduct, welches nicht fein Fönnte ohne
Natur, ohne Welt. Keine Welt, Fein Sittengefeg. Kein Sit:
tengefeß, Feine Freiheit als Endzweck, Feine abfolute Freiheit,
Fein abfolutes Ich, Fein Bewußtſein, kein Object des Bewußt⸗
feins, Feine Welt. Ohne Sittengefet keine Möglichkeit der Welt;
ohne Welt Feine Geltung bed Sittengefeges: damit ift die imma⸗
nente Geltung des letzteren oder feine Realität debucirt, wie die
Wiſſenſchaftslehre es fordert.
J
Dreizehntes Kapitel.
Die Pflicht. Entwicklung des fittlichen Bewußtfeins.
Das Böfe als Gegentheil der Pflicht.
L
Das Sittengefeg als Endzweck.
1. Die ſittliche Gewißheit ald Grund aller
Erkenntniß.
In ber bisherigen Entwicklung ber Sittenlehre, fo weit fie
geführt worben, ift dad Princip berfelben oder dad Sittengeſetz
abgeleitet und feftgeftelt in feiner Form. Die weitere Aufgabe
wird fein, aus diefer Form den Inhalt oder die materialen ſitt⸗
lichen Beflimmungen zu bebuciren. Es ift bargethan, wie un⸗
ter allen Umftänden gehandelt werben foll; es ift darzuthun,
was ben Gehalt ber fittlichen Hanblungdweife in jedem beflimm:
ten Zal ausmacht. Und zwar fol aus jenem Wie diefed Was
folgen.
Auf die Frage: wie fol ich handeln? war die Antwort:
„nach deinem Gewiſſen, nach deiner Ueberzeugung!“ Die Ueberzeus
gung aber, nad) der unter allen Umftänden foll gehandelt wers
ben fönnen, muß eine richtige fein, nicht etwa von ungefähr,
fondern nothwendigermeife; fie muß das Kriterium oder Bewußts
ſein dieſer Richtigkeit dergeftalt in fich tragen, daß fie den Irr⸗
716
thum wie den Zweifel ausſchließt: eine Ueberzeugung, bie nie
irrt, ift unfehlbar; eine Ueberzeugung, an ber nie gezweifelt wird,
ift unwandelbar. Es giebt eine Menge fogenannter Ueberzeugun-
‚gen menfchlicher Art, die falfch und wandelbar find, fo ficher fie
feinen, die heute gelten und durch eine beffere Einficht morgen
umgeftoßen werben. So ift dad bewegliche Geſchlecht der menſch⸗
lichen Meinungen, zu bem daher unmöglich die Ueberzeugung ge:
hören kann, nach welcher ſtets zu handeln, das Sittengeſetz ge
bietet. Die fittliche Ueberzeugung muß unter allen Umftänden
feftftehen, fie muß unmwandelbar, abfolut und darum unmittel:
bar gewiß fein. Unmittelbar gewiß ift nur unfer eigenes Sein,
das Ic felbft; unmanbelbar ift nur unfer urſprüngliches Sein,
dad reine Ich. Sehen wir, daß unfer Gemüthözuftand, unfer
empiriſches Ich ober unfer Bewußtfein mit unferem urfprüng-
lichen Ich übereinftimmt, fo find wir diefer Uebereinftimmung
unmittelbar gewiß und haben das Gefühl diefer Gewißbeit. Won
diefer Uebereinftimmung giebt ed, wie von unferem urfprünglichen
Sein felbft, nur eine unmittelbare, abfolute Gewißheit. Und
es giebt eine ſolche Gewißheit nur von diefer Uebereinſtimmung.
Nun war dad unmittelbare Bewußtfein unfered urjprünglichen
Seins dad Gewiflen, die Wurzel aller fittlichen Ueberzeugung.
Daher giebt es überhaupt Feine andere abfolute Gewißheit als
das Gemiffen, eine andere abfolut gewiffe Ueberzeugung als
die fittlihe. „Dieſes Gefühl täufcht nie, denn es ift nur vor
handen bei völliger Uebereinſtimmung unſeres empirifchen Ich
mit dem reinen; und das letztere ift unfer einzige wahres Sein
und alles mögliche Sein und alle mögliche Wahrheit. Nur in⸗
wiefern ich ein moralifches Wefen bin, ift Gewißheit für mich
möglih*).“
*) Ebenbafelbft, III Hptft, Syſtematiſche Anwendung des Prin ⸗
717
2. Die Pflicht ald Grund und Endzwed der Welt,
Diefe Gewißheit ift zugleich der Grund aller übrigen Ges
wißheit, aller wahren Erkenntniß. Alle unfere Erkenntniß ift
bebingt durch das Bewußtfein der objectiven Welt, welches felbft
bebingt ift durch die Einfchränfung des Ich, deren letzter Grund
bekanntlich Fein anderer war, ald dad urfprüngliche Streben, der
Urtrieb, ber fitliche Trieb des Ich felbft. Alſo ift es ber ſitt⸗
liche Trieb, das Gefühl veffelben, das Gewiſſen ober das Pflicht:
bewußtfein, welches aller Erkenntnig zu Grunde liegt. „Die
einzig fefte und legte Grundlage aller meiner Erkenntniß ift meine
Pflicht. Diefe ift das intelligible „„An fich””, welches durch
die Gefege der finnlichen Vorſtellung ſich in eine Sinnenwelt ver:
wanbelt*).” Die Pflicht ift demnach der Urgrund und Endzwed
aller Objecte. Und fo ergiebt fi) aus der Form des Sittenge
ſetzes, wodurch alle Moral conftituirt wird: „handle nach deiner
Ueberzeugung ; handle pflichtmäßig, erfülle bie Pflicht um der Pflicht
willen!“ zugleid) die Materie des Sittengefeged: „behandle alle
Dinge ihrem Endzwed gemäß!"
Die Form des Sittengeſetzes entſcheidet zugleich die Form
formale Bedingung) des Gegentheild. Du handelſt nur dann
gewiffenhaft, wenn du nad) ber eigenen (fittlichen) Weberzeugung,
nach dem eigenen fittlihen Urtheile handelft. Selbft urtheilen
gehört daher nothwendig zur Moralität. Du handelſt nie ges
viffenhaft, wenn du nicht autonom handelft, fondern nach der
Autorität eines fremben Gebote. „Ber auf Autorität hin hans
delt, handelt fonach nothwendig gewiſſenlos.“ Sittlich hanbelft
cips ber Gittlichfeit, I Abſchn. Bon den formalen Bedingungen ber Mos
valität unferer Handlungen. $. 15. IV. S. 169 flgb,
*) Ghenbafelbit. III Hpift. 1 Abſchn. & 15. V. ©. 172,
718
du nur, wenn bu gewiffenhaft hanbelft! Was dem Sittengeſetze
zuniberläuft, ift fündlich. „Was nicht aus dem Glauben, aus
Beftätigung an unferem eigenen Gewiſſen hervorgeht, iſt abfolut
Sünde*)."
I.
Entwidlung bes fittlihen Bewußtſeins.
1. Der Menſch ald hier.
Obgleich bie Pflicht unfer urfprüngliches Weſen ausmacht,
fo treibt fie und nicht mit der Gewalt eines Naiurinſtincts; wir
handeln nur dann fittlih, wenn wir und felbft treiben durch das
Gefühl der Pflicht. Zur Moralität gehört, daß wir die Pflicht
als ſolche wollen, nichts anderes als fie, daß wir unfer Bewußt⸗
fein auf fie richten; diefe Richtung macht bie Reflerion, die als
folche völig in unferer Gewalt ift. Wäre die fittliche Handlung
nicht durchaus That der Freiheit, fo könnte auch dad Gegentheil,
dad gewiffenlofe oder pflichtwidrige Handeln, nicht Unterlafjung
aus Freiheit, nicht Schuld, alfo auch nicht Sünde fein.
Es giebt einen Zuftand in und, welcher der Reflerion vor:
andgeht, und in bem dad Ich fich felbft ald etwas Vorgefundenes
oder Gegebened erſcheint, ald Natur oder Naturtrieb**), Setzen
wir biefen Zuſtand, der die erſte und unterfte Stufe des praf:
tiſchen Ich ausmacht, als herrfchend, fo daß wir mit dem Na⸗
turtriebe völlig eins find: dann handeln wir ganz refleriondlos,
bloß triebmäßig, nicht moraliſch, ſondern thieriſch. Auf diefer
Stufe ift der Menfch in feiner Handlungsweile ein bloßes
Thier ).
*) Ebendaſ. III Hptſt. J Abſchn. 8. 16. Coroll.3. &.175— 177.
**) Vol. oben III Buch. Cap. XII. ©. 700 flgd.
) Syft, der Sittenl. UI Hptſt. J Abſchn. 9.16. IL ©. 178 ſigd
719
2. Der Menſch als verfländiges Thier.
(Der Eigenmuß als Mazime.)
Nun aber folen und können wir vermöge des Bewußtfeins
auf unferen Naturtrieb reflectiren, vermöge biefer Reflerion und
davon unterfcheiben und eben dadurch von ihm freimachen. Diefe
unfere Freiheit ift zunächft nur formel und nimmt ihren Inhalt
bloß aus dem Naturtriebe, der die Dinge begehrt: wir folgen
den natürlichen Trieben nicht mehr blind, fondern verhalten und
dazu wählend; wir wählen nad einem Motiv, und ba biefes
Motiv nicht aus der Freiheit felbft gefchöpft ift, fo kann ed nur
unfer empirifches Ich fein, welches die Wahl der Triebe und Ber
friedigungen beftimmt, d.h. es ift bie Marime unſeres empiris
ſchen Wohls oder unferer Glückſeligkeit, nad) der allein wir unter
diefem Reflexionsſtandpunkte handeln. Was wir befriedigen,
find nur unfere natürlichen Triebe, wir wollen nichts ald ges
nießen, aber wir thun es mit Rüdficht auf unfer Wohl, mit der
beftändigen Reflerion auf die eigene Glüdfeligkeit: wir handeln
auf biefer Stufe, was die Sache betrifft, auch thieriſch, aber
als verfländiged Thier. Formell find wir frei, materiell dagegen
abhängig von den Naturobjecten*).
3. Der autofratifhe Freiheitstrieb.
(Die Willtür als Marime.)
In Wahrheit ift das Ich frei von den Naturobjecten umd
begehrt diefe feine Selbftändigkeit. Wenn es dieſelbe mit voller
Freiheit des Bewußtſeins zu feiner Marime erhebt, fo giebt
es fich felbft das Sittengefeg und handelt moraliſch; wenn es da⸗
gegen nur dem Drange zur Selbftänbigfeit ald einem Triebe
. *) Gbenbafelbft, III Hptſt. I, $. 16. IL S. 179 figb,
720
feiner höhern Natur veflerionslos folgt, fo handelt es nicht mehr
thieriſch, aber auch noch nicht moralifch : wir machen in diefem Falle
nicht unfer reines, fondern unfer empirifches Ich zum Zweck,
aber in der Abficht nicht auf ben Genuß ber Dinge, fondern auf
die Herrfchaft über bie Natur; wir wollen „bie unbefchränkte und
gefeßlofe Oberherrſchaft über alles außer und“. Diefe Herrfchaft
iſt unfere Marime, unfere durch das Sittengefeß noch nicht er:
füllte Freiheit ift noch gefeglofe Willkür. Es ift noch nicht der
Wille, fondern erft „das Genie der Tugend, welches auf diefer
Stufe den Menfchen treibt, feinen Zweden feinen Genuß zu
opfern und in den Lauf der Dinge ordnend und umgeftaltend,
herrſchend und unterbrüdend einzugreifen. Der Ausdruck dieſes
autofratifchen Freiheitstriebes ift dad herrifche Handeln, worin
die Menfchheit das gefchichtölofe Parabied ber Triebe und de
Genußlebend verläßt und in ben Kampf der Gefchichte eingeht.
„Nur durch Voraudfegung einer folhen Sinnedart wird bie ganze
Menſchengeſchichte begreiflich *).”
Verglichen mit ber blinden oder vaffinirten Art, bloß feine
Triebe zu befriedigen und bloß feinem Genuffe zu leben, hat bie
ſes unbefchränkte Freiheitöbewußtfein mit feinem herrifchen Natur:
drange etwas Erhabened; gegenüber den Forberungen ber Mora
lität hat ed gar Feinen Werth, denn was fich hier über alles erhebt
und ſich felbft erhaben vorkommt, ift das empirifche Ich. Man
darf fein Urtheil nicht verblenden laſſen durch die Aufopferungen
des eigenen Genuffes, deren ber Menſch auf diefer Stufe fähig
erfcheint. Im diefer Aufopferung ift Feine wirkliche Selbfiver-
leugnung. Im Gegentheil, jemehr er geopfert hat, um fo größer,
ebelmüthiger, vortrefflicher erfcheint Hier der Handelnde ſich ſelbſt.
Er ift, was auch gefchieht, fortwährend fein eigener Held und
**) Gbenbafelbft. III Hptſt. I. $. 16. II. S. 187 — 191,
721
erlebt nur Freude an ſich. Geht ed nad) feinem Willen, fo haben
die Anderen nur ihre Schuldigkeit gethan und er fühlt ſich bloß
in feinem Recht; feheitert er mit feinen Zwecken an dem Wider:
flande der Welt, fo ift er vor dem eigenen Bewirßtfein- eine der
verfannten Menfchengrößen, einer der erhabenen Wohlthäter, die
unter dem Undanke der Welt leiden; alles, was er thut, fchlägt
in die eigene Werthachtung um, in ein Liebkoſen mit fich felbft,
und was er etwa von feinem Genuß opfert, zahlt er doppelt und
dreifach feiner Eigenliebe zurück, die er mit dem Bewußtſein der
fogenannten edlen Handlung nährt und vergrößert, fo daß der
Gott, dem er jene Opfer bringt und ber fie mohlgefällig empfängt,
im Grunde nur er felbft iſt. Eben biefer Götzendienſt, ben jene
fogenannten Heroen ber Welt mit fich felbft treiben und treiben
laffen, macht ihre Denk» und Handlungsweiſe moraliſch voll:
tommen werthlos. Sie find überzeugt und viele mit ihnen, daß
fie gut gehandelt haben, und zwar aus bloßem Triebe, aus bloßer
Neigung, aus angeborener Art: fo entfteht dad Borurtheil von
einer angeborenen Güte der menfchlichen Natur; fie haben bloß
aus Neigung edel und uneigennügig, baher mehr ald gut gehan-
belt, weit beffer ald fie nöthig gehabt, weit über das Maß ihrer
Schuldigkeit, alfo überaus verbienftlich; fo erfcheinen ihre Thaten
als lauter verdienftliche Werke, ald lauter „opera superero-
gativa“*),
4. Dad Sittengeſetz ald Marime.
So lange bie abfolute Freiheit bloß ald Trieb und aus Trieb
handelt, kann ihre Handlungsweiſe heroifch fein, aber nie mora⸗
liſch. Erſt als Selbftbewußtfein wir fie fittlich. Die abfolute
*) Ebendaſelbſt. IEI Hptſt. I Abſchn. $. 16. III. beſ. ©. 188,
189,
Bilder, Gefhläte der Philofophle, V. 46
722
Freiheit ald Selbftberußtfein hat fi zum Object, macht ſich
zum Zweck, nur ſich, und iſt ſo das Sittengeſetz ſelbſt: die
Freiheit um der Freiheit, die Pflicht um der Pflicht willen! Es
iſt unmoöglich, die Pflicht inſtinctmaßig zu erfüllen; fie kann nur
gefchehen aus dem Bewußtſein der Pflicht. Sehen wir, daß und
das Bewußtfein der Pflicht wirklich erfüllt, fo können wir nicht
anders handeln als pflichtmäßig; fegen wir, daß dieſes Bewußt-
fein fich verdunfelt, daß wir die Pflicht nicht deutlich ober gar
nicht vor und fehen, daß wir fie nicht ald unferen Endzweck vor⸗
ſtellen, ſo iſt unmöglich, daß wir ſie thun, denn die Bedingung
des ſittlichen Handelns iſt aufgehoben. So iſt unter dem Be
mußtfein ber Pflicht das fittliche Handeln ebenfo notwendig, als
es unmöglich ift, fobald jene Vorausſetzung aufhört zu wirken,
fobald jenes Bewußtfein ſich trübt oder verdunkelt. Unfere fitt-
liche Handlungsweiſe erfcheint demnach an eine Bedingung ge
Inüpft, von ber es gänzlich abhängt, ob fie oder ihr Gegentheil
ftattfindet. Diefe Nothwendigkeit bezeichnet Fichte ald ‚intelli-
gibeln Fatalismus” *).
Es könnte ſcheinen, ald ob dadurch die Freiheit, dieſer po⸗
fitive Grund aller Sittlichkeit, auögefchloffen ober in Frage ge-
ftelt würde. Im Wahrheit ift dieß keineswegs der Fall, denn
die Bedingung, von der unfere fittliche und nichtfittliche Hand⸗
lungsweiſe völlig abhängt (die daher jenen „intelligibeln Fatalid-
mus” audmacht) ift felbft eine That der Freiheit. Die Bedingung
liegt in unferem Bewußtfein, in unferer Reflerion. Unfere Re
flerion ift völlig in unferer Gewalt, fie ift durchaus abhängig von
unferer Freiheit. So ift das fittliche Handeln an eine Bebin-
gung geknüpft, welche felbft von der Freiheit und von gar nichts
weiter abhängt. Das fittliche Handeln ift nothwendig und ficher,
*) Chenbafelbft. LIT Hptſt. I Abſch. 8.16. IV. S. 191—192,
123
wenn bad Bewußtfein ber Pflicht feſtſteht; aber diefed Bewußt-
fein iſt nicht ficher; jegt iſt es Mar und erleuchtenb, im naͤchſten
Augenblid ift es umwölkt und verbunkelt; fo find wir unferer
Moralität in Feinem Augenblide ficher, „kein Menſch, ja, fo viel
wir einfehen, Fein enbliched Weſen wird im Guten beftätigt *).”
II
Die moralifhen Grundübel,
1. Die Unfreiheit ald Schuld. Die Trägheit.
Iſt es aber Iebiglich unfere Freiheit, welche die Grundbe:
dingung und den Charakter des Sittlichen macht, indem fie un
fer Bewußtſein auf die Pflicht hinrichtet oder von ihr ablenkt, fo
iſt das nichtfittliche Handeln unfere Schuld, und eben biefe
Schuld ift dad Böfe. Nicht daß wir ſinnlich find, nicht
daß wir Triebe und Begierden haben, ift böfe, fondern daß
unfer Bewußtfein von ber Pflicht und bem reinen Ich weg⸗
und auf das ſinnliche Ich mit feinen Begierden hinblidt; daß
der Wille diefe Richtung einfchlägt. Um bie Pflicht zu wol:
Ien, müffen wir unfere Reflerion von unferem finnlichen Ich und
den Naturtrieben losreißen, und eben biefe Losreißung gefchieht
durch einen Act urfprünglicher und unergründlicher Freiheit.
Reifen wir fie nicht davon los, fo bleiben wir in ber Richtung
auf unfer. finnliches Wohl, fo beharren wir in biefem unferem
vorgefunbenen, natürlichen, finnlichen Zuſtande. Dieſes Beharren
ift die Urſchuld, die Wurzel des moralifchen Uebel, „das radi⸗
cal Böfe”, wie Kant ed bezeichnete. Es ift leichter und beques
mer, in dem gewohnten Zuſtande zu beharren, ald mit ihm zu
brechen; eö if die vis inertiae der Natur, die natürliche Träg:
beit, vermöge deren jedes natürliche Weſen in dem Zuftande zu
beharren firebt, in dem es fich vorfindet. Sobald nım eine ents
46*
724
gegengefeßte Kraft diefen gewohnten Zuſtand angreift, wird aus
dem Streben Wiberftreben, aus ber bloßen Trägheit die Kraft
der Trägheit, bie ſich wehrt gegen bie Befreiung. So wider:
ſtrebt in der menfchlichen Natur der träge Wille dem fittlichen
Willen. Diefe Willensfaulpeit ift dad moralifhe Grundübel,
die Wurzel alles Böſen; dad Nichtherauswollen aus dem ge
wohnten Zuftande, aus dem Schlendrian des natürlichen Ich
macht, daß wir und lieber alles gefallen laffen, als die Art an
die Wurzel unferer Unfreiheit legen und uns innerlich aufrich
ten und erheben. Kraft biefer unferer Trägheit find wir gänzlich
unfrei. Innerhalb diefer Unfreiheit giebt ed Beine befreiende und
erlöfende Kraft. „Diejenigen ſonach, welde ein „servum ar-
bitrium“ behaupteten und den Menfchen als einen Stod und
Klotz charakterifirten, der durch eigene Kraft fich nicht aus der
Stelle bewegen könnte, ſondern durch eine höhere Kraft angeregt
werden müßte, hatten vollkommen recht und waren confequent,
wenn fie vom natürlihen Menfchen rebeten, wie fie denn
thaten.”
2. Feigheit und Falſchheit.
Iſt aber die nothwendige Folge der Trägheit, daß wir und alles
Mögliche gefallen laſſen, fo ift hier dad zweite Grunblafter der
menfchlichen Natur: die Feigheit, die alles feige Handeln verur-
ſacht. Bir vermögen in ber Wechſelwirkung mit anderen unfere
Freiheit und Selbftänbigkeit nicht zu behaupten und verfallen
daher der Gewalt des fremden Willens. So kommt die Scla⸗
verei unter die Menfchen, die phufifche und_moralifhe, die Uns
terthänigfeit und die Nachbeterei: fie folgt aus der Feigheit, wie
diefe aus der Trägheit. Die Feigheit if nicht Selbftverleugnung,
fondern elende Selbſtliebe, daher erträgt fie den Zuſtand der Un:
725
terdrückung, ber doch auch feine Unannehmlichkeiten hat, mit
innerem Widerwillen und Haß gegen den Unterdrüder, aber fie
verſteckt ihren Haß, weil der offene Ausdruck deffelben leicht Ge:
fahr bringen fönnte, hinter der Miene der Unterwürfigkeit und
ſucht den Unterbrüder auf alle Weife zu täufchen, zu überliften,
zu betrügen; fie lügt und muß lügen, denn zur Wahrheit gehört
Muth, den der Feige nicht hat. So erzeugt die Feigheit die
Falſchheit, dieſes dritte Grundlafter der Menfchen. „Nur der
Feige ift falfch.” Aus der Trägheit folgt die Feigheit, aus dies
fer die Falfchheit. Das erfte Uebel und die erſte Schuld ift der
Abfall des Willens von feiner urfprünglichen Beftimmung, das
Nichtherauswollen aus feinen natürlichen Trieben, das Fefthalten
an ber Marime des Eigennutzes; hier if der Anfang einer noth-⸗
wendigen Kette des Böfen, des immer weiter um ſich greifenden
moralifchen Verderbens, des immer tiefer ſinkenden Falls der
menf&lichen Natur.
Indeſſen ift in der menfchlichen Natur die Freiheit unaustilgbar. -
Das Vermögen und die Kraft der Freiheit ift da, die Möglichkeit
der Befreiung ift vorhanden, aber das Bewußtſein berfelben oder
der moralifche Sinn fehlt. Es ift nöthig, ihn zu weden, zu
entwideln, zu bilden. Und hier ift es die pofitive Religion, wel:
he zu dieſer moralifhen Entwicklung und Erziehung des Men:
ſchengeſchlechts die Hand bietet und, wie Fichte ſchon in feiner
erfien Schrift, der Offenbarungskritik, erklärt hat, dem in feine
Sinnlichkeit verfunfenen Menfchen den Inhalt des Sittenge
feges in der ihm faßlichften, finnlichen Form einer pofitiven gött⸗
lichen Offenbarung vorhält, um ihn dadurch zu erheben und zu
läutern *).
*) Chenbafelbft, III Hptft. I Abſchn. 8.16. Anh, S. 198205,
Bierzehntes Capitel.
Der Inhalt des Sittengefehes. CEintheilung der
Pichtenlehre. Vedingte Pflichten.
L
Der Inhalt des Sittengefehes.
Das Sittengefeß erklärt: „handle gewiffenhaft, jede deiner
Handlungen liege in jener Annäherungsreihe; deren Ziel deine
abfolute Unabhängigkeit iſt; behandle jedes Ding feinem End:
zwecke gemäß!" Diefe Formeln find verfchiedene Ausdruckswei⸗
fen derfelben Sache: unfer Endzwed und der der Dinge find ei⸗
ner; biefem Endzwecke gemäß handeln, heißt mit dem eigenen in
nerften Wefen übereinftimmen, unb dad Gefühl diefer Harmonie
(ded empirifhen und reinen Ich) ift dad Gewiſſen.
. Aus der Natur des Endzweckes fowohl unferer als ber Dinge
erhellt darum der ganze Inhalt ded Sittengeſetzes; jener Endzwec
felbft aber leuchtet ein, wenn wir die Dinge oder Objecte bejie
ben auf unferen Trieb, nicht auf diefen oder jenen, fondern auf
unferen ganzen Zrieb, ber in feiner urfprünglichen Befchrän:
tung zufammenfällt mit unferem Wefen, mit bem Ich felhfl
oder mit dem Triebe nach Selbftändigkeit des Ich. Diefe Selb:
ftändigfeit ift unfer Endzweck; die Beförderung biefer Selbflän:
digkeit ift Endzwed der Dinge. Was daher in Rüdficht auf das
127
Ich wefentliche Bedingung zu deſſen Wirkfamteit ift, das ift in
Rüdficht auf den Endzweck ein nothwendiges Mittel, eben deß⸗
halb ein Gegenftand unferes fittlichen Handelns und als ſolcher
der Inhalt des Sittengefeges *).
Die Frage nach diefem Inhalte fAUt darum zufammen mit
der Frage nach den Bedingungen bed Ich. So viele Bebingun-
gen bad Ich fordert, fo viele Mittel fordert der Endzwed, auf
fo viele Objecte bezieht ſich das fittlihe Handeln.
Im Rüdblid auf die vorangegangenen ausführlichen Debuc:
tionen der Wiffenfchaftölehre laſſen fich jene Bedingungen kurz
und überfichtlich zufammenfaflen. Das Ich ift Natur (Natur:
trieb), Reflerionsvermögen, Wernunftwefen (freier Wille) unter
anderen Vernunftwefen, mit denen es nothwendig in Wechfelwir:
ung ſteht. Als Naturtrieb ift es Leib, ald Reflerionsvermö-
gen Intelligenz, als freier Wie Ich einem anderen Ich gegen:
über, Perfon in Wechſelwirkung mit anderen Perfonen. Leib,
Intelligenz, freie Wechfelwirkung find daher, wie früher aus-
führlich entwidelt worden ift, zum Wefen des Ich nothwendige
Bedingungen.
1. Pfliäten in Betreff ded Leibes.
Der Leib ift die Natur im Ich, unfere eigene Natur, ver:
möge deren allein wir im Stande find, auf die Natur außer und,
die Sinnenwelt einzuwirken: er ift daher dad Werkzeug aller un
ferer Wirkſamkeit, das Inftrument aller unferer Gaufalität, un:
ferer Wahrnehmung, unferer Erfenntniß. Hieraus erhellt, in
wiefern ber Leib einen Gegenſtand unferes fittlichen Handelns aus⸗
macht und zum Inhalte des Sittengefeges gehört. Er fol ein
*) Zweiter Abſchnitt ber Sittenlehte. Ueber das Materiale bes
Sittengefeges u. |. f. 6.17. IV. 5. 206— 212,
— — —
B 128
Werkzeug unferer Freiheit, ein taugliches Werkzeug berfelben fein;
wir follen ihn zu biefem Bwede erhalten und ausbilden. Nur
zu dieſem Zwede, nur ald Mittel dazu. Daher gebietet das
Sittengeſetz in Rüdficht des Leibes 1) denfelben nie ald Zweck zu
behandeln, ihn nie zum Object des Genuſſes um des Genuffes
willen zu machen, vielmehr 2) ihn auszubilden zu einem taug⸗
lichen Werkzeuge für alle möglichen Zwecke der Freiheit (er ift ein
untaugliches Werkzeug, wenn feine Empfindungen und Begier-
den ertödtet, feine Kraft abgeftumpft wird), darum 3) den Leib
nur fo weit zu pflegen und zu genießen, als diefe leibliche Pflege
und Genüffe zur Bildung des Leibe als eines Werkzeuge für
den fittlichen Endzwed dienen und in biefer ihrer Geltung von
dem Gewiffen felbft beftätigt werden. Das find die drei mate
tiellen, auf unfer leibliches Daſein gerichteten Sittengebote; man
darf, um fie nach kantiſcher Art durch Kategorien zu unterfcheis
ben, bad erfle „negativ”, dad zweite „pofitio”, dad dritte „limi⸗
tatio” nennen*).
2. Pflihten in Betreff der Intelligenz.
Ohne Reflerion Fein Ih. Es ift eine nothwendige Bedin-
gung des Ich, daß es auf feine eigene Thätigkeit refletirt und
diefe dadurch zum Ich macht. Wermöge ber Reflerion ift das Ich
Intelligenz. Das Sittengeſetz ift (für dad Ich) nur, indem es
gewußt wird, indem die Reflerion fi mit vollem Bewußtfein
darauf richtet, es ift Daher nur in und durch die Intelligenz, wirt:
ſam und überhaupt möglich. Daher ift die Intelligenz in Rüd:
fiht auf dad Sittengefeß nicht bloß beffen Werkzeug, fondern
auch deffen Vehikel, denn es bedingt nicht bloß die Gaufalität,
fondern dad ganze Sein des Sittengeſetzes, da (für und) bad
*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $. 18. I. 6, 212—227,
129
Sein des Sittengeſetzes völlig zuſammenfällt mit dem Bewußt⸗
fein deſſelben.
Nun befteht die Ausbildung der Intelligenz in der Erkennt⸗
niß; und der Endzwed aller Erkenntniß ift die Erkenntniß der
Pflicht. Dieſe fei daher dad Endziel und der Beweggrund alles
Erkennend. So erhellen aus der Beziehung der Pflicht auf die
Erkenntniß die Sittengebote in Abficht auf die Inteligenz.
Die Ausbildung der Intelligenz darf, da fie nur innerhalb
der Freiheit möglich ift, durch Feine Schranke gehemmt, durch
Fein vorausgeſetztes Ziel eingefchränkt, alfo überhaupt keinem äußer
en Gefee oder Feiner Autorität untergeorbnet werben, bie den
Inhalt unferer Erfenntniß (dad zu Erkennende) vorausbeftimmt.
Das Sittengefeb gebietet daher 1) in feinem negativen Ausdruck:
„du ſollſt dich in der Ausbildung deiner Intelligenz durch nichts
binden laffen; du ſollſt fie, was ihren Inhalt betrifft (materia⸗
liter”), fchlechterdings keinem Anfehen unterordnen.” Daraus
folgt 2) bad pofitive Gebot: „forfche mit abfoluter Freiheit;
lerne, denke, forfche fo viel als möglich”! Der alleinige Be:
weggrund alled Erkennens fei die Pflicht: das ift die einzige Ein»
ſchränkung, welche dad Sittengefeg macht. Es gebietet 3):
„forfche aus Pflicht! Forſche um beiner Freiheit willen! Je
umfaffenber, entwidelter, deutlicher die Erkenntniß, um fo freier
das Ich, um fo tüchtiger ift bie Intelligenz ald Werkzeug und
ald Vehikel des Sittengefees”).
3. Pflichten in Betreff der Gemeinſchaft.
a. Nothwendige und zufällige Individualität.
Die freie Wirkſamkeit des Ich ift in ihrem Ausgangspunkte
bedingt durch eine Aufforderung, deren Urfache nur ein anderes
*) Gbenbafelöft, IT Abfän. $. 18, II, ©.217— 218,
730
Ich fein kann*). Ohne eine ſolche Aufforderung kann ſich das
Ich nicht als freithätig, alfo auch nicht vermöge feiner freien
Thätigkeit ald Naturtrieb finden. Daher bedarf dad Ich zu ſei⸗
ner Selbfithätigkeit nothwendig ein zweites Ich; es findet fich
als frei nur, indem es fich als frei anerkannt findet, und dieſe
Anerkennung ift nur möglich durch ein freies Wefen außer ihm.
So ift die Anerkennung ber fremden Freiheit eine nothwendige
Bedingung zur Segung ber eigenen, und ba in der Anerfennung
+ ber fremden Freiheit zugleich die Einſchränkung der eigenen ent-
halten ift, fo liegt in der Setzung der letzteren zugleich deren Bes
ſchränkung. Vermöge dieſer urfprünglichen Freiheitsſchranke ift
das Ich ein beſonderes Vernunftweſen oder ein Individuum. Daß
das Ich überhaupt Individuum iſt, erklärt fi aus den Bedin⸗
gungen der Freiheit und ift Daher nothwendig und vernunftgemäß ;
aber daß es gerade di e ſe s Individuum iſt in biefer örtlichen und
zeitlichen Beſtimmtheit, ift zufällig und bloß empirifch.
So unterfcheidet ſich im Ich die nothwendige (beweisbare)
und empirifche (zufällige) Individualität. Es ift nothwendig,
daß bie verfchiedenen Ich vermöge der gegenfeitigen Anerkennung
ihre Freiheit einſchränken und darum indivibualifiren; es ift deß⸗
halb nothwendig, daß bie Freiheit in einer Wechſelwirkung
freier Handlungen befteht; daß daher alle freien Handlungen ver:
möge biefer Wechfelwirkung durchgängig „prädeterminirt” find.
Aber e3 ift zufällig, daß gerade dieſes Individuum in biefem Zeit
punkte diefe beflimmte Handlung vollzieht**).
db. Individuum und Menfchheit.
Der fcheinbare in den fittlihen Bedingungen des menſch⸗
*) ©. oben, III Bud. Cap. VIII. Nr. 1. 3. ©. 595—597.
**) Syſt. ber Sittenlehre. II Abſchn. $. 18. TIL. ©. 218— 229,
731
lichen Handelns enthaltene Widerſpruch zwiſchen Freiheit und
Nothwendigkeit Löft fich durch den Begriff des Endzwecks. Wenn
alle Bernunftwefen denfelben einen Zweck haben, fo ift die Wech⸗
ſelwirkung ihrer freien Handlungen und bie dadurch gegebene
Nothwendigkeit Feine Aufhebung ber Freiheit. Die Selbftändig:
keit aller Vernunft ift der Endzwed, der von jedem gewollte:
jeder einzelne ift und gilt fich nur ald Organ und Mittel diefes
Zwecks, nicht bloß vermöge feiner leiblichen, fondern feiner gan-
zen empirifchen Individualität. „Der ganze finnliche empiriſch⸗
beftimmte Menſch ift Werkzeug und Vehikel des Sittengefeges *).”
e. Die menſchliche Gemeinfchaft.
Jeder handelt nach feiner fittlichen Ueberzeugung und will,
fo viel an ihm ift, den Vernunftzweck befördern, der nur dadurch
erreicht werben kann, daß jeder einzelne ihn zu feinem Zwecke
und ſich zum Werkzeuge deffelben macht. Daher kann ed feinem
gleichgültig fein, wie der andere handelt; jeder muß mit dem
Vernunftzwed zugleich das fittliche Handeln des anderen zu feis
nem Zwed machen, er muß wollen, daß jeder andere auch nach
feiner. fittlichen Ueberzeugung handle, und da diefe nur eine fein
Tann, daß alle nach einer gemeinfchaftlichen Grundüberzeugung
handeln. Den Bernunftzwed wollen, heißt zugleich wollen, daß
die fittliche Weberzeugung in allen diefelbe fei.
Nun widerftreiten einander die fittlichen Ueberzeugungen ber
einzelnen, bie gemeinfchaftliche Grundüberzeugung iſt nicht gege:
ben, ſondern erft hervorzubringen: fie ift eine nothwendig zu
Töfende fittliche Aufgabe. Und da fie nur in ber freien Wechſel⸗
wirkung oder Gemeinfchaft der Einzelnen gelöft werden kann, fo
fordert das Sittengefeß von jedem, ſich in diefe Wechſelwirkung
*) Ebendaſelbſt. IL Abſchn. $, 18, IV u, V. ©, 229— 231.
732
einzulaffen, in die Gemeinſchaft mit ben anderen einzugehen, in
der Geſellſchaft zu leben, in und für fie zu handeln. Wir haben
früher den Rechtögrund kennen gelernt, der bie menfchliche Ges
meinfhaft nöthig macht; hier ift der fittliche Grund, der fie
fordert*).
a. Die ethifche Gemeinſchaft oder Kirche,
Jeder fol, fo viel er fann, dazu wirken, daß alle dieſelbe
fittliche Grundüberzeugung haben; die dadurch gebotene Wechſel⸗
wirkung fehließt natürlich jeden Zwang aus, denn die Ueberzeu⸗
gung des einzelnen ift nur in dem Maße fittlich als fie frei ift.
Eine erzwungene Ueberzeugung ift fo gut ald Feine,
Die Gemeinfchaft in der fittlichen Ueberzeugung, in der Bes
jahung des abfoluten Endzwedö als der ewigen Beſtimmung ber
Menfchheit, in der Hingebung an dieſen Zweck, ift die ethifche
Vereinigung der Menfchen, die Fichte, wie Kant, ald dad Wer
fen der Kirche bezeichnet. Aufgabe und Ziel der Kirche in dies
fem Sinn ift die völige und in allen Punkten durchgeführte Ueber=
einftimmung der fittlichen Ueberzeugung, die wirkliche Gleichheit
der moralifchen Gefinnung, die moralifhe Einheit der kirchlich
Verbundenen. Ein ſolches Ziel läßt ſich nur von ſolchen gemein⸗
ſchaftlich faffen, die ſchon von einer gewiſſen gemeinfamen Grund»
lage ausgehen. Was erft als Ziel vollfommen beftimmt und ent:
widelt fein fol, das muß im Ausgangspunkte als etwas noch
Unbeftimmtes und Entwidlungsbebürftigeö geſetzt fein.
Fichte nennt die Faflung einer folchen erfien, noch unbe
. flimmten, aber ſchon gemeinfchaftlichen Ueberzeugung fittlicher
At „Symbol“, es ift der erfle, finnliche und gemeinfaß-
liche Ausdruck einer fittlichen Ueberzeugung, bie in ihrer weiteften
*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. 8.18. V. a—c, S. 231—235,
733
Form nur den Sat bejaht: „es ift ein Ueberfinnliches.” Ein fol:
ches Symbol braucht die Kirche, um von einem gewiffen fittli-
hen Vereinigungspunkt auögehen, um ihre Aufgabe überhaupt
fegen zu können; fie braucht es als Hülfsmittel, unentbehrlich
für den Anfang. Daher nennt es Fichte „Nothſymbol“.
In Rüdficht auf die Geltung des Symbold unterfcheibet
er die beiden Firchlichen Gemeinfchaften,, die innerhalb der chrift-
lichen Welt und am nächften ftehen. Es hängt alles davon ab,
ob das kirchliche Symbol ald Anfang und Vorausſetzung, ober
ob es als Ziel und Gegenftand gilt; ob es ber eigentliche Zweck
oder nur Hülfsmittel und Vehikel der kirchlichen Lehre ift; ob es
felbft gelehrt oder nur von ihm aus gelehrt wird. „Ich fol das
von auögehen als von etwas Vorausgeſetztem; keineswegs, ich fol
darauf hingehen, als auf etwas zu Begründendes.” „Das Sym⸗
bot ift Antnüpfungspunft. Es wird nicht gelehrt — bieß ift der
Geift des Pfaffenthums — fondern von ihm aus wird gelehrt.”
So unterfcheidet Fichte Proteflantismus und Katholicismus.
„Der Proteftant geht vom Symbole aus in’8 Unendliche fort; ber
Papift geht zu ihm hin, als zu feinem legten Ziele*).”
e. Die Rechtsgemeinſchaft oder der Staat.
Die Ausbildung meines Leibes und meiner Intelligenz ift
nur durch mich möglich, fie ift mein alleiniger Zweck und baher
abhängig auch nur von meiner Weberzeugung. Dagegen ift die
Ausbildung der Sinnenwelt überhaupt, bie eine gemeinfchaftliche
Belt ift, an der außer mir auch die anderen Wernunftwefen
Theil haben, keineswegs bloß von mir und meiner Weberzeugung
abhängig, fie kann nur nach einer gemeinfchaftlichen Ueberzeu⸗
*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $. 18. V.o.e. 6.236, u. 6, 241
245,
734
gung gefchehen, bie als foldye erſt hervorzubringen ift. Es if
Pflicht, fie heroorzubringen. Nun ift der Gegenftand diefer ge:
meinfchaftlichen Ueberzeugung bie Rechtögemeinfchaft, die ſich
felbft auf den Staatsvertrag gründet. Es ift daher Pflicht, eine
folche Uebereinftimmung in Betreff der Rechtsgemeinſchaft hervor:
zubringen; es ift demnach Pflicht, fih mit anderen zu einem
Staate zu vereinigen. Hier erfcheint das ſtaatsburgerliche Leben,
das früher nur aus dem Geſichtspunkte des Rechts gefordert
wurde, als nothwendig unter dem ſittlichen Gefichtöpunfte, als
jedem geboten durch das Gewiflen*).
So gebietet das Sittengefeg in Rüdficht-auf den zu realiſi⸗
enden Endzwed bie thätige Theilnahme an ber menfchlihen Ge:
ſellſchaft, an Kirche und Staat.
t. Die Gelehrtenrepublit (Univerfität).
Die Angelegenheiten ber Kirche und des Staates find gemein:
ſchaftliche. Hier gilt und muß gelten die gemeinfchaftliche Ueber-
zeugung, das vorhandene Gefeg, dem ber einzelne feine Privat:
Überzeugung unterzuorbnen hat.
Nun ift es Pflicht, eine eigene Ueberzeugung zu haben und
auszubilden mit völliger Freiheit, unabhängig von jeder Autorität.
Es ift möglich, daß in dieſer Pflichterfülung die eigene Ueber:
zeugung in Widerſtreit geräth mit den in Kirche und Staat
herrſchenden Gefegen. Es ift Pflicht, alles zu tun, um bie
eigene Ueberzeugung zur gemeinfchaftlichen zu machen; es ift
Pflicht, der gemeinfchaftlichen Ueberzeugung die eigene unterzus
ordnen: hier haben wir eine Colliſion der Pflichten und damit
zugleich die Pflicht und Aufgabe, diefen Widerſtreit zu Löfen.
Die Pflicht gebietet, eine eigene Ueberzeugung zu haben,
*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $.18. V. d. S. 236—241,
735
auszubilden und barum mitzutheilen; bie Pflicht verbietet, ber
gemeinfchaftlichen Weberzeugung Eintrag zu thun durch bie eigene.
Nun ift die Mittheilung biefer zugleich eine Beeinträchtigung
jener. Indem ich die eine Pflicht erfülle, verletze ich die andere.
So find beide Pflichten einander entgegengefebt. Die Vereini⸗
gung der Gegenfäge ift nur möglich durch gegenfeitige Einſchrän⸗
kung. Das Sittengeſetz gebietet daher, daß die Pflicht ber Mit:
theilung und bie ber Unterorbnung (ber eigenen Ueberzeugung)
ſich gegenfeitig dergeſtalt einfchränten, daß die Erfüllung ber
einen die der andern nicht aufhebt; daß jede in einem gewiffen
eingefchränkten Sinne erfüllt wird.
Die eigene Ueberzeugung foll mitgetheilt werben, aber nicht
an alle, fondern nur an die befchränkte Anzahl einiger, bie zu dies
fem Zwecke ebenfalls eine durch das Sittengefeß gebotene Gemein:
fhaft bilden. Es muß deßhalb innerhalb der großen Gefelfchaft
äine Heinere geben, die dad Recht und bie Pflicht einer völlig
freien, von jeber Autorität unabhängigen Unterſuchung jeder
Ueberzeugung, darum auch dad Recht und bie Pflicht der unge:
hemmten gegenfeitigen Mittheilung der Ideen hat: eine Gefel:
fhaft, in der nichts gilt ald die Macht der Vernunftgründe und
infofern fein anderes Recht als das des (geiftig) Stärkeren. Die
Aufgabe diefer Gefelichaft ift die Wiffenfchaft und deren durch
nichts gehemmte ober eingefchränkte Fortbildung. Die Bildung
einer ſolchen Geſellſchaft ift felbft eine fittliche Aufgabe: bie Auf-
gabe „des gelehrten Publicums“, „ber gelehrten Republik,
für die es Sein mögliches Symbol, keine Richtfchnur, Feine
Zurüchaltung giebt.“ „Es giebt hier einen anderen Richter als
die Zeit und den Fortgang ber Cultur. Die Gelehrten» Schule,
die derfelben Unterfuchungdfreiheit bedarf, ift die Univerfität.”
Kiche und Staat brauchen Erzieher und Leiter, die ihre
736
Pflicht nicht erfüllen Fönnten, wenn fie nicht der Volksbildung
voraus wären, und das fönnen fie nicht fein ohne wiffenfchaft-
liche Bildung. Die wiffenfchaftliche Bildung macht den Gelehr-
ten. Daher muß es Gelehrte geben, welche zugleich Beamte
find. Wenn nun in folchen Perfonen die wiffenfchaftliche Ueber-
zeugung in Widerftreit geräth mit der gefeglich geltenden, fo kann
die Colliſion ſich nur fo löſen, wie fie gelöft ift: fie Dürfen als
Gelehrte, was fie ald Beamte nicht dürfen. „Es ift eine Ber
drüdung des Gewiſſens,“ fagt Fichte, „dem Prediger zu ver
bieten, feine abweichenden Anfichten in gelehrten Schriften vor-
zutragen; aber es ift ganz in der Ordnung, ihm zu verbieten, fie
auf die Kanzel zu bringen, und es ift von ihm felbft, wenn er
nur gehörig aufgeklärt ift, geriffenlos, dieß zu thun.” „Und
fo Iöft denn die Idee eines gelehrten Publicums ganz allein ben
Widerflveit, der zwifchen einer feflen Kirche und einem Staate
und zwifchen der abfoluten Gewiſſensfreiheit im Einzelnen ſtatt⸗
findet; und die Realifation diefer Idee ift ſonach durch dad Sit:
tengefeg geboten *).”
I.
Eintheilung der Pflichten,
4. Mittelbare (bedingte) und unmittelbare
(unbedingte).
Object des Sittengefebes ift die Vernunft überhaupt, die Herr:
ſchaft oder daB Reich der Vernunft in der Sinnenwelt; Mittel und
Werkzeug dieſes Zweckes ift das Ich, nämlich dad empirifche Ich oder
die Perfon. Da nun die Verwirklichung des Zweckes abhängt
von ber richtigen Verfaſſung des Mittelö, fo wird die Pflicht fich
auf beides beziehen und in Abficht auf den Zwed auch dad Mittel
>) Ebendafelbft, II Abfän. 8. 18, V.f. ©, 246 — 262,
137
bebenten mäflen. Aber bie Beziehung ift verfchiedener Art.
Das nachſte, unmittelbare Object der Pflicht iſt der fittliche End⸗
zweck; dad baburch vermittelte und in den Gefichtöfreis der
Pflicht gleichfam in zweite Linie gerüdte Object ift die Perfon,
für jeden die eigene.
So unterfcheibet ſich der Pflichtbegriff in zwei Arten:
„Pflichten gegen das Ganze” und „Pflichten (nicht eigentlich
gegen, fondern) auf und felbft oder um unferer felbft willen”.
Weil die Perfon das Mittel aller vernünftigen Wirkſamkeit und
die Bedingung zur Verwirklichung der Vernunftherrſchaft ift,
darum mögen die Pflichten der zweiten Art „mittelbare oder be⸗
dingte” und im Unterfchiede davon die der erſten „unmittelbare
ober unbedingte” heißen.
2. Befondere und allgemeine.
Die Pflicht fordert, daß jeder nad) feinem Vermögen die
Herrſchaft oder Selbftändigkeit der Vernunft befördert. Dieß
wäre nicht möglich, wenn jeder nur thut, was ihm einfält, und
die Handlungen ber einzelnen fich gegenfeitig verhindern und
aufheben. Die Art, wie zur Verwirklichung des Endzwecks ge⸗
handelt wird, darf nicht zwedwibrig fein. Die Vernunftherr-
Schaft Tann nur befördert werden, wenn bie Beförderung plan
mäßig gefchieht. Dazu ift eine Theilung der fittlichen Arbeit
nöthig, eine Bereinigung zum Zwecke einer folchen Theilung, die
nur flattfinden kann durch eine Einfegung verfchiedener Stände.
Iſt es nun Pflicht, die Planmäßigkeit der fittlichen Arbeit zu bes
fördern, fo ift es auch Pflicht, auf die Theilung der Arbeit, auf
die Einfegung verfchiedener Arbeitsftände hinzuwirken und felbft
für die eigene Perfon einen beftimmten Platz in der fittlichen Welt
zu ergreifen. Innerhalb diefer Ordnung und Einteilung der
Bilder, Geſchichte der Phllofophie V. 47
7138
fittlihen Thaͤtigkeit giebt es „übertragbare und unübertragbare
Geſchäfte“. Die darauf bezüglichen Pflichten unterfcheiden ſich
demnach ebenfalls in zwei Claffen: die der erften Art nennt Fichte
„beſondere“, die ber zweiten „allgemeine Pflichten”.
Da nun die beiden Eintheilungen in einander greifen und
die zwei Arten der erften Eintheilung jede die beiden Arten der
‚zweiten unter fi) faffen kann, fo ergiebt fich folgende Geſammtein⸗
theilung*):
Pflichten
— — —
bedingte unbedingte
(mittelbare) (unmittelbare)
— — —— —
allgemeine beſondere allgemeine beſondere.
IL
Die bedingten Pflichten.
1. Allgemeine Pflihten. (Selbſterhaltung.)
Jeder fol ein Werkzeug des Sittengefeges in der Sinnen⸗
weit fein; er fol ed fein nad) feinem Vermögen. Die Aufs
löfung diefer Beftimmung giebt den Begriff folcher Pflichten,
die 1) nicht unmittelbar auf das Sittengefeg, fondern auf deſ⸗
fen Bedingung fi) beziehen, daher bedingte Pflichten find,
2) nicht von einer Perfon auf die andere übertragen werben kön⸗
nen, alfo allgemeiner Natur find, d. h. „allgemeine bebingte
‚ Mlchten",
Um überhaupt in ber Sinnenwelt wirken zu Pönnen, dazu
ift eine fortdauernde Wechfelwirkung zwifchen der Perfon und
der Welt, alfo auch die Fortdauer der Perfon oder die Erhaltung
*) Chendafelöft. III Abſchn. Die Sittenlehre im eigentlihen Ber
ſtande. Die eigentl, Pflichtenlehre. $. 19. I—II. ©. 254 — 259.
1
739
des Individuums nöthig. Hieraus ergiebt fih die Selbfterhals
tung als fittliche Pflicht. Ein anderes ift die Selbfterhaltung als
Urrecht, ein anderes ald Pflicht. Im Sinne des Rechts muß
ich meine Fortdauer wollen, um ben Erfolg und die Früchte
meiner Thätigfeit ernten zu können, ich will fie um des Genuffes
willen, zu dem mid; meine Thätigkeit berechtigt”); im Sinne
der Pflicht will ich meine Fortdauer ohne ale Rüdficht auf Er⸗
folg und Genuß, ich will fie nicht um meinet: fondern um des
Sittengefege willen, nicht um genießen, fondern um forte
handeln zu können. Die Fortdauer bes fittlihen Wirkens ift
gebunden an die Erhaltung und regelmäßige Fortentwidelung des
perfönlichen Daſeins in Rüdficht ſowohl bed Leibes als der Ins
telligenz.
Was die Erhaltung und Entwidelung bes perfönlichen Da:
feins gefährdet, fei es durch innere Störung feiner Bedingungen,
fei es durch äußere Gewalt, fol unterlaffen werden ; was beiden
dient, foll gefchehen, nicht um des Nugend, fondern um ber
Pflicht willen. Daraus ergiebt fih von felbft die Unfittlichkeit
aller ausfchweifenden Lebensart, die durch übertriebened Faſten
oder durch Wöllerei und Unkeufchheit den Körper untergräbt und
den Geift ſchwacht, und ebenfo bie Unfittlichkeit folcher Lebens⸗
weifen, bie durch Nichtöthun, vegellofe Beſchaͤftigung, Ueber:
anſtrengung, einfeitige Bildung u. ſ. f. ber normalen Entwid:
lung und Yusbildung des Geiſtes unmittelbar zuwiderlaufen und
fie gefährden **).
2. Die Frage des Selbſtmordes.
Aus der Pflicht der Selbfterhaltung folgt unmittelbar, daß
*) Bol. oben Cap. IX diefes Buchs. Mr. I. 1. &,618—619,
**) Gyft. der Sittenlehre, III Abi. 9.20. S. 259—262.
\ 47*
740
die gewaltfame und gefliffentliche Selbftzerftörung bes leiblichen
Dafeind dem Sittengefeße wiberftreitet. Won jeher ift über die
Frage des Selbftmorbed in ber Sittenlehre geftritten worden: ob
ex erlaubt, unter Umftänden erlaubt, in gewiffen Fällen fogar
geboten fein könne? Nach Fichte verhält ſich dad Sittengeſetz
nie erlaubend ; entweder es gebietet ober verbietet, entweder ich
fol oder ich fol nicht. Zwiſchen Gebot und Verbot giebt es
einen weiteren Spielraum, auf dem unter anderem auch ber
Selbſtmord Pla finden könnte. Die Frage ift daher nur: ob
unter Umftänden die Selbftentleibung Pflicht fei?
Sie Tönnte, wie die Selbfterhaltung, nur mittelbare Pflicht
fein ald Bedingung zur Erfüllung des Sittengefeged. Da num
mit dem Leben auch das Handeln aufhört, fo kann bie Selbft-
vernichtung niemald Gegenftand einer mittelbaren ober bebing-
ten Pflicht fein. Die Pflicht der Selbftentleibung müßte da—⸗
her (menn überhaupt möglich) unmittelbar und unbedingt fein;
und ba fie das letztere nie fein kann, fo ift fie in jedem Sinne
unmöglich ; fo ift ber Selbftmord unter allen Umftänden fchlecht-
bin pflichtwidrig. Leben ift eine notwendige Bedingung zum
Handeln. Ich will nicht mehr leben, heißt fo viel ald: ich
will nicht mehr handeln, ich will mich der Herrfchaft ded Sitten:
geſetzes entziehen, ich will nicht mehr länger meine Pflicht thun.
Man wende dagegen nicht etwa ein, daß ja die Vernich⸗
tung biefed Lebens dad Leben nicht aufhebt, fondern nur ben
Lebendzuftand verändert und nur dad Handeln in biefer Sinnen»
welt unmöglich macht. Das fittliche Handeln ift nur möglich
nad) einer erkannten und im Bewußtfein mit aller Deutlichkeit
gegenwärtigen Pflicht. Nun ift alles jenfeitige Leben und Han⸗
deln kein Gegenftand einer erkennbaren Pflicht und darum Fein ſitt⸗
lic) begründeter Einwand gegen die Immoralitätdes Selbftmorbes,
D
741
Es giebt auch feinen Beweggrund, der die Gelbftentleibung
fittlich rechtfertigen Fönnte. Dem einen fällt das Handeln, dem
andern bad Dulden, beiden dad Kämpfen zu ſchwer, und fo
werfen fie mit dem Leben auch die Laft von fich ab, die dad Sit:
tengefeg zu tragen gebietet. So ift der Selbftmord nie eine Er:
fülung der Pflicht, fondern ſtets eine Entledigung von berfelben.
Er ift unter alen Umftänden unfittlih. Dagegen ift die Frage,
ob er eine That der Feigheit oder des Muthes ift, völlig unter
georbneter Art. Hier ift die Antwort relativ je nach dem Maß:
ftabe der Vergleihung: dem Tugendhaften gegenüber ift jeder
Selbftmörder feig; dem Nichtöwürdigen gegenüber, ber nichts
höheres Eennt ald das armfelige Gefühl der Eriftenz, ift er ein
Held ).
5. Beſondere Pflichten.
Jeder Einzelne fol für den Vernunftzweck nicht bloß han⸗
dein, fondern planmäßig handeln d. h. benfelben in beftimmter
Weiſe nad) feinem Vermögen befördern, foviel er kann. Er fol
deßhalb in ber fittlichen Welt feinen Stand wählen, nad) feiner
beften, durch methodiſche Erziehung entwidelten und gereiften
Ueberzeugung. Kein anderer fol für ihn wählen, er fol es
ſelbſt thun, nicht nach Neigung, nicht nach Umftänden, fondern
nach feiner wirklichen, auf den Zweck des Ganzen gerichteten, auf
achte Selbfttenntniß gegründeten Einficht **).
*) Ebendafelbft. TIL Abſchn. 8.20. I. 6.263 — 268.
*+) Ebendaſelbſt. III Abjn. 8.21. I-IV. &,271 — 278.
Fünfzehntes Capitel.
Die nnbedingten oder abfoluten Pflichten.
I
Allgemeine Pflihten.
1. Menfhenpfliht gegen andere.
Unbedingt oder unmittelbar find die Pflichten, die ſich direct
auf das Ganze oder den Endzweck beziehen; diefe Pflichten find
allgemein, ſofern ihr Werkzeug die menfchliche Natur als folche,
nicht ein befonderer Stand oder Beruf berfelben ift: ed find
die allgemeinen Menfchenpflichten, die jeder ohne Unterfchied hat
gegenüber dem Ganzen. Das Ganze (Endzweck) ift die Vernunft;
fie fol in der Sinnenwelt herrſchen, nur fie; dieſe Herrfchaft
kann nur erfüllt werden in und durch die finnlichen Vernunft:
wefen (Perfonen), in und durch deren Gemeine, Es handelt
ſich mithin um die allgemein menfchlichen Pflichten jeder einzel:
nen Perfon gegen alle anderen, um die Pflichten des Menfchen
gegen feine Mitmenſchen.
Unter dem ſittlichen Geſichtspunkte erſcheint jede Perſon als
Werkzeug des Sittengeſetzes, als moraliſches Weſen. Daher
befiehlt jedem das Sittengeſetz: „behandele den anderen ſeiner
moraliſchen Beſtimmung gemäß.“ In dieſer Formel ſind alle
143
Pflichten enthalten, die der Menſch dem Menſchen gegenüber er:
füllen foll*).
2. Die Freiheit der anderen,
Die erſte Bedingung zur Moralität ift die Freiheit. Soll
ich ben anderen als moralifches Wefen behandeln, fo muß er mir
vor allem ald ein freies Wefen gelten. Ich foll die Freiheit
des anderen, dad Vermögen feiner Selbftbeftimmung, anerken⸗
nen, nicht bloß um feines Rechtes, fondern um meiner Pflicht
willen: diefe Anerkennung und die darauf gegründete Handlungs-
weife foll ein Ausdruck fittlicher Gefinnung fein. Hier nimmt
das Sittengefeb die Rechtöpflicht in ſich auf, indem fie den Ins
halt derfelben vertieft und erweitert. Es ift nicht genug, daß
ich die Freiheit des anderen nicht verletze, ich fol fie ald eine Ber
dingung zur Moralität zugleich erhalten und befördern. Was
ich aus Rechtögründen thue, gefchieht um meinetwillen, ich hüte
mich Schaden zu thun, um nicht Schaden zu leiden; was ich
aus Pflicht thue, das gefchieht um des Endzwecks (Gottes) wil⸗
len, nicht aus Intereſſe, ſondern aus rein ſittlicher Geſinnung.
Hier gilt jeder als Werkzeug des Sittengeſetzes, ohne Unterſchied
der Perſon; jeder andere iſt ein ſolches Werkzeug ſo gut als ich
ſelbſt, nicht mehr und nicht weniger; der Maßſtab der ſubjecti⸗
ven Einzelintereffen hat daher in der Beſtimmung unferer Pflicht
gegen die Mitmenfchen gar Feine Geltung, und ebenfowenig ber
Sag, daß jeber ſich felbft der Nächfte ift.
3. Das leibliche Dafein der anderen.
Wie das perfönliche Dafein das leibliche in ſich ſchließt, fo
fordert die perfönliche (formale) Freiheit, daß jeder Herr feines
*) Syft. ber Gitienlehre, III Abſchn. $. 22, S. 276 — 76,
144
Lebens fei, daß Feiner durch phyſiſchen Zwang auf ben andern
einwirke; daher verbietet die Pflicht jede dem anderen zugefügte
Gewaltthat (deren höchfter Grad bie vorfägliche Tödtung iſt),
vielmehr gebietet fie, daß jeder das körperliche Wohl des anderen
nad) Kräften beförbere, daß ihm die eigene Selbfterhaltung nicht
wichtiger fei ald bie des anderen”).
4 Die Erfenntniß ber anderen.
Die Pflicht der Wahrhaftigkeit.
Das freie Handeln ift zugleich ein durch Urtheil und Ein |
fit beftimmtes. Daher gebietet die Pflicht, alles zu unterlaſ⸗
fen, was die richtige Einficht des anderen hindert oder verfälfcht,
alles zu thun, was fie befördert: fie verbietet daher jede Art der |
Zweideutigkeit, der Lüge, des Betruges, womit wir ben an
beten zum Irrthum verleiten und dadurch der Bedingung berauben,
unter der allein ein freies, durch richtige Begriffe beflimmtes |
Handeln ftattfinden Tann: fie fordert die vollkommenſte Wahr:
haftigkeit und Aufrichtigkeit als Menfchenpflicht gegen jeden.
i Das Sittengefeh verbietet die Lüge in jedem Sinn, alfo
auch die Nothlüge. Da es Feine fittlihen Erlaubniffe, fondern
nur Gebote und Verbote giebt, fo kann nur gefragt werben, ob
in gewiffen Fällen die Nothlüge (nicht etwa ſittlich erlaubt, fon:
dern) geboten fein könne? Als Gebot würde fie die Geltung
einer Marime haben. Hier zeigt fich die Widerſinnigkeit der
Sache, Der Zwed der Lüge if, geglaubt zu werden; fobald
fie ſich aber als Marime giebt und als Lüge öffentlich bezeichnet,
iſt die natürliche Folge, daß fie von feinem geglaubt wird,
Jede Lüge ift der Verſuch, gewiſſe perfönliche Zwecke bei
dem anderen 'mit Lift durchzufeßen: fie ift daher immer egoiftifch
) Ehenbafelbft, LIT Abſchn. 9.23. 1. 6. 276 — 282,
145
und fchon darum nie moralifch. Die Lift der Lüge befteht darin,
ſcheinbar den Abfichten deö anderen ſich unterzuorbnen, um fie
defto beffer für den eigenen Vortheil zu brauchen: eine foldhe
Unterorbnung ift feig, jeder Lüge fehlt der Muth der Wahrheit,
darum ift fie ſtets feig, und die Empfindung biefer Feigheit er-
zeugt die Schaam, welche die Lüge unwillkürlich begleitet*).
5. Das Eigenthum anderer.
Das freie Handeln der Perfon darf bei feinem anderen das
Gebiet freier Handlungen ſtören wollen; das ift nur möglich,
wenn jeber einzelne ein folches beutlich bezeichnete Machtgebiet
bat, in dem fein Wille Herr iſt, wenn jedem einzelnen eine
gewiſſe Sphäre von Objecten zugehört ald auöfchliegendes Eigen-
thum. Daher muß ed ald eine Bedingung des freien Handelns
gelten, daß alle Eigenthümer find, Jeder Menſch fol Eigen:
thum haben; jedes Object fol Eigenthum irgend eines Menfchen
fein: gerabe dadurch, fagt Fichte, wird die Herrfchaft der Ver⸗
nunft über die Sinnenwelt recht begründet.
Wir haben früher das Eigenthum ald Recht und zwar ald
Urrecht dargethan. Seht handelt es ſich um die moralifche An-
erfennung beffelben. Diefe Anerkennung ift Pflicht, [23 giebt
ohne Eigenthum Feine freie und ausfchließende Sphäre des Einzel:
willens, fein freie8 Handeln in der Sinnenwelt. Es ift daher
Pflicht, Eigenthum einzuführen, zu erwerben, fremdes Eigen⸗
thum nie zu verlegen, vielmehr das fremde fo gut als daß eigene
ſtets zu vertheidigen, und alles zu thun, damit die Nichteigen-
thümer Eigenthümer werben. Ale Arten der Eigenthumsbeſchä⸗
digung, wie Raub, Diebftahl, Betrug, Bevortheilung u. f. f,
find nicht bloß rechtswidrig, fondern unfittlich.
7) Ebendafelöft, III Abſchn. 9.28. IL. ©. 289 — 291.
746
Daß wir aus fittlihen Gründen dafür Sorge tragen, daß
jeder Eigenthum haben und erwerben Fönne, ift die eigentliche
Pflicht der Mohlthätigkeit. Diefe Sorge iſt in erfler Linie die
Sache des Staatd und bed öffentlichen Recht, erft in zweiter
die des privaten Wohlthund. Diefes hat ben Zwei, dem an:
deren Eigenthum zu verfchaffen, nicht bloß ihm augenblidlich das
Leben zu friften; daher die Wohlthätigkeit wohl zu unterfcheiden
ift vom Almofengeben. Almofen machen den Bettler nicht zum
Eigenthümer, fondern laſſen ihn bleiben, was er ift, und find
daher nicht die Erfüllung einer fittlichen Pflicht, fondern ein un⸗
glücklicher Nothbehelf, um ben anderen nicht umkommen zu lafz
fen. In einer rechtlichen und fittlihen Ordnung ber Dinge foll
es Feine Bettler geben, alfo auch Feine Almofen *).
6. Die Gefährdung der Freiheit.
a. Caſuiſtiſche Fragen,
Es ift möglich, daß die Perfonen und verfchiedenen Frei:
heitöfphären in Widerflreit gerathen, daß die Freiheit des ein-
zelnen durch diefen Widerftreit oder auch durch Naturgewalt in
Gefahr geräth. Es iſt Sache des Staats, die Gefahren, wo er
es Tann, zu verhindern, den Wiberftreit durch die Macht der
Gefege auszugleichen und die Freiheit wieberherzuftellen. Da
aber der Staat nicht immer helfen, nicht überall gleich bei der
Hand fein kann, fo gebietet das Sittengefeg jedem, ber Gefahr,
woher fie auch komme, mit allen feinen Kräften entgegenzuwirken.
Sie bedroht dad äußere Dafein der Freiheit: Leib, Leben, Eigen:
thum. Es handelt fi) daher um die füttliche Verpflichtung, diefe
zu ſchützen, wo und wie fie gefährbet find. Und zwar fol nad)
dem Sittengefege jedem der andere fo viel gelten ald er fich ſelbſt.
*) Ghenbafelbft, III Abſchn. $. 28. I. 6. 291 — 300,
7147
Hieraus ergiebt fich eine Reihe cafuiftifcher Fragen, die
alle unter den Grundſatz fallen: du ſollſt helfen, aber einen
dem anderen vorziehen, auch micht dich felbft! Wenn ich mit
einem anderen in berfelben Gefahr bin und nur einer gerettet
werben Bann, wen fol ich retten? Das Sittengefeß fagt: in
diefem Falle Feinen, fondern ruhig den Erfolg abwarten. Wenn
mehrere andere zu retten find? Wenn ich ber Angegriffene bin,
wie weit geht die fittliche Pflicht dev Nothwehr? Bis zur Ent-
waffnung des Gegnerö, nicht weiter. Was fol gefchehen, wenn
mein Eigenthum und dad des anderen zugleich in Gefahr ift?
Das Eigene zuerft retten, nicht weil jeder fich felbft der Nächfte
ift, fondern weil die eigene Sache die nächſt gegenwärtige iſt,
bei welcher daher die Gefahr am eheften bemerkt wird; nicht um
bed Vortheils willen, denn ich) werde mit meinem geretteten
Eigenthume dem andern helfen, dem ich nicht helfen konnte, dad
feinige zu retten. Was fol gefchehen, wenn Leben und Eigen
thum bei und ober bei anderen ober bei beiden zugleich gefährbet
find? Leben ift die Bedingung des Eigenthumd. Darum ift
unter allen Umftänden das Leben das nächfte Object der Rettung
u. ſ. f. Die Löfung folcher cafuiftifchen Fragen ift von jeher der
praktiſch unfruchtbarfte Theil der Sittenlehre geweſen *).
b. Seindestiehe.
In dem Widerftreite der Perfonen ift auch die Feindfchaft
enthalten. Die hriftliche Sittenlehre fagt: „liebe deine Feinde!”
Unter diefer Liebe Tann nicht die gemüthliche („pathognomifche”)
Neigung, auch nicht bloß die äußere Handlungsweiſe (behandie
fie, als ob du fie liebſt), fondern nur bie fittliche Gefinnung ver=
fanden fein. Die fittliche Gefinnung fchließt überhaupt die Em-
pfindung perfönlicher Feindfeligkeit aus. Unter dem fittlichen
*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. 924.4 —C. 6. 300 — 310.
148
Geſichtspunkt anerkennt jeder den anderen als Werkzeug bes
Sittengeſetzes; unter biefem Geſichtspunkte giebt es überhaupt
keine Feindſchaft. „Der fittliche Menfch hat gar keinen perſön⸗
lichen Zeind und erkennt feinen an.” Das Sittengefek fagt
nicht: „liebe beine Feinde,” fondern es fagt: „du follft Beinen
Feind haben, d. h. du ſollſt Feinen als Feind anfehen.” „Wer
eine Beleidigung höher empfindet darum, weil fie gerade ihm
widerfahren ift, ber fei ficher, daß er ein Egoift und noch weit
entfernt ift von wahrer moralifher Gefinnung *).”
©. Ehre und guter Ruf.
In allen Fällen fol unfer Wille übereinftimmen mit dem
Sittengefeg, wir follen nichts wollen als dad Rechte und Gute,
Daß und diefe Gefinnung von anderen zugetraut wird, darin
allein befteht unfere „Ehre und guter Ruf”. Diefe Anerkennung
allein folte fo heißen, Alle anderen Urtheile und Meinungen
önnen und gleichgültig fein, nur nicht die Ehre und der gute
Ruf, der ſich auf unfere moralifhe Gefinnung bezieht, denn
diefed Vertrauen, dieſe gegenfeitige moralifche Anerkennung ift
die Bedingung ber moralifchen Wechfelwirtung, die das Sitten:
geſetz fordert **).
7. Die Beförderung der Moralität.
Das gute Beifpiel.
Die Erfüllung des Sittengefeges ift unfer Endzweck; fie ift
nur möglich durch die moralifhe Gefinnung der Menfchen, nicht
bloß durch die unfrige, auch Durch die der anderen; alfo ift dieſe
Gefinnung unfer Zwed und ihre Beförderung unfere unbebingte
und allgemeine Pflicht (eine folche, die wir ald Menfchen gegen
*) Chenbafelöft. III Abjchn..g. 24. C. d. S. 310—312,
GEbendaſelbſt. III Abſchn. 8. 24, D. S. 312 figb,
|
|
149
die Mitmenfchen haben). Aber wie Tann Moralität überhaupt
verbreitet und mitgetheilt werben?
Dffenbar durch Feinerlei Zwang; man kann die Menfchen
nicht zur Moralität nöthigen; man kann die Moralität durch Feine
anderen als moralifche Beweggründe erzeugen. Die bloß äußere
Pflichterfüllung ift noch keineswegs fittliche That. Es Fan fein,
daß man durch gewiſſe Kunftgriffe den menfchlichen Egoismus
dazu bringt, pflichtmäßig (ſcheinbar fittlich) zu handeln, indem
man durch Hoffnung auf Lohn oder durch Furcht vor Strafe
das rohe Intereffe für das eigene finnliche Wohl an die Pflicht:
erfüllung bindet. Dann wird die legtere herabgewürdigt zu einem
Mittel der menſchlichen Selbftfucht, nicht beffer und fehlechter
als jedes andere; fittlichen Werth hat fie gar keinen. Die Ges
finnung bleibt, wie fie ift; dad Außere Handeln wird verebelt.
Auf diefe Weife veredelt mam auch Thiere. Das ift keine Bil:
dung, ſondern Abrichtung, nicht Cultur, .fondern Dreffur,
deren Erfolg wohl eine gewiffe Art zu handeln, niemald Mora:
Kität fein kann. Auch die theoretifche Bildung fommt im Grunde
nicht weiter, man kann Durch erweiterte Einfichten den Menfchen
klüger, aber nicht beffer machen.
Die Wurzel aller Befferung in moralifchem Sinn ift allein
die Gefinnung. Gefinnungen laffen fich nicht machen und ein-
pflanzen oder einflößen, fie müffen in ihrer urfprünglichen Bebin-
gung vorhanden fein, und nur das Bemußtfein darüber läßt fich
erweden und befefligen. Won der Selbftliebe aus ift keinerlei
moralifche Bildung möglich, Nun giebt es ein Gefühl, welches
die Selbftliebe nieberfchlägt, vor dem die Selbftliebe, wie ſchon
Kant gezeigt hat, fich freiwillig zurückzieht: das ift die Achtung.
Diefer „Affect der Achtung” kommt nicht von außen in diemenfch-
liche Natur, er liegt in ihr als „etwas Unaustilgbares“, er ift
750
in ihr „das Princip deö Guten, ohne welches alle Beförberung
der Moralität unmöglich fein würde”. Da nun jedes Gefühl
unmittelbar auf uns felbft zurüdigeht, fo ift der Affect der Adh-
tung nothwendig Trieb zur Selbftahtung; diefer Trieb,
nothwendig und urfprünglich wie er ber menfchlichen Natur in
wohnt, macht bad Gegentheil, den Zufland der Selbſtverachtung,
unhaltbar und zur unerträglichen Pein. Es ift unmöglih, in
diefem Zuftande zu beharren; es ift unmöglich, ihm anders zu
entgehen, als durch fittliche Umwandlung , durch moraliſche Befz
ferung. Die Gewiſſensbetäubung, die dem Zuftande der Selbft-
verachtung zu entfliehen ſucht, hilft nicht und vergrößert die Pein.
Und der theoretiſche Verſuch, aus dem Egoismus ein Syſtem zu
machen, ihn ald bad alleinige und nothwendige Motiv alles
menfchlichen Handelns zu rechtfertigen und alle höhern Zrieb:
federn für Illuſionen und Chimären zu erflären, widerfpricht fich
ſelbſt und macht fich dadurch zu nichte. Vielmehr beweift er das
Gegentheil. Denn der Verſuch, den Egoismus ald menſchliches
Naturgefeg zu begründen, wie z. B. Helvetius wollte, if zu⸗
gleich die Abſicht, ihm den Schein der Schlechtigkeit zu nehmen
und den Egoiften zur Selbftachtung zu berechtigen. Warum
heucheln die Egoiften? Warum verſteckt der Heuchler feine felbft:
füchtige Abficht hinter den Schein der Uneigennügigfeit? Weil
er anderen achtungswerth erfcheinen möchte, alfo den Affect der
Achtung in anderen vorausfegt und anerkennt.
Der Trieb zur Selbftachtung ift der Hebel der Moralität:
bier ift in der menfchlichen Natur der Punkt, wo die moralifche
Einwirkung auf andere einfegen und ihre Pflicht erfüllen Tann.
Die Selbftliebe ift ſtets eigennügig, die Achtung ift dad Gegentheil:
diefe „uneigennüßige Achtung a priori“ nennt Fichte bad gute
Princip. Achten Bann man nur aus yneigennügiger Gefinnung,
751
nur diefe kann geachtet werden, Mit diefer Empfindungsweife
hebt und entwidelt fid die fittlihe Denkweife; die Entwidlung
der Achtung iſt daher die erfle Stufe der moralifchen -Bildung.
Um ben Affect der Achtung zu nähren und dadurch die Moralität
zu fördern, giebt es kein beſſeres Mittel als achtungäwerthe Ob:
jete, und. diefe find am mirkfamften, wenn fie am Iebendigften
find und mit der Perfon des moralifchen Bildners felbft zuſam⸗
menfallen. Die befte Weife daher, die Moralität in anderen zu
befördern, ift dad eigene gute Beifpiel.
Ich fol anderen ein gutes Beiſpiel geben: das ift eine
Pflicht des Menfchen gegen den Menfchen. Aber unter diefer
PM licht ift nicht etwa gemeint, daß ich dieſes oder jenes thun fol
um des Beifpield willen. Dann wäre bad Beifpiel Zweck und
die Handlung Mittel, dann würde die leßtere nicht um ihrer
felbft willen gefchehen und alfo den fittlichen Charakter einbüßen.
Daher geht die Pflicht des Beifpield nicht auf diefe ober jene
Handlungen ald befondere eremplarifche Werke, alfo überhaupt
nicht auf Die Materie der Handlung, fondern nur auf deren Form.
Alles fittliche Handeln fol zugleich eremplarifch fein, es
ſoll durch fein Beifpiel Achtung für die Tugend erweden und
dadurch Moralität befördern. Das ift nur möglich, wenn bie
ſittliche Handlungöweife in Gefinnung und That fo gefchieht,
daß fie auf andere, womöglich alle, erhebend einwirken kann
und deßhalb den Charakter der „höchften Publicität” nicht bloß
bat, fondern fich zur Pflicht macht.
Die Pflicht der Publicität meint nicht etwa, daß wir dad
fttlic) Gute zur Schau tragen follen, um von ben Leuten ge:
fehen zu werben, — dadurch würde bie Handlung fittlich ganz
entwerthet, — fie meint nicht die Fünftlich gefuchte Deffentlich-
keit, fondern die einfache und unbedingte Offenheit bes fitt-
752
lichen Denkens und Handelns, bie aus der Natur der moraliſchen
Geſinnund fo nothwendig folgt, ald aus der religiöfen Gefinnung
das (offene) Belennen des Glaubens. Was wir die Pflicht des
guten Beiſpiels und bie dadurch geforderte Offenheit des fittlichen
Charakters (Publicität) genannt haben, ift nur die Form, in
welcher die Moralität fich verbreitet*). Es ift die Publicität,
die fi Nathan wünfht, wenn er zum Sultan fagt: „möcht
auch doc) die ganze Welt und hören.”
I
Befondere Pflichten. (Stand und Beruf.)
1. Der natürlide Stand.
Wir handeln von den Pflichten, deren Gegenftand das
Ganze, der Endzweck (Herrfchaft der Vernunft), die Menfch-
heit felbft iftz wir haben von diefen Pflichten die Elaffe der all=
gemein menfchlichen entwickelt, deren Träger der Menſch als
Vernunftwefen ift, die darum jedem Menfchen auf gleiche Weiſe
zufommen, Es giebt eine zweite Claffe „befonderer” Pflichten,
die nicht in der menfchlichen Natur als folcher gegründet find,
fondern in der eigenthümlichen Art ihrer Eriftenz und Wirkſam⸗
feit: Pflichten, die nicht alle auf gleiche Weife haben, fondern
“in welche die Menfchenclaffen fich theilen, nach ihren natürlichen
und Fünftlichen Unterfchieden. Die Unterfchiede, welche inner
halb der Menfchheit die Natur macht, nennt Fichte „Stand“,
die anderen, die von der freien Wahl und Willensbeftimmung
der einzelnen abhängen, nennt er „Beruf“, Es handelt fi
daher jegt um bie der Menfchheit fhuldigen Standes: und Bes
tuföpflichten.
*) Chendafelbft. III Abſchn. 8.25. I-V. S. 318—325.
753
Der einzige natürliche Stand der Menfchen find die Ge
fhlechter; die einzige ber geiftigen Natur des Menfchen ent:
fprechende Form des Gefchlechtöverhälmiffes ift die Ehe; auf
diefe gründet fich die Familie und das gegenfeitige Verhältnig
der Eltern und Kinder. So weit die Sittenlehre den Stand
ald Träger unbedingter Pflichten in's Auge zu faffen hat, ift er
in biefen beiden Formen des Eheſtandes und Familienftandes
(BVerhältniß der Eltern und Kinder) erſchöpft. Nun ift ſchon in
der Rechtölehre der Begriff beider Verhältniffe ausführlich ent
widelt und gezeigt worden, daß fie natürlich« fittlicher Art find;
wir haben ſchon dort die fittliche und damit auch die pflichtmäßige
Seite derfelben vollkommen erleuchtet und können daher an biefer
Stelle einfach auf die gegebenen Deductionen zurücweifen*).
Die weibliche Liebe und die männliche Gegenliebe giebt der
Ehe die fittliche, durch den Naturtrieb felbft gebotene Form. Im
diefer Form ift die Ehe Pflicht, unbedingte Pflicht, wie fie un
bedingter Zweck ift; es läßt fich Fein Zweck und keine Pflicht den⸗
ten, ber fie aus fittlichen Gründen aufgeopfert werben könnte.
Es giebt fein Gebiet, auf welchem die allgemeinen Menſchen⸗
pflichten gegen andere dem Naturtriebe fo nahe flehen und ihre
Erfülung fo fehr den Charakter einer natürlichen Herzendfache
hat, ald die Familie und namentlich dad Verhältni der Eltern
zu den Kindern. Die Sorge für die Erhaltung, Ausbildung,
intellectuelle und moraliſche Entwiclung der Kinder ift das
unmittelbare Object der elterlichen Liebe, und zugleich ift dieſe
Erziehung elterliche Pflicht. Won dem fittlichen Geifte der Pflicht
*) Bgl. oben Cap. XL diefes Buchs. ©. 664—686. Bol. Fichte,
Grundzüge bes Naturrechts J Anhang, Grunbriß des Familienrechts
[8b. III. 6. 304 — 368) mit Syſt. der Sittenlehre III Abſchn.
$. 26 u. 27. [86. IV. 6.325—343.]
Bifger, Befülhte der Phsfonhle V. 48
7154
durchdrungen, wird bie Liebe der Eltern und damit der erziehende
Zamiliengeift geläutert von allen ſchädlichen Einflüffen elterlicher
Eitelkeit und Selbftliebe.
2. Der Beruf.
Die Herrſchaft der Vernunft in der Sinnenwelt fordert zu
ihrer Verwirklichung eine mannigfaltige in ihren Richtungen und
Aufgaben verfciedene Thätigkeit der Menfchen. Dadurch tritt
die Arbeit und ihre Theilung unter den fittlichen Geſichtspunkt,
und ed entfleht die Pflicht, nicht bloß zu arbeiten, fondern auf
eine beflimmte planmäßige Weife an der Arbeit für das Ganze
Theil zu nehmen. Die Erfüllung diefer Pflicht ift der Beruf.
Der Beruf ift der beftimmte, frei und planmäßig gewählte An-
theil, den der einzelne an der fittlichen Gefammtarbeit nimmt, die
befondere Rüdficht, in der er nad) feinem Vermögen thätig fein
will für den Endzweck des Ganzen. Im diefer Hinficht giebt es
feinen moraliſchen Werthunterfchied der getheilten Berufszweige;
jeder ift ein für das Ganze nothwendiger Beitrag, und wenn
jeder einzelne feinen Beruf treu und pflichtmäßig um der Sache
willen erfült, fo hat er gethan, was das Sittengeſetz von ihm
fordert, Mehr kann er in feinem Berufe nicht leiften, er darf
deßhalb auch nicht weniger werth fein als jeder andere *).
Die verfchiedenen Berufswerthe find bedingt durch die ver⸗
ſchiedenen Werthe der Objecte und Aufgaben, mit denen wir und
befchäftigen. Je höher die Aufgabe dem Endzwede felbft flieht,
um fo höher darf fie gelten. In diefer Rückſicht laffen fich „hö⸗
here und niedere Berufsarten,” und ald beren Träger „höhere und
niedere Volköclafjen” unterfcheiben. Die Grenzeiftleicht erkennbar,
*) Fichte, Borlefungen über das Weſen des Gelehrten (1808).
IV Vorleſg. Geſ. W. III Abth. Bd. J. ©. 387,
h 755
nachdem wir fehon früher, wo es fi um bie Realität des Sit-
tengeſetzes und deren Ableitung hanbelte, in ber menfchlichen Natur
oder im Urtriebe bed Menfchen den Unterfchied des höheren und
niederen Triebes (ded Freiheits- und Naturtriebes) feftgeftellt
haben*). Die Entwidlung der Zreiheit in der Rechtsordnung
bes Staatd, in der Ausbildung ber Intelligenz, in ber Beför-
derung der Moralität ſteht höher ald die Erhaltung des äußeren
Lebens. Wir werben demnach die geſellſchaftliche Arbeit in zwei
Claſſen unterfcheiden, die ſich ald niedere und höhere verhalten;
die Aufgabe der einen ift die Befriedigung der öfonomifchen
Lebenszwecke, die der anderen bie Befriedigung ber geiftigen.
Die focial :öfonomifche Arbeit hat zu ihrer Aufgabe die Er:
zeugung ber Naturprobucte, die Bearbeitung berfelben und den
Tauſch der Leiſtungen; fie theilt fi) demnach in Production,
Fabrication und Handel, in den Beruf der Probucenten, Fabri⸗
Kanten, Kaufleute. Die Theilung war aus Rechtögründen noth:
wendig, fie ift ed auch aus fittlihen Gründen **).
Die Arbeit für die geiftigen Zwecke der Menfchheit hat zu
ihrer Aufgabe die Rechtöverwaltung im Staat, die theoretifche
Ausbildung der Intelligenz und die moralifche Bildung bed Wil⸗
lens; fie theilt ſich demnach in die Berufsarten des Staatsbeam⸗
ten, des Gelehrten und des moralifchen Volkserziehers (Geift:
lien). Es giebt eine Wirkſamkeit, die in der menfchlichen
Natur ein Vermögen bearbeitet und entwidelt, welches theoretifch
und praßtifch zugleich ift und zwifchen Verfland und Willen
ein „Bereinigungsband” bildet: das ift der „aſthetiſche Sinn”
*) Dgl. oben Cap. XII. diefes Buch, Nr. III. 6. S. 706— 708.
=) Bol. oben Cap. X. dieſes Bus, Nr. J. 3—6. S. 641646,
1 &.648 — 652,
48*
7156
und deſſen Ausbildung die Berufsarbeit des „äfthetifchen
Künftiers"*).
3. Die Pfliten des niederen Berufs.
Die Thellung der menfchlichen Arbeit ift durch deren Plan:
mäßigfeit und diefe felbft durch den Zweck des Ganzen, nämlich
den Zortfchritt der menfchlichen Bildung gefordert. Wenn in
diefer Abficht auf den Fortfchritt des Ganzen jeder feinen Beruf
nimmt und erfüllt, fo erfüllt er deſſen Pflicht. Daraus er
hellt bie fittliche Gefinnung,, in welcher jeder befondere Theil der
menfchlichen Arbeit gefchehen fol.
Nun ift der Fortfchritt und die Befreiung des menfchlichen
Geiſtes bedingt durch die zunehmende Herrfchaft des Menfchen
über die Materie, und diefe Herrfchaft zu erobern, ift die Auf—
gabe der mit der Bearbeitung der Materie befchäftigten Berufs:
zeige. So wichtig dieſe Aufgabe ift, fo wichtig und unentbehrlich
iſt für die Menſchheit, deren eigentliche Stüge fie bildet, die den
öfonomifchen Lebenszwecken gewidmete Arbeit. Der Kampf mit
der Natur ift dad ihr angelegene Gefchäft, der fortfchreitende Sieg
ihr beftändiges, fi immer erneuendes und höher frebendes Ziel.
In demfelben Maße ald die Nothdurft des Lebens verringert wird,
gewinnt die Freiheit des Geiftes weiteren Spielraum, Je mehr
nun die materielle Arbeit ſich mechaniſch und technifch vervoll⸗
tommnet, um fo ficherer find ihre Siege, um fo mehr befördert
und befchleunigt ‚fie den Fortfchritt deö Ganzen. Das Streben
nad) immer größerer (technifcher) Vervollkommnung ift darum
die erfte Pflicht der niederen Berufszweige.
Daraus folgt unmittelbar die zweite. Jeder induſtrielle und
technifche Fortſchritt ift abhängig von Erfindungen, Entdeckungen,
*) Soft, der Eittenlehre. III Abſchn. 8. 28. ©. 343—345.
7157
Einfihten, die von der Wiffenfchaft auögehen und bie eigentliche
Berufsarbeit des Gelehrten ausmachen. Hier ift das Band,
welches die niederen und höheren Berufszweige verknüpft und
eine Wechfelwirkung beider fordert. Es ift darum die Pflicht des
nieberen Berufs, den höheren ald folchen anzuerkennen und zu
achten , nicht etwa durch Untermwürfigkeit oder äußere Ehrenerwei⸗
fungen, fondern bloß durch die Einficht in die Bedeutung, welche
ihm und feiner Arbeit gegenüber bie Wiffenfchaft hat. In ber
fittlihen Gefinnung ift flet3 der Zweck des Ganzen gegenwärtig;
darum ift in diefer Gefinnung eine gegenfeitige Geringſchätzung
der verfchiedenen Berufszweige unmöglich, und bie legtere ift
allemal ein Zeichen, daß die fittliche Denkweiſe fehlt und mit
“ihr auch die richtige Einficht in das Theilungsverhältniß der
menfchlichen, Arbeit*).
4. Die Pflicht des Staatöbeamten,
Der fittliche Charakter der Beruföpflicht kann nur da her:
vortreten, wo ihre Erfüllung bedingt ift durch die Gefinnung.
Das ift bei den niederen Staatsbeamten infofern nicht der Fall,
als fie in ihren amtlichen Handlungen gebunden find an den Buchs
ſtaben des Geſetzes, und bie genaue Befolgung ber vorgefchriebes
nen Richtſchnur ihre alleinige Pflicht ausmacht. Dagegen ift bei
den höheren Staatöbeamten, die bad Gemeinwefen leiten follen
und berufen find, gefeßgebend und regieren zu handeln, bie
fittliche Gefinnung ein mitwirkender Factor des Berufs, Die
Pflicht des Negenten ift die Gerechtigkeit, die beides um:
faßt: den Einblick in das Gegebene und die Ausficht auf das
Künftige, die Erhaltung des einen und die Sorge für das an:
dere, die Rechtswahrung und Redtsentwidlung,
*) Ebendafelbft. III Abſchn. 8. 38, ©. 361—865.
7158
den richtigen Beſtand und den richtigen Fortſchritt der Geſetze.
Diefe umfaffende Regentenpflicht ift nicht zu erfüllen ohne Weis-
beit, ohne Wiffenfchaft, ohme Ideen; es ift darum nothwendig,
daß der vegierende Beamte zugleich in feinem Fach Mann der
Wiſſenſchaft (Gelehrter) ift. „Es könne kein Fürft wohl regieren,
der nicht der Ideen theilhaftig fei, fagt Plato: und dieß ift gerade
daffelbe, was wir bier ſagen.“ Die Gerechtigkeit in ihrer fitt-
lichen Bedeutung reicht weiter als der Buchſtabe des pofitiven
Geſetzes; fie fordert die Einficht in die Rechtdaufgaben des Staats
und den dadurch begründeten Fortfchritt. Diefe Einficht ift die
ächte Aufklärung, ihr der Entwicklung feindliches Gegentheil ift
der „Obfeurantismus”. Im diefem Sinne fagt Fichte: „Obfeu:
tantismus ift unter anderem auch ein Verbrechen gegen den Staat,
wie er fein fol. Es ift dem Regenten, der feine Beftimmung
kennt, Gewiffensfache, die Aufklärung zu unterftügen*).”
5. Die Pflicht des Geiſtlichen.
Das fittliche Leben ift in der Ordnung der menfchlichen
Lebenszwede ber höchſte. Die Cinmüthigkeit der moralifchen
Ueberzeugung giebt den Begriff der Menfchheit ald moralifcyer
Gemeine, ald ethifcher Gemeinſchaft oder Kirche. Es iſt allge:
meine Menfchenpflicht, die Moralitat zu befördern, Die Er:
fülung diefer Pflicht kann zugleich Sache eines befonderen Berufs
fein: diefer Beruf macht den Beamten der Kirche, den morali-
ſchen Volkslehrer. Worin befteht diefe befondere Beruföpflicht?
Als Beamter der Kirche fteht der Geiftliche in deren Dienft,
im Dienfte der moralifchen Gemeine, die fi) auf eine gemein:
fame, fombolifch gefaßte ſittliche Ueberzeugung gründet. Diefes
Symbol ift die Vorausſetzung, von der aus er lehrt.
*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. 9.32, S. 356 — 361.
759
Er ift Lehrer: als folder muß er weiter fehen, ald die
Gemeine, die er leiten foll, er muß die volle Einficht der Sache
vor ihr voraus haben, alfo zugleich Mann der Wiffenfchaft in
feinem Gebiet (Gelehrter) fein. Er ift Lehrer des Volks: wie
weit er auch ben anderen mit feiner Einficht voraus fein mag, er
muß fo lehren und fo gehen, daß ihm alle folgen können, d. h.
wahrhaft erziehend, niemals voraudeilend oder nur einige fördernd.
Er ift moralifcher Volkslehrer: was er lehren fol, ift
nicht Wiffenfchaft, überhaupt nicht theoretifcher Art, welche bie
Sache. der Wiffenfchaft ift, fondern einzig und allein praktiſcher.
Er fol den Glauben nicht machen, denn diefer Glaube ift ſchon
vorhanden ald das lebendige Band der (im Glauben) vereinigten
Gemeine; er fol diefen Glauben nur beleben, flärfen, ent
wideln. Seine Aufgabe ift daher der Fortfchritt im Glauben.
Daß die Menfchheit im fittlichen Glauben, d. h. im Guten fort:
ſchreite, daß dieſer Fortfchritt nad) einem ewigen Geſetz ſtatt⸗
finde, daß er in's Unendliche gehe: diefe erhebende Vorftellung
ift das große und unerfchöpfliche Thema der moralifchen Ges
meine. Die Beförderung bed Guten gefchieht nad) einer Regel:
d. h. es ift ein Gott. Wir fehreiten planmäßig fort in's Unend⸗
liche: d. h. wir find ewig. So entwidelt ſich der fittliche Glaube
zum Glauben an Gott und Unfterblichkeit.
Nur fol der Geiftliche ald Volkslehrer diefen Glauben nicht
wiffenfchaftlich beweifen oder Gegenbemeife widerlegen wollen, er
ſoll überhaupt weber bemonftriven noch polemifiren, fondern den
vorhandenen Glauben, der ald ſolcher keineswegs erft nöthig
hat, bewieſen zu werben, an der lebendigen Erfahrung felbft
beftätigen. Er ift dem Glauben der Gemeine gegenüber nicht
Geſebgeber aus Vernunftgründen, fondern Rathgeber aus Er:
fahrung. Er fei dieſer Rathgeber in allen Lebenderfahrungen,
760
d. h. er made die Seelforge zu feiner Berufspfliht; und da er
den Glauben der Gemeine leiten fol, fo fei er ihr vorbildlich ;
da der Glaube ber Gemeine, die er erzieht, immer zugleich der
Glaube an feinen Glauben ift, fo fei er ihr ein wirklicher
Slaubendrepräfentant und beftätige diefen Glauben in feiner Per:
fon: er vor allen übe die Pflicht des guten Beifpielö*).
Hier weißt die Sittenlehre auf die Religiondlehre hin, mit
der wir dieſes Buch ſchließen werben.
Es bleiben und von der Pflichtenlehre noch zwei Berufs:
pflichten übrig: bie des Gelehrten und des äfthetifchen Künſtlers.
Wir behandeln fie in’ einem befonderen Capitel, weil wir, na⸗
mentlich was ben Begriff des Gelehrtenberufs betrifft, außer der
Sittenlehre noch eine Reihe anderer Schriften Fichte's zu beach-
ten haben.
*) Ebenbafelbft. III Abſchn. $. 30, I-V. 6. 348—353,
Sechszehntes Capitel.
Die Kerufspflichten des Gelehrten und des Künfllers.
L
Der Beruf des Gelehrten.
1. Bedeutung und Aufgabe des Gelehrtenberufs.
Unter ben verfchiebenen Berufdarten, bie wir in ber Sit:
tenlehre unſeres Philofophen kennen gelernt haben, war feine,
die den Begriff des Gelehrten ganz außer ihrem Geſichtskreiſe
ließ, vielmehr war jede innerlich damit verknüpft; die niederen
Berufsʒweige bedurften der woiffenfchaftlichen Berufsthätigkeit zu
ihrer Vervollkommnung, und bie höheren nahmen jede in ihrer
Weiſe felbft daran Theil, der Begriff des Staatöbeamten ſowohl
ald der des moralifchen Volkslehrers fchloß den des Gelehrten in
fih. Es giebt daher unter den menfchlichen Berufszweigen kei—
nen, von dem aus die Wechſelwirkung aller fo deutlich erblict
und gleichfam beauffichtigt werben kann, ald der Gelchrtenberuf.
Schon darin zeigt diefer Beruf den anderen gegenüber eine ge
wiffe Suprematie und centrale Stellung. i
Diefe Bedeutung rechtfertigt fi aus dem Begriff des Ge:
lehrten, wie Fichteihn faßt. Wie die Menfchheit felbft der Bes
griff einer einzigen Gattung ift, fo giebt es in Wahrheit auch
nur eine Erkenntniß, ein einziges Erkenntnißſyſtem, dad ſich
in der Stufenfolge der Zeiten entwickelt. Jede Zeit erbt von ber
762
Vergangenheit einen Schag wiffenfchaftliher Bildung , ben fie
in einem befonderen dazu berufenen Stande aufzubewahren, zu
vermehren, fortzupflanzen hat. Eben diefer Beruf macht die
Aufgabe des Gelehrten. „Die Gelehrten find die Depofitäre,
gleichſam dad Archiv der Eultur des Zeitalterd,” aber Fein todtes
Archiv, dad nur die erworbenen Schäße, die gewonnenen Er:
gebniffe auffpeichert und beherbergt, fondern der ganze bisherige
Bildungsgang der Menfchheit fol in ihnen leben und fortleben.
Das ift nur möglich, wenn fie diefen Bildungsgang in feiner
geſchichtlichen Entwicklung Fennen und zugleich aus den Bedin⸗
gungen (Principien), die ihn erzeugt haben, verftehen. Ihre
erfte Pflicht ift Daher die Hiftorifche und philofophifche Einficht der
gewordenen Bildung. Darum werben fie Träger der vorhan:
denen Wiſſenſchaft. Sie follen nicht bloß ihre Träger fein, ſon⸗
dern zugleich ihre Fortbildner, die Jrrthümer berichtigend,
die Einfichten erweiternd: ein wirklich lebendiges und fortlaufen-
des Glied jener goldenen Kette, welche die menſchliche Weisheit
und Erkenntniß von Jahrhundert zu Jahrhundert fortleitet und
weiterführt. Eine ſolche Weiterbildung könnte nicht ftattfinden,
wenn nicht die gegenwärtigen Gelehrten die Erzieher der fünfti-
gen wären.
Diefe große Pflicht, Wiflenfchaft zu empfangen, fortzu⸗
bilden und zu demfelben Zwede neue Geſchlechter zu erziehen,
Tann nur wahrhaft erfüllt werden durch eine fittliche Gefinnung,
die mit völliger Hingebung an die Sache, mit Ausſchließung aller
perfönlichen Selbftliebe und Eitelteit, mit der ftrengften Wahr:
heitsliebe den Dienft der Wiffenfchaft übernimmt. Diefe Gefin-
nung ift eö, die den Gelehrten zu einem „Priefter der Wahrheit”
madıt*).
*) Syſt. der Gittenlehre. III Abſchn. 8.29. ©. 346—347.
763
2. Fichte's dffentlihe Vorträge über ben
Gelehrtenberuf.
Keine unter den menſchlichen Pflichten hat durch ihren Ans
blick das Herz unferes Philofophen fo erhoben und erwärmt, Feine
lag ihm felbft perfönlich fo nahe; ed war fein eigener Beruf, und
in feinem Amte ald akademiſcher Lehrer fühlte er fich zugleich in
dem Beruf eined Erzieherd neuer Träger und Fortbildner der
Wiffenfhaft. Daher nahm er gern und wiederholt den Beruf
und die Pflichten des Gelehrten zum Gegenftande feiner öffent:
lichen akademiſchen Vorträge; er begann damit feine Lehrthätig-
keit in Jena; er wiederholte und erneute diefe Vorträge umfafz
fender, ausführlicher, tiefer, als er elf Jahre fpäter nah Er:
langen berufen wurde, und er kam, wie fein Nachlaß zeigt, auch
an ber eben gegründeten Univerfität Berlin auf daffelbe Thema
in öffentlichen Vorlefungen zurüd. Jede Gelegenheit, die feine
amtliche Stellung ihm bot, nahm er wahr, um den Beruf des
Gelehrten , wie er in feinem Geifte lebendig war, an ben akade—
mifchen Verhältniffen darzuſtellen und zu erleuchten: fo in einer
berliner Decanatörebe bei Gelegenheit einer Ehrenpromotion und
namentlich in feiner Rectoratörede über die einzig mögliche Stö-
rung der akademiſchen Freiheit”).
) 1) Einige BVorlefungen über die Beftimmung des Gelehrten
(1794). Diefe Vorlefungen, fünf an der Zahl, find Bruchſtück ge
blieben. S. W. III Abth. I Bd. 2) Vorlefungen über das Weſen des
Gelehrten und feine Erſcheinungen im Gebiete ber Freiheit (1805). S. W.
III Abt. I Bd. 3) Fünf Vorlefungen über die Beftimmung bes Ge
lehrten (Berlin 1811). Nachgel. W. Bd. III. 4) Rebe als Decan der
philoſ. Fac. bei Gelegenheit einer Ehrenpromotion an der Univ. Berlin,
16, April 1811. S. W. III Abth. J Bd. 5) Rede beim Antritt feis
ne3 Rectorat3 an ber Univ. Berlin, über die einzig mögliche Störung
der alademiſchen Freiheit. S. W. III Abt. I Bd
164
Und was ihm felbft diefe an das ftubirende Publicum gerich-
teten, öffentlichen Vorträge über den Gelehrtenberuf galten, dafür
ſpreche die ſchöne Stelle im Eingange ber fünften erlanger Vor:
lefung. „Deffentliche Vorträge find freie Gaben eines akademiſchen
Lehrers; und zum Gefchenke giebt der nicht Unedle gern dad
Befte, was er zu geben vermag,”
3. Der Gelehrtenberuf in der menſchlichen Geſellſchaft.
Genaiſche Vorträge.)
Die jenaifchen Vorträge gehen vom Begriff ber Beftimmung
des Menfchen, den fie zum Ausgangspunkte nehmen, fort zu dem
Begriff der Gefellfchaft, ded Berufs, des Gelehrtenberufs, den
fie zuleßt gegen Rouffeau vertheiigen. Die Beſtimmung des
Menſchen fei Vervollkommnung in's Unendliche; biefem Ziele
konne man ſich nur nähern durch die geſellſchaftliche Vereinigung
der Menſchen zu gemeinſchaftlicher Vervollkommnung, in der die
einfeitige Naturbildung ber einzelnen durch gegenfeitige Mitthei⸗
lung ergänzt und eine vollftändige, alfeitige Bildung ermöglicht
werbe; bie gleichförmige Ausbildung aller menfchlichen Anlagen
und Bebürfniffe fordere die Kenntniß der menfchlichen Natur,
die Kenntniß der richtigen Bildungsmittel, die Kenntniß des vor:
handenen Bildungsſtandes: fie fordere in erſter Hinficht eine phi⸗
loſophiſche, in zweiter eine philofophifch Hiftorifche, in Dritter
biftorifche Einficht. Die Vereinigung dieſer Einfichten fei die
gelehrte Bildung, ohne deren Pflege der Fortgang der Menfch:
heit unmöglich fei. Daher fei die erfle Pflicht des Gelehrten,
felbft fortzufchreiten, indem er ſowohl feine wiffenfchaftliche Em:
pfänglichfeit als feine Mittheilungsfähigkeit auf's höchfte ausbilde;
feine zweite Pflicht iſt zu belehren, er fei ein Lehrer der Menſch⸗
heit, darum vor allem Erzieher künftiger Lehrer und als folder
765
ein ſittliches Vorbild: „er fol der fittlich befte Menfch feines
Beitalters fein; er fol die höchfte Stufe der bis auf ihn möglichen
fittlichen Ausbildung in ſich darftellen.” „Die wahre Beftim-
mung bed Gelehrtenftandes ift die oberfte Aufficht über den wirk:
lichen Fortgang des Menfchengefchlechts im Allgemeinen und bie
ſtete Beförderung diefes Fortgang *).”
Hätte Rouffeau den Gelehrtenberuf in diefem Sinne genom:
men, fo wfrde er fich über den Einfluß der Wiflenfchaft auf die
Menfchheit nicht verblendet haben; er täufchte fich über ben
Naturzuftand und nahm den Gelehrten in dem Zerrbilde eines
geſunkenen Gefchlechtes, wie es fein Zeitalter ihm bot.
4. Der Gelehrtenberuf in der göttlihen Weltorbnung.
(Erlanger Vorträge.)
Die erlanger Vorlefungen behandeln daffelbe Thema, nicht aus
einem anderen, ſondern nur tiefer gefaßten Standpunkte, der in
der Sinnenwelt die Erfcheinung der ewigen (göttlichen) Idee und
in der Erfenntniß diefer Idee (fo weit fie möglich ift) die höchſte
Aufgabe menfchlicher Wiffenfhaft, den wahren Beruf bed Ge:
lehrten erblickt. Der ideenlofe Gelehrte fei der „Stümper”, der
wahre Gelehrte der von ben Ideen der Welt wirklich erleuchtete
und ergriffene Geift.
Die wahre und rüdhaltlofe Offenbarung der göttlichen Idee
fei die Welt in ihrer unendlichen Fortentwicklung, biefe Entwid:
lung in's Unendliche fei nur die Menfchheit, die immer höher
fleigende, ihre Schranken immer mehr durchbrechende und freier
werdende Menfchheit, die, weil fie Schranken zu überwinden
hat, nothwendig befchränkt if. Diefe Schranke ift die Natur,
*) Vorl, über die Beftimmung des Gelehrten. IV Vorl. (S. W.
II. Abth. I. 8.1. &.328—330,)
766
die daher nur Mittel und Bedingung des geiftigen Lebens, nichts
an fich Abfolutes ift (mie die Naturphilofophie jüngſten Datums
vorgiebt, indem fie eine dogmatifche Vorſtellungsweiſe älte:
ften Datums erneuert). Abfolute Einheit ift dad Ziel, dem
die Menfchheit zuftrebt; Nichteinheit und Trennung ift darum
der Zuſtand, von dem fie auögeht, in dem fie lebt, den fie durch
immer tiefer dringende Vereinigung überwindet. Solche Ber:
einigungen find Staat, Eultur, Religion, Kunft, Wiffenfchaft:
alle angelegt und gegründet in ber göttlichen Idee der Menfchheit.
Diefe Idee im Beroußtfein der Menfchheit auszubilden, zu
denen, gleichfam dem Göttlichen wieder nachzubenten, ift die Auf:
gabe der Wiffenfchaft und die Pflicht des Gelehrten. Im der
göttlichen Idee der Menfchheit ift auch die Idee des Gelehrten
enthalten. Diefen göttlichen Gedanken bed Gelehrten in feinem
Leben zu verkörpern, ift des Gelehrten Beruf und Pflicht,
beide aus ihrem tiefften Grunde betrachtet. Iſt er von biefer
Idee ergriffen, wirkt fie in ihm als Lebensprincip und Trieb,
gleichviel in welcher befonderen Richtung, fo befteht darin das
Genie” zum Gelehrten, daß jede Art von Selbfigefälligfeit aus:
fließt und ganz in die Sache und in das Streben dafür auf:
seht. Es giebt Fein Genie ohne Fleiß, Streben, Hingebung;
wohl aber umgekehrt Fleiß und ernfthafte Arbeit ohne Genie.
In der Arbeit für die Sache der Wiffenfchaft befteht die „Recht:
ſchaffenheit“ des Gelehrten. Genie zum Studiren hat nicht jeder;
Rechtfchaffenheit im Studiren foll jeder haben, um fo mehr ald
feiner auf feine Genialität vertrauen darf, Feiner derfelben ficher
fein kann, bevor fie in der Leiſtung, die aus dem Fleiße hervor:
geht, ihre Frucht getragen,
a. Der angehende und der vollendete Gelehrte.
Darum ift diefe Rechtichaffenheit, die für die Sache der
167
Wiſſenſchaft lebt und arbeitet, die ächte Gefinnung des wiffen-
ſchaftlich Strebenden, die Tugend des werdenden oder angehen:
den Gelehrten, die Pflicht ded Studirenden. Ohne dieſe
Gefinnung wird niemand ein Gelehrter. Aus diefer Gefinnung
folgen die Sitten des Studirenden von felbft; er kann nicht an=
ders ald die Berührung mit allem Unedlen und Gemeinen fliehen;
gemein und unedel ift der Müffiggang , die Geifteöträgheit: „die
Jugend träge zu erblicken ift ‘der Anblick des Winters mitten im
Frühlinge, der Anblick ded Erſtarrens und Verwelkens der foeben
erft aufgefeimten Pflanze;“ er flieht das Gemeine und haft es
aus voller Seele, mit dem größten Ernſte, „Eeiner wird dahin
kommen, es wahrhaft frei und rein bleibend zu betrachten und zu
belacheln, der nicht damit angehoben hat, es zu fliehen und zu
haſſen.“ „Der Antheil des Jünglings am Leben iſt der Ernſt
und das Erhabene; dem reiferen Alter erſt nach einer ſolchen
Jugend geht das Schöne auf und mit demſelben der Scherz mit
dem Gemeinen.“
Die Lebensaufgabe des „vollendeten Gelehrten“ liegt in zwei
verſchiedenen Berufskreiſen: er ſoll das Staatsleben leiten und
die Wiſſenſchaft fortbilden; er iſt in dem erſten Berufe Regent,
in dem zweiten Gelehrter im eigentlichen Sinn; möglich auch,
daß fich beides in einer Perfon vereinigt.
Die Wiffenfchaft wird fortgebildet auf zwei Arten, die eben-
fald in einer Perfon vereinigt fein können: durch die Erziehung
fünftiger Gelehrten und durch fchriftliche Werke; die erfte Art
macht den Beruf deö afabemifchen Lehrers, die zweite den des
Schriftſtellers.
b. Der alademifche Lehrer.
Der akademiſche Lehrer fol Menfchen bilden zur Em-
pfanglichkeit für die Ideen; dad Fann er nur, wenn in ihm
768
ſelbſt die Ideen gegenwärtig find in volftändiger Klarheit und
zugleich in einer fo großen und eigenthümlichen Lebendigkeit, daß
fie durch feine Mittheilung unmittelbar einleuchtend und belebend
in ben Geift der Lernenden eindringen. So verfchieben bie Ge
müther find, die er bildet; fo mannigfaltig, beweglich, innerlich
wendbar und gewandt müflen die Formen fein, in denen ber
alademiſche Lehrer feine Ideen auszubrüden und barzuftellen ver:
mag. Darin befteht das ihm eigenthümliche und unentbehrliche
Künftlertalent. Wenn dieſe Fünftlerifhe Macht und Lebendig⸗
teit, die den Stoff immer wieder neu geflaltet und mit voller
Freiheit darüber herrſcht, dem mündlichen Vortrage fehlt, fo ift
ex tobt und wirkungslos, Was Fichte bei diefer Gelegenheit über
den Beruf und die Wirkungsart des afabemifchen Lehrers fagt,
find goldene Worte. „Seine Mittheilung fei ſtets neu und trage
die Spur des frifchen und unmittelbaren Lebens.” „Das Wefen
feines Gefchäfts befleht darin, daß die Wiflenfchaft und befonders
diejenige Seite, von welcher er diefelbe ergriffen, immer fort und
fort neu und friſch in ihm aufblühe. In diefem Zuſtande ber
feifchen. geiftigen Jugend erhalte er fich; Keine Geftalt erftarre in
ihm und verfteine; jeder Sonnenaufgang bringe ihm neue Luft
und Liebe zu feinem Gefchäfte und mit ihr neue Anfichten.”
„Bleibe keiner in biefem Kreife, in welchem die Form dieſer
Mittheilung, und fei es bie vollfommenfte dieſes Zeitalterd, an:
fängt zu erftarren; keiner, dem nicht fort die Quelle der Yu:
gend fließt.”
Wer die Macht der mündlichen Ideendarftellung beſitzt, hat
auch die fchriftliche, nicht umgekehrt. Sehr richtig fagt Fichte:
„ein guter alademifcher Lehrer muß ein fehr guter Schriftfteller
fein Eönnen, fobald er will; umgekehrt aber folgt es gar nicht,
daß felbft ein guter Schriftfteller ein guter akademiſcher Lehrer fei,”
7169
e. Der Schriftfteller.
Der Beruf des Schriftftellers ift unabhängig von der
Rückſicht auf die Empfänglicykeit beftimmter Individuen, daher
ift feine Aufgabe, die Ideen auszudrüden in ihrer vollendeten
Geftalt. Ein anderes ift der fchriftftellerifche Beruf, ein ande
red das fchriftfielerifche Gewerbe; der Beruf fordert einen
Künftler, dad Gewerbe einen Fabrikanten. Die Bücherfabri-
kanten find Schriftfteller ohne Beruf, Lohnfchreiber, die auf
Beſtellung arbeiten, drucken laffen, was andere fchon haben
druden laffen, fogenannte Recenfionen und Bücherauszüge machen,
mit denen die fogenannten gelehrten Bibliothefen und Zeitungen
gefüllt werben; fie nehmen in ber Glaffe der Fabrikanten eine der
niebrigften Stellen ein, weil fie dem ſchlechten Luxus ber Leſe—
mobe dienen.
Der Beruf des wiffenfchaftlichen Schriftftellerd rechtfertigt
ſich durch die neue, tiefere Auffaffung der Sache, die er darſtellt,
und durch die Vollendung ber Form. Wiffenfchaftliche Werke
excerpiren, bie Ercerpte zufammenftellen und daraus ein neues
Buch machen, ift nicht der Beruf eines Schriftfteller, fondern das
Gefchäft eines (gelehrten) Fabrifanten. Bloß wiederholen, was
anbere fchon gefagt haben, heißt thun, was fchon gethan ift, das
ift eine Nichtöthuerei, die dem Müffiggange gleichkommt. „Es
kommt gar nicht darauf an, ein anderes und neued Werk in einer
Wiſſenſchaft zu fehreiben, fondern ein beſſeres ald irgend eins der
bisher vorhandenen Werke. Wer dad lehtere nicht kann, der fol
überhaupt nicht fchreiben, und es ift Sünde und Mangel an
Rechtfchaffenheit, wenn er ed dennoch thut*).”
Die Vollendung der Form, der Ausbrud des Gedankens
*) Vorl, über das Weſen bes Gelehrten. Vorl, X. S. W. III Abth.
18. S. 444,
Bilder, Gefhite der Yhilofophie. V. 49
770
auf eine allgemein gültige Weiſe ſetzt im Schriftſteller eine Herr⸗
fchaft über die Sprache voraus, die lange und anhaltende Bor-
übungen fordert. Ohne diefe feltene und ſchwer zu erringenbe
Meifterichaft läßt fich der Beruf des Schriftftellers nicht erfüllen.
„Das Werk des mündlichen Gelehrten-Lehrers ift unmittelbar und
an fich felber doch immer nur ein Werk an die Zeit und für die
Beit, berechnet auf die Stufe der Bildung derer, die fich ihm
anvertrauten. Das Werk bes Schriftftellers aber ift in fich felber
ein Werk für die Ewigkeit *).”
5. Der Gelehrte ald Seher und Künftler.
(Berliner Vorträge.)
Denfelben Standpunkt ald die erlanger Vorträge, die gleich
fam von dem innerften Gentrum der Welt, von ber göttlichen
Weltidee aus den Begriff und Beruf des Gelehrten entwerfen,
nehmen auch die legten Vorleſungen biefer Art, die Fichte ſechs
Jahre fpäter in Berlin hielt. Statt „Ideen“ fagt er hier „Ge
fihte”, wohl um ben fremden Ausdruck zu vermeiden und zu:
gleich den Gelehrten beffer mit dem „Seher” vergleichen zu kön—
nen. Nur im Lichte der Ideen, burc die Anfchauung des
Ueberfinnlichen, ohne welche wir „in tiefer Bewußtlofigkeit”
leben, ift die geiftige Fortentwicklung der Welt, die Fortſchöpfung
derfelben möglih. Durd den Wiffenden allein, in dem das
göttliche Bild der Welt gegenwärtig ift, rüdt die Welt weiter;
er ift „ber-Bereinigungspunft der überfinnlichen und finnlichen
Welt". Ergkiffen fein von dem Göttlichen heißt religiös fein.
Religiöse können die Ungelehrten fo gut fein ald die Gelehrten ;
aber in jenen ift das göttliche Geficht geftaltlos, in diefen welt
geftaltend; in beiden lebt der göttliche Wille, in den Ungelehrten
*) Ehendajelbft. Vorl, X. ©. 445—46,
m
die Welt erhaltend, in den Gelehrten fie weiter fchaffend. : Im
Anfange ber geiftigen Entwidlung find die treibenden Geifter uns
mittelbar von der göttlichen Idee erfüllt und die anderen unmit:
telbar für dieſe Begeifterung empfänglich; hier find die Wiffen-
den die Seher und Propheten bed menfchlichen Geſchlechts. Mit
dem Fortſchritt entwickelt ſich die Selbftänbigkeit der Individuen,
fie wollen nicht bloß empfangen und glauben, fondern felbft ein
fehen. Das Gefiht muß entwidelt werden zur klaren, bis auf
den Boden ber wirklichen Erfahrung herab beftimmten Einficht:
dadurch wird die Einficht zur gelehrten Bildung. An die Stelle
der Seher treten die Künftler und Dichter, die Wiffenden und
Gelehrten. Sobald die klare Einficht herrſcht, tritt der Ge
lehrte an die Spige des Fortſchritts der Menfchheit.
Die Gemeine der Gelehrten erzieht die geiftigen Gefchlechter
der Welt und ordnet die Berufszweige; fo werben die Gelehrten
die wirklichen Herrfcher, und die fichte ſche Vorſtellungsweiſe nä-
bert fich immer mehr und mehr der platonifchen.
Die Erziehung und Ausbildung des Gelehrten kann ein dop⸗
pelted Refultat haben: entweder wird das Ziel erreicht oder ver-
fehlt. In dem letzten Falle wird aus dem Auögelernten ein bloß
nausübendes” Werkzeug, er wird entlafen zur Ausübung
der untergeordneten Gefchäfte. Wird dad Ziel erreicht, fo ift
der Auögelernte felbft ein Gelehrter und als ſolcher ein „freier
Künftler” geworden, der feinen Beruf erfüllt entweder ald
tegierender Beamter im Staat oder als erziehender Lehrer in ber
wiffenfchaftlichen Gemeine. Die Verftandesbildung fol zur freien
Kunft, die Gelehrtenfchule zur „Kunſtſchule“ werden. Diefe
Säule felbft Hat verfchiedene Stufen, die niedere Gelehrtenfchule
und die höhere: in jener ift der Lehrer zugleich Erzieher, unter
deffen fortwährender Leitung die geiftige Selbftentwidlung bes
40*
712
Zoglings gefchieht; in dieſer hört der Lehrer auf, zugleich Außer
rer Erzieher zu fein, die Entwicllung des Lernenden wird felb:
fländig, an die Stelle des Erzogenwerbens tritt die Selbfterzie:
bung. Das ift der Charakter der akademiſchen Bildung und ber
daburch gebotenen akabemifchen Freiheit, die keineswegs Privi:
legium eined Standes, fondern allein die Bedingung ift, um ald
Studirender ben Beruf des Studirend zu erfüllen. Was ihr daher
am meiften widerftreitet und fie im Innerften ftört, ift die Nicht
erfüllung ihres alleinigen Zwecks: das Dafein ſolcher „Stuben:
ten”, die nicht aud dem Studiren ihren Beruf, fondern aus dem
„Stubentfein” einen Stand machen mit der Aufgabe, das Leben
einige Zeit auf ganz abfonderliche Art zu genießen”).
I.
Der Beruf des äftpetifhen Künftlers.
1. Dad Weſen der Kunfl.
Der Begriff des Gelehrten hat und in feiner Bebingung auf
den Begriff der Religion, in feiner Vollendung auf ben der
Kunft hingewiefen. Wir kehren zur Sittenlehre zurück, die wir
ganz Tennen gelernt haben bis auf den Beruf deö äfthetifchen
Künftlerd, Die wenigen Züge, in denen Fichte dad Wefen und
die fittliche Aufgabe deſſelben entwirft, treffen den Kern ber
Sache. Während der Gelehrte den Verſtand, ber moralifche
Volkslehrer den Willen des Menfchen ausbilden und entwideln
fol, bildet die [höne Kunft den ganzen Menfchen in der Ver:
*) Ueber ben Begriff ber alademiſchen Freiheit zu vgl. die erlanger
Vorlefungen über das Weſen des Gelehrten, Vorl. VI. (S. W. III Abth.
18b.), die berliner Vorlef. über die Beftimmung bes Gelehrten, Vorl.
V. Gachgel. W. Bd. III) und die Rectoratörede über bie einzig möge
liche Störung der af, Freiheit (S. W. III Abth. I Bd).
713
einigung aller Gemüthöfräfte. Sie vereinigt auf eine eigen
thümliche Art die philofophifche und gewöhnliche Weltbetrachtung.
Die Kunft erzeugt aus der Idee ein finnliches Object.
Unter dem finnlichen ober gemeinen Geſichtspunkte erfcheint bie
Welt ald gegeben, unter dem philofophifchen oder trandfcenden-
talen erfcheint fie als gemacht: unter dem äfthetifchen erfcheint
fie als gegeben, aber nur nach der Anficht, wie fie gemacht iſt.
Daher gilt von der ſchönen Kunft bie fichtefhe Formel: „fie
macht den transfcenbentalen Gefihtspuntt zum
gemeinen.”
Nichts kann und deutlicher zeigen, wie dad Sinnenobject,
das und ald gegeben erfcheint, in Wahrheit unfer eigenes Pro:
duct ift, als die genial fchaffende Kunſt. Sinnlich betrachtet,
ift jede Naturerfcheinung eine befchränkte, von außen begrenzte,
äußeren Einwirkungen preiögegebene, unter dieſem Zwange ge:
drückte und unfreie Geftalt; äfthetifch betrachtet, ift jede Geftalt
ber Ausdrud ihrer eigenen Kraft, ein freied und lebendiges Bild.
So erfcheint die Welt nur der äfthetifchen Betrachtung, die Welt
des fchönen Geiftes ift nur in der Menfchheit; die ſchöne Kunft,
die und in dieſer Betrachtungdweife einheimifd macht, erhebt
und daher in dieſes Gebiet ber freien Menfchheit, fie macht und
felbftändig und erfüllt dadurch den fittlichen Endzweck, ber die
Selbftändigkeit der Vernunft fordert. Befreiung aus ben Ban:
den der Sinnlichkeit ift eine Vorbereitung zur Tugend und liegt
daher in der Richtung unſeres ſittlichen Berufs.
2. Die Pflihten des Künftlers.
Aus dem Berufe folgt die Pflicht. Aber dem Künftlerberuf
gegenüber kann die Pflicht nur negativ fprechen, nicht ald Gebot,
fondern ald Verbot, denn dem äfthetifchen Sinn, der nicht von
774
der Willkür abhängt, läßt fich nichts pofitio vorſchreiben. Wir
tönnen nichts thun, um den äfthetifhen Sinn zu erzeugen, aber
wir Tönnen vieles unterlaffen, das feine Ausbildung hindert.
Das Genie macht den Künftler, die Natur macht bad Genie.
Wolle daher kein Künſtler fein wider den Willen der Natur,
fein Künftler ohne Genie! Diefed Verbot geht an ale Menfchen.
Wer aber in Wahrheit Künftler ift, der erfüllt feinen fitt-
lichen Beruf, indem er nur für dad Ideal und die wirkliche
Schönheit lebt; er erniebrige fich nie dazu, dem ſchlechten Ge—
ſchmacke des Zeitalterd zu fröhnen. Diefes Verbot geht an Die
Künftler, Je beffer der Menfch, um fo beffer der Künſtler;
eben fo ift es im entgegengefeßten Falle unmöglich, daß eine nie=
drige Gefinnung nicht auch das Talent anſteckt und den Känft:
ler herabzieht*).
Hier gilt das ſchiller'ſche Wort an die Künſtler: „der
Menfchheit Würde ift in eure Hand gegeben, bewahret fie!
Sie ſinkt mit euch, mit euch wird fie ſich heben!”
3. Kunft und Philofophie.
Der äfthetifche Trieb geht auf die ruhige und abſichtsloſe
Betrachtung der Objecte; daher entwickelt fich der äfthetifche
Sinn erft in der unbefchäftigten, von der Nothburft des Lebens
nicht gebrüicten, von ber Wißbegierde nicht beunruhigten und
einfeitig angefpannten Seele. Die Nothdurft ift nie äfthetifch,
fie ift ſtets geſchmacklos; erft wenn alle Triebe befriedigt find,
erhebt fich jener liberale, contemplativ aufgefchloffene Sinn, der,
felbft frei, auch die Objecte frei läßt und alle Erfcheinungen in
ihrer eigenthümlichen Freiheit und Lebendigkeit betrachtet. Der
*) Syft. d. Sittenlehre. III Abſchn. $. 31. S. 353—356.
775
äfthetifche Trieb will bloß vorflelen, er geht auf bie bloße Vor⸗
ſtellung als folche, "nicht auch auf das BVerhältniß der Vorftel-
lungen und Dinge: er will die Uebereinftimmung beider weder
theoretifch noch praktiſch, er ift weder Erfenntnißtrieb noch prak⸗
tifcher Trieb. Ie lebhafter und die bloßen Vorftellungen feffeln
und unfere Betrachtung anziehen, um fo. mehr befriedigen fie den
äfthetifchen Trieb, um fo intereffanter, belebter, geiftvoller find
dieſe Vorftellungen felbft; fie find in demfelben Maße langweilig,
ermüdend,, geiftlod, als fie den äfthetifchen Trieb nicht befchäftiz
gen und leer laſſen. Was wir den „Geift” eines Kunſtwerks,
einer Dichtung, eines Buchs nennen, befteht eben darin, daß
die ganze Verfaſſung des Werks übereinflimmt mit unferem
äfthetifchen Triebe, daß fie ein Ausbrud ift freien geiſtigen
Schaffens, nicht mühfelig zufammengetragener Arbeit. Je mäch—
tiger der Künftler feines Gegenftandes ift, um fo freier ift die
Stimmung, in ber er ſchafft, um fo gewiffer bie Uebereinftim-
mung feines Werkes mit dem äfthetifchen Triebe, um fo geift-
voller das Werk felbft. „Diefe innere Stimmung des Künftlerd
iſt der Geift feines Products, und bie zufälligen Geftalten, in
denen er fie ausbrüdt, find nur der Körper oder der Buchftabe
beffelben.” Ein folcher Künftler kann auch der Gelehrte und ber
Philoſoph feinz er ift es, wenn er ſich der Ideen bergeftalt bes
mäctigt hat, daß er fie mit voller Freiheit entwirft und als
freie Erfcheinung eingehen läßt in die Betrachtung bed anderen.
So unterfcheiden ſich „Geift und Buchſtabe in der Philofophie”.
Der Geift ift die Entflehungsart des Werks, der Bucfibe iſt
der Ausbrud*),
*) Weber Geift und Buchſtab in der Philojophie. In einer Reihe
von Briefen (1794), Phil. Journ, 1798, Es find drei Briefe, bie
776
Die äfthetifhe Befriedigung und Bildung, fo verflanden,
wie. wir fie eben erklärt haben, ift daher keineswegs von der
Philoſophie ausgefchloffen; vielmehr ift fie dem philofophifhen
Sinn ebenfo günftig als dem moralifhen. Der philofophifche
Sinn ift „das reine Intereffe für Wahrheit”. Diefes Intereffe
läßt fich nicht hervorbringen, wohl aber beleben und erhöhen.
Und hier kann nichts belebenber und erhöhender wirken, ald der
äfthetifche Sinn. Was unfern äfthetifchen Trieb befriedigt, ift
die bloße Vorſtellung, die reine Form, die jedes andere (ſtoff⸗
liche) Intereſſe ausſchließt; das reine Intereffe für Wahrheit ift
ebenfalls bloß formal; man kann ein Intereffe haben, zu wün⸗
chen, daß dieſe ober jene Säge ihrem beftimmten Inhalte nach
für wahr gelten, und eö giebt für Wünfche diefer Art mancherlei
Motive, deren aber Feines erfüllt ift von einem reinen In—
tereffe für die Wahrheit als folde. In demfelben Maße, ald
man in den Fragen ber Erkenntniß ſtofflich intereffirt und ſchon
im voraus eingenommen ift für gewiffe Säge, die man bewiefen
zu fehen wünfcht, ift offenbar der Wahrheitsſinn felbft weder
unabhängig noch rein. Der reine Wahrheitötrieb geht auf die
Form, auf den Zufammenhang und dad Ganze der Erfenntniß,
auf die folgerichtige Begründung jedes einzelnen Sages, gleich
viel ob der Inhalt angenehm ift oder nicht. Wie der äfthetifche
Sinn die Objecte frei läßt, um fie bloß zu betrachten, fo läßt
der Wahrheitöfinn die Unterfuhung frei und will, daß fich die
Denkkraft ungehindert entwidle und rein auöpräge in ihrem
Werk. „Freiheit des Geiſtes in einer Rückſicht entfeffelt in
allen übrigen.” „Entſchloſſenheit im Denken führt nothwendig
zur moralifchen Größe und zur moralifchen Stärke.” Und fo fteht
fortgefegt werben follten, aber Fragment geblieben find, S. W. III Abth.
MI Bd. C. &. 270— 300,
777
die Afthetifche Bildung im günftigften Einklange mit der mora⸗
lifchen und philofophifchen*). .
4. Fichte im Vergleihe mit Schiller und Schelling.
Es find wenige Grundlinien, in denen Fichte feine Theorie
des Aefthetifchen entworfen hatz ihre Hauptbeftimmungen find
der Begriff der Kunft, der Beruf des Künftlerd, die Art und
Weife der äfthetifchen Betrachtung.
Die Grundrichtung der ganzen Anficht ift kantiſch. Fichte
unterfcheidet ſich von Kant in demfelben Punkte ald Schiller; er
bejaht, wie diefer, die Univerfalität der Afthetifchen Bildung,
die Erziehung deö ganzen Menfchen durch die Ausbildung des
äfthetifchen Sinnes, die Auöbreitung der äfthetifchen Cultur auch
über bie theoretifchen und praktiſchen Gebiete des menfchlichen
Geiſtes.
Die Theorie der aſthetiſchen Betrachtungsweiſe in der ihr
eigenthümlichen von jeder Begehrung unabhängigen Stimmung
und Freiheit fließt aus der kantiſchen Kritik der Urtheilskraft.
Es iſt Schiller's Verdienſt, gerade dieſen fruchtbaren Begriff in
feinen Briefen über die äfthetifche Erziehung deutlich entwickelt
und erleuchtet zu haben. Was Schiller von der äfthetifchen „Be:
ftimmungsfreiheit” und dem „Spieltriebe” gefagt hat, damit
fimmt im Wefen der Sache Fichte's Anfiht vom „äfthetifchen
Triebe” überein. Das Fragment der fichte ſchen Briefe ift der
Abfaffung nach früher, der Veröffentlihung nach fpäter ald die
ſchiller ſchen Briefe; in der That find beide von einander un:
abhängig **).
*) Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Intereffe für Wahr:
heit. (Aus Schiller’3 Horen. Bd. J. St. I. 1795). S. W. III Adth.
III 8b. ©. 342—52,
**) Bol, meine Schrift „Schiller als Philoſoph.“ VII. 3. 4. &,88-99,
778
Der Ausfprud Fichte's, daß die Kunft den trandfcenden-
talen Geſichtspunkt zum gemeinen mache, hat unter allen Sägen
feiner äfthetifchen Theorie die größte Bedeutung und Tragweite,
In diefem Sage liegt ſchon die Einficht: was die Welt ift und
wie fie unter dem Geſichtspunkte der Wiffenfchaftölehre ber phis
loſophiſchen Betrachtung erfcheint, offenbart fi) auf die deut:
lichſte und für jedermann offenfte Weife in der genial ſchaffenden
Kunft und ihrem Werke. So ift die Kunft gleichfam das Or⸗
ganon der wahren Weltanfchauung. Hier berühren fich Fichte
und Schelling.
Siebzehntes Capitel.
Der Begriff der Religion unter dem Standpunkte
der Wiffenfchaftslehre.
I
Das Problem der Religionsphilofophie,
1. Die Gruppe ber Hierhergehödrigen Schriften.
Wir find bei Fichte zu verſchiedenen malen ſowohl vor Be:
gründung der Wiffenfchaftölehre ald innerhalb derfelben dem Bes
griffe der Religion begegnet, zuletzt in der Sittenlehre, wo es ſich
um die moralifche Gemeinfchaft der Menfchen (Kirche) und um
den Beruf des moralifchen Volkslehrers (Geiftlichen) handelte.
Es ift Far, daß Religion und Moralität auf das genauefte
zufammenhängen, aber e3 ift noch nicht Mar, wie ſich beide von
einander unterfcheiden und zu einander verhalten; ob die Religion
ohne Reft in die fittliche Gefinnung aufgeht oder darliber hinaus:
greift und einen eigenthümlichen Glaubenscharakter bildet. In
dem Intereffe unferes Philofophen und in dem Fortgange feiner
wiffenfchaftlichen Unterfuchungen ift die Frage nach dem Wefen
der Religion fo tief angelegt und vorbereitet, daß fie bei dem er:
ften Anlaffe, der ſich bietet, in den Vordergrund tritt und von
jetzt an eined ber Hauptprobleme feines Denkens ausmacht.
Ich habe im vorigen Buche ausführlich erzählt, bei welcher
780
Gelegenheit Zichte die erften Grundzüge feiner Religionsphilo:
fophie entwarf, wie fi) daraus eine Streitfrage entwidelte, die
cause celebre der Philofophie wurde, und deren Gefchichte in
der Lebenögefchichte des Philofophen felbft einen der bewegteften
Abſchnitte bildet*). Der gewaltige und religiös geſtimmte Ernft,
mit dem Zichte die ganze Frage ergriff und behandelte, hat ge—
wiß viel dazu beigetragen, die Gemüther zu erregen unb einen
Eonflict hervorzurufen, ald ob ed ſich um die Sache der Religion
felbft handelte. Und daß die Frage gleich beim erften Angriff in
ein ſolches Feuer kam, hat wiederum viel dazu beigetragen, bie
Gedanken Fichte'8 an biefed Object zu feffeln und in feiner Unter-
ſuchung feftzuhalten, als die Hige des Streites längft vorüber war.
Bekanntlich hatte Forberg's Aufſatz Über den Begriff der
Religion Fichte veranlaßt, einen Gegenauffag zu fhreiben „über
den Grund unferes Glaubens an eine göttliche Weltregierung”.
Nach Forberg follte die Religion ohne Reft aufgehen in das fitt-
- liche Handeln und nichts ihr Eigenthümliches übrig behalten. Ge—
gen diefe Anficht fchrieb Fichte. Er wollte zeigen, was die Re
ligion von der bloßen Moralität unterfcheide, was ben fittlichen
Glauben zum religiöfen Glauben made. Der Atheismus:
ſtreit veranlaßte die Vertheidigungsſchriften der „Appellation”
und der „gerichtlichen Verantwortung”, Streitfchriften mitten
im Feuer und in ber Hite des Kampfes. Indeſſen hatte Fichte
nicht bloß Feinde zu bekämpfen, fondern auch Mißverftändniffe
mancherlei Art aufzuklären, denen fein Aufſatz dei der gebrängten
Kürze, womit er die Sache behandelt hatte, gerabeiin den wich
tigften Punkten ausgefegt war. Zum Zwecke einer jplchen noth⸗
wendigen Erläuterung fehrieb er zwei Abhandlungen, von denen
er bie erfte „Rüderinnerungen, Antworten, Fragen” unvollenbet
*) Bgl. oben III Buch. IV Cap. D
781
und ungedruckt ließ; die zweite erfchien in der Form eines „Pri⸗
vatſchreibens“ im philofophifchen Journal. Diefe fünf Schriften
aus ben Zahren 1798 — 1800 bilden fiir die fichtefche auf Grund
der Wiflenfchaftölehre entworfene Religionstheorie eine zufammen:
gehörige Gruppe: bie erſte enthält die Grundgedanken, die beis
den folgenden entwideln bie ſtreitigen Gegenfäge, die beiden letz⸗
ten geben bie nöthig gewordenen Erläuterungen und bezeichnen
felbft einen bemerkbaren Fortfchritt von dem bloß Moralifchen zu
dem fpecififch Religiöfen*).
2. Die Religion ald Object der Wiſſenſchaftslehre.
Schon die ganze Faffung ber Aufgabe, obwohl fie Fichte
im Eingange feiner Abhandlung einfach und beftimmt genug aus:
gefprochen hatte, war fo wenig beachtet und verftanden worden,
daß die Erläuterungäfchriften gleich hier den erften Irrthum auf:
zuflären fanden. Man hatte jenen Auffag als einen religiöfen
Neuerungdverfuch angefehen, als ob hier Religion hätte gemacht
oder gelehrt werden follen. Damit war nicht bloß die Abficht
dieſer fichte ſchen Schrift, fondern überhaupt der ganze Stand:
punkt der fichte ſchen Philofophie völlig verfannt, und jene alten
Mißverftändniffe, welche die Wiffenfchaftslehre gleich bei ihrem
erften Auftreten und gleich in ihren erften Sägen erfahren hatte,
kamen jetzt in derſelben Geftalt wieder zum Worfchein, fobald die
Wiſſenſchaftslehre die erften Grundgedanken ihrer Religionstheo⸗
tie ausſprach. Damals hatte man gemeint, die fichte ſche Philo:
fophie wolle Natur und Welt machen; jegt meinte man, fie wolle
Religion machen.
In der der That handelt es ſich in der geſammten Wiſſenſchafts⸗
*) S. W. II Abth. IIIBO. S. 175—396, gl, oben III Buch.
VI Cap. Nr. Il. 2. c. S. 340 -341.
182
lehre bloß darum, unſer Wiſſen, unſere Erfahrung, das Syſtem
unſerer nothwendigen Vorſtellungen zu erklären: um dieſe Erklä—
rung und Begründung unſeres vorhandenen lebendigen Bewußt⸗
ſeins. Wie fih die Naturlehre zur Natur, die Phyfiologie zu
den lebendigen Körpern, fo verhält fich die Wiffenfchaftslehre zu
dem lebendigen Bewußtfein. Sie macht e8 nicht, fie erklärt ed.
„Der lebendige Körper, ben wir nachbilden,“ fagt Fichte in ben
NRüderinnerungen, „ift dad gemeine reale Bewußtfein.
Das allmälige Zufammenfügen feiner Theile find unfere Deduc-
tionen, die nur Schritt für Schritt fortrüden Fönnen*).” Um
ein Object zu erflären, muß ich es betrachten und deßhalb mei=
nen Standpunkt außerhalb deffelben nehmen. Darum nimmt
die Wiffenfchaftslehre ihren Standpunkt außerhalb der Erfahrung,
außerhalb des Lebens, und ift eben deßhalb von beiden unterſchie⸗
den. „Leben ift ganz eigentlich Nicht: Philofophiren; Philofo-
phiren ift ganz eigentlich Nicht: Leben*).”
Wie ſich die Wiflenfchaftölehre zur Erfahrung und zum Le-
ben verhält, genau fo will fie fich verhalten zur Religion. Sie
macht nicht Religion, fondern fie macht die Religion zu ihrem
Object; fie will die lebendige Thatfache des Glaubens aus feinem
eigenthümlichen Urfprunge erflären; dieſer Urfprung wird nicht
„ertäfonnirt”, ſondern im menfchlichen Gemüthe aufgerwiefen als
„der Drt des religiöfen Glaubens”, ald die Wurzel der Religion
im Weſen der menfchlichen Vernunft. Wie eö ſich früher gehan-
delt hatte um die Deduction der Vorftellung, der Erfahrung, des
Rechts, des Staats, der Ehe, der Sittlichkeit, der Kunft u. ſ. f.,
fo handelt es ſich jeßt genau in bemfelben Sinn um die Debuc-
*) Rüderinnerungen u. f. f. Nr. 7. 6. W. U Abth. III Bd.
©. 341 fig.
**) Ehenbafelbft. Nr. 8. S. 348.
183
tion des religiöfen Glaubens. So wenig die Wiſſenſchaftslehre
zufammenfällt mit der Erfahrung und bem lebendigen Bewußt⸗
fein, fo wenig fällt fie zufammen mit dem lebendigen Glauben.
Wiſſenſchaftslehre ift nicht Erfahrung. Religionsphilofophie ift
nicht Religion *). i
Wir wiffen, was Debuction im Sinne der Wiſſenſchafts⸗
lehre beveutet. Etwas ift deducirt, d.h. es ift bewiefen, daß ed
notwendig zum Ich gehört, nothwendig aus demſelben folgt,
daß mit feiner Aufhebung das Ich felbft aufgehoben fein würde,
Die Religion ift deducirt, d. h. es ift bewiefen, daß der Glaube
an eine göttliche Weltregierung nothwenbig zum Ich gehört und
in den Bedingungen beffelben feinen Grund hat. B
Es handelt fi) um die ſe Deduction. Das ift die Funde:
mentalfrage ber Religionsphilofophie unter dem Standpunkte der
Wiſſenſchaftslehre. Fichte wollte in feinem Auffa nicht das Sy:
ſtem der Religionsphilofophie entwideln, fondern nur den Grunds
fein dazu legen**). Daher handelt er „über den Grund unfe
res Glaubens an eine göttliche Weltregierung” und erklärt gleich
im Beginn der ganzen Unterfuchung: „wir haben nicht zu thun
als die Cauſalfrage zu beantwoggen: wie fommt ber Menſch
zu jenem Glauben***)2”
3. Die moralifhe Weltorbnung ald Object der
Religion.
Die Wiffenfchaftölehre hat gezeigt, wie das Ich dazu kommt,
fid) als ſinnliches Wefen und damit ald Glied einer natürlichen
*) Ebendaſelbſt. Nr. 11, 14, 19. S. 345, 347, 351. Bergl.
Brivatfchreiben. ©. 386— 387,
**) Rüderinnerungen u. |. f. Nr. 12, ©. 346,
*#4) Ueber ben Grund unferes Glaubens u. |. f. S. 179,
784
Ordnung der Dinge zu feßen. Die Sinnenwelt erfcheint dem
finnlihen Bewußtfein als bad abfolute Object, als Erſtes und
Letztes, darum nie ald Ausdrud einer göttlichen Weltregierung.
In dem finnlihen Bewußtſein kann daher der religiöfe Glaube
unmöglich begründet fein*).
Der Grund deffelben läßt ſich daher nur in unferem über
finnlichen Weſen aufſuchen. Nun hat die Wiffenfchaftslchre ge:
zeigt, wie das Ich dazu kommt, fich als frei und die Freiheit als
feinen Zwed zu ſetzen, als feinen abfoluten Zwed. Ich und mein
nothwendiger Zweck: das find die Bedingungen, die mein überfinn=
liches Wefen ausmachen. Hier alfo muß der Grund des religiö-
fen Glaubens, der Ort feines Urfprungs zu finden fein: „dieſer
Ort ift der notwendige Zweck des Menfchen bei feinem Gehorfam
gegen das Pflichtgebot **)."
Ic und mein nothwendiger Zweck: was folgt aus biefer
meiner Sebung des nothivendigen Zwecks? Offenbar feße ich
ihn als etwas ſchlechterdings Auszuführendes, darum auch
Ausführbared; ich fege ihn als fein follend, darum auch als fein
könnend; mithin gelte ich mir felbft ald Mittel und Kraft, jenen
Zweck zur Ausführung zu bringengich gelte mir als diefes Mittel
mit allen meinen Vermögen, mit meinem ganzen Dafein, das
ſinnliche eingefchloffen. Ich fol, alfo ich Fann. Ich kann, denn
ich fol. Was ich unbedingt fol, dad muß ich fönnen, auch als
finnliches Wefen können: baffelbe gilt von allen moralifhen We:
fen glei mir, von der gefammten Sinnenwelt als unferem ge=
meinfchaftlichen Schauplag: fie erhält eine Beziehung auf Mora:
lität, fie ift mit allen ihren immanenten Gefegen der Schauplag
und „bie ruhende Grundlage” des zu verwirklichenden Endzwecks.
*) Ebendaſelbſt. S. 179—181.
**) Privatſchreiben. S. 387.
785
Jetzt gilt fie nicht mehr als Erſtes und Letztes, fondern ald Glied
einer höheren, durch den Endzwed gebotenen und bedingten, durch
bie Idee der Freiheit getragenen Ordnung ber Dinge.
Aus der Segung des nothwendigen Zwecks folgt demnach
die Setzung einer moralifhen Weltordnung, nicht etwa
als Gegenfland der finnlihen Vorftellung, der Erfahrung, des
erfahrungsmäßigen, abgeleiteten, vermittelten Wiſſens; fondern
ich bin dieſer moralifchen Ordnung fo gewiß als meines Ends
zwecks, fo gewiß mithin als meines eigenften, urfprünglichen
Weſens. Ich und mein Endziwed find von einander unabtrenns ⸗
bar. Ebenfo unabtrennbar von einander find der Endzwed und
die moralifche Weltordnung. Das Element aller Gewißheit ift
Glaube. Aus der nothwendigen Setzung des Endzwecks folgt
der Glaube an eine moralifche Weltorbnung”).
4. Gott ald moralifhe Weltordnung.
Dieſe moralifche Weltorbnung, welche die Sinnenwelt bes
dingt und in fich fehließt, ift ald Object des Glaubens unmittel-
bar und urfprünglich gewiß: fie ift nichts Erfchloffenes, nichts
Abgeleitetes noch Abzuleitendes, fie ift das Erſte und Letzte, felbft
urfpränglich, unbebingt, abfolut. So ift fie gleich‘ dem Gött:
lichen ; fie ift Gott felbft: der Glaube an fie ift der wahre Got⸗
teöglaube, bie wirkliche Religion, lebendig in der moralifchen
GSefinnung, bewährt im fittlihen Handeln. Die gute Gefinnung
iſt ihr alleiniger Grund, bie fittliche Handlungsweiſe ihr alleini⸗
ger Ausdrud, „Dieß ift der wahre Glaube; diefe moralifche
Ordnung ift das Göttliche; dad wir annehmen. Er wird con
flruirt durch das Rechtthun.” „Jene lebendige und wirkende mo:
*) Ueber den Grund unfere® Glaubens u. |.f. ©. 182—185,
Bifger, Gehhläte der Philofophie V. 50
786
raliſche Ordnung ift felbft Gott; wir bebürfen keines anderen
und Fönnen einen anderen fallen *).”
Jede andere Art, das Göttliche vorzuftellen, verfehlt den
Begriff des Abfoluten und widerftreitet darum dem Wefen Got-
tes; jede andere Vorftellungsart ift eine Verendlihung Gottes.
Wird Gott nicht gleichgefegt der moralifchen Orbnung, fondern
davon unterfchieden und als deren Urfache beftimmt, fo erfcheint
ex als ein unterfchiedenes Wefen, als eine befondere Subftanz,
als ein Wefen unfered Gleichen, dem wir Perfönlichkeit und Be:
wußtfein nach menfchlicher Analogie, eine Wirkſamkeit nach Art
der unfrigen zuſchreiben. Wir haben nicht Gott gedacht, fondern
nur und felbft im Denken vervielfältigt**).
Die Vorftellung eined folden Gottes nimmt und ben Anz
blick der moralifchen Weltordnung und verbunkelt in und mit dem
wahren Glaubendobject auch den wahren Glaubensgrund; wir
fühlen und nicht mehr ald moralifche Weſen, die Glieder find ei:
ner moraliſchen Ordnung ber Dinge, fondern als finnliche Ges
ſchöpfe, abhängig von einem anderen Wefen unferer Art, welches
mächtiger ift ald wir.
Die Faſſung der Gottesidee ift rein moralifch. Von diefem
Geſichtspunkte aus verwirft Fichte jede Art des Anthropomorphid-
mus und der Verendlichung Gottes; er rechnet Darunter auch die
theiftifche Vorſtellungsweiſe der dogmatifchen Schule. In dem⸗
felben Maße als diefer Gegenſatz fich hervorhebt, geftaltet ſich der
Ausbrud der fichte ſchen Gottedidee pantheiſtiſch. „Der Begriff
von Gott ald einer befonderen Subftanz ift unmöglid) und wir
derfprechend; es ift erlaubt, dieß aufrichtig zu fagen und dad
*) Ebendaſelbſt. S.185 u. 186,
**) Ebendaſelbſt. ©. 187.
787
Schulgeſchwãtz niederzuſchlagen, damit die wahre Religion des
freudigen Rechtthuns ſich erhebe*).”
I
Gegenfäge und Streitpunfte,
1. Glauben und Wiffen.
Diefe Vorſtellungsweiſe in dieſer Entgegenfegung war es,
die gegen Fichte die Anklage des „Atheismus heroorrief. Die
Vertheidigungsfchriften thaten nichts, den Gegenfag zu mildern,
fie fhärften ihn vielmehr.
Was Fichte verneint habe, fei nicht Goft, fondern nur eine
beftimmte Vorftellungsweife von Gott, nicht die lebendige des
natürlichen Bewußtſeins, fondern die Plnftlich gemachte ber
Schule, die Gott aus fogenannten Thatfachen der Natur und
Sinnenwelt beweifen wolle oder vorgebe bewiefen zu haben.
Alles Beweiſen fei ein Begreifen, Beftimmen, Ableiten, Verend⸗
lichen. Aus Gott ein beweisbares und begreifliches Object machen,
heiße fo viel als ein beſtimmtes, abgeleitete, endliches, räum:
liches Wefen aus ihm machen. Wer diefe Vorftellungdart ver:
neine, leugne darum nicht Gott. Hier redet Fichte gegen bie
dogmatifchen Schulbeweife ganz wie Jacobi **).
2. Idealismus und Dogmatismus.
Es ift unmöglich, etwas zu fegen ohne alle Beziehung auf
und, durch welche die Segung gefchieht; es ift unmöglich, etwas
zu erkennen und dabei gänzlich) von und felbft und unferer erken⸗
nenden Natur zu abftrahiren ; es ift daher unmöglich, Gott zu
*) Ebendaſelbſt. S. 188.
**) Gerichtliche Verantwortung. Nr. I. Erftes und zweites logiſches
Ariom. S. 258—269,
50*
788
erkennen, unabhängig von ber Beziehung Gotted zu und. Diefe
Beziehung ift dad Erfte; die darauf gegründete Erkenntniß ift
das Zweite. Wer die Sache umkehrt, weiß nicht, was er thut.
Diefes Nichtroiffen des eigenen Thund charakterifirt die dogma-
tifhe Denkweiſe, dad Gegentheil die kritiſche. Die Gegner for
bern: erft ſolle Gott erfannt werden, wie er an fich ift, und
daraus feine Beziehung zu und; fie wiffen nicht, was fie verlan-
gen; fie wollen etwas erkennen mit gänzlicher Abftraction von
ihrem Erkenntnißvermögen, etwas verfiehen mit gänzlicher Ab⸗
flraction von ihrem Verflande. „Man muß,” fagt Fichte, „feis
nen gefunden Verftand verlieren, um vie fie an Gott zu glauben ;
mein Atheismus befteht lediglich darin, daß ich meinen Verſtand
gern behalten möchte *).”
Was den Ausgangspunkt und bie Bedingung zur Gotteder-
kenntniß betrifft, fo fieht fich Fichte gegenüber dem „Dogmatis=
mud" und fest demfelben feinen Standpunkt ald (Fritifchen)
„Idealismus“ entgegen.
3. Moralismus und Eubämonidmus.
Gott ift erfennbar nur aus feiner Beziehung zu und. Das
mit ift nicht genug gefagt. Diefe Beziehung muß näher beſtimmt
werben: er ift erfennbar aus feiner Bezichung zu und, nur in
fofern wir fittliche Wefen find. Wir vermögen Gott zu erfennen
nur aud unferem eigenen Wefen, nur aus befien fittlicher Be—
flimmung.
Dieß verneinen die Gegner. Was behaupten fie dagegen?
Eine Erkenntniß Gottes (wie fie Die Gegner wollen), ganz unab-
hangig von der Beziehung Gottes zu und, ift eine leere, dogma=
tifche Fiction, die Forderung einer unmöglichen. Sache. Eine
*) Appellation u, ſ. f. S. 214.
789
ummittelbare Beziehung des Erkenntnißobjectes zu und wird unſe⸗
rer Erfenntniß ſtets zu Grunde gelegt. Der Fritifche Standpunkt
thut es mit Bewußtfein; der Dogmatifche weiß nicht, was er thut.
Soll nun die Erfenntniß Gottes nicht auf unfer fittliches (über:
finnliches) Wefen gegründet werden, fo wird fie thatfächlich ger
gründet auf unfer finnliches Wefen; fo wird Gott aus der Sin:
nenwelt abgeleitet und auf diefe bezogen, er wird dann ganz eis
gentlich „ber Fürft der Welt”, „der Herr bed Schickſals“, „ber
Geber der Glüdfeligkeit”, dem man fich gefällig erweifen müffe,
damit er fich wieder gefällig erweife. Die Religion wird zur
Sunftbewerbung, die Religiondlehre zur Glückſeligkeitslehre.
Was demnach die Gotteserkenntniß felbft ihrem Charakter
nad) betrifft, fo fieht fich Fichte hier dem „Eubämonismus” ge:
genüber und fegt ihm feinen Standpunkt ald „Moralismus” ent:
gegen. So ftehen in biefem Gegenfage religiöfer Vorftelungs:
weifen Idealismus und Moralismus auf der einen Seite, Dog:
matismus und Eudämonismus auf der anderen. „Eubämonis:
mus und Dogmatismus find, wenn man nur confequent ift,
nothwendig bei einander, ebenfo wie Moralismus und Ibealid:
mus*).”
4. Religion und Atheis mus.
Fichte's Standpunkt ift Idealismus, weil er Moralismus ift,
denn ber tieffte Beweggrund feiner ganzen Lehre ift die moraliſche
Selbſtgewißheit und Beſtimmung des Menfchen. Hier ift das
Herz, aus dem die Gedanken kommen.
Aehnlich verhält fi die Sache bei den Gegnern. Ihr
Standpunkt ift Dogmatismus, weil er Eubämonismus ift; „fie
find Eudämoniften in der Sittenlehre und müſſen ſonach wohl
*) Ehendafelf. ©. 217.
790
Dogmatifer werben in der Speculation.” Sie begründen Gott
aus der Sinnenmwelt, weil fie in Wahrheit nichts Höheres ald
die Sinnenwelt kennen, weil ihnen das finnliche Dafein und def:
fen Wohl als der höchſte Lebenszwed gilt. Weil fie den Genuß
und die Glüdfeligkeit wollen, darum wollen fie einen Gott ald
Geber der Glüdfeligkeit; diefer Gott dient der Begierde, er ift
fein Gott, fondern ein Abgott, ein Götze. „Daß ich diefen ih:
ven Gögen nicht ftatt des wahren Gotte will gelten laffen, bie
ift, was fie meinen Atheismus nennen; dieß iſt's, dem fie Ber:
folgung gefhworen haben*).”
Die Wurzel der dogmatifchen Vorſtellungsweiſe ift die eubä:
moniftifhe; die Wurzel der letzteren ift die Selbſtſucht, dad ei:
gentlich böfe Princip. Die Sache kehrt fi) um, die Vertheidigung
wird (micht der Abficht, aber dem Inhalte nach) zur Gegenan:
Mage: „fie find ohne Gott und find in diefer Rüdficht Athe
iſten ·.⸗
III.
Der moraliſche und religiöſe Glaube.
1. Daß ſpecifiſch Religidſe.
Laſſen wir die Gegenfäge, in deren Streite ſich der mora⸗
liſche Standpunkt in feiner größten Schärfe ausprägt, und keh—
ten zu der noch ungelöften Frage zurüd: was macht den mora⸗
liſchen Glauben zum religiöfen, die moralifche Ordnung zur
göttlichen? Was macht fie zum Gegenftande des religiöfen
Glaubens? Der bloße Begriff, daß fie abfolut fei, reicht dazu
nicht hin. Hier ift in jenem fichte ſchen Aufſatz eine fühlbare Lücke;
die Gleichung wird behauptet, ohne daß die Mittelglieder deut⸗
*) Ebendaſelbſt. S. 218— 219.
**) Ebendaſelbſt. S, 220.
79
lich hervortreten. Um fie einzufehen, müffen wir den Zufammen»
bang zwifchen unferer moralifchen Beftimmung und der moralifchen
Weltorbnung genau in's Auge faffen und beide mit einander
vergleichen.
Ich erfülle meinen fittlichen Zwed in der pflichtmäßigen Be:
ſtimmung meines Willend, in der guten Gefinnung, in bem ges
wiffenhaften Handeln: ic) bin gewiß, daß diefe Beſtimmung meis
nen Endzwed ausmacht; ich bin in der Erfüllung deffelben ganz
in dem Gebiete meiner Freiheit, es gefchieht hier nichts, das nicht
völlig abhängig wäre von mir felbft, Der moralifhe Glaube
reicht nicht weiter ald meine Selbftbeftimmung.
Die moralifhe Weltordnung reicht weiter, Sie kommt
nur dadurch zu Stande, daß meine pflichtmäßige Gefinnung,
vermöge deren ich meinen Zweck erfülle, unmittelbar auch den Welt:
zwed ausführt; daß meine fittliche Handlung befördernd eingreift
in das Weltganze, in die Verwirklichung des Weltplans; daß
ich den Vernunftzwed außer mir befördere bloß dadurch, daß
ich diefen Zwed in mir felbft erfülle, bloß dadurch, daß ich
meine Pflicht thue. An meine Gefinnung und Handlung follen
fi) Folgen fnüpfen, unfehlbare Folgen, die von mir felbft ganz
unabhängig find: in die ſem Zufammenhange befteht die mora⸗
liſche Weltorbnung; der Glaube an die legtere ift der Glaube an
diefen Zufammenhang, alfo an etwas von meinem Willen völlig
Unabhängige.
Vergleichen wir diefen Glauben mit dem bloß moralifchen,
fo fpringt die Differenz in die Augen, um welche er mehr ald
der legtere enthält: dieſes Mehr macht die fpecififche Differenz des
religiöfen Glaubens, die veligiöfe Glaubensart. Nicht etwa
fo, ald ob dem moralifchen Glauben etwas von außen hinzufäme,
das ihn zum teligiöfen Glauben macht, fondern fein eigenes in»
792
nerſtes Wefen nöthigt ihn, ſich zur Religion zu erweitern und
zu ergänzen. An bie eigene moraliſche Beftimmung kann nur
moralifch geglaubt werden, an die ſittliche Weltordnung nur re:
ligiss. Aber was wäre unfere moralifhe Beftimmung, wenn
fie nicht Endzweck, Weltzwed, weltorbnendes Princip wäre?
Der moralifhe Glaube wäre nichtig ohne den religiöfen. Erſt
in dieſem ift er ganz und vollftändig, erſt der religiöfe Glaube ift
der ganze vollftändige Glaube.
Jede fittliche Handlung, fagten wir früher, liege in der An:
mäherungsreihe an den abfoluten Zweck. Diefe Reihe ift eine
„Ordnung von Begebenheiten”; in diefer Ordnung hat jebe fitt-
liche Handlung ihren beftimmten Ort, den fie nicht haben könnte,
ohne eine fittliche Welt vorauszufegen, in ber fie eintritt und ers
folgt an diefem beſtimmten Punkte; ohne eine fittlihe Welt zu
fordern, in der fie in Ewigkeit fortwirkt, Jene Borausfegun-
gen und dieſe Fortwirfungen werben geglaubt, fo wenig fie von
meinem Willen abhängen; fie find mir gewiß, fo wenig fie
durch mich gewiß find. „Dieß ift nun Religion. Ich glaube
an ein Princip, zufolge deſſen aus jeder ‚pflichtmäßigen Willens
beflimmung bie Beförderung des Vernunftzwecks im allgemeinen
Bufammenhange der Dinge fiher erfolgt. Dieſes Princip wird
abfolut gefest, mit derfelben Urfprünglichkeit des Glaubens, wie
an die Stimme des Gewiffend geglaubt wird, Beides ift nicht
eines, aber fchlechthin unabtrennlich von einander *).”
2. Die moralifhe Weltordnung ald Weltregierung.
„Ordo ordinans.«
Daß die fittliche Gefinnung unfehlbare Folgen in der Welt
hat: diefe Verknüpfung ift es, die wir ald Ordnung, intelligible
ober moralifche Ordnung bezeichnen. So nothwendig fie ift und
*) Rüderinnerungen uf, f. Nr, 32—33, ©, 363—366,
798
geglaubt wird, fo wenig kann fie aus dem Gefege der Caufalität
begriffen werben. Die Gefinnung ift innere Willensbeftimmung ;
die Folgen in der Welt find davon ganz unabhängig, zwifchen
beiden iſt Feine begreifliche Gaufalität. Die Gefinnung hat Fol:
gen auf einem Gebiete, wo fie felbft nicht Urfache fein kann.
Es iſt nicht genug zu fagen, daß die Erfolge der fittlichen
Handlung außerhalb unferer Macht und Berechnung liegen, daß
wir fie nicht hervorbringen, beabfichtigen, wollen können: wir
dürfen fie nicht einmal wollen, felbft wenn wir e& könnten.
Denn in der fittlihen Handlung fol nichts beabfichtigt werben
als nur die Erfüllung der Pflicht, Teineswegs die Erfolge in der
Welt. Die Pflicht um der Pflicht willen, nicht aber die Pflicht
um des Erfolges willen! Die vein fittliche Gefinnung ſchließt
die Abficht auf den Erfolg von fich aus; fie verliert ihre Reinheit
in bemfelben Maße, ald bei der Handlung an die Erfolge derſel⸗
ben gedacht wird. Iſt es nun Iebiglich die pflichtmäßige Gefin-
nung, mit welcher zufolge der fittlichen Weltordnung unfehlbare
Erfolge verknüpft find, fo leuchtet ein, daß 1) unfer Wille die
Bedingung nicht fein kann, durch welche die Folgen eintreten;
vielmehr 2) dad Nicht:wollen ber Erfolge die Bedingung ift, unter
der allein fie im Sinne der moralifchen Weltorbnung eintreten
können. „Die Folge der Moralität endlicher Wefenift nothwen⸗
dig von der Art, daß fie nur unter der Bedingung eintritt, daß
fie nicht eigentlich gewollt (obwohl poftulirt) werde, d. i. daß fie
fein Motiv des Wollens abgebe*)."
Daraud aber folgt, daß die moralifhe Ordnung nicht von
uns abhängt, nicht durch und gemacht wird, nicht innerhalb der
endlichen moralifchen Wefen befteht, fondern außerhalb derſelben
gefegt werden muß, als unabhängig und gegründet in fih. Sie
Aus einem Privatſchreiben. S. 388 — 392.
“194
tft nicht Gemachtes und von außen Geordnetes, nichts Todte
und Fertiges, wie der Hausrath in einem Zimmer, ſondern fie
ift lebendige, wirkende Ordnung, felbft thätige& Ordnen, nicht
„ordo ordinatus“, jondern „ordo ordinans“.
Was ift eine folche thätige Ordnung, ein ſolches welter:
nended Handeln anders ald regieren? Die religiös geglaubte
Weltordnung ift daher nothwendig Weltregierung, bie (al
ſolche) ohne Wille nicht fein kann, aber durch unferen Willen
weder gemacht werben kann, noch auch bezweckt werben foll; bie
deßhalb geglaubt wird ald Offenbarung eines ewigen göttlichen
Willens. „Ein heiliger Wille lebt, wie auch der menſchliche
wanke; hoch über der Zeit und dem Raume webt lebendig der
böchfte Gedanke”: mit diefem ſchiller'ſchen Glaubendworte
ſchließt Fichte feine Abhandlung über den Grund unferes Glau:
bens an eine göttliche Weltregierung.
Mit dem Begriffe der Religion vollendet ſich die Wiffen:
ſchaftslehre und erreicht hier ihren tiefften Grund. Ihre Entwid:
lung war eine zunehmende Vertiefung. Das theoretifche Ich
ruht auf dem Grunde des praktiſchen, welches von dem Gewiſſen
als feinem innerflen Grunde aus dad ganze Reich des Wiſſens
und Handelns umfaßt und durchbringt; das moralifche Ich, wel:
ches gleich ift dem Gewiffen oder dem fittlichen Glauben, vertieft
und vollendet ſich im religiöfen Glauben. Diefer Glaube ift erft
begründet, noch nicht entwidelt. Das ift die Aufgabe, mit wel:
her Fichte feine jenaifche Periode fchließt. „Ich habe gegenwär:
tig,” fagt er am Ende jenes Privatfchreibens, „dieſe Entwidlung
am weiteften fortgeführt in meiner Beftimmung des Men:
ſchen.“ Diefe Schrift gehört fchon in den Anfang feiner legten
Periode.
Biertes Bud).
Kchte's lebte Periode,
Erſtes Capitel.
Rückblick auf die Wiſſenſchaftslehre. Verfud) einer nenen
Darftellung und fonnenklarer Bericht.
L
Die neuen Formen ber Wiſſenſchaftslehre.
1. Entflehungsart des Syſtems.
Wir haben gezeigt, wie in dem Geift und der Entwicklungs⸗
geihichte der kritiſchen Philofophie die Aufgabe der Wiſſenſchafts⸗
lehre angelegt und auf ein Ziel gerichtet war, welches den nach⸗
kantiſchen Fortgang diefer Philofophie an der entfcheidenden Stelle
aufnimmt und befiimmt. Dieſes Ziel mußte ergriffen, dieſe
Aufgabe mußte gelöft werben, nachdem einmal die Bantifchen Pro:
bleme auf die Tagesordnung ber Philofophie gefommen waren.
Ale Fortbildungsverfuche, die wir im erften Buche diefes Wer:
kes Fennen gelernt, find in Wahrheit nur Mittelglieder und Vor:
ſtufen in dem Uebergange von Kant zu Fichte; fie fuchen das Ziel,
welches Fichte erreicht; fie find Erperimente, deren gelungenes
Meiſterſtück die Wiſſenſchaftslehre ift. Hätte Fichte nichts weiter
gegeben, ald das Syſtem, welches die Frucht feiner jenaifchen
Periode war, fo würde er vielleicht weniger populär, aber für
bie Gefchichte der Philofophie nicht weniger groß und bedeutungs⸗
voll fein. Jener durch die Sache gebotene Fortfchritt, den nur
798
er machen fonnte, ift gemacht; die Aufgabe, die ihm zufiel, ift
in ihren wefentlichen Bedingungen gelöft, und die legte Periode
des Philofophen, fo reich und fruchtbar fie immer ift, vermag
fein Gewicht in der Wagfchale der Gefchichte der Philofophie kaum
zu vergrößern.
Seit Reinhold hat man mit der Fritifchen Philofophie erpe:
rimentirt in einer Richtung, deren Ziel fi durch die Wifien:
ſchaftslehre entfcheidet. Diefe felbft, obwohl im firengften Sinne
foftematifch, verfährt in gewiffer Weile auch erperimentirend.
Zwar die Aufgabe, der Standpunkt, die Methode find in dem
Geiſte ihres Urheberd völlig Mar, wie er die erfte Hand an fein
Werk legt; nicht ebenfo find die Ziele und Refultate, zu denen
er kommt, von vorn herein ausgemacht und fertig, fie follen es
auch nicht fein. Die Wiffenfhaftsiehre, indem fie genau nah
der Richtſchnur fortfchreitet, die fie ald den einzig möglichen Weg
zur Löſung ihrer Aufgabe erfannt hat, verhält fich findend und
entdedend. Sie ift keineswegs ein fchon in der erſten Anlage
völlig fertiges und in allen Refultaten ausgemachted Syſtem, das
nur bargeftellt zu werden braucht, fondern dieſes Syſtem ent:
widelt ſich, lebendig fortfchreitend, unter den Händen bes Philo⸗
fophen. Sie ift wie eine Reife, deren Plan volltommen feftfteht
und die nirgends von dieſem Plane abweicht, aber nachdem fie
wirklich durchlebt worden ift, doch ein ganz anderes Bild giebt
als vorher im bloßen Plan. Der Rüdblid auf die zurückgelegte
Reife ift von dem Reifeplan, wenn er auch noch fo methodiſch
entworfen und geographifch unterrichtet ift, immer verſchieden.
Und je fruchtbarer die Reife war, um fo lebhafter kommt bad
Bebürfniß, fie wieder zu machen, und dad Gefühl, daß man
fie jeßt erſt recht zu machen verfieht, daß man das zweitemal bei
weiten beffer reifen wird, als vorher.
79
2. Reue Darfellung und Begründung.
Je weiter Fichte die Wiffenfchaftslehre entwickelt und fich
durch ihre Aufgaben hindurchgearbeitet hat, um fo mächtiger ift
er der Sache geworden, um fo beffer kann er fie darſtellen; daher
kommt immer von neuem bad Bebürfniß, fie wieder barzuftellen.
Und es ift nicht bloß die Darftellung, die erneut fein will. Es
liegt in der Natur und Methode der Wiſſenſchaftslehre, daß mit
jedem Fortfepritte ihrer Entwidlung, mit jeber Löfung einer neuen
Aufgabe fi) dad Syſtem felbft tiefer begründet. Indem wir von
der theoretifchen Wiffenfchaftölehre fortfchreiten zur praktifchen,
vertieft ſich dad Princip des gefammten Syſtems, und ed erfcheint
als die Quelle des Ganzen nicht mehr das theoretifche Ich oder
die Intelligenz, fondern das praßtifche Ich oder der Wille. Und
wiederum vertieft fich dad Syftem, indem von der Sittenlehre
fortgefchritten wird zur Religiondlehre, von dem Sittengefeg zur
moralifchen Weltorbnung, von dem fittlichen Glauben zum relis
giöfen Glauben. Die Wiffenfchaftslehre erfüllt darin nur das
Gefeg und die Bedingungen jeder Entwidlung, daß in dem letz⸗
ten Ergebniß das eigentliche Princip und der tieffte Grund des
Ganzen zumBorfchein kommt. Daher ift e8 ganz natürlich, daß
bei Fichte mit dem Bedürfniß nach einer neuen Darftellung der
Wiſſenſchaftslehre zugleich das Bedürfniß nach einer tieferen Ber
gründung derfelben zufammentrifft, und daß dieſe beiden Antriebe
fich vereinigen, um dad Werk immer wieder von neuem entfte:
ben zu laſſen. Unmittelbar nad) der erſten Vollendung beginnen
fogleich diefe neuen (doppelt motivirten) Verſuche, und immer
wird das Werk wieder eingefhmolzen und ein neuer Guß unter»
nommen. Man würde dad Werk und feine Entftehungsweife
verkennen, wollte man daraus ſchon auf einen veränderten Cha-
tafter der Wiffenfchaftölchre oder auf ein neues Syſtem ſchließen.
800
Es iſt ganz charakteriftifch für Fichte und aus der eben ge
gebenen Erklärung volltommen begreiflich, -daß er feine beften
Einleitungen in die Wiffenfchaftölehre erſt fchreibt, nachdem er
die Grundlage des gefammten Syſtems, die theoretifche und praf:
tifche Wiffenfchaftölehre, die Rechts- und Sittenlehre entwickelt
hat ; daß in demfelben Jahre (1797), welches die erfle Vollen:
dung des Syftemd bezeichnet, jene beiden Einleitungen geſchrie—
ben werben und zugleich, der „Werfuch einer neuen Darftelung der
Wiffenfhaftsiehre”.
Unfere gefchichtliche Darftellung der fichte'fchen Philoſophie
bat einen Punkt erreicht, wo fie innehalten und auf das ent:
widelte Syſtem zurüdbliden muß. Nun bat in eben biefem
Punkte Fichte felbft einen folchen Rüdblid gegeben, ber zugleich
neue Entwicklungen vorbereitet. Daher können wir unſere Auf⸗
gabe erfüllen, indem wir zugleich in der Darſtellung des Philo⸗
fophen fortfahren.
Zu biefem Zwede verbinden wir zwei Schriften, von benen
die erfte mit dem Höhepunkte der jenaifchen Zeit, die zweite mit
dem Anfange der berliner Periode zufammenfällt: der fehon ge:
nannte „Berfuch einer neuen Darftellung der Wiſſenſchaftslehre“
aus dem Jahre 1797 und der „fonnenklare Bericht an das größere
Yublicum über dad eigentliche Wefen der neueften Philofophie,
ein Verfuch, die Lefer zum Verſtehen zu zwingen”, aus dem
Jahre 1801*).
Beide Schriften haben denfelben Iwed einer neuen Dar
ftelung und diefelbe Abficht eindeinglicher Belehrung, fie nehmen
den Lefer ald einen zu unterrichtenden Schüler und brauchen bie
Form ber unmittelbaren Anrede; der fonnenklare Bericht ift felbft
*) Verſuch einer neuen Darftellung u. f. f. S. W. I Abth. I Bo,
Sonnenklarer Beriht u. ſ. f. S. W. I Abth. II Bo,
801
dialogifch gefehrieben und nennt feine Abfchnitte „Lehrſtunden“.
Der Verſuch einer neuen Darftellung aus dem Jahre 1797 ift
unvollendet (und bei dem erſten Gapitel flehen) geblieben, die
Atheismuöftreitigkeiten kamen dazwifchen, und wir bürfen den
fonnenklaren Bericht ald die Erneuerung und Vollendung jenes
Verſuchs betrachten. Daraus erflärt ſich auch, warum wir erft
bier von dieſer Schrift reden, warum fie von den gleichzeitigen
„Einleitungen‘ *) in unferer Darftellung jo weit abfteht. Wäh:
rend die Einleitungen gefchrieben find im unmittelbaren Rüdblid
auf die Grundlage der gefammten Wiffenfchaftälehre, fo fteht der
„Verſuch“ in einem genauen Zufammenhange mit der Grund:
legung der Sittenlehre und erleuchtet wie diefe dad (im Weſen deö
Ich enthaltene) Princip der abfoluten Identität als die Wurzel
alles Bewußtſeins.
I.
Verſuch einer neuen Darftellung der
Wiſſenſchaftslehre.
Der Verſuch geht aus von der bekannteſten Thatſache, dem
empiriſchen Bewußtſein, der Vorſtellung gegebener Objecte,
um daraus das Princip der Wiſſenſchaftslehre einleuchtend zu
machen. Wir ſtellen dieſes oder jenes Object vor, wir können
ebenſo gut ein anderes vorſtellen; wir verhalten uns in dieſem
Vorſtellen thätig, und es hängt von unſerer Willfür ab, worauf
wir diefe Thätigkeit richten. Wir können ebenfo gut uns felbft
zum Object nehmen, dann geht unfere Denkthätigkeit in fich felbft
zurüd, wir handeln dann auf uns felbft. Durch eine folche
Handlung fann nur eine einzige Vorftellung zu Stande fommen:
die des Ich. Und die Vorftellung des Ich kann nur zu Stande
*) Bergl oben Cap. II des vorigen Buchs. S. 461 flgd,
Bilder, Geſciate der Philofopbic. V. 51
802
tommen, indem das Denken auf fich felbft geht, nur durch die:
fen Act der Selbftfegung *).
Das Ic, ift Bewußtfein des eigenen Denkens. In dieſer
Vorſtellung find wir ſowohl dad denkende Subject ald dad gedachte
Object. Nun muß doch, fo fagt man, dad Ich fein, um ben
ten zu fönnen; eö muß fein, um gedacht zu werben: alfo muß
auch ein Sein oder Dafein des Ich voraudgefegt werben ſowohl
denm denkenden Subject ald dem gedachten Object. Aber dad Ich
tommt nur zu Stande durch den Act der Selbſtſetzung (dad auf
die eigene Thätigkeit gerichtete Denken). Was daher unferem
Bewußtfein allein vorausgehen kann, ift nicht etwa ein Subftrat,
fondern die Selbftfegung ohne deutliches Bemußtfein**).
Ohne Ich ift demnach) Fein Bewußtfein, auch fein empiri⸗
ſches möglih. Die Grundfrage Heißt daher: wie ift dad Ich
felbft möglich? Es ift nur dadurch möglich), daß das denkende
Subject zugleich das gedachte Object iſt. Das Ich unterſcheidet
fi) als denfendes von ſich ald gedachtem. Wie ift das Ich als
denkendes Subject möglich? Wiederum dadurch, daß es fich
als folches zum Object macht, und fo muß das Ich die Bebin-
gung, unter ber eö fein eigenes Object wird, exft felbft zum Ob⸗
ject machen, und weil ſich dieſe Forderung in's Endloſe fortſetzt,
fo kommt jene Bedingung, unter der dad Ich ſich objectio (alfo
Ich) wird, niemals zu Stande: dad Ich und mit ihm dad Be:
wußtfein ift unmöglid ***).
Diefes im Ic) enthaltene Problem muß man ſich ganz deutlich
machen, um feine &öfung zu begreifen. Hier ift der Punkt, in
welchem jener „Verſuch einer neuen Darftellung” feine Bedeu:
*) Verſuch u.f.f. I Cap. Nr. L 6, 521-523.
**) Chenbafelbft. I. &.523—525.
**) Ebendaſelbſt. Nr. IL. 1 u. 2, ©. 525—527.
803
tung hat. Das Ich ift die Thätigkeit des ſich (se) Vorſtellens.
Wir unterfcheiden in diefem Act Subject und Object. Das Vor:
ſtellende ift Ich, das Vorgeftellte ift auch Ih. Nun ift dad Ich
= ſich Vorſtellen. Was alfo vorgeftellt werben fol, ift das ſich
Vorftellen. Dieſes „fich” (das Ich als Object) ift immer wieder
„ſich vorftellen”. Alſo wird vorgeftelt dad Vorſtellen des ſich
Vorſtellens und ſo fort in's Endloſe: das Ich als Object oder
als Vorgeſtelltes kann nie zu Stande kommen. Das Ich iſt das
Vorſtellende. Es iſt nur Ich, indem es ſeine eigene Thätigkeit
zum Object macht. Soll alſo dad Vorſtellende gleich Ich fein,
fo muß es fein Vorftellen vorftellen und wiederum dad Vorftellen
des Vorftellens vorſtellen und fo fort in's Enblofe: das Ich als
Subject oder als Vorſtellendes kann nie zu Stande kommen,
Es ift ald Subject und Object unmöglich, es Fann weder das eine
noch das andere fein: es ift überhaupt unmöglich.
Diefes hier von Fichte entwickelte Problem hat fpäter Herz
bart in feine Metaphyfit aufgenommen und daraus (gegen Fichte)
die Folgerung gezogen, daß überhaupt dad Ich ein unmöglicher
Begriff fei, der, um denkbar zu werben, einer Berichtigung und
neuen Bearbeitung bedürfe.
Fichte macht den entgegengefegten Schluß. Das Ich ift ab»
folut nothwendig. Das wirkliche Bewußtfein wäre unmöglich),
wenn das Ich jene endlofe Reihe wäre. Dad Bewußtſein ift;
daher Bann die Bedingung feiner Unmöglichkeit nicht fein; daher
ift die Bedingung, unter welcher dad Ich in jene endlofe Reihe
ſich auflöft, unmöglich. Und worin liegt diefe Bedingung? So
lange Subject und Objert im Bewußtfein gefchieden werben, ift
das Subject nicht ‚unmittelbar auch das Object, und dieſes nicht
unmittelbar aud dad Subject; fo lange ift feines von beiden
wirklich Ich; daher entfteht die endlofe Reihe, die dad Ich un—
" 51°
J
804
möglich macht. Aber dieſe Reihe (die Unmöglichkeit des Ich) iſt
felbft unmöglid), wenn Subject und Object nicht gefchieden, fon=
dern unmittelbar eines find, wenn dad Ich nicht bloßes Subject,
fondern „Subject » Object”, die abfolute Ipentität oder Vereini—
gung beider ift. Das Bewußtſein, in welchem die Scheidung
von Subject und Object ftattfindet, ift vermittelt und begründet.
Das Bewußtfein, in welchem diefe Scheidung nicht flattfindet,
ift urfprünglich und unmittelbar. Das unmittelbare Bewußtfein
ift Anſchauung, das urfprüngliche ift Selbſtſetzung. Mithin ift
die Identität von Subject und Object die Selbftanfhauung (in
tellectuelle Anfhauung), das Selbftbewußtfein oder „bie Ich
heit”. „Das Selbftbewußtfein ift unmittelbar, in ihm ift Sub:
jectives und Objectives ungertrennlich vereinigt und abfolut Eines.”
„Alles mögliche Bewußtfein ſetzt ein unmittelbares Bewußtfein,
in welchem Subjectived und Objectived fchlechthin Eines find,
voraus; außerdem ift dad Bewußtſein fchlechthin unbegreiflich ).“
Soll das Ic wirklich Princip und Grund fein alles Be:
wußtſeins, fo darf in ihm Sein und Thätigkeit (fich fegen),
Object und Subject in feiner Weife getrennt, fondern beide müf-
fen als abfolut identiſch gefaßt werben: diefe Ipentität gilt als
der Angelpunft des ganzen Syſtems.
II.
Der fonnentlare Beridt.
In dem „fonnenflaren Bericht” fol der Begriff der Wiffen-
ſchaftslehre fo deutlich ‚gemacht werden, daß er jedem, auch dem
Uneingeweihten, einleuchtet. Eine ähnliche Abficht hatte die „erfte
*) Ebendaſelbſt. Nr. II. 3. S. 527 — 530. Vergl. damit bie
„zweite Einleitung“ in die Wiſſenſchaftslehre. S. oben III Bud. Cap.
I. Mr. II.1, 6, 474— 478, |
805
Einleitung”. Es handelt fich nicht um die innere Entwidlung
des Syſtems, fondern um deffen Aufgabe und Princip. Was
die Faſſung der Aufgabe betrifft, fo finden wir den fonnenklaren
Bericht genau fo geftimmt, als die Erläuterungen, die Fichte
kurz vorher im Rückblick auf feinen religionsphilofophifchen Stand»
punkt gegeben hatte; was das Princip betrifft, fo ift feine Faſ⸗
fung vollkommen diefelbe ald in dem ‚Verſuch einer neuen Dar:
ſtellung der Wiffenfchaftölehre”. Die Schrift liegt mithin ganz
in der und befannten Richtung.
1. Leben und Wirklichkeit.
Die Wiſſenſchaftslehre verhält fich in ihrem Denken nicht er⸗
ſchaffend, fondern bloß erflärend. Ueberhaupt kann das Denken
nicht ſchaffen: eine folhe Einbildung machte den Grundirrthum
und die Selbfttäufhung der früheren Metaphyſik. Was die Wif:
ſenſchaftslehre erklären will, ift die Wirklichkeit, die und gegebene,
die für unfer Bemußtfein und in demfelben vorhandene, in welcher
Ding und Bewußtfein unmittelbar beifammen find: das Object
der Wiffenfchaftölehre ift das wirkliche Bewußtſein oder die un:
mittelbare Erfahrung. Diefe fol erklärt werden. Darum allein
handelt es fi. Je weniger wir auf unfere eigene Thätigfeit re⸗
flectiren, um fo mehr gehen wir reflerionslos in das Object auf,
um fo mehr find wir darin begriffen, vertieft, in die Sache ver:
ſenkt, die und eben darum als die volle Wirklichkeit erfcheint.
Je mehr wir und felbft (in der Sache) vergeflen, um fo
realer ift das Object; um fo lebensvoller unfer eigenes Dafein.
Aufgehen in dad Object heißt „Leben; Nichtreflectiren auf bie
eigene Thätigkeit heißt aufgehen in das Dbjed. Daher ift die
Selbftvergeffenheit das Kriterium, welches Wirflichfeit und Nicht
Wirklichkeit, Leben und Reflerion fcheidet. Demnach gelten hier
806
im Sinne Fichte’ folgende Begriffe für gleichbedeutend: Wirk:
lichkeit, Realität, eben, gemeined Bewußtſein, unmittelbare
Erfahrung”).
2. Die Potenzen des wirkliden Bemußtfeins.
Das Leben oder dad lebendige wirkliche Bewußtfein befteht
in einer Mannigfaltigkeit von Beſtimmungen, die nothwendig
mit einander verknüpft find. Diefer Zufammenhang macht das
„Syſtem“ des Lebens, das, wie jedes Syſtem, von gemiffen
Grundbeftimmungen abhängt. Diefe Beftimmungen werden nicht
Fünftlich gemacht, fie find; fie werden auch nicht geändert, fie
find nothwendig: wir können nichts ald vermöge des benfen=
den Bewußtfeind darauf reflectiren; die Reflerion kann nur zer
legen und begreiflich machen [„repräfentiren”), was fie ald Wirk:
lichkeit vorfindet.
Wir leben; wir reflectiren auf unfer Leben und erheben uns
dadurch auf eine höhere Lebenöftufe; wir reflectiren auf diefe un=
fere Reflerion und erheben uns dadurch auf die höchfte. Diefe
Stufen nennt Fichte hier „Potenzen”. Das Leben im eigentlichen
Verftande macht „das Syſtem der erften Potenz”, die Reflerion
macht die höheren Potenzen, die ald Reflerionsproducte zugleich
Producte der Freiheit find. Die Reflerion ift frei, fie kann ſich
über jede Stufe erheben und alfo in's Endlofe aufwärts fteigen.
Hier giebt es für die Willkür feine legte Grenze, dagegen giebt es
eine folche legte Grenze in der Richtung nach unten. Wir Fön:
nen nicht tiefer hinabfteigen als bis zum Leben im Sinne ber
Realität. Dieſes Leben der erften Potenz, dad wir Realität,
Thatfache des Bewußtfeind, Erfahrung nennen, ift für (alle
*) Sonnenflarer Bericht u. ſ. f. Einleitung. I Lehrſtunde. S. W.
JAbth. II Bd. S.320 - 345.
807
Reflerion) die fefte Grundlage, „der Fuß und die Wurzel alles
Lebens”. Wir leben: das ift dad Erſte. Wir wiffen von und
als Lebendigen : das ift das Zweite. Wir wiſſen von uns als
Wiſſenden, d. h. wir erheben und auf den Standpunkt der (in:
tellectuellen) Selbftanfhauung: das ift das Dritte und Höchſte ).
3. Die Wiffenfhaftslehre ala Abbildung des
wirfligden Bewußtſeins.
Was wir auf der erften Stufe find ohne es zu wiſſen, das
find wir auf der höchften Stufe mit Bewußtfein. Alfo ift Mar,
wie ſich die höchfte Stufe zur unterften verhält: wir find auf beiden
daffelbe, nur daß wir auf der höchſten Stufe, was wir find,
zugleich durchſchauen. Die erfte Stufe ift das lebendige wirkliche
Bewußtſein; die höchfte Stufe ift die Erfenntniß der erften, das
Wiſſen, defjen Gegenftand das wirkliche Bemußtfein (Erfahrung)
ift, die Wiffenfchaft vom wirklichen Bewußtfein: Wiſſenſchafts-
lehre. Es iſt alfo Elar, wie ſich die Wiſſenſchaftslehre zum wirk⸗
lichen Bewußtſein und damit zur Wirklichkeit ſelbſt verhält.
Das wirkliche Bewußtfein bildet ein Syftem, das von ge:
wiffen Grundbeftimmungen abhängt. Diefe Beftimmungen liegen
dem Bemußtfein jebed vernünftigen Weſens zu Grunde, nicht
bloß dem menfchlihen, noch weniger bloß dem individuellen; fie
find das Urfprüngliche in allem Bewußtfein, das kantiſche Apriori.
Die Erkenntniß diefer Grundbeftimmungen ift die Aufgabe der
Wiſſenſchaftslehre. Seben wir nun, daß diefe Beflimmungen
felbft einen foftematifchen Zufammenhang haben, fo ift die Auf:
gabe der Wiffenfchaftölehre deren vollftändige fuftematifche Ab⸗
leitung; fo ift die Wiſſenſchaftslehre felbft, wenn fie ihre Aufgabe
löft, „ein Abbild und Verzeihnig jener Grundbeſtimmungen“,
*) Ghenbafelbft, I Lehrftunde. ©. 344—346.
808
„Die getroffene und volftändige Abbilbung des ganzen Grund:
bewußtfeind” ; fie ift dad Syſtem der erften Potenz, in's Be:
wußtſein erhoben, fie ift nichts andered und will nichts andered
fein. Sie verhält ſich demnach zum wirklichen Bemußtfein, wie
bie Demonftration eines Uhrwerks zur wirklichen Uhr, und ed kann
ihr fo wenig einfallen, ſich an die Stelle des wirklichen Bewußt-
ſeins zu fegen, ald fie im Sinne hat, die Demonftration eines
Uhrwerks, die Erklärung feines Mechanismus, für die wirkliche
Uhr auszugeben. &o denkt nicht die Wiſſenſchaftslehre, fo ur=
theilen über fie alle Gegner, die in dem gegebenen Falle die De:
monftration der Uhr von der wirklichen Uhr in der That nicht zu
unterfcheiden vermögen *).
Die Differenzpunkte find in einer treffenden Vergleihung
eben fo lehrreich als die Vergleichungspunkte. Die Wiſſenſchafts-
lehre verhält fi zum wirklichen Bewußtfein nicht, wie ber
Uhrmacher zur Uhr oder der Künftler zu feinem Werk. Der
Künftler erfindet, dad Werk zu einem vorher beftimmten Zweck
nach gewiſſen Gefegen. Die Wiſſenſchaftslehre macht dad Be—
wußtſein nicht, fie erfindet es nicht, es iſt; fie verhält fich zu
dem wirklichen Bewußtſein nacherfindend und nacherzeugend, fie
läßt das Bewußtſein ſich felbft erzeugen und entwickeln von ſei⸗
nem verborgenen Urfprunge an bis zu dem Maren und vollftäns
digen Selbftbewußtfein, dad zufammenfällt mit unferer gemeinen
Erfahrung, diefer befannteften aller Thatfachen. Es handelt ſich
nur darum, daß die Wiffenfchaftölehre wirklich jenen verborge:
nen Punkt, die Quelle und den Urfprung trifft, von dem aus
ſich die Grundzüge des Bewußtſeins dentwickeln. Die Entwid-
lung macht ſich von felbft, fobald die Duelle entdedt ift. Nun
*) Ebendaſelbſt. II Lehrftunde. S. 346 — 56. Vgl. V Lehrft.
©. 394.
809
erfcheint diefe Entdeckung zunächft wie ein „glüdlicher. Einfall“,
wie ein geniales „Errathen”, wie ein bloßer Verſuch, von dem
es ungewiß ift, ob er fich beftätigt, ob er die Probe befteht. Aber
wenn er bie Probe befteht, fo ift es auch vollfommen gewiß, daß
die Sache an ber richtigen Stelle ergriffen wurde. Wenn von
dem Punkte aus, den und ein Zufall in unbekannter Gegend
auffinden ließ, der Fluß beginnt und fortfließt bis er in das
Meer einmündet, fo ift keine Frage, daß jener Punkt die Quelle
des Stromes war. So trägt die Wiffenfchaftslehre in ihrer eiges
nen Unterfuchung die Probe ihres Grundgedanfens. Wenn von
hier aus eine Entwidlung beginnt, die als nothwendiges Reful:
tat das wirkliche Bewußtfein ergiebt, fo gilt jener Grundgedanke
mit Recht ald das Princip des Bewußtſeins. Diefes Prinäip,
welched die Unterfcheidung des Subjectiven und Objectiven und
damit das thatjächliche Bemußtfein ermöglicht , ift jene Identität
des Subjectiven und Objectiven (dad Subject:Object, das reine Ich
oder die Ichheit), deren Bedeutung Fichte ſchon inder Grundlegung
der Sittenlehre erleuchtet, in dem Verſuch einer neuen Darftel-
lung der Wiffenfchaftölchre aus der Unmöglicykeit des Gegentheils
bewiefen hatte, umd die er hier in dem fonnenklaren Bericht
„dad Unbedingte und Charakteriftifche des Selbſtbewußtſeins“
nennt*).
Aus diefer Grundanſchauung entwideln ſich eine Reihe noth-
wendiger Handlungen, die dad unmittelbare wirkliche Bewußt⸗
fein zur Folge haben. Die Wiffenfchaftslehre ift die Conftruction
diefer Reihe. Kein Glied diefer Reihe ift ohne das andere, Feind
ann ohne das andere gefaßt werden”). Was in Wirklichkeit
eriftirt, ift dad Ganze, der Zufammenhang aller Glieder, in
*) Ebendaſelbſt. III Lehrſtd. S. 356—380. Bel. S. 362. 63.
*) Ghenbafelbft. VI Lehrſid. S. 380—394,
810
welchem das lebendige Bewußtſein befteht; was die Wiflenfchaftd:
lehre giebt, ift die methodifche Entwicklung der Reihe Glied für
Glied. Hier ſieht man deutlich, wie die Wiſſenſchaftslehre mit
dem wirklichen Bewußtfein übereinftimmt und wie fie von dem⸗
felben ſich unterfcheidet. Sie will das getroffene und vollftän:
dige Abbild des wirklichen Bewußtſeins enthalten: dad ift bie
Uebereinftimmung beider. Aber dad wirkliche Bewußtfein ift auf
einmal, gleihfam mit einem Schlage, was bie Wiffenfchafts:
lehre in einer Reihenfolge entwidelt; fie verfährt in dem Segen
der einzelnen Beftimmungen methodiſch, während ſich biefe in
dem wirklichen Bewußtfein unmethodifh und unkritiſch alle bei:
fammen finden : das ift die Differenz beider. Die Wiſſenſchafts⸗
lehre verhält ſich demnach zum wirklichen Bewußtfein, wie die
Kosmogonie ſich verhalten will zum Univerfum, wie die Mathe:
matik fi in der That verhält zu unferer finnlihen Größenan:
ſchauung, wie 5. B. dad Maß der Linie fi verhält zur wirt:
lichen Linie: fie ift, um den Hauptgedanken der fichte’fchen Schrift
in aller Kürze zu geben, die Mathematik des wirklichen Bewußt⸗
feind. Daher ift fie ihrer Abficht und Leiftung nach dem gewöhn⸗
lichen Bewußtfein fo wenig entfremdet, daß fie vielmehr eine
für den gemeinen Menfchenverftand wohlwollend gefinnte und
die Rechte beffelben fichernde Phitofophie, und jede andere, die
ihr in dieſer Abficht zuwider ift, eine Gegnerin des gemeinen
Verftandes ift*).”
Dad gewöhnliche Bewußtſein handelt nach nothwenbigen
Geſetzen, es kennt dieſe Geſetze (d. h. fich felbft) nicht; es weiß
nicht, was es thut. Wiſſen, was man thut, iſt eine nothwen⸗
dige Aufgabe aller bewußten Weſen. So lange dieſe Aufgabe
*) Ebendaſelbſt. V Lehrſt. S. 394 — 402. S. 395.
811
nicht gelöft ift, find wir preiögegeben dem. Spiele des Zufalls
und der Herrfchaft des Schickſals. Diefe Aufgabe Löft die Wil
ſenſchaftslehre. Das ift ihre ganze Bedeutung. Sie ift darum
nicht bloß das höchfte wiſſenſchaftliche Uebungsmittel zur Stärz
tung des Geiftes und zur Selbftändigkeit des Charakters, fon
bern auch das befte Erziehungsmittel zur Lebensweisheit; „durch
fie wird dad Menfchengefchlecht von dem blinden Zufalle erlöft
und dad Schidfal wird für daffelbe vernichtet *).”
4. Die Gegner der Wiffenfhaftslchre.
Aus diefem Begriff der Wiſſenſchaftslehre folgt nun von
felbft, welche Gegner fie hat und behält. Alle, die nicht ein
fehen, daß es ſich in der Wiffenfchaftölehre keineswegs um etwas
dem gewöhnlichen Bewußtfein abfolut Neues und Fremdes, kei⸗
neöwegd um ein anderes Bewußtſein, fondern lediglich um
bie Einficht in das gegebene, wirkliche Bewußtfein handelt: um
das Wiſſen des eigenen nothwendigen Thuns, um dad Wiffen
vom Wiffen. Sie kennen und empfinden die Aufgabe der Wif-
ſenſchaft nicht, darum verftehen fie nicht die der Wiffenfchafts:
lehre. „Ihr habt,” fo wendet ſich Fichte unmittelbar an diefe
Gegner, „in eurem Leben nicht gewußt, und wißt daher gar
nicht, wie Einem zu Muthe if, der da weiß.” Es ift ihnen nicht
um „bad Innere eines Wiffend, dasjenige, auf welchem allein es
beruht, daß ein Wiffen, eine Ueberzeugung , eine Unerfchltter-
lichkeit des Bewußtſeins flattfindet”, fondern lediglich um bie
äußere Oberfläche des Wiffens, um ben bloß „hiftorifchen Glau—
ben” zu thun, der ſtückweiſe die tobten Reſte des Wiſſens ein-
ſammelt. So haben fie auch die Wiſſenſchaftslehre beurtheilt
*) Ghendafelbt. VI Lehrt. ©. 403 — 410.
812
als „einen Broden aus dem kantiſchen Strome, oder aus dem
Strome des empiriſchen Lebens“, als eine Art Pfychologie ; fie
haben dabei „jeden Biſſen“ der Wiffenfhaftslehre für das Ganze
genommen und nun über die unverftändliche Sprache, die Wider:
fprüche, die paradoren Säge nicht genug klagen Fönnen.
Wer eine Sache nicht verfteht, handelt rechtfchaffen, wenn
er fie aufgiebt und fich nicht weiter darum fümmert. Die Philo-
ſophie ift durch die Wiſſenſchaftslehre fo weit gebiehen, dag
feiner, dem dieſe ein verfchloffenes Buch bleibt, in jener etwas
auszurichten vermag. Daher follten die Gegner der Wiffenfchafts-
lehre unter den Schulphilofophen ihr Unvermögen richtig erwägen
und aufhören, die Philofophie als Geſchäft zu treiben. Das
Beifpiel des hallifchen Jacob, der angefangen hat, ſich mit Na=
tionalöfonomie abzugeben, ift achtungswerth und nachahmungs-
würdig; „die Abicht, Buhle, Bouterweck, Heufinger, Heyden⸗
reich, Snel, Ehrhard Schmid” mögen es beherzigen. Es giebt
in der Welt noch andere nügliche Gefchäfte, als da find „Bril-
Ienfchleifen, Forftverwaltung, Landrecht, Verömacherei, Roman-
fehriftftellerei, geheime Polizei, Viehzucht u. f. f.*)"
5. Fichte und Nikolai,
Dem gelehrten Unverftande bleibt die Wiffenfchaftslehre ver:
ſchloſſen, nicht dem gemeinen Verſtande, fobald diefer wiflen-
ſchaftlich über fich felbft nachdenkt. Wenn ihm das Bedürfniß
und bie Fähigkeit zu einer folchen wiffenfchaftlichen Selbſterkennt⸗
niß abgeht, fo wird der gemeine Verftand zum platten, ber,
unfähig in die Ziefe zu bliden, an der Oberfläche der Dinge
haftet und nun die oberflächlichfte Vorftellungsweife für die voll-
*) Ebendaſelbſt. Nachſchrift an die Philoſophen von Profeſſion,
bie bisher Gegner der Wiſſenſchaftslehre geweſen. ©. 410— 420. ©, 419.
813
fommenfte und ſich felbft für den Inbegriff aler Weisheit hält.
Diefe Einbildung feiner Vollkommenheit hält gleichen Schritt
mit der Unfähigkeit fich felbft zu begreifen; wo diefe ihren Cul⸗
minationspunkt erreicht, zeigt fich auch jene auf ihrem. Gipfel;
dann wird die Einbildung der eigenen Vortrefflichfeit zum einge:
wurzelten Grundſatz, wonach der platte Verftand alles beurtheilt,
nur daß bei feiner gänzlichen Unfähigkeit zur Selbfterfenntniß ihm
diefer Grundfas nie zum Bewußtfein fommt; er hat ihn und
handelt ſtets danach, ohne zu glauben, daß er ihn hat. Im Ger
gentheil er hält fich für ein Mufter nicht bloß der Weiöheit, fon
tern zugleich der Befcheidenheit ; und da jener Grundfag nur der
Selbſterkenntniß weichen kann, fo bleibt er auf dem Gipfel des
platten Verſtandes unabänderlich ſtehen, und man kann daraus
den ganzen Charakter des letzteren ableiten in allen feinen Aeuße—
tungöweifen. Den Typus diefes platten Verftandes in aller fei-
ner Hohlheit und Selbftgefälligkeit ſieht Fichte vor fich in Fried»
rich Nikolai, dem Altmeifter der deutfchen Aufflärerei. Uns
ter den Gegnern der Wiffenfchaftölehre gab es keinen, der platter,
zu ihrem Verſtändniß unfähiger, im ber Art fie zu beurtheilen
unwiffender, geiſtloſer, dreifter gewefen wäre, als dieſer Fried-
rich Nikolai. Die ordinärften Einwände auf flacher Hand brachte
er in der Form elender Späße und mit dem Anfpruche vor, die
Sache damit gerichtet und für immer abgeurtheilt zu haben *).
Aehnlich war er ſchon mit Kant, Goethe, Schiller umgegangen.
*) Dos Ih will alles in ſich begreifen, alſo, ſchließt Nikolai,
unter anderem auch die wilde Schweinäteul. Wenn nun der Philoſoph
die wilde Schweinsfeule verzehrt, jo ißt er ſich jelbjt! Das nennt Nikolai
Fichte ad absurdum führen, Und fo, wie Nikolai, urtheilen noch heute
manche unferer Philoſophen von Profeffion, bie ich zu nennen wüßte,
wenn etwas baran läge.
816
dieſes Zeitalterd kommt, jede ächte Erhebung des Menfchen in
Religion, Kunft, Philofophie und damit auch den Geift der
Wiſſenſchaftslehre zu faſſen; hier findet Fichte feinen verächtlich-
ften und wegen der niedrigen Denkweiſe hartnädigften Gegner.
Wenn er in feiner „Appellation“ von ächten Atheiften gerebet habe,
fo habe er ganz eigentlich Nikolai gemeint und die, welche ihm
gleihen*).
*) Ebendaſelbſt. Cap. XII. ©. 59. V Beilage gum IX Capi-
tel) ©. 88,
Zweites Kapitel.
Die Seftimmung des Menſchen: I. das Problem.
Zweifel und Wifen.
I
Aufgabe und Charakter der Schrift.
Der Begriff der Wiffenfchaftölehre umfaßt ein Syftem, das
vom theoretifchen Ich zum praftifchen (moraliſchen) und von dies
fem zum religiöfen ober, Furzgefaßt, (in der Betrachtung des Ich)
vom Wiffen zum Glauben fortfchreitet. Der Rückblick auf
die Wiffenfchaftölehre fol fich auf die Entwidlung des Syſtems
in feinem ganzen Umfange erſtrecken. Diefe Forderung erfüllt
Fichte in feiner „Beflimmung des Menfchen”: die Schrift giebt
einen umfaflenden Blick auf dad ganze Syſtem und enthält zus
gleich) eine weitere Entwidlung der Glaubenötheorie, in welcher
letzteren Rückſicht Fichte felbft gerade auf diefe Unterfuchung Hin: *
weiſt ).
Dadurch iſt der (ihrem Zeitpunkt entſprechende) Charakter
der Schrift beſtimmt. Sie bildet das nächſte Glied in der Fort:
fegung der religionsphilofophifchen Unterfuchungen ; fie gehört zus
gleich in die Gruppe jener zufammenfaflenden Schriften, welche
*) Die Beitimmung des Menſchen. Berlin 1800. S. W. IAbth.
U Bd. Vgl, oben Schluß des vorigen Buchs, ©. 794.
Fifher, Gefhihte der Phlofophie. V, 52
818
die Summe bed ganzen Syſtems enthalten; fie ift in dieſer Gruppe
die wichtigfte und darum unter allen Schriften des Philofophen
eine ber lehrreichften und didaktiſch beften. Sie theilt mit dem
Verfuch einer neuen Darftellung der Wiſſenſchaftslehre, der ihr
vorauögeht, und mit dem fonnenklaren Bericht, der ihr nachfolgt,
die eroterifche Abficht und die Eatechetifche Form. Das erfte
Buch, ift in der Weife eines Selbftgefprächs gefchrieben und er=
innert feiner ganzen Natur nach lebhaft an die Meditationen Des⸗
cartes', das zweite ift dialogiſch, in ähnlicher Weife ald der fonnen-
Mare Bericht. In feiner Charakteriftit der beiden Grundſyſteme
des menfchlihen Denkens erinnert das erfle Buch an den Ge:
dankengang ber erften Einleitung in die Wiffenfchaftölehre, welche
jene Syſteme ald Dogmatismus und Idealismus einander entge=
gengefest hatte.
Die Grunblegung der Sittenlehre, der Verſuch einer neuen
Darftellung der Wiffenfchaftslehre, der fonnenklare Bericht fommen
darin überein, daß in dieabfolute Identität des Subjectiven und
Objectiven dad Weſen des Ich und das Princip alles Bewußt⸗
feind gefegt werden müſſe. Was diefe Identität bedeutet, ift
nirgends lichtvoller entwidelt ald in dem zweiten Buch der Be—
flimmung des Menfchen. Hier ift das Jdentitätöprincip, das
ſchon in der ganzen Anlage der Wiffenfchaftölehre feftfteht, nicht
bloß formulirt, fondern die Formel ift ausgerechnet. Darin liegt
eines ber größten eigenthümlichen Werdienfte diefer Schrift, die
übrigens in der Art und Weife, wie fie jene Ipentität dem Be:
wußtfein zu Grunde legt, ganz in den und befannten Ideengang
der Sittenlehre eingeht.
Die Frage nach der Beftimmung ded Menfchen fällt zufam-
men mit der Frage nach unferem Weſen, unferem wahren Sein,
unferer Realität. Die Frage nach dem Realen in und erweitert
819
fich zu der Frage nad) dem Realen überhaupt. Was ift dad wahr-
haft Reale? Wie allein können wir es erfaffen? Das Problem,
womit die neuere Philofophie begann, die alte cartefianifche Frage:
„was bin ich?“ bildet das Grundthema der fichte ſchen Schrift.
Ich will wiffen, was ich bin, nicht auf Grund fremder Anfich:
ten, fondern durch eigenes Nachdenken. Ich will es felbft er:
forſchen durch eine vorurtheilöfreie, forgfältige, firenge Unter
ſuchung.
U.
Der Standpunkt des Zweifel.
1. Das Syſtem der Ratur.
Die nachſte Richtſchnur zur Löſung diefer Frage bietet und
die unmittelbare Erfahrung, vermöge deren wir Dinge außer
uns, eine Welt, und felbft ald einen Theil der Welt vorftellen.
Bon diefer Erfahrung gehen wir aus und ergänzen fie durch noth⸗
wendige Schlüffe zu einem Syſtem. Wir find Dinge im Zuſam⸗
menhang der Dinge. Wir verftehen dad eigene Wefen um fo
beffer, je gründlicher wir die Natur der Dinge einfehen. Alfo
die erfte Auflöfung unferer Frage gefchieht aus dem Begriff der
Natur ober des Univerfumd, wie wir diefen Begriff zu benfen
durch die Thatfachen der Erfahrung felbft genöthigt find.
Wir finden und unter Objecten, deren jedes nad) feinen Ei:
genfchaften und nach dem Grade derfelben durchgängig beftimmt
ift als diefe einzelne Erfcheinung; jede diefer Erſcheinungen ift
der Verwandlung und dem Wechfel unterworfen, fie ift entftans
den, alfo geworden, alfo verurfacht; die ganze Natur lebt in eis
nem beftändigen Wechfel ihrer Erfcheinungen, diefer Wechſel ger
ſchieht durchgängig nach dem Gefege der Caufalität und bildet
daher eine in's Endlofe laufende Kette von Urfache und Wirkung.
52*
820
Jede Urfache ift Kraft, jede (durchgängig beftimmte) Erſcheinung
ift hervorgebracht durch ihre eigene Kraft, die aber nur wirken
Fann im Zufammenhange mit’allen übrigen. So ift die Natur
ein ſtreng gefegliches Syſtem wirffamer Kräfte, ein fireng geſetz
licher Zufammenhang von Erfcheinungen, indem auch nicht das
Kleinfte geändert werden Fann, ohne das Ganze zu ändern.
Jede Erfcheinung ift eine (vorübergehende) Aeußerung noth:
wendig wirkender Naturfräfte. Eine ſolche Naturerfcheinung ift
auch der Menfch, er ift eine denfende Natur; in ihm wirken bie
bildende, organifirende, denkende Naturkraft harmonifch zuſam
men; er ift nicht bloß, wie die rohe Materie, fondern er ift le
bendig; er lebt nicht bloß, wie die Pflanze, fondern ift zugleich
ein fich frei bewegender lebendiger Körper; er hat nicht bloß
Selbftbewegung, wie das Thier, fondern er denkt: er ift und
weiß, daß eriftz in ihm kommt die Natur zum Bewußtfein und
verdoppelt dadurch ihr eigenes Sein. Der Menfc weiß fein er
gened Dafein, er weiß ſich ald ein befonderes, beſchränktes Na:
turwefen. Das Befchränkte ift die nothwenbige Folge eines Be:
ſchränkenden; es ift ein Begründeted und fordert nothwendig eis
nen Grund, es ift ein Beſonderes und fordert notwendig ein All:
gemeined. Das Allgemeine verhält fi zum Beſonderen ald
Grund zur Folge. Der Sat des Grunde macht daher den Weber:
gang von dem Befonderen zum Allgemeinen: dieſen Uebergang
macht das menfchliche Bewußtfein und muß ihn machen, indem
es vom Standpunkte feines befchränkten Dafeins oder feiner Ins
dividualität aus die Welt betrachtet. Jeder erkennt ſich als ein
beftimmtes Product nothwendig wirkender Naturfräfte,
Diefe Kräfte wirken in uns; fie find unfere eigenen Kräfte.
Wir haben ein unmittelbares Bewußtfein unferes Seins, un
ferer Kraft, unferer Wirkſamkeit. Diefe unfere Wirkfamkeit,
821
fofern wir derfelben unmittelbar bewußt find, heißt Wille; jede
Wirkſamkeit fest ein Streben voraus, das Bewußtfein unferes’
Strebens heißt Begierde oder Neigung; unfere Kräfte find ver:
ſchiedene und können gegeneinander ftreben, fo daß Feine zur ent⸗
ſchiedenen Wirkſamkeit kommt, das giebt die Unentfchloffenheit
des Willend; eine Kraft fiegt über die andere, dad macht den
Willensentfchluß ; alle unfere Kräfte ſtreben (nicht gegen einander,
fondern) harmoniſch, fo entfteht die Willensrichtung, die wir
fittlich nennen, der tugendhafte Wille; die niedere Kraft fiegt
über die höhere, fo entfteht in uns ein Gefühl der Niederlage,
das wir ald Reue bezeichnen; dad Streben unferer ganzen Na:
tur im Einklang ihrer Kräfte, diefe „fittlihe Willensrichtung”
bildet unferen Grundtrieb, und das Bewußtſein diefed Grund:
triebe3 nennen wir „Gewiſſen“. So erflärt dad Naturfyftem
auch die fittliche Welt oder ſcheint diefelbe zu erklären *).
2. Die Verneinung der Freiheit ald Folge des
Naturſyſtems.
Was auch geſchieht, geſchieht nothwendig nach dem Natur⸗
geſetz. Unter dieſem Geſichtspunkt iſt das ſittliche Handeln eben⸗
falls eine naturnothwendige Aeußerung. Darum giebt es hier
keine Unabhangigkeit und Freiheit des Willens. Wir können von
ſittlichen und unſittlichen, edlen und unedlen Naturen, von Reue
und Gewiſſen, aber nicht von Verſchuldung und Zurechnung
reden. Der Wille handelt, wie er unter den gegebenen Bedin—
gungen ber in uns wirffamen Kräfte handeln muß. Möglich,
daß diefe Kräfte ungehindert fich entfalten; möglich, daß fie durch
entgegenwirfende Kräfte eingeſchrankt und gehemmt, möglich auch,
*) Die Beftimmung des Menſchen. Erſtes Buch, Zweifel, S. 169
—189.
822
daß fie durch deren größere Gemalt überwunden und unthätig
gemacht werden. Im erften Fall ift der Zuſtand unferer Kräfte
frei, im zweiten gehemmt, im britten gezwungen. Es giebt
eine Freiheit bed Könnend, nicht des Wollend. Und da unfere
Kraft ſtets befchränkt ift durch das Map ber Individualität, fo
giebt es Feine unbedingte Freiheit des Könnens, alfo überhaupt
feine unbedingte Freiheit. Unfere Kraft ift felbft nur eine Aeuße—
tung ber Naturkraft, Feine freie, fondern eine durch den Weltzus
fammenhang volltommen bedingte Aeußerung derfelben. Wir find,
was wir find. An diefem unferem durch das Naturgefeg beftimm-
ten Sein können wir nicht ändern. Es ift fchlechterdings un:
möglich, daß unfer eigenes Selbft etwas anderes iſt oder aus fich
macht, ald ed von Natur ift. Unter diefem Geſichtspunkte giebt
es eigentlich feine Beftimmung, fondern nur eine Beftimmtheit
des Menfchen.
3. Die Forderung der Freiheit.
Wir haben aus der Natur der Dinge unfer eigenes Wefen
begriffen. Diefes Naturfoftem befriedigt unferen Berftand, denn
es befteht in einer wohlgeorbneten Kette bindiger Schlüffe, die
auögehen von der Thatfache der Erfahrung. Doch ift etwas in
uns, dad diefem Syſteme widerſtreitet und fich gegen die noth—
wendigen Folgerungen deffelben unwillkürlich fträubt: gegen die
Eonfequenz, die unfer Wefen für die Yeußerung einer fremden
Kraft, für deren bedingte Yeußerung und unfere Willensfreiheit
demnach für nichtig erklärt, woraus von felbft die Unmöglichkeit
folgt, und zu ändern*).
Was wir diefem Syſtem entgegenfegen, ift zunächſt eine auf
das bloße Gefühl von und felbft gegründete Forderung: wir wol:
*) Ebendaſelbſt. I Bud, S. 189— 191.
823
len nicht bloß Naturproducte, fondern felbftändige, freie Wefen
fein, die den letzten Grund ihrer Beftimmungen in fich felbft
tragen, die ſich felbft beftimmen und zu dem machen, was fie
werben. Alle gewordene Sein ift eine Folge, die einen Grund
vorausfegt. Wir müffen und daher, um jener Forderung ent
fprechen zu fönnen, zwei Arten des Seins zufchreiben, von be
nen das erfte den alleinigen Grund des zweiten ausmacht, bie
fi) zu einander verhalten, wie dad Vorbild zum Nachbilde,
Wenn wir mit voller Freiheit aus und felbft ein Vorbild machen und
dieſes Vorbild in unferem wirklichen Dafein ausführen, fo wäre
die Forderung erfüllt, bie fih gegen das Syſtem ber bloßen Na:
turnothwendigkeit erhebt. Jenes Vorbild ift der frei entwörfene
Zweck, alfo der Zwedbegriff, den die Intelligenz macht. Wenn
wir unfer Sein durch unfer Denken beſtimmen und unfer Denken
fich felbft beftimmt, fo find wir frei im geforderten Sinne des
Wortes*),
4. Die entgegengefehten Syſteme der Natur
und Freiheit.
Der Zieifel.
Set ftehen zwei Syſteme einander gegenüber und wir haben
die Wahl zwifchen beiden: auf der einen Seite das Syſtem bes
Weltganzen, in welchem wir felbft bloße Naturerfcheinung, un:
fere Intelligenz bloße Naturäußerung ift, unfer Denken bloß dad
Zufehen hat, unfere Erfenntniß lediglich ein Abbild des Univer—
fums ift nach der Richtſchnur und auf Grund der Erfahrung;
auf der andern Seite ein Syftem unferer Freiheit aus dem Stand:
punkte deö unmittelbaren Selbftbewußtfeins, in welchem wir un:
*) Ebendaſelbſt. J Bud. S.191— 195,
324
fer eigenes Vorbild find, dieſes Vorbild Fraft umferer Intelligenz,
felbft hervorbringen, Eraft unieres Willens felbft verwirklichen.
Das Naturigftem muß das Zreibeitfgftem im Princip und
darum in allen feinen Zolgerungen verneinen. Das Freiheitsſyſtem
bejaht das Naturinftem bis auf einen gewiflen Punkt, in welchem
der volle Gegenfaß ericheint. Nach dem Naturfyftem Fann die
Intelligenz nur abbilden d wirken; das Freiheitsſyſtem fordert,
daß fie vorbildend wirft: es fordert bie Unabhängigkeit der In
telligenz von der Natur, ben Gedanken als Princip des Werdens.
Im diefem Punkte liegt die Differenz. Bejahen wir dad Natur:
foftem, fo müffen wir diefe Unabhängigkeit verneinen und mit
ihr unfere Zreiheit, fo befriedigen wir den Verſtand gegen die
Stimme beö unmittelbaren Selbftbewußtfeind; bejahen wir unfere
Freiheit, fo müſſen wir jene Unabhängigkeit behaupten, die dem
Naturſyſteme wiberftreitet. Gründe auf beiden Seiten, Gewißheit
auf feiner. Wir haben die Wahl und mit ihr die Qual, die Qual
des Zweifels, indem wir nicht wiffen, ob wir den Verſtand auf
Koften des Herzens oder umgekehrt die Forderungen des Herzens
im Widerftreit mit dem Verftande befriedigen ſollen. Wir blei:
ben im „Zweifel“ und können den Kämpfen und der Unruhe
deffelben nur ein Ende machen durch volle Gemwißheit. Da wir
ung bei den Folgerungen nicht haben beruhigen können, fo fehr
uns ihre Folgerichtigkeit einleuchtet,, fo müffen wir das Princdp
unterfuchen. Das Naturfyftem gründet ſich auf die Thatſache
unferer Erfahrung. Worauf gründet fich diefe Thatſache? Diefe
Frage ift nicht unterfucht. Hier ftoßen wir auf die unergründete
Prämiffe des ganzen Syſtems.
Wir haben unferen Standpunkt bisher in der Erfahrung
genommen und von hier aus das Naturfoftem mit aller Folgerich⸗
tigkeit entworfen. Jetzt müffen wir unferen Standpunkt fo neh:
825
men, daß die Erfahrung ihm gegenüberliegt, wir müffen uns
alfo über den biöherigen Standpunkt erheben. Dort war unfer
Gegenftand die Natur, unabhängig von und, die Natur an ſich;
jest fol unfer Object unfere Vorftellung der Natur, die That:
fache unferer Erfahrung felbft fein. Wir erheben und damit von
der bogmatifchen Betrachtung der Dinge zur Aufgabe der Wiſſen⸗
ſchaftslehre und fehen zugleich, wie die Löſung diefer Aufgabe
abfolut nothwendig ift, um aus dem Zweifel zur Gewißheit zu
kommen.
I.
Der Standpunkt des Wiffens.
1. Dad unmittelbare Selbfbewußtfein und die
Empfindung.
Wie komme ich zur Erfahrung? Die Erfahrung ſtellt un:
mittelbar Dinge außer uns vor und lebt in deren Betrachtung.
Wie komme ic) dazu, Dinge außer mir vorzuftelen? Ich würde
fie nie vorftellen, wenn ich fie nicht fehen, hören, fühlen u. ſ. f.
könnte; ich komme zur Erfahrung, wie e8 fcheint, bloß durch
meine Sinnesempfindung. Aber was ich empfinde, find nicht
Dinge außer mir, fondern bloß Affectionen in mir, meine eige:
nen Empfindungszuftände. Alle meine Wahrnehmung ift bloß
Wahrnehmung des eigenen Zuftandes. Alfo ift die erfle Bedin⸗
gung aller Erfahrung, daß ich meinen eigenen Zuftand wahrneh:
me, daß ich von diefer Wahrnehmung weiß. Ich kann mein
Sehen nicht fehen, mein Hören nicht Hören u. f. f., ich weiß von
meiner Sinneöwahrnehmung nur dadurch, daß ich mir derfelben
unmittelbar bewußt bin. Ich bin meiner Wahrnehmung, alfo
meiner felbft unmittelbar bewußt. Dieſes unmittelbare Bewußt-
fein meiner ſelbſt ift daher die ausfchließende Bedingung alles an:
826
deren Bewußtfeind. Wie aber wird aus dem unmittelbaren Be:
wußtſein meiner Wahrnehmung, aus der bloßen Wahrnehmung
meined eigenen Zuftanded ein Wahrnehmungsobject außer mir,
wie ich es in ber Erfahrung vorftelle? Wie komme ich zu diefer
Erfahrung *)?
2. Verbreitung der Empfindung. Fläde, Raum.
Jede meiner Empfindungen ift unmittelbar und einfach,
gleichfam ein mathematifher Punkt; id kann daher viele ver
ſchiedene Empfindungen nur nacheinander haben. Ich habe 3. B.
den Empfindungszuftand roth; in der Erfahrung erfcheint mir
etwas Rothe, ich nehme roth wahr als Eigenfchaft eines Objects,
eined Körpers, alfo auögebreitet über eine Fläche, und kann es nur
in dieſer räumlichen Ausdehnung wahrnehmen. Wie aber komme
id) dazu, den mathematifchen Punkt meiner Empfindung auszu-
dehnen, benfelben über eine Fläche zu verbreiten, neben einander
zu fielen, was doc) in mir nacheinander folgt? Man fage nicht,
daß hier ein Sinn dem andern, etwa das Zaften dem Sehen,
zu Hülfe komme, denn jeder Sinn braucht diefelbe Hülfe; Fein
Empfindungszuftand, welcher Art er auch fei, ift Flachenwahr⸗
nehmung. Auch dad Bewußtfein ber eigenen Ausdehnung, des
eigenen materiellen Leibes erklärt in diefem Galle nichts, weil es
ebenfo fehr der Erklärung bedarf, weil es bad zu Erklärende
it). "
Ich empfinde bloß, was ich auf eine Oberfläche fee. Was
hinter dieſer Oberfläche liegt, empfinde ich nicht, aber ich bin
gewiß, daß auch dort wieder eine wahrnehmbare Fläche, wieder
etwas Empfindbares ift, daß fein Theil des mahrgenommenen
T) Ghendafelöft. II Bud. Wiſen. S. 199-202.
er) Chenbafelbft, II Bud. &. 202— 208.
— —
827
Objects, Fein Theil der unendlich theilbaren Maſſe unempfindbar
ift, und fo verbreite ich die Empfindung nicht bloß über eine be:
flimmte Fläche, fondern durch den unendlichen Raum; ich mache
meine fubjectiven Empfindungen zu objectiven Eigenfchaften und
fege den Raum ald deren Träger.
Ich verbreite meinen Empfindungszuftand, der bloß mathe:
matifcher Punkt ift, über eine Fläche; ich nehme auch jenfeits
biefer Fläche Empfindbares an und füge alfo zu der Empfindung,
die ich habe, eine andere hinzu, die ich nicht habe; ich verbreite
dad Empfindbare durch den unendlichen Raum, den ich felbft
nicht empfinde. Nur auf diefe Weife verwandelt fich meine Em:
pfindung in etwas Empfindbares außer mir, die Wahrnehmung
meined eigenen Zuflandes in die Wahrnehmung eined äußeren
Gegenftandes, dad unmittelbare Bewußtſein meiner felbft in
das Bewußtfein von Gegenftänden außer mir, d. h. in Erfahrung.
Die ganze Frage läßt fich daher in die Formel faffen: wie wird
die Empfindung räumlih? Wie folgt aus dem unmit—
telbaren Selbftbewußtfein der Raum?*).
3. Das unmittelbare Selbfibewußtfein ala
Bewußtſein der Dinge.
Ich habe thatfählih nur das unmittelbare Bewußtſein
meiner felbft, ich habe Fein anderes, Feines von Dingen außer
mir; auch habe ich fein Organ für folche Dinge, Feiner meiner
Sinne giebt mir die Vorftellung eines Gegenftandes; ich habe
überhaupt Fein allgemeines Wahrnehmungsvermögen, fondern
nur beftimmte Empfindungen, Empfindungszuftände, befondere
x Beftimmungen des inneren Sinned.. Ich habe fein Bewußtfein
« ber Dinge, aber ich brauche ein ſolches Bewußtfein; es kann
*) Ebendaſelbſt. II Bud. ©. 208 — 212.
|
828
mir auch durch Fein Organ gegeben werben, denn ich habe fein
ſolches Organ; ich kann daher ein ſolches Bewußtfein nur aus
meinem Selbftbewußtfein erzeugen. Das Selbftbewußtfein it |
das Erfte, dad Bewußtfein der Dinge ift dad Zweite; jenes ift
das erzeugende, unmittelbare, dieſes Dad erzeugte, vermittelte Be:
wußtfein*).
a. Die fpontane Erzeugung des Gegenftandes.
Nun erfceinen mir in der Erfahrung die Gegenftände als
von außen gegeben, und es ift keineswegs von meiner Wiltür .
abhängig, ob ich diefe Vorftelung habe oder nicht. Mithin ift
die Erzeugung diefer Vorftellung fein willfürliches Product, ich
bin mir des erzeugenden Actes nicht bewußt, ich entfchließe mic
nicht dazu und überlege nicht erft, ob ich diefe Handlung vol:
ziehen fol. Der erzeugende Act ift daher reflerionslos, er ift nicht
frei, fondern „fpontan”. Unwillkürlich denke ich zu meiner
Empfindung den Gegenftand hinzu ald Grund der Empfindung.
Der fpontane Denkact gefchieht alfo nach dem Sage des Grun-
des, nach dem Geſetze der Caufalität. Meine Empfindung if,
fie war nicht immer, fie ift geworden, alfo verurfacht; ich bin
mir derfelben ald der meinigen, ald meines Zuftandes, aber ih '
bin meiner nicht ald der Urfache diefed Zuftandes bewußt; daher
denke ich diefe Urfache als eine „fremde Kraft‘ **).
d. Das Geſetz der Caufalität.
Aus dem unmittelbaren Selbftbewußtfein entfteht demnach
das Bewußtſein der Dinge nach dem Gefege der Caufalität und
vermöge deffelben. Woher aber habe ich den Begriff des Grun:
de3? Nicht aus meiner Empfindung, die erfi in Folge jenes
*) Ebendaſelbſt. II Bud. S. 212— 216.
*) Cbendaſelbſt. II Bud. S. 216 — 218.
829
Begriffs ald eine gewordene oder begründete erfcheint, noch wes
niger aus den Dingen außer mir, die erft in Folge jened Be—
griffs (als Grund meiner Empfindung) gefegt werden. Ic, kann
diefen Begriff nicht aus Bedingungen ſchöpfen, die durch ihn
felbft bebingt find. Der Begriff der Urfache ift daher nicht ab⸗
ſtrahirt, nicht vermittelt, fondern unmittelbar: er ift eine „Grund:
wahrheit” und mein Wiffen davon ein „unmittelbares Wiſſen“ *).
Wie verhält fich nun diefes unmittelbare Wiffen der Cauſali—
tät zu dem unmittelbaren Selbßbewußtfein und dem Bewußt⸗
fein der Dinge? Dem unmittelbaren Selbftberußtfein geht Fein
Bewußtſein vorher, es ift fchlechthin das Erfte. Zwiſchen dieſes
Bewußtfein und dad der Dinge (Gegenftände außer uns) fällt
fein Bewußtfein in die Mitte, dad an das erfte Glied das zweite
anknüpfen und den Uebergang machen könnte von dem einen
zum andern: fein Bewußtſein vermittelt biefen Uebergang,
feine Reflerion erzeugt bie Vorftellung des Gegenftandes. Das
Benußtfein meines Zuftanded und dad Bewußtfein des Gegen:
fandes find daher durch nichts auseinandergehalten; fie fallen zu:
fammen in einen und denfelben Act, Ich erzeuge die Vorftellung
des Gegenftanded nach dem Gefeße der Caufalität, aber nicht
durch daſſelbe. Das Bewußtſein dieſes Geſetzes entfleht mir
erft dadurch, daß ich nach ihm handle, erft dadurch, daß ich mir
meines Verfahrens bewußt werde. Das Wiffen der Caufalität
fol unmittelbar fein; jegt erfcheint es als vermittelt. Es ift zu:
gleich) unmittelbar und nicht unmittelbar. Wie ift das möglich **)?
©. Das Bewußtſein des eigenen Thuns als eines Gegebenen.
Die Caufalität, nach deren Gefeg ich die Vorftellung des
*) Chendafeldft. II Bud. S. 218 — 220.
*) Ebendaſelbſt. II Bud, ©. 220,
830 {
Gegenſtandes erzeuge, ift meine notwendige Handlung, mein |
(durch Feine Reflexion vermitteltes, alfo) Uunmittelbares Thun.
Nun bin ich meiner felbft unmittelbar bewußt, ſowohl meine |
Leidend ald meines Handelns. Es giebt daher zwei Beftand:
theile des unmittelbaren Selbftbewußtfeind: mein Leiden und
mein Thun; das Leiden ift meine Empfisdung, mein Zufland;
das Thun ift meine Erzeugung (der Vorftellung) des Gegenftan:
ded nad) dem Satze des Grundes. Diefed Thun ift durch fein
Bewußtſein vermittelt, es gefchieht unmittelbar und reflerions:
108; daher bin ich mir in diefem Thun deſſelben nicht ald meiner
Handlung bewußt, ich weiß daher auch den Gegenftand nicht ald |
mein Product, fondern bloß ald mein Object; ich habe Fein Be |
|
|
mußtfein von meiner Erzeugung (der Vorftellung) des Gegenftan-
des; ich habe daher bloß ein Bewußtfein (der Vorftellung) des
Gegenftandes, ein Bewußtſein des Dinges. Mein Thun fällt |
daher für mich einfach zufammen mit dem Object. Das unmittel:
bare Bewußtſein meined Thuns ift zunächft das unmittelbare
Berußtfein der Dinge: daß ift dad Erſte. Dann werde ich mir |
hinterher durch Reflerion meines Thuns ald eines folchen bewußt: |
daß ift das Zweite. |
Die Caufalität ift mein eigenes nothwendiges und unmittel
bared Handeln. Die Frage nad) dem Wiffen von dieſer Caufali: |
tät fällt daher zufanmen mit ber Frage nach dem Bewußtſein
meines eigenen unmittelbaren Thuns. Diefed Thuns bin id
mir unmittelbar und nicht unmittelbar bewußt: unmittelbar,
denn eö ift mein Thun; mittelbar, denn ich werde mir deffelben
erft nachträglich bewußt. So muß ed fein und fo ift es. Beide
Säge müffen gelten, und fie fönnen nur dann in gleicher Weife
gelten, wenn die Sache ſich fo verhält: ich bin mir meines
Thuns unmittelbar bewußt, aber nicht als eines ſolchen, alfo |
4
\
831
nur ald eined gegebenen, vorhandenen; es ſchwebt mir vor,
esift mein Gegenftand. Ich bin mir meines Thuns ald Gegen:
ſtandes unmittelbar bewußt (nicht des Gegenftandes ald meiner
That), d. h. ich bin mir einfach des Gegenftandes außer mir un:
mittelbar bewußt. Ich würde mir deffelben nie unmittelbar
bewußt fein, wenn er nicht in Wahrheit mein eigenes Thun wäre
(d. h. etwas, das mir nothiwendiger Weife unmittelbar gewiß
ift und nur fo gewiß fein fann). Hier leuchtet ein, daß ich
in der Vorftellung der Gegenftände keineswegs über mein Bes
mwußtfein hinauögehe, und daß ed überhaupt Fein Bewußtſein
giebt, das über fich felbft hinausgehen könnte *).
4. Dad Bemwußtfein eines von und unabhängigen
Seins.
Dem woiberftreitet in einem noch nicht erflärten Punkte die
Thatſache unferer Erfahrung, unferer unmittelbaren Vorftelung
der Dinge. Die Dinge außer und erfcheinen uns nicht bloß ald
unabhängig von unferem Thun, fondern auch ald unabhängig
von unferem Leiden, von unferem Zuftande, von unferer Em:
pfindung: fie erfcheinen unabhängig von unferem Sein über:
haupt. Im der That alfo fcheint unfer Bewußtfein, indem es
die Dinge aufer fich fo vorftellt, über fich felbft binauszugehen,
und was in der Natur unfered Bewußtfeind in Wahrheit un:
möglich fein foll, das erfcheint in der alltäglichen Erfahrung fort⸗
während als wirklih. Indem wir Dinge außer und vorftellen,
erfheinen fie und als völig unabhängig von unferem Sein; fie
ſchweben und in dieſer ihrer Selbftftändigkeit vor, und wir er:
fcheinen und felbft ald der Spiegel, der fie empfängt und ab»
bildet **).
*) Chenbafelbft. II Bud. ©. 221 — 222.
**) Ebendaſelbſt. II Bud, S. 223 — 224,
‘ 832
= Die Intelligenz als Object der Anſchauung.
Hier kommen wir auf den Kern der Sache. Im der Er:
fahrung find wir uns der Dinge als eined von und völlig unab-
hängigen Seins unmitteldar bewußt. Nun aber Fönnen
wir nur deö eigenen Seins unmittelbar gewiß fein. Beide
Säße gelten und Fünnen nur bann in gleicher Weiſe gelten, wenn
es fi) mit unferem Sein ebenfo verhält, wie vorher mit unferen
Thun. Iſt und ein fremdes (von uns unabhängiges) Sein un:
mittelbar gewiß, fo ift daffelbe unfehlbar unfer eigenes Sein,
das wir aber nicht als folches erkennen, das wir vielmehr durch
unfer eigenes Weſen genöthigt find, als ein unabhängiges Ob:
ject außer und vorzuftellen. Woher diefe Nöthigung ?
Unfer Sein befleht im Wiſſen, in ber Intelligenz. Das
Wefen der Intelligenz befteht im Sichwiſſen, in der abfoluten
Identität des Subjectiven und Objectiven ; dad Wefen des Be
wußtſeins befteht in der Trennung ded Subjects und Bbiects:
daher fann jene Identität (das abfolut Eine), die Wurzel alles
Bewußtfeind, und nicht felbft zum Bewußtfein fommen. Die
urfprüngliche Einheit liegt dem Bewußtſein zu Grunde, hin
ſelbſt befteht in dem urfprünglichen Getrenntfein des Subjectiben
und Objectiven. „Daher muß dem fubjectiven Bewußtfein das
eigene Sein als ‘ein von ihm getrennte, unterſchiedenes, unab:
hängiges Object erfcheinen. Diefes Object ift das Willen felbft,
die Intelligenz. „Dein Wiffen ald Objectives ftellt ſich vor dic)
felbft, vor bein Wiſſen als Subjectives hin und ſchwebt dem⸗
ſelben vor, freilich ohne daß du dieſes Hinſtellens dir bewußt
werden kannſt.“ „Das Subjective erſcheint als der leidende und
ſtillhaltende Spiegel des Objectiven; dAS letztere ſchwebt dem
erſten vor*).” Das Subjective iſt mithin das unmittelbarg-Be:
) Ebenbafel, IE Bud. S. 226. g j
833
mußtfein eine Seins außer fi. Dieſes unmittelbare Bewußt-
fin ift Anfhauung. Die Anfhauung eines Seins außer
uns ift äußere Anſchauung, und dadurch entſteht überhaupt
erſt die Möglichkeit äußerer Wahrnehmung und äußerer Sinne.
b. Der Raum als Intelligenz.
Diefe äußere Anfhauung, die nichts anderes ift ald der
Ausdruck jener urfprünglichen Trennung des Subjectiven und
Objectiven, womit alles Bewußtfein anhebt und worin ed be
fteht, ift darum der nothwendige und unveränderliche Zuftand des
Bewußtfeind, Diefen unveränderlichen Zuftand kann dad Bes
mwußtfein nicht aufheben, denn es kann fein eigenes Sein nicht
vertilgen ; es kann daher nur innerhalb defielben thätig fein.
Nun können wir unferer Anfhauung nur bewußt werden, indem
wir biefelbe in Tätigkeit feßen; fie verändert fich innerhalb des
unveränberlichen Zuftandes, d. h. „fie ſchwebt innerhalb des Un:
veränderlichen von einem veränberlichen Zuftande fort zu einem
andern veränderlichen.” Dieſes Fortſchweben erfcheint als „ein
Linienziehen“. Jenes Unveränderliche (die äußere Anfchau-
ung felbft) erfcheint daher ald etwas, in welchem man nach allen
Richtungen hin Linien ziehen und Punkte machen kann, d. h. ald
Raum*),
Was wir ald Sein außer und anſchauen, iſt unfer eigenes
Sein, das Wiffen, die Intelligenz. Der Raum ift das ange:
ſchaute Wiffen, die angeſchaute Intelligenz, darum ift er durch
fihtig und vollfommen klar, wie diefe. Es ift „das Bild un-
fereö nicht hervorgebrachten, fondern angeftammten Wiffens über:
haupt, von welchem alles befondere Denken nur die Erneuerung
und weitere Beftimmung iſt.“ „Der erleuchtete, durchfichtige,
durchgreifbare und durchdringlihe Raum, dad reinfte Bild mei:
*) Ebendaſelbſt. II Bud, ©. 227 — 228.
diſcher, Geſchichte der Philofophle V. 53
834
ned Wiffend, wird nicht gefehen, fondern angeſchaut, und in
ihm wird mein Sehen felbft angefchaut. Das Licht iſt nicht außer
mir, fondern in mir, und ich felbft bin das Licht.”
Hier ift die wahre Quelle der Vorftellungen von Dingen
außer und. „Dieſe Vorftelung ift nicht Wahrnehmung, du
nimmt nur dich felbft wahr; fie ift ebenfo wenig Gedanke, die
Dinge erfcheinen dir nicht ald ein bloß Gedachtes. Sie ift wirt:
lich und in der That abfolut unmittelbared Bewußtſein eines
Seins außer dir, ebenfo wie die Wahrnehmung unmittelbares
Bewußtfein deines Zuftandes ift. Laß dich nicht durch Sophi-
ſten und Halbphilofophen übertäuben: die Dinge erfcheinen bir
nicht durch einen Repräfentanten ; des Dinges, dad da ift und
fein ann, wirft du dir unmittelbar bewußt, und eö giebt Fein
andered Ding, ald das, deſſen du dir bewußt wirft. Du felbft
bift diefed Ding; du felbft bift durch den innerften Grund deines
Weſens, deine Endlichkeit, vor dich ſelbſt hingeftellt und aus
dir felbft herausgeworfen; und alles, was du außer dir erblickt,
bift immer du felbft.” „Die Anfhauung ift ein thätiged Hin:
ſchauen defien, was ich anfchaue, ein Herausſchauen meiner
ſelbſt aus mir felbft: Heraustragen meiner felbft aus mir felbft
durch die einige Weife des Handelns, die mir zukommt, durch
dad Schauen. Ich bin ein Iebendiged Sehen. Ich fehe =
Bewußtfein. Ich fehe mein Sehen — Bewußtes. Darum
ift auch diefed Ding dem Auge deines Geiftes durchaus durch⸗
fichtig, weil es dein Geift felbft ift*).”
5. Die Außenwelt ald Product des Id.
.
a. Maffe.
Das unmittelbare Selbftbewußtfein ift Bewußtfein meines
*) Ebendaſelbſt. II Buch. ©. 228. 229,
835
leidenden Zuſtandes (Empfindung), meined Thuns, meines Seind
(Intelligenz). Mein Thun erfcheint als etwas Gegebenes d. h.
ald Object außer mir, ald Ding. Mein Sein (Intelligenz)
erfcheint ald ein von mir unabhängiges Sein, ald Object, das
mir vorfchwebt, ald Raum. Das unmittelbare Bewußtſein
meines Thuns und Seins giebt daher die Anfchauung äußerer
Gegenftände, die Vorftellung der Dinge im Raum. Was den
Raum erfüllt, ift Maffe, Körperwelt. Ich bin vermöge des un
mittelbaren Selbftberoußtfeind Anfchauung einer Körperwelt. Wie
verhält fich zu diefer Anfchauung die Wahrnehmung meines Zu⸗
ſtandes, meine Empfindung ?
. b. Kraft.
Die Dinge im Raum haben in Rüdficht ihrer Größe, Ge
ſtalt, Lage und Entfernung beftimmte räumliche Verhältniſſe, die
nur erfannt werden durch unfere meflende und ordnende Vers
gleihung. Diefe Vergleihung ift Feine Anfchauung, kein un
mittelbared Bewußtfein, fondern ein Urtheilen und Denken, Und
dad Princip diefer Beurtheilung find unfere Affectionen, der
Grad und die Stärke unferer Eindrüde, Von unferer Affection
fließen wir auf das Afficirende als deren Grund; von ber Stärfe
des Eindruds fließen wir auf die Kraft des (afficirenden) Ge:
genftanded, Die Kraft ift ein erfchloffenes, gedachtes Object,
ein Begriff, den wir auf Grund der Empfindung mit dem Ob:
jecte der Anſchauung (der Maffe) verbinden. So verknüpft das
Denken die Empfindung mit der Anſchauung und überträgt jene
auf diefe: fo entfteht die Vorftellung einer mannigfaltigen im
Raume voirffamen Körperwelt und damit jene Erkenntniß ber
Dinge, die wir ald Erfahrung bezeichnen *).
*) Ebendaſelbſt. II Bud, ©. 230 — 240,
53*
836
6. Das Ih ald Empfinden, Anfhauen, Denfen.
Dad Wiffen als Traum.
Diefe Erfahrung mit allen ihren Objecten, die gefammte
Außenwelt, ift ein Product unferer Empfindung, unferer An-
fhauung, unferes Denkens. In der That haben wir in ber
Vorftellung diefer von und unabhängigen Welt nirgends unfer
Bewußtfein überfchritten:: fie entfteht bloß durch unfer Bewußt⸗
fein, fie ift ein Abbild unferer felbft, eine bloße Borftellung, ein
Bild, ein Schatten. Alle Objecte unferes Wiſſens find Bilder,
die wir nur darum für Wirklichkeit halten, weil wir nicht wiffen,
daß wir es find, die fie erzeugen und bilden. So find fie gleich
den Traumbildern. Wir träumen die Welt. Unſere Anſchau⸗
ung ift Traum, unfer Denken ift der Traum dieſes Traumes.
AS das einzig Reale, fo fcheint ed, bleibt nichts übrig ald unfer
Ich. Aber dieſes Ich felbft ift nur empfindend, anfchauend,
denkend; es ift nur Bemwußtfein feined Empfindens, Anſchauens,
Denkens: ein unmittelbares ober vermittelted Bewußtſein, es ift
felbft mithin nur eine Mobdification des Bewußtfeind, eine folche,
die jedes beflimmte Bewußtſein begleitet, in jeder Vorſtellung
gegenwärtig, aber ohne biefelbe für fich nichts ift, al8 eine aus
den Vorftellungen abftrahirte Allgemeinheit, eine Art Sammel:
begriff, ein bloßer Gedanke ohne alle Realität. Auf dem Stand:
punkte des Wiſſens giebt es nur Vorftellungen, nur Bilder,
nirgends etwas wahrhaft Reales, weder außer und noch in und.
Mes Wiffen ift Abbildung; es wird in aller Abbildung
etwas gefordert, dad dem Bilde entfpreche, etwas Reales ar
fih. Aus dem Wiffen entſteht immer nur Wiffen: daher kann
die Forderung-nach dem wahrhaft Realen durch das bloße Wiffen
nie befriedigt werden *).
*) Ebenbafelbft, II Bud. S. 240-247.
837
Das Syſtem der bloßen Naturnothiwendigkeit, in ben unfer
Denken zuerft feine Befriedigung fuchte, konnte die Forderung ber
Freiheit nicht erfüllen, ſondern derfelben nur wiberfprechen : darum
verfiel ed dem Zweifel. Das Syſtem des Wiſſens, welches die
Thatſache der Erfahrung aus unferem Selbftbewußtfein begrüns
det, giebt und die Freiheit, aber ed nimmt und die Realität und
verwandelt bamit auch die Freiheit in einen bloßen Traum. Iſt
der Menfc ein bloßes Naturproduct, fo hat er Feine Beftim:
mung, die man im Exnfte fo nennen könnte. Iſt die Welt und
unfer Ich Feine wahrhafte Realität, fo kann ebenfo wenig von
einer Beftimmung des Menfchen geredet werden. Um die wahre
hafte Wirklichkeit als folhe und mit ihr die Beſtimmung des
Menſchen zu erfaffen, reicht das Wiffen nicht hin. Das Syſtem
des Wiffend wird daher einer Ergänzung bedürfen, die zugleich
eine Vertiefung ift.
Drittes Capitel.
ie Seflimmung des Menfhen: II Löfung des Problems
ans dem Standpunkte des Glanbens.
L
Der Begriff des Glaubens.
1. Das vorbildlihe Handeln (dad praftifhe Id).
Das Vorgeſtellte ift nichts Reales an fich, aber e& wird in
n etwas Urfprüngliches und Reales gefordert, das außer der
orſtellung liegt und unabhängig if von diefer, das auch ohne |
befteht und von ihr nicht verändert wird, zu dem fich die Bor: |
llung bloß zufehend verhält. Alle unfere Vorſtellungen find
Yingt durch ung felbft. Daher kann das Reale nur in unferem
fprünglichen, von allen Vorftellungen unabhängigen Sein ge
ht, werben.
Was wir urſprünglich und unabhängig von allen Vorftel:
agen (Objecten) find, können wir nur durch uns felbft d. h.
r in Folge unferer eigenen Thätigkeit fein. Nun ift das Ich
gleich Subject und Obiih.; es iſt zugleich dentend und gedacht.
ir Sigb daher felbftändig, wenn wir von beidem, von unferem
wet mnd Sein, die alleinige Urfache find, wenn wir mit
er Freiheit Begriffe entwerfen und ein diefen Begriffen ent:
839
fprechendes Sein (einen außer dem Begriff liegenden Zuftand)
hervorbringen. Dad hervorgebradhte Sein verhält fi zu dem
frei entworfenen Begriff, wie das Nachbild u dem Borbilde;
das Vorbild ift der Zweckbegriff, dad Nachbild ift deffen Vers
wirflichung. Diefe Verwirklichung fordert eine reelle Kraft, die
fih zu dem Zwedbegriff verhält, wie dad Können zum Wollen.
Unfer felbftändiged Sein, in welchem allein wir zunächft das
Reale ſuchen, ift mithin ein Thun, welches mit voller. Freiheit
(unabhängig von allen Vorftellungen und Objecten) Zwecke ſetzt
und ausführt.
Nun ift freilich der Zweck auch eine Vorftellung, ebenfo die
Handlung, die aus ihr entfpringt und der Trieb zu einer ſolchen
Handlung, und man fönnte daher leicht einwenden, daß wir
diefe unfere Selbftändigkeit auch nur vorftellen und damit von
neuem in jene Traum⸗ und Scheinmelt gerathen, die Feine Reali-
tät in fich hat und dem Zweifel verfällt. Auch läßt ſich feinem
wehren, daß er diefe Reflerion macht (denn die Reflerion ift eine
Sache der Willkür) und den Zweifel in's Endlofe fortfegt.
Indeſſen ift der Zweckbegriff von jenen Vorftellungen, denen
der Kern der Realität fehlt, fehr verfchieden. Diefe Vorftel:
lungen waren Abbilder und immer wieder Abbilder ; alles Wiffen
beftand im bloßen Abbilden. Der Zweckbegriff ift nicht Abbild,
fondern Vorbild. Wenn wir und nur theoretifch verhielten,
fo würden wir bloß Abbilber haben. Daß wir Zwecke ſetzen und
Vorbilder entwerfen, ift ſchon ein Beweis, daß wir nicht bloß
theoretifch find; dad Vermögen der Zwede flammt aus unferem
praftifchen Wefen; wir haben und mit dem Zweckbegriff in das
praktiſche Gebiet unferer Intelligenz verfest, wir find nicht mehr
im Reiche des bloßen Wiſſens, in der Welt der Abbilder; daher
fann und auch der Zweifel, der dem Abbilde gegenüber entfteht
840
und dort in's Endlofe fortgehen kann, hier nicht mehr treffen und
einholen ).
2. Der Glaube ald urfprünglihe Gewißheit.
Der Zweckbegriff, von dem wir reden, ift Fein relativer und
bedingter Zweck, den wir aus anderen Vorftellungen zufammen:
feßen.und ableiten; er ift der Ausdruck unferer urfprünglicen
und unbebingten Selbfithätigfeit, unfered wahrhaft unabhängi-
gen Seins, nicht eine Folge, fondern der Grundzug unfere
praktifchen Wefend. Wir Fönnen daher diefen Zweck auch nicht
vermitteln, bedingen, ableiten, fondern feiner, wie unferer felbft,
nur unmittelbar gewiß fein. Wir Fönnen ihn nicht theoretifch ab:
bilden, fondern nur praktiſch nachbilden d. h. verwirklichen. Da:
her ift diefer Zweck Fein Gegenftand des Wiffens, fondern de
Glaubens im Sinneder urfprünglichen, unmittelbaren Gewißheit.
Wenn dad Wiffen unfere einzige Handlungöweife wäre, ſo
gäbe es blog Abbilder, alfo nichts Reales. Wenn eö Fein abf-
lutes Vorbild gäbe, fo wären alle Abbilder grundlos und leer.
Erſt durch dad Vorbild (welches von keinem Abbilde herftammt),
durch dad abfolute Vorbild, kommt Realität in die Abbilder. Aus
unferem urfpränglichen,, felbftthätigen, praktifchen Wefen fommt
der Zwedbegriff und mit ihm das Vorbild. Won hier entfpringt
daher ale Realität. Aus der unmittelbaren Gewißheit unſeres
Zwecks, unferer Beſtimmung, die eined ift mit unferem Weſen,
mit unferem Triebe nad) abfoluter Selbftthätigkeit, mit dem Ge:
fühl dieſes Triebes: aus diefem Glauben flammt die Gewißheit
aller Realität, fo weit wir derfelben gewiß find. Das Reale
wird nicht gewußt, es wird geglaubt. Ohne der Realität eines
Objectö, gleichviel welches, gewiß zu fein, giebt es Feine wahr:
*) Die Beftimmung des Menſchen. III Bud. Glaube, S. 248— 254.
d
841
bafte Ueberzeugung. Daher ift jene urfprüngliche Gewißheit der
Grund aller Gewißheit, der Glaube der Grund aller Ueberzeus
gung. Und da die Gewißheit unferes abfoluten Zweckes zuſam⸗
menfält mit der Geſinnung, fo Eonnte Fichte fagen: „alle meine
Ueberzeugung ift nur Glaube, und fie kommt aus der Gefinnung,
nicht au8 dem Verſtande.“
Die Realität kann nie demonfkeirt, fondern nur geglaubt
werben. Auch die natürliche Anficht hält an der Realität der
Dinge feft nicht aus theoretifchen Gründen, fondern aus prak—
tifhen, aus Intereffe für eine Realität, die man hervorbringen
will, — „der Gute, fchlechthin um fie hervorzubringen; der Ge
meine und Sinnlihe, um fie zu genießen.” Aus dem Glauben,
aus der Gefinnung, aus dem Gewiſſen ftammt alle Wahrheit.
So verhält es ſich mit allen Menfchen, welche je das Licht der
Welt erblidt haben. „Auch ohne fid deffen bewußt zu fein, faf-
fen fie alle Realität, welche für fie da ift, lediglich durch den
Glauben, und diefer Glaube dringt fich ihnen auf mit ihrem Da-
fein zugleich, ihnen indgefammt angeboren.” „Wir werden alle
im Glauben geboren *)."
3. Wiffenfhaftslehre und Glaubensphilofophie.
Jacobi und Fichte,
Hier ftimmt Fichte wörtlich überein mit Jacobi. Wir heben
diefen Punkt hervor, in welchem die Wiflenfchaftölehre ihrerſeits
ſich augenfcheinlich der jacobi ſchen Glaubensphilofophie annähert.
Der erfte Berührungspunft beider lag in dem Urtheile über die
kantiſche Philofophie, von der Jacobi zuerft eingefehen hatte, daß
fie völliger Idealismus fei und das Reale ald ſolches in feiner
Unabhängigkeit vom Ich verneinen müffe und in der That ver-
*) Ebendafelöft, III Bud. ©. 254 — 255.
842
neine. Das war auch Fichte's Meinung und er rühmte in feiner
zweiten Einleitung in die Wiſſenſchaftslehre gerade in biefem
Punkte Jacobi ald feinen Vorgänger. Nur daß er die kantiſche
Lehre aus demfelben Grunde bejahte und fortzubilden fuchte, aus
dem Jacobi fie verwarf. Das war ihr Gegenfaß, beffen ſich
Jacobi ſtets deutlich bewußt blieb. Er fegte der Eritifchen Auf-
löfung der Realität den unmittelbaren Glauben an diefelbe ent-
gegen. Diefer Glaubenötheorie meinte Fichte, als er in die reli⸗
giöfen Fragen tiefer eindrang, ſich wirklich zu nähern, und er
ſah damals feinen Abſtand von Jacobi für weit Heiner an, als
der letztere felbft. Keinen Philofophen nach Kant hat Fichte fo
anerfannt als diefen. In dem fonnenklaren Bericht fiellt er
Jacobi neben Kant ald „einen gleichzeitigen Reformator der Philo-
fophie”, und in der Schrift über Nikolai nennt er ihn „einen ber
erſten Männer des Zeitalterd, eines der wenigen Glieder in ber
Ueberlieferungöfette der wahren Gründlichkeit‘’*). Uebrigens hatte
Fichte ſchon in feiner Grundlegung der praftifchen Wiffenfchafts:
lehre die Geltung ber Realität für dad Ich aus dem Gefühle erklärt,
freilich zunächft nur phänomenologifch , aber er hatte bedeutſam
hinzugefügt: „an Realität überhaupt, ſowohl die des Ich ald des
Nicht: Ich, findet Tediglih ein Glaube ftatt**).” In der
That find die Glaubendtheorien Jacobi's und Fichte's, fo ähn-
lich fie in manchen Sägen erfcheinen mögen, in der Wurzel ver
ſchieden. Bei Fichte if der Glaube durchaus praktiſch motivirt,
bei dem andern ift er unmittelbar theoretifch.
*) DBgl. oben Buch III. Cap. I. M.Il.3 b. ©. 481 flgd.
Fichte's ſonnentl. Bericht. S. W. I Abth. II Bd. ©. 334. Fr. Nie
colai's Leben u. ſ. f. Cap. VI. Anmerk. S. W. III Abth. III Bd.
S. 31 fig.
**) Bol. oben Buch III. Cap. II. Nr. III. 4. S. 586.
843 ”
4. Leben und Glaube.
Auf dem Standpunkte des bloßen Lebend war ed unfere
Selbftvergeffenheit, welche macht, daß die Objecte, in die wir ver:
ſenkt find, für und den Charakter voller und alleiniger Realität
haben*); dann ommt die Reflerion, welche die Realität ber
Objecte in bloße Vorftellung auflöft und macht, daß ed auf dem
Standpunkte des Wiffens nichts wahrhaft Reales für uns
giebt. Auf dem erften Standpunkte gilt die Realität (ber Ob⸗
jecte) nur phänomenologifch, auf dem zweiten Standpunkte gilt
fie gar nicht; auf Feinem von beiden giebt es eine an fich gültige,
von unferer Borftelungsweife unabhängige Realität. Eine ſolche
Realität giebt es erft und allein auf dem Standpunkte des Glau-
bens, des Gewiſſens, der Gewißheit unferes Handelns und un:
ſeres Zweds. Das Gewiffen allein ift jener fefte unverrüdbare
Punkt, in dem alle wahrhafte Realität beruht, an den fich alle
Realität ber Objecte anknüpft; auch die bes Lebens wird erft von
bier aus beftätigt. Die Selbftvergeffenheit ift die Wurzel der
natürlichen Anfiht der Dinge ; die Selbſtgewißheit ift die Wurzel
der Glaubendanfiht, im welcher dad Reale ald ſolches erfaßt
wird; die natürliche Anficht geht allem Wiffen vorher, die Glau:
bensanficht geht über alles Wiffen hinaus: in der Bejahung der
Realität flimmen beide zufammen.
Das Gemiffen entfcheidet endgültig über Wirklichkeit und
Nichtwirklichkeit. Es ift gewiß, was ich thun fol; es ift gewiß,
daß ich dem Gebote der Pflicht gehorchen fol. Was diefen Ge:
borfam ermöglicht, was in ihm ald Bedingung zu feiner Erfül-
lung vorauögefegt wird, das ift eben fo wahr und gewiß. So
*) Sonnenflarer Beriht. Vol. oben Cap. I. Nr. III. 1. ©.
805 fig.
Fa
⸗
844
weit die nothwendigen Forderungen des Gewiſſens ſich erſtrecken,
fo weit erſtreckt ſich mit abſoluter Gewißheit das Gebiet der
Realität. Was fordert das Selbſtbewußtſein? Das war die
Grundfrage der Wiffenfchaftsichre. Was fordert das Gewiſſen
(die fittliche Selbftgewißheit)? Das ift die Grundfrage der Glau:
benslehre*).
I.
Die Objecte des Glaubens.
1. Die Realität der Sinnenmelt.
Das Gewiſſen fordert mit der Erfüllung der Pflicht zugleih
bie Realität der Objecte, auf welche die Pflicht ſich bezieht. Die
Pflicht der Selbfterhaltung hat keinen Sinn, wenn der Leib, da
phyſiſche Bedürfniß, der Nahrungätrieb, die Objecte dieſes Trie:
beö, Speife und Trank u. ſ. f. bloße Vorſtellungen find und
feine vwoirklihen Dinge. Sie find wirkliche Dinge. Das Ge
wiſſen realifirt die Vorſtellung der Sinnenwelt, So gewiß bie
Pflicht exiſtirt unabhängig von meiner Vorftellung, fo gewiß
exiſtirt unabhängig von diefer auch das Object der Pflicht. Die
Pflicht, andere Wefen meines Gleichen ald vernünftige und felbft:
ftändige Wefen zu behandeln, hat feinen Sinn, wenn diefe Wefen
nur Schatten meiner Einbildung, nur meine Vorftellungen und
nicht in Wahrheit wirkliche Perfonen außer mir wären. Sie
find wirkliche Perfonen. Das Gewiffen realifirt diefe Vorſtel
lung. Schon dad Rechtögefühl gründet fich auf den Glauben an
biefe Realität. Unmöglich kann ich von anderen die Achtung
meiner Freiheit ald Recht in Anfpruch nehmen, ohne ihnen das
Vermögen dieſer Achtung, alfo auch dad Vermögen mich zu ver:
legen und damit eigene Selbftändigfeit und Realität zuzufchrei:
*) Gbenbajelbft. III Bud. Nr. I. S. 259.
845
ben, ohne alfo an ihre Realität zu glauben. Selbſt der außerſte
Idealiſt, der alle Dinge und ſich felbft für bloße Vorftellungen
erklärt, will von anderen keineswegs als bloße Vorftellung be
handelt fein; er will nicht, daß andere willkürlich und gewalt⸗
thätig in feine Eriftenz eingreifen, er befennt dadurch, daß er
fi und die anderen nicht für bloße Vorftellungen , fondern für
wirkliche Wefen hält, von deren Realität er überzeugt ift.
2. Die praftifhen Beweiögrünbde der Realität
des Nicht-Ich.
Unter den Einmwänden auf flacher Hand, die man der Wif-
fenfchaftölehre von jeher gemacht und gewöhnlich in plumpefter
Weiſe ausgedrückt hat, war es ſtets eine beſonders beliebte In-
ftanz, daß Hunger und Durft das Ich am beften von der Reali⸗
tät des Nicht: Ich Überzeugen können, und wenn es noch immer
nicht genug überzeugt fei, fo thue man gut, ihm handgreiflich
zu Leibe zu gehen, wenn nicht gar ben Schädel einzuſchlagen,
um die Realität des Nicht: Ich außer allen Zweifel zu ſetzen.
Diefe Argumente ad hominem find nicht theoretifche, fondern
praftifche Beweiſe für die Realität der Dinge; diefe prak⸗
tiſchen Beweife läßt Fichte nicht nur gelten, fondern braucht fie
felbft gegen den bloßen Idealismus des Wiſſens. Wer daher der
Wiſſenſchaftslehre folhe Einwürfe macht, in der Einbildung, fie
damit zu überrafchen, der beweiſt bloß, daß er Fichte nicht ges
lefen und darum von ihm nicht gelernt hat, dieſe Einwürfe rich
tig zu machen, womit fie freilich aufhören, Einwürfe zu fein.
Auf Grund des Gewiſſens bin id) von meiner Realität über-
zeugt, darum auch von der Realität anderer vernünftiger Wefen
außer mir, von ber Realität der gegenfeitigen Einwirkung bie:
fer Vernunftwefen, von der Realität des Mediums diefer Ein:
846
wirkung, von der Realität der Sinnenwelt. „Wir find gend
thigt anzunehmen, daß wir überhaupt handeln und daß wir auf
eine geroiffe Weife handeln ſollen; wir find genöthigt, eine ger
wiffe Sphäre diefed Handelns anzunehmen: diefe Sphäre ift die
wirkliche und in der That vorhandene Welt, fo wie wir fie an-
treffen; und umgekehrt, diefe Welt ift abfolut nichts andere
als jene Sphäre und erſtreckt auf feine Weife fich über fie hin-
aus. Bon jenem Bebürfniffe des Handelns geht dad Bewuft:
fein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt von dem Berwuft:
fein der Welt das Bedürfniß des Handelns; dieſes ift das erſte,
nicht jened, jenes ift das abgeleitete. Wir handeln nicht, weil
wir erkennen, fondern wir erkennen, weil wir zu handeln be
flimmt find; die praftifche Vernunft ift die Wurzel aller Ber:
nunft*).”
3. Der irdifhe Weltzweck. Das Weltbefe.
Meine Handlung geht auf einen Zweck, ben fie verwirk⸗
lichen will: fie will einen Zuftand hervorbringen, der wirklich
fein ſoll in der Zukunft. Ihr Object und ihr Schauplak iſt die
Welt; fie geht daher auf einen künftigen Weltzuftand, fie will
die Welt verändern, und zwar in der Richtung, welche der fitt:
liche Endzweck vorfchreibt, d. h. fie will die Welt verbeffern; ihr
Zweck ift der Fünftige beffere Weltzuftand, alfo die nothwendige
Veränderung (Verbefferung) des vorhandenen.
Das pflihtmäßige Handeln ſteht darum in der Ueberzew
*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr. I. ©. 260 — 263.
„Unfere Welt ift das verfinnlichte Material unferer Pflicht ; dieß
ift das eigentlich Neelle in den Dingen, der wahre Grundftoff aller Cr:
ſcheinung.“ Weber den Grund unferes Glaubens u. ſ.f. S. W. II Abth.
III Bd. S. 185,
847
gung, daß biefe vorhandene wirkliche Welt verbeſſerungsbedürftig
if. Sie ift es, fo weit der Blick reicht. Ein großer Theil der
Menfchheit liegt noch außerhalb aller Cultur, in den Feffeln der
tohen Naturgewalt, in der Wildheit des Dafeind; innerhalb der
Givitifation, welche Völker vereinigt und Staaten gebildet hat,
befriegen fich die Völker; innerhalb der einzelnen Staaten herrfcht
dad Unrecht in der Form des Geſetzes, und felbft innerhalb der
guten Beſtrebungen, in der Welt ber fittlichen Arbeit, hält jeder
fein Gefhäft für das befte und wichtigfte und Eümmert fich nicht
um den fittlichen Gefammtzwed.
Bir find überzeugt von der Wirklichkeit diefer Mängel, dies
fer Zuftände, die in ber That find und nicht fein follen. Diefe
Beltmängel enthalten für und fo viele Weltaufgaben, von deren
wirklicher Geltung wir eben deßhalb auch überzeugt find. Die
Ausbreitung der Cultur in der noch nicht civilifirten Welt, die
Errichtung des Rechtsſtaates in der civilifirten, woburd nad)
außen die Kriege befeitigt, nach innen die Gerechtigkeit beför-
dert, die Herrſchaft des Unrechts, der felbftfüchtigen Intereffen,
und damit bie öffentliche Verfuchung zum Böfen aus dem Wege
geräumt, ber Friede gegründet und dadurch die Menfchen getrie:
ben werben, fich zu gemeinfchaftlichen Culturzwecken zu vereiniz
gen: das find Aufgaben, nothwendig zu ergreifen und zu löſen,
um den Uebeln der Welt abzuhelfen *).
Alle diefe Aufgaben gehen auf die vorhandene Welt, auf
den Zweck des irdifchen Lebens, auf dad Weltbefte. Diefes ir-
difche Ziel iſt erreichbar. Es wird erreicht durch einen ſolchen
Caufalzufammenhang der Handlungen, aus dem nothwendig bie
Befeitigung der Uebel, die Verbefferung der Weltzuftände her:
vorgeht. Nun zeigt der Weltladf, daß in diefem Zufammen:
*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr. IL S. 264--278,
848
hange bie fittliche Abſicht der Weltverbefferung keineswegs bie
Sache ausrichtet, daß fie oft dad Wenigſte, oft gar nichts ver- "
mag, oft fogar mit dem beflen Willen ven Zuftand der Dinge
verfchlimmert. Vielmehr find es häufig gerade die Laſter und Un=
thaten, welche die Welt vorwärts bringen. Die felbftfüchtigen
und fehlechten Intereffen befämpfen fich gegenfeitig, richten fich
gegenfeitig zu Grunde und erzeugen dadurch von felbft ungewollt
den befferen Zuftand. Ganz unabhängig von der Gefinnung
wãachſt, gedeiht, erhält fich das Weltbefte. Es kommt fo oft
ohne alle moralifche Abficht zu Stande; es ift Fein Zweifel, daß
es überhaupt unabhängig von aller moraliſchen Abficht, durch
ein richtiges Ineinandergreifen ber Handlungen, durch ein rich
tiged Berechnen der Erfolge zu Stande gebracht werben kann.
Die Gefinnung, in welcher gehandelt wird, thut hier nichts zur
Sache; die äußere That mit ihren Erfolgen gilt hier alles. Der
irdifche Weltzweck kann erreicht werben durch einen bloßen Mecha⸗
nismus menſchlicher Handlungen *).
4. Die überirdifhe Welt.
In diefem Mechanismus hat die menfchliche Freiheit feinen
Spielraum, fie ift daher zur Erreichung des irdifchen Weltzweckes
vollkommen entbehrlich. Verglichen mit diefem Zwecke, ift das
Sittengefes in unferem Innern leer und überflüſſig. Iſt nun
unfere Freiheit feine leere Vorſtellung, fondern unfere wahrhafte
Wirklichkeit, fo kann jener Weltzweck, der durch einen Caufal-
zufammenhang ohne Freiheit zu erreichen ift, unmöglich unfere
ganze Beftimmung fein. Gilt dad Sittengeſetz als abfolute
Realität, fo kann ed unmöglic) leer und überfläffig, fo Bann der
irdifche Weltzweck unmöglich Unfer letter Zweck, fo kann die
*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr, III. ©. 278 — 282,
849
vorhandene wirkliche Welt unmöglich unfere alleinige Wirklich
feit fein. Es ift etwas in mir, dad in diefem Leben ohne Ans
wendung, das für den höchften irdifchen Zweck felbft zwecklos
und überfläffig iftz ich muß daher einen Zwed haben, der über
dieſes Leben hinausgeht; es muß daher eine wirkliche Welt geben,
welche die irbifche nicht ift, fondern weiter reicht als dieſe: eine
überirdifche Welt. Das Sittengefeß fordert die Realität
einer ſolchen Welt; das Gewiſſen realifirt diefe Vorſtellung.
In diefer anderen überirdiſchen Welt gilt nicht die äußere That
mit ihren Erfolgen, nicht die That ald Glied in dem Gaufalnerus der
Thaten, fondern die abfolut freie Handlung, der Wille als ſolcher,
die bloße von allem Gaufalzufammenhang unabhängige Gefinnung.
In der Sinnenwelt herrfcht die That, in der Vernunftwelt bie
Gefinnung ; dort ift die Bewegung das Wirkende und Lebendige,
bier ift das Wirkende und Lebendige einzig und allein der Wille,
Ich bin abfolut frei und finnlich zugleich; ich Iebe in beiden Wel-
ten, zugleich in der irdifchen und überirdifchen, in der Sinnen»
welt und in der Wernunftwelt, alfo lebe ich fchon hier auch in
jener anderen überirbifchen Welt, ich lebe fchon auf Erden im
Himmel. „Das, was fie Himmel nennen, liegt nicht jenſeits des
Grabes; es ift ſchon hier um unfere Natur verbreitet und fein
Licht geht in jedem reinen Herzen auf” *).
5. Die beiden Welten. Glauben und Schauen.
Die Wiedergeburt.
Wie wir die beiden Welten auch unterfcheiden und dieſen
Unterfchieb in Worten ausdrücken, als finnliche und überfinnliche,
zeitliche und ewige, gegenwärtige und Fünftige, irdifche und über-
irdiſche Welt; fo find doch beide nicht fo unterfchieden, daß die
y Ebendaſelbſt. TIL Bud. Ar, II. &,281—283, Vgl. 6.285,
Bilder, Geſchichte der Philofophie. V. 54
850
zweite erſt da für und anfängt, wo die erfte für und aufhört, fon=
dern beide Orbnungen find urſprünglich in uns, jene überfinnliche
Belt ift daher in jedem Moment unfered Dafeind auf gleiche
Weiſe gegenwärtig: unfere That fält in die Sinnenwelt, unfere
Gefinnung (der reine pflihtmäßige Wille) lebt und wirkt in der
überfinnlichen. Und da unfere That nichtd ausbrüden fol als
unfere Gefinnung, fo ift der gute Wille dad Band, welches
beide Welten ‚miteinander verknüpft. Hieraus erhellt, welches
Leben ich in der Sinnenmwelt führe. Ich bethätige meine Gefin-
nung, ic) erfülle meine Pflicht, ohne auf den Erfolg zu rechnen,
ohne durch ben Nichterfolg irre zu werden, ohne die Früchte mei:
ner That zu ernten, ohne fie auch nur ernten zu wollen. Viel⸗
mehr würde die Abficht auf den Erfolg in der Sinnenwelt die
Bedingung aufheben, unter der allein ich Glied der überfinn-
lichen Welt bin. Dagegen wird die Bedingung, unter der ich
der Sinnenwelt angehöre, keineswegs dadurch aufgehoben, daß
ich handle ohne Abficht auf die Erfolge; im Gegentheil dadurch
allein bewähre ich, daß ich bie Pflicht bloß um ihrer felbft willen
thue, daß ich in Wahrheit ein lebendiges Glied bin der überfinn-
lichen Welt.
Ich könnte ein folches Glied nicht fein, wenn ich nur han⸗
deln wollte in Abficht auf den Erfolg und darum in der Sinnen-
welt, weil fie mir ben Erfolg vorenthält, weil in ihr bie reine
Gefinnung fruchtlos bleibt, nicht handeln wollte. Ich wirkte nur
um der Pfliht willen, nur für die ewige Welt; aber ich würde
für dieſe gar nicht wirken können, ohne für die Sinnenwelt
wenigſtens wirken zu wollen*).
Ic bin gewiß, daß der reine pflichtmäßige Wille nichts
Fruchtlofes ift, fondern Glied einer ewigen Ordnung, Urfache
*) Ebendaſelbſt. III Bud, Nr. III. 6.285,
851
ewiger Folgen; ich bin diefer Folgen gewiß, auch wenn ich fie
nicht fehe, mitten in einer Welt, die mir die Nichterfolge und
die Fruchtlofigkeit des guten Willens durch die tägliche Erfahrung
aufdrängt: darum ift mein Leben in diefer Welt „ein Leben im
Glauben.” Es wird „ein Leben im Schauen fein,” wenn
mir die Folgen des guten Willens, deren ich gewiß bin, auch gegen:
wärtig fein werden. Der Glaube vollendet fih im Schauen;
nicht als ob er Dadurch feiner Sache erft gewiß würde, er kann den
Grab biefer Gewißheit nicht erhöhen, denn fie ift von vornherein
abfolut [fonft wäre fie nicht Glaube], er vollendet nur feinen
Lebenszuftand*).
Wenn meine Nichterfolge in der Sinnenwelt mic, irre
machen könnten, fo lebte ich nicht im Glauben, fo wäre mein
Glaube nichts. Wenn ich an der Sinnenwelt haftete, verfloch⸗
ten in das Getriebe ihrer Intereffen, fo würde mic, jeder Nicht:
erfolg irre machen. Darum ift der Glaube an dad Ewige nur
moglich, wenn ich die Intereffen, die an der Sinnenwelt haften,
vollſtandig aufhebe, wenn ich auf das Irdifche ein für allemal
vollftändig refignire, wenn ich, wie die Schrift fagt, der Welt
abfterbe. Dieſes der Welt Abfterben ift die Wiedergeburt im
Glauben, die Umwandlung des Willens; es giebt feinen anderen
Weg zum Licht ald durch, die Läuterung des Willens, keinen an-
deren zur Lebensweisheit ald Durch die Reinigung des Herzens **).
6. Der unendlide Wille. Gottesglaube,
a. Das Geſetz der überfinnlihen Welt.
Das Band, welches an die Urfache unwiderruflich die Wir-
fung und an dieſe neue Wirkungen anfnüpft, nennen wir Gefeg:
*) Ebendaſelbſt. S. 286.
**) Ebendaſelbſt. ©. 292,
54*
x 852°
es ift die Bedingung, welche macht, daß etwas Urſache ift.
Nun bin ich gewiß, daß der gute Wille nicht zwecklos ift, daß
er Wirkungen bat, die in die Ewigkeit gehen; ich glaube an die
Realität diefer Wirkungen, alfo an das Gefeß, welches fie mit
dem guten Willen nothwendig verbindet. Ich bin diefes Geſetz
nicht, ich bin es nicht, der den Willen, den bloßen Willen, zu
einer ſolchen Urfache macht. So wenig mein Bewußtfein über
fich felbft und feine Vorftelungen hinausgehen kann, fo wenig
ann mein Wille über feine Sphäre hinaus wirken. Diefe Sphäre
iſt nur die Gefinnung. Innerhalb diefer Sphäre bin ich abfolut
frei; außerhalb derfelben bin ich abfolut ohnmächtig, und doch
bin id) gewiß, daß ich durch meine Gefinnung außerhalb derfelben
abfolut wirffam bin.
Auf den Willen kann nur der Wille einwirken. Nur der
Wille kann den Willen zur Urfache machen. Und da der end:
liche Wille nicht über fi hinauswirken, fich nicht felbft zur Ur:
fache von Wirkungen machen kann, die außerhalb feiner Sphäre
liegen, fo Tann jenes Geſetz, von deſſen Realität ich überzeugt
bin, nur ein unendlicher Wille fein: ein folcher, deſſen
wollen gleich geſchehen, deſſen gebieten gleich hinftellen ift.
Nur in einem folden unendlichen Willen kann dad Geſetz und
die moralifche Ordnung gegründet fein, in welcher mein Wille
ewige Folgen hat. Daß mein Wille pflichtmäßig gefinnt ift, daß
ich der Stimme des Gewiſſens gehorche, ift meine Sache; daß
aber diefer pflichtmäßige Wille Glied einer Welt ift, einer mora⸗
liſchen Ordnung: dad ift Wirkung allein des unendlichen Wil:
lens; er ift dad Band und der Vermittler zwifchen mir und ber
überfinnlichen Welt*).
*) Ebenbafelbft, III Bud. Nr. IV, ©. 294 — 299.
"858
b. Die Schöpfung der Sinnenweli.
Im der moralifchen Ordnung hat der Wille (die bloße Ge:
finnung) ewige Folgen. Wille kann nur auf Willen einwirken.
Die moralifche Ordnung ift eine Geifterwelt, in der die verfchie:
denen und von einander unabhängigen Willen gegenfeitig auf ein⸗
ander einwirken und ſich zu einer Gemeine vereinigen, die von
einem und bemfelben Willen, von einer und berfelben Gefinnung
belebt wird. Diefe Geifterharmonie ift nur möglich in und durch
den unendlihen Willen: er ift dad Band der Geifter, er ift die
gemeinfchaftliche Quelle der Geifterwelt und ihrer Harmonie *).
Diefe Geifterharmonie wäre nicht möglich, wenn die Geifter
nicht gegenfeitig auf einander einwirken, fich gegenfeitig mitthei⸗
len und verftehen könnten. Diefe gegenfeitige „Geiſterkunde“ ift
die Bedingung der Geifterharmonie, der Geifterwelt. Und die
„Geiſterkunde“ wäre nicht möglich, ohne daß wir übereinftim-
men über unfere Gefühle, Anfhauungen, Denfgefege, ohne daß
wir auf gleiche Weife diefelbe gemeinfchaftliche Sinnenwelt vor
flellen. Der unendliche Wille, der die moralifche Uebereinftim-
mung ber Geifter bedingt und begründet, ift auch die Bedingung
und der Grund aller Geifterharmonie: er macht, daß wir bie
felbe Sinnenwelt erbliden, ex ift der „Weltfhöpfer in ber
endlichen Vernunft," er erfchafft die Welt nur in unferem Ges
müth: die Bedingung, woraus ſich die moralifche Welt ent:
widelt, den Ruf zur Pflicht, und die Bedingung (Medium),
wodurch ſich die finnliche bildet, unfere übereinftimmenden Ge:
fühle, Anſchauungen, Denkgefege. „Nur die Vernunft ift, bie
unendliche an fich, die endliche in ihr und durch fie.” „Es ift
fein Licht, durch welches wir das Licht und alles, was in dies
fem Eichte und erſcheint, erbliden. Alles unſer Leben ift fein
*) Ebendaſelbſt. III Bud. Nr. IV. ©. 299.
S_
N
854
Leben.” Wir leben nur in ihm, wir ſehen und erkennen alles
in ihm und durch ihn, auch unſere Pflicht. Unſer pflichtmäßiger
Wille iſt ſein Wille: darum allein iſt er mächtig und in alle
Ewigkeit wirkſam. In ihm haben wir unſeren Urſprung, in
unſerer ſittlichen Geſinnung iſt er wahrhaft gegenwärtig und wirt:
fam: fo ift er in Wahrheit, wie die Eindliche Einfalt ihn empfin-
det, unfer Herzenskündiger und unfer Vater; er ift der unend-
liche Wille, wir der endliche; darum ift er durch Feine Steige
tung unfered Wefend, durch Feine Erweiterung unferer Schran-
ten, durch Feine menfchliche Analogie, auch nicht die der Perſön⸗
lichkeit, faßbar; er ift nicht dem Grabe, fondern ber Art nad
von uns verfchieben *).
7. Die religidfe Weltanfhawung.
a. Pantheismus.
In diefem Gotteöglauben ruht bie religiöfe Weltanfhauung,
in ber ſich alle Wiberfprüche in und außer uns auflöfen in eine
volle befriedigte Harmonie. Die Vorftellung der Sinnenwelt ift
gegründet in ben theoretifchen Bedingungen meiner Natur (mei:
nem Empfinden, Anfchauen, Denken), diefe Bedingungen felbft
find gegründet in meinem praktifchen Wefen, in dem Willen zur
Pflicht, in dem Gewiffen; mein Gewiſſen ift gegründet in dem
unendlichen Willen, in Gott; fo ift Die moralifche Ordnung, die
Geifterwelt, die Uebereinftimmung der Geifter, ihre gemeinfame
Vorftellung der Sinnenwelt, diefe felbft in Gott gegründet: fo
ift alles, was ift, in ihm und nichts außer ihm. Die ganze
Welt ift ein Strom göttlichen Lebens, aus berfelben einen Quelle
entfprungen, in berfelben Richtung nach demfelben Ziele be:
wegt, welches eins ift mit dem Urfprung. „Seht erfcheint mei-
) Ebendafelbft, TIL Bud. Nr. IV. &.299 — 305.
855
nem Xuge dad Univerfum in einer verklärten Geftalt. Die tobte
laſtende Maffe, die nur den Raum ausftopfte, ift verfchwunden,
und an ihrer Stelle fließt und wogt und raufcht der ewige Strom
von Leben und Kraft und That, von urfprünglichem Leben, von.
deinem Leben, Unendlicher: denn alled eben ift dein Leben, und
nur das religiöfe Auge dringt in das Reich der wahren Schön:
beit. Ich bin dir verwandt, und was ich rund um mic) herum
erblide, ift mir verwandt; ed ift alles belebt und befeelt, und
blickt aus hellen Geifteraugen mich an und rebet mit Geiftertönen
an mein Herz.” „Dein Leben, wie es der Enbliche zu faſſen
vermag, ift ſich ſelbſt fchlechthin durch fich felbft bildendes und
darſtellendes Wollen; dieſes Leben fließt, im Auge des Sterb⸗
lichen mannichfach verfinnlicht, durch mich hindurch herab in die
ganze unermeßliche Natur.” „Ein zufammenhängender Strom,
Tropfen an Tropfen, fließt das bildende Leben in allen Geftal-
ten und allenthalben, wohin ihm mein Auge zu folgen vermag,
und blidt mich an, aus jedem Punkte des Univerfums anders,
als diefelbe Kraft, wodurch es in geheimem Dunkel meinen Kör-
per bildet.” „Aber rein und heilig und deinem eigenen Wefen fo
nahe, ald im Auge des Sterblichen etwas ihm fein Tann, fließet
diefes dein Leben hin ald Band, das Geifter mit Geiftern in
Eins verſchlingt, als Luft und Aether der einen Vernunftwelt,
undenkbar und unbegreiflich und doch offenbar daliegend vor dem
geiftigen Auge”). \
b. Optimismus.
In diefer pantheiftifchen Anfchauungsweife, die das Weltall
auffaßt ald Erfcheinung des göttlichen Lebens und Wollend, liegt
unmittelbar der Gedanke der Theodicee. Die gefammte Welt:
ordnung erfcheint ald Ausdruck des unendlichen Willens. Jedes
y öbendaſelbſt. III Bud. Ar, IV. S. 315 — 316,
856 -
ihrer Glieder, jede ihrer Begebenheiten ift von Gott gewollt, ge:
fügt und darum wohlgeorbnet. Auch die Sinnenwelt ift eine
nothwendige Bedingung in dem göttlichen Weltplan, der irdifche
Weltʒweck ein Mittel zur moralifchen Vollendung der Menfchheit,
die Uebel der Welt, die phyſiſchen und moralifhen, Mittel zur
Erreihung des irdifchen Weltzwecks; felbft das Böſe in der
Welt, weil es befämpft werben foll und zu feiner Bekämpfung
beftimmte Pflichten in uns aufruft, ift ein Ruf zur Pflicht, eine
Stimme Gotteö, die zu unferem Gewiffen redet, und in diefem
Sinne gilt auch vom Böfen, daß es ift nur durch den ewigen
göttlichen Willen. „So ift alles gut, was da gefchieht, und
abfolut zweckmäßig. Es ift nur eine Welt möglich, eine durchs
aus gute.” „Ich weiß, daß ich in der Welt der höchften Weis:
heit und Güte mic) befinde, die ihren Plan ganz durchfchaut und
unfehlbar ausführt; und in diefer Ueberzeugung ruhe ich und bin
ſelig·).“
OL
Summe des Ganzen.
Vergleichung mit Descartes, Malebrande, Spinoga, Leibniz und Kant.
Das Gewiffen realifirt die Vorſtellung der Sinnenwelt,
der Menfchheit, der moralifhen Weltorbnung, der göttlichen
Weltregierung. Oder anders ausgedrückt: dad Gewiſſen macht,
daß wir von ber Realität unſeres Zwecks (dev Pflicht), darum
auch von der Realität der Objecte und des Schauplatzes unfe:
ver pflichtmäßigen Wirffamkeit, von der Realität der Sinnen=
welt, ber Menfchheit, der fittlichen Weltordnung, der göttlichen
Weltregierung, von der Realität des göttlichen Willens, der
alles in allem ift, mit abfoluter Sicherheit überzeugt find. Diefe
Ueberzeugung iſt unſer Glaube. Dieſer Gottesglaube iſt unſere
*) Ebendaſelbſt. III Bud, Nr. IV. S. 307. S. 313,
857
Religion. Das von der religiöfen Weltanfhauung durchdrun⸗
gene Leben ift unfere Seligfeit. Selbftvergeffenheit macht den
Charakter des Lebens und der Wirklichkeit. Religiöſe Selbftver:
geffenheit, Verfenktfein in die Anfchauung des göttlichen Lebens,
macht unfer Dafein zum „feligen Leben“.
Das Gewiffen ift die Stimme Gottes in uns, die praftifche
Gottesidee, durch die allein wir ber eigenen Realität und ber
Realität der Dinge außer uns gewiß werden. Hier treffen wir
eine merkwürdige Webereinftimmung zwifchen Fichte und Des»
cartes. Man hat die Ausgangspunkte beider häufig verglichen
und darf dieſe Vergleichung ausdehnen bis in die Art und Weife,
wie fich in beiden der Zweifel an aller Realität und die Selbft-
gewißheit ald Grund aller anderen Gewißheit auöfpricht. Ebenfo .
wichtig, aber weniger bemerkt ift die Aehnlichkeit und ber Unter:
fchied beider in der Auflöfung jened Zweifels, in der Begründung
und Befeftigung der Realität. Was bei Descartes die theore-
tifche Gottedidee ift und leiftet, das ift und leiftet bei Fichte die
praftifche Gottesidee oder dad Gewiſſen.
Nur in und durch Gott find wir ficher, daß wir in feiner
Traumwelt leben, fondern in einer wirklichen und gemeinschaft:
lichen Welt, find wir unferer Uebereinftimmung und der Wirk:
lichkeit unſerer Objecte ficher. „Er ift das Band der Geifter“ ;
‚wir fehen die Dinge in Gott”: fo fagte Malebrande in
folgerichtiger Abkunft von Descartes; fo fagt wörtlich in ber
folgerichtigen Entwidlung feiner eigenen Gedanken auch Fichte.
Iſt aber die Realität unferer Objecte, unfere Uebereinftim:
mung, voir felbft in Gott gegründet, fo ift nichts, das außer
ihm wäre; unfer Licht ift fein Licht, unfer Beben ift fein Leben,
er ift alles in allem, die ewige Weltordnung felbft. Die Gotted:
idee von Descarted und Malebranche erweitert fich zur Gotted-
858
ibee Spinoza’s, zu bem Gedanken des AU-Einen, zur pan-
theiftifhen Weltanfhauung. Denfelben Gang nimmt Fichte:
Gottesidee. Das ift, was man feine „Annäherung an Spinoza”
genannt hat, nur daß bei Diefem die ewige Ordnung der Dinge
naturaliſtiſch, bei Fichte moralifch gefaßt wird; aber das eine
Weltgefeg gilt bei beiden fo, daß wir es nur begreifen, indem
wir der Sinnenwelt und ihren Begierden entfagen und abfterben.
Iſt die Weltordnung eine göttlich gewollte, alfo gleich der
göttlichen Weltregierung, fo ift fie durchgängig gut und vollkom⸗
men, und auch ihre Uebel find nothwendige und wohlgeorbnete
Mittel zum Guten. In diefem Gedanken ber Theodicee, ge
gründet auf die Idee der höchften Weisheit und Güte, ſtimmt
Fichte überein mit Leibniz. Auch bei Leibniz ift die Sinnen:
welt gegründet in unferer Vorſtellung, in den vorſtellenden Kräf:
ten ber Monaden, und diefe find gegründet in Gott. Auch die
Idee der Weltharmonie als eines unendlichen Stufenreichs gött:
lichen Lebens und göttlicher Vollkommenheit ift ein Berührung:
punkt zwifchen Leibniz und Fichte.
Aber die Wirklichkeit der görtlichen Weltordnung ift bei
Fichte nicht Gegenftand ber theoretifchen Erkenntniß, nicht Sache
des Wiflens, fondern des Glaubens und ber im Glauben gegrün:
beten religiöfen Weltanfiht: darin unterfcheibet er ſich von den
dogmatifchen Philofopgen und flimmt überein mit Kant. So
wiederholen ſich hier in Fichte auf eine eigenthümliche und zu⸗
gleich nothwendige Weife Dedcarted, Malebranhe, Spinoza,
Leibniz und Kant.
Im Rüdblid auf feine früheren Schriften, durfte Fichte
fagen, daß er in ber Beftimmung des Menfchen die Entwid:
lung feiner Glaubendlehre gegenwärtig am weiteſten fortge:
führt habe, Das gilt namentlich in Betreff der Gottesidee und
859
des religiöfen Lebens. Religion ift Leben, Leben in Gott, feliges
Leben. ° Die fittlihe Entwiclung der Menfchheit vollendet ſich in
der Religion. Hier eröffnen fich die nächften Aufgaben: die
Religionslehre als „Anweifung zum feligen Leben” und die Ent:
wicklung der Menfchheit zur Religion in den „Grundzügen des
gegenwärtigen Zeitalterd”.
Die Schrift über die Beſtimmung des Menfchen enthält die
Begründung der Wiffenfchaftölehre aus der natürlichen Anſicht
der Dinge, die im Zweifel endet, die Begründung des Glau-
bens aus dem Wiffen, das ſich in Traum und Schein auflöft,
die Vollendung der Wiſſenſchaftslehre in ber Glaubenslehre: fo
umfaßt fie in der Summe das ganze Spflem mit dem Keime zu
neuen Entwidlungen und bildet daher recht eigentlich den Ueber:
gang zur legten Periode und deren bebeutfamen Anfang.
Viertes Capitel.
Grundzüge des gegenwärtigen Beitalters.
Unter ben Beruföpflichten des Gelehrten gab ed eine, auf
welche alle übrigen ſich flügten, und von deren Erfüllung die der
anderen abhing. Der Gelehrte foll die künftigen Bildner des |
Menſchengeſchlechts erziehen; er Tann ed nur dann, wenn er bie
gegenwärtige Bildung felbft in fich trägt in der vollfommenften
und lebendigften Weife, wenn er auf der Höhe fteht des eigenen
Zeitalterd; und da jede Erhebung in dem Fortgange der Menſch⸗
heit nur möglich ift durch die Erfenntniß des vorhandenen Zu:
ftandes, fo ift es die Einficht in das Weſen des eigenen Zeit:
alters, die unter den Pflichten des Gelehrten recht eigentlich ben
Mittelpunkt ausmacht. Was Fichte in feiner Sittenlehre und
in feinen Vorlefungen über die Beflimmung und dad Weſen des
Gelehrten von dem legteren fordert, ift zugleich eine Aufgabe,
die er fich felbft ſtellt. Seine Vorträge über die Grundzüge des
gegenwärtigen Beitalterd hängen damit genau zufammen; fie
find dem Zeitpunkte wie dem Geifte nach den erlanger Vorträ-
gen über das Wefen des Gelehrten unmittelbar benachbart, fie
fallen in den Winter von 1804 zu 1805, diefe in den darauf
folgenden Sommer. Auf ihre Zufammengehörigfeit mit der
861
Schrift über die Beftimmung des Menfhen und den Anmeifungen
zum feligen Leben habe ich ſchon am Schluffe des vorigen Ca⸗
pitels hingemwiefen*). Ich will gleich hinzufügen (mas fpäter
erſt ſich näher erflären läßt), daß auch die Reden an bie beutfche
Nation fo genau mit biefen Vorträgen verbunden find, daß
Fichte felbft fie ald deren Fortfegung wollte angefehen wiffen.
L.
Grundbegriff des Zeitalters.
1. Grundbegriff der Menfchheit.
Dad gegenwärtige Zeitalter fol in feinen Grundzügen ge:
fhildert werden, nicht etwa durch eine Sammlung empirifcher
Beobahtungen, fondern fo, daß aus dem Weſen dieſes Zeit:
alters, aus dem Grunbbegriffe deffelben jene Grundzüge abgeleitet
werben ald nothwendige Phänomene. Der Grundbegriff verhält
fi zu den Grundzügen, wie die Einheit zu der Mannigfaltige
teit, die aus ihr hervorgeht. Die Faſſung der Aufgabe ift daher
tein philofophifch. Zunächft ift diefer „Grund⸗- oder Einheitd-
begriff”, aus dem die Ableitung geſchehen fol, zu finden.
Nun ift ein beſtimmtes Zeitalter felbft nur ein Glied in dem
Zuſammenhange aller Zeitalter, in dem Entwicklungsgange ber
gelammten Menfchheit, es ift eine unter allen möglichen Epochen
der gefammten Zeit und kann feinem Wefen nach nur aus diefem
*) ©. oben S. 859. Beiläufig made ich darauf aufmerffam,
daß Fichte'3 Schilderung des gegenwärtigen Zeitalters mit feiner Schrift
über Nikolai in einer Reihe von Zügen ungeſuchter Weife überein-
ſtimmt. Was Fichte dort an einem Individuum bargeftellt hatte, wird
bier aus dem Charatter des Zeitalterd entwidelt, für deſſen Typus ihm
Nilolai als eins ber beften Gremplare galt. Man vergl. in diefer Rüd:
fiht beſonders dieſes Gapitel Nr. II. 1-8,
862
Bufammenhange richtig begriffen werden. Darum erweitert fih
die Aufgabe. Welche Epoche der Menfchheit ift dad gegenwärtige
Beitalter? Hier erhebt fich die Vorftage: welches überhaupt find
die Epochen der Menfchheit? Welches ift der Grund: und Ein-
heitsbegriff des gefammten menfchlichen Erdenlebens?
Wir nehmen die Menſchheit als Gattung und fragen, welche
Epochen dieſe Gattung in ihrem Leben nothwendig durchlaufen
muß? Die Frage löft ſich aus der richtigen Einſicht in die Be:
ſtimmung des Menfchen, in den Zweck feiner Entwidlung, in
den BWeltplan der Menfchheit. Diefer Zweck ift dad Vorbild,
dad wir verwirklichen, das Bernunftgefeg der menfchlichen Natur,
das wir erfüllen follen: wir ſollen vernunftgemäß leben. Da
aber die Vernunft unfer eigenes felbfithätiged Wefen ausmacht,
fo fol der Menſch diefes Vorbild ſich felbft fegen und es mit
Bewußtfein und Freiheit verwirklichen: er fol fein Leben „nad
der Vernunft mit Freiheit einrichten”. So formu—
Hirt fich der Zweck deö gefammten Erdenlebens. Daraus erhellen
die nothwendigen Epochen feiner Entwidlung *).
2. Die Hauptepoden der Menfhheit.
& Anfang und Ziel.
Was die Menfchheit erft vermöge ber Freiheit aus fich machen
fol, das kann fie unmöglich ſchon fein vermöge der Freiheit.
Dad Grundgefeß alles menfchlichen Lebens ift die Vernunft, dies
ſes Geſetz kann nicht aufhören zu wirken, aber ber Unterfchieb
ift, ob es ald Naturgefeß oder ald Freiheitögefeg wirkt; ob das
vernunftmäßige Leben ein Product unferer Freiheit ift oder nicht.
Wirkt die Vernunft in und ald Naturgefeg, fo handeln wir
*) Grundzüge bes gegenwärtigen Zeitalter. S. W. III. Abth,
II Bd. I Borlefung. S. 3—7,
863
diefem Gefege gemäß ohne ein Bewußtfein der Gründe, alfo
nach einem dunkeln Gefühl, die Vernunft ift nicht unfer bewußter,
mit Freiheit entworfener Zweck, fondern fie herrfcht als Inſtinct
ober als blinder Trieb. Wir werden demnach in der Menfchheit
zwei Hauptepochen unterfcheiden: in der einen herrfcht ber Wer:
nunftinftinct, in der andern die Bernunftfreiheitz
jene ift nothwendig die erfle und niebere, diefe die fpätere und
höhere Stufe. Es ift nothwendig, daß die Menfchheit von jener
niederen Stufe übergeht zu dieſer höheren. Aber wie ift ein
folcher Uebergang möglich *)?
b. Die Uebergangsepochen.
Die beiden Epochen verhalten fich, wie das blinde Vernunft:
leben zum fehenden ; dad Bewußtfein macht Die Vernunft fehend,
ihrer felbft mächtig und frei: es ift daher das Vernunftbewußt⸗
feinoder die „Wernunftwiffenfchaft,” wodurch jener Ueber:
gang vermittelt und der Vernunftinftinct aufgehoben wird zur
Vernunftfreiheit. Diefes Mittelglied bildet eine dritte Epoche
zwiſchen den beiden früheren.
Indeffen. kann von dem Vernunftinftinct zur Vernunftwif:
fenfchaft auch nicht unmittelbar fortgefchritten werden. Es ift
bier als Mittelglied ein Zwifchenzuftand nöthig, in dem wir vom
Vernunftinftincte und erft losmachen und befreien. Der Trieb
zu einer ſolchen Befreiung Tann aber erft dann eintreten, wenn
wir die Herrfchaft des Vernunftinftinctes als einen Zwang, ald
ein und auferlegtes Joch empfinden, das wir abſchütteln wollen.
Der Zwang kommt von außen. So lange die Vernunft ald In:
ſtinct herrfcht, empfinden wir ihre Herrfchaft nicht ald Zwang;
fie muß und gegenübertreten ald fremdes Gefeg, ald äußere Ge-
walt, als Autorität, um als eine zwingende Macht empfunden
*) Chendafelbft. I Borlefung. S. 7—9,
864
zu werben, gegen welche unfer perfönlicher Freiheitstrieb reagirt.
Es treten mithin zwifchen die Epoche des Vernunftinſtincts und
die der Vernunftwiffenfchaft zwei andere Epochen ein, welche den
Uebergang vermitteln: die Herrfchaft der Bernunftautori-
tät und die Befreiung von biefer Herrfchaft, unmittelbar
von ber Autorität, mittelbar von dem Inftinet und dadurch von
der Vernunft überhaupt, eine Befreiung, die in der Auflöfung
alles Bindenden befteht, die mit der Autorität auch die Ber:
nunft felbft über Bord wirft und fo zu fagen dad Kind mit dem
Bade audfchüttet.
Es find demnach fünf Hauptepochen, durch welche die menſch⸗
liche Gattung fortfchreitet und das Ziel ihres irdifchen Lebens er:
reicht. Diefes Ziel ift die Verwirklichung ihres Zwecks, „ber
vollendete Abdrud ihres ewigen Urbildes”, das Wernunftleben
als freie That, als Product der Freiheit, als fittliches Kunft-
werk. Daher wird bie Epoche ber Vollendung am beften bezeich⸗
net werben ald die der „Vernunftkunſt“.
Die erfie Stufe der Entwicklung ift die unbedingte Herr:
ſchaft der Vernunft durch den Inſtinct, die legte die freie Herr-
ſchaft der Vernunft in Weife der Kunft; von dem Vernunft:
inftinet zur Vernunftkunſt führt der Weg durch die Vernunft:
wiffenfchaft, zu welcher felbft durch eine Periode der Befreiung
hindurch fortgefchritten werben muß, welche leßtere vorausſetzt,
daß die Vernunft aus der innerlich treibenden Macht des Inftincts
übergegangen ift in die äußerlich zwingende Macht der Autorität
(Vernunftinftinet, Wernunftautorität, Befreiung von beiden,
Vernunftwiffenfchaft, Vernunftkunſt).
Die beiden erflen Epochen de3 Vernunftinſtincts und ber
BVernunftautorität können bezeichnet werden ald das Zeitalter der
blinden Vernunftherrfchaft, die beiden letzten Epochen der
865
Bernunftwiffenfchaft und Vernunftkunft als das der fehenden
Vernunftherrſchaft. Im der Mitte ſteht die Epoche der Befrei-
ung. In ihr herrfcht die Vernunft nicht mehr in blinder Weife
und noch nicht in bewußter, d. h. fie herrſcht gar nicht, vielmehr
herrſcht die abfolute Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit und da⸗
mit die völlige Ungebundenheit; im Gegenfage zu dem Gattungd-
zwecke, von bem man ſich losmacht, wird hier das treibende
Princip die Selbſtſucht des Individuums.
Die Geltung des Vernunftzwecks in der Menſchheit bedingt
deren ſittlichen Zuftand. Jedes Zeitalter hat daher feinen ausge:
fprochenen fittlichen Charakter: das erfte if der „Stand der Un=
ſchuld“, das zweite der „Stand der anhebenden Sünde”, die
Vernunft will ald Autorität gelten, und damit beginnt fchon dad
Widerftreben gegen ihre Gebote; das dritte, in welchem das Ge:
gentheil der Vernunft herrfcht, ift „der Stand ber vollendeten
Sündhaftigkeit”, die Bernunftwiffenfchaft macht den „Stand der
anhebenden“ —, die Vernunftkunſt den der „vollendeten Recht:
fertigung und Heiligung”. Im diefer Charakteriftif, welche die
Angelpunkte in der Entwicklung bes Menſchengeſchlechts ald Un
ſchuld, Sünde und Rechtfertigung bezeichnet, erkennen wir den
religionsphiloſophiſchen Grundgedanken und das Beſtreben des
Philoſophen, feine Betrachtungsweife ber religiöfen anzunähern *).
Nun muß man nicht meinen, daß dieſe Zeitalter haarſcharf
getrennt find, ald ob fie mit der Art von einander gehauen wäz
ten; vielmehr verfchieben fie fi mannigfaltig in einander; in
jedem Zeitalter find Charaktere möglich aus jedem; es giebt in
jedem Zurüdgebliebene und Worausgeeilte, auch folche, die in
der Erfenntniß der ewigen Wahrheit frei find von aller Zeit.
*) Ebendaſelbſt. I Vorl. S. O— 12. Vgl. II Vorl, S. 17—18,
V Vorl. ©. 65.
diſqer, Gefhihte dge Phllofophie V. 55
866
Nicht alle, die in einer beftimmten Zeit leben, find auch Reprä:
fentanten des Zeittypus. Won diefen Repräfentanten allein ift
die Rede, wenn bie Grundzüge eines Zeitalters entwidelt wer-
den. Eine Entwidlung ift allemal eine Begründung und ald
folche gar nicht geftimmt zu elegifchen Betrachtungen. Was hier
entwidelt wird, ift ein Gattungstypus und ald folcher Fein Ge
genftand ber Satyre*).
5. Befimmung des gegenwärtigen Zeitalters.
®. Aufklärung.‘
Vergleichen wir mit diefen Epochen das gegenwärtige Zeit:
alter, fo ift Mar, daß es die Periode der blinden Bernunftherr:
ſchaft (die beiden erſten Epochen) hinter ſich hat; das Paradies
ift verloren, die Autorität ift gebrochen; die Vernunftautorität
herrſcht nicht mehr, die Vernunfterkenntniß herrfcht noch nicht:
die Gegenwart fällt zufammen mit jener mittleren Epoche, die
mit der Autorität auch ber Vernunft fich entledigt und den Stand
der vollendeten Sündhaftigkeit ausmacht.
Jetzt läßt fich der Grundbegriff dieſes Zeitalters beftimmen.
Die Befreiung von ber Autorität (die der Vernichtung aller Auto-
zität gleichkommt) gefchieht durch eine zerfegende Kritik, die
nichts gelten läßt, ald was dad eigene Denken deutlich verſteht
und klarlich begreift. Diefe Befreiung durch den Begriff macht
den Charakter der Aufklärung, die den auögefprochenen Ges
genfaß bildet zu dem Zeitalter der Autorität, in welchem bie
pofitiven Lehr⸗ und Lebensſyſteme herrichen, die blinden Glaus
ben und unbedingten Gehorfam fordern. Aufklärung ift auch
bie Vernunfterfenntniß (der Geift der nächften Epoche), aber dad
Princip ihrer Aufklärung iſt ein ganz anderes ald das der gegen:
*) Ebendaſelbſt. I Vorl, S. 13— 15,
.
867
märtigen. Auf dieſes Princip kommt es an, auf biefe fpecififche
Differenz der beiden Zeitalter, die im Begriffe der Aufklärung
verwandt find. Sie verhalten ſich grundverfchieden zu der Ver:
nunft felbft, die dad Wefen der Menfchheit und deren Gattungs:
zweck ausmacht *).
b. Der gemeine Menſchenberſtand.
In feinem Widerftreben gegen die Vernunftautorität will
dad gegenwärtige Zeitalter überhaupt nicht gelten laffen, das
ſich als Gattungszwed, ald allgemeine, von der Willkür der
Einzelnen unabhängige, in ihnen wirkfame, über fie mächtige
und erhabene Vernunft ausfpricht. Gilt der Zwed des Ganzen
als das wahrhaft Wirkliche, fo find ale Individuen nur Organe
diefed Zwecks, nur Glieder der Menfchheit, fo ift das eben der
Menſchheit (Vernunft) in Wahrheit ein einiges, in fi be
ruhendes Leben, zu dem fich die Einzelleben verhalten als vor⸗
übergehende Erfcheinungsformen und Mobificationen. Dieß ift
es, was bie Aufklärung ald Vernunftwiſſenſchaft bejaht, dagegen
die Aufflärung des gegenwärtigen Beitalterd verneint. In bie:
fem Punkte liegt die Differenz. Daher behält die Denkweiſe diefes
Zeitalters nichts übrig, ald was nach Abzug der Gattung und im
Gegenfage dazu bleibt: die bloße nadte Individualität, das Ins
tereffe ber individuellen Selbfterhaltung und des individuellen
Wohlſeins, den Verftand für diefe Lebenszwecke, für deren Er:
haltung und Förderung, „den gemeinen (gefunden) Menfchenver-
ftand”**). Das ift die Seele des gegenwärtigen Zeitalterd und
feiner Aufklärung: die Aufllärung des gemeinen Menſchen⸗
verftandes. Nichts gilt, ald dad Begreifliche, nichts ift die:
fem Verftande begreiflicher ald das eigene Wohlfein, als das
*) Ehendafeldft. II Vorl, S. 19— 21. Vgl. I Vorl, ©. 11.
**) Ebenbajelbft. II Vorl. ©. 26. Vgl. V Vorl, ©. 66.
55*
868
Nüsliche, Wohlfeile, Bequeme; nur die Erfahrung fagt, was
diefen Zweden dient oder nicht dient. Daher gilt die Erfahrung
als die einzige Duelle aller Erkenntniß und jede Erfenntniß
für nichtig, die über die Erfahrung hinausgeht, vor allem die
Syſteme der Philofophen, die mit ffeptifcher Geringfchägung be:
handelt werben. Sittenlehre und Religion aufklären, heißt fie
reinigen von allen unnügen Vorſtellungen, fie verwandeln in
baare Glüdfeligkeitölehre; aus der Moral wird eine Theorie des
menſchlichen Eigennuges, aus Gott ein nützliches Wefen, welches
unfer Wohlſein beforgt, aus der Religion ein nothwendiges Er-
gänzungsmittel der Politik, eine Stüge des gerichtlichen Beweiſes
uf. f. Auf diefe Weife wird man den Aberglauben los, der die
früheren Zeitalter verdunkelt hat; auf diefe früheren Zeitalter
fieht man herab, wie aus woltenlofer Höhe, mit dem Bedauern,
daß fie fo Dunkel waren; um fo mehr freut man fich der eigenen
Klugheit, labt fih an feiner Pfiffigkeit und läßt in diefem be:
haglichen Selbfigefühle der Eitelkeit und dem Heinlichen Hochmuth
die Zügel fchießen. Was über die gemeinen Lebenszwecke hinaus:
geht, gilt als abergläubifche Schroärmerei, deren ſich der gefunde
Menfchenverftand entledigt. Diefe Entleerung von allen Ideen
iſt das eigentliche Gefhäft der gegenwärtigen Aufklärung, diefe
„leere Freiheit” und „Ausklarung“ ihr eigentliher Charakter *).
4. Dad vernunftwidrige und vernunftgemäße Leben.
Nur für feine perfönlichen Zwecke leben, heißt für den Ver:
nunftzwed® der Gattung nicht leben, das heißt vernunftwidrig
leben. „Es giebt nur eine Tugend, die — ſich felber ald Perfon
zu vergeſſen, und nur ein after, das — an fich felbft zu den-
Een.” „Wer auch nur überhaupt an ſich als Perfon denkt und
*) Ehenbajelbft, II Borl, S. 21-33. Qgl, II Vorl. 6, 40,
869
irgend ein Leben und Sein und irgend einen Selbftgenuß begehrt,
außer in ber Gattung und für die Gattung, ber ift im Grunde
nur ein gemeiner, Pleiner, fchlechter und dabei unfeliger Menfch*).”
In und für die Gattung leben, heißt fi) in feinen perfün-
lichen Zweden vergeffen, fein eben an die Ideen fegen, ſich aufs
opfern, daS heißt vernunftgemäß leben. Diefe Aufopferung,
der Grundzug des vernunftgemäßen Lebens, kann und entgegen
treten in dem Bilde eines fremden Lebens, in jenen großen und
feltenen Menfchen, die für die Menfchheit gehandelt und geduldet
haben, in dem Beifpiele der Religiöfen und Heroen; oder wir
leben fie felbft. Im der Betrachtung eines folchen Lebens fühlen
wir und erhoben und verweilen darin mit äfthetifhem Wohlge⸗
fallen und unwillkürlicher Biligung; ein folches Leben felbft zu
leben ift Seligfeit.
Jeder weltgefchichtliche Held ift ein Bild der Aufopferung,
ein Werkzeug und lebendiger Ausdrud der Gattung. Man fage
nicht, daß große Heldenthaten, wie der Eroberungdzug Aleranz
ders, gefchehen find aus eitlem Ehrgeiz, in der Rechnung auf
Nachruhm. Der Ruhm, deſſen Vorgefühl den Helden begei»
ſtert, iſt nichts anderes ald der Ausſpruch der Gattung über den
Werth feiner That, ald der Werth feiner That für die Gattung,
ald das fichere Gefühl, daß er etwas für die Gattung Werth-
volles und darum Ruhmmürdiges thut. Er handelt im Glauben
an die Gattung. Er richtet ſich nicht nach dem, was die Welt
ehrt, das thut der Fleinliche, eigennüßige, zur Aufopferung uns
fähige Ehrgeiz; fondern was die Welt ehren fol, richtet fich nach
ihm. Seine That giebt den Mapftab; er ſchafft die Ehre, die
ihm zu Theil wird, wie ein Künftler das Ideal ſchafft. „So
erzeugt nicht der Ehrgeiz große Thaten, fondern große Thaten
9) Gbenbafelbft, III Vorl. ©. 55.
870
erzeugen erft im Gemüthe den Glauben an eine Welt, von der
man geehrt fein mag *).”
Selbſt thun, was in der Borftellung als fremdes Bild uns
ſchon erhebt und erquidt, aufgehen in das eine Bernunftleben,
eined werden mit dem Zwede der Gattung, mit der Idee, und
als deren Organ handeln: das ift der Lebenszuſtand, in welchem
die Aufopferung aufhört ein Opfer zu fein und Genuß wird.
Wenn das eigene Selbft völlig aufgeht in die Idee, fo ift der
Bwiefpalt aufgehoben, der die Selbftaufopferung und Selbflver-
leugnung nöthig macht, fo giebt es fein Selbft mehr, das zu vers
leugnen wäre, fein Pflichtgebot mehr, das die Selbfiverleug-
nung fordert, fein Leid, keine Störung, feinen Schmerz
mehr: dad Leben ift lauter Luft und Liebe; ed ift der höchſte
Genuß oder die Seligkeit. Dieſes felige Leben, der freie Aus:
fluß unferer Urthätigkeit kann ſich äußern in verfchiebener Form,
im fünftlerifchen Schaffen, im Ordnen und Bilden der menfchlichen
Geſellſchaft, im wiffenfchaftlichen Denken, welches die Welt aus
dem Gebanfen wiedererzeugt, am höchften und umfaflendften in
der Religion, in dem „Hinftrömen aller Thatigkeit und alles
Lebens, mit Bewußtfein, in den Einen unmittelbar empfun:
denen Urquell des Lebens, die Gottheit. Wem dieſes Bewußt⸗
fein in feiner Unmittelbarkeit und unerfchütterlichen Gewißheit
aufgeht und ihm zur Seele wird alles feines übrigen Wiffens,
Denkens und Sinnend, der ift eingegangen in den Beſitz nie zu
trübender Seligkeit.” „Wer in dieſem Glauben und in diefer
Liebe fein Feld adert, ift umendlich edler und feliger, ald wer
ohne diefen Glauben Berge verfegt **)."
*) Ebenbafelbft. III Vorl. S. 45—48. Vgl. IV Vorl. S. 51.
**) Ehendafeldft. IV. Borl, S. 55—63. Beſond. ©. 60. 61.
— — —— — —
871
I.
Der wiſſenſchaftliche Zuſtand des Zeitalters,
Der Grundbegriff des gegenwärtigen Zeitalters iſt far, er
ift beftimmt durch die fittliche Lage der Epoche in dem Entwick⸗
lungsgange der Menſchheit, er ift erleuchtet durch feinen Gegen
ſatz; dieſes fein Gegentheil, das vernunftgemäße Leben, ift zu:
gleich das Ziel des folgenden Zeitalterd, Aus dem Grundbegriff
folgen die Grundzüge, bie ſich natürlich nur in den Individuen
des Zeitalters deutlich und beftimmt ausprägen, welche die eigent-
lichen „Repräfentanten” deffelben find.
Nichts fol gelten, als was der Berftand jedes Individuums
klärlich begreift. Wo biefe Richtung nicht bloß als Inftinet und
dunkle Streben, fondern als bewußte Marime und Maßſtab,
wonach alles beurtheilt wird, fich fund giebt, da hat das Zeit:
alter feinen eigentlichen Ausdruck, da ift es in feinem Element.
Diefed zum Princip oder zur Marime erhobene Begreifen, „ber
Begriff des Begriffs”, ift der Grundzug des Zeitalters, der alle
übrigen beherrſcht. Nun ift die Form, in welcher der Begriff
berrfcht, die Wiſſenſchaft; daher wird die Grundform des Zeit:
alters in feiner wiffenfchaftlichen Verfaſſung, in der eigenthüm-
lichen Art derfelben gefucht werben und die Charakteriſtik der
ganzen Epoche befhalb von hier auögehen müffen.
Da’ nun die Gattungszwedle oder Ideen unter dem Geſichts⸗
punkte des gemeinen Menfchenverftandes als nichtig und himärifch
erfcheinen, fo herrſchen die empirifchen Erfahrungsbegriffe, und nur
was burch diefe begriffen wird, gilt in der Vorftellung dieſes Zeit:
alters. Dadurch entfteht ein fo leerer und platter Rationalismus,
daß die Epoche felbft dagegen reagirt, ohne ihre Grundlage zu
verlaffen. Es wird nicht behauptet, daß es einen höheren Stand»
punkt des Begreifend gebe; fo weit reicht das Wermögen des
82
Zeitzer; wie, wieimehr bit es in der Vorausſetzung ftehen,
des ter gemeine Berüxıt leinte, was rationeller Weife geleiftet
werben farı Uber turd die Beiflung nicht befriedigt, vichtet
Rob tes Zeitz’zer gegen dea Rationalismus felbft und flüchtet fih
in des Untegreif.ie wat Umerflänblide. Es meint, die Wahr:
beit zu bedea. wenn es die ralſche Marime umkehrt und bad
Inetirazie zu die Eee des Nationalen, da3 Unbegreifliche an
tie dei Begreiriten ent. Dieie Reaction des Zeitalterd gegen
mch Heihi, ii eher’zäs einer feiner Charakterʒũge. Die Marime
unt ihre Umfebrung fat zwei Principien vom gleichem Werth
und gleider Gruntisge*).
1. Das ibeenlofe Begreifen.
Bir nehmen die Marime erſt in ihrer pofitiven Korm und
entwideln daraus zunächf bie Geiflesart des Zeitalter, die
ſtehende Grundform jeiner wiſſenſchaftlichen Berfaffung. Ihm
fehlt mit den Ideen die wahre Quelle alles energifchen, Träftigen,
eindringenden und conjequenten Denkens. Daher ift es kraftlos
und ſchwach. Es Kann ſich nicht concentriren, fondern geht zer:
freut von Object zu Object; es Tann ſich ebenfo wenig in einen
Segenfland vertiefen und benfelben durchdringen, fondern bleibt
überall auf der Oberfläche ; es iſt unfähig zu einem folgerichtigen
Gange der Gedanken, in weldem ein Begriff nothwendig den
anderen erzeugt, fondern raifonnirt über diefelben Dinge heute
fo und morgen anders.
Ebenſo zerfiveut, oberflächlich, zufammenhangslos ift die
Art feiner Mittheilung. Es hat die Kunſt erfunden, die Wil:
fenfchaft ohne allen inneren Zufammenhang, in alphabeti:
ſcher Folge zu lehren. Ohne inneren Zufammenhang giebt &
9 Ebendaſelbſt. V Vorl. S. 70—72.
873
feine Klarheit. Daher ift die Klarheit, welche biefes Zeitalter
allein zu geben vermag, die unächte und ermüdende Deutlichkeit
der Wiederholung. Je öfter etwas wiederholt wird, um fo beffer
muß es nad) der Meinung deö Zeitalterd gefaßt werben ohne
alles weitere Nachdenken. Daher gelten ihm folche Schriften für
claſſiſch, die zu ihrem Verſtändniß Fein Nachdenken fordern.
Anders war es bei den Alten, deren wahrhaft claſſiſche Schriften,
wie fie felbft tief durchdacht find, nur denkend gefaßt werden
Tönnen. Es ift daher Fein Wunder, wenn dieſes Zeitalter eine
fo große Abneigung empfindet gegen die claffiichen Studien des
Alterthums, die ihm ald unnüß erfcheinen*).
2. Die Langeweile und der Wit des Zeitalters.
Eine folche Art des Dentend und Mittheilend muß eine
Geifteöleere erzeugen, die auch ald folche empfunden wird. Das
Zeitalter hat und fühlt diefe Leere. Das Gefühl der Geiftesleere
ift die Langeweile. Das Zeitalter iſt Tangmeilig in dem doppel⸗
ten Sinn, daß ed Langeweile macht und felbft welche hat. Es
langweilt fi) und möchte dem abhelfen, indem es den Zuftand
der Leere durch den Wis, die Sandwüſten feines Ernſtes durch
einige Körnchen Scherz unterbricht. Das Bedürfniß nach Wit
ift groß, aber die Kraft ift ſchwach. Wo follte auch diefes Zeit:
alter die Kraft des wirklichen Wibes hernehmen? Es giebt kei—
nen ideenlofen Wis, und dad Zeitalter ift ideenlos. Es haft bie
Ideen, darum ift feine Liebe zum Wit eine unglüdliche Liebe.
Der ächte Wit ift Die Wahrheit (nicht ald Glied einer methodifchen
Entwidlung, fondern) in unmittelbarer Anſchaulichkeit, jedem fo-
gleich einleuchtend. Wie die Wahrheit, hat auch der Wiß eine
pofitise und negative, eine directe und indirecte Form. Die ne:
*) Chendafelbft. V Vorl. S. 72—74,
874
gative Form der Wahrheit ift Werkehrtheit ihres Gegentheils.
Wird die Verkehrtheit des Unwahren unmittelbar auſchaulich ge
macht, fo erfcheint fie lächerlich. Das ift der negative Wi, die |
Quelle des Lacherlichen. Der pofitive Wit ift gleichfam „der
Leiter des Lichts”, er läßt die Wahrheit unmittelbar einleuch⸗
ten; der negative ift „ber rächende Blitzſtrahl“, er zeigt unmit-
telbar die Nichtigkeit des Unmahren, indem er die Thorheit
mit einem Schlage erhellt und dadurch vernichtet.
Das Zeitalter fucht den Wis in ber Form des Lächerlichen.
Es möchte alle lächerlich machen, was nicht feiner Meinung ift.
Dabei verfährt es ohne allen Wit. Jede andere Meinung ift
verkehrt, mithin lächerlich, alfo muß man fie auslachen: davon
ift das Zeitalter durchdrungen als von einer Maxime. &3 acht,
nicht aus Witz, fondern weil es feine Marime fo mit fich bringt.
Worüber es lacht, muß natürlich lächerlich, alfo verkehrt fein;
fo gilt ihm dad Lächerliche zulegt ald Probirftein der Wahrheit,
Um dad Berkehrte anſchaulich machen zu können, muß man nicht
felbft verkehrt fein. Die Repräfentanten dieſes Zeitalters find zu
verkehrt, um wigig fein zu fönnen, fie verhalten fich zum Wit
nicht als feine Erzeuger, fondern als fein Gegenftand; nicht fie
haben den Witz, fondern der Witz hat fie; fie Lachen „mit frem⸗
den Baden” *).
3. Drudenlaffen und Leſen ald Zeitmode.
Aus dem Spiele des gehalt: und zwedlofen Räfonnements
macht dieſes Zeitalter Ernſt, e8 verwandelt ſich in ein ftehendes
Heerlager formaler Wiffenfchaft, in welchem der Rang ver:
fhieden, die Bewaffnung überall gleich iſt. Ueber alles Mög:
liche leicht und mit dem Scheine der Fertigkeit räfonniren zu Fön:
*) Ebendaſelbſt. V Vorl. S. 75-77.
875
ıen, gilt ihm ald Geift und Zweck des Geiſtes, ald Zweck der
Srziehung, felbft der Volkserziehung. Darum hat ed in ben.
lugen dieſes Zeitalters einen fo großen Werth, feine Meinung zu
agen, und es nimmt die Denffreiheit fo, daß jeder urtheilen kann
iber jedes, auch ohne etwas von der Sache zu verftehen. Wäre
ie Denkfreiheit durch das Denken bedingt, fo wäre ja die Freis
yeit Damit aufgehoben. Gehörig zu meinen, feine Meinung zu
agen, verfchiedene Meinungen zu fammeln, ift darum recht
igentlich der Stolz und dad Gefchäft diefes Zeitalters. Wer bie:
ſes Gefchäft am beften verficht und treibt, gilt ihm als Führer.
Indeffen es ift nicht genug, viel zu meinen, wenn jede biefer
werthvollen Meinungen weggeroeht wird mit dem Hauche der
Luft; es ift nöthig, fie in dem Andenken der Zeit aufzubewahren
und ftehend zu machen, fie zu firiren in flehendem Schwarz auf
fiehenden Weiß. Man muß daher feine Meinungen bruden und
wieder drucken laffen: dadurch unterfcheiden fich bie geifligen
Senatoren vom Bolt, die Gelehrten vom Haufen; und dad
Heerlager der Repräfentanten theilt fich in bie zwei Claſſen der
Schriftfteller und Lefer*).
Aber es ift nicht genug, Bücher druden zu laffen; man
muß auch Einrichtungen treffen, die es verhindern, daß man fie
vergißt, und zugleich überflüffig machen, daß man fie lieft. Sind
die Bücher gedruckt, fo werben fie compilirt und die Compilatio⸗
nen aufgefpeichert in fortlaufenden Zeitfchriften, Bibliotheken
und fogenannten Gelehrtenzeitungen. Was einer gefagt hat,
wird wieder gefagt, und da jeder doch eine eigene Meinung haben
muß, fo wiederholt der Compilator nicht bloß die Meinungen
des anderen, fondern fegt feine eigene hinzu. Das nennt man
„tecenſiren“. Man braucht nur noch diefe Recenfionen zu leſen,
” Ebendaſelbſt. VI Vorl, ©. 78— 83,
\
|
876 j
um fid auf der Höhe der Zeit zu halten, und hat min nicht weiter
nöthig, die Bücher zu lefen*). |
Im Uebrigen lieft das Zeitalter, wie es ſchreibt; die Leſer
find wie die Schriftfteller, fie confumiren, was dieſe probuciren,
und mit derfelben Sinnesart. Das Zeitalter ift ebenfo Lefefelig,
wie es ſchreib⸗ und drudfelig ift. Schon das bloße Druden:
laffen hat in feinen Augen einen großen Werth, ebenfo das blofe
Leſen. Die Schriften gelten ihm nicht ald Bildungsmittel , fon:
dern als Lefefutter. Man lieft, nicht um zu lernen, zu denken,
fich geiftig befruchten zu laflen, fondern um zu Iefen; es wird
fortgelefen ohne Anhalt, alles mögliche durch einander, in der
Abficht den Geift zu zerſtreuen, von der Anftrengung deö eigenen
Denkens zu entbinden und in eine Art angenehmen Schlummer
zu wiegen. Diefe Abficht wird auch glüdlich erreicht. Ein folches
Leſen, wie ed ald Mode des Zeitalters herrfcht, wirkt nicht bil:
dend, fonbern betäubend, dem Tabakrauchen vergleichbar. Wer
es dazu gebracht hat, völlig zwecklos zu leſen und gar nichts ba:
bei zu denken, ift „der veine Leſer“, der fich zur Literatur ver:
hält, wie der Türke zum Opium. Die Geiſtesſchwächung ift
das unaudbleiblihe Refultat. Die Gewohnheit des gedanken:
Iofen Leſens erzeugt die Unfähigkeit, den Geift anzufpannen und
einen firengen Speenzufammenhang zu faflen, am wenigften in
mündlicher Mittheilung. Um den Geift zu flärken, wird es da:
ber nöthig fein, die mündliche Mittheilung wieder zu erneuern
und die Alleinherrfchaft der fchriftlichen durch die Wirkſamkeit des
unmittelbar lebendigen Worts zu befchränten **). |
*) Ghendafelbft. VI Vorl. S. 83 — 80. So oft Fichte konnte, hat |
er das Recenſentenhandwerk in feiner Nichtigkeit entblößt und mit gerechter
Verachtung behandelt. Man vergl. die Schrift über Nikolai, S. ob. S.
815, die Vorlefung über das Weſen des Gelehrten. X. S. 0b. 6.769,
**) Grunbz. de3 gegenw. Zeitalt. VI Vorl. ©. 87—90. !
4
877
4. Urſachen und Abhülfe des Uebels.
Man fage nicht, daß diefer Cultus des Buchſtabens, diefe
Werthachtung des Schreibens und Leſens keineswegs ein befon=
derer Zug des gegenwärtigen Beitalterd und überhaupt Feine ver-
ächtliche Sache fei. Weber ift ed gut, daß es fo ift, noch iſt es
immer fo gewefen. Es ift mit der Zeit fo geworden und hat in
der Gegenwart den Culminationspunkt erreicht. In den claffifchen
Zeiten des Alterthums wurde weniger gefchrieben, und die ſchrift⸗
liche Rebe galt als Abbild der mündlichen. Wit dem Chriftens
thum erft erwachte dad Intereffe ber allgemeinen Bildung; mit
der paulinifchen Faffung des Chriftentyums wurde der Grund ges
legt zu einer dialektiſchen, diöputatorifchen Behandlung des Glau⸗
bend, zu theologifchen Begriffsauseinanderfegungen und dogmas
tifchen Streitigkeiten, für welche die Schrift ein unentbehrliches
Mittel war; die Kirche zwar zgelte und beherrfchte im Intereffe
der Glaubenseinheit den Gebrauch und die Geltung der Schrift
(Bibel), aber die Kirchenreformation löſte die Feffel und erhob
das gefihriebene Wort zu einem unfehlbaren Anfehen und das
gefchriebene Buch zum Entfcheidungsgrunde aller Wahrheit. Hatte
die Schrift bis dahin ald Religionsmittel gegolten, fo galt fie jetzt
als Religionsgrund; in Folge des Proteftantismus und der Bibel:
überfegung in die Volksſprachen wurde das Bibellefen zu einer Art
Eultus, zur Religionsübung, zum Mittel der Seligkeit, Leſen⸗
tönnen zur Bedingung des Glaubens, Und fo ift erft durch die
Reformation der Buchftabe und mit ihm dad Leſen und Schreiben
zu einem Anfehen gefommen, daß nicht bloß alle menfchliche
Geiftesbildung , fondern fogar das menfchliche Heil felbft davon
abhängig erfcheint. Wurde die Bibel von jedermann gelefen,, fo
mußte fie bald auch für jedermann erklärt werden; die fogenannte
natürliche Bibelerflärung der Deiften, welche die locke ſche Philos
878
fophie („das ſchlechteſte Syſtem“, wie Fichte ed nennt) zur Richt:
ſchnur nahmen, machte ſich Bahn, und das Räfonnement,, das
Meinen, Schreiben, Drudenlaffen u. f. f. hatte kein Ende.
Immer breiter, flacher und feichter wurde das Schrifttgum, und
zulegt kam, wie es nicht ander fein konnte, jene Geiftesfünd-
fluth, die das gegenwärtige Zeitalter überſchwemmt hat.
Die Uebel liegen am Tage. Was die Wiffenfchaft durd
Verflahung und Aushöhlung bis zur leeren Form verfchuldet
bat, kann nur die Wiffenfchaft heilen, indem fie fich vertieft,
aus ihrer wahren Quelle erneut und mit ihrem ächten Inhalte er:
fült, Diefe Reform der Wiſſenſchaft ift die Aufgabe und das
Biel des folgenden Zeitalter. Erſt auf der Grundlage der Ver:
nunftwiffenfchaft wird e8 im Reiche des Wiſſens einen geordneten
und ficheren Fortfchritt geben, wird die Literatur wie bie Kectüre
nicht mehr zerftreuend, fondern bildend wirken; erft dann wird
man auch im Stande fein, iteraturzeitungen richtig zu fchrei:
ben und fo einzurichten, daß fie den wifenfchaftlichen Zuftand
des jedeömaligen Zeitpunftes einleuchtend darftellen und wirkliche
Jahrbücher find des wiffenfchaftlihen und künſtleriſchen Geiftes
der Zeit”).
5. Dad Gegentheil des platten Rationalidmus.
Schwärmerei und Naturphiloſophie.
Unmöglidy Tann das Zeitalter in ben flachen Rationalismus
feiner Begriffe mit voller Befriedigung aufgehen. In dem Ge
fühl feiner Leere liegt ſchon die Nichtbefriedigung und der Antrieb
zu einer Reaction gegen fich felbft, die dem herrfchenden Zuge, |
der. nicht als das Begreifliche anerkennen will, dadurch die
Spitze zu bieten ſucht, daß fie dad Unbegreifliche zur Geltung
*) Ebenbajelbft. VII Borl, S. 96—111.
879
bringt. Das ift keine Erhebung über das Niveau des Zeitalter,
fondern einfach deſſen Kehrfeite, eine Geiftesrichtung, die aus
der Wurzel des Zeitalterö, aus dem Gefühl feiner Leere, aus
feiner Sucht nad) Neuem hervorgeht: dad ebenbürtige Gegentheil
feined Rationalismus ; beide find Zwillingögeburten aus demfelben
Schooße. Es ift nicht Aberglaube, auch nicht ein veligiöfes ober
theologifched Bedurfniß, das hier dem Unbegreiflihen dad Wort
vebet, fondern ed ift der Verſtand des Zeitalters felbft, der die
berrfchende Marime umkehrt und das Zrrationale zur philoſophi⸗
ſchen Maxime, zum Princip des Räfonnements macht. Das
Irrationale ift hier ein Erdachtes, ein Gedanke, der über die
gewöhnliche Erfahrung hinaus⸗- aber nicht bis zur Klarheit der
Idee fortgeht, alfo unklar ift und bleibt. Diefer Flug über die
Erfahrung hinaus in's Unklare ift der Charakter dr Schwär⸗
merei. Wenn das Denken ſich von der gemeinen Begierde frei
macht und aus eigener Kraft thätig ift, fo kann es aus zwei ver⸗
ſchiedenen Gegenden der menfchlichen Natur hervorgehen: ent:
weder aus der finnlichen Individualität oder aus der Gattung;
im letzteren Falle ift es das vernunftgemäße Denken, welches fich
praftifch und theoretiſch bethätigt; feine theoretifche Form ift die
Vernunftwiſſenſchaft oder die ächte Speculation. Die Schwär:
merei entfpringt aus der ſinnlichen Individualität, fie iſt ihrer
Natur nach nicht praktiſch, fondern bloß theoretiſch, fie will
fpeulatio fein, fie ift unächte Speculation, die ſich zur äch⸗
ten verhält, wie bie Garricatur zum Ideal. Der Grund und
Boden der finnlichen Individualität ift die Natur; an biefem
haftet jene unächte Speculation und nimmt baher nothwendig die
Richtung auf die finnliche Natur; fo wird die fpeculative Schwär-
merei eine Art Naturphilofophie und kann in Beine andere
Form eingehen. Unfähig, ihre unklaren Gedanken zu begründen,
880
giebt fie feine Beweiſe, ſondern vermeift ſtatt der Gründe jeden
an dad Vermögen, womit fie (hwärmt, und nennt biefes Ber-
mögen „intellectuelle Anſchauung.“ Sie ift nicht Philofophie,
fie ift ebenfowenig Naturwiffenfhaft. Diefe gründet fich auf
Beobachtung und Erperiment, jene dagegen fest an die Stelle
des naturkundigen Erperiment3 den naturunkundigen Einfall und
phantafirt die Natur, flatt fie zu ſtudiren. Bloße Einfälle kön⸗
nen ebenfowenig in bad Innere der Natur eindringen, als der
bloße Wille und die Befhwörungsformeln im Stande find, einen
Zwang auf die äußere Wirkfamkeit der Naturkräfte auszuüben.
Beides ift Zauberei. Diefe aus Schwärmerei und unächter
Speculation gemachte Naturphilofophie möchte theoretifch zaubern;
fie möchte durch Einfälle und Phantafie Naturerkenntniß hervor:
bringen. Sie kann es nicht; das Zeitalter ift in feiner Schwär:
merei ebenfo ohnmädhtig als in feinem Aufllärungsvünfel *).
*) Ebenbafelbft. VIII Vorl. S. 111—128. Die ganze Bor:
leſung zielt, ohne den Namen zu nennen, auf Schelling und deſſen
Naturphiloſophie. Während diefe über die Wiſſenſchaſtslehre hinausge-
gangen fein will, läßt Fichte die Naturphilofophie als einen nothwendigen
Zug in dem wiſſenſchaftlichen Zuftande des ſchon verfallenden Zeitalter
erſcheinen, weldes überwunden wird durch die Epoche der Wiſſenſchafts-
lehre. Er behandelt die Naturphilofophie, welche den Fortſchritt für ſich
in Anfpruc nimmt, als einen zurüdgebliebenen und rldwärts ſchreiten-
den Standpunkt. gl. damit Vorl, über das Wefen des Gelehrten. IL
(S.B. III Abth. I Bd, S.363flgb.): „Laſſen Sie fid) darum ja nicht
blenben ober irre machen durch eine Philoſophie, die ſich ſelbſt den Na:
men der Naturphiloſophie beilegt und melde alle bisherige Philoſophie
dadurch zu übertreffen glaubt, daß fie die Natur zum Abjoluten zu
maden und zu vergöttern ftrebt, Jene Philofophie ift, weit entfernt, ein
Vorſchritt zur Wahrheit zu fein, lediglich ein Rüͤcſchritt zu dem alten
unb verbreitetften Irrthume.“ S. oben III Bud. Cap. XVI. Rr. J. 4.
©. 766,
Fünftes Capitel.
‚Sortfegung. Der geſellſchaftliche und religiöfe Zuſtand
des Beitalters.
Die gefellfchaftlichen Zuftände eines Zeitalters find bedingt
durch die flaatlichen, dieſe letzteren find in ihrer Form und Ord⸗
nung beftimmt durch den Staatszweck, den fie verwirklichen,
und ber Staatszweck felbft ift in feinen verfchiedenen Faſſungen
abhängig von der Einficht und der Entwicklungsſtufe des gefamm-
ten Zeitbewußtfeind. Wir haben in bem wifjenfchaftlichen Zu:
flande der Gegenwart das herrfchende Zeitbemußtfein Eennen ges
lernt und jest von hier aus die Grundzüge der vorhandenen Ges
ſellſchaftszuſtande, den Charakter ded gegenwärtigen Staatölebend
zu ſchildern.
Was der Staat in den Culturländern der Gegenwart iſt,
das ift er geſchichtlich geworden; ber Charakter des heutigen
Staated bildet eine beflimmte Stufe in der menfchlihen Staatd-
entwicklung überhaupt. Um diefen Charakter zu erkennen, müfs
fen wir aus dem Grundbegriffe ded Staated feine Formen und
feine Entwidlungäftufen ableiten, und da der Staat als folder
ein Product der Menfchengefchichte ift, fo können wir feinen Urs
forung nur aus dem Begriffe der Gefchichte richtig beurtheilen.
Daher ift der Begriff der Gefchichte die erfte und der Begriff bed
Bifger, Geſchichte der Phllofophle V. 56
882
Staates die zweite zu löfende Borfrage, um den geſellſchaftlichen
Zuſtand deö gegenwärtigen Zeitalters philoſophiſch zu faflen.
L
Begriff der Geſchichte.
1. Bott und die Entwidlung der Menſchheit.
Alle Geſchichte ift Entwicklung des Bewußtfeind oder des
Wiſſens, eine fortfcreitende Zeitreihe, deren Erfüllung die fort:
fchreitende Erfenntnig ausmadht. Wäre die Einficht von vorn-
herein abfolut, fo bedürfte fie Peiner Entwidlung; würde fie je
abfolut, fo bebürfte fie Feines Fortſchritts und Feiner Entwid-
lung weiter; in dem erſten Falle könnte die Entwidlung gar nicht
anfangen, im zweiten müßte fie irgendwo enden, in beiden wäre
fie und mit ihr die Gefchichte felbft aufgehoben. Der Begriff der
Geſchichte fordert daher eine ewige Aufgabe des Bewußtſeins,
einen Gegenftand der Erkenntniß, der nie aufhört ein folder zu
fein, der ſtets den Charakter des Gefegten und Gegebenen behält,
darum im Wege fortwährender Erfahrung erkannt fein will, dem
gegenüber das erfennende Bewußtſein empiriſch ift und bleibt
und darum nothwendig fich fpaltet in die Mannigfaltigkeit der
Individuen und Perfonen. Jene ewige Aufgabe aber würbe kei—
nen Sinn haben, wenn ihre Löfung unmöglic wäre; vielmehr
iſt ihre Löſung abfolut nothwendig; fie befteht im Wiſſen, in
dem Wiſſen, welches Feiner Entwidlung bedarf, alles Ent-
ftehen und Vergehen und damit ale Veränderung von fich aus:
fließt: in dem abfoluten Wiffen, welches gleich ift dem ewigen,
wandellofen, fehlehthin nothwendigen Sein. Diefes Sein ift
Gott. Gottes Sein und Wiffen find identifch, alles Andere ift
Entwidtung des Wiſſens, Abbild Gottes, ewige Entwiclung,
zu ber zwei Bedingungen nöthig find: 1) ein Erfenntnißobject,
883
welches nie aufhört, als gegebenes zu erfcheinen (ſtehendes Object
zu fein), d. i. die Welt ald Natur, und 2) ein Erkenntniß-
fubject, welches nie aufhört ſich ald empirifches Bewußtſein zu
verhalten, d.i. die Menfchheit in der Mannigfaltigkeit der
Individuen und Perfonen. „So gewiß daher Wiffen ift, —
und diefes ift, fo gewiß Gott ift, denn es ift felber fein Dafein;
— fo gewiß ift eine Menfchheit, und zwar als ein Menſchen⸗
gefhleht von Mehreren*).”
Das Leben der Menfchheit ift Entwidlung; Inhalt und
Aufgabe diefer Entwidlung ift die Menfchheit ald Gattung, die
Selbſtverwirklichung der Vernunft, deren Ziel darin befteht, daß
fih das gefammte menfchliche Leben mit Freiheit zu einem Aus:
drude der Vernunft geftaltet. Diefe Entwidlung ift die Ge=
ſchichte des Menſchengeſchlechts. Diefer Begriff erleuchtet mit
dem Ziele der Gefchichte zugleich deren Urfprung.
2. Urfprung der Geſchichte.
Normalvolt und Wilde.
Was aus einem nothwendigen Begriffe folgt, ift felbft noth⸗
wendig. Den Charakter einer ſolchen Nothwendigkeit haben ein
zelne Begebenheiten in der Befonderheit ihrer Umftände nie; fie
fönnen daher auch nie a priori deducirt, fondern nur, fo weit fie
erweislich find, von der Erfahrung ausgemacht werden. Was
den Urfprung der Gefchichte betrifft, fo giebt es hier Feine er—
weißlichen Facta. Was darüber in der Form von Begebenheiten
erzählt wird, iſt erdichtet oder mythifch. Wollte die Philofophie
die allgemeinen Bedingungen der Geſchichte überhaupt als eine
Reihe einzelner Begebenheiten deduciren, fo würde fie eine Ur—
*) Grundzüge des gegenw. Zeitalt. IX Vorl. S. W. III Abth.
U, S. 128 — 133,
56*
884
geſchichte erdichten und auf einen ähnlichen Irrweg gerathen, als
jene Natutphilofophie, von der vorher die Rede war. Die Frage
geht auf die Möglichkeit der Gefchichte als folcher, abgefehen von
der befonderen Art und Weife, wie fich die zur Gefchichte noth:
menbigen Bedingungen in einzelnen Begebenheiten verwirklicht
haben *).
Nun ift klar, daß unmöglich im Anfange der Entwicklung
ſchon fein konnte, was erft ald Ziel erreicht werden foll: bie
Herrſchaft der Vernunft in der Form der Freiheit. Es ift ebenfo
klar, daß aus der Vernunftlofigkeit niemals die Vernunft hervor:
gehen kann. Daher find wir genöthigt, in der Menfchheit irgend:
wo einen Urftand anzunehmen, in welchem die Vernunft herrfchte
nicht als Freiheit, fondern als Inftinet oder Naturgeſetz, nicht
als Product der Arbeit und Wiffenfchaft, fondern gleichſam als
parabiefifcher Zuftand eines glüdlich begabten, in allen Lebens:
äußerungen vernunftgemäßen, im Urbefig und Genuß der Eul-
tur befindlichen „Normalvolks“.
Aber die Ausbildung der Vernunft ift Zweck der menfc-
lichen Entwidlung. Wäre die ganze Menfchheit von vornherein
ſchon im Zuftande der Vernunftcultur, fo wäre der Zweck ber
Entwidlung und damit diefe felbft aufgehoben. Unmöglicy kann
daher das Normalvolf die ganze Menfchheit umfaflen. Vielmehr
* find wir genöthigt, dem Normalvolke die übrige Menfchheit ent:
gegenzufegen in einem Urfiande, der nicht dad Vermögen ber
Vernunft, aber deren Bildung eben fo vollfommen entbehrt, als
das Normalvolk fie hat: der Zuftand wilder über den Erbboben
zerſtreuter Völker.
Nun Tann Gefchichte erft da beginnen, wo ber vorhandene
Lebenszuſtand in feiner Gleichförmigkeit unterbrochen wird und
*) Ebendaſelbſt. IX Vorl. ©. 135 u, 136,
885
etwas Neued eintritt. Der ifolirte Zuſtand des Normalvolkes
ift und bleibt in feiner Art ebenfo gleichförmig, als ber ifolirte
Zuftand der Wildheit: beide Urftände der Menfchheit find ges
ſchichtslos und darum vorgefchichtlih. Die Gefchichte felbft kann
erft anfangen, wenn jene beiben Urformen der Menfchheit ſich
berühren und mifchen, wenn dad Normalvolf fich zerftreut über
die Site der Uncultur, und ber Conflict beginnt zwiſchen Cultur
und Wildheit. Mit diefem Conflict entfteht die Gefchichte, der
Proceß der Entwidlung, die allmälige Cultivirung der Menfch-
heit; erſt jetzt entftehen gefellige und flaatliche Orbnungen, deren
Aufgabe ed iſt, den Begriff des vernunftgemäßen oder abfoluten
Staates zu verwirklichen”).
3. Geſchichte und Erziehung.
Die Annahmen eined Normalvolks (abfolute Eultur), wilder
Völker (abfolute Uncultur) und der Mifchung beider, melde
nad) Fichte der Begriff der Gefchichte zu deren Entſtehung for-
dert, laſſen fich leicht aus einem in der Wiffenfchaftölehre einheis
mifchen Gefichtöpunfte erflären. Schon die Rechtölehre hatte
gezeigt, daß die menſchliche Freiheit, um fic in Thätigkeit zu
feßen, ber Aufforderung von außen bebürfe. Gefchichte ift Ent-
wicklung zur Freiheit. Cine ſolche Entwidlung ift Erziehung.
Zur Erziehung find zwei Bedingungen nöthig: Erziehende und
Zuerziehende, Erzieher und Zöglinge. Sol die Gefchichte eine
Erziehung des Menſchengeſchlechts fein, fo find in der Menfch-
beit ſelbſt zwei vorgefchichtliche Urzuftände nothwendig: ein er:
stehender oder zur Erziehung fähiger Stand im Beſitze der Bil:
dung und ein erziehungsbebürftiger ohne alle Bildung; jener ift
dad Normalvolk, diefer find die wilden Völker.
*) Ebendaſelbſt. IX Vorl, 6. 133 — 135,
886
IL
Begriff des Staates.
1. Der Staat ald Repräfentant der Gattung.
Sol in der Entwidlung oder Geſchichte des Menfchenge-
fhlecht3 der Gattungszwed der Menichheit verwirklicht werden,
fo müffen alle individuellen Kräfte diefem Zwede dienen und auf
denfelben gerichtet fein; es muß eine Anftalt geben, welche die
Individuen nöthigt, mit allen ihren Kräften diefe Richtung zu
nehmen, auch ohne daß in ihrer Einfiht und in ihrem Willen
der Zweck felbft gegenwärtig ift. Sie müffen dem Zwecke dienen,
um ihn zu wollen, um ihn erfennen und felbftthätig ergreifen zu
lernen. Diefe Anftalt ift der Staat. Daraus erhellt fein Be:
griff. Er vereinigt die Individuen unter einem gemeinfchaftlichen
Zwed und macht fie dadurch zu einem gefchloffenen Ganzen, zu
wirklichen Repräfentanten ber Gattung. Im Staatszweck, als
dem gemeinfchaftlichen die Einzelnen beherrfchenden Zwecke, ift
der Form nach der Gattungszweck gegenwärtig. Der Staat ift
der wirkliche Ausdrud der Gattung. Eben deßhalb müffen ſich
die Einzelnen zum Staatszwede verhalten, wie fie ſich zum Gat-
tungszwecke verhalten ſollen. Sie ſollen nichts ſein als Organe,
dienende Werkzeuge der Gattung. Darum liegt es im Begriffe
des Staats, daß er alle Individuen auf gleiche Weiſe für ſeinen
Zweck in Anſpruch nimmt, alle Kräfte jedes einzelnen Indiviz
duums: d. h. er nimmt alle ganz in denfelben Anſpruch, er for:
dert im Dienfte des Ganzen die Anftrengung aller Kräfte ohne
Ausnahme. Wozu diente auch irgend eine Kraft im Staate,
wenn fie dem Staate nicht diente? Der Zweck des ifolirten
Individuums ift Genuß, der Zwed der Gattung ift Eultur.
Was dem Staatszwecke nicht dient, dient nicht zum Gultur:
887
zwede, zur Bildung des Ganzen, auch nicht zur individuellen
Selbftbildung, fondern wuchert aus in Barbarei*).
2. Entwicklungsformen des vernunftgemäßen Staats,
Stufen der Freiheit.
Die Form alles’ ftaatlichen Lebens befteht demnach in ber
Unterordnung ober Unterwerfung ber Einzelnen unter dad Ganze,
unter den Staatözwed, unter alle. Diefe Form hat zwei Fälle:
entweder find alle unterworfen ober nicht. Der zweite Fall näher
beftimmt: einige find nicht unterworfen, einige herrfchen, die
anderen werben beherrfcht. Der erfte Fall hat eine zweifache
Möglichkeit: alle find allen unterworfen entweder auf gleiche ober
nicht auf gleiche Weife. Nicht auf gleiche Weife: fo ift die Un—
terwerfung aller unter alle nur negativ, jeder hat feine ihm eigene
Nechtöfphäre, die der andere nicht flören darf; diefe Rechts-
fphären felbft find an Umfang und Macht ehr verſchieden, jeder
iſt berechtigt, jeder ift Unterthan, nur der eine mehr, der andere
weniger. Hier ift Gleichheit des Recht, aber nicht Gleichheit
der Rechte. Diefe eriftiet erft da, mo alle allen unterworfen
find auf gleiche Weife,
So haben wir drei Hauptformen der flaatlihen Ordnung:
1) bie Unterwerfung ift nicht allgemein, 2) die Unterwerfung ift
allgemein, aber ungleich, 3) die Unterwerfung ift allgemein und
gleih. Nach dem Grade der Rechtögleichheit geſchätzt, iſt, die
erfte Form die niedrigfte, die dritte die höchfte Stufe in der Er
widlung des vernunftgemäßen Staats. So find mit dem Ber
geiffe des Staats die möglichen Formen und mit diefen die Ent:
widlungöftufen deffelben gegeben”). "
*) Ebendaſelbſt. X Vorl, S. 143—148,
**) Ebendaſelbſt. X Vorl. S. 148—152.
888
Der Grad der Rechtögleichheit bedingt den Grad der bürger:
lichen Freiheit. Man Tann perfönliche Freiheit haben ohne bür-
gerliche; die bürgerliche ift die rechtlich (durch Verfaffung) ge:
ſicherte, die auf der niedrigften Stufe der Staatsordnung gar
nicht, auf der mittleren in ungleihem Maße, auf der höchften in
vollem Maße eriflirt.
Von der bürgerlichen Freiheit ift bie politifche zu unter
fheiden. Die bürgerliche Freiheit liegt in der ausnahmsloſen Un-
terordnung aller unter den Staatözwed, die politifche Freiheit
befteht in der Beſtimmung des Staatszwecks nach eigenem Er:
meffen. Den Zweck beftimmen heißt den Staat machen oder regie⸗
ten. Nur die Regierenden find politifch frei. Es ift nöthig, daß
alle Staatöglieder Bürger (d.h. dem Staatszweck auf gleiche Weile
unterworfen) find; es iſt nicht nöthig, daß alle Regenten find;
der leitende Wille kann bei allen, bei einigen, bei Einem fein.
Danach unterfheiden fich die Regierungsverfaffungen oder Ver:
waltungdweifen ded Staats; ihre Verſchiedenheit thut der bürger⸗
lichen Gleichheit keinen Eintrag*).
Vergleichen wir mit biefen drei Hauptformen der Staats:
entwidlung und des menfchlichen Rechtsbewußtſeins die Verfaf:
fung des gegenwärtigen Staats in feinem höchften Eulturftande,
fo läßt ſich vorausfagen, daß er nach ber dritten Stufe flrebt
und ſich auf der zweiten befindet. Er fteht auf dem Uebergange
un Vermwirklihung des abfoluten Staats, ſchon mit dem an:
brechenben Bewußtfein diefer Aufgabe**). Um bie politifchen
Grundzüge der Gegenwart in ihrem Zuftande und ihrem Streben
genauer zu erkennen, müffen wir fehen, auf welchem gefchicht:
lichen Wege ſich der Charakter dieſes Staats audgebilvet hat,
*) Ebendaſelbſt. X Vorl, S. 152—156,
) Ghenbajelbft. X Borl, S. 152.
889
3. Geſchichtliche Entwicklung des Staats,
Je weiter die Entwicklung des Staats fortfchreitet, um fo
inniger durchdringen ſich Staatszweck und Gattungszweck ber
Menfchheit in derſelben Aufgabe, um fo deutlicher und beftimm:
ter entfaltet fic auch dad Bewußtſein der Uebereinftimmung bei:
der. Es wird daher in den Anfängen der Entwidlung weder ber
Staatözwed den Gattungszweck (obwohl berfelbe ſtets in ihm ge
genwärtig if) vollfommen ausdrücken, noch auch dad klare Bes
wußtfein vorhanden fein, daß es fich im Staat um die Berwirk:
lichung und Herrfchaft der menfchlichen Gattungszwecke handle.
Und da der Staatözwed in Wahrheit der Gattungszweck ift, fo
wird ſich der Staat in der Menfchheit ausbilden zunächft ohne
deutliche Bewußtſein feines wahren Zwecks; er wird nach dem
Naturgefehe des Dafeind zunächft nur auf feine Selbfterhaltung
bedacht fein, und indem er alled thut, um feinen Beftand nach
außen und innen zu fihern, wird er nach dem Naturgefege der
menfchlichen Entwicklung zugleich die Zwecke ber Gattung beförz
dern. Der Gattungszweck ift durch das Naturgefes an ben
Staatszweck gebunden und entwickelt ſich daher notwendig und
abficht8los mit diefem. So liegt es im Intereffe des Staates
und feiner Selbfterhaltung, durch Vereinigung, Zufammenwir-
tung, Ausbildung der menfchlichen Kräfte die Herrfchaft über
bie Natur zu gewinnen, bie mechanifchen Künfte nach allen Rich
tungen zu vervollkommnen und zu veredeln bis zum Aufblühen
ber äfthetifchen Kunft, die Cultur zu erhöhen, die wilden Völ—
ter zu cultiviren: das alles thut er in feinem Intereffe, bloß auf
bie eigenen Zwecke bedacht, und befördert dadurch zugleich die
Sattungszwede der Menfchheit, ohne ſich derfelben als feiner
Aufgabe bewußt zu fein”).
*) Ebendaſelbſt. XI Vorl, 6. 156—170,
890
a. Die aſiatiſchen Weltreiche.
Das allererfte Ziel des Staats ift die Cultivirung der Wil:
den, bie Herrichaft des Culturvolks (einer Maffe des Normal-
volks) über die ungebildeten Völker, die es ſich unterwirft, die
Errichtung eined Völker: oder Weltreichd unter der erziehenden
Herrſchaft eines Culturvolks, die Ausbildung einer Staats:
form, die ihrer ganzen Anlage nach Feine andere Berfaffung
haben kann als die einfeitige Unterwerfung, die Ausſchließung
aller Rechtögleichheit, aller bürgerlichen Freiheit: es ift die Form
der Despotie, wie fie fi in den afiatifchen Weltreichen
geſchichtlich darſtellt ).
b. Die griechiſchen Staaten.
Bon hier aus entrwidelt ſich geſchichtlich eine zweite Höhere
Staatöform. Es iſt nicht mehr ein Volk, welches Völker unter:
wirft, cultivirt, beherrfcht und auf dieſe Weife große Reiche
gründet, fondern ed find einzelne Abkömmlinge des Culturvolks,
welche auswandern, Golonien bilden, die eingeborenen Wilden
cultioiren, Herrfcher Eleiner Staaten und auf diefe Weiſe Grün:
der mehrerer Bleiner Königreiche werben. In dem gefchloffenen
Umfange folder Fleiner politifcher Gemeinfchaften kann unmöglich
die einfeitige (deöpotifche) Herrfchaft auf die Dauer beftehen, bier
muß ſich die Individualität und Einzelfelbftändigkeit zur Geltung
bringen, der Rechtöfinn entwideln, der Recht s ſtaa t und mit
ihm die republifanifche Staatöform entftehen und damit die bür:
gerliche Freiheit in der Gleichheit des Rechts (jeber ift berechtigt),
noch nicht in der Gleichheit der Rechte (nicht alle find gleichberech⸗
tigt oder gleich vermögend). Die Gemeinfchaft der Abftammung
und der Intereffen vereinigt die Staaten in der Form eine Bun-
des, und es entfteht eine föberative Wölkerrepublit. So entwidelt
y öbendaſelbſt. XII Vorl. ©. 171-176,
891
ſich die zweite Staatöform, der Staat der relativen Rechtsgleich-
beit, geſchichtlich in den griechifchen Völkern *).
e. Das römische Weltreich.
Es ift die Aufgabe des Rechtsſtaats, welcher zugleich der
höchſt entwickelte Culturſtaat ift, ein Weltreich zu werden, bad
die Völker des gefchichtlichen Alterthums in ſich vereinigt. Diefe
Aufgabe löſt der römifhe Staat, in feiner Borausfegung
durch griechifch = italifche Golonien, in feiner Entſtehung durch bie
Miſchung zweier Volkselemente bedingt, von denen dad eine ald
das höher cultivirte und einfeitig herrfchende dem anderen gegen⸗
überfteht ald dem rohen und einfeitig unterworfenen. Aus biefen
Bebingungen, entwidelt ſich eine ariftofratifhe Staatsver⸗
faffung zuerft in der Form des Königthums, dann in ber ber
Republik; aus dem fortdauernden inneren Gonflicte der beiden
Volksftände, dem Rechtöftreite der Patricier und Plebejer, ge
ftaltet ſich in almäliger Ausbildung der römifche Rechtsſtaat,
der nach außen in fortwährendem kriegeriſchem Wachsthume begrif-
fen, ſich zu einem Culturreiche ausdehnt, das die Völker der Welt
in fi) vereinigt.
Diefer Staat repräfentirt die Menfchheit, noch in der Form
relativer Rechtögleichheit, noch nicht in der Anerkennung, daß die
Menfchen als ſolche gleich find: ihm fehlt die Einfiht in den
wahren Grund der abfoluten menfchlichen Gleichheit, die Ein-
ficht,, daß die Menfchheit in ihrem Grunde ein BWefen ift gött⸗
lichen Urfprungs und göttlicher Beſtimmung, felbft eine Erfchei-
nung und Offenbarung göttlichen Lebens. Dieſe Einſicht ift
religiös, unter allen religiöfen Vorſtellungen bie einzige, die
fähig und berufen ift, Weltreligion zu werden und die Menfch:
heit auf die höchfte Stufe auch ihrer ſtaatlichen Bildung zu er:
y Sbendaſelbſt. XII Borl, &. 176-178,
892
heben. Das römifche Weltreich kann diefe Weltreligion aus ſei⸗
nen eigenen Gulturbedingungen nicht erzeugen; es empfängt fie
von Afien in der Form bed Chriſtenthums *).
d. Das chriſtliche Weltprincip.
Mit dem Chriftenthume tritt ein neues Princip in die Welt
gefchichte, eine neue Zeit, die noch bei weitem nicht gefchloffen
iſt. Es handelt fi um die Vermirklichung dieſes Princips und
zunächft um bie Art feiner Faffung. Man muß die abfolute Ver:
wirklichung von der relativen, die abfolute Faffung von ber be
fchränkten wohl unterfcheiden; die erfte ergreift das Chriftenthum
in feiner ewigen Wahrheit, die zweite nimmt ed vom Stand:
punkte der Zeitvorftellungen und Zeitverhältniffe, unter denen es
auftritt, und vermifcht darum die chriftliche Idee mit Elementen
judiſcher und heibnifcher Art, die nicht zu feinem wahren Weſen
gehören.
Die Menfchheit ald ein einiges Wefen, als ein einiges Leben
göttlicher Abkunft und Beſtimmung, diefes eine Leben ald Er:
ſcheinung und Ausdruck des göttlichen Lebens felbft, diefe wirk⸗
liche Einheit des Göttlichen und Menfchlichen ift der Kern und
Mittelpunkt des wahrhaft chriftlichen Glaubens, dad neue und
ewige Princip diefer Religion. Damit ift die Zweiheit, der Dua⸗
lismus des Göttlichen und Menfchlichen, die relative Selbftändig:
keit beider Seiten aufgehoben. Nur unter Vorausſetzung einer
ſolchen Zweiheit fann von einem Verhältniß, von einem Bunde,
von einem neuen Bunde zwifchen Gott und Menfchheit geredet
werden. Das ift die befchränkte, noch unfreie, von dem Geifte
des Judenthums innerlich noch nicht völlig abgelöfte Auffaffung
des Chriſtenthums. In der abfoluten Faffung gilt es als die
enthällte, offenbargeworbene Einheit des Göttlichen und Menfch-
*) Ebendaſelbſt. XII Vorl, S. 178—185,
893
lichen, in der befchränkten gilt es nur als ein neuer Bund beider,
die darum in Wahrheit nicht eines find, ſondern zwei. Die
Unterfcheidung biefer beiden Auffaffungen des chriftlichen Glau⸗
bens ift für Fichte’ Religionslehre und deren Werhältniß zum
Chriſtenthume durchaus maßgebend. Fichte felbft weiß fi im
völligen Einverftändniß mit der erften und im Gegenfaß zu ber
‚zweiten. Gr hatte beide ſchon früher unterfchieden als „johan⸗
neifche” und „paulinifche”, welche letztere ihm deßhalb als
eine Miſchung jüdifher und hriftlicher Vorſtellungsweiſen galt *).
e. Das chriſtliche Mittelalter.
Gilt das Chriftenthum als (neuer) Bund zwifchen Gott und
Menfchheit, fo erfcheint die letztere ald das mit Gott zu ver
tnüpfende ober zu verföhnende Glied. Diefe Verföhnung befteht
in ber Entfündigung. Diefe Entfündigung geſchieht durch Gna—⸗
denmittel oder Sacramente, deren Verwalter dem chriftlichen
Volke gegenüberftehen ald die Priefter, welche das Heil vermit-
ten. So wird die hriftliche Religion ein myſtiſcher Entfündis
gung: und Sarramentöglaube, ber fich ausprägtin der Priefter
herrſchaft, in der hierarchifch gegliederten Kirche, die dad ſchon
verfallende römifche Weltreich nicht mehr retten und innerlich aufs
richten, fondern, ſelbſt von ben abgelebten religiöfen Formen
mitergriffen, den Untergang beffelben nur befchleunigen kann.
Die lebendige Fortbildung des Chriftenthums bedarf neuer
geiftesfeifcher Völker, welche die Kirche bekehrt, die fich aber bei
der Einfachheit ihrer urfprünglichen Religion, ihrer Sitten und
Rechtözuftände, bei ihrer natürlichen Rechts- und Freiheitsliebe,
die fih auf die Geltung der Perfon gründet, keineswegs blind
unterwerfen und ihre Selbftändigkeit nehmen laffen. Dieß gilt
*) Ebendafelöft. XIII Borl, ©. 185 — 191. Bgl. VII Borl,
&97—100,
894
inöbefondere von den germanifchen Völkern. Es entſteht kein
Weltreich, wie die afiatifchen oder dad römifche war, fondern
eine Reihe neuer, chriftliher Staaten, die nach gegenfeitiger Un-
abhängigteit freben und nur ben religiöfen Vereinigungspunkt
des gemeinfamen Glaubens und der gemeinfamen Anerkennung
ber Kirche ald ihrer geiftlichen Gentralmacht haben. So wird in
dieſem neuen chriftlich=germanifchen Staatenfofleme die Kirche
felbft eine politifch = geiftliche Gentralgewalt, welche die völker⸗
rechtlichen Verhältniffe überwacht, beauffichtigt und die Selb:
ftändigkeit der Staaten, die ihrem eigenen Machtintereffe dient,
bevormundet. Unter biefer Bevormundung vereinigt der gemein-
fame Glaube die chriftlichen Völker des Abendlandes nach außen
in dem gemeinfamen Kampfe gegen den Muhamedanismus. Das
Mittelalter findet in den Kreuzzügen feinen heroifchen Ausdruck,
in dieſer „ewig denkwürdigen Kraftäußerung eines chriftlichen
Ganzen ald hriftlichen Ganzen“ *).
£. Der Untergang des Feudalftants und die Reformation.
Der politifche Kampf um die Selbftändigkeit befteht nicht
bloß zwifchen den chriſtlichen Völkern und Staaten, fondern auch
im Innern der Staaten felbft zwifchen den Elementen, bie ihren
Beftand ausmachen, zwiſchen den Lehnöherren und Bafallen,
auf deren Verhältnig der mittelalterliche Feudalftaat beruht. Der
Kampf beider endet auf doppelte Weife: entweder mit dem Siege
des Herrfcherö, der die nach Unabhängigkeit ringenden Bafallen
unterwirft, wie in Frankreich, oder mit dem Siege der Baal:
Ien, die ſich frei machen und felbftändige Herrfcher werden, wie
in Deutfchland. Die Kirche im Intereffe ihrer eigenen politifch-
geiftlichen Gentralmacht fucht nach außen die gegenfeitige Unab⸗
bängigfeit der Staaten, nad) innen den Kampf ber Lehnöherren
*) Ebendaſelbſt. XII Vorl S. 191—198,
895
und Vafallen zu erhalten. Das Ende dieſes Kampfes hat in
feinen Folgen nothwendig einen vernichtenden Einfluß auf die
Stellung und politiihe Gewalt der Eirchlichen Centralmacht.
Gegen ihre geiftliche Gewalt und Glaubensbevormundung erhebt
fih aus der Tiefe des germanifchen Geiftes der Kampf um die
religiöfe Selbftändigkeit. Das Ende des Feudalſtaates und bie
Anfänge der Reformation greifen in einander, und das politifche
Macht- und Unabhängigkeitöintereffe auf Seiten des Staats
geht Hand in Hand mit dem religiöfen Freiheitöbebürfnig der
Reformation. Die Kirche hört auf eine politifche Centralmacht
zu fein und wird felbft da, wo die Reformation nicht zur Gel:
tung kommt, eine bloß dogmatifche und bisciplinarifche Kirchen-
gemalt *).
g. Univerfalmonardie und Gleichgewicht.
Unter diefen Bedingungen, welche der neuen Zeit Bahn
brechen , verändert fi von Grund aus die Form und Verfaffung
des Culturſtaates. Zwei Factoren wirken in diefer Reform zu:
fammen: das Streben, der einzelnen Staaten ihre Selbftändig:
keit. zu erhalten, und dad Streben, alle chriftlichen Staaten in
einem Ganzen zu vereinigen. Die Tendenz zur Einheit hat jest
zu ihrem Träger den Staat, und zwar den mächtigften unter
den vorhandenen. Bon hier aus wird eine chriftliche Univerfal-
monarchie angeftrebt. Gegen den Vergrößerungätrieb der mäch—⸗
tigen Staaten reagirt der Erhaltungstrieb der minder mächtigen,
und fo tritt dem Streben nad) einer Univerfalmonardie.
auf der einen Seite dad Streben nad) einem politifchen Gleich»
gewichte der chriftlichen Staaten von der anderen entgegen. Um
dieſes Gleichgewicht zu erhalten, müffen die einzelnen Staaten
fo ſtark als möglich fein. Daher ftrebt jeder, fo fehr er kann,
*) Ebendaſelbſt. XIV Vorl, S. 198 —200.
896
nah Verſtaͤrkung. Wo die Berftärtung nach außen nicht mög-
lich ift, wird fie nach innen gefucht durch Menfchengewinn, Zus
nahme ber Bevölterung, Entwicklung ber Arbeitöfräfte; Hebung
des Handeld, der Staatswirthſchaft u. f. f. Jetzt tritt die Noth-
wendigkeit ein, die begünftigten Volksclaſſen für die Staats:
zwecke in Anſpruch zu nehmen. Die nicht begünftigten Claſſen
würden mehr leiften können für den Staat, wenn fie nicht den
begünftigten leiften müßten. Die bürgerliche Gleichftelung der
Rechte erfcheint jest geboten durch die Wohlfahrt des Staats,
der erſt dann im Stande ift, ben gefammten Ueberſchuß aller
Kräfte feiner Bürger für feine Zwede zu vermerthen. Erſt wenn
der Staat feine ganze innere Macht in vollem Beſitz und zu freier
Verfügung hat, kann er Einfluß üben auf die chriftliche Völter-
republik, auf die Leitung des Gleichgewichts, kann er feine Stelle
behaupten in dem Syſteme des europälfchen Völkerreichs. Er
darf feinen Vortheil außer Acht laffen, keinen Zweig der Staats-
verwaltung, feine Marime einer guten Regierung vernachläffigen,
er muß vorwärtöfchreiten, weil er fonft zurückgeht, er darf keinen
politifhen Fehlgriff thun, weil jeder Fehlgriff ſich beftraft mit
dem endlichen Untergange. Innerhalb dieſes neuen Völkerſyſtems
nöthigt darum ſchon das Intereffe ber eigenen Selbfterhaltung
jeben einzelnen Staat dazu, alle feine Kräfte zufammenzunehmen
und nad) feiner Cultivirung zu flreben; er muß, um beftehen
und gelten zu können, unauögefegt danach ſtreben, ber höchfte
Gulturftaat zu fein, was er nur fein kann, wenn alle feine Bürs
ger auf dad innigfte durchdrungen find von dem Zwecke des Gan⸗
zen. Dahin geht der politifche Charakterzug unferer Zeit. Nur
ein ſolcher Staat, der auf der Höhe der Cultur fteht, kann in
der Gegenwart dem fortgefchrittenen politifchen Bewußtſein und
Bebürfniß entfprechen. Nicht der Boden, fondern der Cultur⸗
897
ſtaat ift unfer Vaterland. „Mögen die Erbgeborenen, welche in
der Erdfcholle, dent Fluffe, dem Berge ihr Vaterland erkennen,
Bürger des gefunfenen Staates bleiben; fie behalten, was fie
wollten und was fie beglückt: der fonnenverwandte Geift wird un⸗
wiberftehlich angezogen werben und hin ſich wenden, wo Licht ift
und Redt*)”.
DL
Der fittlichẽ Zuſtand der Gegenwart.
1. Die oͤffentliche Sitte.
Das politifche Bewußtſein und der Bildungsſtand eines
Beitalterd durchdringt den Wechfelverkehr der Menfchen und macht
fid in den Grundzügen und den ftehenden Formen deſſelben erfenn-
bar. Die flehende, in der Bildungsſtufe des ganzen Zeitalters
begründete, durch Gewohnheit zur Natur gewordene Form ded
allgemeinen Betragend ift die Öffentliche Sitte, gleichfam ber
bewußtlofe Charakter des Zeitgeiftes. Wir unterfcheiden die gute
und ſchlechte Sitte (in der erften die negativ-gute und bie pofitiv-
gute) und betrachten beide, fo weit fie durch den Staat bedingt
find und in die Aeußerungsweiſe des öffentlichen Lebens fallen.
Das Princip aller guten Sitte befteht darin, daß jeder in
jedem bie Gattung anerkennt und würdigt, daß alfo (negativ
ausgedrückt) Feiner die Freiheit und Würde des anderen befchä:
digt. Wenn die Gefeßgebung und die Ordnungen eines Staates
fo eingerichtet find, daß jede Verlegung diefer Art ald ein Ver
brechen gilt und beſtraft wird, fo wird dadurch der böfe Wille
von dem Schauplaße der öffentlichen Handlungen zurüdgefcheucht
und ber guten Sitte im negativen Sinne Raum gegeben. Se
*) Ebendaſelbſt. XIV Vorl, S. 200-212.
Bilder, Geſchichte der Phlloſophle V. 57
898
weiter „bie negativ= gute Sitte” um ſich greift, um fo mehr
werben in der öffentlichen Meinung felbft die Verbrechen gegen
die Menfchenwürbe verpöntz die Ehrliebe, die Verachtung ber
Barbarei wird zur öffentlichen Stimme und nöthigt jegt durch
ihren rüdwirtenden Einfluß den Staat, feine Strafgefeggebung
zu mildern und die graufamen Strafen abzufchaffen. So dringt
die Menfchlichkeit, die durchgängige Anerkennung und Achtung
der Gattung, in das öffentliche Leben ein, und ed entfteht was
Fichte ald „die pofitiv- gute Sitte” bezeichnet.
Wird aber die Gattung als folche in jedem geachtet, fo liegt
darin fchon die Anerkennung der urfprünglichen Gleichheit der
Menfchen, alfo auch der Gleichheit ihrer Rechte. Sind nun
auch in den gegebenen Zuftänden die Rechte noch ungleich, fo
wird doch die wahrhaft gute Sitte in der Art und Weiſe der
Menfchenbehandlung nicht diefe vorhandene Ungleichheit, ſondern
die nothwendig anzuerkennende Gleichheit zu ihrer Worausfegung
und Richtſchnur nehmen. Das Gegentheil davon ift „die [hlechte
Sitte”; fie fließt aud der Vorausſetzung ber vorhandenen Un-
gleichheit, nach ber man die Humanität des Benehmens abftuft.
Gilt die Ungleichheit nicht bIoß als ein vorhandener und zeitweili⸗
ger, fondern als ein nothwendiger und bleibender Zuftand, fo
befteht darin die ſchlechte Sitte felbft; die privilegirten Stände
verachten die nicht privilegirten und halten fich für etwas Beſſe⸗
res und Höheres, diefe erwiedern die unwürdige Art mit Em:
pfindungen, bie nicht würdiger find, entweder mit niebriger
Kriecherei oder mit bitterem Neide; bie richtige gegenfeitige Aner⸗
Eennung fehlt gänzlich und mit ihr die Möglichkeit der guten
Sitte. Diefe gegenfeitige, Anerkennung herbeizuführen und in:
nerlich zu befeftigen, giebt es fein befferes Mittel ald die Wiffen-
ſchaft, die ihren ausgleichenden Charakter am beften bewährt,
899
wenn fie aus bem bürgerlichen Stande hervorgeht und ſich von
hier aus ben übrigen Volksclaſſen mittheilt*).
2. Die dffentlihe Religiofität,
Die Anerkennung der urfprünglichen Gleichheit der Men-
ſchen gründet ſich auf das Bewußtfein der menfchlichen Gattungs⸗
einheit, der Wefenseinheit des ganzen Menfchengefchlechts, und
biefes Bewußtſein wurzelt im Innerften der chriftlichen Religion.
Iſt jene Anerkennung in dem wechfelfeitigen Verkehre der Men-
ſchen zur Sitte oder Richtſchnur der Sitte geworden, fo befteht
darin die bewußtloſe Herrfchaft des Chriftentyums. Nun war ed
der Staat, ber durch feine Gefeßgebung diefe Sitte in ihrer
äußeren Erſcheinung bebingt und ausbildet. Auf dieſe Meife
wird der Staat felbft in der Verwirklichung des Chriftenthums '
ein wichtiges und vermittelndes Werkzeug. Die Herrfchaft des
Chriſtenthums muß durch den Staat hindurchgegangen und in
ihm realifirt fein**).
Die religiöfe Denkweife ift der tieffte Grund der politifchen
und fittlihen; daher werben zuletzt alle Zeiterfcheinungen unter
dem religiöfen Gefichtöpunfte betrachtet werden müffen. Jedes
Zeitalter prägt die religiöfe Denkweife in einem beftimmten Cha⸗
rakter aus, der die „Religiofität” des Zeitalterd bildet, entweder
als verborgened Princip oder ald Elared Bewußtfein. Die eigen:
thümliche Religiofität des gegenwärtigen Zeitalter8 zu erfennen,
ift daher die Iebte Aufgabe feiner Charakteriftik.
Aus dem bereits entwidelten wiffenfchaftlichen Charakter des
Zeitalter läßt fich der religiöfe erkennen. Es war ber Charakter
der Aufklärung, der nur bad deutlich und klar Begriffene, alfo
*) Ebendaſelbſt. XV Vorl, ©. 218— 226,
) Chendafelbft. XV Vorl, S. 220 u, 21.
67*
900
nichts Unbegreifliches, nur den Maßſtab der finnlichen Erfah—
rungsbegriffe, alfo nichts Ueberfinnliches gelten ließ; daher den
blinden Glauben, den blinden Gehorfam und damit alles Zurcht-
erregenbe in der Religion vollfommen verwarf. Was die Reli—
gion und deren Gotteövorftellungen furchtbar macht, ift aber:
gläubifcher Natur und gehört nicht dem Wefen des Chriftenthums
an, ſondern vorchriſtlichen und heibnifchen Vorſtellungsweiſen.
Diefer Aberglaube mit feinen heibnifchen in dad Chriſtenthum ein
gebrungenen Weberreften erfcheint im Lichte der gegenwärtigen
Aufklärung als volfommen nichtig. Indeſſen vernichtet dieſe
Aufklärung nad) der ganzen Art ihrer Denkweiſe mit dem Unbes
greiffichen zugleich das Ueberfinnliche; fie ift gänzlich unfähig
einen deutlichen Begriff der überfinnlichen Welt zu faffen, und
fo verliert das Zeitalter, fo weit fein klares Bewußtſein reicht,
mit der falfchen Religion zugleich die wahre. Diefe Unfähigkeit,
die wahre Religion zu faffen, ift barum noch nicht die Unfähigkeit
zur Religion überhaupt. Das klare Bewußtſein umfaßt nicht die
ganze menfchliche Natur ; was der deutliche Begriff nicht erreicht,
Tann dad Gefühl in dunklem Streben ſuchen. Die aus dem
klaren Bewußtfein vertriebene Religion flüchtet fich in dad Ge—
fühl und ift hier ald Bedürfnig und Sehnfucht nach dem Ueber-
finnlichen, als Empfänglickeit und Sinn für Religion um fo
lebendiger da, als die Verſtandesaufklärung mit ihren dürren
Begriffen biefen Sinn leer läßt. Das fchmerzliche Gefühl diefer
Leere giebt dem Zeitalter feinen veligiöfen Charakter. Es iſt der
wahren Religion bebürftiger und empfänglicher als ein anderes.
„Das leere und unerquidliche freigeifterifche Geſchwätz hat Zeit
gehabt, auf alle Weife fi auszufprechen; es hat fich ausge
fprohen, und wir haben es vernommen, und es wird von biefer
Seite nichts Neues und nicht beffer gefagt werben, als es
——
91
gefagt iſt. Wir find deffelben müde; wir fühlen feine Leerheit .
und die völlige Nullität, welche es und in Beziehung auf den
doch einmal nicht ganz auszurottenden Sinn für dad Ewige
giebt *).”
3. Die wahre Religion.
Diefer Sinn fordert Befriedigung; er wartet auf feine
ächte Nahrung, diefe bereitet ſich ſchon vor in der Werkſtätte einer
neuen Philofophie, die den Begriff der wahren Religion zu fafs
fen und in dad Elare Bewußtfein zu heben fucht. Was jebt ald
philofophifches Bewußtfein erwacht, wird in der Zukunft religiö-
fe8.Bewußtfein werden. Der Standpunkt der fogenannten Auf:
klärung ift bereits philofophifch überwunden; „eine männlichere
Philoſophie“ hat ſich in Kant erhoben und durch ihr Princip der
„abſoluten Moralität” das fittlihe Bedürfniß der Menfchen tie:
fer als je befriedigt. Der moralifche Sinn ift dem religiöfen
verwandt, aber er ift nicht felbft der religiöfe. Gerade durch
diefe Befriedigung des verwandten Sinnes wird die Nichtbefriedis
gung des religiöfen nur noch flärker empfunden. Der Begriff
der wahren Religion ift dadurch die erfte Aufgabe der Philofophie
geworben. Es ift die gegenwärtige Aufgabe.
Die abfolute Moralität, die reine Sittlichkeit ift das Höchfte
außer der Religion. Die unbedingte Pflichterfüllung,, der blinde
Gehorfam gegen das Pflichtgebot, ohne Rüdficht auf die Fol:
gen, ohne Einfiht in die eigentliche Bedeutung der Pflicht:
das ift die höchfte fittliche Leiftung. Aber der Mangel an Ein:
fit in dem bloß moralifchen Verhalten läßt zugleich einen Man:
gel in der abfoluten Würde des Menſchen. Das Nichtverftchen
ift diefer Würde nicht angemeſſen. Die Würde des Menfchen
*) Ehenbafelbft. XVI Bol, ©. 226" 251--—_
92
wird deßhalb auf dem Standpunkte der blogen Sittlichkeit nicht
vollendet; diefe Vollendung giebt erſt der religiöfe Standpunkt.
Es ift der Trieb, durchzudringen zu der Bedeutung des Pflicht:
gebots, der und nöthigt, und über die reine Sittlichkeit zur Re
ligion zu erheben.
Das bloße Pflichtgebot fegt den wiberftrebenden Willen vor:
aus; darum fagt ed: du ſollſt! Diefe Vorausfegung aufge:
hoben, das pflihtmäßige Wollen zur Voraudfegung gemacht, fo
tommt jened „Sol zu fpät. An bie Stelle des Sollens
tritt dad nothwendige Wollen, welches zufammenfält mit dem
Nichtanderskönnen, mit Trieb und Neigung. Wo Trieb ift, da
iſt Leben und Entwidlung. Erfcheint die Pflicht als „das leben:
dige Geſetz einer ewigen Fortentwicklung“, ald „innere Fortfchrei:
tung des einen Lebens”, als „geiftigfte Lebensblüthe“, fo fteht
fie uns nicht mehr gegenüber als ein Gefeß, dem wir und unter:
werfen (fo fehr wir ihm widerfireben), fondern fie ſtammt aus
dem einen göttlichen Grundleben, in dem wir leben, weben und
find. Dann ift der moralifche Standpunkt aufgehoben und ber
teligiöfe an feine Stelle getreten. Bor der Moral verſchwindet
das äußere Gefeß, vor der Religion das innere. Es giebt Feine
Gefegesunterwerfung mehr, fondern nur eben, keinen Zwieſpalt
mehr, fondern nur Einheit, Fein eigenwilliges und felbftfüchti:
ges, fondern durch und durch freies, klares, feliges Leben. „Die
Religion erhebt ihren Geweihten abfolut über die Zeit als ſolche
und über die Bergänglichfeit und verfegt ihn unmittelbar in den
Beſitz der einen Ewigkeit. In dem einen göttlichen Grundleben
ruht fein Blick und wurzelt feine Liebe: was noch außer Diefem
einen Grundleben ihm erfcheint, ift nicht außer ihm, fondern in
ihm und bloß eine zeitige Geftalt feiner Entwidlung nad) einem
abfoluten Sefepg, ‚as dä gleichfalls in ihm felber ift: er erblickt
903
alles nur in dem Einen und vermittelft beffelben, dann erblickt
er aber auch zugleich in jedem Einzelnen das unendliche AU.”
„In jedem Momente hat und befigt er das ewige Leben mit aller
feiner Seligkeit, unmittelbar und ganz; und was er allgegen-
wärtig hat und fühlt, braucht er fich nicht erft anzuvernünf-
teln. Giebt es irgend einen fchlagenden Beweis, daß die Er:
Tenntniß der wahren Religion unter den Menfchen von jeher fehr
felten gemwefen und daß fie insbefondere den herrfchenden Spfte:
men fremd fei, fo ift es der: daß fie die ewige Seligkeit erft jen⸗
feitö des Grabes fegen und nicht ahnen, daß jeder, der nur will,
auf der Stelle felig fein könne *).”
Eine höhere religiöfe mit dem johanneiſchen Chriftentyum
einverflandene Weltanfchauung ift im Anbruch. Sie kann nicht
durch den Staat gemacht werden; der Staat reicht mit feinen
Geſetzen und Ordnungen, wenn alles in der beften Verfaſſung if,
nur bis zur guten Sitte; fehon die Sittlichfeit geht über ihn
hinaus, um wie viel mehr die Religion. Diefe kommt, wie von
jeher, aus dem Innerften des Denfchengemüthes, durch einzelne
„tiefbegeifterte Individuen, die fähig find andere zu erweden. “So
kamen im Aufgange der neuen Zeit die Reformatoren, nach ihnen,
als die Religion im orthoboren Lehrbegriffe völlig erſtarrt war,
die Pietiften, und die heutige Welt, nachdem die Aufklärung
alles verflaht hat, fehnt fi ſchon nach einer neuen religiöfen
Erhebung, die ihre Propheten erwartet **).
4. Die neue Zeit.
Sharakteriftit der „Grundzüge.
Ein folder Verkündiger einer neuen Zeit will Fichte felbft
Ebendaſelbſt. XVI Borl, S. 231— 235.
**) Chenbafelbft, XVI Vorl, S. 236— 238.
904
fein; er will es fein in diefer feiner Schilderung des gegenwärti=
gen Zeitalters, bie, wie fie fich über den Geift der Gegenwart
ald etwas Auögelebtes erhebt, unmöglicy aus ihm gefchöpft fein
ann, fondern entweder gar nicht ober die Zukunft bedeutet,
Grund und Princip eined neuen Lebens.
Es giebt ein religiöfes Denken und eine darauf gegründete
religiöfe Weltbetrachtung, in welcher alles Leben erſcheint „als
nothwendige Entwidlung des einen urfprünglichen, vollfommen
guten und feligen Lebens”. Dahin führt nie die Weltbeobach-
tung; dahin treibt ein tiefes Bebürfniß de menfchlichen Ge:
muths, die Welt aus ihrem innerften Grunde zu faflen. Wäre
die Welt von ungefähr, fo hätte fie feinen Grund; wäre ihr
Grund blinde Nothwendigkeit, fo bliebe er unfaßbar, unbegreif-
lich; wäre die Urfache der Welt menſchenähnlich, fo wäre fie
auch menfchenfeindlich und darum ein Gegenftand abergläubifcher
Vorftelung; fie kann daher nur gefaßt werden ald „bas eine
abfolut gute und ewig gut bleibende göttliche Dafein”. In biefer
Vorftellung ruht die religiöfe Weltanſchauung.
- - "Die gefammte Welt, dad ganze irdifche und menfchliche Da-
fein in der Beziehung auf das Ewige ift ihr Gegenftand und ihr
Gebiet. Wie fi das einzelne menſchliche Leben mit feinen be
fonderen Schickſalen auf dad Ewige bezieht und mit ihm zuſam⸗
menhängt, ift „das tieffte Ende” dieſes Gebietes; wie das Leben
der Menfchheit fich zu der unendlichen Reihe künftiger Leben ver-
hält, ift „das höchfte Ende” deffelben. Das Erdenleben der
Menfchheit in feiner Entwiclung liegt zwiſchen diefen Grenzen
und bildet „dad mittlere Gebiet” der religiöfen Weltbetrachtung.
Sene beiden Enden find dunkel und unbegreiflih. Wir wiffen,
daß, aber nicht wie fie mit dem Ewigen verknüpft find; wir
tönnen diefen Zufammenhang nur vernehmen, aber nicht verftehen.
905
Die religiöfe Weltbetrachtung, fo weit fie nur vernimmt, ohne
zu verfiehen, nennt Fichte „Bernunftreligion”; fo weit fie
verfteht, ift fie „Werftandeöreligion“. Nur das mittlere
Gebiet ift verftändlich; die Entwidlung unferer Gattung in ihren
nothwendigen Epochen läßt fich begreifen; der für uns helfte
Punkt diefer ganzen einleuchtenden Entwidlung ift unfer eigenes
Beitalter.
Diefes Zeitalter war ber Gegenftand der „Grundzüge;
fie waren felbft eine veligiöfe Betrachtung jenes mittleren Ges
bietes, eine religionsphilofophifche Geſchichtsbetrachtung, ein
Ausdrud der „Berftandesreligion” *).
Ob fie ihren Gegenftand in Wahrheit getroffen haben, ob
fie wirklich von dem Hauche eined neuen Lebens erfüllt find, läßt
fi nur durch die Probe ausmachen, durch ihre Wirkung in dem
Innerften des Gemüths. Sie find in demfelben Maße fruchtbar
und wirffam, als fie im Stande find, religiöfes Leben zu wecken
und das Gegentheil deſſelben aus dem Innern zu verfcheuchen,
Das ift nicht durch Außered Thun und Werke erkennbar. „Die
Religion ift gar kein Thun noch Thätiged, fondern fie ift eine
Anficht, fie ift Licht, und das einige wahre Licht, welches alles
Leben und alle Geftaltungen des Lebens in ſich trägt und fie in
ihrem innerften Kerne durchdringt.” Wo Religion ift, da ift
Sammlung, Ernft, Tiefe; wo fie nicht ift, da ift Sucht nach
Zerftreuung, Gebankenlofigkeit, Flucht vor ſich felbft, Leichtfinn
und Frivolität, die mit dem Leben, weil fie die Tiefe deffelben
nicht Fennen, auf der Oberfläche fpielen. Das Licht verfcheucht
die Finſterniß. Wenn diefe Reden die Finfterniffe des frivolen
Lebens zu bangen und den Ernſt des Nachdenkens zu wecken ver:
*) Ebendaſelbſt. XVII Vorl. S. 238— 244,
906
mögen, fo haben fie bewährt, daß fie vom Licht find und eine
Quelle neuen Lebens *).
Bir haben Fichte, ald wir die Grundzüge feiner Perfönlich
teit und Geiftesart ſchilderten, einen religiöfen, von veformato-
riſchem Drange getriebenen Redner genannt. Sein Leben und
feine Lehre haben gezeigt, wie tief fie von diefem Zuge ergriffen
waren. Wie Fichte die Grundzüge bed eigenen Zeitalters ſchil⸗
dert und bie religiöfe Neubelebung der Welt als den Drang und
die Aufgabe einer neuen Zeit ausfpricht, erfcheint er ſich felbft
ald ein zur &öfung diefer Aufgabe berufened Werkzeug, und am
Schluffe feiner Reden befennt er es auch, daß fie Diefe oder Feine
Bedeutung haben, In diefem Belenntniffe war feiner Seele
ganz gegenwärtig, was er vermöge feines tiefften Triebes von
jeher fein wollte. Darum find diefe Grundzüge eben fo charakte⸗
riſtiſch für ihn als für fein Zeitalter.
Was Fichte in der Beftimmung ded Menfchen als den
„Glauben“ begründet hatte, der alle Zweifel Löft und die wahr:
bafte Wirklichkeit erfaßt, das entwidelt er in den Grundzügen
des gegenwärtigen Zeitalter8 ald „bie wahre Religion“, deren
Beſitz das Leben felig macht, und deren Begriff ein neues Zeit:
alter in der Entwicklung der Menſchheit ankündigt. Das felige
Leben und dad neue Zeitalter find daher die nächften Themata
feiner Reben,
*) Ebendaſelbſt. XVII Vorl. S. 244—254.
Sechstes Kapitel.
Anweifung zum feligen Leben oder Religionslehre.
L
Religionslehre und Wiſſenslehre.
1. BVerhältniß beider.
Seit dem Atheismuöftreite find Fichte's Unterfuchungen auf
dad Weſen der Religion gerichtet geblieben, immer mit der Auf:
gabe- befchäftigt, dieſen Gegenftand ganz bis in feine innerfte
Tiefe zu durchdringen und fo einleuchtend ald möglich darzuftel:
ten. Seit jener Abhandlung über den Grund unfered Glaubens
an eine göttliche Weltregierung gilt ihm die Wiffenfchaftslehre zu⸗
gleich als der philofophifhe Standpunkt, aus welchem allein der
wahre Grund der Religion (nicht etwa erft gelegt, fondern) ent:
deckt und aufgehellt werden könne. Die wahre Wiffenslehre ift
zugleich Religiondlehre. If die Religion in der That der tieffte
Grund unferes Lebend und Erkennens, fo muß die Erkenntniß⸗
lehre in ihrem tiefften Grunde nothwendig Religiondlehre werben,
fo muß aus der Entiwilung der Wiffenfchaftslehre, aus diefer
immer tiefer dringenden Begründung, die Religionslehre ald
deren reiffte Frucht hervorgehen. Hier ift fein Wiberftreit zwi:
{hen Wiſſenſchaftslehre und Religionslehre oder zwifchen der
erften und fpäteren Wiffenfchaftölehre. Fichte weiß beide im voll:
, 908
tommenen Einklange. Cr betrachtet die Worlefungen über die
* Grundzüge deö gegenwärtigen Zeitalterd, über dad Wefen deö
Gelehrten, über die Anweifung zum feligen Leben als ein Gan-
zes; er bezeichnet die Religiondlehre ald „deſſen Gipfel und hell:
ſten Lichtpunkt“, als die Frucht feiner unabläffigen feit dem Ende
der jenaifchen Periode begonnenen Forſchung, als die folgerichtige
Entwidlung feined ſchon im Anfange der jenaifchen Periode be:
gründeten Syſtems. Diefe feine philofophifche Anfiht werde
hoffentlich manches an ihm geändert haben; „fie felbft habe
fi feit diefer Zeit in feinem Stüde geändert”.
So urtheilte Fichte über feine eigene Lehre, ald er im April 1806
die Anweifung zum feligen Leben herausgab*).
In der Art ihrer Entgegenfegung unterfcheiben fich die zum
Atheismuöftreit gehörigen Schriften von ben fpäteren religions-
philofophifchen Betrachtungen. Dort hatte ed Fichte mit einer
gewiſſen Glaffe orthoborer Theologen ald mit feinen ſchlimmſten
Gegnern zu thun; hier richtet er fich durchgängig gegen die Ver=
ftandesaufflärung des vorigen Jahrhunderts, und er ift in diefe
Entgegenfegung fo verfenkt, daß er meint, auch damals Feine
anderen Gegner gehabt oder bekämpft zu haben. Diefer ausge—
prägte mit allen Merkmalen bed perfönlichen Widerwillens he=
tonte Gegenfag gegen die Vulgarphilofophie des Nationalismus
ift überhaupt für Fichte's letzte Periode charakteriftifch.
Die Vorlefungen über die Religionslehre find den „Grund:
zügen“ auch in der Form und Abficht der Darftellung verwandt.
Es follen nicht fing wiſſenſchaftliche Vorträge fein, fondern po⸗
puläre, Die Bedeutung des Gegenftandes macht hier die popu⸗
*) Die Anmeifung zum feligen Leben ober auch die Religionslehre.
In Borlefungen gehalten zu Berlin 1806. Vorrede. S. W. II Abth.
DI ®. 6.399,
909
läre Darftelung zur Pflicht. Geifteöfreiheit, fittliche Selbftän-
digkeit, Feſtigkeit der Ueberztugung, religiöfe Ueberzeugung kann
unmöglic) an das ſchulmäßige Studium als an feine auöfchließende
Bedingung geknüpft fein. Nicht ale können ſchulmäßig fludiren;
überzeugt in den höchften Angelegenheiten des menfchlichen Lebens
fönnen und follen auch die Ungelehrten fein, fie können ed
nur fein, wenn ihre religiöfe Anfchauung auf feftem Grunde
ruht. E3 handelt- fich nicht um eine neue unerhörte Wahrheit.
Der ewige Inhalt der Religion ift nicht neu, die Gewißheit des
Ueberfinnlichen, die Ueberzeugung einer geiftigen, von göttlichen
Leben getragenen und durchdrungenen Welt ift nicht neu; fie war
ſchon in Plato lebendig; fie ift im Chriſtenthume der ganzen
Menfchheit verfündigt; fie hat als johanneifches Chriftenthum in
der verborgenen Tiefe aller chriftlichen Zeitalter fortgelebt bis auf
den heutigen Tag, fie ift in den beiden größten beutfchen Dich
tern der Gegenwart mächtig, fie hat in Kant zum erftenmale
auch den philofophifchen Geift ernfthaft ergriffen, und fie ift in
der Wiffenfchaftölehre zum erſtenmale ftreng foftematifch bewiefen.
Die Lehre ift neu nicht ald Religion, fondern als philoſophiſches
Syſtem; fie muß daher auch unabhängig von ber fyftematifchen
Zorm der wiſſenſchaftlichen Entwidlung populär dargeftellt wer:
den können; fie ift einer folchen Darftellung fähig und bebürftig.
Sie ift neu und unerhört nur für die herrfchende Philofophie dies
ſes Zeitalterö, die das Lebendige aus dem Todten, das Geiftige
aus dem Geiftlofen ableitet und das Buch der Natur richtig zu
verftehen meint, wenn fie ed verkehrt lieſt. Die Anhänger diefer
Philofophie fühlen fich vernichtet und wie auf den Kopf geftellt,
wenn man, wie ed in ber Religion und Wiſſenſchaftslehre ges
ſchieht, ihre Weltanſicht umkehrt. Diefed Gefühl macht fie
nothwendig fanatifch, und nun verfchreien diefe „Fanatiker der
*
910
Verkehrtheit”, unfähig den Sinn der Religion und Wiffenfchafts-
lehre zu faflen, beide als Myfticisnius*).
2. Dad Leben ald Seligkeit.
Im Wahrheit ift die Sache, um die es fich handelt, fo faß=
bar und wirklich, wie dad Leben felbfl. Und man braucht nur
in Die Tiefe des Lebens zu fchauen, um den religiöfen Grundzug
deffelben zu entdeden. Wo Leben ift, da ift Bebürfnig, Ges
fühl des Mangeld, Trieb nach Ergänzung, nach Vereinigung
mit einem Objecte, dad und erfüllt und befriebigt: da ift Trieb
nach Befriedigung. Diefer Trieb kann Fein anderes Ziel haben
ald eine dauernde und volle Befriedigung. Nennen wir bad
dauernde und volle Befriedigtfein Seligkeit ober felig fein,
fo ift fchon hier Har, daß Leben und Seligkeit (felig fein) in Der
Wurzel eines find, daß der Begriff des Lebens den der Selig-
keit einfhließt und daher der Ausdruck „feliges Leben” im Grunde
zweimal baffelbe fagt. Nennen wir die Vereinigung mit dem
Object, in deffen Beſitze die Befriedigung liegt, und ben Trieb
nach diefer Vereinigung Liebe, fo leuchtet ein, wie Leben und
Seligkeit in ihrem Grunde daffelbe find ald Liebe; wir leben in
dem Maße, ald wir befriedigt (felig) find, und wir find nur bes
friebigt, fo weit wir lieben. Daher Fichte's herelicher Ausfpruch:
„Was du liebft, dad lebft du! Die Liebe ift dein Leben und die
Wurzel, der Sit und der Mittelpunkt deines Lebens.” Viele
Menfchen wiffen nicht, was fie lieben; das beweift nur, daß fie
eigentlich nichts lieben und eben darum auch nicht leben, weil fie
nicht lieben.
Der Drang nad) Befriedigung treibt die Menfchen auf die
Jagd nach Glücfeligkeitz fie jagen den Dingen nach und er=
*) Ebendaſelbſt. Vorl, II. S. 416—431, beſ. 6. 424— 428,
91
haſchen bald dieß bald jenes, und jedesmal ift vergänglich, wie
dad ergriffene Ding, ihre Befriedigung. Es giebt unter Sonne
und Mond kein Object, dad nicht vergänglicd wäre, darum kei⸗
nes, dad wahrhaft und dauernd befriedigt. In Wirklichkeit ift
in biefer Lebensart nichts bleibend ald die Vergänglichkeit aller
Befriedigungen, als diefer fortwährende Wechfel von Täuſchung
und Enttäufhung, worin jeder Fünftige Moment den vorher⸗
gehenden verfchlingt und darum dad Leben in feinem leeren Ab⸗
laufe nichts anderes ift ald „ein ununterbrochenes Sterben”.
Bon einem foldhen Dafein kann man nicht fagen, daß es lebt;
es flirbt fortwährend, es iſt gemifcht aus Leben und Tod, es ift
fein wahres Keben, fondern ein Scheinleben. Das Gefühl eines
ſolchen Dafeind ift darum dad Gefühl der Leere, der Nichtigkeit,
des Elends und der Unfeligeit. Es bleibt nichts zurück ald die
Enttäufhung, die in der Nichtbefriedigung endet als ihrem blei⸗
benden Zuftande. Hier bleibt nichts übrig als mit der Einficht
in die Unfeligkeit des Lebens entweder bie gänzliche Entfagung
auf alle Seligkeit, auf alle wahre Erfüllung, die dumpfe Res
fignation, die ſich überreden möchte Weisheit zu fein, ober die
Hoffnung auf die Seligfeit als einen fünftigen Zuſtand jenfeits
des Grabes. Dann wäre dad Grab der Uebergang vom unfelis
gen eben zum.feligen. Unmöglid kann dieſes Die Bedingung
der Seligfeit fein. „Durch das bloße Sichbegrabenlaffen kommt
man nicht in die Seligkeit.” Entweder alfo giebt es überhaupt
teine Seligkeit oder fie ift dad Leben felbft, das wahre Leben
im Unterfhiede vom Scheinleben, das erfüllte im Unterfchiede
vom leeren, dad wirklich und dauernd befriedigte im Unterſchiede
von dem unbefriedigten und durch die Scheingenäffe der Welt
getäufchten *).
*) Ebendaſelbſt. Vorleſ. J. S. 401—409,
912
3. Die Schnfuht nah dem Emigen ald Lebenstrieb.
Fichte und Spinoza.
Was das Leben in Scheinleben verwandeln und fortwährend
fterben läßt, war die Liebe zu ben vergänglichen Dingen. Was
dad Leben wahrhaft lebendig und felig macht, kann daher nichts
anderes fein ald die Liebe zu dem Unvergänglichen, als der Trieb
zur Vereinigung mit dem Wanbdellofen: „die Scehnfucht
nad dem Ewigen”. Der Trieb nach Befriedigung ift eines
mit dem Lebenstriebe. Der Trieb nach wahrer Befriedigung ift
einzig und allein die Sehnſucht nad dem Ewigen: darum ift
„dieſer Trieb die innigfte Wurzel alles endlichen Dafeins und in
keinem Zweige dieſes Dafeind ganz auszutilgen, falls nicht dieſer
Zweig verfinken fol in völliges Nichtfein”. Auf der Sehnfucht
nad dem Ewigen beruht alles endlihe Dafein, und von ihr aus
Tommt ed entweder zum wahrhaften Leben oder es kommt nicht
dazu. Nennen wir dad Ewige Gott und den Inbegriff alles
Veränderlihen Welt, fo ift das wahre Leben Gottesliebe und
Leben in Gott, dagegen das Scheinleben Leben in der Welt und
der Verſuch fie zu lieben. Jenes ift das Leben ohne Abbruch,
ganz, volftändig, felig; diefes ift ein mangelhaftes, gebrochenes,
zerſtreutes Dafein, nichtig, elend, unfelig. Es giebt nur ein
Mittel, dieſes elende Dafein abzumerfen und gleichſam aus den
Angeln zu heben: in der Liebe zur Welt ift unfer Leben zerftreut
über die Mannigfaltigkeit und Verfchiedenheit der Dinge ; in ber
OD geprtut-adı dem Ewigen zieht es fich aus diefer Mannigfal-
tigkeit zurüd auf ine. Der einzige Weg zum Seligwerden
ift der Zug nad) innen, 3 Leben in der Welt iſt zerfireut, in
buntem Wechfel bald dieß Kald jenes ergreifend, darum leicht:
fertig und flah. Im Gegenſatze dazu giebt bie Einkehr in das
913
Innere dem Leben Sammlung, Ernſt und Tiefe. Vergleichen
wir an dieſer Stelle Fichte mit Spinoza, bie wir im Uebrigen
einander entgegengefegt finden, fo find die Grundgebanten in der
Anweifung zum feligen eben völlig diefelben als die erſten Be:
trachtungen in dem „tractatus de intellectus emendatione“.
Fichte frägt: wie komme ich zur Seligkeit? Spinoza frägt: wie
gelange ich zum höchſten Gut? Beide antworten: durch bie
Liebe zum Ewigen; beide feßen das Ewige in das wandellofe,
unvergängliche Sein; es ift bei beiden der Trieb nach wirt
licher Befriedigung, der dem Leben die Richtung auf dad Ewige
giebt und die Liebe zur Welt in die Liebe zu Gott verwandelt”),
4. Die Seligfeitölchre als Wiſſenslehre.
Das Ewige lieben, ergreifen, zum Gegenftande des Ge
nuffes machen, ift nur dann möglich, wenn wir es zum Gegen:
flande machen können. Nur dad Bewußtſein und näher das
Selbftbewußtfein kann überhaupt etwas zu feinem Objecte haben.
„Alles eben fest daher Selbftbewußtfein voraus, und das
Sclbftbewußtfein allein ift es, was das Leben zu ergreifen und
zu einem Gegenftande des Genuffes zu machen vermag **).” Dad
Selbftbewußtfein, deſſen Object das Ewige ift, kann ſich nur
betrachtend, anfchauend, erkennend verhalten. Nur in der Er
kenntniß läßt ſich dad Ewige ergreifen und dad Leben wahrhaft bes
friedigen. Seligkeit ift Erfennen. Die Seligfeitölehre ift daher
notwendig auch Wiffendlehre.
Das Ewige ift ohne Wechfel und ohne Mannigfaltigkeit, es
will gefaßt fein ald einfach, einig, wandellos, unveränderlich,
als dad Sein, von dem allein in Wahrheit gefagt werben kann:
*) Ebendaſelbſt. Vorl.L &.407—415, Vgl. Vorl. IV. S. 449,
) Ebendaſelbſt. Vorl, J. S. 410.
diſqer, Veſchichte der Pbilofophle V. 58
914
es iſt. Dieſes göttliche und allein wahrhafte Sein Fann nur er: |
griffen werden durch den Gedanken, und da in dem Ergreifen
des Ewigen, in der Befriedigung dieſer Sehnfucht, allein Das
wahrhaftige oder felige Leben befteht, fo ift „Dad Element, der
Aether, die fubftantielle Form des wahrhaftigen Lebens der Ge-
danke”. „Worin follte denn das Leben und feine Seligfeit fonft
fein Element haben, wenn eö daffelbe nicht im Denken hätte 2”
Nur das Göttliche iftz außer ihm ift nichts. Darum kann auch
der Gedanke des Ewigen, wir felbft und die Welt, die wir vor-
ſtellen, nicht ald ein von dem Ewigen unabhängiges Dafein an=
gefehen werben, ſondern ald „hervorgegangen aus bem inneren ı
und in fich verborgenen göttlichen Wefen“. In diefer Weltanficht
ruht die Religion; in dieſem Denken befteht das felige Leben.
„Auch die Seligkeitölehre kann nichts anderes fein, denn eine
Wiffenslehre, indem es überhaupt gar feine andere Lehre giebt
außer der Wiſſenslehre. Im Geifte, in der in ſich felber ge=
gründeten Lebendigkeit des Gedankens, ruhet das Leben, denn es
ift außer dem Geifte gar nichts wahrhaftig da. Wahrhaftig leben,
heißt wahrhaftig denken und die Wahrheit erkennen *).”
Nicht im Gefühle, denn es ift dunkel und vorübergehend,
auch nicht im Thun, denn es ift befchräntt und äußerlich, be:
ſteht die Religion; fie ruht allein in der Erkenntniß und Liebe
Gottes ”*),
5. Daß Denten ald Lebendausdrud.
Denken ift Leben. Es ift allemal dad Gegenbild, der Spie—
gel des Lebens, der Ausbrud unfered Lebensgraded. Auch die
finnlichen Wahrnehmungen haben wir nur, indem wir und der⸗
*) Ebendaſelbſt. I Borl, S. 404. S. 410,
**) Ehenbajelbft, I Vorl, ©. 411.
915
felben bewußt find, indem wir fie denken. Aber die meiften
fehen nicht, wie das finnliche Wahrnehmen felbft im Denken ge
gründet ift und ohne daffelbe nicht fein könnte; fie leben nur in
den Sinnen und halten darum bie finnliche Wahrnehmung für
die Hauptfache und dad Denken für nebenfächlich und abhängig.
Das ift die gemeine Denkart, der Ausdrud des niederen Lebens⸗
grades, deffen nothwendiger Ausdruck. Wie dad Leben, fo dad
Denken. „Im äußeren Sinn, als ber lehten Ertremität des
beginnenden geiftigen Lebens, fit ihnen vorderhand noch das
Leben ; im äußeren Sinn find fie mit ihrer Iebendigften Eriftenz
zugegen, fühlen fi in ihm, lieben und genießen ſich in ihm,
und fo fällt denn nothwendig auch ihr Glaube dahin, wo ihr
Herz ift; im Deuken dagegen ſchießet bei ihnen das Leben erft an,
nicht als lebendiges Fleiſch und Blut, fondern als eine breiartige
Maffe, und darum fcheint ihnen dad Denken ald fremdartiger
weder zu ihnen noch zur Sache gehöriger Dunft*).” in hö—
herer Lebensgrad ift auch ein höhere Denken, aber hier unters
ſcheidet ſich wieder das willfürlihe Meinen, das ſich nad) ſub⸗
jectiver Neigung in Hppothefen ergeht, von dem nothwendigen
Denken, welches das wahrhafte Sein mit aller Schärfe erfaßt.
Dieſes nothwendige Denken if der Ausdruck des höchſten
Lebenögraded. Iſt nun das Sein ewig, unveränderlich, einig,
fo Tann der Gedanke des Seins (unfer nothwendige Denken)
nur ald Bild, Aeußerung, Offenbarung jened ewigen Seins ge
faßt werden. Wir können dad Sein nicht denken, ohne und
felbft zu denken; alfo muß dad Selbftbemußtfein (gleich dem
nothwendigen Denken) als Offenbarung (Bild) des ewigen Seins
gelten. Da aber alles Wiffen und Erkennen im Selbftbewußt:
fein bedingt ift, fo ift der Urfprung bed letzteren, die Art und
*) Ebendaſelbſt. III Vorl. S. 436,
58*
916 ö
Weiſe, wie es aus dem Sein folgt, ſchlechthin unbegreiflich.
Das Selbftbewußtfein kann nie ald Folge, alfo auch nicht ald
Folge aus dem ewigen Sein begriffen werben, es kann ſich
felbft nicht ableiten, fonbern nur finden, es Bann fein eigenes
Sein nicht ergründen, fondern nur unmittelbar wahrnehmen:
„dieſes fein reales lediglich unmittelbar wahrzunehmendes Sein
ift Leben”. Das Selbfibewußtfein kann ſich nicht erdenken,
es kann nur ba fein ald wahrhaftiges realed Leben. Es giebt Fein
Sein außer dem Abfoluten. Alſo iſt unfer wirkliches Sein
(Selbftbervußtfein) dad Dafein ded Abfoluten felbft. Nun kann
das Abfolute nur da fein durch ſich ald das ewig unveränderlich
Eine. Alſo ift unfer wahres Sein (Selbftbewußtfein) der eigene
Ausbrud des abfoluten Seind. Wir haben ſchon früher gezeigt,
wie in dem Selbftbewußtfein Sein und Wiffen abfolut iventifch
find und jede Trennung beider, wenn fie dem Selbftberußtfein
vorauögefeßt wird, daſſelbe unmöglich machen würde”). Im
diefer Identität ruht dad Selbftbewußtfein, fie ift feine tieffte
Wurzel, fie ift dad wahrhaft wirkliche Sein, das Abfolute oder
Gott. „Das reale Leben des Wiſſens ift daher in feiner Wur-
zel daS innere Sein und Wefen des Abfoluten felber und nichts
anderes; und es ift zwifchen dem Abfoluten oder Gott und dem
Wiſſen in feiner tiefften Lebenswurzel gar feine Trennung, ſon⸗
dern beide gehen völlig in einander auf**).”
6. Das Wiſſen (Selbfibemußtfein) als Offenbarung
Gottes. Gott und Welt.
Hier ift der Punkt, in welchem ber Zufammenhang der
*) S. oben Bud) III. Cap. XI. S. 689flgb, Bug IV. Cap. I.
Rr. II. 6. 801—804,
) Anweiſung zum feligen Leben, III Borl, ©. 443,
917 x
fichte ſchen Wiſſenſchaftslehre und Religionslehre einleuchtet, und
von dem aus ihr Verhältniß beurtheilt fein will. Das Princip
alles Wiffens ift dad Selbftbewußtfein, dad Princip alles Selbft:
bemußtfeind ift jene abfolute Einheit des Seins und des Wiffens,
jene vollfommene Identität de3 Subjectiven und Objectiven, ohne
welche das Selbftbewußtfein unmöglich fein, — aber ald welche
das Selbftbewußtfein fi) unmöglich je erfcheinen kann, denn in
und mit demfelben ift die Trennung von Sein und Wiffen (Sub:
ject und Object) nothwendig gefeßt, deren abfolute Einheit im
Princip und Grunde des Selbftbewußtfeind ewig feftfteht. Diefe
Gedanken hat die Wiſſenſchaftslehre mit aller Klarheit entwideltz
darauf ruht ihre Sittenlehre, als auf ihrer Grundlage. Jene
abſolute Identität, welche die tieffte Wurzel alles Selbſtbewußt⸗
feind ausmacht, nennt die Religionslehre das wahrhaft wirkliche
Sein, dad Göttliche oder Abfolute; die Rückkehr des Selbft:
bewußtfeins in biefen feinen Urgrund, die Erfaffung des Ewigen,
das Hinauögreifen Über die im gemöhnlichen Erkennen und Hans
dein gefeßte Trennung von Sein und Wiffen, das Erlöfchen des
getrennten und trennenden Selbftberoußtfeins im Ewigen ift nad)
Fichte dad Wefen der Religion.
Wenn nun das einige, ewige, unveränberliche Sein (Gott)
in Wahrheit alles in allem ift, woher kommt die Mannigfaltige
keit und der Wechfel der Erfcheinungen? Wenn im Unterfchiede
von Gott nichts ift ald Gedachtes (Bewußtes), und dad nothwen⸗
dige Denken im Begriffe der ewigen Einheit befteht, "woher
kommt die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung? Woher mit
einem Worte dad Princip der Spaltung? Diefe Frage löſt ſich
aus der Natur des Selbftbewußtfeind, welche die Wiſſenſchafts-
lehre erleuchtet hat. Das Selbftbewußtfein trennt, was in ſei⸗
nem Principe vereinigt (abfolut eines) ift, ed trennt bad Sein
918 B
ab von dem Denken, dad Objective von dem Subjectiven; fo
entfteht in Folge des Selbftbewußtfeins ein objectives von außen
gegebened todtes Sein, fo verwandelt fid das göttliche Sein in
einen Gegenfland des Selbſtbewußtſeins, in die Erfcheinung ber
Welt; dad vom Sein ſich unterfcheidende (fubjective) Denken,
ber Begriff”, wie Fichte fagt, „ift der eigentliche Weltfchöpfer‘.
Unterfcheidet fich aber einmal dad Denken vom Sein, wie ed
vermöge des Selbſtbewußtſeins nothwendig gefchieht, fo entfteht,
wie die Wiffenfchaftölchre gezeigt hat, die Reihe der Reflerionen,
das Sein wird reflectirt, auf diefe Reflerion muß wieder reflectirt
werden, auf jeder Reflexionsſtufe ändert fich die Welterfcheinung ;
fo entfteht die Mannigfaltigkeit und der Wechfel des objectiven
Dafeind (die Weränderlichkeit der Welt) auf der einen und die
Mannigfaltigkeit der fubjectiven Betrachtung (die Veranderlich⸗
keit der Weltanficht) auf der anderen Seite. Das Selbftbewußt-
fein verwandelt Gott in Welt; die Reflerion fpaltet die Welt
und dad Bewußtſein in fo viele Formen *).
7. Die fünffahe Weltanſicht.
Der Grundgedanke, in welchem die fichte ſche Religiond-
lehre ſich an die Wiffenfchaftölehre anknüpft, liegt alfo darin:
daß die einzige Form, in welcher das göttliche Sein ſich offenbart,
nämlich dad Wiffen oder Selbftbewußtfein, zugleich die Bedin-
gung in fich trägt, die und nothwendigerweife das göttliche Sein
verdunkelt. Wer diefen Punkt nicht ergreift und im Auge behält,
der kann das Eigenthümliche der fichte’fchen Religionslehre nicht
faffen. Wir find Licht und ftehen uns felbft im Lichte. Durch:
zudringen aus dem Dunkel zur Urquelle des Lichts, ift die noth⸗
*) Ghenbafelbft, IV Vorl, S. 447 — 460. Bol. beſ. S. 152 figd.
Rr. 8. a—f
919
wenbige Beftimmung bed Bewußtfeind und bie in ber Wurzel
h unferes Dafeind enthaltene Aufgabe unferes Lebens. Zwiſchen
Finfterniß und Licht giebt es unendlich viele Grade der Abſtu⸗
fung. Unendlich mannigfaltig und getheilt nad} dem Grabe ihrer
Erleuchtung ift unfere Weltanficht. Um fefte Punkte zu haben,
werden wir einen niebrigften, höchften und mittleren Grad
unterfcheiden können, welcher letztere felbft wieder nach beiden
Seiten vermittelnde Zwifchenftufen fordert. So ergiebt ſich eine
fünffache Weltanficht, fünf Weifen die Welt zu nehmen, die
eben fo viele Stufen und Entwicklungsgrade unferes geiftigen
Lebens bezeichnen. - Der niebrigfte Grad ift die dunkelſte und
oberflächlichfte Weltanficht, der höchfte die allerklarfte und zus
gleich tieffte. Diefe Stufen find nothwendige Beftimmungen des
einen Bewußtfeins und darum nicht an die Zeitfolge gebunden ;
viele bleiben eingewurzelt in der gemeinen Anfiht der Dinge,
während andere wie burch ein Wunder von vornherein die Welt
in einem höheren Lichtefehen: das find die erleuchteten Menfchen,
die Weifen und Religiöfen, die Heroen und Dichter, die dad
Gemeine hinter ſich laffen ald wefenlofen Schein,
Der niedrigfte Standpunkt iſt der finnliche, dem das äußere
Sinnenobject und die Sinnenwelt ald dad wahrhaft Wirkliche
gilt und der nichts Höheres erkennt noch anerkennen will.
Der zweite höhere Standpunkt, mit dem dad geiftige Leben
wirklich erft beginnt, erblickt in ber Welt die Offenbarung eines
ordnenden Vernunftgefeges; diefes gilt ihm ald das Reale;
dad Dafein derMenfchheit ald der vernünftigen und freien Wefen,
auf welche dad Geſetz fich bezieht, ift dadurch bedingt, und von
bier aus erflärt fi das Dafein der Sinnenwelt ald des noths
wendigen Schauplaßes, den die Handlungen freier Wefen fordern.
Ueber diefen zweiten Standpunkt erhebt fich ein britter,
920
den Fichte die „höhere Moralität” nennt. Das ordnende Geſetz
iſt nicht dad Urfprüngliche und Reale, es feht voraus den abſo⸗
luten in ſich felbft gegründeten Zweck, der in der Menfchheit ver⸗
wirklicht werden fol: ein erfchaffendes Gefeß, welches bie
Menſchheit zum Abbilde und zur Offenbarung des inneren gött⸗
lichen Wefend zu machen firebt. Das an und für fi) Gute, die
Idee ift das erfte, die Menfchheit ald deren Abbild dad zweite,
das ordnende Geſetz innerhalb der Menfchenwelt ift das dritte,
und die Sinnenwelt als Schauplag bed Handelns das letzte ).
Die Menfchheit ald Abbild des göttlichen Weſens, als er:
griffen und getragen von dem Hauche des erſchaffenden Gefeges:
diefe Weltanficht erhebt fich über die bloße Sittlichkeit, aber
bleibt noch befangen in der Trennung des Göttlichen und Menfch-
lichen, fie fteht noch dieſſeits der Scheidewand und erblidt de-
halb das göttliche Weſen felbft nicht im Licht, fondern im Schat⸗
ten. Ihr eigenes Selbftbewußtfein ift diefe Scheidewand. So
lange die Menfchheit fid und die Welt nur ald Abbild Gottes fieht,
bleibt ihr das Urbild ewig verborgen ; fie verbirgt es fich felbft
und bleibt im Dunkel. Die Scheidewand fällt oder fie wirb
durchfichtig, fobald dad Selbftbewußtfein nicht ald Trennung von
Gott, fondern ald unmittelbarer Ausdrud des göttlichen Lebens
felbft erfaßt wird. Dann ift unfer Leben und das göttliche in
Wahrheit ein Leben: in dem Bewußtfein diefer Einheit befteht
die Religion (dad felige Leben). „Wir willen,” fagt Fichte,
„von jenem unmittelbaren göttlichen Leben nichts, denn mit dem
erften Schlage des Bewußtſeins ſchon verwandelt es ſich in eine
todte Welt, die ſich noch überdieß in fünf Standpunkte ihrer
möglichen Anficht theilt. Mag ed doch immer Gott felber fein,
der hinter allen diefen Geftalten lebt, wir fehen nicht ihn, ſon⸗
*) Ebendaſelbſt. V Vorl, S. 461— 470,
921
dern immer nur feine Hülle, wir fehen ihn ald Stein, Kraut,
Thier, fehen ihn, wenn wir und höher fehwingen, ald Natur—
geſetz, ald Sittengefeg, und alles diefes ift Doch immer nicht er.
Immer verhüllet und die Form dad Wefen, immer
verdedt unfer Sehen felbft und den Gegenftand,
und unfer Auge felbfi fteht unferem Auge im Wege,
Ich fage dir, der du fo klagſt: erhebe dich nur in den Stand:
punkt der Religion, und alle Hüllen ſchwinden, bie Welt ver-
geht dir mit ihrem todten Princip, und die Gottheit tritt wieder
in dich ein in ihrer erfien und urfprünglichen Form ald Leben,
als dein eigenes Leben, dad du leben folft und leben wirft.
Nur noch die eine unauötilgbare Form der Neflerion bleibt, die
Unendlichkeit dieſes göttlichen Lebens in dirz aber diefe Form
drüdt dich nicht, denn du begehrft fie und liebft fie nicht, fie
irret dich nicht, denn du vermagft fie zu erklären. Im dem,
was der heilige Menfch thut, lebet und liebet, erfcheint Gott
nicht mehr im Schatten und bedeckt von einer Hülle, fondern in
feinem eigenen, unmittelbaren und kräftigen Leben, und die aus
dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage:
mas ift Gott? wird hier fo beantwortet: er ift Dasjenige,
was der ihm Ergebene und von ihm Begeifterte
thut. Willſt du Gott fehauen, wie er in fich felber ift, von
Angeficht zu Angefiht? Suche ihn nicht jenſeits der Wolken,
du kannſt ihn allenthalben finden, wo bu bift. Schaue an dad
Leben feiner Ergebenen und du ſchaueſt ihn an; ergieb dich felber
ihm, und du findeft ihn in deiner Bruſt ).“
Der letzte und höchfte Standpunkt erhebt fich über den eben
befchriebenen und macht zu feinem Gegenftande, was in der Reli⸗
gion Zuftand und lebendige Thatfache ift: er erflärt die Thatfache
*) Ebendaſelbſt. V Vorl, S. 471—472,
922
der Religion, die Einheit und den Zufammenhang des göttlichen
und menfchlichen Lebens, dad Wie dieſes Zuſammenhanges. Er
verhält fi zur Religion, wie bad Erkennen zum Leben: das ift
der Standpunkt des Wiſſens, ber einen, abfoluten, in füch
vollendeten Wiffenfhaft. Für die Religion ift die Einheit des
göttlichen und menfchlichen Lebens abfoluted Factum. Die Wif-
fenfhaft giebt die Geneſis dieſes Factums. Religion ohne diefe
Erkenntniß ift einfacher Glaube. Die von der Erkenntniß durch⸗
drungene Religion ift Schauen. Diefer Standpunkt if noth-
wendig, benn er ift die Erklärung der Religion; die Klarheit ift
nothwendig, denn in ihr allein vollendet ſich das im Wiffen ge-
gründete Leben *).
"Religion und Wiffen find befcpauend und contemplativ,
Darum ift die Religion nicht unpraktifch, nicht etwa ein anbäch-
tiged Träumen oder eine Schwärmerei, die dad Gebrechen des
geröhnlichen Myſticismus ausmacht; fie durchdtingt dad ganze
Leben und ift darum kein abgefonderted Geſchäft, fondern fie er:
blickt in jeder Lebenöfphäre den thätigen Willen Gottes und hei»
ligt jeben Beruf, wie niebrig oder hoch er ſtehe. Sie wäre nicht
Religion in des Worts realer Bedeutung, wenn fie nicht eine
folche wirkfame Verklärung des ganzen menſchlichen Lebens
wäre”).
Die fünf Stufen der Weltanfiht find demmad 1) ber
Standpunkt der Sinnlichkeit, 2) der Sittlichkeit, 3) ber höheren
Moralität, 4) der Religion (Glaube), 5) der Wiffenfchaft
(Schauen). Auf dem erften Standpunkte gilt ald dad Reale bie
Sinnenwelt, auf dem zweiten das orbnende Weltgeſetz (Sitten:
gefes), auf dem dritten das erfchaffende Gefeh, auf dem vierten
*) Ebendafelbft. W Vorl. 6, 472—473.
**) Ghendafelbft, V Vorl, ©, 473—475,
923 .
die Einheit deö göttlichen und menfchlichen Lebens als Thatfache,
auf dem fünften diefe abfolute Thatfache mit der Einficht in ihre
Nothwendigkeit. Die beiden legten Standpunkte find jenfeits
der Scheidewand, die im Selbſtbewußtſein befteht; bie beiden
erften bleiben biefjeitö berfelben, der mittlere ſtrebt nach dem
Durchbruch.
Der erſte Standpunkt hat ſeine exemplariſche Darſtellung in
jener allgemein geltenden Philoſophie, die Fichte irf den Grund:
zügen des gegenwärtigen Zeitalter8 gefchilbert hatz der zweite ift
dargeftellt in der „Eantifchen Eehre bis zur Kritik der praktifchen
Vernunft“, der britte ift geahnt in Plato, berührt in Jacobi,
der vierte ift erfüllt und empfunden in jedem wahrhaft religiöfen
Leben, er will begriffen und fyftematifch entwidelt fein in ber
Wiſſenſchaftslehre, die ſich auf den höchften Standpunkt erhebt*).
8. Die fichte'ſche Religionölehre und das johan—
neifhe Chriftenthum.
Daß die Religion in der ewigen Einheit des göttlichen und
menſchlichen Lebens wurzelt: diefe Einficht lebt in der Tiefe jedes
wahrhaft religiöfen Bewußtſeins; fie ift als Religion im Chris
ftenthume zur gefchichtlichen Erſcheinung gefommen und in „der
ächteften und reinften Urkunde deffelben, dem Evangelium Io:
hannis“ felbft ald Religionslehre ausgeſprochen und bargeftellt
worden **). Hier ift der Punkt, wo Fichte auf dieſes ſchon wie⸗
derholt berührte Thema näher eingeht und durch die Ueberein-
flimmung feiner Lehre mit dem Evangelium Johannis feine Ueber⸗
einftimmung mit dem Chriftentyume zu begründen fucht. Er
fest erftend voraus, daß dieſes Evangelium johanneifch und äch—
*) Ebendaſelbſt. V Vorl. ©. 466. 467. 469— 470.
*) Chendafelbft. VI Vorl, ©, 476,
924
tefte Urkunde des Chriftenthumd fei; er erflärt zweitens den Sinn
deffelben fo, daß fich die Uebereinftimmung mit feiner Lehre
rechtfertigt. Wir können über die erfte Vorausſetzung nicht mit
ihm reiten, weil die Eritifch=hiftorifche Frage und Unterfuchung,
die ihr entgegenfteht, fpäteren Urſprungs ift, und wie es fich
auch damit verhalte, doch die Hauptſache eingeräumt werden
darf, daß in dieſem Evangelium das chriftliche Glaubenöprincip
feinen tiefften dogmatifchen Ausdruck gewonnen; wir laffen bie
zweite Vorausfegung gewähren, weil hier nicht der Ort iſt, den
Sinn des Evangeliums zu beflimmen und Fichte's Erklärungs⸗
weife zu berichtigen; wir nehmen daher die leßtere nur als ein
Zeugniß feiner Lehre, aldein „epifodifches”, wie er felbft fagt.
Ewig, wie Gott felbft, ift fein Dafein, feine Offenbarung,
die in nichts anderem befteht, als im Wiffen, im Bewußtſein,
in Folge deffen erft Objecte entftehen, die Welt und die Dinge.
Die Ewigkeit des Bewußtſeins leugnen, heißt die Ewigkeit der
göttlichen Offenbarung, die Ewigkeit Gottes felbft verneinen und
an deren Stelle den willkürlichen Schöpfungsact fegen. Diefe An:
nahme ift nach Fichte „ber abfolute Grundirrthum aller falfchen
Metaphyſik und Religionslehre”, „Da Urprincip des Juden: und
Heidenthums“. „In Beziehung auf die Religionslehre ift das
Segen einer Schöpfung baderfte Kriterium der Falſchheit; dad Ab:
leugnen einer folchen Schöpfung, falls eine folche Durch vorherge-
gangene Religionslehre gefegt fein follte, das erfte Kriterium der
Wahrheit diefer Religionslehre *).” Als eine folche wahre Reli:
gionslehre charakterifirt fich das Johannisevangelium gleich in
den erften Worten. Es fagt nicht: „im Anfange fhuf Gott
Himmel und Erde”, fondern ed fagt: „im Anfange war das
Wort, der Logos” (die Weisheit), der geiftige Ausdruck, das
*) Ebendaſelbſt. VI Vorl, &, 479,
925
Bewußtſein ald Dafein Gottes, „Gott war dad Wort, daſſelbige
war im Anfange bei Gott; alle Dinge find durch daſſelbe ge:
macht und ohne daffelbe ift nichts gemacht, was gemacht iſt.“
Das ewige Bewußtfein ift die ewige Menfchheit oder Menfch:
werbung Gottes, die ewige Einheit des Göttlichen und Menfch-
lichen, dad innerfte Wefen aller Religion. Die zeitliche Erfcheis
nung bed Worts ift die Perfon Jeſu; in ihm ift dad Bewußt⸗
fein jener abfoluten Einheit des göttlichen und menſchlichen Das
feins, diefe tieffte Erkenntniß der Wahrheit, wirklich gegenwär⸗
tig gewefen, zum erflenmale in der Welt, vor ihm hat fie keiner
in diefer Klarheit und Stärke gehabt, nad) ihm find alle bie»
fer Wahrheit, diefer Vereinigung mit Gott, diefer Seligkeit
theilhaftig geworden durch ihn. So rechtfertigt ſich das chriſt⸗
liche Dogma fowohl in feiner metaphyſiſchen ald in feiner hifto-
tifchen Bedeutung. Aber dad Seligmacyende liegt nicht im hiſto⸗
tifchen Glauben oder in der gefchichtlichen Anerkennung der Gott:
menfchheit Jeſu, auch nicht in der äußeren ſtückweiſen und ent⸗
fernten Nachahmung feiner Perfon ald eines unerreichbaren
Ideals, fondern in der Wiederholung beffelben religiöfen Ber
wußtſeins und Lebens: „nur dad Metaphufifche, keineswegs aber
das Hiftorifche, macht felig*).”
*) Ebendaſelbſt. VI Vorl. 6. 477—491. 6.485.
In der Perfon Jeſu war das Bewußtjein ber abjoluten Einheit
des Göttlihen und Menſchlichen nicht fpeculativ begründet, aud nicht
von außen ber durch Weberlieferung empfangen, fondern urſprünglich
und unmittelbar, nicht Wiffenfchaft, fondern Religion. Sein eigenes
Selbſt war ihm unabtrennbar von dem Göttlichen, daher die Einheit
beiber ein Urfactum, das eine genetiſche ErHlärung ober metaphyſiſche
Begründung weber bedurfte noch zuließ. Ebendaſelbſt. Beilage zur VI
Vorl, ©. 567—574,
926
IL
Das felige Leben.
Jede nothwendige Beftimmung unfered Bewußtfeins ift zu⸗
glei ein Ausdrud unſeres Lebensgrades, eine beftimmte Höhe
des Selbfigefühls, ein Affert des Seins. Won dem Grabe
der Lebenderfülung hängt der Lebensgenuß, die Tiefe und
Dauer unferer Befriedigung ab. Die ewige Dauer der Befriedi⸗
gung ift Seligkeit. Won jenen fünf Weltanfihten, welde eben
fo viele Lebensſtandpunkte waren, ift jede mit einer eigenthüm⸗
lichen Art der Befriedigung und des Lebensgenuffes nothwendig
verbunden: welche ift die feligmachende? Die Auflöfung diefer
Frage, welche den zweiten Haupttheil der fichte’fchen Unterfuchung
ausmacht, führt und auf jene fünf Standpunkte zurück, die jest
als eben fo viele Stufen der Lebenöbefriedigung betrachtet fein
wollen.
1. Der Standpunkt ber Rullität.
Jede Art des Selbfigefühls und Selbſtgenuſſes, wie niedrig
oder hoch fie fei, febt eine gewiffe Stufe der Selbftändig-
keit, eine Bufammenfafjung und Haltung des Bewußtſeins vor⸗
aus, die im Stande ift, den Charakter einer Weltanficht zu er⸗
fülen. Dazu gehört felbft auf der niedrigften Stufe eine gewiffe
Eoncentration des geiftigen Lebens. Wo diefe völlig fehlt, da
ift die baare Unfelbftändigkeit, dad Bewußtſein bietet hier der
Welt keine Spitze, fondern nur eine ftumpf ausgebreitete Fläche,
auf ber alles zerfließt und fich verwirrt, es kommt hier zu gar
feinem beftimmten Eindrude, ſondern -alle8 verwandelt fih in
Trivialität, der Geift ift wie Baal über Feld gegangen. Hier
ift überhaupt Fein innere Leben, vielmehr bie geiflige Nicht
927
eriftenz, Fein wirkliches Sein und darum auch fein Wohlfein,
fein Affect, weder Haß noch Liebe, fondern die abfolute Genuß:
loſigkeit und Unfeligfeit in der unfähigften Form, ein „Zuſtand
der Nullität”, der bei der Frage nach der Eebenöbefriedigung
gar nicht mitzählt*).
2. Die beiden entgegengefegten Grundpunkte.
Nur wo ed zu einer beftimmten Weltanfiht fommt, prägt
ſich eine Lebensform aus, die eigene Selbftändigkeit hat und
fähig ift ihr Dafein zu genießen. Jede beſtimmte Weltanficht
war ein nothwendiger Ausdrud des Bewußtſeins, das Bewußt⸗
fein felbft war in feiner Wurzel Offenbarung (Dafein) Gottes,
„Form des ewigen unveränderlihen Seins”, „Selbfigeftaltung
der abfoluten Realität”. Vermöge der Reflerion, welche die
Grundform des Bewußtfeind ausmacht, fpaltet ſich das letztere
in „fünf mögliche Anfichtpunkte der Realität”; jeder diefer
Standpunkte ift möglich, dad Bewußtſein kann daher den einen
fo gut einnehmen ald den andern. Hier eröffnet fih mithin
innerhalb des nothwendigen Bewußtfeins (der Form des abfoluten
Seins) ein Spielraum der Freiheit, in weldem das Ich ſich
unabhängig macht von dem göftlichen Sein und eine eigene
Selbftändigkeit behauptet. Da es außer dem ewigen Sein nichts
wahrhaft Wirkliches giebt, fo fagt Fichte: „das abfolute Sein ſtößt
fih aus von fich felbft, um lebendig wieder einzukehren in ſich
felbft **).” (Er fpricht hier den Proceß des göttlichen Lebens in
einer Form aud, die typifch geworben ift bei Hegel.) Sind nun
Me jene Standpunkte durchlebt, fo ift damit auch alle mögliche
*) Ebenbafelöft. VII Vorl. S. 492—498, Vgl. VIII Borl,
S. 507.
**) Ebendaſelbſt. VIII Borl, S. 512,
928
Freiheit und eigene Selbftändigfeit des Ich erſchöpft und es
bleibt nichts übrig als die volle Einheit unfered und deö göttlichen
Seind ohne das Gefühl der Trennung, ohne den Affect ber
eigenen Selbftändigfeit. Wir werden daher in Betreff der Art
und Weife, wie wir bie Welt nehmen und genießen, zwei „ent:
gegengefegte Grundpunkte“ unterfcheiden müffen: „bie Anweſen⸗
heit und Abmwefenheit jenes Affects ber eigenen Selbſtändigkeit“ *).
3. Glüdfeligkeit.
- Auf der niebrigften Stufe der finnlihen Weltanficht fieht
fi) dad Ich (nicht als veflectirended Wefen, fondern) ald Pro-
duct der Reflerion, als befondereö, individuelles, finnliches Ich,
ald Trieb und Bedürfniß, welches durch finnliche Objecte befrie:
digt fein wil. Es ſucht daher den finnlichen Genuß, die Er:
höhung feines organifchen Dafeins, diejenige Befriedigung, deren
Ideal und Ziel die Glüdfeligkeit if. Es fucht diefe Glüdfelig-
feit in der Sinnenwelt, in den Objecten feiner Umgebung. Iegt
erfcheint dieſes Object als das glüdfeligmachende, jegt ein anderes.
So veränderlih, ald dad finnliche Ich felbft, find die Objecte,
die es begehrt. Daher ift hier die Glückſeligkeit ein völlig unge:
wiffer, aus Einbildung und Enttäufhung zufammengefester und
darum unfeliger Zuſtand. Zulegt erfcheint die Glüdfeligkeit als
ein in der irdifchen Welt nicht zu erreichendes Ziel und darum
ald dad Ideal einer Fünftigen himmlifchen Welt, gleichviel wie
biefer künftige Zuftand geträumt wird, ob ald Elyſium, als
Abrahams Schoß oder als riftliher Himmel. Immer aber
find es die Objecte, die Umgebungen, von denen die Glückſelig⸗
keit abhängig gemacht wird, im Jenſeits fo gut ald im Dieſſeits.
Die Umgebungen machen nicht felig. „Wenn ihr im zweiten
*) Ebenbafelöft, VIII Vorl. ©. 508—514,
929
Leben euer Glüd wiederum von den Umgebungen abhängig machen
werdet, werdet ihr euch ebenfo ſchlecht befinden, wie hier, und
werdet euch fobann eines dritten Lebens tröften und im britten
eines vierten und fo in's Unendliche, denn Gott kann weder noch
will er durch die Umgebungen felig machen, indem er vielmehr
fich felbft ohne alle Geftalt und geben will ).“
4 Rechtlichkeit.
Die zweite Form der Weltanficht war der Standpunkt der
Geſetzlichkeit. In der Erkenntniß und Erfülung des ordnenden
Weltgefeges ift das Ich unabhängig von dem finnlichen Welt
genuß, ed erfcheint fich als abfolut unabhängig, als lediglich in
ſich felbft gegründet, als fein eigener Gott und fein eigener Heiz
land. Der Genuß und Affect diefer feiner Selbftändigkeit ift
die Rechtlichk eit, ein ſtoiſches Unabhängigkeitögefühl, eine
Art prometheifcher Erhebung. Diefe Unabhängigkeit vom Genuß
ift zugleich die Unempfänglicpkeit für jede Erfülung, die Uns
fähigkeit zu jedem Genuß, eine unintereffirte Kälte, die reine
Apathie, die gleichgültig ſchwebt zwifchen dem Gemeinen und
‚Heiligen **). .
Auf beiden Standpunkten herrfcht der Affect der eigenen
Selbftändigkeit, auf dem erften als finnlicher Genuß, auf dem
zweiten als Selbftgerechtigkeit; dort ift der Genuß Wahn und
Tauſchung, bier „giebt es Feine folche Täuſchung, weil es über:
haupt feinen Genuß giebt. Das wahre Sein ift nur eines,
Was fi von ihm unterfcheidet und etwas Beſonderes für ſich
*) Ebendaſelbſt. VIII Vorl, S. 522. Vgl. VII Vorl. 6. 498
bis 500. VIII. S. 515. IX Vorl, S. 523.
**) Ebendaſelbſt. VII Vorl. &.502—506. VIII Vorl. 6,516,
IX Vorl. S. 823 u. 24.
dil qer, Seſchichte der Philoſophie V. 59
930
fein will, ift keineswegs Sein, fondern nur eine Negation dei:
ſelben, darum befchränkt, mangelhaft, unfelig. Der Weg zur
Seligkeit fordert die Austilgung der falfchen, eingebildeten, genuß
loſen Selbftändigkeit: die Selbftvernichtung in der Wurzel, die
nichts übrig läßt ald die alleinige Wirkfamfeit des göttlichen
Seins. Jetzt find die einzelnen Perfonen nicht mehr befonder
Weſen für fich, fondern Drgane des göttlichen Lebens und wollen
nichts anderes fein. Es ift nicht das Geſetz der Sinnenwelt,
das fich in ihnen verkörpert, fondern die überfinnliche Melt, die
ihnen erfcheint. „Der Menſch Tann ſich feinen Gott erzeugen,
‚aber fich felbft ald die eigentliche Negation Tann er vernichten und
fodann verfinket er in Gott*).”
5. Schönheit.
Diefe Weltanficht erhebt ſich über die vorhergehenden und
begreift den Standpunkt der höheren Moralität. Die Erſchei⸗
nung des Göttlichen in menſchlicher Geſtalt iſt die Schönheit.
Set ift es nicht mehr das Sittengefe und der Tategorifche Im
perativ, ber und zum Handeln antreibt, fondern die Macht gött-
licher Wirkſamkeit in und, das Walten ded Genius, die gött⸗
liche Begabung des Individuums, das natürliche Talent al
Quelle und Wurzel deö geiftigen Lebensgenuſſes, der individuelle
Charakter höherer Beſtimmung, der eigenthümliche Antheil jede
Einzelnen an dem höheren überfinnlihen Sein. Das Ergreifen
diefer eigenthümlichen Beftimmung ift hier unfere Lebensaufgabt,
unfer Lebensgenuß. Was wir thun, thun wir aus göttlicher
Mittheilung, aus einem empfangenen Beruf, nicht aus leerer
Selbftändigkeitz es giebt hier keine Werkheiligkeit aus eigener
Wahl. Unfer Sollen ift hier eined mit unferem Können, dieſes
*) Ebendaſelbſt. VIII Vorl. ©. 518.
‚931
mit unferem Willen, der nicht durch Selbſtwahl gemacht wird,
fondern eines ift mit der Wurzel unfered Dafeind. „Wolle fein,
was du fein folft, was du fein kannſt und was du eben darum
fein wit: das ift das Grundgefeg der höheren Moralität for
wohl als des feligen &ebens*).”
6. Religiofität. Die Liebe als Seligkeit.
Die höhere Moralität ift das göttlich getriebene Handeln,
das Ziel unferes Handelns ift bad glüdlich vollendete oder geluns
gene Wert, Was gelingen foll, kann auch mißlingen; beides
fteht auf dem äußeren Erfolge, der immer ungewiß bleibt. So
lange wir den äußeren Erfolg wollen, muß der Nichterfolg ober
das Mißlingen bed eigenen Werkes eine Nichtbefriedigung mit ſich
führen, die unfere Seligkeit ftört. Diefe Störung ift der letzte
zu überwinbende Mangel, fie treibt und nach innen, und eine
tiefere Selbftprüfung erhebt und auf einen höheren Standpunkt,
von dem aus bie äußeren Erfolge nicht mehr gewollt werden, und
der darum das felige eben vollendet. Das ift der Standpunkt
der Religiofität. Wir fehen die Welt ald Offenbarung Got:
tes, die Geifterwelt als feine Erſcheinung, die Sinnenwelt ald
die Sphäre der Geifterwelt: alles verwandelt fich unter dieſem
Gefichtöpunkte in „das Reich Gottes”, welches unabhängig if
von unferen Erfolgen**).
Wenn diefe religiöfe Weltanficht in jedem lebt, fo iftin
Wahrheit die Geifterwelt einig in ſich und eines mit ihrem Urs
quell; fo ift, um den fichte ſchen Ausbrud zu wiederholen, das
abfolute Sein lebendig wieder eingelehrt in ſich felbf. Die
Einigkeit in der Geifterwelt iſt die religiöfe Menfchenliebe, die
*) Ebendaſelbſt. IX Vorl, 6, 526—533,
*) Ebendajelbft. IX, Bor, S. 533— 557.
59*
932
Einheit mit ihrem Urquell ift unfere Liebe zu Gott, die Einkehr
Gottes in fc ift die Liebe Gottes zu fich felbft. So ift die Eiche
die abfolute Befriedigung, dad wahre Sein, die wahre Selig:
feit. „Die Liebe ift höher denn alle Vernunft, und fie ift ſelbſt
die Quelle der Vernunft und die Wurzel der Realität und die
einzige Schöpferin des Lebens und der Zeitz ich habe dadurd
den höchften realen Geſichtspunkt einer Seind= und Lebens⸗ und
Seligkeitölehre d. i. der wahren Speculation endlich klar ausge
ſprochen *).”
In den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters hatte Fichte
unterfchieden zwiſchen Wernunftreligion und Verftandesreligion;
ex wollte dort nur von ber zweiten gerebet haben, welde die
zeitliche Entwidlung der Menfchheit aus dem religiöfen Stand:
punkte erleuchtet und begreiflich macht; er giebt hier bie erfkt,
die dad menfchliche Leben betrachtet in feiner Sehnfucht nach und
in feiner Einheit mit dem Eigen.
Die Anweifungen zum feligen Leben verhalten ſich zu ihrem
Beitalter ebenfo polemifch, als jene Grundzüge. Die herrſchen⸗
den Vorftelungsweifen des Zeitalterd find irreligiöß; dieſes hat ih
den Glauben an das Ueberfinnliche durch feine oberflächliche finn-
liche Denkart aus der Seele weggerebet oder, wo es ihn hat,
verfälſcht und abergläubifch entftelt durch die finnliche Sudt
nach Glüdfeligkeit. Der herrſchenden Aufklärung des Zeitalter
ericheint alle Religion ald Superflition. Diefe Verachtung ber
Religion ift eben fo abergläubifch, als der Aberglaube irreligiös
iſt. Beide gehören zufammen und ergänzen das Bild einer ine
ligiöſen Denkweiſe. Der Aberglaube ift „bie ſchwermüthige It⸗
*) Ebendaſelbſt. X Vorl, S. 538— 542,
933
religiofität, dagegen dasjenige, was das Zeitalter gern an fich
brächte, wenn es könnte, nur ald Befreiung von jener Schwer
müthigfeit, — die leichtfinnige Irreligiofität fein würde ).“
*) Ebendaſelbſt. XI Vorl, ©. 551—567. (©. 563 fig). ALS
einen Verfuh, feine religiöfe Weltanficht poetifh auszubrüden, erwäh:
ne ich hier bie beiden legten Sonette Fichte's. [S. W. III Abth.
III Bd. B. Son. 2. 3. ©. 461 flgb.]
Siebentes Capitel.
Reden andiedenifhe Nation.
A. Die nene Beit und das deutfche Volk.
L
Die Aufgabe ber neuen Zeit.
41. Der Wendepunkt.
Drei Jahre find vergangen, feitdem Fichte das gegenwärtige
Zeitalter gefchildert hat als das ber eingewurzelten Selbſtſucht
und darum ber vollendeten Sündhaftigkeit. Während diefer we:
nigen Jahre ift jener dritte Abfchnitt der Weltzeit abgelaufen; |
ſchon erhebt fi), im Anbruche begriffen, das neue Zeitalter der
beginnenden Rechtfertigung, wie es die Grundzüge nannten. !
Die Einfiht in die Wurzel des Uebels ift der Anfang de
Beſſern. Die legte Frucht, die das Zeitalter der Selbſtſucht
hervorbringen Eonnte, ift zu "voller Reife gediehen, und wer
Augen hat zu fehen, Tann ſich über den Grund des Verderbens
nicht Tänger täuſchen. Das Reich der Selbftfucht ift zerftört,
das deutfche Volk ift einem fremden Eroberer erlegen und trägt
das Joch fremder Gewaltherrſchaft; es hat dad Vermögen fih
felbft feine Zwecke zu fegen verloren, und damit ift die Herr:
ſchaft der Selbftfucht auch zu Grunde gegangen. Es ift ein um
935
freiwilliges, aber nothwendiges Ende. In diefer Thatſache liegt
ein weltgefchichtlicher Wendepunkt *).
Der Untergang der Selbftfucht ift fein blindes, von außen
bereingebrochened Verhängniß, fondern ihre eigene Frucht. Ihre
Vernichtung fällt zufammen mit dem Gipfel ihrer Entwicklung;
ihr Maß war voll, fie hatte in Deutfchland die Regierenden
felbft ergriffen und war bie einzige Triebfeder des politifchen Hans
delnd. Der Gedanke des gemeinfamen Vaterlandes in der Ges
fammtheit hatte jede treibende Kraft verloren und war auögetilgt
bis auf den Reſt; die Lenkung ber öffentlichen Dinge zeigte ſich
nach innen fchlaff, nach außen feig, von einen felbftfüchtigen
Intereffen erfüllt, dad Ganze verrätheriſch preisgebend.
Wir find gefallen aus eigener Schuld. Wir önnen uns
aufrichten auch nur aud eigener Kraft. Man muß fich den
Grund des Unterganges Mar machen, um dad richtige Mittel
der Abhülfe und den Weg ber Wiederherſtellung zu entdeden.
Bir haben alle Urfahe Schmerz über unfer Elend zu empfinden,
und wir wären rettungslos verloren, wenn wir und gleichgültig
oder Teichtfinnig darüber hinmwegfegen könnten. Nur fol der
Schmerz über dad Elend fein elender Schmerz fein, der ſich in
Vorwürfen und Klagen ergeht, fondern jener männliche, muth:
erfüllte, befonnene Schmerz, der dem öffentlichen Unglück in’s
Geſicht fieht, das Uebel feft in's Auge faßt und vor allem der
eigenen Verſchuldung fi) mit aller Klarheit bewußt wird. Die
Einficht in den innerften Grund des Verderbens ift auch die Eins
ſicht in den innerften Grund der Rettung. Diefe Einficht alein
*) Weber bie gejchichtlichen Bebingungen, unter denen Fichte bie
Reden an bie deutſche Nation hält, vgl. oben Buch IT dieſes Werts,
Cap. V. Nr. II. III. 6. 313—323. Reben an die beutjche Nation,
S. W. III Abth. IT Bd. I Rede. S. 264. Bl, Vorr. S. 259.
936
gewährt Troſt und macht, daß wir nicht verzweifeln. Das
deutfche Volk trägt in feiner „Deutfchheit” dad Vermögen
der Wiederherftellung. Das ift dad Thema ber fichte ſchen Reden;
fie fprechen zu dem, von dem fie fprechen: es find „Reben von
Deutfchen an Deutfche”*).
Als Fichte fi mit dem Gedanken diefer Reden trug, be
fhäftigten ihn mancherlei politifche Zeitbetrachtungen verwandter
» Urt, die und aus feinem Nachlafje bekannt find und zum Theil
Bruchftüde eined unvollendeten politifchen Werkes bilden. In
- einem jener Bruchftüdte befchreibt er die Zeit deö Unterganges und
die Urfachen des Verderbens, als ob er felbft fchon in einer ent:
fernten Zeit und in einem republifanifch wiederhergeftellten Vater:
Iande lebte. Damals, ald jene Selbftfucht herrfchte, die zuletzt
alles in's Verderben flürzte, habe.die fittliche Verfchlimmerung
zugenommen in gleichem Werhältniffe mit dem Alter und dem
Range der Menſchen. Je älter und vornehmer, um fo egoifti:
ſcher feien die Leute geworben; die fogenannten höheren Stände
feien in der Genußfucht förmlich verfault, und die höchfte Stel:
lung habe fi in der Regel mit dem niebrigften Egoismus ver-
einigt**).
*) Ebendaſelbſt. I Nee, S. 265— 271.
**) Bruchſt. aus einem unvollendeten politiſchen Werke, geſchrieben
im Winter 1806/1807 zu Königsberg. I. „Epifobe über unfer Zeitalter
aus einem republilaniſchen Schriſtſteller“. S. W. III Abth. II BO.
(Bol. Fragmente). Hier heißt es: „Die niederen Stände konnten nie
malß fo tief finten, während bie höheren um fo tiefer, je näher fie dem
Gipfel ftanden, fi) dem Abgrunde zuneigten. Doch konnte man bei
alle dem nur von wenig Individuen unter ihnen jagen, daß fie bösartig
oder gemaltthätig feien, denn Hierzu gebrach es Lei ber Mehrheit an
Kraft, fondern fie waren in der Regel bloß dumm und unmifjend, feige,
faul und niederträdtig.” (S. 523.)
937
2. Die fittlihe Erneuerung bed Volks.
Liegt num der Grund deö gegenwärtigen Untergangs in bem
fittlichen Verderben, welches das ganze Volt an Haupt und
Gliedern ergriffen hatte, fo liegt auch die einzige Abhülfe nur in
einer fittlichen Wiedergeburt des ganzen Volks an Haupt und
Gliedern. Won außen kann nichts helfen, von innen nur eine
Emeuerung von Grund aus. Das Bolt muß neu gefchaffen
werden. Diefe neue Menfchenbildung kann nur durch Erziehung
gefchehen ‚ durch eine fofche Erziehung, die auf den ganzen Men:
ſchen geht, auf die gleichmäßige Ausbildung aller feiner Kräfte,
die nicht etwa diefen ober jenen Stand, fondern die Gefammtheit
des Volks im Auge hat und ihren Plan daher in größtem Um:
fange anlegt: was wir bebürfen, ift eine neue Volkserzie⸗
hung nad) einem planmäßigen, durchgängig auf den Zweck der
* fittlichen Wiedergeburt gerichteten Syſteme.
Dad Band, welches biöher die Einzelnen an bie Gefammt:
heit Inüpfte, waren die Einzelintereffen. Diefes Band ift zer:
tiffen. Dieſes fo verbundene Ganze ift zu Grunde gegangen,
eben weil es fo zufammenhing. Ein neues Bindungsmittel if
nothwendig; Intereffen ganz anderer Art müffen von jegt an ben
Einzelnen an die Gefammtheit feft und unauflöslic binden.
Neue Intereffen fordern ein neues Selbft. Um dieſes hervorzu:
on ber mit dem Alter zunehmenden Verſchlimmerung jagt Fichte:
„Die fie über dreißig Jahre hinaus waren, hätte man zu ihrer Chre
und zum Beften der Welt wünfchen mögen, daß fie ftürben, indem fie
von nun an nur noch lebten, um fih und ihre Umgebung immer mehr
zu verfhlimmern.* (6. 520.)
(Aus biefer letzten Aeußerung ift im Munde der Leute die Sage
entftanden, Fichte habe erklärt, man müffe die Menſchen, wenn fie
dteißig alt fein, tobt ſchlagen.)
938
bringen, ift das einzige Mittel eine neue Erziehung, die von
Teinem anderen Bolt auögehen und zunächft auf Fein anders
Volk angewendet werben kann, ald von Deutfchen auf Deutſche.
Wenn Fichte von der „Deutfchheit” redet, ald dem Vermögen
fittlicher und politifcher Wiederherftellung, fo erblickt er in ih
die Quelle einer neuen Volkserziehung *).
Daß die Natur des deutfchen Volks in der That eine folde
Quelle geiftiger Erneuerung iſt, bedarf einer tieferen Begründung.
ıL .
Dad deutfhe Volk als Urvolf.
1. Die Sprade und beren Sinnbildlidkeit.
Es ift die Frage, ob das deutfche Volk im Stande ift, die
ihm geftellte Aufgabe zu löfen, ob jene intellectuelle. und mora⸗
liſche Erneuerung der Menſchheit von ihm ausgehen, in und an
ihm erprobt werden kann, ob dem Beduürfniſſe der Zeit auch bie |
Fähigkeit und das Vermögen des Volks gleichfommen ?
Geiftige Lebenserneuerung von Grund aus ift überhaupt nur
da möglich, wo jemand aus ureigenfter Kraft lebt und kein ge:
liehenes, fondern ein urfprüngliches, in fich felbft gegründete |
Leben führt aus unverfieglicher Quelle. In der Geiftesurfprüng-
lichkeit Liegt die Bürgfhaft und die Kraft der Erneuerung. Bir
tönnen ein folches Wermögen der Erneuerung einem Volke nur
dann zutrauen, wenn es bei aller Veränderung feiner Wohnfikk,
bei aller Vermiſchung mit anderen Völkern feine ureigene Geiftes:
art rein und unverborben bewahrt hat, wenn ed in diefem Sinn
ein Urvolf ift und geblieben ift. Iſt das deutfche Volk ein Ur:
volk? Won feiner Urſprünglichkeit hängt feine Erneuerung und
*) Reben an bie beutfche Nation, I Rebe. S. 271274,
939
feine Rettung ab: dieſe Bedingung in ihr voles Licht zu ſetzen,
ift daher eine wefentliche Aufgabe der fichte ſchen Reden.
Es giebt eine Probe, um die Sache zu entſcheiden: der
deutlichſte Erfenntnißgrund des geiftigen Lebens ift die Sprache;
das Urvolk redet eine Urfprache, und wo diefe gerebet wird, ift
dad Dafein eine Urvolkes durch das ficherfie und Iebendigfte
Zeugniß bewiefen. Wenn die beutfche Sprache eine Urfprache ift,
fo ift daS deutſche Volk ein Urvolk, fähig zur fitlichen Wieder:
geburt vermöge einer neuen Volkserziehung. Die deutſche Sprache
zeugt für das deutfche Volk. Die Reden Fichte's ſtützen fich auf
dieſes Zeugniß*). .
Das Band, welches vermöge der Sprache Begriffe und
Laute verbindet, iſt nicht willfürlich, fondern gefegmäßig: diefer
Begriff wird in den menfchlichen Sprachwerkzeugen zu biefem
Laut; es find nicht die Einzelnen, die fich nach willkürlicher Ver—
abredung eine Sprache machen, fondern die menfchliche Natur
felbft redet; die menſchliche Sprache ift darum in ihrer Wurzel
eine einzige und durchaus nothwendige. Die Verfchiedenheit der
Sprachen ober die Abweichungen von der menfchlichen Urfprache
entftehen unter äußeren Einflüffen auf eine ebenfalls gefegmäßige
Weiſe. Menfhen, die unter denfelben äußeren Einflüffen ver-
einigt (eben und ihre eigene Sprache in fortgefeßter Mittheilung
entwideln, bilden ein Bolt. Ebenfo nothwendig ald die Ent:
ſtehung der Sprache ift deren Entwidlung. In dem geiftigen
Leben ift die Erfaffung des Ueberfinnlichen fpäter als die ſinn⸗
liche Wahrnehmung. Daher entwidelt ſich auch in der Sprache
erft die Bezeichnung ber finnlichen Gegenftände, dann ber Aus:
drud des Ueberfinnlichen. Dieſer letztere ift ebenfalls (ſchon weil
er ſprachlich ift) finnlih und nimmt feinen Ausgangspunkt von
*) Ebendaſelbſt. IV Rebe, S. 311314,
940
der Bedeutung finnlicher Objecte; er kann daher dad Ueberfinn:
liche nicht im eigentlichen, fondern nur im bildlichen Sinne be:
zeichnen. So entfteht in der Sprache bie finnbildliche Aus
drudsweife. Das Erfaffen des Ueberfinnlichen ift gleichſam ein
Sehen mit dem Auge des Geiftes, unwillkürlich vergleichbar dem
Sehen mit dem Auge des Leibes; daher nannten die Griechen bie
Vorftellung des Ueberfinnlichen „Idee“ oder Geſicht (finnbildlih
genommen). Je umfaffender und Harer das finnliche Erkenntniß⸗
vermögen entwidelt ift, um fo reicher und beftimmter kann fih
die fombolifhe Ausdrucksweiſe der Sprache ausprägen. Ihre
Ausbildung gefchieht auf Grund und nach Mafgabe unferer finn:
lichen Vorſtellungen.
Das Selbft ald Organ ber finnlichen Welt unterfcheidet ſich
von dem Selbft ald Organ der überfinnlichen: dieſer Unterfchieb
muß mit aller Klarheit erfaßt fein, damit der finnbilbliche Ein-
drud überhaupt verftanden werde. Nun kann dad Ueberfinnliche
in feinem Unterfchiede vom Sinnlichen jedem nur aus der eigenen
inneren Erfahrung einleuchten; e8 will, um verflanden zu wers
den, erlebt fein. Wir müffen unfer eigenes geiftiges Werkzeug
in Bewegung fegen, um bei dem finnbildlichen Ausbrud zur
Sache felbft zu kommen; fonft bleibt und das Wort (als Aus:
druck des Ueberfinnlichen) bebeutungslos und tobt; die Sprade
ergeht fi dann in Bildern ohne Sinn, in und fehlt die dem
Bilde entfprechende innere Anfchauung, und wir brauchen Wör⸗
ter, wie man tobte Geräthfchaften braucht. Die Sprache ift nur
in dem Maße lebendig, als fie deutlich iſt; fie iſt nurin dem
Maße deutlich, als fie wirkliche, innerlich erlebte Anfchauungen
ausdrüdt*).
*) Ehenbafelbft. IV Rede. 6. 314—319.
91
2. Lebendige und todte Sprade.
Setzen wir nun den Fall, daß ein Volk feine eigene Sprache
aufgiebt und eine fremde annimmt, fo muß es entweber feinen
Anſchauungskreis in die fremde Sprache oder fih in den Ans
ſchauungskreis der letzteren einleben. Bis zu einem gemiffen
Grade ift ein foldyes Einleben möglich; fo weit nämlich bie
Sprache finnliche Gegenftände bezeichnet, Täßt fich die entfprechende
Anfchauung leicht hervorbringen, der Gegenftand ift entweder be
kannt oder läßt fich finnlich darftellen. Dagegen in dem ſinn⸗
bitdlichen Sprachgebiete Bann die Bedeutung des Worts auf ſolche
Weiſe nicht erhellt werden: hier kommt alles auf die erlebten
inneren Anſchauungen an, auf die Entwidlung und den Bil
dungsgrad des geiftigen Lebens. Segen wir nun, daß eben diefe
Anfchauungen dem Volke fehlen, welches eine fremde, gerade in
diefem Gebiete fehr auögebildete Sprache annimmt, fo ift die
nothwendige Folge, daß todte Worte gefprochen werben, und
die fremde Sprache im Munde diefes Volkes abftirbt.
Hier ift zwifchen Volt und Sprache eine Kluft, bie fich
nicht füllt, fondern überfprungen wird durch den Abbruch der
normalen Volksentwicklung, durd den Fünftlichen Eintritt in
einen fremden Anſchauungskreis, der fich dem Geifte des Volkes
äußerlich, hiſtoriſch, willkürlich auflegt. Die Worte werben er:
lernt, die Laute nachgeahmt, die geiftige Bedeutung muß man
ſich erklären laffen und als fertige Thatfache annehmen. Was
man auf diefe Weife empfängt, ift nichts innerlich Exlebtes, fon-
dern „die flache und todte Gefchichte einer fremden Bildung”.
In dem ganzen Umkreife ihrer Sinnbildlichkeit ift die fo ange:
nommene Sprache tobt für dad Wolf, das in fie eintritt; jener
ſinnbildliche Beſtandtheil bleibt „die Scheidewand, an welcher
942
der urfprüngliche Ausgang der Sprache ald einer Naturkraft aus
dem Leben und bie Rückkehr der wirklichen Sprache in dad Leben
ſich bricht. Obwohl eine ſolche Sprache auf der Oberfläche duch
den Wind ded Lebens bewegt werden und fo den Schein dei
Lebens von fich zu geben vermag, fo hat fie doch tiefer einen
todten Beftandtheil und ift durch den Eintritt des neuen An:
ſchauungskreiſes und die Abbrechung des alten abgefchnitten von
der lebendigen Wurzel*).”
Lebendige und tobte Sprache verhalten fich daher, wie Lehen
und Tod. Nur in einer lebendigen Sprache ift auch eine leben:
dige Geiftebildung möglich; lebendig ift nur eine folche Bildung,
die dad wirkliche eben ergreift und in allen feinen Formen bis
in bie Tiefe durchdringt. Nur in einer lebendigen Sprache if
daher dad ganze Volk bildfam und darum auch dad Volksleben
gemeinfam; ed giebt nur in einer lebendigen Sprache im wahren
Sinne des Worts ein Volk, Hier allein wird es mit der Bil
dung ernft und gründlich genommen, fie fpielt nicht bloß auf bet
Oberfläche des Lebens, fondern fteigt herab in die Tiefe des Ge
müths. Geift oder was man fo nennt, kann man in jeder Sprache
haben, Gemüth nur in einer lebendigen. Um eine fremde Bil:
dung wahrhaft zu durchdringen, muß man fic) diefelbe gründlich
aneignen; daß ift nur möglich, wenn man felbft ein eigenes Leben
führt, man führt es nur in einer lebendigen Sprache. Daher
wird der in einer lebendigen und ureigenen Sprache entwideltt
Volksgeiſt ſich auch fremder Sprache und Bildung leicht be
mächtigen, die Ausländer geiftig überfehen und beffer verſtehen
tönnen ald diefe fich felbft.
Sehen wir jest an bie Stelle des unbeftimmten Volks und
der unbeftimmten Sprache bekannte gefchichtliche Größen. Die
*) Ghbenbafelbft. IV Rede, S. 320-321,
943
germanifchen Völker, die frifchen Erben der chriftlichen Weltbil-
dung bes Alterthums, haben die römifche Sprache erobert ober
vielmehr fich von ihr erobern laſſen; fie find neulateinifche Völ⸗
fer geworben, mit einer einzigen Ausnahme: bie Deutſchen
haben ihre Sprache behalten, „fie reden eine bis zu ihrem erften
Auöftrömen aus ber Naturkraft lebendige Sprache, die übrigen
germanifhen Stämme eine nur auf der Oberfläche fich regende,
in der Wurzel aber todte Sprahe*).” Sie find das Volk der
lebendigen Sprache, dad Urvolk, und da die lebendige Sprache
dad Band ift, welches ein Volk zufammenhält und zu einem
Ganzen macht, da nur in ihr wirklicher Volksgeiſt möglich ift,
fo find die Deutfchen „das Volk ſchlechtweg im Gegenfage mit
anderen von ihm abgeriffenen Stämmen”. In diefem Volke
allein lebt noch bie geiftige Urkraft der Menfchheit, die neues
eben fchaffen und mittheilen kann. Wenn diefe Bol? zu Grunde
geht, fo ift die Menfchheit verloren **).
5. Dad Volk der lebendigen Sprade.
a. Einheit von Bildung und Leben.
Aus diefer Natur des deutfchen Volks ergeben fich die noth⸗
wenigen und durch die Geſchichte bewährten Grundzüge feines
Charakters. Wo das Leben eined Volkes von feinen urſprüng⸗
lichen Bedingungen nicht künſtlich abgefchnitten und losgeriffen
wird, da ſtrömt es noch aus dem göttlichen Urquell alles geiftigen
Lebens: es if daher in feiner Wurzel veligiös, es erzeugt in
feiner Selbſterkenntniß ächte aus der Tiefe des Lebens gefchöpfte
Philofophie, welche das ewige Urbild alles geiftigen Lebens
*) Ebendaſelbſt. IV Rede. S. 325.
) Chenbajelbft, V Rebe (Schluß). VII Rede. S. 860. Vgl. VIII
Rebe (Anfang).
944
wiffenfihaftlihh erfaßt. Bier iſt das Denten wahrhaft lebentig
Aus dem Leben gezeugt, firömt eö in das Leben zurück, bildend,
geftaltend, fchaffend. Das lebenfchaffende Denken ift dichteriih;
dad Vermögen unendlicher ewig zu erfrifchender und zu verjän-
gender Dichtung gehört zu der Kraft eines Urvolkes; die Did-
tung als beftändige Vermittlerin zwifchen Denken und Leben ge:
hört ald ein nothwendiger Zweig zu feiner Bildung. Das Boll |
einer lebendigen Sprache ift von Natur religiös, philofophiih,
poetifch; hier gehen Religion, Philofophie, Dichtung nicht gleich
gültig neben dem Leben her, fondern fie find wirkliche, ſchöpfe
riſche Lebensmächte.
Eben darin unterfcheidet ſich dad Urvolk von den anderen
Völkern, die Deutfchen von ben neulateiniſchen Nationen. In
ihm fuchen und vereinigen fich Geiftesbildung und Leben, bei
den romanifchen Völkern find beide getrennt. Dort ift die Bil:
dung lebendig, bier ift fie tobt; dort ift fie Volksſache, hier
Standesfache ; diefe Trennung ſcheidet die fogenannten gebildeten |
Stände von dem übrigen Volke, das als Pöbel verachtet wird. |
Wie bei den Griechen die Römer, bei den Römern die Germa-
nen für Barbaren galten, fo gilt bei den germanifchen Völker
der chriftlichen Welt dad Barbariſche für gemein und dad Ri
mifche für vornehm, das Wort aus germanifcher Wurzel für un:
ebel, das gleichbebeutende aus römifcher für edel. Diefe Schei:
dung, „als ob fie eine Grundfeuche des ganzen germanifcen
Stammes wäre”, hat auch die Deutfchen angeftedt und hier im
völligen Widerſpruch mit dem Wefen deö deutſchen Volkes „ben
Glauben an die größere Vornehmheit des romanifchen Auslandes”
- erzeugt. Man meint befjer zu fein nur dadurch, daß man in
Rebe, Tracht, Sitte nicht ift wie dad Volk, daß man ben
Schein des Undeutfchen und Ausländifchen annimmt. Alle Aus-
Länderei entfteht aus ber Sucht vornehm zu thun.
945
Diefer Schein unächter Bildung wird durch bie fremde
Sprache begünftigt. Eine in der Wurzel erflorbene Sprache hat
eine formell vollendete Ausbildung, einen geſchloſſenen Umfang
der Wörter, eine feſte Satzordnung, eine mechaniſche Fertigkeit,
vermöge deren die Sprache fich felbft redet. Das find fcheinbare
Vorzüge vor ber lebendigen Sprache, die eine ſolche Abgefchlof:
fenheit nicht hat, fondern die jeder nach feinem Bedurfniſſe fchö-
pferifch geftalten und in jedem Sage felbftthätig bilden muß.
Wahre Bildung gründet fi auf Selbftthätigkeit und wird nur
durch Fleiß und Anftrengung gewonnen. Jene Vorzüge find
Ausdruck einer tobten Bildung und daher in Wahrheit nicht Vor⸗
züge, fondern Mängel*).
b. Die Reformation.
Daß die Deutfchen ein Urvolk find, dem es mit Religion
und Geiftesbildung Ernft ift, haben fie durch die Weltthat der
kirchlichen Reformation gefchichtlich bewährt. Wie die germani⸗
ſchen Völker das Chriftenthum von den Römern empfingen, war
es verfälfcht durch heibnifchen Aberglaube. Man nahm für
riftlich, was im Grunde heidnifch war und aus dem römifchen
Alterthum herrührte. Man kannte das Alterthum nicht. Als
man ed zu erkennen anfing, mußte man in bem Chriftentyume
eine Mifhung ächter und unächter Beftandtheile entdeden, und
die Kenntniß des Alterthums hätte die Reinigung des Chriftens
thums zur nothwendigen und unmittelbaren Folge haben follen.
Die Renaiffance enthielt den Beweggrund zur Reformation. Aber
diefer Grund bewegte die Neurömer nicht, von denen bie Wie-
dererweckung bed Alterthums ausging; fie erfannten die Wider
ſprüche und unächten Beſtandtheile deö mit heidnifchen Vorſtel-
*) Ebendaſelbſt. IV Rebe, ©. 328—339,
Eifer, Seſqichte der philolophle v. 60
946
lungen vermifchten Chriſtenthums, aber fie lachten dazu, weil
fie die Sache nicht ernft nahmen. Das Licht der Alterthumd-
wiffenfchaft fiel zuerft in den Mittelpunkt der neurömiſchen Bit
dung, aber mwurbe hier bloß zu einer Verftandeseinficht, ohne
das Leben zu ergreifen und anders zu geftalten *).
Der deutfche Geift nahm die Sache ernft; bier fiel das Licht
der neuen Aufllärung in ein religiöfed Gemüth und erweckte den
unmiberftehlichen Trieb zur Reinigung der Religion und zur Son-
derung des ächten Chriſtenthums vom unächten. In dem ächten
Chriſtenthum handelt es fih um die frage: was follen wir thun,
um felig zu werben? 8 gilt das Heil der menfchlichen Seele.
‚Hier ift der Irrthum und die Entftellung gleich dem Betruge um
unfer Seelenheil. Wem dad Seelenheil der Anderen gleichgül-
tig ift, der kann auch dad eigene nicht retten, einem Solchen
liegt überhaupt dad Heil nicht ernflhaft am Herzen. Wer ed
mit diefer Frage ernft nimmt, der muß ben Trieb haben, allen
die Augen zu Öffnen, den Drang zur teligiöfen Reformation.
So empfand Luther die Sache. Im ihm erfaßte die neue Anficht
daß religiöfe Gemüth und wurde der Beweggrund einer religiöfen
Weltthat. „Ihn ergriff ein almächtiger Antrieb, die Angft um
dad ewige Heil, und biefer war das Leben in feinem Leben und
feste immerfort dad Legte in die Wage und gab ihm bie Kraft,
und die Gaben, welche die Nachwelt bewundert. Mögen andere
bei der Reformation irdifche Zwecke gehabt haben, fie hätten nie
gefiegt,, hätte nicht an ihrer Spige ein Anführer geftanden, ber
durch dad Ewige begeiftert wurde; daß biefer, der immerfort das
Heil aller unfterblichen Seelen auf dem Spiele ftehen fah, allen
Ernftes allen Teufeln in der HöNe furchtlos entgegenging, iſt
*) Ebendaſelbſt. VI Rede. ©. 344-346.
947
natürlich und durchaus Fein Wunder, Dieß ift nun ein Beleg
von deutſchem Ernſt und Gemüth*).”
Das deutfche Volk ergriff die Sache der Reformation mit
Begeifterung und kampfte fie durch mit dem Muthe der Beken⸗
ner. Dad ift ein Beleg von der Eigenthümlichkeit des deutſchen
Volks. Es hätte das Pabſtthum nie fo energifch befämpft, wenn
es baffelbe nicht fo grünblic) durchdacht hätte, nach rüickwärts
bis in feine legten Grundfäge, nach vorwärts bis in feine äußer-
ſten Folgen; ed nahm das Pabſtthum ernfihaft, weit ernfihafter,
als diefes fich felbft nahm. Diefer Ernſt ift es, den der auslän-
diſche Geift ald Confequenzmacherei verfehrieen und nie hat be
greifen können. Diefer Ernſt ift deutfches Weſen. Ihn nicht ver⸗
fiehen, iſt Ausländerei”*).
©. Die dentiche Philofopgie.
Die Reformation wurde der Hebel einer neuen Philofophie,
in welcher der beutfche Geift dem ausländifchen gegenüber feine
Denkart wiſſenſchaftlich bewähren ſollte. Das freie philsfophifche
Denken entwidelte fich bei ben Deutfchen in einer von dem Aus⸗
lande grundverſchiedenen Richtung. Hier vertaufchte die Philos
fophie eine Autorität mit einer anderen unb blieb, wie es der
ausländifche Genius mit fich brachte, dogmatiſch. Was für die
Scholaftiter die Kirche, für die erfien proteftantifchen Theologen
das Evangelium war, wurden für Die neue Philofophie des Aus:
landes die Sinne. „Ob fie wahr feien, darüber regte fich Eein
Zweifel, die Frage war bloß, wie fie diefe Wahrheit gegen be:
flreitende Ausfprüche vertheidigen könnten.“ So entſtand eine
irreligiöfe und zugleich unfreie Philofophie, die Frucht eines un⸗
felbftändigen und abhängigen Geiſtes. „Wo ſelbſtändiger deut:
*) Ebendaſelbſt. VI Rede. S. 346—348,
)Ebendaſelbſt. M Rebe, ©. 348 357.
60*
ſcher Geift ſich regte, da genügte das Sinnliche ni
entftand die Aufgabe, das Ueberfinnliche in der
aufzufuchen und fo erft eigentliche Philofophie zu
Leibniz ergriff die Aufgabe und befämpfte jene außlänbifche F
Iofophie; Kant, nad) feinem eigenen Geftänbniß angeregt von
einer Aeußerung bed Auslandes, brachte die Sache zum Durch-
bruch ; die Wiffenfchaftslehre, die Philofophie der neuen Zeit,
bietet die vollftändige Löfung*).
Die Aufgabe einer neuen Philofophie hat dad Ausland an:
geregt, der deutfche Geift hat fie gelöfl. Eine zweite der Philo⸗
fophie verwandte Aufgabe hat dad Ausland ebenfalls zu löſen ge
fucht: die Errichtung eines vernunftgemäßen Staated durch bie
feangöfifche Revolution. Der Verſuch ift vollfommen gefcheitert
und mußte fcheitern. Ein folder Staat läßt ſich nicht aus jedem
vorhandenen Stoffe aufbauen, er bedarf ein Volk, hervorgegan-
gen aus einer neuen planmäßigen Volkserziehung, welche das
Burgerthum des Vernunftſtaates zu ihrem Zweck hat. Diefe
Bedingung fehlte. Sie-zu erfüllen, ift die Aufgabe der neuen
im Aufgange begriffenen Zeit; das deutfche Wolf allein Tann
diefe Aufgabe löſen. Ale mächtigen Factoren allgemeiner Bil:
dung find in Deutfchland vom Volle auögegangen: dad beweift
die Gefchichte der Reformation, die Gefchichte der deutfchen Reich:
flädte; der Typus dieſes Volks ift der fromme, ehrbare, beſchei⸗
dene, bebürfnißlofe, für dad Ganze freigebige Geiſt des deut:
ſchen Bürgerſtandes, der die vepublifanifchen Tugenden in fih
vereinigt. „Die deutſche Nation ift die einzige unter den neu
europäifchen Nationen, die in ihrem Bürgerflande ſchon feit Jahr⸗
hunderten durch die That gezeigt hat, daß fie die republikaniſche
Verfaffung zu ertragen vermöge”**),
y Ebedaſelbtt. VI Rede. 6. 851-858.
**) Ehendafelbft, VI Rede. ©, 358—357.
949
&. Der deutfche und ausländifche Geiſt.
Deutfchland ift dad germanifche Mutterland, die romani=
Mipen Völker find die ausländifch gewordene germanifche Welt.
Die weltgefchichtlichen Zortfchritte find Producte aus den Leiftun-
gen beider. Werth und Bedeutung diefer Leiſtungen find fo vers
ſchieden als die Charaktere der Wolkögeifter; der auslänbifche
Seift verhält ſich anregend, der deutfche vollendend; jener giebt
den Antrieb, diefer die Schöpfung; dort der erfte Schritt, hier
der entfcheidende. Die Wiederbelebung der claffifhen Alter:
thumöftubien geht von dem Auslande aus, ber deutfche Geift er:
faßt dad Alterthum nicht ald ein Fremdes, fondern ald Beſtand⸗
theil ſeines Lebens, er Ducchdringt den Geift der claffifchen Welt
und giebt ihn als eine lebendig gewordene Bildung ben anderen
Völkern zurüd. In Italien die Renaiffance, in Deutſchland
die Revolution; in England die Erfahrungsphilofophie, in Deutfch-
land die Vernunftkritik und Wiffenfchaftölehre, in Frankreich die
Revolution, in Deutfchland die Volkserziehung *).
Der deutfche Geift und der ausländifche, zurückgeführt auf
ihre Grundunterfchiede, verhalten ſich wie Urfprünglicfeit und
Nihturfprünglichkeit, wie Leben und Tod. So unterfcheiden
fich die Bildungsformen beider, ihr Glaube, ihre Philofophie,
ihre Staatskunſt. Der ausländifche Geift im Gefühle feiner Ab:
hängigkeit und Unfelbftändigkeit glaubt an ein Letztes, Feſtes,
Stehendes, Todtes, feine Weltanficht ift ſinnlich und mechaniſch,
„eine tobtgläubige Philofophie” ; ebenfo leblos und mechanifch ift
feine Staatskunſt, fortwährend darauf bedacht, eine fefte und
legte Ordnung ber Dinge zu finden, ein künſtliches Drud'» und
Raderwerk, eine gefelfchaftlihe Mafchinentunft, die man am
*) Ebendaſelbſt. V Rebe, S. 339—341. VINRebe. 6.354 figb,
VII Rebe, ©. 359 fig.
0
beſten dadurch zu vereinfachen meint, daß man den Theil ber
Maſchine, von dem alle geſellſchaftliche Bewegung auögeht, gut
in Gang bringt; ald dad non plus ultra diefer Staatskunſt er:
ſcheint daher Die Fürftenerziehung. Wo der ausländifche Geift in
feiner Eigenthümlichkeit herrſcht, da gilt dieſe Betrachtungdweife ;
wo fie gilt, da ift ausländifcher Geiſt; wo fie in Deutſchland
gilt, wie z. 3. in ber gewöhnlichen Aufklärungsphilofophie, da
iſt Außländerei und unbeutfches Weſen. Das todte beharrliche
Sein iſt dem beutfchen Geifte nur ber Schatten des wahren; das
wahre Sein ift urſprungliches Leben aus und in Gott, ſeliges
Leben ; Philofophie ift die Erfenntniß deffelben, dad Staatsleben
hat die Entwicklung und den Fortfchritt der Menfchheit zu feinem
Zweck, die ihm entfprechende Staatökunft ift nicht Fürftenerzie
bung, fondern Nationalerziehung. Wie einft bei den Griechen
die Erziehung Politit war, fo wird jetzt die allerneuefte Staats⸗
kunſt wieberum die allerältefte*).
IL -
Die Vaterlandsliebe.
1. Patriotismus und Religion.
Dos felige Leben beginnt nicht erſt jenfeits des irbifchen,
fonbern begreift dieſes in fich und mit ihm auch bad Leben eines
Volks und deffen Entwidlung. In biefer Entwidlung offenbart
ſich dad Ewige nad) einem geiftigen Naturgefeh ; die Gemeinfam-
keit bed Geſetzes macht aus der Menge ein Ganyes, fie giebt das
beftimmte Gepräge eines Volksgeiſtes, die Eigenthumlichkeit feis
ner Wirkungsweife; fie ift, mad man ben „Nationalcharakter“
nennt. in Volt ohne urfprüngliches Leben hat Feine eigenen,
in feiner Natur gegründeten Aufgaben, Fein gemeinſames Geſetz
*) Ehenbafelbft, VII Rede. ©. 360366,
951
des Sortfchrittes, Feine nationale Entwicklung, alfo auch keinen
Nationalcharakter. Diefer ruht im Glauben an die beftimmte
Zortentwidlung, an bie nothwendige Aufgabe bed Volle. Wo,
diefer Glaube fehlt, da fehlt der Nationalcharakter, da fehlt in
der eigentlichen Bedeutung des Worts dad Boll, Nur ur
fprüngliches Leben Tann ſich fortentwideln, einen Volksgeiſt bil-
den, einen Nationalcharakter auöprägen. „Nur der Deutiche —
der urfprüngliche und nicht in einer willkürlichen Satzung erſtor⸗
bene Menſch — hat wahrhaft ein Volk; der Ausländer hat Feines.
Daher ift auch nur im deutfchen Geift Liebe zu feinem Volt mög:
lich, Vaterlandsliebe im ächten Sinne des Worts“*).
Wirkliche Vaterlandöliebe ift religiös, fie liegt in der Rich⸗
tung auf dad Ewige. Es giebt eine „irdifche Ewigkeit”, eine
Fortdauer unferer Wirffamkeit auf Erden, die felbft nur möglich
ift Eraft der Fortdauer und Fortentwidlung unferes Volks, kraft
des fortbeftändigen Nationalcharakters. Um auf Erden ewig zu
fein, müffen wir und in unferem Volksgeiſte verewigen; dad
Eönnen wir nur, wenn wir ihm dienen, in feinen Aufgaben leben,
für fein Dafein und feine Zwecke und aufopfern. Aufgehen in
Gott ift Gottesliebe, religiöfes, feliged Leben. Aufgehen im
Volksgeiſt iſt Vaterlandsliebe und patriotifches Leben. Gotted-
liebe und Baterlandöliebe, feliged und patriotifches Leben fchließen
einander nicht aus, fondern verhalten fich, wie Bedingung und
Bedingtes. Was wir in unferem Volke lieben, ift fein urfprüng-
liches Leben, feine Fortentwidlung, feine ewige Aufgabe; es ift
der Volksgeiſt ald Offenbarung des Göttlihen. Patriotifche Ges
finnung ift darum in ihrer Wurzel religiös und durchdrungen von
dem Gefühle dieſes ihres Zuſammenhanges mit dem Ewigen ; fie
reicht weit hinaus über ben Staat und bie gefelichaftliche Orb:
*) Ebendaſelbſt. VIII Rede, S. 377—382,
952
nung, ihre Zwecke find höhere als bloß die Erhaltung des inneren
"Friedens, bed Eigenthums, der perfönlichen Freiheit, des Le
bens und des Wohlfeind aller. Das alles können wir haben auf
unter dem Joch der Fremdherrſchaft, Leben und Unterhalt giebt
es auch in der Sclaverei, wir können es behalten und als Bolt
zu Grunde gehen, wir können das bürgerliche Wohl retten, viel:
leicht vergrößern und unferen Nationalcharakter, unfere irdiſche
Ewigkeit darüber preiögeben. Was ift bürgerliches Wohl gegen
irdiſche Ewigkeit? Was ift Wohl gegen Heil? Das Wohl
giebt der Staat, das Heil liegt im Vaterlande. Unfere irdiſche
Ewigkeit ift unfer Volksgeiſt, unfer Nationalcharakter. Diefen
zu veften und zu erhalten, muß alled andere aufgeopfert werden.
So will es die Vaterlandöliebe, fie opfert dad Wohl für dad
Heil, die bürgerliche Glüfeligkeit für die irdiſche Ewigkeit.
nDie Verheißung eines Lebens auch hienieben über die Dauer des
Lebens hienieden hinaus, — allein diefe ift es, die bis zum Tode
für's Vaterland begeiftern Tann.” „Im Glauben an diefe Ber:
heißung kampften die deutſchen Proteftanten,” „in diefem Glau
ben festen unfere älteften gemeinfamen Vorfahren, das Stamm:
vol? der neuen Bildung, ſich der herandringenden Weltherrfchaft
der Römer muthig entgegen.” „Ihnen verbanken wir, die näd;
ſten Erben ihred Bodens, ihrer Sprache und ihrer Gefinnung,
daß wir noch Deutfche find, daß der Strom urfprünglichen und
felbftändigen Lebens und noch trägt, ihnen verdanken wir alles,
was wir ſeitdem ald Nation geweſen find; ihnen, falls es nicht
etwa jest mit und zu Ende ift und der lebte von ihnen abge
flammte Blutötropfen in unfern Adern verfiegt ift, ihnen werta
wir verdanken alled, was wir noch ferner fein werden*)”.
Staat und Volksgeiſt (Baterland) verhalten fich wie Mittel
N Shenbafelbft, VEIT Rede. 6, 38290,
958
und Zweck. Wenn ed fih um die Erhaltung und Rettung des
Volksgeiſtes handelt, dann muß die Baterlandöliebe den Staat
tegieren und alles dem höchften Zwede unterorbnen. In Zeiten
der Gefahr Hilft nicht mehr der Geift ber ruhigen bürgerlichen
Liebe zu der Verfaſſung und zu ben Gefegen, da rettet allein
bie verzehrende Flamme der höheren Waterlandöliebe, die die
Nation ald Hüde des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit
Freuden ſich opfert und der Unedle, der nur um des erflen willen
da ift, ſich eben opfern foll*)".
2. Patriotismus und Wiffenfhaftslehre.
Wenn man der Vaterlandsliebe und dem Nationalgefühl,
die Fichte in feinen Reben erhebt, genau auf den Grund fieht,
fo wird man darin nichts dem Geifte der Wiffenfchaftslehre
Fremdes ober Entgegengefegtes auffinden. Er kennt feinen ans
deren Patriotismus als die Liebe zum beutfchen Volksgeiſt; Volk
und Deutfchheit gelten ihm in ber gegenwärtigen Welt als gleich
bedeutende Begriffe; das beutfche Volk ift ihm der Typus und
einzige Repräfentant der Geifteäurfprünglichkeit, dad religiöfe,
philoſophiſche, zur fittlihen Wiedergeburt der Menfchen durch
eine neue Nationalerziehung berufene Wolf, Deutfcher Volks:
geift und teformatorifcher Geift find ihm eined; das beutfche Volk
gilt ihm als Träger und Organ ber fittlichen Weltentwiclung,
als ber fortbewegende, die Menfchheit erneuende Geift, ald dad
eigentliche Culturvol® der neuen Welt, ald bad Salz der Erbe.
Nur in diefer Bedeutung ift es der Gegenfland feiner Liebe, nur
barum hat in feinen Augen die Abftammung von biefem Volk
einen Werth. Gefühl der Geiftesurfprünglichkeit und Nationale
gefügt Fallen hier in denfelben Punkt; das befondere, an bie
9) Ehenbafelbft, VIIL Rebe. 6, 376. 87.
354
Scholle gebundene, befchränkte, ausfchließende, mit einem Wort
fpecifiiche Nationalgefühl, dad .die Wiffenfchaftslehre nicht kennt
und welches die Grundzüge bed gegenwärtigen Beitalterd verwer⸗
fen*), erfcheinen auch in ben Reden an bie deutfche Nation keines»
wegs ald eine berechtigte Empfindung, fondern ald Audländerei.
Man laſſe fich nicht durch dad Wort über die Sache täufchen.
Der Kosmopolitismus der Wiſſenſchaftslehre und der Patriotis-
mus ber Reden find ein und derfelbe Begriff, fie find es nach
Fichte's eigenem Ausſpruch, beide verhalten fi) wie Gattung und
Species; Patriotismus ift „der beftimmte wirkliche Kosmopolitis:
mus” *), Dad Selbftvewußtfein, welches die Wiſſenſchaftslehre
zum Princip macht, und dad Nationalgefühl, welches die Reden
fordern, haben venfelben Inhalt. Das deutfche Volk ift im
Sinne Fichte's dad Ich unter den Völkern. Aus feinem anderen
Grunde nennt er es Urvolk. Nur aus diefem Volke konnte bie
wahre Philofophie, die Vernunfterkenntniß, die Wiſſenſchafts⸗
lehre hervorgehen; nur durch dieſe Einſicht iſt die ſittliche Ex:
neuerung ber Welt möglich; die in das Leben eingeführte Wiſſen⸗
ſchaftslehre ift jene neue Volkserziehung, von der nach Fichte das
Heil der Deutfchen und damit das der Menfchheit abhängt, das
Beitalter der „Wernunftwiffenfhaft” und „Vernunftkunſt“.
Deutfche Waterlandöliebe und Begeifterung für die Wiffenfchafts-
lehre und bie nur durch fie mögliche Regeneration der Menfchheit
find daher bei Fichte ein und biefelbe Gefinnung. Die übrigen
Völker follen ihr Heil von den Deutfchen empfangen, biefe kön:
nen das ihrige nur aus fich felbft ſchöpfen, fie befigen es in ber
*) Vgl. oben Gap. V biejes Buchs, Nr. II. 3. ©. 896. 97,
Grdz. bes gegenw. Zeitalt. XIV Vorl. (Schluß).
**) Der Batriotismus und fein Gegentheil. Patriot, Dialoge vom
Jahr 1807. Nagel, W. III Bd. Erſtes Geſpräch. S. 227—29.
%5
reifften Frucht ihrer uxfprünglichen Geiſteskraft, in ber Vollen⸗
dung ber ächten deutfchen Vhiloſophie, in der Wiſſenſchaftslehre,
deren Saat aufgehen ſoll in einer neuen Volkserziehung, in einem
Volke als Frucht dieſer Erziehung. Das ſind die Grundgedanken
Fichte's, aus denen ſein Begriff des Patriotismus nothwendig
folgt. Auch Plato konnte als ächten griechiſchen Patriotismus
folgerichtigerweiſe nichts anderes gelten laſſen als die Begeiſterung
für ſeinen auf eine neue Erziehung gegründeten und zum Zweck
einer ſittlichen Wiedergeburt der Hellenen entworfenen Staat.
Die Reden an die deutſche Nation und die patriotiſchen Dialoge
laſſen über dieſe Bedeutung der Vaterlandsliebe bei Fichte keinen
Zweifel. Seder andere Patriotismus ald „abgefonderter und für
ſich beftehender Zuftand“ ift ihm etwas völlig Werthlofes, Leeres,
Gedankenlofes. So behandelt er z. B. in jenen Gefprächen den
befonderen preußifchen Patriotismus”, In dem zweiten Ges
fpräche wird ausführlich entwickelt, wie die patriotifche Gefinnung
und Aufgabe keinen anderen Inhalt haben könne ald die Wiffen-
ſchaftslehre im Bunde mit Peſtalozzi's Volkserziehung, wie da:
von die Zukunft Deutſchlands und der Welt abhänge. „Auch
bier iſt es wieberum die deutſche Nation, welcher der erſte Ur-
heber des Vorſchlags angehört, welcher zuerft der Vortrag ge:
macht worden, welcher noch unter allen übrigen europäifchen .
Nationen die nöthige Selbftbefinnung und Selbftverleugnung,
fo wie andern Thejls die erforderliche Gelehrigkeit am erften ſich
zufrauen läßt. Und fo heißt es hier abermals: rettet nicht der
Deutfche den Culturzuftand der Menfchheit, fo wird kaum eine
andere europäifche Nation ihn retten. Wird er aber nicht gerettet
und durch dieſes ihm einzig Übrige Zwifchenmittel zum höhern
und abfoluten Heilmittel der Wiſſenſchaft heraufgerettet, ſo ver⸗
finkt der zweite menſchliche Culturzuſtand ebenſo in Trümmer, wie
966
ber erfte in Trümmer verfan?*).” In dem erſten Gefpräd heißt
es: „übernimmt nicht der Deutfche durch Wiffenfchaft die Re
gierung der Welt, fo werben bie nordamerikanifchen Stämme fir
übernehmen und mit dem dermaligen Wefen ein Ende maden“)".
Das Ergebniß lautet: die neue Zeit fordert eine neue Vollz
erziehung. Die Deutfchen find fähig, dieſe Aufgabe zu löſen;
fie allein find dazu fähig. Wie wird fie gelöft?
*) Ebendaſelbſt. I Geſpräch. ©. 237. ©. 232. 33. Vgl. IC
ſprãch. ©. 250.
**) Ebendaſelbſt. I Gefpr. 6.243 flgb. H Geipr. S. 265—66.
Im dem zweiten Geipräd findet fih ein merkwürbiger Ausfpnd
Fichte's, der vielleicht Anlaß gegeben hat zu einem im Munde ber Leute
ihm zugejchriebenen und vielfach wiederholten Dictum. Er ſoll geagt
haben: „von allen meinen Schülern hat mic) nur Einer verftanden un
diefer Eine hat mich mißverftanden.“ Das beißt fo viel als ‚mid
hat niemand verftanden“. Das Legtere hat Fichte wirklich in jenem Ge
fpräce gefagt: „Kant babe nur Einer verftanden, ber Urheber der Bir
ſenſchafislehre; bie Wiſſenſchaſtslehre Habe in ihrem Principe keiner vor
fanden.” (5. 252.)
Neuerdings Hat man das Wort in ber obigen Umfchreibung von
Fichte auf Hegel übertragen, und fo läuft es um, wie ber milefifche Dre
fuß ober die Schale des Bathylles unter den fieben Weiſen. „Belannt:
lich hat Hegel gejagt u. |. f.“, fo las ich unlängft jene Phraſe in einer
unbebeutenben Zeitſchrift citirt, um über Hegel zu ſpaßen. Der gute
Mann, ber mit biefem Citat Staat machen wollte, hätte von ſich jehft
mit dem größten Rechte jagen können: „von allem was Hegel geſagt
hat, weiß ich nur biefes eine Wort, und diejes eine Wort iſt nicht von
Hegel“
Achtes Capitel.
Reden an die dentſche Nation.
B. Die nene Volkserzichung.
I
Die Erziehungsreform.
4. Der Endzweck.
Alle Bedingungen find vereinigt, um eine gründliche und
durchgängige Reform ber Volkserziehung zugleich als eine Welt:
aufgabe und eine beutfche Nationalfache erfcheinen zu laffen. Die
fittliche Erneuerung der Menfchheit nach einem Zeitalter vollen
deter und in ihren verberblichen Folgen erfülter Selbftfucht ift
eine Weltaufgabe, nur [58bar durch eine Neubildung und gänzliche
Umfchaffung des Menſchengeſchlechts von Innen heraus, durch
eine von Grund aus neue Erziehung. Nur ein urfprünglicher
Volksgeiſt, wie der deutfche, ift fähig, eine folche Erziehung an
fich felbft zu vollziehen, zugleich deren Urheber und Gegenftand
zu fein und den anderen Völkern auf diefer Bahn voranzugehen
ald Vorbild und erfted Beifpiel. Die neue Weltaufgabe iſt deß⸗
halb zunächft eine deutſche Volksaufgabe. Nun aber ift die
deutfche Volksurſprünglichkeit, dieſe erfte Bedingung unferer Er
siehungsfähigkeit, felbft in ihrem innerften Beftande und in ihrer
958
öffentlichen Lebensform bedroht. Die Gemeinfchaft ber deutſchen
Staaten, bie Verfaſſung ber deutfchen Wölferrepublif, welhe
innerhalb des Ganzen bie eigene Art der Stammesglieder ſchont
und erhält, ift die vorzüglichfte Quelle deutfcher Bildung und
daß erſte Sicherungsmittel ihrer Eigenthümlichkeit. Nichts wir
dem deutſchen Volksgeiſte verberblicher als eine Einheit in Form
monarchiſcher Gentralifation, bie es dem Gewalthaber möglid
machte, „irgend einen Sproß urfprünglicher Bildung über den
ganzen beutfchen Boden hinweg für feine Lebenszeit zu zerdrüden.
„Diefe Einheit wäre ein großes Mißgefchid für die Angelegenheit
deutſcher Vaterlandöliebe gewefen, und jeder Edle über die gan
Oberfläche des gemeinfamen Bodens hinweg hätte Dagegen fih
ſtemmen müſſen.“ Iſt nun aber eine ſolche Alleinherrfchaft gar
eine Fremdherrſchaft, fo ift die dem beutfchen Volksgeiſt ar
gemeffene, feine Urfprünglichkeit und eigene Art erhaltene
Lebensform nicht bloß gefährbet, fondern gerabezu vernichtet, und
es iſt jest die erſte Aufgabe der beutfchen Bürger, die Erhaltung
ihrer Selbftändigfeit in eine andere, von den Regierenden undb:
bängige Lebensform zu retten. Die einzige Form, die ihnen
übrig bleibt, ift die Erziehung; fie iſt das einzige Mittel, niht
bloß um bie neue ber Welt nothwendige Menfchenbilbung zu er
zeugen, fondern auch um die vorhandene dem deutfchen Geift i
genthümliche Bildung zu erhalten. Dieß macht die neue Voll
erziehung in ganz befonderer Weife zur deutfchen Nationalſache:
fie ift der einzige Weg nicht allein unferes Fortſchritts, fondem
zugleich unferer Rettung*).
Das Ziel der neuen Erziehung ift die fittliche Selbfkändig
keit ald Frucht der Bildung; diefe Frucht zu reifen und aus den
*) Reben am bie deutſche Nation, Rebe IEL. ©. 298, Rede IX.
6, 397, 398,
959
Bedingungen, welche fie fordert, hervorgehen zu laſſen, iſt ihre
Aufgabe, die nur gelöft werben kann nach einer völlig ficheren
Richtſchnur, nach einem genau entworfenen Plan, der alle jene
Bedingungen wohl bebacht und richtig geordnet hat. Wie Bacon
die Erfindung dem Zufalle entreißen und zu einer ficheren Kunft
machen wollte, fo hat Fichte diefelbe Abficht in Betreff der Er-
ziehung; bie baconifche Kunft geht auf die Entdedung fefter und
unfehlbarer Gefege in der Natur, die fichte ſche Kunft geht auf
die „Bildung eines feften und unfehlbaren guten Willens im
Menſchen“. Ihres Zieles bewußt, fol die Erziehung in jedem
Punkte durchaus planmäßig und methodifch handeln. Nun ift
ſittliche Selbftändigkeit nicht denkbar ohne das innigfte Wohlge:
fallen am Guten, ohne den freien vorbilblichen Zweck, ben wir
nur dann erfüllen, wenn er und ganz erfüllt; er iſt der unfrige
nur dann, wenn wir fein Vorbild aus eigener Kraft geftalten und
entwerfen. Dazu aber gehört eine geiflige Kraftäußerung, eine
intellectuelle Selbftthätigkeit, welche gereift fein will durch eine
normale Geiftedentwidlung, durch eine umfaffende und gleich:
mäßige, d.i. harmonifche Ausbildung aller menfchlichen Grund»
vermögen. Verſtandesklarheit und Willensreinheit find die bei-
den nothwendigen Factoren ber fittlichen Bildung. Zur Lauter:
keit ber Gefinnung gehört die Klarheit des Denkens. So lange
wir von unferm dunklen Selbfigefühle beherrfcht und getrieben
werben, fuchen wir den Genuß und fcheuen ben Schmerz; die
Selbftfucht ift dunkel, fie muß durch Klarheit erſtickt werben:
diefe Klarheit ift zu erziehen. „Indem auf diefe Weife flatt des
dunfeln Gefühls die klare Erfenntniß zu dem Allererſten und zu
der wahren Grundlage und Ausgangspunkte des Lebend gemacht
wird, wird bie Selbftfucht ganz übergangen und um ihre Ent
widlung betrogen. Denn nur das dunkle Gefühl giebt dem
960
Menſchen fein Selbft als ein Genußbebürftiges und Schmerz:
ſcheuendes; keineswegs aber giebt es ihm alfo der klare Begriff,
fondern biefer zeigt es ald Glied einer fittlichen Ordnung, und
es giebt eine Liebe zu dieſer Ordnung, welche bei der Entwidtung
des Begriffs zugleich mit angezündet und entwicelt wird, Mit
der Selbftfucht bekommt diefe Erziehung gar nichts zu thun, weil
fie die Wurzel deffelben, das dunkle Gefühl, durch Klarheit er:
ſtickt; fie beftreitet fie nicht, ebenfowenig als fie biefelbe ent-
widelt, fie weiß gar nicht von ihr. Wäre es möglich, daß diefe
Sucht fpäter dennoch ſich regen follte, fo würde fie das Herz
ſchon angefült finden mit einer höheren Liebe, die ihr den Platz
verfagt.” „Der Grundtrieb bed Menfchen, wenn er in Mare Er:
kenntniß überfegt wird, geht nicht auf eine fchon gegebene und
vorhandene Welt, welche ja nur leidend genommen werben Eann,
wie fie eben ift, und in ber eine zu urfprünglich fchöpferifcher
Thatigkeit treibende Liebe Feinen Wirkungskreis ‚fände; fondern
er geht, zur Erkenntniß gefteigert, auf eine Welt, die da werben
fol, eine apriorifche, eine folche, die da zukünftig ift und ewig:
fort zukünftig bleibt)".
2. Weg und Methode.
Das Ziel der Erziehung zeigt den Weg und die Methode:
durch Klarheit der Erfenntniß zur Reinheit des Willens! Die
klare Selbfterfenntniß erleuchtet und läßt dem Willen keine an:
dere Richtung als die Liebe zum Guten, fie macht bie Sittlich-
keit zur Nothwendigkeit und fchließt mit ber Selbſtſucht die
ſchwankende und charakterlofe Willkür im Princip, aus. Die Er
ziehung wird daher nichts geben, was fie nicht lebendig machen
ober in Leben verwandeln Tann. n
*) Ebendaſelbſt. Rebe IL ©. 283. Rede VI. S. 301—304.
[4
£
}
961
Nichts ift gemiffer als das eigene Handeln, Feine Erkennt:
niß deßhalb Elarer als bie felbfterzeugte, ald das Bemußtfein des
eigenem Thuns. Erkenne, was du thuſt; erzeuge, was bu er⸗
kennſt: iſt daher die einfache Regel, nach welcher die National⸗
erziehung den menſchlichen Verſtand in Abſicht auf die Klarheit
ausbildet. Die aus intellectueller Selbſtthatigkeit gewonnene und
gereifte Erkenntniß ift allemal auch die lebendigſte und klarſte;
fie ift nicht bloß der unfehlbare Weg zur Sittlichkeit, fon-
dern ber Weg der Sittlichkeit felbft; denn wer ſich gewöhnt, fein
Object felbft zu erzeugen, dem wird die Selbftthätigfeit und das
Handeln ein ſolcher Gegenftand der Liebe, daß er ſich unmöglich
mehr in die Abhängigkeit der Begierden bringen und wie ein
Ding, beftimmen läßt von Dingen.
Das unmittelbare Bewußtſein ber eigenen Thätigkeit nennt
Fichte Anſchauung, fie gilt ihm als Wefen des Selbſtbewußt⸗
fein und. Grundform des Ich. Erſt vermöge der Selbftanfchaus
ung wirb die Thätigleit zum Ich. Daher ift zur Entwicklung
des Selbftbewußtfeind der gründlichfte und ficherfte Weg die
methodiſche Bildung der Anfchauung, die (mie alle methobifche
Bildung) mit den Elementen beginnt. Auf diefem Wege wird
die Selbfithätigkeit, welche die Wiſſenſchaftslehre begreift, wirt:
lich in Bewegung gefeßt, und damit werben die Bedingungen
pädagogifch erfüllt, aus denen die Selbfterfenntniß des Ich ober
die Wiſſenſchaftslehre von felbft einleuchtet. Nur durch eine fol:
he planmäßige und mit den ächten Elementen des Geiftes ver
traute Erziehung kann die Wiſſenſchaftslehre ind Leben einge:
führt und das Zeitalter der „Vernunftwiſſenſchaft und Vernunft:
Zunft” zum Durchbrüch gebracht werden. Was bad Verftändniß
der Wiſſenſchaftslehre in dem Bewußtfein des Zeitalterd hindert,
ja unmöglich macht, ift eine ſolche dem Weſen des Ich entfrem:
Bier, Sefhiäte der Phlofophle V. 61
962
dete und verbildete Denk⸗ und Empfindungsweife, die nur durch
eine gründlich reformirte und auf das richtige Ziel hingelenkte
Erziehung aus dem Wege geräumt werben kann. Die Idee bie:
fer neuen Erziehung ift eine Frucht der Wiſſenſchaftslehre; die
Herrfchaft der letzteren wird die reiffte Frucht der in das Leben
eingebrungenen und praktifch gewordenen Erziehung fein. Man
Tann ber menfchlichen Geift erft richtig erziehen, wenn man ihn
richtig verfteht, wen man feine wahren Elemente und Grund:
factoren erkennt. Diefe Erkenntniß will die Wiſſenſchaftslehre
fein; daher ift es natürlich, daß aus ihr eine neue Faſſung der
Erziehungsaufgabe und methode hervorgeht.
3. Anfhauung und Sprade (Lefen und Schreiben).
Die zu erziehende Anfhauung braucht dem Zöglinge nicht
künſtlich angebildet zu werden, denn fie lebt in ber geiftigen Men-
fchennatur und ift deren eigentlicher Factor; daher befteht die Auf-
gabe der Erziehung auch nur darin, die Anfhauung zweckmaͤßig
und richtig zu leiten. In diefem Punkte findet Fichte den Grund:
fehler der bisherigen Erziehung; ſtatt den Geift des Zöglings in
der Anſchauung haften und einwurzeln zu laſſen, hat fie ihn gleich
von vornherein der Anfchauung entrüdt und damit das geiftige
Leben feiner Wirklichkeit entfremdet und in eine Schattenwelt lee⸗
rer Worte und Begriffe verfentt. Die Anſchauung ift Bewußt:
fein des eigenen Thuns; die erhellte und richtig geleitete An:
ſchauung ift Selbftverftändigung; Worte find Mittel zur Verſtän⸗
digung mit anderen. Erſt muß man über ſich felbft verftändigt
fein, bevor man ſich mit anderen wahrhaft verftändigen kann.
Wird das Wort nicht gebraucht ald Zeichen einer erlebten An⸗
ſchauung, fo bezeichnet es überhaupt nichts wirklich Bekanntes,
fo hat es feinen lebendigen Inhalt, fondern ift leer, wie ein Schat⸗
963
ten, fo wird durch ben Gebrauch ber Worte nur die Täufchung
erzeugt und beförbert, als ob man wiffe, wad man in Wahrheit
nicht weiß. Dann wirkt die Sprache nicht erleuchtend, fondern
verdunkelnd; ihr vorzeitiger Gebrauch entfrembet und entwöhnt
uns ber Anfchauung und ertöbtet auf diefe Weiſe das geiftige Le-
ben, ſtatt ed zu weden. Aus Worten, die man nicht verfteht,
werben dann allgemeine und abflracte Begriffe, die man noch we⸗
niger verfteht, und fo treibt die falfche, der Anfchauung und bes
ten Zeitung unkundige Erziehung den Zögling von Schatten zu
Schatten. Wie man bisher die Sprache als Erziehungsmittel
gebraucht hat, mußte fie verberblich wirken, denn fie wurde nicht
naturgemäß an die lebendige Anſchauung angefnüpft, fondern
durch Auswendiglernen dem Gebächtniffe eingeprägt, und ber
Zögling gewöhnt zur „frühen Maulbraucherei”, die nichts zur
Selbftverftändigung beiträgt, diefe vielmehr umgeht und nur die
Fertigkeit giebt, den Tauſchhandel der Phrafen zu treiben. So
brachte man eine Scheinreife hervor, die als Meiſterſtück der Er⸗
ziehungskunſt angefehen wurde, während im Kern das geiftige
Leben hohl und über ſich felbft völlig im Unklaren blieb. Das
Spracpvermögen ohne lebendige Anſchauung bilden, heißt das
giftige Leben in der Sprache abtöbten und den Zögling von Grund
aus verpfufchen. Was bei den Volkern tobter Sprachen dad
Schickſal gemacht hat, das thut hier bie blinde Erziehung und
erntet diefelben Früchte*).
Zum Sprachgebraud) gehört auch dad Lefen und Schrei⸗
ben. Fehlt jenem die lebendige Anſchauung, fo bildet er nicht,
fondern dreffirt; dann ift auch dad Leſen und Schreiben nur eine
*) Bol. Patt. Dial. IT. Nachgel. W. III 3b. S. 270. Reben. IX.
S. W. III Abth. IT Bd. S. 409. Aphorismen über Erziehung (1804).
S. W. UI Abtch. II Bd. ©. 354, Nr. 2.
61*
%4
fortgefeßte Sprachbreffur, eine Fertigkeit ohne Bildung, eine
mechanifche Abrichtung, die das wahre Ziel der Menfchenerziehung
verfehlt und ihm völlig zuwiberläuft. Sobald die Erziehungs:
kunſt nicht weiß, worin die geiftige Natur befteht und worum &
ſich in ihrer Bildung handelt, wird fie bie Anſchauung umgehen,
dad Sprechen, Lefen und Schreiben als Bildungsmittel über:
ſchätzen und eben deßhalb von Grund aus falfch anwenden. Sit
wird den Geift, flatt zu entwideln, breffiren.
4. Peſtalozzi's Erziehungsſyſtem.
Nun iſt freilich die Schwierigkeit groß, wie die Wiffenfchafts
lehre mit ihrem Erziehungsplan Eingang finden fol in ein Zeital:
ter, das durch feine intellectuelle und moralifche Verdorbenheit
unvermögend ift, ben Geift derfelben zu faſſen. Diefelbe Ber:
borbenheit, bie des Heilmitteld bedarf, ift eben darum, weil fie
dieſe Verdorbenheit ift, deffelben unfähig. Hier bewegt fich die
Wiffenfchaftölehre mit ihrer päbagogifchen Abficht in einem offen:
baren Cirkel; fie müßte das Zeitalter ſchon ergriffen haben, um
es ergreifen zu können; es ift nicht abzufehen, wie fie ihm bei:
Tommen und bie Kluft ausfüllen fol, die fie von dem herrfchen:
den Bildbungdzuftande trennt. Das Zeitalter müßte für die Wiſ
ſenſchaftslehre ſchon erzogen fein, um von ihr erzogen zu werben;
es müßte ſich ein Glied finden laffen, an welches bie Wiſſenſchafts
lehre von ſich aus anknüpfen Tann: ein Glied, worin ſich der
fruchtbare Keim und die Anlage einer neuen Volkserziehung ſchon
lebendig bethätigt.
Die deutfche Philofophie hat durch ihre tiefe Geifteserfennt:
niß das Princip lebendiger Selbſtanſchauung vorbereitet in Leib: |
niz und entbedt in Kant, Die Erziehung hätte fich diefem Prin-
cipe gemäß längft umgeftalten, die Geiftesentwidlung zu ihrer
965
Aufgabe machen, die Anſchauung zu deren Richtfchnur nehmen
mäffen, wenn nicht ein anderes Syſtem die Herrfchaft gewonnen
und ber Welt eingerebet hätte, daß der Geift von Natur leer
und völlig abhängig fei von gegebenen Eindrüden. Die locke ſche
Philofophie trägt die erfte Schuld jener intelectuellen Verdorben⸗
heit, Die das Zeitalter unfähig macht, der Richtung der Wiſſen⸗
ſchaftslehre zu folgen. Daher ift ed nicht zu erwarten, daß dad
erfte praktiſch thätige Glied einer neuen Volkserziehung von der
Philofophie unmittelbar herfommt. |
Der geforderte Anknüpfungspunkt ift in der That vorhan⸗
den und wirffam, ohne die Stütze eines philofophifchen Syſtems
oder einer philofophifchen Schule. Die Kunft, die Anſchauung
der Zöglinge zu leiten, liegt in ihrem Grundriſſe vor und wird
ſchon fleißig getrieben. Die neue Erziehung ift ind Leben getre
ten burh Johann Heinrich Peftalozzi. In dem richtig
gefaßten Grundgedanken Peſtalozzi's liegt dem Keime nach das
ganze Syſtem der neuen zur Umbildung ber Nation berufenen
Erziehung. „Peſtalozzi's Gedanke iſt unendlich mehr und un⸗
endlich größer, denn Peſtalozzi ſelbſt, wie denn jedes wahrhaft
genialiſchen Gedankens Verhaltniß zu feinem ſcheinbaren Urheber
daſſelbe iſt. Nicht er hat dieſen Gedanken gedacht, ſondern in
ihm hat die ewige Vernunft ihn gedacht, und der Gedanke hat
gemacht und wird fortmachen den Mann. An der Geſchichte und
Enthullung dieſes Gedankens, wie fie mit einer für ſich ſelbſt
zeugenden Wahrheit und mit einer kindlich reinen Unbefangenheit
in Peſtalozzi's Schriften vorliegt, könnte man, daß eine Wahr:
heit, die den Menfchen einmal ergriffen, ohne Wiffen oder eiges
ned Zuthun des Menfchen ſich in ihm fortgeflalte und troß ber
allermächtigften Hinderniffe dennoch zulegt durchbreche zu Licht
und Klarheit, im finnlicher Deutlichkeit darlegen.” Er fuchte
966
ein Hülfsmittel für das arme verwahrlofte Bolt und fand mehr,
als er fuchte: er fand das einzige Heilmittel für die gefammte
Menſchheit. „In diefer Bedeutung, nicht als intellectuelle Erzie
bung nur bed armen gebrüdten Volkes, fondern ald bie abfolut
unerläßliche Elementarerziehung ber ganzen Fünftigen Generation
und aller Generationen von nun an muß man den peſtalozzi ſchen
Gedanken faffen, um ihn richtig zu verftehen und ganz zu wür⸗
digen*).” „An ihm," fagt Fichte in den Reden, „hätte ich
ebenfo gut, wie an Luther, die Grundzüge bed beutfchen Gemüths
darlegen und den erfreuenden Beweis führen können, daß biefes
Gemüth in feiner ganzen wunderwirkenden Kraft in dem Um:
kreiſe der beutfchen Zunge noch bis auf diefen Tag walte. Auch
er hat ein mühenolles Leben hindurch im Kampfe mit allen mög:
lichen Hinberniffen, von innen mit eigener hartnädiger Unklar:
heit und Unbeholfenheit, und felbft höchſt fpärlich auögeftattet
mit ben gewöhnlichften Hülfsmitteln ber gelehrten Erziehung,
äußerlich mit anhaltender Verkennung, gerungen nad) einem bloß
geahnten, ihm felbft durchaus unbewußten Ziele, aufrecht gehal⸗
ten und getrieben durch einen unverfiegbaren und allmächtigen
und beutfchen Trieb, die Liebe zu dem armen verwahrloften Volke.
Diefe Liebe hatte ihn, ebenfo wie Luther, nur in einer anderen
und feiner Zeit angemefjenen Beziehung, zu ihrem Werkzeuge
gemacht und war das Leben geworben in feinem Leben, fie war |
der ihm felbft unbekannte fefte und unmittelbare Leitfaden dieſes
feines Lebens, der ed hindurchführte durch alle ihn umgebende
Nacht, und der den Abend beffelben krönte mit feiner wahrhaft
geiftigen Erfindung, die weit mehr leiftete, denn er je mit feinen
tühnften Wünfchen begehrt hatte. Er mwollte bloß dem Volke
helfen, aber feine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdehnung ge
*) Patr, Dialog. N. W. IIIBb, ©. 267—268,
967
nommen, hebt dad Volk, hebt allen Unterſchied zwifchen dieſem
und einem gebildeten Stande auf, giebt ſtatt der gefuchten Volks⸗
erziehung Nationalerziehung, und hätte wohl dad Vermögen, ben
Völkern und dem ganzen Menfchengefchlechte aus der Tiefe feines
dermaligen Elend: emporzubelfen. Diefer fein Grundbegriff
ſteht in feinen Schriften mit volllommener Klarheit und unver⸗
kennbarer Beſtimmtheit da*).”
5. Fichte und Peſtalozzi.
Das Abe der Empfindung, Anſchauung und Kunſt.
Fichte Inüpft daher feinen Erziehungsplan an Peſtalozzi's
bereitö praktiſch gewordene Erziehungdart dergeftalt an, daß er
den Grundgedanken der Ießteren in feiner ganzen Tragweite ers
faſſen und folgerichtig ausbilden will. Peſtalozzi's Erziehungs:
foftem gilt ihm als Vorſchule zu jener menfchlichen Selbſterkennt⸗
niß und Weltanfchauung, welche die Wiſſenſchaftslehre giebt, als
die nationale Propädeutik für das Zeitalter der Vernunftwiſſen⸗
ſchaft und Vernunftkunft. Was er an dieſem Syſtem mangels
haft findet, liegt nicht im Princip, fondern in der Ausführung, und
folgt aus der wohlgemeinten, aber beſchränkten Abficht, die Per
ſtalozzi bei feiner Erziehungsreform zunächft im Sinn hatte. Er
wollte dad arme verwahrlofte Volk auf pädagogiſchem Wege ret⸗
ten. Diefe Abficht verengt den Charakter feiner Erziehung und
nöthigt fie, ihr Werk zu beſchleunigen und dem praktifchen Nutzen
unterwürfig zu machen. Daher wird auf gewiſſe brauchbare Fer⸗
tigfeiten ein übergroßes Gewicht gelegt und im Widerfpruch mit
dem eigentlichen Grundgedanken, ber die methobifche Leitung der
Anſchauung bezweckt, die Gedächtnigübung durch Auswendigler-
*) Reden an bie deutſche Nation, IX. S. W. III Abth. Il Bd.
S. 402— 403,
968
nen, dad Lefen und Schreiben überfchägt und verfrüht. In al:
Ien diefen Stüden bedarf dad Syſtem gewiſſer Berichtigungen,
die fich von felbft ergeben aus der Erweiterung feiner urfprüng-
lichen Abficht. Der Grundgedanke enthält die allein richtigen
Bedingungen nicht bloß zur Volksbildung im engen Sinn beö
Worts, fondern zur Menfchenbildung im weiteften Sinne; er
gilt für ale Volksclaſſen ohne Unterfchied und begründet daher
ein Syſtem der Nationalerziehung, welches nicht mehr an bie
Schranke und darum aud) nicht mehr an jene päbagogifch =utilis
fischen Rückſichten gebunden ift, welche der Drud der Schranke,
ihm auflegt*). .
Es ift ganz richtig, daß Peſtalozzi die Einführung in die
unmittelbare Anfchauung ald den erften Schritt der Erziehung
betrachtet, aber er hätte zum erſten Object diefer Anſchauung nicht
die räumlichen Dinge, auch nicht (wie er es in feinem „Bud
für Mütter” thut) den Körper des Kindes nehmen follen, denn
der Körper des Kindes ift nicht dad Kind felbft; auch ſollte un⸗
ter den Mitteln, dem Zöglinge von dunkeln zu klaren Begriffen
zu verhelfen, nicht das Medium der Worte oder der Schall
als das erfte gelten. Das alles find Mißgriffe, die nicht ber
Grundgedanke feines Syſtems verſchuldet, fondern jene utiliftifche
Nebenrücficht, nämlich die proviforifche Sorgfalt für das Volk,
veranlaßt hat.
Der unmittelbare Gegenftand unferer Anfchauung ift unfere
eigene Thätigkeit, deren elementarfte Form nicht die willkürliche
Erzeugung oder Gonftruction, fondern die unwillkürliche Empfin-
dung oder bad Gefühl unferer Bebürfniffe und. Eindrüde aus-
macht. Hier finden wir daher ben erften Gegenftand unmittel-
*) Chendaf, Rede IX. 6, 404 fig, Vgl. damit Batr. Dialoge, IL,
S. 268 u, 269,
969
barer Anſchauung. Das Klarmachen der Gefühle, dad beutliche
Erfaffen deſſen, was eigentlich empfunden wird, ift daher natur
gemäß das erfte Bedurfniß umferer Selbftanfhauung und des⸗
halb die erfte Aufgabe einer auf die Leitung derfelben beachten
Erziehung. Das erfte Mittel der Selbftbefinnung ift der Aus:
drud der Empfindung, dad Auöfprechen der Bedürfniffe; das
Kind lerne zuerft auöfprechen, was es wirklich empfindet, es
lerne diefe Empfindungen genau unterfcheiden, auf feine Gefühle
merken und auf diefe Weife zugleich fich felbft ald ein befonnenes,
freied Ich davon abfondern. Die Elemente diefer erften Anfchaus
ung geben „bad Abc der Empfindung” („ber Befinnung auf bie
Nichtfreipeit‘). Das ift die wahre und erfte Grundlage alles Uns
terrichtö, der eigentliche Inhalt eines Buchs für Mütter*).
Der zweite Gegenftand der Anfchauung find die äußeren
Objecte, die räumlichen Dinge, Geftalten und Figuren. Der
Zögling lerne, diefe Objecte nachbilden, ihre Bilder entwerfen
oder vermöge der Einbildungskraft in allen Theilen wiedererzeu⸗
‚gen durch die freie That der Conftruction. Er werde ſich biefes
feined Thuns bewußt und dadurch eingeführt in die unmittelbare
Anfhauung der Größen: und Mafverhältniffe („dad Abc der
Anfhauung”). If ihm das Object völlig befannt und durchs
fihtig, fo darf ihm gefagt werden, wie es heißt; erft dann ift
das Wortzeichen am richtigen päbagogifchen Ort, nicht feüher.
Der Weg ber Anfchauung geht von ben Objecten und Bildern
zu den Worten und Begriffen; der umgekehrte Weg führt in die
Schatten: und Nebelwelt und verleitet zur „frühen Maulbraus
herein"),
*) Reben am die deutſche Nation. IX. 6. 406—409. Patr. Dia
Iog. II. 6.270,
**) Reben, IX. 6, 409 flgb.
970
Das Dritte iſt die freie Bewegung des Körpers, bie Uebung
der körperlichen Kraft, „das törperliche Können“, die leibliche
Kunſtfertigkeit, „dad Gewißmachen von Hand und Fuß”, wei
ches ebenfalld durch eine richtige und planvolle Zeitung ſtufen⸗
mäßig entwidelt werden und mit der geiftigen Ausbildung Hand
in Hand gehend fortfchreiten will. Diefen Theil der Elementar-
erziehung, ben Peflalozzi zwar angeregt, aber nicht methodiſch
bargethan hat, nennt Fichte „dad Abe der Kunſt“. Die Anlei:
tung bes Zöglingd, zuerft feine Empfindungen, dann feine An-
ſchauungen ſich klar zu machen und feinen Körper kunſtfertig zu
bilden, macht den erften Haupttheil der neuen beutfchen Natio-
nalerziehung*).
6. Die fittlihe Erziehung. Der Erziehungäfaat.
Der zweite Haupttheil umfaßt die bürgerliche und religiöfe
Erziehung. Iſt der Zögling in der Anfchauung einmal einhei-
mifch und feftgewurzelt, fo braucht er feine Welt nicht zu verän:
dern, fondern nur zu fleigern, und bie Erziehung hat nichts an:
deres zu thun, ald ihn auf diefem Wege richtig und planmäßig
zu leiten**). Inder Natur des Ich ift der normale und noth⸗
wendige Entwidlungdgang angelegt; die Wiſſenſchaftslehre hat
gezeigt, wie dad Weſen des Ich in der Selbftanfchauung befteht,
wie ſich diefe flufenmäßig erhebt und mit jedem Schritte erweitert
und vertieft. Immer umfaffender und heller wird der Erleuch⸗
tungskreis unferer Selbftanfchauung, bis fie zulegt den tiefften
Grund ihres eigenen Weſens durchdringt und fich erfaßt als eine
(unmittelbare) Erfcheinungdform bed göttlichen Lebens. Die fals
ſche Erziehung entfremdet das Ich feiner Natur und bringt es
*) Ebendaſ. Rede IX. S. 410flgd. X. S. 411.
) Ebendaſelbſt. X. S. 412,
9m .
aus dem Wege lebendiger Selbftanfchauung in die Schattenwelt
todter Begriffe; die richtige Erziehung macht, daß es jenen nor=
malen und naturgemäßen Weg ergreift und unter ihrer Leitung
fefthält, bis ihm feine wahre Natur zur zweiten Natur geworden
und eö jegt unmöglich ift, die eingelebte Richtung je zu verlaffen.
Die in dem Ich begründete und durch die Selbftanfhauung fort⸗
ſchreitende Entwidlung zu erkennen, war die Aufgabe der Wifs
ſenſchaftslehre. Diefe Richtung zur pädagogifchen Richtfchnur zu
machen, ift die ganze Aufgabe und Kunft der fichte ſchen Erzie⸗
hungslehre. So genau und innig ift der Zufammenhang zwiſchen
Fichte's Wiffenfhaftölehre und feinem Plan einer neuen Exzie
bung, die darum auch nicht auf einen befonderen Stand, fon=
dern auf dad Ich als folches gerichtet ift und, angewendet auf
das deutfche Wolf (diefed Ich unter den Wölfern), eine nationale
Geltung in uneingefchränktem Sinne ded Worts beanfprucht*).
Zur Sittlichleit erziehen, heißt den fittlichen Grundtrieb zur
Anſchauung und zur Geltung bringen, damit er die bewußte und
herrſchende Triebfeder der Handlungen werde, Nun ift bie eins
fachfte und reinfte Geftalt des Sittlichen der „Trieb nach Ach
tung“, der nur befriedigt werden kann, indem man Achtungd-
würdiges hervorbringt. Was aus felbftfüchtiger Begierde gefchieht,
iſt verächtlich und wird nicht etwa beffer dadurch, daß die Thä⸗
tigkeit intellectueller Art iſt. Achtungdwirdig ift allein die Ueber:
windung der Selbftfucht (die Selbftbeherrfchung und Selbſtver⸗
leugnung). Auf diefen Punkt richte ſich daher die fittliche Er—
ziehung; fie gewöhne den Zögling an eine gefegmäßige Unterord⸗
nung, aus welcher die freiwillige Hingebung hervorgeht. Die
Unterwerfung unter dad Geſetz iſt nothwendig und verdient Feine
*) Bol. Aphorismen über Erziehung. (1804.) S. W. UI Abth.
II Bd. 6.353.
92
befondere Anerkennung; erft die freiwillige Hingebung oder Auf-
opferung ift anerfennenöwerth und verbienftlich; erſt die Aufopfe-
rung darf belohnt werben, aber fie darf feinen anderen -Lohn
haben und begehren als ſich felbft; fie fei der Lohn der gefehmä-
ßigen Unterwerfung; nur wer dem Geſetze vollkommen gehorcht
hat, foll dad Verdienſt aufopfernder Handlungen erwerben bür-
fen, nur ein folder ift der Aufopferung fähig und würdig *).
Es giebt nur ein Gefeg, dem unbebingt zu gehorchen, den
fittlichen Trieb entwidelt, und es giebt nur einen Gegenftand,
für den fi) aufzuopfern, den fittlichen Trieb befriedigt: das ift
das Ganze ober der fittliche Gefammtzwed der Menfchheit. Es
giebt nur eine Art, diefen Geſammtzweck in lebendiger Anfchau-
ung darzuſtellen: das ift die fittliche Gemeinfchaft. Daher ift es
nothwendig, daß die Zöglinge ein pädagogifch georbnetes Gemein:
wefen bilden, in welchem jeber als Glied eines Ganzen ſich füh:
len, ben Gefegen beffelben gehorchen, für die Geſammtzwecke ar⸗
beiten und auf diefe Weife reifen kann zur Erfüllung nationaler
und weltbürgerlicher Pflichten.
Der Trieb nad) Achtung, der die Grundform alles fittlichen
Triebes und dad Element aller fittlihen Entwidlung ausmacht,
erzeugt in bem Kinde dad Streben geachtet zu werben; es fucht
die Zufriedenheit der Eltern, die Achtung der Erwachfenen. In
dem Maße, als der Zögling fich geachtet fieht, achtet er fich ſelbſt.
Unwillfürlic macht er das erwachfene Gefchlecht, dad er vorfin-
det, zu feinem Vorbilde. Das Kind will werden, wie die Er:
wachfenen. In der Nachahmung, die daraus nothwendig hervor
geht, liegt für den fittlichen Trieb die Gefahr einer großen und
grundfchädlichen Verirrung, der eine richtige Erziehung bei Zeiten
vorbeugen muß. ft dad erwachfene Gefchlecht verdorben, fo
muß dad nachwachfende Gefchlecht, indem es jenes fein Vorbild
Reben an bie deutſche Ration, X. &, 414—419,
. 973
zu übertreffen fucht, nothwendig noch verborbener werben. „Der
Menſch,“ fagt Fichte, „lebt fi zum Sünder, und das biöherige
menfchliche eben war in der Regel eine im fleigenden Fortfchritte
begriffene Entwidlung der Sündhaftigkeit.” So ift jenes Zeit:
alter „vollendete Sündhaftigfeit” gefommen, welches abzethan
werden fol durch eine von Grund aus neue Erziehung. Hier
giebt es fein anderes Mittel, ald daß diefe Erziehung ihre Zög⸗
linge aus dem „verpeftenden Dunftkreife” entfernt und einen reis
neren Aufenthalt für fie errichtet. „Wir müffen fie in die Ge
feufchaft von Männern bringen, die durch anhaltende Uebung und
Gewöhnung wenigftend die Fertigkeit fi) erworben haben, fich
zu befinnen, daß Kinder fie beobachten, und das Vermögen,
wenigftend fo lange ſich zufammenzunehmen, und bie Kenntniß,
wie man vor Kindern erfcheinen muß; wir müffen aus biefer
Geſellſchaft in die unfrige fie nicht eher wieder zurüdlaffen, bis
fie unfer ganze Werderben gehörig verabfcheuen gelernt haben
und vor aller Anſteckung dadurch völlig gefichert find*).”
Die Aufgabe der neuen Nationalerziehung fordert demnach)
einen abgefonderten und gefchloffenen Erziehungäftaat, der in ſei⸗
nen Böglingen die beiden Gefchlechter, und in deren Ausbildung
Lernen und Arbeiten vereinigt. Zur perfönlichen Selbftftändig-
keit gehört auch die öfonomifche, die Durch Arbeit gewonnen wird.
Die Erziehung zur Arbeit ift daher ein nothwendiger nationals
päbagogifcher Zweck. Es iſt der allererfte Grundſatz der Ehre, daß
jeber den eigenen Lebensunterhalt auch der eigenen Arbeit und
nicht etwa den fervilen Künften des Kriechend und Schmeichelnd
verdanfe. Darum fol jeder arbeiten lernen. Die Nationaler:
ziehung begreift deßhalb auch die wirthfchaftliche Erziehung
in fih, und der Erziehungsftaat bildet zugleich ein bkonomiſches
Tr) Ehenbofelbft, Rebe, X. S. 421-422,
974
Gemeinwefen, zu deſſen Erhaltung die Zöglinge durch ihre Arbeit
beitragen. Dabei fol die Arbeit nicht etwa ald todted Werk be:
trieben werben, fondern felbft ald erziehendes Element wirken, ald
ein wichtiger Factor in der Ausbildung und’ Entwidlung ber
menſchlichen Selbftthätigkeit. Derfelbe Grundfag, der für das
Lernen gilt, leite auch das Arbeiten. Wie die Objecte der Er⸗
kenntniß, follen auch die des praktiſchen Gebrauchs fo viel ald
möglich felbft erzeugt werben: jenes gefchieht durch die intellec-
tuelle Arbeit, diefes Durch die mechanifche (Arbeit im engeren Sinn).
Was von allen pädagogifch zu leitenden Handlungen gilt, gelte
auch von ber mechanifchen Arbeit: fie werde zu einem Gegen-
ſtande Iebendiger Anfchauung, zu einem verftänbigen, von der In⸗
telligenz erleuchteten Thun. Erſt dadurch wirkt bie Arbeit erzie⸗
hend und bildend; fie bildet nicht bloß das mechanifche Können,
fondern die Anfhauung und damit dad Ich: fo erfüllt fie den pä⸗
dagogifchen Zweck und macht den Zögling felbftändig nicht bloß
in öfonomifcher,, fonbern zugleich in intellectueller Hinficht, fie
bildet und entwidelt die ganze Perfon. Die beiden Hauptarten
der zu erziehenben Arbeit find die Production und Fabrikation:
die Ausübung deö Ader: und Gartenbaues, der Viehzucht und
derjenigen Handwerke, been man in biefem Beinen Erziehungs:
ſtaate bebarf. Auf diefe Weile macht die Nationalerziehung ihre
Zöglinge zugleich tüchtig für die Öffentlichen Arbeitäzwede bes
Staat: fie erzieht tüchtige Arbeiter, wie fie dad nationale Ge:
meinwefen braucht. Um fich zu erhalten, braucht die Nation
den Arbeitöftand; um fortzufchreiten, braucht fie den Lehrſtand.
Auch die Gelehrten müffen, wie bie Arbeiter, durch die National
erziehung hindurchgegangen fein; beide empfangen ald Zöglinge
diefelbe Elementarbildung und gehen erft von da an getrennte
Wege, wo die mechanifche Arbeit ald befonderer Erziehungszweig
975
auftritt. Hier fordert ber künftige Gelehrtenberuf eine andere
Art der Beichäftigung und Zeiterfüllung. Welche Zöglinge für
diefen Beruf taugen und darum von der mechaniſchen Arbeit ab⸗
zufondern find, entfcheidet die Mationalerziehung lediglich nach
der Befchaffenheit und dem Grade der Begabung”).
n.
Die Ausführung des Plans.
1. Die Mittel der Ausführung.
Der neue Erziehungsplan ift in feinem Grundriß entworfen.
Auf ihm fleht die Rettung der Nation, auf ihm allein. Daher
Tann nicht mehr die Nothwendigkeit feiner Ausführung, fondern
nur deren Art und Weife in Frage kommen. Die biöherige Er-
ziehung war entweber Privatfache, ober fo weit fie volksthümlich
war, lag fie in den Händen ber Kirche, die dad Erziehungsge—
ſchaft in-den katholiſchen Ländern aus eigener Machtvolllommen:
beit, in ben proteflantifchen im Auftrage der Staatsgewalt aus:
übte. So blieben die Elemente der Volksbildung befhränkt auf
ein „bischen Chriftentyum”, Leſen und, wenn es hoch kam, Schrei=
ben; und dad Ziel der Gelehrtenbildung hatte vorzugsweiſe bie
Geiftlichen im Auge ald die fünftigen Volkslehrer. Die Volke:
ſchulen, wie die Gelehrtenfchulen, waren fo verfaßt, daß eine
wirkliche Volksbildung daraus unmöglich hervorgehen konnte.
Um dieſe in's Leben zu rufen und den entworfenen neuen Plan
auszuführen, muß der Staat felbft die Sorge für die Er
ziehung übernehmen. An die Stelle der Privaterziehung und der
kirchlich geleiteten Volksſchule tritt die öffentliche Erziehung, wel
he der Staat orbnet, und die ausnahmslos gilt für alle.
Es ift nicht zu fürchten, daß die Koften einer folchen Erzie⸗
*) Ebendafelbft. Reben. X. S. 422— 427,
976
bung einen zu großen Aufwand ber Staatömittel verurfachen.
Im Gegentheil, was der Staat für die Erziehung verwendet,
wird er auf anderen Gebieten mit taufendfältigen Zinfen wieder:
einbringen. Es giebt auch, finanziell betrachtet, Fein befferes Ge-
ſchaft ald die Nationalerziehung, keinen größeren Nationalreid-
thum als die Volksbildung. Die öffentliche, richtig angelegte
umd geleitete Erziehung liefert dem Staat gefchulte Soldaten,
tüchtige Arbeiter, ehrenhafte Bürger. Ex wird Feine Arme zu
ernähren, weniger Verbrecher zu firafen und zu bewachen und
feine Bertheidigung, wie feine wirthſchaftlichen Intereffen auf das
Beſte beforgt haben. Nichts bezahlt der Staat theurer, als ben
Mangel guter Bürger; nichts ift ihm einträglicher als eine Er:
ziehung, die gute Bürger hervorbringt. Darum ift die öffent
liche Erziehung unmittelbarer Staatözwed, den zu erfüllen, der
Staat felbft fein Zwangsrecht brauchen darf. Zwingt er zum
Kriegsdienſt, warum fol er nicht auch zur Erziehung zwingen
dürfen? .
Wenn erft ein beutfcher Staat diefe wichtigfte feiner Pflich-
ten begriffen hat und zur Löfung der Aufgabe Hand ans Werk
legt, fo werben andere deutſche Staaten folgen, und es wirb bald
ein Wetteifer entflehen, der nie ein beſſeres Ziel gehabt hat.
Gerade die Vielheit unferer Staaten bringt ed mit ſich, daß ei-
ner dem anderen den Rang abzulaufen fucht, und es giebt feine
Sache, der ein ſolcher Wettftreit vortheilhafter fein könnte, als
die Aufgabe der Nationalerziehung. Sollten aber die Staaten
diefe Sache in Stich laſſen, fo muß man hoffen, daß große
Gutöbefiger oder Städte aud eigenen Mitteln den Verſuch mas
hen und angehende Gelehrte fich finden werden, die mit Freu
den in den Dienft einer folchen Erziehungsanftalt treten. Es
wird an Zöglingen nicht fehlen. Sollten die Eltern ihre Kinder
977
dazu nicht hergeben wollen, fo nehme man die armen, verwaiften,
auögeftoßenen Kinder und halte fi) an Lehrer der peſtalozzi'
Then Schule*).
2. Einigkeit in deutfher Gefinnung.
Der Verſuch muß gemacht werden. Der Erfolg wird ihn
rechtfertigen. Je umfaffender und energifcher er unternommen
wird, um fo eher wird dad neue Gefchlecht dafein, welches wir
brauchen. Bisdahin fönnen wir nichtd Beſſeres thun, als inner
lic) dem neuen Bürgerthum und annähern, uns in beutfcher Ge—
finnung befeftigen, ben Charakter diefer Gefinnung pflegen, eis
nig in dem, was der Zeit noththut, umerfchütterlich feft in der
Ueberzeugung, daß die deutfche Nation erhalten werden müffe
und nur durch eine neue Erziehung erhalten werden könne. Diefe
Ueberzeugung werde durch nichts ſchwankend gemacht. Eine
Menge Trugbilder find dagegen im Umlauf und verfuchen die
Gemüther zu berüden.
Viele täufchen ober laſſen fich damit täufchen, daß ja bie
deutfche Sprache und Literatur erhalten bleibe, auch wenn die
Nation ihre politifche Selbftändigkeit einbüße. Was gilt denn
eine Sprache, die ein Winfeldafein nothdürftig fortfriftet? So
lebt noch heute dad Wendifche fort. Was gilt eine Literatur, des
ven Sprache aufgehört hat zu regieren und darum auch aufgehört
hat wahrhaft zu leben? Jeder vernünftige Schriftfteller will
feine Gebanten zur Geltung und Herrſchaft bringen; er will in
feiner Weife regieren, er braucht deßhalb eine regierende Sprache,
eine Sprache, in ber regiert wird, die Sprache eines Volks, das
einen felbftändigen Staat ausmacht. Ohne die politifche Selb:
. fländigkeit ihres Volks haben Sprache und Literatur ihre Würde
*) Ebendaſ. Rebe- XI. 6. W. II Abth. U Bd. S. 428 -444.
diſqer, Geſqicte der phileſophie V. 62
978
und damit ihren Werth verloren. Auch die Wiſſenſchaft will re:
gieren und umgeftaltend einwirken auf das Leben des Volks; fie
Kann nichts ausrichten in einem politifch gefallenen Volke, fie kann
den Verluft politifcher Selbftändigkeit nicht erfegen, da mit diefer
ihre eigene Lebensbedingung erlofchen iſt. Wie follen wir auf eine
tünftige beutfche Literatur rechnen dürfen, da wir fchon jet Feine
mehr haben, da fchon jetzt die Furcht vor dem fremden Gewalt:
herrſcher überall in deutfchen Landen fo viele Gemüther erfchredt
vor einem vaterländifchen Worte? Entweber hat dieſer Gewalt:
herrfcher Geifteögröße genug, um auch in dem befiegten Bolle
die geiftige Selbftändigkeit und deren Pflege zu achten: dann ift
die Furcht vor ihm ungerecht; oder er ift kleinlich gefinnt und
haßt die deutfche Geiftesart: dann ift die Furcht vor ihm erbärm:
lich. „Sol denn nun wirklich, einem zu gefallen, dem damit
gedient ift, und ihnen zu gefallen, bie ſich fürchten, dad Men:
ſchengeſchlecht herabgewürdigt werden und verfinten, und fol kei:
nem, dem fein Herz es gebietet, erlaubt fein, fie vor dem Ber:
falle zu warnen?” „Mas wäre denn das Höchfte und Letzte, bad
für den unwillfommenen Warner daraus erfolgen könnte? Ken:
nen fie etwas Höheres, denn den Tod? Diefer erwartet und ohne
dieß alle, und es haben von Anbeginn der Menſchheit an Edle
um geringerer Angelegenheit willen — denn wo gab es jemals eine
höhere ald die gegenwärtige? — der Gefahr deſſelben getrogt.
Wer hat dad Recht, zwifchen ein Unternehmen, das auf dieſe
Gefahr begonnen ift, zu treten?” „Das Nächte, was wir zu
thun haben, ift dies, daß wir und Charakter anſchaffen und
durch eigenes Nachdenken eine fefte Meinung bilden über unfere
wahre Lage und bad fichere Mittel, diefelbe zu verbeſſern ).“
*) Ebendaſelbſt. Rebe XII. ©. 444 — 459. (Vgl, mit ber le
ten Stelle II Bud) dieſes Bandes, Gap: V. S. 320 figd,)
979
3. Die politifhen Trugbilder.
Gleichgewicht, Welthandel, Univerſalmonarchie.)
Deutſch geſinnt oder von der nationalen Aufgabe des deut⸗
ſchen Geiſtes erfüllt fein, heißt zugleich einig fein. Was bie
deutſche Einigkeit aufhebt oder ſtört, widerſtreitet auch der beut«
ſchen Gefinnung und ift in feiner Wurzel undeutfch und auslän-
difchen Urſprungs. Es giebt gewiſſe Vorftellungen, die felbft
mit dem Scheine politifcher Grundſatze bekleidet find und ein gro⸗
Bes Anfehen auch unter und gewonnen haben, obwohl fie dem '
deutſchen Geift und der deutfchen Einigkeit von Grund aus zus
widerlaufen. Es ift zur Gründung und Pflege deutſcher Gefins
nung fehr wichtig, fich diefer Trugbilder bewußt zu werden und
ihren unbeutfchen Charakter zu durchſchauen. Diefe Trugbilder
verhalten ſich zur deutſchen Gefinnung, wie nad) Bacon die Idole
zu unferem wahren und naturgemäßen Denken.
Die deutſche Einigkeit giebt die feftefte Grundlage zu einer
neuen politifhen Ordnung der Dinge. Wad bisher das euros
paiſche Staatenſyſtem regulirt ober vielmehr verwirrt hat, war
der Gedanke des fogenannten Gleichgewichts. Wären die deut ⸗
Then Völker in ihrem gemeinfchaftlichen Waterlande in der Mitte
Europas wahrhaft einig, fo hätte das europäifche Gleichgewicht
feinen natürlichen, unverrüdbaren Schwerpunkt, und es wäre
nicht nöthig, ein fünftliches Gleichgewichtsſyſtem für Die europäs
ifchen Machtverhältniffe zu erfinden. Das kunſtliche Gleichge:
wicht ift der Urfeind der deutichen Einigkeit, die eigentliche Urs
fache unferer Zwiefpältigkeit und Trennung und alles daraus ent»
ftandenen Elends, deſſen legte Frucht der Verfall und politifche
Untergang der gefammten Nation ift. Erſt ift das chriftliche
Europa dur die Ländergier der Völker und den raubfüchtigen
62*
980
Eifer nach gemeinfchaftlicher Beute, die feiner dem anderen laſ⸗
fen und jeder dem anderen abjagen mochte, getheilt und in einen
Zuſtand beftändiger Welthändel und ungleiher Machtverhältniffe
gebracht worden, deren Ausgleichung dann in jenem kunſtlichen
Sleihgewichtöfgfteme vergeblicherweife gefucht wurde; dann hat
dieſes Syſtem auch die deutfchen Völker, die ihrer Lage und ih-
. ren Intereffen nad) demfelben fremd waren, durch ausländifche
Machinationen ergriffen und damit feinen Eingang in dad Herz
Europas gefunden. Die Deutſchen find nicht die Urheber, auch
nicht die Theilnehmer der Gleichgewichtöpolitit geweſen, fondern
fie Haben fi in das Net derfelben hineinziehen laſſen und find
dad Object, die Beute, bad Opfer diefer Politik geworben. Jede
Verrüdung des Gleichgewichts muß jegt in Deutfchland ausge:
glichen und die deutfchen Staaten zu Zulagen gemacht werben zu
den Hauptgerichten in der Wage des europäifchen Gleichgewichts.
„Wäre nur wenigftend Deutichland Eins geblieben, fo hätte es
auf ſich felbft geruht im Mittelpunkte der gebildeten Welt, fo
wie die Sonne im Mittelpunkte der Welt; es hätte fi in Ruhe
erhalten und durch fich feine nächfle Umgebung und hätte durch
fein bloßes Dafein allen dad Gleichgewicht gegeben.” Der Ge
danke eines künſtlich zu erhaltenden Gleichgewichts ift in feiner
Nichtigkeit zu durchdringen. Es ift einzufehen, daß nicht bei
ihm, fondern allein bei der Einigkeit der Deutfchen unter fich fel-
ber das allgemeine Heil zu finden fei”).
Es liegt nicht im Intereffe und in der Aufgabe der Deut:
ſchen, fich an beutegierigen und eroberungsfüchtigen Welthändeln
zu betheiligen. Im diefe verflochten, machen fie feine Beute,
fondern werben dazu gemacht. Was von den Welthändeln gilt,
*) Reben an bie deutſche Nation, XIII. S. W. III Abth, U Bd.
©. 464, 65,
|
981
ebenbafjelbe gilt den Deutfchen gegenüber auch vom Welthandel.
Sie follen fi) von beiden unabhängig erhalten. Ihre politifche
Selbftändigkeit und Einigkeit fordert auch die öfonomifche, bie
Handelöunabhängigkeit, die Schließung des deutfchen Handelö-
flaated. Das ift dad zweite Mittel ihres Heil. Die Abhängig:
Feit vom Welthandel, die mercantile Verbindung mit England
Hat auch in den gegenwärtigen Kriegen und zum Schaben gereicht;
fie hat den Vorwand geliefert, daß wir ald Abläufer befriegt und
als Marktpla& zu Grunde gerichtet werden”).
Am wenigften aber follte der deutfche Geiſt fich blenden laſſen
durch das Trugbild des Caſarismus und der „Univerfalmonar-
chie“, welches, durch die Begebenheiten der Zeit begünſtigt, als
politifches Ideal vorgefpiegelt und von vielen aus Thorheit oder
knechtiſchem Sinne geglaubt wird. Eine Univerfalmonarchie muß
alles centralifiten und gleichförmig machen wollen; fie vermifcht
und verreibt alle menfchliche Mannigfaltigkeit und erzeugt dadurch
eine Abftumpfung und BVerflahung des geiftigen Lebens, bie
um fo verderblicher wirkt, je urfprünglicher die Anlagen und Keime
der geiftigen Natur. find. Nichtd verträgt fich weniger mit ber
deutfchen Geifiesart, als die Univerfalmonarchie. Sie ift auch
in ſich felbft zweckwidrig; denn fie kann nur durch Mittel er—
reicht werben, die am Ende fie felbft zerflören. Die Kräfte, die
fie zu ihren Eroberungen braucht, müflen von zwei Bedingungen
getrieben werden, von ber Verheerungsſucht und von her Raub:
ſucht, von barbarifcher Rohheit und erbarmungslofem, raffinirtem
Eigennug. Mit ſolchen Kräften kann man die Erde zwar aus:
plündern, verwüften und zu einem dumpfen Chaos zerreiben,
nimmermehr aber zu einer Univerfalmonarchie ordnen **).
*) Ebendaſelbſt. ©. 465— 67.
**) Ebendaſelbſt. S. 467—69.
982
In dieſen Urtheilen iſt Fichte fich gleich geblieben. Die
Gleichgewichtspolitik, der Welthandel und die Univerfalmonardie
find ihm ſtets als politifhe Grundübel erfhienen. Er verwirft
fie in den Reben an bie deutfche Nation, wie früher in feinen
Beiträgen über die franzöfifche Revolution und in feiner Rechts
lehre ).
Reinigen wir alſo unſere Geſinnung von allen jenen Trug:
bildern und Idolen. Unfere gegenwärtige Aufgabe ift deutſch ge:
finnt fein, in diefer rein beutfchen Gefinnung zufammenhalten
und feftfiehen. Mit den Waffen find wir befiegt; feien und
bleiben wir unbefiggt in der Gefinnung! Wir kämpfen nicht
mehr mit Waffen, fondern mit Grundfägen, Sitten, Charakter.
In diefem Kampfe werben wir fiegen, wenn wir feine Waffen
rein und unbefledt erhalten. Dazu müffen wir ablegen die an:
genommenen Untugenden, die ber beutfchen Gefinnung wider:
ſtreiten. Wir haben und gewöhnt, fremde Sitten, die man
gute Lebensart” nennt, unferer eigenen Weife, unferer deutfchen
Eigenthümlichkeit vorzuziehen. Seien wir, was wir find, ohne
fremde Tünche; halten wir unfere Eigenthümlichkeit feft, auf bie
Gefahr, dem Audlande lächerlich zu erfcheinen. Wir haben und
an innere Zwietracht gewöhnt und durch gegenfeitige Worwürfe,
Anklagen und Beſchuldigungen dem Auslande gezeigt, wie man
und ſchmahen kann. Diefe Befhuldigungen find ungerecht, denn
unfer Unglüd ift nicht die Schuld einzelner, fondern aller,
nicht dad Werk von Perfonen, fondern ganzer Zeitalter; fie find
zugleich unklug, denn fie entwürdigen und vor dem Auslande
unb geben und ber Geringfhägung beffelben mit Recht Preis.
*) Ueber das Gleichgewicht und bie Univerfalmonardjie vgl. Buch IL.
biefes Bd. Cap. IX. 6.391 — 393; über ben Welthandel vgl. Buch III.
Cap.X. 6. 648652,
983
a Die Unfitte der Schmähfchriften fol aufhören. Machen wir und
„ zur Pflicht, Reine zu lefen, fo wird feine mehr gefchrieben were
den. Hüten wir und enblich auch vor ber indirecten Selbſtſchma⸗
bung. Wir ſchmaͤhen und indirect, indem wir dem Auslande
x fehmeicheln. Auch die Lobpreifung der Gewalt, bie und be:
herrſcht, auch die Bewunderung bed „großen Genies”, welches
die Gewalt hat, iſt unwürdig, felbft wenn, fie aufrichtig if. Der
Mafftab, wonach fie die Größe ſchätzt, ift undeutfch. „Unfer
Maßftab der Größe bleibe der alte: daß groß fei nur dasjenige,
mad der Ideen, die immer nur Heil über die Völker bringen,
fähig fei und von ihnen begeiftert; tiber die lebenden Menfchen
aber laßt und das Urtheil der richtenden Nachwelt überlaffen*).”
4. Der Entfhluß zur Thät.
Die fittliche Erneuerung und Wiedergeburt des beutfchen
Volkes war ber Inhalt der Reben. Diefe Aufgabe ift aus ber
Epoche des Zeitalterd und den Gefchiden der Nation gerechtfer:
tigt. Es iſt gezeigt, worin fie beſteht; daß ber deutfche Geift
berufen und fähig ift, fie zu löfen; daß die Löfung eine neue
Menfchenbildung, eine gründlich umfchaffende Nationalerziehung
fordert, die den Gedanken Peſtalozzi's aufnimmt, folgerichtig
entwickelt, umfaffend anwendet. Der Plan und die Mittel ſei⸗
ner Ausführung find den Grundzügen nad) bargethan. In ihm
liegt der fefte Vereinigungspunkt deutfcher Gefinnung, der Halt
deutfcher Einigkeit, die Befreiung von allen Trugbildern, welche
ben gefcichtlihen Gang des beutfchen Volks in die Irre geführt
und von fremden, feindfeligen Bedingungen abhängig gemacht
haben.
Jetzt handelt es ſich darum, den deutfchen Gedanken zur
*) Neben an bie deutſche Nation, XII. S. 470—476,
984
That zu machen, vor allem zur inwenbigen That, zur lebendr
gen, unerfchütterlicy feften Gefinnung, die jeder aus freier Ueber:
zeugung faffe, die alle auf gleiche Weiſe durchdringe. Diefe Ge
finnungsthat ift das Erſte und kann fofort gefchehen. Die Ent:
ſchließung ift leicht, denn was fie hindert, kann nur Selbfttäu:
ſchung fein, und die Zeiten der Selbfttäufhung find vorüber.
Nachdem die biöherigen Zuflände zu Grunde gerichtet und durd
eigene Schuld gefallen find, ift e8 unmöglich, den Wahn, ber
fie erhalten möchte, fortzufegen.
Wir haben zu wählen zmwifchen einem erniebrigten Dafein
und dem ficheren Untergange auf der einen Seite und einer ehren:
vollen Zortdauer, die zu glorreicher Wiederherftellung führt, auf
der anderen. Wer aus lebendiger Einficht zuerft den Entfchlug
zur nationalen Erneuerung ergreift, hat die Pflicht, die ande
ten aufzuforbern, benfelben Entſchluß zu faflen. Diefe Pflicht
wollen die Reben erfüllt haben.
Die Aufforderung geht an alle, an Jugend und Alter, an
Gefhäftgmänner und Denker, an Fürften und Bolt. Die Jüng:
linge follen durch die klare Einficht ihre Einbildungskraft Läutern,
das Alter feine Selbftfucht ; die Uneigennügigen follen die Jugend
berathen, die Eigennügigen wenigftens dad Werk der Erneuerung
nicht ſtören; die Gefchäftgmänner’follen ſich Durch das, was fie
dad praftifche Leben nennen, nicht verengen und gegen bie Den:
ter einnehmen laffen, die ihrerfeitd nicht vergeffen mögen, daß bie
Ideen die Probe des Lebens zu beftehen haben; die Fürſten werden
ihren Beruf, der fie zur Leitung der Völker erhebt, am beften erfül-
Ien, wenn fie auf dem Wege der Erneuerung bie Erften find in
GSefinnung und That.
Die Aufforderung gefchieht im Namen aller. In ihr redet
die Stimme ber Vorfahren und ber Nachkommen; im ihr verei⸗
985
nigt fich der deutfche Genius mit dem des Auslandes zu berfel-
ben Mahnung. Die alten Deutfchen, unfere früheren Vorfah—
ten, haben umfonft dad alte Römertyum mit leiblichen Waffen
befiegt, wenn wir jeßt dad neue Römerthum nicht mit den Waf-
fen des Geiftes befiegen, den einzigen, die und geblieben find.
Die proteftantifchen Glaubensfämpfer, unfere fpäteren Vorfah—
ren, haben umfonft für die Glaubenöfreiheit und die Herrfchaft
des Geiftes geftritten, wenn wir biefen ſchwererkämpften Geift
jet zu Grunde gehen laffen und nicht alles thun, ihn zu erhal
ten und in die ihm beftimmte Weltherrfchaft einzufegen. Unfere
Nachkommen werben umfonft leben; fie werden eine Gefchichte
haben, welche der Sieger macht, wenn wir nicht dafür forgen,
daß fich unfer geiftiges Leben an Haupt und Gliedern erneut,
Geiftiger Erneuerung bedarf die Menfchheitz fie erwartet fie von
den Deutfchen.
„Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, fo wie
mit ihren Mängeln, ift verfunfen durch die eigene Unwürde und
durch die Gewalt eurer Väter. Iſt in dem, was in dieſen Re
den dargelegt worden, Wahrheit, fo feid unter allen neueren
Völkern ihr eö, in denen ber Keim der menfchlichen Vervollkomm⸗
nung am entfchiedenften liegt, und denen der Vorfchritt in der
Entwicklung derfelben aufgetragen ift. Geht ihr in dieſer eurer
Wefenheit zu Grunde, fo geht mit euch zugleich alle Hoffnung
des gefammten Menfchengefchlechts auf Rettung aus der Tiefe feiner
Uebel zu Grunde.” „Es ift daher Fein Ausweg: wenn ihr ver:
fintt, fo verfinkt die ganze Menfchheit mit, ohne Hoffnung einer
möglichen Wiederherftellung *).”
*) Edendaſelbſt. Rede XIV. &.481—499, (Bgl. mit dem Schluß
IL Bud dieſ. Bd. Cap. V. S. 321. 322.)
Neuntes Capitel.
Der Univerfitätspien.
Zu wieberholten malen haben wir in der Entwidlung der
fichte ſchen Lehre darauf hingewiefen, welche Bedeutung fie der
Aufgabe und dem Berufe des Gelehrten zufchreibt; wie eö ber
Gelehrte fein fol, der die Bedingungen, welche ben Geift bes
vorhandenen Zeitalter8 ausmachen, auf dad Klarfte begreift und
die Bildung des ünftigen erzieht, wie fich biefer Beruf in dem
Gelehrten verkörpern und den fittlichen Charakter deffelben be=
Dingen fol. Ich erinnere an die jenaifchen Vorleſungen über die
Beſtimmung —, an die erlanger über dad Weſen ded Gelehrten,
vor allem an bie hierhergehörigen Abfchnitte der Sitten und
Pflichtenlehre*).
Die Erziehung der Welt durch den Gelehrten ift aber felbft
bedingt durch die Erziehung zum Gelehrten, bie einen wichtigen
Beftandtheil und den höchften der Nationalerziehung ausmacht.
In den Reden an die beutfche Nation hat Fichte die Grundlinien
ſeines neuen Erziehungsplanes entwidelt; er hat bezeichnet, bis
zu welchem Punkte an der elementaren Grundlage derfelben auch
die Erziehung zum Gelehrten theilnimmt, aber er hat hier die ei-
gentliche Anwendung auf die fpecififche Gelehrtenerziehung offen ge:
*) Vgl. oben III Buch dieſes Bd. Cap. XVI, ©. 761-770.
987
laffen. Es handelt fich bei der letzteren um die Aufgabe ber nie-
deren Gelehrtenfchule und der Univerfität, alfo um die Frage,
welche Richtſchnur die von Fichte entworfene Nationglerziehung
der Univerfität vorfcpreibt, welche Umbildung diefer ihrer höchſten
Lehranftalt fie fordert. In diefem Punkte begegnete die national-
päbagogifche Frage dem damals angeregten und zur Ausführung
beftimmten Plane einer in der preußiſchen Hauptſtadt neu zu
gründenden Univerfität. Auch Fichte war in dieſer Sache um
feinen Rath gefragt worden und hatte ihn in einer Denkfchrift
gegeben, welche ben Reben an die Nation vorauögeht und bie
Anwendung feiner nationalen Erziehungsreform auf dad Univer:
fitätöwefen enthält. Gedanken zu Univerfitätöreformen hatten
ihn ſtets befchäftigt, aber nirgends fo gründlich und umfaſſend
als in diefer nach Zeitpunkt und Richtung ben Reden nahe ver:
wandten Denkfchrift*).
L
Die Univerfität ald Erziehungsanftalt.
4. Die Kunſtſchule der Wiffenfhaft.
Die Univerfitäten follen eine Bildung geben, welche ber
Staat braucht und auf die er rechnet. Alle wirkliche Bildung
ift Feucht der Erziehungs fie kann nicht bloß auf gut Glüd über
liefert, fondern fie will planmäßig erzogen werben. Die Unis
verfitäten gehören als nothwendiges Glied in den Geſammtorga⸗
nismus der Rationalerziehung und follen darum fein, was bie
bisherigen nicht find: Erziehungsanftalten, nicht bloße Lehrs ober
fogenannte freie Bildungsanftalten **).
*) Debueirter Plan einer zu Berlin zu errichtenben höheren Lehr:
anftalt. (1807.) S. ®. III Abth. III Bb. ©. 95 — 204. .-
1I Bu) bief. Vd. Cap. V. 6, 392-324.
**) De, Plan u. ſ.w. J Abſchn. 5.13, Amer,
988
Aber auch als bloße Lehranftalten, ganz abgefehen von dem
erziehenden Charakter, der ihnen fehlt, find die vorhandenen Uniz
verfitäten zum großen Theile unfruchtbar. Die mündlichen Lehr⸗
vorträge find größtentheild nur Wiederholungen der ſchon im
Drud vorhandenen gelehrten Literatur, fie fagen das ſchon Ge:
drudte noch einmal, fie lehren eigentlich nicht, ſondern recitiven
bloß und thun damit etwas im Grunde Ueberfläffiged. Die Zu:
börer können die Bücher felbft Iefen, ja fie thun fogar beffer,
wenn fie benfelben Gegenftand lieber lefen ald hören, denn fie
konnen lefend die Sache weit aufmerkfamer verfolgen und felbft-
thätiger burchbringen, als wenn fie fi) bloß hörend verhalten.
Das Hören ift paffiver als das Leſen. So find die alabemifchen
Vorträge, fo weit fie ven Inhalt vorhandener Bücher wieberho:
len, nicht bloß überflüffig, fondern fogar ſchädlich. Sie machen
den Büchern eine für den Lernenden verberbliche Concurrenz.
Diefer denkt: du brauchft nicht zu hören, was bu ebenfo gut und
beffer lefen kannſt; du brauchft nicht zu leſen, was du zu hören
befommft. Dadurch wirb er leicht verführt, keines von beiden
zu thun; im Vertrauen auf die Bücher hört er die Vorträge nicht,
im Hinblid auf die letzteren lieſt er die Bücher nicht. So Iernt er
überhaupt nicht und verfchwendet die Zeit. Es ift allerdings wahr,
daß die Univerfitäten, namentlich die neueren, auch dazu bei⸗
tragen, bie gelehrte Literatur zu verbeffern, aber erſtens gefchieht
das immer nur von wenigen und kann durch Feine in der Orga⸗
nifation einer Univerfität enthaltene Bedingung verbürgt wer-
den, und bann kommt biefe Arbeit nur ben Büchern zu gute und
erfüllt Feine eigenthümliche alademifche Kehraufgabe, Beinen felb-
ftändigen nur der Univerfität angehörigen Zweck“).
Ihr höchſter Zweck ift die Erziehung durch Wiffenfchaft und
*) Deb, Plan, I Abſchn. $. 1. 2. 8.
989
zur Wiffenfchaft. Diefe ſoll fid der Geifter dergeſtalt bemachti⸗
gen, baß fie ganz in ber Wiffenfchaft leben, daß ihr Denken und
Arbeiten Feine andere Form Eennt als bie wiſſenſchaftliche. Dann
erſt iſt die Wiffenfchaft lebendig geworben, fie ift gereift zum Könz
nen, zur Kunft. Diefe Kunft ift lehrbar. Ihre Schule ift die
„wiffenfchaftliche Kunftichule”. Eine folche wiffenfchaftliche Kunſt⸗
ſchule ift nothwendig, fie gehört in das Syſtem der Nationaler:
ziehung, fie bildet den naturgemäßen Gipfel jener Pädagogik, des
ven Wurzel Peſtalozzi erfunden hat. Die Wurzel ift die allger
meine Volksſchule, der Stamm ift die niedere Gelehrtenfchule,
die Krone ift die höhere Gelehrtenfchule, die Univerfität. Men:
ſchenbildung im Großen und Ganzen ift der Zweck der Nationals
erziehung ; fie foll aus den Händen des Minden Ungefähr heraus:
fommen und unter das leuchtende Auge einer befonnenen. Kunft
geftellt werden, nicht bloß in ihren Elementen, auch in ihrer
Vollendung. Das ift die Abficht, in welcher Fichte feinen Unis
verfitätöplan entwidelt*).
2. Lehrer und Schüler.
Das Profefjorenjeminar.
Die Bedingung aller wiffenfchaftlichen Thätigkeit und Ar⸗
beit liegt darin, daß man bie Kunft der wiffenfchaftlichen Aneig⸗
nung befist, das wiffenfchaftliche Verſtehen und Lernen, „bie
Kunft des wiffenfchaftlichen Verſtandesgebrauchs⸗“. Diefe Kunft
zu erziehen, ift die eigentliche pädagogifche Aufgabe der Univerfis
tät, die dazu einen Vorrath von Kenntniffen, gleichfam den erften
Stoff für die zu Abende Kunft, ald Frucht der niederen Gelehr⸗
tenfchule in dem Zoglinge vorausſetzt und, um ihre Aufgabe zu
löfen, den letzteren nicht bloß als ſtummen Zuhörer nehmen darf,
Ebendaſelbſt. I Abſchn. 5.4 u. 5. $. 13, Coral,
990
der auf gut Glüd ſich dem Einfluß ber Vorträge und dem eige-
nen Genius überläßt; vielmehr fordert fie ein lebendige und
perſonliches Eingehen des Lehrers auf den Schüler, einen Wech-
felverkehr und eine fortlaufende gegenfeitige Mittheilung beider,
welche nothwendig bie Form bed dialogifchen und ſokratiſchen Un:
terrichtö annimmt. Der Schüler muß im Geifte der wiſſenſchaft⸗
lichen Kunft antworten und fragen lernen, er muß die Kunft der
wiffenfchaftlichen Arbeit und Darflellung im fchriftlichen Vor—
trage felbfithätig ausüben, indem er Aufgaben löft, weldye der
Lehrer ihm fielt. Daher fordert jener akademiſche Wechſelver⸗
kehr Eramina, Gonverfatorien, Aufgaben und Ausarbeitungen,
nicht zum Zweck des mechanifchen Einiernens, fondern in Abficht
auf die zu erziehende Kunft des wilenfchaftlichen Denkens *).
Diefer Zweck kann nicht durch eine beiläufige Beſchaͤftigung
„ mit vwiffenfchaftlichen Obfecten, ſondern nur dann erfüllt werben,
wenn ber alademifche Zögling mit feinem ganzen Leben fi in
die Wiffenfchaft verfenkt und in ihr aufgeht. Daher forbert das
atabemifche Leben eine ausſchließende Richtung auf die Zwecke
der Wiffenfchaft und deßhalb eine völlige Abfonderung von der
„allgemeinen Maſſe des gewerbtreibenden und bumpfgenießenden
Bürgertjums”, eine Ifolirung von dem Getriebe der gemöhnlis
chen Lebenöinterefien und eine Freiheit von dem Drud ber ge:
wöhnlichen Lebensforgen, damit in dem akademiſchen Leben alle
Intereffen gefammelt und gerichtet bleiben auf die Sache ber
BWiffenfchaft. Gerade in diefer Rüdficht find die Heinen Univer⸗
fitätöftädte den alademifchen Lebendbebingungen günftiger als
die großen **).
Es ift der Zweck der Univerfität, wiſſenſchaftliche Künſtler
*) Ehenbafelbft, J Abſchn. .5—8.9. .
Ebendaſelbſt. I Abſchn. 5. 10.
9
zu erziehen. Darin liegt eine weitere Aufgabe, an welche bie bis
herigen Univerfitäten Baum gebacht haben. Alles Leben will ſich aus
ſich feioft fortpflangen, auch bad miffenfehaftliche und afabemifce.
Es ift nicht genug, wiſſenſchaftliche Kunftfertigkeit zu erziehen,
es müſſen auch folche erzogen werben, die felbft wieder im Stande
find, wiffenfchaftliche Künftler zu bilden. Die Kunft der wiflens
ſchaftlichen Künftlerbifvung nennt Fichte den höchften Grab der
voiffenfchaftlichen Kunft. Die Univerfität, wie fie nach Fichte's
Abficht werden fol, muß zugleich die Bedingungen in fich ents
halten, um eine Pflanzſchule Tünftiger Univerfitätslehrer, ein
„Profeſſorenſeminarium“ zu fein. Wir haben Seminarien für
Prediger, Schullehter u. |. f., aber keines für akademiſche Lehrer.
Wie das afademifche Lernen, fo bleibt nach den bisherigen Eins
richtungen auch dad akademiſche Lehren dem Gerathewohl übers
laſſen; keines von beiben wird gelernt, weil keines von beiden
gelehrt wird, weil ed feine Erziehunggiebt, die ſich um die aka⸗
demifche Bildung kümmert, weil mit einem Worte unfere Unis
verfitäten feine Exziehungsanftalten. find und fein wollen *).
1.
Die Ausführung bed Plans.
1. Die philoſophiſche Kunſtſchule.
Der Begriff einer wiſſenſchaftlichen Kunſtſchule giebt bie
Grundidee, wonach Univerfitäten gegründet und umgeflaltet wer⸗
den follen. Die Ausführung deö Planes fordert die Anknüpfung
an bie gegebenen akademiſchen Werhältniffe; dad vorhandene ges
lehrte Erziehungsweſen ift der zu organificende Stoff. Wie der
Entwurf einer neuen Nationalerziehung den Anknüpfungspunkt
au feiner Verwirklichung in der vorhandenen peſtalozzi ſchen Schule
*) Chenbafelbft, I Abſchn. 8.11 u, 12,
992
findet, fo bieten die vorhandenen Univerfitäten einen Ausgangs
punkt für die wiflenfchaftliche Kunſtſchule in der afabemifchen
Geltung der Philoſophie und des philofophifchen Unterrichts. Die
Philoſophie ift die allgemeine Wiffenfchaft, welche die gefammte
geiflige Thatigkeit wiſſenſchaftlich erfaßt und als Wiſſenſchafts-
lehre den Beruf hat, das Reich des Wiſſens zu ordnen und zu
durchdtingen. Bon hier aus läßt ſich die wiſſenſchaftliche Kunſt⸗
ſchule am erften in’s Leben rufen und geflalten. Zunachſt muß
bie Ppilofophie in wiſſenſchaftliche Kunſt, der philoſophiſche Un-
terricht in Kunſtſchule verwandelt werben. Es handelt ſich ba
ber vor allem um die Bildung einer philofophifchen Kunſtſchule.
Die Kunft der Philofophie ift dad Philofophiren. Phile
fophiren lehren und philofophiren lernen ift daher die Aufgabe der
philofophifchen Kunſtſchule. Wer biefe Kunft verſteht, iſt ein
philoſophiſcher Künftler. Wer in einer befonderen Wiffenfchaft
Künftler werden will, muß zuerft ein philoſophiſcher Künftter fein,
denn bie befondere wiſſenſchaftliche Kunft ift nur die Beftimmung
und Anwendung ber allgemeinen philoſophiſchen Kunſt. Da es
fi nun im Philofophiren um dad methodifche Suchen und Auf:
finden der wiſſenſchaftlichen Einficht handelt, fo würde der Zwec
einer philoſophiſchen Kunftfchule verfehlt werden, wenn man ein
fertiges dogmatifches Syſtem in den Vordergrund ftellen wollte,
Die fertige Anficht, die ausgemachte Behauptung ruft ben Wi⸗
derftreit der Thefen und damit die Polemik hervor, die nicht in
der Aufgabe der philofophifchen Kunftfchule liegt. Darum wird
auch der bildende philofophifche Kunſtler zunächft nur einer fein
dürfen, ber zwar Fein fertiges Syſtem lehrt, wohl aber ein fol:
ches hat, denn er könnte das Philofophiren nicht lehren, wenn
er nicht mit feiner Philoſophie zu Ende gelommen wäre, alfo ein
philoſophiſches Syſtem hätte*).
*) Ebendaſelbſt. II Abjn, 9.14 — 5. 18.
993
2. Die Fahmiffenfhaften und deren Encyflopäbie.
Die Faeultãten.
Wie die Philofophie von den grundlegenden Principien fort
ſchreitet und herabfleigt zu den einzefnen Wiffenfchaften, das
Reich des Willens ordnend, jedes befondere Zach begründend,
eintheilend, umfaffend, die unphilofophifchen Beſtandtheile (die
nicht Gegenftand des wiſſenſchaftlichen Berftandesgebrauchs find)
ausſcheidend, fo wirb daffelbe die philofophifche Kunftichule thun
und für jebeö befondere Fach den allgemeinen und umfaffenden Theil
d. i. die Encyklopädie der beftimmten Wiſſenſchaft zur Grund:
lage und zum Ausgangspunkte des wiflenfchaftlichen Unterrichts
machen. Vermöge diefer encyklopäbifchen Grunblegung hängt
jede befondere Wiſſenſchaft gleichfam in den Angeln ber Philoſo⸗
phie und wird von ihr getragen. Bei dem Encyklopadiſten in
diefem Sinn ift die eigentliche Vertretung bed Fachs, in ihm ift
der philoſophiſche Künftler und der Fachlehrer eine Perfon, und
da Fichte's ganzer Reformplan darauf auögeht, den Geift und
die Lehrart der Philofophie auf dem alabemifchen Unterrichtöges
biete durchzuführen, fo erhelt von hier aus die Bedeutung, die
er der encyklopadiſchen Vorlefung und dem Encyklopädiften bed
Fachs zufchreibt. Jede encyklopadiſche Vorleſang giebt zugleich
die gefammte auf das Fach in allen feinen Theilen bezügliche ir
teratur, deren Kritik und die Anweiſung zur richtigen Auswahl
und Art der Lectüre. Es iſt zu wiederholen, daß unter Ency⸗
klopädie hier nicht ein Aggregat, fondern die Wiffenfchaft in ih:
ter inneren Bollftänbigkeit und „organifchen Ganzheit“ verſtan⸗
den fein will”). .
Der Encyklopadiſt hat die Herrfchaft über das Zach, dem er
*) Ebendaſelbſt. II Abſchn. $.19—21.
diſqher, Geſchichte der Phllofophie V. 63
994
vorfteht; er kennt ed am gemauften, durchdringt ed am tiefftm
und wird am beften wiflen, das Studium feiner Wiſſenſchaft in
den befonderen Theilen zu leiten und den Lehrplan feftzuftelen.
Um aber für jebe Wiflenfchaft den richtigen Encyklopadiſten zu
finden und durch ihn ober mit ihm die Beſetzung ber unterm
Eehrftellen zu beftimmen, fol der in einem Comit6 vereinigt
Rath der erften Fachgelehrten gehört werben.
Die allgemeinfte Wiffenfchaft ift die Philofophie, näcft in
die Philologie „als das allgemeine Kunftmittel aller Verſtndi
gung”. Die befonderen Wiflenfchaften find Mathematik un
Geſchichte. Die gefammte Gefchichte theilt fich in die „Gefhiht
der fliegenden Erfcheinung und in die ber bauernden“. Di
erfte ift Die vorzüglich fo genannte Gefchichte oder Hiftorie mit ir
ren Hülfswiffenfchaften, die zweite bie Naturgefchichte, dern
theoretifcher Theil die Naturlehre.
Vor dem Lehrplan ber wiſſenſchaftlichen Kunftichule erſchein
die Trennung und Sonbereriften; ber fogenannten Zacultäten,
insbefonbere der drei oberen, unhaltbar. Wenn man abjieit,
was entweder nicht Gegenſtand des wiffenfchaftlichen Berflands
gebrauch ift, wie z. B. die geoffenbarte Theologie, ober zu
praktiſch⸗ techniſchen Einübung gehört, fo fallen Theologie un
Jurisprudenz mit Ppilofophie, Philologie und Gefcyichte, die De
biein mit der Naturwiſſenſchaft zufammen, und es ift Fein wiſſen
ſchaftlichet Grund, fie als befondere Fächer davon abzutrennen )
35. Die afademifhe Genoſſenſchaft.
Negularen, Nobizen, Socii.
Wie nun der Lehrplan der wiffenfhaftlichen Kunftiule Ir
diglich aus wiffenfhaftlichen Gründen beftimmt wird, fo organ
*) Ghenbafelöft. IL Abſchn. 8. 22—27.
x 95 ”
firt ſich die Körperfchaft der Böglinge auch nur nach wiflenfchaft-
lichen Motiven. Damit iſt von felbft jeder äußere Zwang ausge⸗
ſchloſſen. Die Theilnahme an ben Prüfungen und Converfato:
tien fteht frei; fie charakterifirt dad erfte Lehrjahr. Ebenfo frei
flieht die Eöfung der wiffenfchaftlichen Aufgaben; die gelungene,
durch das fachkundige und Eunftverftändige Urtheil bewährte Leis
fung charakterifirt den Beruf zum wiffenfchaftlichen Künſtler
und damit den Antritt einer höheren Stufe. Aus der Maffe der
Lernenden unterfcheidet fich jet eine befondere Claſſe, die fich
aus freiem Antriebe organifirt. Sie flimmen überein in der Net
gung und dem erprobten Talent für ein rein wiffenfchaftliches
Leben. Daraus entfteht eine Genoffenfchaft, die zufammenlebt,
einen einzigen großen Haushalt, eine ökonomiſche Gemeinichaft
bildet, mit dem akademiſchen Lehrkörper im innigften Wechfels
verkehr fleht: eine anerfannte Claſſe Studirender, für deren Ers
haltung und forgenfreied Dafein direct auf Staatskoſten geforgt
wird. Sie find unter den Stubirenden die „Regularen”,
geihfam die „forgfältig gepflegte Baumfchule”, während bie
übrige Maffe wild wächft und nicht eigentkich Angehörige, fon-
dern nur „Bugewanbte” ober „bloße Seit der Univerfis
tät find.
Das ſtudirende Publicum theilt ſich demnach in dieſe beiden
Hauptclaſſen: Regularen und Socii. Unter den letzteren werben
ſolche ſein, die ſich einen Platz unter den erſten durch wiſſenſchaft⸗
liche Ausarbeitungen erwerben wollen, auch wiſſenſchaftlichen
Sinn und Talent haben, aber noch nicht die Probe beſtanden
(vieleicht auch die Probe ohne glücklichen Erfolg ſchon einmal ver⸗
fucht) haben: diefe „Candidaten der Regel” können fi von den
übrigen Socii ald eine befondere Glaffe unterfcheiden und eine
Privatgenoffenfchaft, eine Art „Noviziat” bilden, ein Ver:
63*
996
bindungsglied zwiſchen den Regularen und den Socii. So un-
terfcheibet fich das ſtudirende Publicum in Regularen, Novizen,
Socii.
Die Regularen ſind als Studirende erprobt und vom Staat
anerkannt, fie bilden unter der Autorität und Garantie des let
teren eine afabemifche Familie, unter befonderen Geſetze, deren
Schutz fie durch Ausſtoßung verlieren. Dann treten fie in die
Maffe der Socii zurüd und fallen, wie dieſe, unter die allge:
meingültigen Polizeigefege. Ihr Unterfchied von dem übrigen
fludirenden Publicum und ihre nähere Zufammengehörigkeit mit
dem alabemifchen Lehrkörper fol durch ein mit ben Profefforen
gleiches Ehrenkleid, welches fie tragen, nach außen kenntlich ge:
macht werden. Aus den Regularen geht durch Erwählung er:
probter Talente das Profefiorenfeminar hervor, aus biefem bie
wirklichen Profefforen. Die ordentlichen akademiſchen Lehrer ha:
ben ihr lernendes Publicum in den Regularen, die außerorbent:
lichen fuchen dad ihrige unter den Socii*).
4. Akademiker und Meiſter (Doctoren).
Die alademifche Lehrthätigkeit bedarf einer eigenthümlichen
Jugendfriſche und Geiſtesgewandtheit, die mit den Jahren abs
nimmt, felbft ohne daß fich die Geiſteskraft vermindert. Darum iſt
für die Univerfität, die einen felbftändigen Zweck zu erfüllen hat,
eine fortwährende Erfriſchung der Lehrkräfte durch Erneuerung
nothwendig und in demfelben Maße ein periobifches Außfcheiden
ber alten. Die ausgeſchiedenen Lehrer werben befhalb nicht un:
brauchbar. Wie aus den Regularen ein Profefforenfeminar her-
vorgeht und eine Pflanzfchule Iehrender Künftler bildet, fo find
dieſe letzteren felbft eine Pflanzfchule ausübender Künftler. Sol
*) Ghenbajelbft. IT Abjn. $. 28—39,
97
die Wiffenfchaft wirklich Lebensrichtſchnur und „Wernunftkunft”
werden, fo liegt es in der Natur der Sache, daß ein wiſſenſchaft⸗
liches Leben biefe drei Epochen durchläuft: die des lernenden,
Iehrenden und ausübenben Künftlers. Die lernenden Künftler
find die Regularen, die lehrenden bie Profefforen, die ausüben
den die Staatömänner. Die auögefchiedenen Univerfitätslchrer
treten in bie, höheren Gefchäftöfreife des bürgerlichen Lebens, fie
können unabhängig vom Lehramt die Wiffenfchaft pflegen und
fortbilben, fie find im mobernen (franzöſiſchen) Sinne des Worts
Atademiker, und in Rückſicht auf die Angelegenheiten der Unis
verfität bilden fie den „Rath der Alten”, der mit den ausüben
den Lehrern zufammen ven „Senat" ausmacht. Zu biefen Afas
demikern gehören auch die gelehrten Specialitäten.
Wer die Erziehung der wiffenfchaftlichen Kunftfchule voll
endet hat und diefe Vollendung durch die Probe bewährt, wirb
Meifter (nicht der Künfte, fondern) der Kunft fchlechtweg.
Das Meiſterthum allein giebt rechtmäßigen Anfpruch auf die ers
fin Xemter im Staat. Die Probe befteht in einer fchriftlichen
Arbeit, deren Aufgabe von ben Eehrern geftellt wird mit päba=
gogifcher Rückſicht auf bie Geiſteseigenthümlichkeit des Candida:
ten. Er fol zeigen, daß er Schwierigkeiten bemeiftern kann.
Erſt darin zeigt fih der Meifter. Daher wird ihm ein Thema
aufgegeben, welches für feine (dem Lehrer bekannte) Geiftesart
befondere Schwierigkeiten enthält. Die Ausarbeitung gefchieht
in der deutfchen Sprache, weil fie lebendig und ſchöpferiſch iſt.
In der Philofophie Tann niemand Meifter fein, ohne zugleich Leh⸗
ter fein zu können. Daher ift der Meifter in diefer Wiffenfchaft
nothwendig au „Doctor”. Nicht jeder Meifter braucht Leh⸗
ter zu fein, wohl aber jeber Lehrer Meifter. Daher hat der Doc⸗
torgrad ohne Meiftertypum Feine Bedeutung, er bezeichnet „bie
998
gewöhnlichen oder gemeinen Doctoren”, die man beffer „Zitulr:
doctoren nennen follte, fie haben im günftigflen Falle bemielm,
daß fie etwas gelernt haben und follten „docti“, aber nicht „do
etores“ heißen*).
Da und bier die pädagogifhe Aufgabe der Univerfität, we
fie Fichte im Zufammenhange mit der Idee der Nationalerziefug
faßt, hauptſächlich intereffirt, fo laſſen wir bei Seite, was fh
auf die öfonomifchen Bedingungen der Anftalt bezieht, die At
der Verwaltung, die Dotationen und Einkünfte, die Befolw
gen und Remunerationen, die Vertheilung ber Regulatsſteln
auf Kreife und Städte, die Zahlftellen, Befreiungen, Honorar
: wfef Die Vorfchläge, die Fichte in diefer Rückſicht macht, ie
rufen ſich auf die Beifpiele der englifchen Univerfitäten, der Stift
und fächfifchen Fücftenfchulen. Ueberall, wo Fichte auf rein prik
tifche Fragen eingeht, bemüht er fich, vieleicht im Gefühl, dej
er in feinem Elemente nicht ift, um fehr genaue Detailbefim
mungen, bie von ber Hauptſache abliegen**).
IL
Univerfität und gelehrte Welt.
1. Die afademifhen Jahrbücher.
Kunſtbuch, Stofſbuch, Bibliothek.
Wichtiger als die bkonomiſche Seite der akademiſchen Er:
anſtalt, iſt und die literariſche, die mit ber geiſtigen Aufgabe i
unmittelbarem Zuſammenhange ſteht. Wenn die Univerfität da
ihr eigenthümlichen Zweck erfült, fo ift ihre Fortentwidlung fr
gleich eine Geſchichte der wiflenfchaftlichen Kunft, ein ununtr |
brochener Fortgang und Fortſchritt des wiſſenſchaftlichen Erben
*) Ehenbafelbft. IT Abfehn. 8. 40—45.
**) Ghendajelbft. IL Abi, 5. 46—57,
999
Der Fortgang ift die immerwährende Anfriſchung und Erneuerung
des afademifchen Körpers in Lernenden und Lehrenden; der Fort:
ſchritt ober die Weiterbildung befteht in dem Wachsthum der
wiffenfchaftlihen Kunft, die immer mehr Stoff in Wiffenfchaft
auflöft und die Klarheit der auögebilveten Begriffe erhöht: in
dieſer ertenfiven und intenfiven Zunahme, in diefer „Erweiterung -
und Verklärung der Begriffe”. Diefe Gefchichte will documen⸗
tirt und in dem Archiv eines Buchs, das ſich periodiſch erneuert,
niedergelegt werben. So entftehen die „Jahrbücher der wiſſen⸗
ſchaftlichen Kunſt“, das eigentliche Journal der Univerfität,
deren „acta literaria“. Das nächfte und unmittelbare Object
‚einer folchen Zeitſchrift find die Ergebniffe und Früchte der eige-
nen akabemifchen Arbeit; fie hat einen felbftändigen und aus eis
gener Kraft gewonnenen Inhalt und darum nichtd gemein mit
den gewöhnlichen Recenfiranftalten, Bibliothefen und Literatur⸗
zeitungen. Auch die Arbeiten der Studirenden, welche vor dem
Urtheile der Lehrer die Probe beftanden haben, follten in diefe
Zeitfchrift aufgenommen und Fein Stubirender zu einer gelehr⸗
ten Würbe zugelaffen werben, ber nicht einen ſolchen Beitrag
aufweiſt. Der Plan einer. periodifchen Univerſitätszeitſchrift dies
fer Art hat Fichte ſchon in Erlangen befchäftigt und gehört zu -
feinen akademiſchen Reformibeen *).
Es liegt im Intereffe und in der Aufgabe der akademiſchen
Bildung, ‚über den jedemaligen Stand der Wiffenfchaft literas
riſch orientirt und deßhalb im Klaren zu fein über den wiſſen⸗
ſchaftlich ſchon organifirten und den noch zu organifivenden Stoff.
Man muß wiffen, wie weit in jedem Zeitpunkte bie wiffenfchaftz
*) Ebendaſ. III Abſchn. 8. 58—60. Bol, Plan zu einem per
riodiſchen fehriftftellerifhen Werke an einer deutſchen Univerfität (1805).
© ®. III Abth. U Bd. S.207—216,
1000
liche Arbeit gebichen ift, und was als Aufgabe übrig bleibt. dr
biefem Zwede forbert Fichte eine genau perisbifche Buchführung
doppelter Art, er unterſcheidet nach jenen beiden Geſichtspunlien
Kunſtbuch / und „Stoffbuch“. Im dad Kunftbuc der Unis:
fität gehören die encyklopadiſchen Anfichten der Lehrer, der Inte
geiff der wiffenfchaftlichen Einfihten in jebem einzelnen Zah,
gleichſam das Corpus jeder Wiſſenſchaft, die probehaltigen Ar
beiten der Schüler, die Beiträge ber Meiſter. Das Stoffbuh
enthält ein wohlgeorbneted literarifches Repertorium und die auf
der Univerfität gemachten wiſſenſchaftlichen Entdedtungen, dir
den Stoff der Wiffenfchaft bereichern *).
Was außerhalb der Univerfität in der wifjenfchaftlichen Welt
literariſch geleiftet wird, muß auf dem Gebiete der Univerfität
befannt und nu&bar gemacht werben. Die bloß hiſtoriſche Kennt:
niß der neuen Bücher giebt der Meßkatalog. Diefe Kenntniß
hat feinen Nuten. Die gewöhnlichen Eiteraturzeitungen par:
phrafiren den Meßkatalog und haben für die Buchhändler einen
mercantilifchen Nuten, aber Feinen wiffenfchaftlichen für Studi:
ende. Es bedarf darum einer akademiſchen Zeitfchrift, meld
die neuen Bücher fichtet und das irgend Werthvolle anzeigt le
diglich in wiffenfchaftlicher Abficht: „Sahrbiicher der Fortfchrit
des Buchweſens oder eine Bibliothek der Akademie” **).
2. Wechſelverkehr der Univerfitäten.
Die eigentlichen und nächften Zeiftungen der Univerfität find
nicht literariſch, fondern didaktiſch und pädagogifch. Ale Unr
derfitäten find beſtrebt, die wiffenfchaftliche Erziehung zu fördern
Im diefer gemeinfchaftlichen Abſicht fühlen fie fic verbunden und
*) Debuc, Plan u. f. f. III Abſchn. 8.6164.
) Ehenbafelbft, III Abſqhn. $. 65.
1001
auf gegenfeitige Förderung angewiefen. Sie bedürfen deßhalb
des fortwährenden lebendigen Wechfelverkehrs als Mittel zur Wech⸗
ſelwirkung. Defhalb follte jede Univerfität unter den Mitgliedern
jeder anderen einen Repräfentanten haben, der ihr fchriftlich Be—
richt erftattet, und ebenfo ſollte jede Univerfität einige ihrer Zög⸗
linge nach vollendetem Studium an andere Univerfitäten ſchicken,
um dort zu leben und aud eigener Anfchauung die genauften und
lebendigften Berichte zurüdzubringen.
Auf diefe Weiſe kommen die Univerfitäten in ben friedlich
ften und Heilfamften Wettkampf, fie erziehen und verbreiten Klars
beit und Geifteöfreiheit, fie wetteifern in diefer Wirkfamkeit, die
nothwendig eine Erneuerung der menfchlichen Verhaltniſſe herbei⸗
führt und in die große Idee der Nationalerziehung zugleich vollen
dend und begründend eingreift”).
*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. $. 66 u. 67.
Die Orundgebanten ber Univerfitätsreform, melde Fichte in bem
„bebucirten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranftalt”
ausführlih entwidelt, find ſchon in einer etwas früheren, ebenfalls für
bie preußifche Regierung beftimmten Dentſchriſt enthalten, ich meine bie
„Ibeen für bie innere Organifation ber Univerfität Erlangen”. (Win
ter 1805/1806). Nachg. W. Bb. III. ©. 275— 294. Die wahre
bafte Akademie fei erft zu jchaffen, bie bisherigen Univerfitäten mit ihren
Lehrvorträgen, welche zum großen Theil den Inhalt vorhandener Bücher
tecitiren, feien unfruchtbar; an ihre Stelle foll die wiſſenſchaftliche Kunfte
ſchule treten, bie den Buchinhalt in lebendiges Beſihthum der Schüler
verwandelt, Daher ftatt ber fortfließenden Rebe bie wechſelſeitige Uns
terredung, bie Prüfung und Anleitung des Schülers zu eigenen wiſſen⸗
ſchaftlichen Leiftungen , welche die Fortſchritte der wiſſenſchaftlichen Kunfte
bildung darthun, unb zur Aufnahme biefer Arbeiten eine fortlaufende
Zeitſchriſt, welche bieſe Fortſchritte öffentlich bocumentiren fol: „Jahr
bücher der Fortſchritie ber wiffenfcjaftlichen Kunft*. Je mehr die Uni:
verfität in bie Aufgabe einer wiſſenſchaftlichen Kunſtſchule eingeht, um
1002
fo mehr gewinnt fie au) ben Charakter wirklicher alademiſcher Univer-
falität, um fo mehr muß ber befchränfte Charalter der „Brovinzialuniver-
fitäten® und bamit aud) bie „Univerfitätsfperre* aufhören. Fichte ſelbſt
will in Jena innerhalb feines Lehrgebiete3 zum erftenmal den praftifchen
Verfuch einer philoſophiſchen Kunſtſchule gemacht und bie Fruchtbarkeit
berfelben erprobt haben. Wenn eine folde Ginrictung überall in das
Lehrgebiet ber alademiſchen Wifienfchaften eingeführt und zum organifis
enden Princip der gefammten alademiſchen Lehranftalt erhoben werben
tonnte, fo würde damit jene Umbildung herbeigeführt werben, in ber
Fichte die Heilfamfte Reform ber Univerfität findet. So bildet feine erfte
alademiſche Lehrthätigleit in Jena ben Keim zu feinen ſpäteren bie Uni—
verfität betreffenden Reformplänen, die dann in jenen Plan ber allge
meinen Nationalerziehung einmünben, ben Fichte unter dem Einfluſſe
Beftalozzi'3 faßt und ausbildet. Beide Männer begegnen einander in
demſelben padagogiſchen Grundgedanken: Peſtalozzi's Ausgangspunlt
unb Gebiet ift bie unterſte Stufe der Erziehung, die Vollsſchule; Fichtes
Ausgangspunkt und Gebiet ift die höchſte Stufe der Erziehung, bie
Univerfität. Doch giebt Fichte dem Gedanken eine Tragweite, bie alle
Erziehungsgebiete ald organiſche Entwidlungsftufen in ſich begreift und
planmäßig ordnet,
Zehntes Kapitel.
Die beiden Entwicklungsperioden der Wiffenfchaftstehre.
J.
Das Verhältniß der beiden Perioden.
1. Anknüpfungspunkte.
Die Schriften, deren Inhalt wir in den vorhergehenden Ca⸗
piteln entwickelt haben, find (mit Ausnahme bed Univerſitäts-
plans) die von Fichte felbft herausgegebenen Hauptwerke feiner
legten Periode, charakteriſirt Durch die gemeinfame Tendenz, die
Grundgedanken der neuen Philofophie in der Form eroterifcher
Lehre und öffentlicher auf weite Kreife berechneter Vorträge eins
leuchtend zu machen und dadurch veformatorifch einzuwirken auf
die Denkweiſe des Zeitalterd. Bei aller Verſchiedenheit ihrer
Themata, die zum Theil durch die Zeitumftände veranlaßt wurs
den, bilden diefe Schriften eine in fich zufammenhängende Reihe.
Der Univerfitätöplan gehört in den Gefammtplan ber neuen Na-
tionalerziehung, die das eigentliche Thema ber Reden an bie
deutfche Nation ausmacht; diefe Reden bezeichnet Fichte felbft ald
eine Fortfegung feiner Vorträge Über die Grundzüge bed gegen
wärtigen Zeitalterö, welche legteren nach Fichte'8 eigenem Aus:
fpruch mit den Anmweifungen zum feligen eben und mit den Vor-
”
1004
leſungen über bad Wefen des Gelehrten „ein Ganze” bilden.
Wie genau aber dieſes Ganze mit ber Glaubenölehre zufammen-
hängt, die Fichte in feiner Schrift Aber die Beſtimmung des
Menfchen entwidelt, darauf haben wir fchon früher ausdrüdlich
bingewiefen*). Und die Schrift über die Beftimmung des Men-
ſchen, welche die legte Periode des Philofophen eröffnet, bezeich-
net wieberum Fichte felbft als das am weiteften gebiehene und
fortgefchrittene Glied in jener Entwicklungsreihe feiner religion:
phifofophifchen Ideen, deren erfied Glied der Aufſatz über den
Grund unfered Glaubens an eine göttliche Weltregierung war,
der bie Veranlaffung zu dem Atheismusſtreit gab. In dem Grund:
gedanken, woraus die Wiffenfchaftslehre erleuchtet wird, ift bie
Schrift über die Beflimmung des Menfchen einverflanden mit
dem fonnenklaren Bericht und beide mit dem Verſuch einer neuen
Darftelung der Wiffenfchaftölehre (aus dem Jahr 1797) und mit
der Grundlegung der Sittenlehre. So knüpft fi) Glied an
Glied, und wir fehreiten an der Richtſchnur fichte ſcher Schriften
aus ber berliner Periode in bie jena’fche zurück, ohne das wir ir⸗
gendwo die Kette unterbrochen finden durch den Eintritt eines
neuen Princips.
Unterfcheiden wir die Themata der in bem legten Buch die
ſes Werks von und betrachteten Schriften, fo find es folgende:
ber erfte Verſuch einer neuen Darſtellung der Wiſſenſchaftslehre
giebt den Begriff der abfoluten Identität ald den Grund und die
Wurzel alles Bewußtſeins, ber. fonnenklare Bericht den Begriff
der Wiſſenſchaftslehre ſelbſt, die Beſtimmung bes Menſchen den
des Glaubens, die Grundzüge des gegenwärtigen Beitalters ben
der Bernunftentwidlung ober der Gefchichte der Menfchheit, bie
*) Bud) III dieſes Mb, Gap. II. S. 858859,
1005
Anweifungen zum feligen eben den Begriff der Religion, bie
Reben an die Deutfchen den Plan und Entwurf einer neuen
Nationalerziehung. Daß und wie biefe Themata unter einander
zufammenhängen und fich gegenfeitig tragen, ſoll bie horange-
gangene Darftellung fo ausführlich gezeigt haben, daß es über
flüffig ſcheint, darauf zuräczukommen.
2. Streitfrage in Betreff der fpäteren Lehre.
Nachdem über den Text der legten Periode und ihren Zu:
fammenhang mit der vorhergehenden diefe Thatfachen feftgeftelit
find, wenden wir und zu ber flreitigen Frage, wie ed fich mit
den Veränderungen und Umgeftaltungen verhält, welche die Wiſ⸗
ſenſchaftslehre in dem legten Abfchnitt der Geſchichte des Philo-
fophen erfahren haben fol? Einige wollen hier eine fo wer
fentliche Veränderung in den Grundgedanken Fichte's entbeden,
daß fie von einer „neuen, fpäteren Lehre”, wohl gar von einem
zweiten fichte ſchen Syſteme reden, während Andere beftreiten,
daß überhaupt eine Veränderung ber Lehre ftattgefunben habe.
Gegen die erfle Anficht zeugt die Thatfache, die wir bereits feſt⸗
geftelt und aus den Schriften Fichte's bewiefen haben: der nir⸗
gends unterbrochene Zufammenhang beider Perioden, wie er in
den vom Fichte felbft herausgegebenen Merken am Tage liegt.
Gegen bie zweite Anficht fpricht die Thatſache, daß Fichte immer
von neuem verfucht hat die Wiſſenſchaftslehre darzuftellen, und
daß die von ihm hinterlafienen Borlefungen der fpäteren Zeit ſich
von der urfprünglichen Form des Syſtems vielfach umterfcheiden.
Wir konnen nicht in Abrede fielen, daß in den ſpäteren Dar⸗
ſtellungen der Wiſſenſchaftslehre ſich eine eigenthümliche Veran⸗
derung geltend macht, aber wir beſtreiten (ſchon auf Grund der
feſtgeſtellten Thatſachen) jeden Abbruch und erkennen in dieſer
1008
die Naturphilofophie an der Schwelle des neunzehnten! Cs ik
der Geift der Aufklärung, von dem er fich durchdrungen fühlt,
als er die Denkfreiheit vertheidigt, die Wiſſenſchaftslehre gründet;
es find die Feinde ber Aufklärung, die er im Atheiömuöftreite be:
kampft; es ift der Urheber der Naturphilofophie, den er zuerſt
als den genialften Anhänger der Wiſſenſchaftslehre willkommen
beißt. Dagegen in der legten Periode ift ed die Aufklärung dei
achtzehmten Jahrhundert, die er ald platten Rationalismus tief
verachtet, deren Urheber er in Locke's Philofophie findet, ber
„ſchlechteſten“, die ed gebe, deren Typus er in Nikolai auffielt
und geißelt, deren Zeitalter er in den Grundzügen ald das der
- vollendeten Selbftfucht und Sünbhaftigkeit harakterifirt, bem
er ben Untergang wänfcht und verkündet; jegt will er fogar un
ter den erften Gegnern feiner Religionslehre, denen er den Bor
wurf bed Atheismus zurüdgab, die Aufklärer nach dem Bor:
bilde Nikolai's gemeint haben. Es ift daneben die ſchellingſche
Naturphilofophie, die er in den Vorlefungen über dad Weſen dei
Gelehrten warnend ald Rückfall in den alten Dogmatismüs be
zeichnet, die er in den Grundzügen als Kehrfeite des platten Ro
tionalismus, ald deffen Zwillingsgeburt, ald unächte Specule:
tion, als eitel Schwärmerei und Phantafterei verurtheilt umd,
wo er kann, erbittert befämpft. Und in bemfelben Maße, als
ex biefe beiben (einander felbft entgegengefesten) Richtungen von
fich abftößt, nähert er fich dem Gegner beider, einem Mann,
mit dem er in der Beurtheilung der Tantifchen Lehre einverflan
den, aber dem er in Abficht auf dad wahre Syſtem der Philoſo
phie abfolut entgegengefegt war: ich meine Jacobi, mit Dem Fichte
in feiner Beftimmung des Menfchen foweit übereinftimmt, daf
er den Glauben als die einzig mögliche Erfaffung des wahrhaft
Wirklichen bejaht; er nennt ihn im fonnenklaren Bericht einm
1009
mit Kant gleichzeitigen Reformator der Philofophie, in feiner
Schrift gegen Nikolai einen ber erften Männer des Zeitalters, eis
ned der wenigen Glieder in der Ueberlieferungdfette wahrer Gründ⸗
lichkeit. Jacobi's pofitive Bedeutung fteigt in den Augen Fichte'd
in demfelben Maße, als feine Abneigung gegen die Verſtandes⸗
aufffärung, fein Widerwille gegen die ſchelling ſche Naturphilos
fophie zunimmt. Ich will damit nicht fagen, daß Fichte bem Vor⸗
bilde Jacobi's nachgegangen fei und fich dem Einfluffe deffelben
‚unterworfen habe, eine folche Gefügigkeit und Aneignung frem⸗
der Standpunkte lag nicht in feiner Art; aber wenn man für
feine Glaubens» und Religionslehre, wie fie in der Beftimmung
des Menfchen, den Grundzügen bed gegenwärtigen Zeitalters,
den Anmeifungen zum feligen Leben hervortritt, einen mitbeftim-
menden Einfluß von außen fucht, fo follte man nicht an Schleier-
macher, fonbern vor allem an Jacobi denken.
Es ift richtig, daß fich die Verwandtſchaften, die geiſtigen
Afinitäten und Gegenfäge der Wiffenfchaftslehre mit der Zeit ge:
ändert haben. Vergleicht man fie mit jenen beiden in Lebensan⸗
ſchauung und Literaturfreifen einander feindlichen Vorſtellungs⸗
arten, die man mit den Namen „Rationalismus (Aufllärung)”
und „Romantik“ typifch zu bezeichnen liebt, fo kann nicht ges
leugnet werben, daß in ihrem Fortgange die Wiſſenſchaftslehre
fi) von dem erfteren ab⸗ und ber legteren zuneigt, obwohl auch
bier die Rechnung nicht rein aufgeht. Denn wir dürfen nicht
vergeffen, daß fich in Fichte mit der Freundfchaft für Schlegel
der Widerwille gegen Schelling vereinigt. Ale diefe Beziehuns
gen aber freundlicher und feindlicher Art, die in dem Leben und
der Lehre des Philofophen während der legten Periode hervortres
ten, gelten und nicht als Urfachen, fondern ald Symptome einer
inneren Veränderung, welche die legte Entwidlungdform ber
Bif@er, Geſqhlchte der Philofopbie V. 64
1010° |
Wiſſenſchaftslehre ausmacht. Es handelt ſich um die Einfiit
in deren innere Urfachen.
u:
Die beiden Entwidlungsformen der Wiffen:
ſchaftslehre.
4. Die Entwidlungsform ber erſten Periode.
Verfolgen wir den Gang der Wiffenfchaftölehre in ih
erften Periode, die man auch wohl die urfprüngliche Form derie:
ben nennt, fo zeigt fich ein allmaliges Wachsthum des Softems,
welches, je weiter es greift und fein Reich ausdehnt, um fo tieſn
und umfaffender auch fein Princip ausdrüdt. Das geſchicht
allemal, wo ein Syftem von einem Grundgedanken aus ſich fr
bendig entwidelt und nicht als etwas in allen Theilen Fertigd
ſich bloß darftelt und auseinanderſetzt. ine ſolche Entwidlung
befchreibt einen fletigen Fortſchritt, der an Feiner Stelle feinm
Tert unterbricht. Und die fichte’fche Wiffenfchaftölehre bietet in
eminenter Weiſe, ihrer fortfchreitenden Entwidlung und ber Ein
beit ihres Princips fich in jedem Momente deutlich bewußt, Di
Beifpiel eine ſolchen Syſtems.
Mit der Aufgabe, dad Wiffen in der gewöhnlichen Fom
der Erfahrung, das Syſtem unferer nothwendigen Borftellungn, |
das empirifche Bewußtfein zu erflären, beginnt die Wiffenfaftt: |
lehre unb zeigt, wie das begrünbende Princip nur eines fein und
wie dieſes eine Princip nur in ber felbfleigenen That gefucht wer:
den Tönne, die im Bewußtfein diejenige Bedingung fegt, une
der dad Ich notwendig theoretifch ausfällt und eine Reihe
umvermeiblicher Borftellungsweifen entwidelt: eine Bedingung
bie, weil fie das theoretifche Ich begründet, eben darum nict
aus ihm begründet werben kann. Jett ift biefe Bedingung fehl
1011
zu begründen, &o entfteht eine zweite Aufgabe, die aus ber ers
ften nothwendig folgt. Es ift abzuleiten, woher jene urfprüng-
liche Schranke im Ih, jene Selbfteinfchräntung kommt, bie
für das theoretifhe Ich eine fefte Vorausſetzung bildet. Die Abs
leitung kann nur aus dem abfoluten Ich gefchehen. Die Löfung
der Aufgabe gefchieht durch das praktifche Ich. Jetzt erfcheint
die Urthätigkeit ald Streben und das Ich als ein Syſtem noths
wendiger Triebe, worunter die Borftellungdtriebe, von denen dad ,
Syſtem der nothwendigen Vorftelungen abhängt. Aber in dem
unenblichen Streben ift felbft wieber eine neue Aufgabe enthalten,
die aus dem Wefen des Ich folgt, darum nothwendig zu ihm ges
hört, von ihm gefeßt und gelöft werben muß. Das Ich ift fich
felbft Object, es ift in feinem Urftreben ſich felbft Zweck; das abe
folute Ich ift Aufgabe, Idee. Die Idee deffelben ſoll verwirklicht
werben; ber Urtrieb, der dad Syſtem aller übrigen Triebe fors
dert und vollendet, ift der fittliche Trieb. Das praktifche Ich
¶ Syſtem der Triebe) gründet ſich auf bad fittlihe Ich, auf
das Ich ald Freiheitötrieb, als Freiheitögefeg (Sittengefeb), als
Gewiſſen. Das Gewiffen umfaßt und begründet da gefammte
Pflichtgebiet, auch die Rechtöpflichten; das fittliche Ich umfaßt
und begründet das praktifche Ich auch in feiner Rechtöfphäre,
das praktifche Ich umfaßt und begründet das theoretifche Ich,
welches legtere das finnliche Ich und damit die Sinnenwelt in
fich begreift. Die Grundform des theoretifchen Ich war die Eins
bildung (Vorftelung), die Grundform des praftifchen das Stres
ben (Xrieb), die Grundform des fittlichen dad Gewiffen.
Durchlaufen wir die Kette der Bedingungen, in denen bad
Syſtem der Wiffenfchaftölehre hängt, vorwärts (progreffio) fchreis
tend von ber Bedingung zu dem Bebingten, fo lauten bie
Sclüffe: Feine abfolute Einheit von Subjet und Object, Fein
. 64*
1012
Ich als Selbſtzweck, Fein Ich als Trieb auf ſich felbft, Fein
fittliches Ich, überhaupt Fein Ich ald Trieb, Fein praktiſches
Ich (kein Ich als ausſchließende Freiheitäfphäre, Fein individuel-
les Ich), Fein theoretifches Ich, Fein wahrnehmendes Ich (fein
empirifched Bewußtfein), Feine Welt ald Object der Wahrneh⸗
mung, feine Sinnenwelt.
Durdjlaufen wir diefelbe Kette, nach rüdwärts (regreſſiv)
fhreitend von dem Bedingten zur Bebingung, fo lauten bie
Sclüffe: Feine objective Weltvorftelung, fein empirifches Be
wußtfein, kein theoretifches Ich (keine Einbildung, fein Ich als
vorftelende Thatigkeit), Bein befchränktes Ich, Feine Selbftbe-
ſchränkung des Ich, kein Ich ald Trieb, kein praktifches Ich,
tein Ich ald Freiheitötrieb, Tein Ich ald Gewiffen, Fein fittliches
Ich, kein Ich als Selbftzwed,, Fein Ich als abfolute Einheit von
Subject und Object, überhaupt kein Ich, kein Selbſtbewußtſein.
Wir müffen diefe Kette vollenden. "Steigen wir aufwärts
in der Reihe der Bebingungen, fo fehlt dad letzte Glied;
fleigen wir abwärts in der Neihe des Bebingten, fo fehlt das
erſte Glied. Das Ich ald abfoluter Selbftzwed war die oberfte
Formel, in der dad ganze Syſtem der Wiffenfchaftslehre enthal:
ten war. Wäre dad Ich nicht diefer abfolute Selbſtzweck, fo
wäre es Fein Ich. Wäre die Reihe aller durch das Ich gefebten
Bedingungen diefem Zwecke nicht untergeorbnet, als fein Mate:
rial und Mittel, fo wäre der Zweck nicht abfolut. Er wäre es
nicht, wenn die Sinnenwelt, das finnliche und individuelle Ich
nicht lediglich fein Mittel und Organ wäre, Das Ich ift diefes
Organ ald Wille, der feiner Beftimmung unmittelbar gewiß ift;
diefe Gewißheit ift Glaube, moralifcher Glaube, der eines ift
mit der fittlichen oder pflichtmäßigen Gefinnung. Die perfönlic:
fittliche Gefinnung ift dieſes Organ, nur fie. Die Gefinnung
.
1013
wäre nicht ſittlich, wenn fie Erfolge außer fih wollte; und ber
Zweck, der fie erfüllt, wäre nicht abfolut, wenn er diefe Erfolge
nicht hätte, nicht das wahrhaft Wirkliche wäre, unabhängig von
dem Willen und der Freiheitöfphäre der einzelnen Perfon. Sol
daher jener abfolute Zweck (ohne welchen das Ich feinen innerften
Grund und damit ſich felbft verliert) in Wahrheit gelten, fo muß
er gelten als weltbeftimmender und weltorbnender Zweck, ald
moralifche Weltorbnung, fo muß dad Ich ald Glied und Organ,
nicht aber’ ald Schöpfer diefer Weltordnung (fich felbft) gelten, fo
muß dieſe Ordnung angefehen werden ald dad Unbedingte, in
fich felbft Beruhende, ſich felbft Vollziehende, als lebendige Welt:
ordnung (ordo ordinans), ald Weltregierung, als göttliche Welt:
regierung, ald Gott felbft.
Das Ich ift nichts ohne den abfoluten Zweck, den es fich
ſelbſt ſetzt; es ift nichts ohme dieſes Vorbild; dieſes Vorbild iſt
nichts, wenn es ein bloßes Bild, ein Schatten des Ich iſt; es
iſt wirkliches Vorbild nur, indem es Urbild iſt und das Ich ſein
Abbild. Das Verhaltniß zwiſchen dem Ich und feinem abſoluten
Zweck erreicht erft dann die gültige Form, wenn es ſich umkehrt.
Der Zweck iſt das Unbedingte, Erſte; das Ich iſt unmittelbar
davon abhängig und dadurch geſetzt, es iſt dad Bedingte und
Zweite. Dieſe Umkehrung macht und in ihr beſteht der religiöſe
Glaube. Die Gewißheit meiner ſittlichen Beſtimmung, der
Glaube an die Pflicht iſt moraliſcher Glaube. Die Gewißheit
der moraliſchen Weltordnung, der göttlichen Weltregierung, bie:
ſes Gottesbewußtfein, iſt religiöfer Glaube. Glaube ich nicht,
daß mein abfoluter Zweck Weltzwed ift, wie will ich an die Wirk:
lichkeit und den ewigen Beſtand diefes Zwecks glauben? - Glaube
ich nicht an diefen ewigen Befland, Eraft deffen der Zweck fort:
dauert und fortwirkt, auch wenn ſich mein Wille davon zurüd-
1014
zieht, wie will ich noch glauben, daß biefer Zweck abfolut iſt und
in Wahrheit meine höchſte Beflimmung? Wie will ic feiner
auch nur moralifch gewiß fein? Der religiöfe Glaube erweitert
und befeftigt nicht bloß, fondern begründet den fittlichen Glau-
ben, die moralifche Gewißheit; diefe ruht auf ihm. So grün-
det fich daß fittliche Ich auf das veligiöfe, wie ſich dad praktifche
auf dad fittliche (die Triebe auf den Urtrieb) und dad theoretifche
Ic) auf das praftifche gründet. Hier erft vollendet fich die Wiſ⸗
ſenſchaftslehre und erreicht den Punkt, der, je nachdem wir ih
en Gang betrachten, das erfte oder letzte Glied ausmacht. Die:
ſes Glied ift die Religion oder dad Gottesbewußtfein, dad reli⸗
giöfe Ich, das Ich als Bild Gottes.
In ihrer erften Periode hat die Wiſſenſchaftslehre einen Ent:
widlungdgang zurüdgelegt, der mit der Begründung des empiri-
ſchen Bewußtſeins beginnt und mit der des religiöfen endet; fie
ift emporgeftiegen von dem theoretifchen Ich zum praktifchen, zum
fittlihen, zum religiöfen ; vom finnlichen Bewußtfein zum Frei:
beitöberoußtfein, zum Gewiffen, zur Religion; von der Sinnen-
welt zur fittlichen Welt, zur fittlichen Weltorbnung, zur gött⸗
lichen Weltregierung, zu Gott. Sie hat das religiöfe Ich als
letztes Glied gewonnen, fie hat in diefem letzten Gliede zugleich
den legten und tiefften Grund aller im Ich nothwendig geſetzten
Beftimmungen erkannt, fie weiß, daß biefer legte Grund in
Wahrheit der erfte ift. Hieraus ergiebt fich die einleuchtende
Aufgabe, jest ihren Gang umzukehren, von dem erften Gliede
auszugehen und ihr ganze Syſtem aus biefem Princip zu ent:
werfen. Diefe Aufgabe leitet die letzte Periode der Wiſſenſchafts⸗
lehre. Wenn hier ein Abbruch wäre, fo müßte derfelbe da ge:
ſucht werden, wo Fichte den Uebergang macht von dem fittlichen
Glauben zum religiöfen, alfo in einem Punfte, ber innerhalb
1015
der erften Periode liegt. Iſt aber in diefem Punkte ein ununters
brochener Fortgang, fo ift nirgends ein Abbruch,
2. Die Entwidlungsdform der legten Periode.
= Die Wiſſenſchaftslehre als Theofophie.
Die Aufgabe ift: dad Syſtem der Wiffenfchaftölehre in feis
nem ganzen Umfange aus einem Guß und bem einen Princip dar:
zuftellen, welches ber religiöfe Gefichtspunkt fordert... Diefe Auf:
gabe hat Fichte gehabt und fich geſetzt, aber nicht gelöft, weil
ihm der Tod zuvorfam*). Es bleiben daher nur Bruchftüde,
Verſuche und Skizzen zur Löfung übrig, abgefehen von jenen po:
pulären Vorträgen, aus denen der Charakter der neuen Entwid-
lungsform unverkennbar hervorleuchtet, wie das leßte Buch ber
Beftimmung des Menfchen, die Vorträge über dad Wefen des
Gelehrten, die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalterd und vor
allem die Anmeifungen zum feligen Leben, die Fichte felbft als
den „Gipfel und helften Lichtpunkt“ diefer feiner populär ent
widelten Lehre bezeichnet.
Es ift auch unmittelbar klar, in welche Beleuchtung die
Wiſſenſchaftslehre durch diefe neue Entwicklungsform eintritt. Ihr
Princip ift das Ich ald Wild oder unmittelbarer Ausdruck Got:
ted. Alle im Ich und durch daffelbe nothwendig gefehten Ber
flimmungen erfcheinen jegt ald Offenbarungsformen des göttlichen
Lebens, und die Wiffenfchaftölehre felbft, ohne die Richtſchnur
bes kritiſchen Idealismus zu verlaflen, ſtützt fich ald Spftem auf
eine veligiöfe oder theofophifche Grundlage, auf den Begriff des
abfolut Realen, auf Gott. Daraus erflärt fi) noch näher
jene ſowohl gegen die Verſtandesaufklarung ald gegen bie Naturs
*) Bol, II Buch dieſes Vd. Cap, VL S. 335.
1016
philofophie gerichtete Abneigung, welche den neuen Entwicklungs⸗
gang der Wiſſenſchaftslehre auf Schritt und Pritt begleitet.
Wird aber Gott ald Princip des Ich, als der ewige Urgrund
aller.Erfcheinungen begriffen, fo muß der Begriff Gottes fo ges
faßt werden, daß er unabhängig ift von allen erft im Ich mög:
lichen und durch daſſelbe gefeßten Beftimmungen, unabhängig
alfo von allen Unterfchieden, aller Mannigfaltigkeit, aller Ver⸗
änderung: er muß gefaßt werben ald dad eine fich felbft gleiche,
wandelloſe, unveränberliche Sein, ein Begriff, der auf ben er⸗
fen Bli an eleatifche oder neuplatonifche Vorſtellungsweiſen er
innern, aud) eine Verwandtſchaft mit Spinoza zeigen Bann und
daher in der fichte ſchen Wiſſenſchaftslehre einen frembartigen Ein:
drud macht. So ift ed gefommen, daß man bie neue Entwid-
lungsform ber letzteren für eine neue Lehre gehalten hat, bie ber
urfprünglichen Lehre Fichte's widerftreite und geradezu mit ihr
breche,
b. Die Wiſſenſchaftslehre als Identitãtslehre.
Indeffen liegt auch hier der Zufammenhang beider Entwid:
lungöformen beutlich am Tage, und die zweite erfcheint auch in
diefem Punkte als die nothwendige und ununterbrochene (in ber
Form der Umkehrung gebotene) Fortführung der erften. Das
Ich ift in feinem Wefen nothwendig die abfolute Identität von
Subject und Object; es ift in feiner Form (in dem Acte des
Selbſtbewußtſeins) nothwenbig die Trennung beider. Ohne jene
Identitaͤt Fein Ich, ohne dieſe Trennung auch Fein. Im
Grunde des Ich find Subject und Object unmittelbar eines und
müſſen es fein, fonft wäre dad Ich unmöglich; im Ich felbft find
fie getrennt und müſſen es fein, fonft wäre dad Ich ebenfalls un-
möglich. Sie find getrennt und ſollen daher durch dad Ich ver:
1017
einigt werben. So wirb jene Einheit in ber Wurzel des Ich zur
Getrenntheit im Ich und ebendadurch zur Aufgabe der Vereini:
gung für dad Ich. Ohne diefe Aufgabe der Vereinigung, in wel
her Einheit und Trennung verbunden find, ift dad Ich unmög-
lich. So wirb der. Grund des Ich zu deſſen Aufgabe und Zweck.
Ober, was baffelbe heißt: der abfolute Zweck des Ich muß ge:
fest werden als deſſen Grund. Das ift der Punkt, auf deffen
Einficht alles antommt, um den Uebergang von ber erften Ent:
wicklungsform der Wiffenfchaftölehre zur zweiten richtig zu ver⸗
ftehen und zu beurtheilen: derfelbe Punkt, den wir, um jenen
Uebergang begreiflich zu machen, ſchon erhellt haben. Was im
Grunde des Ich ewig eines ift, fol in der Aufgabe oder im End»
zwecke des Ich wieber vereinigt werden. Die Einheit iſt; bie
Vereinigung ſoll fein; zwifchen beiden die Trennung, ohne wel:
he die Vereinigung unnöthig wäre, Das Bewußtſein trennt,
was unmittelbar eines ift; die Trennung forbert die Vereinigung,
fie verwandelt dad Sein in ein Sollen. Hebe jenes Sein
(die Identität) auf, und das Ich ift unmöglich; hebe diefes
Sollen auf, und die Vereinigung, die Trennung, dad Bes
wußtfein, dad Ich ift unmöglih. Won der Einheit durch die
Trennung zur Vereinigung: das ift der Typus des ganzen Lehr:
begriffs. Sein Inhalt ift die abfolute Identität ald Grund und
Zweck des Ich, ald Sein und Sollen, ald ewiger Lebensgrund
und ewiges Lebensziel, als göttliches Leben. Im ber Anerken⸗
nung unferer zu löfenden Aufgabe, unter dem Zwange des Sol:
lens, leben wir fittlich; in der Erkenntniß der ewig gelöften
Aufgabe, hingegeben an das göttliche Sein, leben wir felig.
Das göttliche Leben ift alles in allem, dad AU-Eine. In Rüd-
ficht auf dieſes Thema geftaltet fih die Wiſſenſchaftslehre zur
Identitätslehre, Wenn fie als Theofophie der Naturphilo:
1018
phie wiberftreitet, fo wetteifert fie mit ber letzteren ald Ipentitätd-
pbilofophie, ein Wetteifer, der die Entgegenfegung nicht vermin:
dert, fonbern nur dazu beiträgt, fie zu fchärfen.
Daß aber die Identitätölehre in der‘ Wiffenfchaftöiehre an:
gelegt ift, daß biefe Anlage fchon in der erften Entwicklungsperiode
deutlich hervortritt, um fo deutlicher, je tiefer die Unterfuchung
dringt und fortfchreitet, das ift von und wieberholt gezeigt wor:
den. Ich erinnere an die Grundlegung ber Sittenlehre, an ben
Verſuch einer neuen Darftellung der Wiffenfchaftslehre vom Jahr
1797, an bie gleichzeitige zweite Einleitung in die Wiſſenſchafts⸗
lehre, an den fonnenklaren Bericht, wo Fichte die Identität „Das
Unbedingte und Charafteriftifhe des Selbftbewußtfeins” nennt,
an das zweite Buch der Beftimmung des Menſchen, in welchem
Fichte aus dem Princip der Identität die Thatfachen des Be—
wußtſeins erleuchtet*).
3. Die Wiffenfhaftslchre vom Jahre 1810.
Bon den fehriftlichen Urkunden diefer neuen Entwicklungs⸗
form der Wiffenfchaftölehre hat Fichte felbft nur eine herausgegeben,
die ald Schluß feiner Wintervorlefung von 1809/1810 die kurze
Summe des Ganzen enthält: „bie Wiſſenſchaftslehre in ihrem
allgemeinen Umriffe” **).
Es bleibt dabei, daß es ſich in der Wiſſenſchaftslehre um
die Erflärung und Begründung ded Willens, um das Wiffen
ſchlechtweg und in biefer Frage um dad wahrhaft Seiende han-
delt. Das wahrhafte Sein ift das abfolute Sein, welches durch
ſich ift, wodurch alles andere if. Das abfolute Sein ift Gott,
*) Vgl. Bud III dieſ. 3b. Cap.II. S. 476, Cap. XII. &. 689
flgd. Bud IV. Cap.I. S. 801—804, S. 809, Cap. IL ©. 818.
*) 6, W. JAbth. II Bd. S. 693— 709,
1019
er ift das eine, wanbellofe, unveränberliche Sein. Setzen wir
in Gott die Trennung von Subject und Object, fo ift die abfo:
Iute Einheit, das abfolute Sein und damit dad Weſen Gottes
aufgehoben. In eben diefer Trennung befteht das Wiffen. Das
Wiſſen fest Unterfchiede, von denen das göttliche Sein unabhäns
gig ff. Daher ift das Wiffen nicht Gott, es ift von Gott uns
terfchieben, e if außer Gott. Nun ift das göttliche Sein alles
in allem. Mithin ift dad Wiffen Sein Gottes außer Gott, d. h.
es ift „Aeußerung Gottes”, nicht eine Wirkung Gottes,
denn dieſe würbe ben Charakter der Veränderung in fich fchließen,
fondern unmittelbare Folge des abfoluten Seins, deffen „Wild
oder Schema”. Nun ift außer Gott Fein Sein an ſich denkbar,
kein inneres auf fich beruhendes Sein, fein vom Wiffen unab»
hängiges; alfo befteht alles Sein außer Gott im Wiffen, alles
Sein außer Gott ift Bild oder Schema Gottes *).
Nicht um eine Verwirklichung Gottes ift ed zu thun, denn
ex ift abfolut wirklich, fondern um eine Verwirklichung des Bil:
des Gottes oder des Wiſſens. Nicht durch Gott kann diefe Ver⸗
wirklichung gefchehen, nicht er felbft macht fein Bild, denn die
wäre eine Veränderung in ihm felbft, die mit feinem Weſen ftreis
tet, fondern dad Wiffen vollzieht aus eigenem Vermögen das
Bild Gottes ober, was daſſelbe heißt, es verwirklicht fich felbft.
Es ift daher zu faffen als ein felbftthätigeö, freies, entwicklungs⸗
fähiged Vermögen. Alles Sein aufer Gott ift Selbfiverwirk-
fihung und Selbftentwidlung des Wiſſens. Alles Sein außer
dem abfoluten Sein ift Aufgabe, nur zu löfen im Wiffen. Die
Löfung ift dad im Wiſſen vollendete Bild Gottes. Wie ge:
ſchieht diefe Vollendung?
Alles Wiſſen iſt für ſich, es iſt Selbſtanſchauung, ſich ſelbſt
*) Die Wiſſenſchaftslehre in ihrem allg. Umriſſe. 8. 1.
1020
Sehen. Was es ift, das fol es ausdrücken, dazu fol es ſich
(aus ſich) entwideln. Es ſoll ſich feldft fehen ald Bild des gött-
lichen Lebens. Im dieſer Aufgabe ift eine Reihe von Aufgaben
enthalten.
Das Wiſſen ift Bild, es ift näher gefagt dad Vermögen
oder die Thätigkeit bed Bildens. Um ſich als diefe Tätigkeit
zu erkennen, muß ed diefelbe entwideln, es muß bilden, e8 muß
fein Product ald Bild erkennen, d. h. von etwas unterfcheiben,
das ihm nicht ald Bild, nicht als fein Product, ſondern als
Wirklichkeit oder von ihm unabhängiged Object erfcheint. Bevor
das Wiffen ſich felbft ald Bild und bildende Thätigkeit einleuch-
ten kann, muß ihm etwas ald unmittelbare Wirklichkeit einleuch⸗
ten. Außer dem Wiffen (ald Bild Gottes) ift nichts wirklich,
Alfo kann das Wiffen nur feine eigene Wirklichkeit unmittelbar
vorftelen, ohne fich feiner vorftellenden und bildenden Thätigkeit
darin bewußt zu fein. Seine reflerionslofe Selbftanfchauung ift
das Erſte. Das Product (Bild) erfcheint ald vorhandenes Ob-
jet. Das Anfchauen ift ein „Hinfchauen”. „Das Wiſſen ift
unendliches, ſelbſtaͤndiges, wirkfames Sein. Es ſchaut feine
Unendlichkeit hin als Raum, feine Selbftändigfeit als Dafein
im Raum, ald raumerfüllendes Dafein, ald Materie, feine
Wirkſamkeit als blinded Vermögen zu wirken, als ein Getrieben
werden, ald Trieb, ald Trieb zur Wirkſamkeit auf die Körper:
welt, darum ald unmittelbare Beziehung der Körperwelt auf fein
eigenes Dafein, d. h. es ſchaut nicht bloß Körper, fondern ihm .
fühlbare, ſinnlich wahrnehmbare Körper, Träger innerer Quas
litäten. Es muß ſich felbft in unmittelbarer Beziehung auf die
Körperwelt d. h. felbft ald Körper erfcheinen; ed muß andere
Körper auf feinen Trieb beziehen und erfcheint fich deßhalb als
Sinn; es muß die Wirkfamkeit feines eigenen Körpers un
1021
mittelbar auf andere Körper beziehen und erfcheint fich deßhalb als
Organ. Es ſchaut feine eigene Wirkfamkeit hin ald unend⸗
liches gegebenes Vermögen, d. h. als eine unendliche Reihe auf ein: _
ander folgender Glieder, ald Zeit. Und da eö diefe feine Wirk-
famfeit unmittelbar auf bie Körperwelt bezieht, fo erfcheint ihm
auch die Körperwelt ald gegeben nicht bloß im unendlichen Raum,
fondern auch in der unendlichen Zeit. Dieſes ganze Gebiet der
Anſchauung iſt die unmittelbare (reflerionslofe) Selbftanfhauung
des Wiſſens, dad bewußtloſe Product und Bild deffelben, der
Ausdrud des bloßen Vermögens*).
Das Gebiet der Anfchauung ift unendlich, unbeftimmt,
mannigfaltig. Nun ift die Anſchauung der Sinnenwelt in Raum
und Zeit die unmittelbare Selbſtanſchauung des Wiffend. Diefe
Selbſtanſchauung ift darum eine mannigfaltige, eine Mannigfals
tigkeit Sichanfchauender d. h. „eine Welt von Ichen”. Jedes
hat fein Anfchauen für fich, es ift unmittelbar anſchauend fein
Anfchauen, es ift in diefer Anfchauung ein einziges, in fich vers
ſchloſſenes, gefondertes, jedem anderen unzugängliches Ich, ein
Individuum. Auf dem befchriehenen Gebiete der unmittel⸗
baren Selbſtanſchauung zerfällt daher das Wiffen in bie Vielheit
getrennter einzelner Individuen**).
Dad Wiffen fol ſich einleuchten als Bild, ed muß ſich das
her von etwas unterfcheiden, dad ihm nicht ald Bild, fondern
als unmittelbare Wirklichkeit einleuchtet, es muß fich von feiner
Anſchauung unterfcheiden, es muß ſich Daher als Anfchauung und
deßhalb (innerhalb der letzteren) ald Individuum vollziehen. Jetzt
unterfcheidet fi) das Wiſſen von der Anſchauung; und da diefe
im Triebe wurzelt und „zufolge des Triebes dad Vermögen am
*) Ebendafelbft, $.2— 8.9. ©. 697— 702,
*) Ehendajelbft, 8.11, S. 703 flgd,
1022
Anſchauen hängt und in demfelben gefangen bleibt, fo ift der
Act, wodurch dad Wiffen fid) von ber Anſchauung unterſcheidet,
eine Losreißung vom Triebe, eine Erhebung über das ganze Ge:
biet der Anfchauung. Jetzt fieht dad Wiffen unmittelbar fein ei-
genes Licht, es fchaut ſich nicht mehr hin, fondern fieht fich ein,
es ift (nicht mehr Anfchauen, fondern) Denken, Intelligiren,
reines Denken“). Das Gebiet der Anſchauung war unendlich
mannigfaltig, das Denken ift Einheit. In der Anfchauung
zerfallt das Wiſſen in die vielen Ich, in eine Welt getrennter
Individuen; indem es fic) von der Anfchauung unterfcheidet und
denkend erfaßt, ift ed dad eine Ich und erkennt ſich als ſolches
in der gegebenen Vielheit der che, es erblidt fich in einer Welt
(nicht mehr getrennter, fondern) gleicher Individuen, es forbert
deren gegenfeitige Anerkennung, bie unmöglich wäre, wenn je:
des Individuum feine befondere Welt für fich hätte, wenn nicht
für jedes Individuum die Sinnenwelt (dad Gebiet der Anſchauung)
diefelbe wäre, wenn nicht alle in ihrer Grundanfchauung über:
einftimmten. Die Einheit bes Ich macht die urfprüngliche Ueber-
einftimmung der Individuen in Rüdficht der Anfchauung und
* Sinnenwelt. Daß die Sinnenwelt für alle diefelbe ift, diefe ihre
„allgemeine Uebereinſtimmbarkeit / macht ihre Wahrheit und Rea-
tät; fie hat Beine andere**),
Im Denken erkennt ſich das Wiffen (fieht fich ein) als bad
eine Ich, deffen Träger unmöglich die Anfhauung oder ein
Object der Anfchauung, alfo unmöglich das Individuum fein
Tann. Das Denken begründet die Anfchauung, alfo kann es
nicht durch fie begründet fein; es kann feinen Grund und Trä
ger nur in dem einen Sein haben, welches durch fich iſt, in dem
*) Ebenbafelbft. 8.10, ©. 702— 703.
**) Ebendaſelbſt. $. 10. ©. 702. 708, 8. 11, ©. 704—705,
1023
abfoluten Sein, unmittelbar in ihm. 8 erblidt ſich als unmit⸗
telbare Folge des göttlichen Seins, ald Bild Gottes, ald Ver:
mögen dieſes Bildes, „ald fein könnend allein Schema bed gött⸗
lichen Lebens". Wiffen ift Bild, Schema. Wenn fi dad Wif-
fen erfennt als Bild Gottes, fo ift diefes Wiffen Bild des Bil:
des, Schema ded Schema, Schatten des Schattend; es ift ald
bloßes Wiſſen leer, es ift nicht, was es feinem Weſen und Ver:
mögen nad) ift, denn als wirkliches Vermögen ift es Bild Got:
tes; ..ald bloßes Selbftbewußtfein dagegen ift ed nur Bilb des
Bildes. So ift dad Wiffen nicht, was ed in Wahrheit ift,
was e3 fein fol. Bild Gottes zu fein, ift in dem leeren Wiſſen
oder in dem bloßen Selbftbewußtfein (Ich) die nicht erfüllte Be
fimmung, das nicht vollzogene Vermögen, alfo bie zu erfüllende
Beftimmung, dad auszuwirkende Vermögen, nicht bloß ein Kön⸗
nen, fondern ein Sollen. Indem das Wiſſen diefe feine Leer
heit und Nichtigkeit ald bloßes Wiffen einfieht, befinnt es ſich
auf fein wahres Wefen und erfaßt fein Können ald Sollen*).
„Wenn ich nun von einer Seite fallen laſſend das nichtige Anz
ſchauen, von der anderen das leere Intelligiren, mit abfoluter
Freiheit und Unabhängigkeit davon mein Vermögen vollziehe, was
wird erfolgen?" „Ein Wiffen, deſſen Inhalt weder hervorgeht
aus der Sinnenwelt, denn biefe ift vernichtet, noch aus ber Bes
trachtung ber leeren Form des Wiffend, denn auch diefe habe ich
fallen laſſen, fondern dad da ift durch fich felbft, fchlechtweg,
wie es iſt, fo wie das göttliche Leben, deffen Schema es ift, ſchlecht⸗
weg durch fich felbft ift, wie es iſt. Ich weiß nun, was ich
fouen,u
Mein Sein ift mein Sollen. Diefed Sol ift hell einleuch⸗
*) Ebendafelbft. $..10. S. 703. $. 12. ©. 705706,
**) Ghendafelbft. $. 13. ©. 706— 707.
1024
tend, einfach und abfolut. Werm ich aber, was ich foll, nur
weiß, fo ift dad Sollen Object des Wiſſens, Bild des Bildes
und finft in die Schattenwelt. Es ift nicht Schatten, fondern
Iautere Wirklichkeit, nicht bloßes Wiffen, nicht Product mei:
ned Vermögens, fondern beffen treibendes Princip; es ift nicht
durch mein Können bedingt, fondern beffen Bebingung. Das
von dieſem Sol zugleich erleuchtete und getriebene Bermö-
gen ift der Wille, einfach und abfolut in fi), ein reales und
zugleich intelligente Princip, derjenige Punkt, in welchem In:
telligiren und Anfchauen oder Realität ſich innig durchdringen.
Der Wille ift das wirkliche Bild Gottes. So endet die Wiffen-
ſchaftslehre „in eine Weisheitslehre, das ift in den Rath, nad) der
in ihr erlangten Erkenntniß, durch welche ein in fich felbft kla⸗
ver und auf ſich felbft ohne Verwirrung und Wanken ruhender
Wille allein möglich ift, ſich wieder hinzugeben dem wirklichen
Leben, nicht dem in feiner Nichtigkeit Dargeftellten Leben des blin-
den und unverftändigen Triebes, fondern dem an und ſichtbar
werben follenden göttlichen Leben*).”
Hier haben wir die von Fichte felbft beurkundete neue Dar:
ftelung der Wiffenfchaftslehre, nicht ausgeführt, fondern fEizzirt,
aber fo, daß und der Typus biefer neuen Entwidlungsform voll:
kommen einleuchtet. Won dieſem ficheren Punkte aus nehmen
wir zum Abſchluß unferes Werkes die Einficht in den endgültigen
Stand der Wiffenfchaftslehre und orientiren und über die Lei:
flungen der legten Periode, fo weit fie die fpecielle Ausbildung
der Wiflenfchaftölehre betreffen und aus dem Nachlaffe Fichte’
bekannt find.
*) Ebendaſelbſt. 8.13. 14. &, 707— 709,
Elftes Capitel.
Nachgelaffene Schriften. Uene Sorm der Begründung und
Anwendung des Syſtems.
Die Thatſachen des Bewußtſeins und die neue Staatslehre.
L
Neue Form der Propädeutik, „Die Thatfahen bes
Bemwußtfeins.”
Borlefungen bon 1810/1811 und 1813,
Alle übrigen auf die Wiffenfchaftölehre bezüglichen Arbeiten
der letzten Periode gehören in ben Nachlaß des Philofophen und
find faft ſammtlich akademiſche Vorträge, bie mit immer neuer
Gewandtheit danach ftreben, den Begriff und die Aufgabe, den
Geift und die Methode der Wiffenfchaftslehre einleuchtend und
anfhaulid zu machen. Das Neue und Intereffante liegt in der
Lehrart und in der dibaftifchen Wendung. Für die didaktiſche
Behandlung eines Syſtems find zwei Vorftellungsweifen befon-
ders fruchtbar: die propädeutifche Begründung und die Anwen:
dung. Daher fuchen wir unter jenen nachgelaffenen Vorträgen
mit befonderem Intereffe zunächft diejenigen auf, welche die zur
Weisheits⸗ oder Lebenslehre entwidelte Wiffenfchaftölehre propä=
deutiſch begründen. Es find die Vorlefungen über „bie That
fachen des Bewußtfeind” aus dem Winter 1810/11 und aus dem
Bilder, Geſchichte der Pbllofephie V 65
1026
Sommer 1813. Die erfte und wichtigfle wurde bald nad) bem
Tode des Philofophen aus dem Nachlaß herausgegeben (1817).
Die propadeutiſche Begründung ift allemal eine Probe di:
daktifcher Kunft, und Fichte war ein Meifter im Lehren. Wir
haben diefe Meifterfchaft Eennen gelernt an den beiden Einleitun-
gen in bie Wiffenfchaftsiehre vom Jahr 1797. Wie fich jene
beiden Einleitungen zu der erften Entwidlungsform der Wiffen:
ſchaftslehre, ähnlich verhalten ſich die beiden Worlefungen über
die Thatfachen des Bewußtſeins zur zweiten, nur daß ihre Aus:
führlichkeit die Grenze der propädeutifchen Abficht überfchreitet.
Die Vorlefungen aus dem Jahre 1813 find nur ffizzirt, weniger
entwidelt, auögearbeitet, didaktiſch geordnet, ald die früheren
Vorträge, aber in manchen Punkten fehr erleuchtend, namentlich
in ber ſummariſchen Charakteriftit der Wiflenfchaftölehre*).
1. Die Wiffenfhaftölehre ala Phänomenologie.
Die Wiſſenſchaftslehre giebt die Entwicklungsgeſchichte des
Bewußtſeins von der niebrigften Stufe bis zur höchften, von ber
äußeren Wahrnehmung bis zum feligen Leben. Die Haupt
epochen diefer Entwicklung find die Thatfachen des Bewußtſeins,
die jeder in fich vorfindet. Diefe Thatfachen auseinander zu ſetzen
=) Die Ipatfahen des Bewußtſeins. Vorleſ. 1810/1811. (Cotta
1817.) S. ®. IAbth. II Bd. S. 541—691, Die Thatſachen beö
Bewußtſeins (Vorleſ. 1813). Nagel, W. I Bd. S.401—574. Fichte
nennt „bie Thatfachen bes Bewußtfeins“ feine erfte und einzige Einleitung
in bie Wiſſenſchaftslehre und bezeichnet die Vorlef. von 1813 ala eine
zweite Einleitung, weil fie nicht bloß das gewöhnliche Bewußtſein, fon:
bern folde Zuhörer vorausfege, bie fhon über das Verhaͤltniß ber Logit
zur Philoſophie aufgellärt find. (Nachgel. W. I. ©. 406.) Aehnlich
unterſchied Fichte feine beiben Einleitungen in die Wiſſenſchaftslehre vom
Jahr 1797,
1027
und zu durchſchauen, in Verbindung zu bringen und als Ent⸗
widlungsepochen einleuchten zu laffen, die Punkte zu firiren, die
in ihrer Reihenfolge die Linie beftimmen, welche die Wiſſenſchafts-
lehre conftruirt: das iſt die Abficht und Aufgabe diefer propäbeus
tiſchen Vorträge. . Das Gebiet der Wiſſenſchaftslehre reicht fo
weit, ald die Tragweite der Reflerionsform und die nothwen⸗
dige Reihe der Reflerionen. Daraus ergeben fich die Grenzpunkte.
Sie beginnt mit der Thatſache des Bewußtſeins, die fich re:
flexionslos vollzieht, aus welcher die Reflerion hervorgeht, und
fie endet vor dem abfoluten Sein, in welchem Feine Reflerion
flattfindet, zu dem alles Wiſſen ſich ald Bild und Erſcheinung
verhält. Alles Sein außer Gott ift Erfcheinung oder Bild Got:
tes, alle Erfcheinung befteht im Wiffen und deſſen nothwendigen
Reflerionen. Das Wiffen ift die Erfcheinung ober „bad Dafein
Gotted”. Alles Sein außer Gott ift „Sein im Verſtande“;
„der Verftand ift das abfolute Element und der Träger alles Das
feind.” Daher die Aufgabe der Wiffenfchaftölehre darin beſteht,
„die Verftandesform zu analpficen”. Die Philofophie macht das
Dafein (Erſcheinung) verftändlich, fie fol, wie Jacobi gefagt hat,
„Dafein enthüllen”. Die Wiſſenſchaftslehre iſt nicht Seinslehre,
ſondern „Erſcheinungslehre“, fieift Phänomenologie*). Nun
befteht alle Erſcheinung im „Sichverftehen” und in der nothwen⸗
digen Reihe, die dad Sichverſtehen befchreibt. „Dieſes Leben und
ſich Bewegen des Verſtehens“, die Linie, die es bildet und durch
läuft, ift das Gebiet der Wiſſenſchaftslehre. Die Erfcheinung
ift daher erſt vollendet, wenn fie fich volllommen verftanden hat.
Diefes volle Verftändniß giebt die Wiflenfchaftslehre. Daher
ſteht die Tetere nicht außer der Erſcheinung, fondern gehört felbft
*) Wir brauchen dieſes Wort, um an biefer Stelle unwilltärlid,
den Blid des Leſers von Fichte auf Kegel zu richten.
65*
1028
zu ihr, weil fie diefelbe volltommen umfaßt und begreift... Sie
ift „die Erſcheinung in ihrer Zotalität”*).
2. Wiſſenſchaftslehre und Raturphilofophie. Mate-
rialiamus und individualififher Idealismus.
Wer die Erfcheinung nicht als folche verfteht und durchſchaut,
der nimmt fie als das wahrhaft wirkliche Sein. Das ift der
Grundirrthum aller falfchen Philofophie, die Wurzel alles Dog-
matismus, dad Vorurtheil, welches der Wiſſenſchaftslehre ſchnur⸗
ſtracks zuwiberläuft und die Geifter unfähig macht, fie zu faffen.
Aus ihm flammt die Naturphilofophie. Sie ſetzt dad abfolute
Sein in die Erfcheinung, die felbft in den Gegenfat von Natur
und Ich zerfällt. Unter diefer Vorausſetzung wird gefchloffen:
das Abfolute ift entweder Natur oder Ich, nun iſt das Ich
nicht abfolut, alfo if die Natur das Abfolute. Die Vorausſetzung
ift falſch. Natur und Ich find Erfcheinungsformen. Das Abs
folute ift, aber es ift weder Natur noch Ich; es if außer dem
Ich und der Natur, es giebt dem erſten und erft vermittelft def
felben auch dem zweiten den nöthigen Haltpunkt: fo fchließt bie
Wiffenfchaftölehre**).
Die Sinnenwelt ift eine nothwenbige Erfcheinung des Wiſ⸗
ſens. Daß wir alle Diefelbe Welt vorftellen, diefe überein:
ſtimmende Weltvorſtellung ift eine nothwendige Erſcheinung des
allgemeinen Wiſſens, „des einen unmittelbar geiſtigen Lebens,
das alle Erſcheinungen, auch die Ich» Individuen, ſchafft und in
ſich begreift.” Wird die Materie zum Princip gemacht, fo kann
*) Ihatfachen bes Bewußtſeins (1813). Nachg. W. I Bd. S. 408
—410, &, 421. XIX Bortr. S. 561 flgb. XX Bortr. &.568— 71.
+) Sat ber Bemuftfins (1810). TI Wfän, Gap. V. ©. D.
J Abth. IIBb. S. 618—619,
1029
die Vorftelung, die Weltvörftellung, das Ich, die gegenfeitige
Anerkennung. ber individuellen Ich nicht erklärt werben; gilt das in⸗
dividuelle Ich ald Princip, fo ift e3 unmöglich, die Allgemein:
gültigkeit der Weltvorftellung, die übereinftimmende Anfhauung,
den Raum zu erklären. Das Erfte gefchieht im Materialismus,
dad Zweite im „individualiftifchen Idealismus.” Daher ift die
Wiffenfchäftslehre Feines von beiden*). Sie erflärt die Erſchei⸗
nungen weder aud ber Materie noch aus dem inbividuellen Ich,
fondern aus dem Wiffen als ſolchem; fie erflärt aus dem Wiſſen
bloß Erfcheinungen, darunter das individuelle Ich, nicht etwa
Dinge an fih. Es ift grundfalfch zu meinen, daß die Wiflen-
ſchaftslehre aus fich herausgehe, daß fie aus dem Wiffen etwas
‚anderes ableite als die Erfcheinungen, daß fie das Ich zum
Schöpfer der Dinge an fich mache und noch dazu das individuelle
Ih. „Nicht aus fich ſelbſt herausgehend, etwa abwärts, ald
Schöpferin eined Seins außer ihr, wie etwa viele die Wiffen-
ſchaftslehre verftanden haben, als wolle fie bie Dinge an ſich aus
dem Ich erfchaffen laffen, welches abfurd wäre: fie kann aber
auch nicht Über fich hinaus aufwärtd mit diefem Princip gehen,
und. felbft Gott, inwiefern er in der Erfheinung ift, ift ihre
Selbftgeftaltung. Durch die Befchräntung auf diefe Einheit des
Objects ift die Wiſſenſchaftslehre feftgefchloffen -und bleibt ge:
fhloffen *).”
3. Dad Wilfen als felbfländige Entwidlung.
Das Wiffen befchreibt eine in ſich nothwendige Entwiclung,
ein in fich felbftändiged Leben, unter deſſen Erfcheinungsformen
das individuelle Ich gehört. Daher ift das Wiflen nicht etwa
*) Chbenbafelbft, II Abth. Cap. V. S. 623—626,
er) Waiſ. des Bew, (1813), XX Vortt. ©, 565,
1030
eine Eigenſchaft, der ein Ding als Träger zu Grunde liegt.
Es ift fo wenig Eigenfchaft des Menfchen, als der Raum Eigen:
ſchaft des Körpers ift. Wer das Wiflen als menfchliche Eigen:
ſchaft anfieht, verhält ſich zur Wiffenfchaftölehre, wie der, wel:
her den Raum als Förperliche Eigenfhaft nimmt, zur Mathe
matik. Der Eine fieht die Natur des Wiffend fo wenig ein als
der Andere die bed Raumes. Die Entwicklung des Wiſſens if
bie nothwendige Reihe der Reflerionen. Jede Reflerion ift eine
Erhebung über die Thätigkeit, auf welche veflectirt wird. Jede
Erhebung diefer Art ift eine Befreiung des Bewußtſeins, eine
Entfeffelung der Freiheit, bie auf ber niebrigften Stufe in ber
größten Gebundenheit ift, „eine fortgehende Erhöhung feines Le⸗
bens zu immer höherer Freiheit”. Diefe Entwicklung hat ihre
beftimmten Geſetze, ihre beftimmten Thatſachen. Die Einficht
in die Gefege giebt die Wiffenfchaftslehre; „eine Darlegung ber
Thatſachen wäre gleichfam eine Naturgefchichte der Entwidlung
biefes Lebens*).”
& Das theoretifche Vermögen.
Die niebrigfte Stufe ift die äußere Wahrnehmung, in
welcher das Wiffen mit feinem Object zufammenfällt, in daſſelbe
aufgeht, und diefed darum als etwas Gegebenes erfcheint. Die
Reflerion ergreift dad Object, verwandelt es in ein bloßes Bild
und weiß dieſes Bild als fein Probuctz das Wiffen wird Ein:
bildung und befreit ſich dadurch von feiner Gebundenheit in
der äußeren Wahrnehmung. Die Einbildung iſt eine reale Be
freiung des geiftigen Lebens. Das Object der Wahrnehmung
find die Dinge, das der Einbildung die Vorftellungen oder Bil:
der der Dinge. Auf der niedrigften Stufe des Bewußtſeins gilt
*) That. bes Bew, (1810). II Abſchn. ©. 687—691.
1031
der Sag: bie Dinge find. Auf der zweiten gilt der Sat: bie
Vorftellungen oder Bilder der Dinge find. Die Reflerion auf
dieſes Object erhebt das Bewußtſein auf eine höhere Stufe, e&
erfaßt feine eigene vorftellende oder bildende Thätigkeit, fo ent⸗
ſteht das Wiffen vom Wiffen, das freie Bewußtfein, dad Ich.
Jetzt bleibt dad Wahrnehmen und Einbilden nicht mehr fich felbft
überlaffen, fondern wird von bem freien Bewußtſein gerichtet
und regiert. Auf diefe Weife bringt dad Bewußtſein Wahrneh:
mung und Einbildung in feine Gewalt; es firirt die Wahrneh-
mung und macht fie aufmertfam, ed erneuert und reprodu⸗
cirt die Wahrnehmung vermöge der Einbilbung; es bildet fich eine
Vorftellungsreihe, in der jedes Glied bedingt ift Durch die vorherge:
henden, das gegenwärtige durch die vergangenen, unb die vergange-
nen gegenwärtig gemacht werben durch die Erinnerung”).
b. Das praftifche Vermögen.
Das Bewußtſein ftellt vor, reflectirt auf feine Vorftellungen
und wird ihrer inne. Dadurch macht e8 fein (fich als) theoreti-
fched Vermögen frei. Es muß feiner Freiheit inne werden. Es
muß fich als freie Wirkfamteit erfaffen, als freie, auf ein Object
gerichtete Thätigkeit. Ohne Widerſtand Fein Gegenftand für eine
freie Thätigkeit. Ohne Vorftelung des BWiderftandes feine Mög-
lichkeit, fich der eigenen Freiheit bewußt zu werden. Daher bie
Nothwendigkeit der Vorftellung einer (nicht bloß räumlichen, ſon⸗
dern) Förperlichen, materiellen Welt, einer auf Widerſtand lei⸗
ftende d. h. körperliche oder materielle Dinge gerichteten Thätig:
keit, die Nothwendigkeit eigener Förperlicher Kraft, alfo eines
körperlichen, leiblichen, individuellen Ih. Das Wiflen kann
feiner Freiheit nur inne werden ald einer gehemmten, einge
Ahen. des Bew. (1810). J Abſchn. Cap. I— VL.
1032
fhränkten, ausfchließenden Sphäre der Wirkſamkeit, al eins
individuellen Ich, dem andere Individuen feines Gleichen gegen
überftehen. Die Thatfache der unmittelbaren Selbftanfchauung
(Ich) vervielfältigt fi. Was ſich vervielfältigt, ift nicht da
Wiſſen, fondern bloß deffen Anfhauung. Das Wiffen bleibt
Eines. In der Anſchauung find die Individuen getrennt und bil:
den jedes eine Welt für fi; im Denken, das fi über die An
ſchauung erhebt und von ihrer Gebundenheit befreit, find fie Ei
ne3 und bilden Ein Ich, eine Gemeine von Individuen, ein Sp’
ftem von Ichen. Die unmittelbare Anſchauung und das abfolute
Denken find die beiden Grundfactoren. des Bewußtſeins. „Ein
Syſtem von Ichen, ein Syſtem organifirter Leiber diefer, eine
Sinnenwelt find die drei Hauptflüce der objectiven Weltvorfte:
lung*).”
© Das höhere Bermögen.
Das Wiſſen ift Eines; feine Erfcheinungen find Entwid:
lungsformen dieſes felbftändigen und einigen Lebens. Was das
Wiſſen ift, muß es für ſich fein, es muß fid) in feiner Lebens
einheit erfaffen und feiner felbft inne werden als eines ungetheilten
einigen Lebens. Das gefchieht durch Einkehr in fich felbft. Diefe
Einkehr ift bedingt durch die „abfolute Selbftentäußerung des Wif:
ſens“, d.h. durch jene unmittelbare Selbftanfchauung, in der ſich
das Wiffen erfcheint ald vorhandene Welt. Die Entäußerung
iſt die Anſchauung, die Einkehr dag Selbftbemußtfein. So iſt
die Einkehr bedingt und vermittelt durch die Anfchauung. Das
Bewußtfein, in welchem dad Wiffen feine Einheit (ſich ald Eine)
erfaßt, geht durch die Anfchauung hindurch. Diefer Durchgang
*) Thatf. des Bew, (1810). II Abſchn. That. des Bew, in Be
ziehung auf das praktiſche Vermögen, Cap. I— VI.
1033
punkt {ft die Individualität. So ift das Individuum nicht
Träger des Wiffend, fondern eine Erſcheinungsform deſſelben.
Um aus feiner Entäußerung oder Anſchauung in fi einzukehren
und-fich als den einigen Grund und Trager alled Lebens zu er:
faffen, muß fi) dad Wiffen als individuelles Bewußtſein gleich:
fam zufammenziehen und concentriren. Die Individuen find
die Goncentrationen des einen Lebens, die concentrirten Lebenser⸗
ſcheinungen bes Wiſſens, in denen das Wiffen erft eigentlich le—
bendig, felbftthätig, praftifch wird; fie bilden veränderliche Freis
heitöfphären innerhalb der fehenden unverändetlichen Sinnenwelt,
In der Sinnenwelt.erfcheint das Leben als ſtehendes Object, als
Subftantivum, als „vita“; im Individuum erfcheint ed ald Thätig-
keit, als Zeitwort, ald „vivere“. Die Individuen find Erfchei:
nungen eines und befjelben Lebens: daher befteht zwifchen ihnen
Feine Kluft, ſondern Gemeinfchaft. Jedes beftimmt feine Wirk;
famteit felbft und handelt frei in feinem Gebiet; die Selbftbe:
ſtimmung des einen bedingt die der anderen und umgekehrt, aber
nicht unmittelbar, fonbern vermittelt durch gegenfeitige Anerken⸗
nung und dad Bewuß tſein freier Selbftbeftimmung. Daher
ift Die Gemeinſchaft (Wechfelwirkung) der Individuen nicht phyſi⸗
fcher, fondern moralifcher Nerus*).
In der Sinnenwelt und der Gemeinfchaft freier Individuen
erfcheint demnach das eine eben, das in fich felbftändige und eis
nige Wiſſen: das Wiſſen ald freies Leben oder als Freiheit.
So ift die gefammte Welt, um alleö in einem zu fagen, bie
nothwendige Exrfcheinungsform der Freiheit. Ohne diefe Erſchei⸗
nungsform kann bie Freiheit ihrer felbft, kann das Wiflen feiner
als abfoluter Freiheit nicht inne werden. Nennen wir dad Be
*) Thatſ. des Ber. (1810), LIT Abſchn. Vom höheren Vermögen,
Cap. I—IH. S. 634—655,
1034
wußtfein der abfoluten Freiheit Sittlichleit, fo ift die Welt die
nothwendige Bebingung, unter welcher die abfolute Freiheit fih
felbft erfcheint oder fich felbft anfhaut, „Daher ift das eine ke
ben der Freiheit im Grunde nicht anderes ald die Anfchauungs
form der Sittlichkeit ).“
Die bloß formale Freiheit ift leer, fie ift Mittel des abfolu
ten Zwecks oder des Endzweds. Der Endzweck ift das Sitten:
geſetz. If nun die Freiheit der innerfte Lebensgrund der Welt
(die nichts anderes ift ald Erfcheinung ber Freiheit), fo ift der
Endzweck, um deſſen willen allein die Freiheit ift, „das abſo⸗
lute Seinsprincip der Natur”, fo find auch die Individuen Pro-
ducte des Endzwecks, d. h. jedes Individuum ift und hat eine be
ftimmte fittliche Aufgabe, es ift ein Glied in der fittlichen Orb:
nung ber Dinge, in ber die Lebendaufgaben felbft eine nothwen⸗
dige Reihenfolge der Generationen und Weltalter bilden. Nur ald
Glied der fittlichen Weltordnung, nur in der Erfüllung feiner
fittlihen Aufgabe ift das Individuum ewig und ungerftörbar
gültig. Das Sittengefeh erfüllen, heißt daffelbe wollen. Das
Sittengefeg wollen, heißt nichts andered wollen als dieſes Geſetz.
Iſt der Wille eined mit dem Sittengefeg, fo ift er unverrüdbar.
Nur der unverrücbare Wille if wirklicher Wille, nur diefer Wille
iſt feſtes, unwandelbares Sein. Das Individuum ift ewig nur
als Wille, als ein folcher Wille. Unter dem Zwange des Trie
bes ift das Individuum unfrei; in Uebereinffiimmung mit dem
Sittengefeß ift e8 auch nicht frei, denn es kann nicht mehr Be
liebiges wollen. Wo alfo bleibt die formale Freiheit? Sie ift
im Triebe noch nicht und im fittlichen Willen nicht mehr gegen:
märtig; fie ift alfo nur möglich zwifchen beiden, im Webergange,
in ber Erhebung vom Triebe zum Sittengefeg. Diefe Erhebung
y Ebendaſ. III Abſchn. Cap. IIL. S. 666 flod.
1035
iſt nur durch Freiheit möglich. Diefe ift nichts anderes ald Mittel
Dazu, nothwendiges Mittel. Die Erhebung ift zugleich die Ver:
nichtung der Freiheit, ihre Selbftvernichtung. „Die abfolute
Freiheit fteigert ſich durch ſich felbft in eigener factifcher Vernich⸗
tung zum Willen )).“
Das Sittengefeß ift der abfolute Zweck, aber ber Endzweck
iſt nicht das Abfolute ſelbſt. Wie ſich die Welt (Sinnenwelt
und Welt der Individuen) zum Endzwede verhält, fo verhält
ſich diefer zu dem höheren, wahrhaft abfoluten Princip. Das
Sittengefeß war bad Princip des Lebens, dieſes die Erſcheinungs⸗
form oder Anfchaubarkeit des Sittengefeged. Mithin wird das,
wozu das Sittengefeg fich verhält, wie zu ihm Welt und Leben,
das Princip des Sittengefeges fein, und dad letztere die Erſchei⸗
nungsform oder Yeußerung biefed Princips. Was alfo ift das
Princip des Endzweds? Was macht fih in ihm anfchaulich
ober fichtbar**)?
Das Leben, für fi genommen, ift endlofer Wandel, fort:
mährendes Entftehen und Vergehen, unaufhörliches, abfolutes
Werden. Das Leben fol gedacht werden, denn es iſt Erſchei⸗
nung des Wiffens; das abfolute Werden läßt ſich nicht denken.
Was gedacht werden fol, muß ben Charakter der Dauer und
Einheit haben. Diefen Charakter hat und giebt nur dad Sein.
Soll das Leben gedacht werben können, fo muß das Werden eis
nen dauernden, wandellofen, ewigen Inhalt haben; e8 muß im
*) Ebendaſelbſt. IIT Abſchn. Cap. IV. Das Eittengefeg als Prin⸗
cip des Lebens und dieſes ala Anſchaubarkeit bes erften. ©. 657— 679,
Bıl, Cap. V. 6. 680,
=) Ghenbafelöft, III Abſchn. Cap. V. Die Anſchluung Gottes
als Princip des Sittengeſetzes ober be3 Endzweds, unb Dies al als Aeuße⸗
tung ber erfteren. S. 680— 681,
1036
Werden ein unveränderliches Sein geben. Das Sein im Werben
iſt die Abficht, der Zweck, das unverrücbare Ziel alles Werdens.
Nur ald Endzwed kann das Sein im Proce des abfoluten Ber:
dens erfcheinen und fichtbar hervortreten. Daher ift der Endzwed
das Sein in Verbindung mit bem Leben (Werben), Im biefer
Verbindung allein wird aus dem Sein Endzwed, Der End:
zwed ift daher bie Erfcheinung des Seins, wie bad Leben bie
des Endzwecks. Der Endzwed: hat feinen Halt im Sein, wie
das Leben in ihm. Ohne Sein fein Endzweck, kein eben.
Alfo muß das Sein gedacht werden als unabhängig und abgefon-
dert vom Werben. Im der Verbindung mit ihm ift es Endbzwed;
von biefer Verbindung frei, if e8 nicht Endzwed‘, fondern „Sein
ſchlechtweg“, das abfolute Sein ober Gott*).
Im Endzwed ift Sein und Werden (Leben) verbunden; er
ift „dad Sein bed Leben”, „dad Sein der Freiheit”, „bie Aeuße—
tung des Sein: im Werben“; Nun ift ber das Leben durch
dringende Endzwed gleich der Sittlichkeit. Daher fagt Fichte:
nSein der Freiheit oder des Lebens und Sittlichkeit
find durchaus eins **).”
In dem bloßen Werben giebt ed Feinen Stilftand, Feine
Dauer, Feine Möglichkeit des Fefthaltend, des Anfchauend. Nur
in der Form der Anfchauung wird dad Sein im Werben
gegenftändlich und ſichtbar. „Das Grundfein des Lebens: ift
barum in feiner Form eine Anſchauung.“ Sie ift das in jeber ein»
zelnen Aeußerung Beftehende, biefelbe zum Stehen oder Stillſtand
Bringende, durch die ganze unendliche Reihe wirklich Dauernde,
Die unmittelbare Anſchauung bebingt und vollendet die Reihe
*) Ebenbajelbft, III Abſchn. Cap. V. ©. 681—688, -
Ebendaſelbſt. III Abſchn. Cap. V. S. 683. Refultat und An-
merkung.
—
1087
der Reflerionen, fie ift die Grundform bed Lebens und Wiffens,
welche beide Ausdrüde durchaus gleichbedeutend find. Ihre erfte
und niedrigfte Form ift die Sinnenwelt, ihre legte und höchfte
die fittliche Gewißheit; beide unmittelbar einleuchtend und dauernd,
zwiſchen beiden die Reflerionsformen des Wiſſens, bedingt und
getragen von der Anfchauung.
Das ganze Leben (Wiffen) iſt demnach Anfhauung, Bild,
Erſcheinung. Esift Anfhauung nur, weil ihm ein Sein inwohnt,
das dem Werden Dauer und Einheit giebt. Das Leben ruht in
der Anfchauung, diefe im Sein, das als ſolches unabhängig
von der Anfchauung, jenfeits alles Werdens abſolut in fich ifl.
Das abfolute Sein ift Gott, dad Leben darum in feinem eigent⸗
lichen Sein „Bild Gottes”.
„And fo haben wir denn den legten und vollkommenen Auf⸗
ſchluß erhalten über den Gegenſtand unſerer Unterſuchung: das
Leben oder auch das Wiſſen. Das Wiſſen iſt allerdings nicht ein
bloßes Wiſſen von ſich ſelbſt, wodurch es in ſich ſelbſt zerginge
und zu nichts würde, ohne ale Dauer und Anhalt; ſondern es
ift ein Wiffen von einem Sein, nämlich von dem einen Sein,
das da wahrhaft ift, von Gott, keineswegs aber von einem Sein
außer Gott, dergleichen außer dem Sein des Wiſſens felbft oder
der Anfchauung Gottes durchaus nicht möglich ift, und die Ans
nahme eines foldhen reiner und Blarer Unfinn. Nur kommt diefer
einzig mögliche Gegenfland des Wiffens im wirklichen Wiffen nie:
mals rein vor, fondern immer gebrochen an indgefammt noth⸗
wenbige unb in biefer Nothwendigkeit nachzuweifende Formen des
Wiſſens. Die Nachweiſung diefer Formen ift eben die Philofos
phie oder die Wiſſenſchaftslehre ).“
*) Ghenbafelbft, TIL Abſchn. Cap. V. &. 683—685,
1038 >
I.
Neue Form der Anwendung. „Die Staatölehre".
1818 (1820).
1. Borausfegung.
Die Thatfachen des Bewußtſeins verhalten fi zur Wiſſen⸗
ſchaftslehte, wie Naturgefchichte zur Naturlehre. Vergleichen
wir die Thatfachen des Bewußtfeind mit der (gleichzeitigen) Wif:
ſenſchaftslehre in ihrem allgemeinen Umriffe, fo erhellt die durch
gängige Uebereinftimmung beider. Es bleibt noch übrig, die
neue Entwidlungsform des fichte ſchen Syſtems auf dem Gebiete
der Anwendung ober in einer Darftellung Tennen zu lernen, die
ſich zur Wiffenfchaftölehre verhält, wie angewendete Mathematit
zur veinen, ober praktiſche Naturwiffenfchaft zur theoretifchen.
Diefe Darftelung findet fich in den Borlefungen über „die Staats
lehre ober das Verhältniß des Urſtaats zum Vernunftreiche” (aus
dem Sommer 1813), bie fieben Jahr fpäter aus dem Nachlaſſe
des Philofophen veröffentlicht wurden.
Schon in jenen früheren „populären” Vorträgen über die
Grundzüge deö gegenwärtigen Zeitalters und das Weſen des Gelehr:
ten, in den Anweifungen zum feligen &eben und den Reben an die
deutfche Nation erfchien die vollendete Wiſſenſchaftslehre im Lichte
der Anwendung. Daher die Staatöiehre vom Jahr 1813 mit
dieſen Vorträgen in allen wichtigen Punkten völlig übereinftimmt:
in ber Lehre vom Urvolk und Urflaat, von dem zu ertichtenen
Vernunftreiche, von ber Bedeutung des Gelehrten als des fit:
lichen Weltbildners und Regenten, von der Nothwenbigkeit und
dem Zwedte der Nationalerziehung, von dem Einklange zwiſchen
chriſtlichem Gotteöglauben und Vernunftwiſſenſchaft (Wiſſen⸗
faftstehte).
1039
Die Voraudfegungen, auf welche ausbrüdlich „die Staats⸗
lehre” fich gründet, find in der „Wiſſenſchaftslehre in ihrem all⸗
gemeinen Umriſſe“ entwidelt worden und bilden deren Summe,
„Nur Gott iſt; außer ihm nur feine Erfcheinung; in der Er
ſcheinung das einzig wahrhaft Reale die Freiheit, in ihrer ab-
foluten Form, im Bewußtſein, alfo ald eine Freiheit von Ichen.
Diefe und ihre Freiheitsproducte dad wahrhaft Reale. An dieſe
Freiheit num ift ein Gefeß gerichtet, ein Reich von Zwecken, das
Sittengefeg ; dieſes darum und fein Inhalt die einzig realen Ob:
jecte. Die Sphäre der Wirkfamkeit für fie die Sinnenwelt,
diefe nichts denn das; in ihr Feine pofitive Kraft bes Wider:
flandes ober des Antriebed. Wer diefe Antriebe gelten läßt ober
diefem Widerſtande weicht, ift unfrei, nichtig. Nur durch die
Freiheit ift er Glied der wahren Welt, ift er burchgebrochen
zum Sein*)"
Die Philofophie kann weder Dualismus noch Materiali-
mus (Naturphilofophie) fein: nicht Dualismus, fondern Ein-
heitslehre; nicht Materialismus, fondern Erkenntniß= und Frei⸗
heitölehre. Die Freiheit Bild des abfoluten Seins, bie Welt
Bild oder Exfcheinung der Freiheit (bed Wiſſens): in biefer Grund
anſchauung ruht die Philofophie. Die Freiheit ift entweder ur⸗
fprünglich und fchöpferifch, oder fie ift überhaupt nicht; fie ift Prinz
cip, alles Andere ihr „Principiat”. Freiheit heißt „Principfein”.
Gilt die Natur ald Erſtes oder auch nur als etwas Anfichfeiendes,
fo ift die Freiheit unmöglich. Daher giebt es unter dem Gefichtd:
punkte der Naturphilofophie Beine Freiheit. Wer die lehtere bes
jaht, muß fie als abfolut fchöpferifches Princip, den Willen als
*) Die Staatslehre ober bad Verhältniß bes Urftantes zum Ver⸗
munftreiche, III Abſchn. Vorausfegungen. S. W. II Abth. II Bd.
S. 431.
1040
einzig möglichen Schöpfer der Natur nehmen: er ſchafft nicht
eine gegebene, feiende, fonbern eine fein folende Welt, dad Bor:
bild der wahren. Dieſes Vorbild ift die erleuchtende und ziel:
feßende Richtſchnur des Lebens; daher die Philofophie als Frei-
heitslehre zugleich geftaltend und leitend das Leben felbft ergreift.
Als Leiterin des Lebens ift die Freiheitslehre praktifche oder ange:
wendete Philofophie*).
2. Aufgabe.
Die Freiheit erfcheint in einer Welt (Gemeine) bewußter
Individuen, deren gemeinfchaftliche Sphäre der Wirkſamkeit bie
Sinnenwelt ift. Jedes diefer Individuen ift unbedingt frei, die
Geltung und Erhaltung der individuellen Freiheit darum ein noth⸗
wenbigeö Gefeg: das Rechtögefeh gegenüber den Hemmungen
und Störungen, welche die Freiheit deö einen Indivibuums durch
die der anderen erleidet. Solche Störungen können fein, aber
fie dürfen und follen nicht fein. Sie nöthigen das Rechtsgeſetz,
die Form des Zmangögefeged anzunehmen; es vernichtet bie ger
ſchehene Freiheitöverlegung durch die Strafe, es verhütet die be:
gehrte durch die Furcht vor der Strafe, alfo durch einen Natur:
trieb, und herrfcht darum wie ein Naturgefeh. Die Rechtdan-
ftalt ift zugleich Zwangsanſtalt. Daß eine Rechtsanftalt errichtet
werde, forbert das Vernunftgeſetz; daß fie zugleich ald Zwangs⸗
anftalt auftritt, gebietet die Noth; daher die Rechtöverfaffung, in
welcher ber Zwang herrfcht, noch eine Nothverfaffung iſt. Die
vorhandenen Rechtöverfaffungen find ſolche Nothverfaffungen, fie
berrfchen nicht allein durch das Vernunftgeſetz, fordern mit Hülfe
des Naturgeſetzes; fie find daher noch Bein wahrhaftes Vernunft:
reich. Die Rechtöanftalt ſoll ein Vernunftreich fein. Sie wird
*) Chenbajelbft, J Abſchn. Allg. Einl, S. 369—389,
1041
es, indem fie den Charakter der Nothverfaffung und Zwangban⸗
ftalt-ablegt. Das ift bie zu löfende Aufgabe. Es ift im Rechtö-
geſetz eine Forderung enthalten, die noch nicht erfült ift, ein
Beſtandtheil, der noch nicht zur Geltung gefommen*).
Recptögefet iſt Freieitögefeg. in Freibetägefeg, welches
zwingt, enthält einen.offenbaren Widerfpruch. Das Rechtsge⸗
fe fordert bie unbebingte Geltung der individuellen Freiheit; der
Zwang, ben es ausübt, ift das directe Gegentheil derfelben. Alfo
ift es der Zwang, der aufhören fol. So lange er unentbehrlich
ift, herrſcht die Nothverfaſſung. Wenn er aufgehört hat nöthig
zu fein, ift an die Stelle der Nothverfaffung dad Vernunftreich
getreten. Alſo ift die Aufgabe, den Bwang entbehrlich zu mas
chen. Er ift entbehrlich, fobald ſtatt der Naturtriebe Fein ande:
red Motiv die menfchlichen Handlungen beftimmt, ald bie Ber:
nunfteinficht. Demnach befteht die Löſung der Aufgabe darin, , .
daß diefe Einficht ausgebildet und entwickelt wird. Dieß gefchieht
durch Belehrung und Erziehung. Daher wird bie Rechtsanftalt
zugleich Erziehungsanftalt fein müffen, weil fie nur dadurch bie
Bedingung in fich aufnimmt, wodurch der Zwang allmälig ent
behrlich gemacht werden und dad Wernunftreich zur Ausbildung
kommen Tann.
Und zwar wird mit der Rechtöanftalt die Erziehungsanftalt
zugleich müffen errichtet werden, weil fonft ein Zwang ausge⸗
übt wird, ohne die Abficht ihn entbehrlich zu machen, ein Zwang,
der ſich zur Freiheit nicht als Hülfsmittel verhält, fondern ver⸗
nichtend. Im Reiche der Freiheit, innerhalb deffen die Rechts⸗
verfaffung liegt, Tann überhaupt der Zwang Feine andere Gel
tung beanfpruchen ald eine vorläufige; er gilt, bis die Vernunft:
*) Chendafelbft, J Abſchn. S. 389400, V Abſchn. Von der
Errichtung des Vernunftreiches. S. 432—433,
Bifher, Geſdichte der Phlloſophie V. 66
1042
einficht ihn entbehrlich macht. Darum ift auch nur derjenige
Zwang rechtmaͤßig, ber vor der Wernunfteinficht fich rechtfertigen
läßt, von dem der entwidelte Verſtand einfieht, daß er nöthig war,
weil ohne ihn der Rechtözuftand und bie Ausbildung ber Freiheit
unmöglic; gewefen wäre. Aller Zwang barf nur um ber Frei⸗
heit willen flattfinden. Nur wer bie Zwecke und Forderungen
der Freiheit einfieht, darf den Zwang ausüben; nur wer biefe
Einficht nicht oder noch nicht hat, erleidet den Zwang. Daraus
erhellt, was zur Rechtmäßigkeit des Zwanges gehört. Es iſt
nicht genug, daß er gerechtfertigt werben kann; er muß auch ge:
techtfertigt fein wollen, d.h. er muß alles thun, um in denen,
die er beherefcht, die Vernunft, die ihn rechtfertigt und entbehr:
lich macht, zu erzeugen; er muß mit dieſer Abficht gefchehen und
darum von vornherein mit ber Belehrung verbunden fein, bie zu
jenem Ziele hinführt. Die Zwangsanftalt ift nur dann eine Rechts:
anftalt, wenn fie zugleich Erziehungsanftalt ift.
Das Recht zum Zwange gründet fich daher auf dad Vermoö⸗
gen und den Willen, ihn zu verantworten. Nur wer beides hat
und im Stande ift, die ganze moralifche und rechtliche Verant⸗
wortlichkeit bes Zwanges auf fi zu nehmen, darf Zwingherr
ober Herrfcher fein. Er muß die Forderungen und Zwecke ber
menfchlichen Freiheit mit der höchften Klarheit durchſchauen und
diefe Einficht vor den Anderen voraushaben. Nur der höchfte
menſchliche Verſtand berechtigt zum Herrſchen. Die Aufgaben
der menschlichen Freiheit find nach Zeiten und Völkern verſchie⸗
den. Daher ift es ber höchſte menfchliche Verſtand feiner Zeit und
feines Volkes, dem es gebührt zu herrſchen, weil er allein ben
Zwang, den er ausübt, rechtfertigen kann und will. Er ſieht
das Ziel voraus, wonach die menfchlihen Kräfte ringen; er un
terfcheibet mit heller Einficht das nähere und fernere Ziel und
1043
durchſchaut fo bie jedesmalige Beſtimmung des Menſchengeſchlechts.
Er ſteht auf dem Standpunkt, wohin die anderen erſt kommen
ſollen. Daher kann er allein fie führen, Die Menſchheit
würde ihr Ziel verfehlen, wenn fie es nur blind erreichte. Sie
muß die Nothwendigkeit defjelben einfehen. Daher ift die Füh-
tung nothwendig zugleich Belehrung und Erziehung ; fonft wäre
fie die Führung einer Heerde, nicht freier Individuen. Nur wer
bie Menfchheit erziehen kann, barf fie beherefchen, bis das Ziel
der Erziehung erreicht iſt.
So ift die Freipeitögefchichte (Weltgefchichte) in ber That eine
fortfchreitende Erziehung des Menfchengefchledhtö, deren Biel ver
vollkommene Rechtözuftand oder dad Bernunftreich if, in dem
der letzte Reſt der Bwangsanftalt auögetilgt worden. Ohne Er:
ziehung ift die Gefchichte nicht möglich. Aus dem erzogenen Ges
fchlecht wird ein erziehended. Wie aber beginnt die Erziehung?
Welches ift das erſte erziehende Gefchleht? Es muß eine Urer⸗
ziehung geben, fonft kann bie Gefchichte, bie Erziehung, die Lö—
fung der Aufgabe, um bie e& fich handelt, keinen Anfang neh⸗
men, alfo überhaupt nicht flattfinden *).
3. Löfung der Aufgabe. Dad Urvolk und die Geſchichte.
. Die alte Welt,
* Die Erziehung fordert einen erfien Ausgangspunkt, einen
Urfprung, der Feine erziehenden Bedingungen vorausſetzt, ein
ergiehended Urgefchlecht, welches von Natur im Befige der
Früchte ift, die in allen folgenden Gefchlechtern erft die Erziehung
reift und hervorbringt. Diefes Geſchlecht ift unmittelbar „ſitt⸗
licher Natur”... In ihm find die fittlichen Einrichtungen ur
fprünglich gegeben, Staat, Familie, Ehe: es ift ein Urvolk
*) Ebendaſelbſt. III Abſchn. S. 436470,
66*
1044
ein Normalvolt, dad Vorbild der menfchlichen Entwidlung. So
muß es fein, denn fonft wäre Die Erziehung ein endlofer Regreß, der
ſich in nichts auflöſt. Das ift unmöglich. Das Bild Gottes
Bann nicht dem Untergange und dem Zufall preiögegeben fein.
„Gott ift,” „er probirt nicht *).”
Das Urvolk bedarf Feiner Erziehung; ed ift, was die übrige
Menfchheit durch Erziehung werden fol. Die Erziehung geht
von dem Urvolk aus; ihr Gegenftand ift ein zweite der Erzie⸗
bung bebürftiges Urgefchlecht ohne urfprüngliche fittliche Einrich⸗
tungen. Die Vereinigung dieſer beiden Urgefchlechter giebt den
Anfangöpunft der fittlihen Entwidlung, der Erziehung des
Menſchengeſchlechts, der Geſchichte.
Die Glieder bes ſittlichen Urvolls gründen, ſei ed durch Co—
loniſation oder durch Eroberung, in dem zweiten Urgeſchlechte
der bloßen Naturvölker die ſittlichen Einrichtungen, den Rechts⸗
zuſtand, den Staat; ſie geben das ſittliche Geſetz, ſie offenbaren
es als göttlichen Willen. Sie herrſchen, die anderen werden be⸗
herrſcht. Ihre Herrſchaft gilt unbedingt. Was in ihnen Natur:
glaube war, wird in dem beherrfchten Gefchlecht „Autoritäts:
glaube”. Aufdiefe Autorität urfprünglicher, unmittelbar gött:
licher Abkunft gründet fich die Staatsordnung und, wie es hier
nicht anders fein kann, die bürgerliche Rechtöungleichheit. Der
Staat gilt als abfolute göttliche Anordnung, der Einzelne ift
ihm unbebingt hingegeben und untergeordnet. Die Staatsmächte
find göttliche Autoritäten, der religiöfe Glaube geftaltet fich. mytho⸗
logiſch und polgtheiftifch. Das ift der fittliche Typus der alten Welt,
am reichften entwidelt in den griechiſchen Staaten, am deutlich:
ften und reinften dargeftellt in dem am meiften ariftofratifchen und
veligiöfeften Staate des griechifchen Alterthums, in Sparta,
*) Ebendaſelbſt. II Abſchn, 6, 471, "
1045
Die menfchliche Einficht fol frei werden. Dahin zielt bie
Entwidlung. Der Verſtand erhebt fich gegen den Xutoritäts-
glauben, erfchüttert ihn auf allen Gebieten und untergräbt da=
mit dad eigentliche Princip des Alterthumd in feiner. Wurzel.
Diefe Epoche, die den Beginn einer neuen Zeit bedeutet, macht
Sokrates. j
Der.Zortgang von dem. Autoritätöglauben zum Verſtandes⸗
princip ift zugleich der Fortgang von der bürgerlichen Rechtsun⸗
gleichheit zur Gleichheit, vom ariftofratifhen Staat zum demo:
?ratifchen, von dem Autoritätäftaat, ber in feiner Wurzel theos
kratiſch ift, zur conftitutionellen Rechtöorbnung. In dem Streit
der Patricier und Plebejer um bie bürgerliche Rechtögleichheit ent»
widelt ſich diefer Fortgang in der römifchen Welt.
Die vollommene Befreiung der individuellen Einfiht ift
der Untergang ded antiken Staats. Die Sorge für dad perfön-
liche Wohl und die perfönliche Bildung wird zum Hauptintereffe,
und der Staat gilt nur ald Bedingung, um dieſes Intereffe fo
behaglich ald möglich zu befriedigen, „ald das Gehege, innerhalb "
deffen wir ficher find”. Mit dem Eigennug und dem Triebe nad)
individuellen Wohlfein: fteigt der Luxus, die Verachtung der
Götter, die Gleichgültigkeit gegen den Staat; dad Regieren felbft
incommobirt, und man läßt ſich gern ben Herrfcher geben, am
liebſten einen erblichen, um in Ruhe leben und genießen zu kön:
nen. Was fich über den gemeinen Eigennuß erhebt und dem
Staate zumwenbet, ift nicht mehr der einfache Patriotismus, dad
Erfültfein von gemeinnügigen und öffentlichen Zwecken, fon
dern perfönlicher Ehrgeiz, Liebe zum Ruhm, Selbftgefühl her-
vorragender Kraft, nicht Religiofität, fondern „Genialität”;
es find die Kränze des Miltiades, die den Themiſtokles nicht
ſchlafen laffen*).
*) Ehenbafelbft. III Abfcn, Alte Welt, S. 497—520. Vgl.
1046
b. Die nene Welt.
Die alte Welt ging von der bürgerlichen Rechtöungleichheit aus
und mit der entwicelten bürgerlichen Rechtögleichheit zu Grunde.
Innerhalb ihrer Anfchauungsweife blieb die Gleichheit bedingt
durch dad Bürgertum. Daß der Menfch als ſolcher frei und
in dieſer Freiheit die abfolute Gleichheit der Menfchen begründet
fei: dieſe Einficht blieb dem Alterthum verborgen. Das Ehriften:
thum offenbart fie und legt damit die Grundlage der neuen Welt,
Was das Chriftenthum offenbart, dad Reich der Freiheit
als Reich Gottes, als Aufgabe und Ziel der Menfchheit, iſt ein
Geſetz, unabhängig von aller individuellen Willkür, von jeder
perfönlichen Autorität, die ewige Wahrheit felbft, mit welcher
die Verftandeseinficht, je tiefer fie entwickelt ift, um fo gründ-
licher übereinftimmt. Daher iſt hier im Princip der Sache Fein
Widerſtreit zwiſchen Autoritätöglauben und Verſtandeseinſicht.
Ale achte „Sokratik“ und Philoſophie iſt dieſem Glauben gegen:
‚Über Durchdringung und Bejahung.
Die chriſtliche Lehre, richtig verſtanden, iſt abſolut wahr
und abſolut neu. Das wahrhaft Wirkliche iſt die rein geiſtige,
überſinnliche Welt, dad Himmelreich, der ewige Wille Gottes;
der Menfch ift ewig, wenn er diefen Willen thut, er thut ihn,
wenn er bem eigenen Willen gänzlich abftirbt, nicht durch den
äußeren Tod, ſondern durch die innere Wiedergeburt, Es giebt
nur dieſe eine Heilsordnung: Selbſtvernichtung und Selbfiver:
leugnung. Alles außer Gott ift nichtig. Der Glaube an ein
felbftändiges Sein außer Gott ift antichriſtlich und heidniſch.
Aller Glaube an äußere Wunder und Zeichen, an äußere Ent:
fündigung und Ermählung ift todt und in feiner Wurzel heidniſch.
Grundzüge de3 gegenw. Beitalt, Borlef. IX — ZU. Bud. IV dieſes Bd.
Cap. V. 6, 882—892,
1047
Ein folder Glaube als Bedingung oder Beſtandtheil der chrift:
lichen Seligkeitölehre iſt chriftliche Befchneidung. Zu biefem Glau⸗
ben verhält fi die wahre Einficht, wie Paulus zu den Juden,
und Luther zu ben Papiften.
Die Menfchheit fol} fich mit eigener Freiheit erbauen zu ei»
nem Reiche Gottes, in dem alle menfchliche Freiheit aufgegeben
und hingegeben ift an ihn. Dazu bebarf fie eines Vorbildes, das
fich zur neuen Welt ähnlich verhält, als das Urvolk zur alten:
eined Bildes diefer Beftimmung des ſich Ertödtens und Hinge—
bens, in dem vorbildlich und darum urfprünglich verwirklicht iſt,
maß die Menfchheit verwirklichen foll. Diefes Vorbild muß das
ber eine wirkliche Perfon fein, deren Selbſtbewußtſein unmittel:
bar und volltommen zufammenfäut mit ihrem göttlichen Beruf,
deren Wille, wie er aufging, gefangen war im. höheren Willen,
die durch ihr Sein war, wie fie ale machen wollte. Diefe
Perfon ift Jeſus, er zuerfi, er allein und einzig. Das einzige
Mittel der Seligkeit ift „der Tod der Selbfiheit”‘, der Tod mit
Jeſus, die Wiedergeburt. Er ift unmittelbar und von Natur,
was die Menfchen aus eigener Freiheit nach feinem Vorbilde wer:
den follen: er ift „der geborene Sohn Gottes”; feine ges
ſchichtliche Erfcheinung daher eine ewig gültige Hiftorifche Wahr:
heit. Aber der bloße Gefchichtöglaube an ihn trägt zur Seligkeit
nichts bei. Den Weg zur Seligfeit muß man gehen. "Die Ge
fchichte, wie diefer Weg entdeckt und geebnet worden, hilft nicht
zum Gehen.
Auf die Thatfache der gefchichtlichen Erſcheinung Jeſu als
des eingeborenen Sohnes Gottes gründet fich der chriftliche Ge:
ſchichtsglaube. Der gefchichtliche Sag wird um feiner ewigen
Geltung willen in ein Syſtem metaphyſiſcher Säge verwandelt,
in bie Lehre von der Gottmenfchheit Zefu, der Dreieinigkeit Got⸗
1048
tes, der Nothwendigkeit der Rechtfertigung, Verſohnung, Ent:
fündigung der (von Gott ausgeſchloſſenen und außerhalb feiner be
findlichen) Menfchheit. So bekommt das Chriftenthum einen hir
ſtoriſch dogmatifchen Lehrinhalt, in dem fid die ewige Wahrheit
des chriftlichen Glaubens mit heibnifchen und wiberftreitenden
Vorſtellungsweiſen mifcht. So enitfteht die Aufgabe, bie ewige
Wahrheit von jener Vermiſchung zu reinigen, mit ber Elarfien
Einficht zu durchdringen und von allem Magifchen zu befreien,
denn alles Magifche in der Religion ift heibnifchen Urfprungs. |
Diefe Einficht ift das Ziel des wahrhaft chriftlichen Lebens und
die ächte Erfüllung der Weiffagungen Jeſu.
Er hat verfündet, daß nach ihm ber heilige Geift kommen
wird und durch biefen dad Reich Gottes auf Erden, die Bolk
endung feined Werkes, Der heilige Geift ift gegründet in der
göttlichen Anlage des Menfchen für die überfinnliche Welt, in
dem natürlichen Licht, welches und unfere göttliche Beftimmung,
Gott felbft und in der Perfon Iefu den geborenen Sohn Gottes
erleuchtet, auf diefe Weife ihn bezeugt, und und dadurch in ale
Wahrheit leitet. Diefer heilige. Geift ift die in den Kern dei
menfchlichen und alled Lebens eingebrungene, von dem hiſtori⸗
ſchen Glauben unabhängige, aber den ewigen Inhalt deffelben
beftätigende Einficht.
Das Chriftentyum ift nicht bloß Lehre, fondern Princip ei⸗
ner Weltverfaffung, Gründung eines Reiches, des Reiche
Gottes, welches eines ift mit dem Vernunftreihe, mit dem Hat
begriffenen und freudig erfüllten Gefege des Chriſtenthums. In
diefem Reiche herrfcht nur das Gewiſſen und Fein Zwang mehr.
Es ift die Auflöfung des Staates als einer Zwangsanſtalt. Das
Reich Tann nur kommen und der Zwang nur entbehrlich gemacht
werben burch eine des Zieles Mar bewußte, zur Kunft der Men
1049
ſchenbildung entwickelte, fortvauernde Erziehung. Diefe Erziehung
iſt ein unentbehrlicher Beſtandtheil des Reiches, ‘der Zwang dage⸗
gen nicht bloß zu entbehren, ſondern auszutilgen.
Dieſes Ziel der Zeiten iſt angezeigt durch den Gang der Ge⸗
ſchichte. Das Werk des Alterthums war der abſolute Staat,
das hiſtoriſche Chriſtenthum forderte die abſolute Kirche; der Ueber⸗
gang geſchah durch die Unterwerfung des Staats, der freiwillig
den Primat der Kirche anerkannte und ſich ihm fügte: durch den
germaniſchen Staat. Unter der Herrſchaft der Kirche wird der
Staat entgöttert und zu einer rein menſchlichen Einrichtung, zu
einem Werke des weltklugen Verſtandes gemacht. Die Entgötte:
rung bed Staates ift zugleich eine Freigebung des Verſtandes.
Der Glaube an die Staatsgötter ift vernichtet. Unabhängig von
dieſem Glauben, erneuern fich bie Alterthumsſtudien. Jetzt wird
der Widerftreit der heibnifchen Vorſtellungsweiſe mit der chrift
lichen erkannt; gegen die vorhandene Wermifchung beider erhebt
fi) der Proteftantismus mit der Glaubensreformation, welche
die chriftliche Lehre von den hiftorifchen Sagungen und Traditio⸗
nen frei macht und auf die fehriftlichen Urkunden ald legte Quelle
zurückführt. ber diefe Urkunden find felbft traditionell bedingt
und bebürfen einer Auslegung und Erklärung, die jegt bei Feiner
anderen Macht mehr gefunden werden kann, als der wiffenfchaft:
lichen und philofophifchen Einfiht. So ift die Befreiung ber
Philofophie felbft die Frucht und dad Werk der (Firchlich geleite:
ten) Geſchichte. Die in ihrer freiften und tiefflen Einficht mit
dem ewigen Inhalt des Chriftenthums einverftandene Wiffenfchaft
iſt die reiffte Frucht der Philofophie, die Entdeckung Kant's und
der Wiffenfchaftölehre, welche Ießtere zugleich das Ziel, bie Auf:
gabe und Kunft der Erziehung erkannt hat ald die neue Richt
ſchnur der Zeiten. Auch die chriftlichen Staaten treiben nad
1050
biefem Ziel. Ihre Vielheit erzeugt ben Wetteifer und biefer über:
all dad Streben nach Machtentwidlung, bie ihre größten Hinder⸗
niffe in der Unbildung und dem Unverftanbe der Bürger, in den
Privilegien der Geburt und bed Beſitzes findet. So fordert bad
Staatöintereffe felbft die Einführung der bürgerlichen Rechtögleich-
heit, die Verbefferung des Schulwefend, die Reform ber allge:
meinen Volkserziehung, und fo reift nothwendig in allmäligem
Fortſchritt ein fittlicher Zuftand, in welchem Einfiht und Bil-
dung den Schulzwang, frieblicher Völkerverkehr den Krieg und
Kriegszwang von felbft aufhören machen, fo daß zulegt die her⸗
gebrachte Zwangsregierung nichtd mehr zu thun findet.
Ale gefchichtlich wirkfamen Zactoren ebnen die Bahn nad)
dem Ziele, welches die Wiſſenſchaftslehre erkennt, und worauf
fie mit aller Befonnenheit und Kunft die Erziehung des Men-
ſchengeſchlechtes richtet. Im demfelben Maße, ald die Rechtsan⸗
flalt Erziehungsftaat wird, hört fie auf, Zwangsanſtalt zu fein,
und nähert ſich dem Vernunftreiche. Dieß ift der Grundgedanke
der neuen Staatölehre, die darin mit den Reden an die deutſche
Nation und den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters völlig
übereinftimmt *).
Staatslehre u. |. m. (1813), III Abſchn. Neue Welt, S. 520
—600, gl. Grundzüge des gegenw. Beitalterd, Vorl, XIIT— XIV.
"Neben an die beutfihe Nation. VI. VII. X. Bol, Bud IV dieſes Bd.
Gap. V. 6.892897, VII. 6. 9454-950. VIII. 6. 975—977.
Zwölftes Capitel,
Gefammteinheit und Chorakterifiik der ſichte ſchen Lehre.
Giſſenſchaftslehre. 1806.)
L
Sefammteinheit.
1. Charakteriſtik der neuen Darftellung der
Wiſſenſchaftslehre.
Die Wiſſenſchaftslehre in ihrem allgemeinen Umriſſe aus dem
Jahr 1810 gilt und als die ſicherſte und gewiſſermaßen einzige
Urkunde ber neuen Entwicklungsform. Diefes ift ihr Grundge—
danke und ihre Summe: alles objective Sein ift im Wiffen be:
gründet, das Wiffen felbft im abfoluten Sein (Gott); alle Welt:
vorftellung (ale Erſcheinungen des Bewußtſeins) find Objectivi-
rungen des Wiſſens, das Wiffen felbft ift unmittelbare Aeuße—
rung (Bild) Gottes; das Bewußtſein ift der Durchgangspunkt
und Uebergang vom abfoluten Sein zum obiectiven oder, was
daffelbe heißt, vom realen Sein zum vorgeftellten. Das Bewußt⸗
fein ift eine auf fich felbft veflectirende Thätigkeit; was ed tut,
das muß es zu einem Gegenftande feiner Reflerion machen, den
es wieder zum Gegenftande einer neuen Reflerion macht. Die
Refleriondform ift feine Grundform. Jedes Reflerionsprobuct ift
Bild und Bild des Bildes. Darum ift innerhalb der Reflerionds
1052
formen, innerhalb alfo des Bewußtfeind, innerhalb der Vorſtel⸗
lungen und der Erfcheinungdwelt nichts an ſich Reales, fondern
lauter „Bildweſen“. Entweder alfo giebt ed überhaupt Fein rea⸗
les Sein, ober es ift unabhängig von aller Reflerionsform, von allem
Bewußtfein; entweder ift das reale Sein gar nicht, ober es iſt
abfolut, lediglich aus und durch fich felbft. Nun ift alles Be
wußtfein und ale Reflerion relativ, fie bezieht ſich auf eine ihr
vorausgeſetzte Thätigkeit (in Reflerion auf welche fie entfteht), diefe
Grundthatigkeit ift als Reflerion wieder bezogen auf eine ihr vor-
auögefeßte, und fo fordert dad Bewußtſein, um überhaupt fein
zu können, in letzter oder erfter Inſtanz eine Grunbthätigkeit, die
nicht wieber in einer Neflerion, nicht wieber in einem Bewußt⸗
fein gegründet fein kann, fondern im Sein felbft, im Sein, das
ſchlechtweg aus ſich iſt, im abfoluten Sein oder Gott, unmittel-
bar in ihm begründet, unmittelbare Folge Gottes, Aber wir
dürfen nicht fagen: Got macht biefe auf fich refletirende Thaͤ—
tigkeit, denn er würde dann felbft eine folche Thätigkeit fein, er
würde felbft in die Reflerionsform eingehen, und die Reihe ber
. Reflerionen würbe ald göttliches Bewußtfein von neuem beginnen,
das Bewußtfein und damit dad Bildwefen würde unter neuem
Namen fein altes Spiel von vorn anfangen, und es gäbe fein
reales Sein als ſolches. Daher ift dad Bewußtfein zwar unmittel⸗
bare Folge Gottes, aber nicht deffen Wefen und That, fondern
nur fein Bild oder Schema. Nicht Gott macht fein Bild, fon-
bern das Bewußtfein ift und macht ed; Bild Gottes zu fein, ift
fein Vermögen, feine Thätigkeit, feine Aufgabe. Nicht Gott
macht dad Bewußtſein, fondern dieſes vollzieht fich felbft. Der
möge ber bloßen Reflerion Tann eö feine eigene Thätigkeit immer
nur abbilden und in-Bildivefen verwandeln; es Tann daher ver:
möge ber Reflerion dad Bild Gottes nicht fein, fondern fih
1053
höchſtens ald folches wiffen d. h. Bild des Bildes fein und- wie-
der Bild vom Bilde des Bildes. Die Neflerion verwirklicht das
Bild nicht, fondern entfernt ſich davon, fie Bann daher die Aufs
- gabe des Bewußtſeins nicht löfen, bie reale Beftimmung deſſel⸗
ben nicht erfüllen.
Um daher Bild Gottes zu fein, muß das Bewußtſein die
Reflerionsform fallen laffen. Wenn wir aber vom Willen die
Refleriondform abziehen, fo bleibt die Grunbthätigkeit übrig, wel⸗
he unmittelbar dad Bild Gottes zu verwirklichen ſtrebt. Dieſes
aus ſich felbft thätige Sein nennt Fichte „Eeben”. Man kann
Das Bild Gottes nur fein, wenn man ed lebt. Dieſes lebendige,
fich felbft treibende Vermögen, dem das Bild Gottes als fein Ziel
und Endzwed unmittelbar einleuchtet (dieſes Ich, welches weiß,
was es ſoll) nennt Fichte „Wille“. Der feiner. ewigen Beftim-
mung gewiffe und in ihr ruhende Wille ift das unmittelbare Bild
Gottes, er ift Bild des göttlichen Seins, er ift ſeliges Leben*).
Der Wille fordert die Einficht der ewigen Beflimmung, er
muß erleuchtet fein von dem Soll, er muß unmittelbar wiffen, -
was er foll, er fordert daher dad Wiſſen, dad Bewußtſein. Um
aber Wille in diefem Sinne zu fein, dazu ift nöthig, daß wir
die Nichtigkeit der Refleriondformen burchfchauen ; um dieſe Nich⸗
tigkeit zu durchſchauen, müffen. die Refleriondformen in ihrer
Nothwendigkeit gefegt und entwidelt werden. Dieß gefchieht in
der nothwenbigen Entwicklungsgeſchichte des Bewußtſeins. Die
Einficht in diefe nothwendige Entwicklungsgeſchichte giebt die Wif-
fenfchaftslehre ,. fie begründet. dadurch und nur dadurch ‚die Ein-
ficht in die Nichtigkeit jener Nefleriondformen, und fie begründet
durch diefe Einficht und nur dadurch die „Lebenslehre“.
*) gl. ob, S 1023, unt, ©, 1034,
1054
2. Die Identität der alten und neuen Lehrform.
Vergleichen wir jest die Wiffenfchaftslehre in ihrer neuen
Entwicklungsform, wie fie der allgemeine Umriß vom Jahr 1810
und dargelegt hat, fo liegt die Uebereinftimmung mit der Reli⸗
giondlehre, wie fie Fichte in den Anweifungen zum feligen Leben
entwidelt, Har am Tage.
Vergleichen wir fie mit der erflen Entwidiungsform der
Wiſſenſchaftslehre, fo leuchtet ein, daß bie urfprüngliche Lehre
in der neuen Form vollkommen biefelbe geblieben ift: — nämlich
bie Einfiht in die Entwicklungsgeſchichte des Bewußtfeins, in
die nothwendige Reihe feiner Reflerionsformen. An diefem Cha-
rakter, in dem bie Wiſſenſchaftslehre beſteht, ift nicht das
Mindefte geändert. Hier ift, abgefehen von den Worten, den
Wendungen und der Darſtellungsart, nicht einmal eine fchein-
bare Differenz. Und wo die Differenz zu fein fcheint, in dem
Fortfchritt von der Wiffenfchaftölehre zur Lebenslehre, da ift fie
in Wahrheit nicht wirklich, denn dieſer Zortfchritt ift fo alt, als
die Entwidlungsgefchichte der Wiffenfchaftslehre felbfl. Oder
meint man, Fichte habe je die Refleriondformen und deren Pro-
ducte für Dinge an fich gehalten; er habe je bezweifelt, daß es
ein abfolutes Sein, ein wahrhaft Seiendes gebe; er habe biefes
Sein je wo anders gefucht, ald im Grunde und in der Wurzel,
in ber Urbebingung alles Bewußtfeind, da er doch von vornher⸗
ein wußte, daß es unter ben Objecten des Bewußtfeind nie
gefunden werben Fönnte, da er doch ſchon in der erflen Grund:
lage ber Wiflenfchaftslehre gezeigt hatte, wie alle jene Objecte,
die und als gegeben erfcheinen, notwendige Producte der Ein:
bildung find? -
As Fichte das Ich zum Princip der Wiffenfchaftölehre machte,
1055
war er darüber vollkommen im Klaren, daß dieſes Ich als ſub⸗
jectives Bewußtfein in der Reflerionsform (Trennung von Sub:
ject und Object) beftehe, Durch diefe Reflerionsform gebrochen und
in eine endlofe Reihe von Reflerionen aufgelöft werde, daß ed in
nichts zerfließe. Man vergeffe nicht, mit welcher Klarheit Fichte
diefen Sag entwidelt hat in jenem Verſuch einer neuen Darftels
lung der Wiffenfchaftslehre, den er in demfelben Jahre fchrieb,
als feine beiden Einleitungen in die urfprängliche Wiflenfchafts:
Lehre felbft. Es ftand fchon damals feſt: entweder ift dad Ich
nichtig, ober es ift die abfolute Einheit von Subject und Object,
es ift deren unmittelbare Ipentität. Unmittelbar ift diefe Iden⸗
tität, weil refleriondlos, weil durch Feine Reflexion getrennt,
weil von aller Reflerion unabhängig. Unabhängig von aller Re
flerion ift allein dad wahrhaft wirkliche, abfolute Sein, welches
durch fi iſt. Dieſes Sein ift eined mit jener Identität, und
wenn Fichte beide unterfcheidet, fo gefchieht ed nur darum, weil
der Begriff der Ioentität noch den einer Beziehung in fich fchlies
Ben könnte, die ber Begriff bed abfoluten Seins völlig aus⸗
fchließt, weil Ipentität nach Tantifhem Sprachgebrauch noch
Reflexionsbegriff ift.
Das Ich Tann nicht gefegt werben ohne ein abfolutes Sein,
dad ihm unmittelbar zu Grunde liegt. Diefer Gedanke verändert
an ber Wiflenfchaftölehre felbft gar nichts, er iſt auch ihrer ur
fprünglichen Form keineswegs fremd. Dad Ich muß daher ge:
fegt werden ald bie abfolute Erſcheinungsform des abfoluten Seins,
als Bild oder Schema Gotte. Der Begriff des abfoluten Seins
oder des Abfoluten ſchlechtweg ift daher in der Wiſſenſchaftslehre
feine dogmatifche, fondern eine Fritifche Beftimmung, denn es
iſt gefegt in Rüdficht auf das Ich, als deffen nothwendige Urs
bedingung, ohne welche dad Ich nicht fein Tönnte, es ift nichts
1056
anderes als das von aller Reflerion unabhängige Sein des Ich
felbft, das Ich, nicht ald Reflerion, fondern als urfprünglices
und abfolutes Leben.
I.
Fichte's Selbſtcharakteriſtik.
Bericht Über die. Wiſſenſchaftslehre aus dem Jahr 1806.
1. Anti-Schelling.
Hören wir jebt Fichte'S Zeugniß felbft über das Verhältnif
der neuen Darſtellung der Wiffenfchaftölehre in ihrem Verhaltniß
zur alten. Wir wiflen bereits, wie er in der Vorrede zu feiner
Religionslehre ausdrüdlich erflärte, daß ſich feine urſprüngliche
Lehre in keinem Stücke geändert habe, daß die Lebenslehre deren
hellſter Gipfel und Lichtpunkt ſei. In demfelben Jahre (1806),
als er die Anweifungen zum feligen eben herausgab, ſchrieb er
den (aus feinem Nachlaß veröffentlichten) „Bericht über den Be:
‚griff der Wiſſenſchaftslehre und deren bisherige Schickſale“. Nir:
gends hat ſich Fichte fo deutlich und unummunden über dad Ver:
haltniß ber beiden Entwicklungsformen ber Wiſſenſchaftslehre, ni:
gends fo wegwerfenb und leidenſchaftlich verblendet gegen bie ſchel⸗
ling'ſche Naturphilofophie auögefprochen ald in diefem Berichte.
Hier behandelt er Schelling nicht bloß ald einen zweiten Nikolai,
er nennt ihn auch fo. Daß Schelling der Wiffenfchaftslehre
„Subjectivismus“ vorgemworfen,. erfcheint ihm als der gröbſte Un:
verftand, ald das niebrigfte Mißverfländniß; ed war der Bor
wurf, daß Fichte dad fubjective Ich zum Princip gemacht habe.
Daß die Naturphilofophie die Sinnenwelt unabhängig vom fub:
jectiven Bewußtfein und vom Wiffen überhaupt nehme und ald
Ding an ſich behandle, erklärte Fichte für abfolute Unphilo:
fophie und Antiphilofophie. Er will in dem Philofophen Schek
1057
ling ein Beifpiel „der allgemeinen Schlaffheit und Geiftiofigkeit
des Zeitalter8”, einen Repräfentanten der allgemeinen Seichtig-
keit“ hinſtellen, ähnlich wie er ed fünf Jahre vorher mit Nikolai
gethan hatte. Daß Schelling in feiner legten Schrift „Philofos
phie und Religion“ (1804) den Hervorgang der endlichen Dinge
aus dem Abfoluten als Abfall betrachte, darin zeige fich jener
alte und veraltete bogmatifche Dualismus, der die Materie für
ein Ding an ſich halte und in der Wurzel materialiftifch gefinnt
feiz fo fei die ganze fogenannte Naturphilofophie in ihrem letzten
Grunde nicht weiter als „ftodgläubiger Empirismus“ nach dem
Vorbilde Nikolai's. Mit diefem Syſtem vertrage fich weder Gott
noch Moralität. Er fage das zur Charakteriſtik eines ſolchen
Syſtems, nicht ald Gefinnungsvorwurf gegen bie Perfon des Phi:
lofophen. Daß Schelling die Erkenntniß der Einheit alles Seins
mit dem göttlichen Sein fuche, fei eine löbliche Abficht, die Fichte
ebenfalld habe, nur fei der Unterfchied, daß er leifte, was jener
nicht leiften Tönne, fondern nur daran herumrede, „Und fo
werfe ich ihm denn,“ fchließt die kategoriſche Erklärung „als Phi⸗
loſophen ganz und unbedingt weg, und ald Künfter erfenne ich
ihn für einen der größten Stümper, die jemald mit Worten ge:
ſpielt haben*).”
2. Wiffenfhaftslehre und Lebenslehre.
Fichte firirt hier den Begriff der Wiffenfchaftölehre genau fo,
wie wir von Anfang an dad Problem berfelben beftimmt. Sie
*) Bericht über ben Begriff ber Wiſſenſchaftslehre und deren bisherige
Schickſale. (Geſchr. 1806.) Cap. IL. S. W. III Abth. III 36,
&.384—407. Vol. damit „Bemerkungen bei ber Lectüre von Schel⸗
ling's tranafe. Idealismus.“ (1801.) „Zur Darftelung von Schelling's
Hoentitätsfgftem in ber Zeitfchr. für fpecul, Phyſit.“ Nachgel. W. III BD,
6. 368—389.
Fifher, Gefhläte der Phltofophie V. 67
1058
habe bie durch Kant's Entdeckungen an die Menfchheit geftellte
Aufgabe ergriffen und gelöſt. Kant's Ausführung fei hinter der
Aufgabe zurüdtgeblieben und konnte das Ziel nicht erreichen, denn
er habe die Vernunftvermögen nur inbuctiv hergeleitet, in ver-
ſchiedene Zweige gefpalten und nicht in ihrer abfoluten Einheit
erfaßt. Die Bernunftgefeße zu deduciren, durch eine wahre De:
duction aus der Urquelle zu erfchöpfen und ald das, was fie find,
darzulegen: barin habe die Aufgabe und Leiftung der Willen:
ſchaftslehre befanden. Sie durchſchaute und ließ durchfchauen
die Nichtigkeit aller Producte der Reflerion, bie
das Grundgefeg des Wiſſens ausmacht. Wenige nur erfannten
diefen Geift der Wiffenfchaftölehre und meinten jetzt, fie müſſe
eben darum falfch fein, weil fie alle Realität auflöfe, und eine
Realität denn boch fei und fein müfle. Auch könne die Wiffen-
ſchaftslehre felbft nicht umhin, eine Realität anzuerkennen, indem
fie „ein fubiectiveösobjectived Sein, ein wirkliches und concret
beſtehendes Ich” ald Ding an fich vorausſetze. Diefe Auffaffung
habe die Wiſſenſchaftslehre wirklich verfälfcht. Die Einen fan-
den in ihr gar nichts Reales, die Anderen fuchten es, wo es un:
möglich fein Ponnte, nämlich innerhalb der Reflerion. „Das
Yublicum,” fagt Fichte, „will Realität, daſſelbe wollen auch
wir, und wir find hierüber mit ihm einig. Die Wiſſenſchafts⸗
lehre hat den Beweis geführt, daß die in ihrer abfoluten Einheit
erfaßt werben könnende und von ihr alfo erfaßte Reflerionsform
feine Realität habe, fondern lediglich ein leeres Schema fei, bil:
dend aus fich felber heraus durch ihre gleichfalls vollſtandig und
aus einem Princip zu erfaffenden Zerfpaltungen in ſich felbft
ein Syftem von anderen ebenfo leeren Schemen und Schatten,
und fie ift gefonnen, auf diefer Behauptung feft und unmandels
bar zu beftehen.” Das Publicum Eennt die Realität nur in der
1059
Reflerionsform, daher glaubte es durch bie Miffenfchaftslchre
"le Realität vernichtet. Sollte diefem Publicum geholfen
ssappy fo müßte man vor feinen Augen bie Form, in ber es
“ibt, ablöfen und nun zeigen, „baß zwar feine Reas
‚3 aber alle Realität vernichtet fei, fondern daß
we der Form und nach ihrer Zerftörung erft die
vealität zum Worfchein komme. Diefed letztere ift
an ·cdeid ‚ge Aufgabe, welche wir zu feiner Zeit durch eine neue
zlichft freie Vollziehung der Wiſſenſchaftslehre in ihren
und tiefſten Grundlagen zu löfen gebenten.” Er habe,
asp Fichte fort, feit lange das Werfprechen einer neuen. Dar
\ un ng der Wiffenfchaftslehre gegeben. Eine ſolche Arbeit würde
" Erfüllung jenes Verſprechens fein. Indeſſen habe er fidh dies
10 Pußerfprechend fchon längft entbunden und fchiebe die Erfüllung
aagnsmweiter hinaus, weil ihm immer beutlicher geworden, „baß
An alte Darftellung der Wiſſenſchaftslehre gut
Ind vorerft ausreichend fei”. „Da ich foeben die ehes
malige Darftellung der Wiffenfchaftölehre für gut und richtig er⸗
Härt habe, fo verfteht es fih, daß niemals eine andere
Lehre von mir zu erwarten ift, ald die ehemals an
das Yublicum gebrachte. Das Wefen der ehemald dar
gelegten Wiſſenſchaftslehre beftand in der Behauptung, daß die
Ichform oder die abfolute Reflerionsform der Grund und bie
Wurzel alles Wiffend fei, und’ daß lediglich aus ihr heraus alles,
was jemals im Wiffen vorfommen könne, fo wie ed in demſel⸗
ben vorkomme, erfolge.” „Diefen Charakter wird ber Leſer in
allen unferen jegigen und fünftigen Erklärungen über Wiffen:
ſchaftslehre unverändert wiederfinden *).”
_ Bier Jahre fpäter erfüllte Fichte den Grundzügen nach je⸗
y Chenbafelbft I Cap. S. 361—369,
- u
0”
Jpung
67*
1060
ned Verfprechen, von dem er hier fagt, daß es Faum noch erfült
zu werben brauche, weil ed eigentlich ſchon gelöft ſei. Er ent:
warf die neue Darftelung ber „Wiffenfchaftölehre in ihrem all⸗
gemeinen Umriß“. Sie gilt ihm nicht ald eine neue, fondern
ald eine mit der alten völlig identifche Lehre. Nachdem biefe
gezeigt hat, was dad Reale nicht ift, fo leuchtet unmittelbar
ein, was das Reale iſt. „Sollte ſich,“ fagt Fichte in dem Be
richt vom Jahr 1806, „die Ichform Elar durchdringen laffen, fo
würden wir einfehen, was an und und unferem Bewußtfein le
diglich aus jener Form erfolge, und was fomit nicht reines, fon:
dern formirted Leben fei, und vermöchten wir nun dieſes von un:
ferem gefammten Leben abzuziehen, fo würde erhellen, was an
und ald reines und abfoluted eben, was man gewöhnlich dad
Reale nennt, übrigbleibe. Es würde eine Wiffenfchaftslehre,
welche zugleich die einzigmögliche Lebenslehre ift, entftehen*).”
Diefe Lebenslehre gab Fichte in demſelben Jahre, ald er den
Bericht fehrieb. Es waren die Anweifungen zum feligen Leben.
Die Wiffenfchaftölehre, welche die Lebenslehre in fich begreift,
indem fie in der „Weisheitslehre“ gipfelt, gab er vier Jahre fpd:
ter in ihrem allgemeinen Umriß.
*) Ebendaſ. I Cap. Zur vorläufigen Erwägung. S. 369—371.
Dreizehntes Kapitel,
Gefammtrefultat und Kritik.
(Wiffenfhaftstehre. 1801.)
L
Summe,
Die Gefammteinheit der fichte'fchen Lehre in ihrem ganzen
biftorifchen Umfange ift aus der volftändigen Entwicklung berfel:
ben feftgeftelt, in Uebereinftimmung mit Fichte'd eigener Anſicht
und den auöbrüdlichen Erklärungen, bie er wiederholt darüber
abgegeben hat. Man darf diefe Sache nicht aus vereinzelten, da
oder dort aufgelefenen Ausfprüchen beurtheilen, aus deren Wort:
laute man leicht eine Menge Widerfprüche zufammenfegen Tann,
die alles verwirren; am wenigften barf man ſich an den Buch⸗
faben der nachgelaffenen ffizzirten Vorlefungen halten, in denen
Fichte den Zuhörern gegenüber unaufhörlich nach Klarheit ring,
jeßt verfichert, daß er in diefem Ausdruck die höchfte Klarheit ers
veicht habe, jetzt verfpricht, die Sache werde an einem anderen
Ort erft zu völliger Klarheit kommen, fortwährend mit dem Ver⸗
ftändniffe erperimentirt und häufig der didaktifchen Wendung zu
Liebe das Licht dergeftalt auf einen einzelnen Punkt zufammen-
sieht, daß ſich die übrigen darüber verdunkeln. Ueberhaupt. lei⸗
den diefe Borlefungen an einem Mangel der den Leſer leicht er:
müden und ungeduldig machen Tann: fie rücken kaum von ber
1062
Stelle und wiederholen immer wieder an demfelben Punkt das
Experiment des Klarmachend, zum vermeintlichen Beſten de Zu:
börerd, häufig zum Nachtheil der Sache. Nirgends hat Fichte
feiner Meifterfchaft im Lehren fo fehr im Wege geftanden, ald in
biefen fpäteren Vorleſungen über die Wiffenfchaftslehre, die er
felbft gewiß niemald in der Form herausgegeben haben würde,
in der wir fie jest Iefen. Dieß gilt befonberd von den Vorle-
fungen aus dem Jahr 1804. Seine ganze Lehre war in ihm
ſelbſt fo völlig Anſchauung und Leben geworden, daß fie anfing
dem abftracten Lehrvortrage zu widerftreiten, daß ihm felbft der
ſprachliche Ausdrud, der die Zeichen abgelöfter und todter Be—
griffe an die Stele der ganzen und lebendigen Anfchauung ſetzt,
ald eine Ertöbtung ber Iegteren erſchien. Er fühlte, daß man
feine Anfhauungsweife haben und in ihr leben müffe, um feine
Worte zu verftehen. So fagt er einmal in feinen patriotifchen
Geſprachen: „die Sprache liegt in ber ‚Region der Schatten.
Was ich daher auöfpreche, ift nie meine Anſchauung felber, und
nicht da, was ich fage, fondern das, was ich meine, ift unter
meinem Auöbrude zu verftehen‘).” Seine Einleitungsvorlefuns
gen im Herbft 1813 beginnt er mit der Erflärung, die Wiſſen⸗
ſchaftslehre fege einen „neuen und befonderen Sinn“ voraus, den
fie zur Anſchauung der Freiheit und des Lebens jenfeitd aller Na:
tur erheben wolle, fie fordere und entwidle den Sinn für ben
Geiſt, das Sehen des Geifted, die Anſchauung bed Schaffens
uff”). Es iſt diefelbe Wiſſenſchaftslehre, von der Fichte
noch im fonnenklaren Berichte gefagt hatte, fie verhalte fich zu
ihrem Object (dem wirklichen Bewußtfein), wie die Demonftra:
tion, eines Uhrwerks zur wirklichen Uhr. Je mehr-aber die Wif-
Nachg. Werte. III Bd. ©. 258,
**) Einleitungsvorleſg. in die Wiſſenſchaftslehre (1818). Nachgel.
W. I, 6.1—23,
1063
ſenſchaftslehre Lebenslehre fein will und in ihrer Vollendung mit
dem religiöfen Leben felbft zufammenfällt, um fo ſchwieriger wird
ihr das Eingehen in bie demonſtrative Form der Entwidlung.
" Ihre ganze Summe liegt in dem Sat: alles objective Sein —
Erſcheinung oder Bild des Wiſſens (Sehens); das Wiffen felbft =
Erſcheinung oder Bild des abfoluten Lebens. „Dieß ift nun das
abfolut Neue unferer Lehre,“ fo- lautet einer der legten Säße je:
ner legten Einleitungsvorlefung in die Wiffenfchaftölehre, „dieſes
Dreifache, daß der abfolute Anfang und Träger von allem reines
Leben fei, alles Dafein und alle Erſcheinung aber Bild oder Se:
hen dieſes abfoluten Lebens fei, und daß erft dad Product dieſes
Sehens fei die objective Welt und ihre Form*).” Die objeetive
Welt ift nichts als Erfcheinung, fie ift durchgängig phänomenal,
ihr Grund und Träger ift das Wiſſen; dad Wiffen ift nichts
als Erſcheinung, ed ift durchgängig. phänomenal, fein Grund
und Träger ift dad abfolute Sein (Gott). Vergleichen wir mit
diefer Summe die beiden Entwicklungsperioden ber Wiſſenſchafts⸗
lehre, fo erleuchtet die erfte vorzugäweife den phänomenalen Cha=
rakter ber Welt, und die zweite vorzugämeife den phänomenalen
Charakter des Wiſſens; wir haben gezeigt, wie von dem erflen
Gliede notwendig und ohne Abbruch fortgefchritten werden muß
zum zieiten, und dieſes fchon enthalten und mitgeſetzt ift in je⸗
nem. So laffen fich in der fürzeften Formel die beiden Entwick-
lungsperioden unterfcheiden und verfnüpfen. Diefe Formel er:
leuchtet ihre Eigenthümlichkeit und zugleich. ihre innere Einheit.
IL
Ungelöfte Probleme,
1. Wiſſen und Welt. Das naturphiloſophiſche Problem.
Sind nun die beiden Grundaufgaben, in denen die gefammte
*) Ebendaſelbſt. Nachgel. W. J Bd. S. 101.
1064
fichte ſche Lehre beftcht, auch wirklich gelöft? Die erfte betrifft
die Begründung ber objectiven Welt aus dem Wiſſen (Freiheit),
bie zweite die Begründung des Wiffend aus dem Abfoluten (Gott).
Was dad Bemwußtfein felbftthätig erzeugt, das läßt ſich aus
ihm ableiten und begründen: das Reich der bemußten Zwecke,
ber freien Handlungen, bie fittliche Welt. Diefes Gebiet liegt
im Erleuchtungöfreife der Wiffenfchaftölehre, und die letztere fins
det daher auch in ber Sittenlehre ihr eigentliches heimifches Ele-
ment. Anders dagegen verhält es fich mit dem Inbegriff derjeni⸗
gen Erfceinungen, welche dad Bewußtfein genöthigt ift ald vor⸗
gefunden und gegeben zu betrachten, nicht als fein Product, fon
dern als fein Object: mit der Natur und Sinnenwelt. Die
Wiſſenſchaftslehre will dad Syſtem unferer nothwendigen Vor⸗
ſtellungen, den Inbegriff unſerer Erfahrungsobjecte ableiten, fie
will diefelben vor dem geiftigen Auge entfliehen laffen. Die Na—
tur ift dieſes Syſtem nothwendiger Vorftellungen. Daher ent
hält die Aufgabe der Wiſſenſchaftslehre dad Problem einer Nas
turphilofophie als unerläßlichen Beftandtheil. Nun hat die Wiſ⸗
fenfchaftsiehre ein Syſtem der Naturphilofophie nicht gegeben, fie
bat diefen Theil ihrer Aufgabe materiell nicht gelöfl. Es wäre
zu viel gefagt und falfch, wollte man daraus fchließen, daß fie in
Betreff des Naturbegriffs nichts geleiftet habe. .
Was fie in diefer Rüdficht geleiftet Hat, läßt fih auf fol⸗
gende Punkte zurüdführen. Nehmen wir die Natur ald Kör-
perwelt in Raum und Zeit, fo bat die Wiffenfchaftölchre Raum
und Zeit aus dem theoretifchen Ich als nothwendige Anſchauung,
fie hat den Raum ald unmittelbare Selbftanfhauung des Wiſ⸗
ſens dargethan, fie hat das raumerfüllende körperliche Dafein
(Materie) ald nothwendigen Widerftand aus dem praktifchen Ich
(Streben) abgeleitet. Nehmen wir die Ratur als finnliche Welt,
1065
fo fteht fie unter der Bebingung der Empfindung und Wahrneh:
mung, unter der Bedingung des finnlichen Ich; die Wiſſenſchafts⸗
lehre hat aus dem theoretifchen Ich die Nothwendigkeit der Em:
pfindung und Wahrnehmung, fie hat aus der Freiheit und deren
Einfhräntung die Nothwendigkeit des Börperlichen, leiblichen,
finnlichen Ich deducirt. Sie hat aus dem fittlichen Ich ald eine
elementare Bedingung deſſelben die Nothwendigkeit des Triebes
bewieſen, der, unabhängig von aller Reflexion wie er iſt, fein
Freiheitöproduct, fondern nur Naturproduct fein könne, darum
eine Natur ald organifches Spftem, ald organifirendes Ganzes
fordere. Nehmen wir endlich die Natur im Ganzen ald dad
Reich bewußtlofer Thätigkeit, fo hat die Wiffenfchaftslehre auf
das Klarfte bewiefen,. wie dad Bewußtfein in fich felbft eine
Grundthätigkeit vorausfege, in Neflerion auf welche es erft ent⸗
fteht, die darum nothwendig bewußtlofe Thätigfeit, bewußtloſes
Bilden fein müffe, deffen Producte ald Objecte von außen er=
ſcheinen und dem bewußten Ich als wirkſames (reales) Nicht-Ich,
ald Natur entgegentreten. Kein vorftellendes Ich ohne Raum
und Zeit, fein ftrebended Ich ohne widerftrebendes Nicht: Ich,
ohne fremde Körper, kein freies Ich ohne eigene finnliche Indie
vidualitat, Fein fittliches Ich ohne Naturtrieb, Fein Naturtrieb
ohne organifched Naturfyftem, ohne organifirende Natur; Fein
Bewußtfein überhaupt ohne bewußtlos producirende Einbilbung,
ohne Naturproduction *).
Es Hieße daher von der Wiſſenſchaftslehre in Wahrheit nichts
wiffen (außer etwa durch gedankenlofes Hörenfagen), wollte man
*) Bol. Buch III dieſ. Bandes Cap. V. ©. 534—537. Cap. VI.
6.556566. (Bud IV. Cap. II. S. 831—834); Buch III. ur
VID. &.600—607, Cap. ZI. &,700— 708, Bud. IV. Cap. XI.
S. 1040 flgb.
1066
meinen, ihr Princip fei naturlos, fie habe den Zuſammenhang
zwifchen Ich und Natur ganz außer Acht gelafien und den Na—
turbegriff gar nicht berührt, Sie hat die Natur im Ich begrif-
fen und aus ihm die Nothwendigkeit derfelben bewieſen. Bäre
die Natur ein von dem Ich und allem Bewußtfein unabhängiges
Ding an fih, fo wäre Vorſtellung und Inteligenz, Bewußtſein
und Ich unmöglih. Das Bewußtſein ift und gilt in Ruckſicht
auf die Natur oder objective Welt ald nothwendiges Prius. Un:
möglich ift daher die Natur ald Ding an fih. Nothwendig alfo
muß fie gefaßt werben ald Object und Product ded. Bewußtſeins.
Nun wirkt die Natur im Unterſchiede vom Ich bewußtlos, fie
wirkt nicht ald Ich, fondern ald Nicht: Ich. Soll daher die Na-
tur möglic) fein, fo muß es im Ich bemwußtlofe Production ge
ben, ein Nicht: Ich, welches nicht jenfeits des Ich ift, fondern
von der Sphäre beffelben umfaßt wird, alfo emen Theil ober
ein Quantum deö Ich bildet, Fein ertenfived Quantum, fondern
ein intenfived (Thätigleitöquantum), eine Potenz (Grad) des Ich,
mit einem Worte: ein Nicht:Ich, welches noch nicht Ich ift: ein
werdendes Ich. Diefe bewußtloſe Thätigkeit hat die BWiffen-
ſchaftslehre als productive Einbildung aus den Bedingungen des
Ich, diefes Nicht: Ich hat fie aus der Quantitätsfähigkeit ( Theil⸗
barkeit) des Ich deducirt. „Licht und Finſterniß,“ fagt fie an
der einfchlägigen Stelle, „find überhaupt nicht entgegengefeht,
fondern nur den Graden nach zu unterfcheiden. Finſterniß ift
bloß eine fehr geringe Quantität Licht. Gerade fo verhält es ſich
zwifchen dem Ich und dem Nicht:Ich*).”
Der Begriff der Natur ald des werdenden Ich ift durch die
Wiſſenſchaftslehre nicht bloß gefordert, fondern ausdrücklich ges
fegt. Die Erleuchtung der Naturerfheinungen aus biefem Be—
*) Vol. oben Buch III. Cap. IV. &,517flgb.
1067
geiff iſt die Aufgabe einer Naturphilofophie, deren Löfung die
Wiſſenſchaftslehre nicht felbft gegeben hat, aber ald nächften Fort⸗
ſchritt verlangt. Die Natur will fo erflärt werden, daß aus ihr
felbft die Möglichkeit ihrer Objectivität und Exkennbarkeit, die
Möglichkeit einer Naturwiffenfchaft einleuchtet. Das fordert die
kritiſche Philofophie; die Grundlage dieſes Naturbegriffs giebt
die Wiffenfchaftölehre; den erften Verſuch einer ſyſtematiſchen Lö⸗
fung der darin enthaltenen Aufgabe macht Schelling. Wie
es kam, daß Fichte diefen Fortfchritt gänzlich verfannte, weil er
Die ſchelling ſche Lehre bloß ald Naturphilofophie und diefe ledig⸗
lich ald Dogmatismus anfah, ift eine Frage, auf die wir jetzt
nicht eingehen können, weil ihre Beantwortung das Syſtem
Schelling's vorausſetzt.
Ber die Natur fo erklärt, daß daraus die Unmöglichkeit er⸗
belt, fie überhaupt zu erklären, zu erkennen, zu wiſſen; wer
die Natur fo faßt, daß diefe Natur jede Art der Naturwiffen:
ſchaft unmöglich macht, der hat den Beweis in der Hand, daß
er fi im Principe geiret hat. An diefem Punkte fcheitert jeder
Dualismus, jeder Materialismus. Won hier aus erleuchtet ſich
für jedes Auge, das fehen will, die Nothwendigkeit der Wiſſen⸗
ſchaftslehre und einer auf fie gegründeten Naturphilofophie.
Unmittelbar gewiß kann und nur die eigene Thätigfeit und
deren Product fein. Die außer und befindliche Erſcheinungswelt
(Sinnenwelt, Natur) ift und unmittelbar gewiß. Sie könnte
es nicht fein, wenn fie nicht Ausbrud und Product der Thatig⸗
keit wäre, bie wir felbft find, wenn nicht die Natur Ich, und
das Ich Natur wäre. Sie muß jenes (unmittelbar gewiß) fein,
da fie diefes ift. Der Realismus fußt auf dem Sat von der
unmittelbaren Gewißheit des Dafeind der Außenwelt, der Rea⸗
lismus fehe zu, welches Syſtem im Stande ift, dieſen feinen
1068
Sat zu rechtfertigen; er ſelbſt mit feinen gewöhnlichen Begriffen
gewiß nicht, ebenfowenig der Dualismus, ebenfo wenig der Ma:
terialismus; nur die kritiſche Philofophie und die Wiſſenſchafts⸗
lehre vermag den Realismus in feinem Fundament zu beglaubi-
gen. Nur fie ift in diefer Rüdficht wahrhaft realiſtiſch. Wäre
die Natur, wie der fogenannte Realismus will, ein vom Be
wußtfein vöNig unabhängiges Ding an fich, wie folte ihr Dafein
dem Bewußtſein unmittelbar einleuchten?
„Dieß,“ ſagt Fichte in feiner Darſtellung der Wiffenfchaft-
lehre vom Jahr 1801, „ift der wahre Geift des trandfcendentalen
Idealismus. Alles Sein ift Wiffen. Die Grundlage des Uni:
verfums ift nicht Ungeift, Widergeift, deffen Verbindung mit
dem Geifte fich nie begreifen ließe, fondern felbft Geiſt. Kein
Tod, keine leblofe Materie, fondern überall Leben, Geift, In-
telligenz: ein Geifterreich, durchaus nichts anderes“).“ Und in
den Einleitungsvorlefungen vom Jahre 1813 heißt ed von dem
„gegebenen Sein”, welches dem äußeren Sinn ald Sein an fi
erfcheintz „es wird erblickt nicht in feinem Sein, fonbern in ſei⸗
nem Werden und Entfiehen aus einem Anderen, weldyes in
ihm nur gebunden und gefeffelt ift, in welcher Gebundenheit, die
bier offenbar wird, eben dad Sein befteht. Alfo in diefer Ent-
ftehung des Seins wird gefehen nicht dad Sein, fondern das im
Sein Gebundene, ohrie Zweifel Freiheit, Leben, Geifl. Der
neue Sinn ift demnach der Sinn für den Geiſt; der Sinn, für
den nur Geift ift und durchaus nichtd Anderes, in dem auch
daB Andere, das gegebene Sein, annimmt die Form des Geiſtes
und fic) darein verwandelt, dem darum das Sein in feiner eige-
*) Darftellung der Wiſſenſchaftslehre (1801). I Theil 8.17. S.
W. IAbth, U Bd. ©. 35,
1069
nen Form in der That verfchwunden ift*).” Daß die Natur ber
mußtlofer oder gebundener Geift ſei, — diefe Grundanfchauung,
von der die fpätere Naturphilofophie lebt, — iſt nicht bloß eine
Folgerung aus der Wiflenfchaftölehre, fondern deren ausdrückliche
Erklärung, und zwar eine ſolche, in der alle Entwicklungsfor⸗
men berfelben übereinflimmen. Die Entwidlung diefed Natur:
begriffs zu einem Syſtem der Naturphilofophie, welches bie fich⸗
te ſche Wiflenfchaftölehre nicht giebt, ift daher eine nothwendige
Fortbildung der letzteren.
Diefen Naturbegriff gefest, fo leuchtet ein, wie dad Ich in
einer doppelten Bedeutung gelten muß, deren Nichtunterfcheis
dung von jeher das gröbfte Mifverftänbniß der Wiffenfchaftslehre
ausmachte. Das Ich gilt einmal ald das nothwendige Prius ber
Natur, als die Naturproduction felbft; es gilt dann als das
nothwendige Naturrefultat oder Naturprobuct, wodurch der Sag,
daß dad Ich fich felbft fegt oder aus fich felbft reſultirt, nicht
aufgehoben, fondern vielmehr beftätigt wird: es refultirt aus der
Natur ald aus feiner eigenen, immanenten Vorausſetzung. Fichte
felbft erflärt in feiner Sittenlehre, dad Ich als (reflerionslofer)
Trieb fei Naturprobuet, organifched Naturproduct, Gebilde ber
organifirenden Natur, leibliches finnbegabtes Individuum, dad
als Object des Selbftbewußtfeind das individuelle Ich ausmacht.
So weit das Ic Individuum iſt, gilt es ald Naturproduct, nicht
aber ald Naturproducent, und es ift der Wiffenfchaftölehre nie eins
gefallen, dad Gegentheil zu behaupten, welches abfurd wäre,
Auch wenn die Rechtslehre aus der Freiheit die Individualität
ableitet, fo gilt ihr bie letztere als Organ und nothwendige Be:
dingung zur individuellen (perfönlichen) Zreiheit, keineswegs aber
*) Einleitungsvorlefungen in bie Wiſſenſchaftslehre (1813), Nachg.
W. IB. 6,19,
1070
als deren Product, als ob das Ich ſich mit Reflerion und Will:
tür zum Individuum made. Ohne Natur wäre dad Indivis
duum, ohne Freiheit dad Ich unmöglich; das individuelle Ich
muß daher aus beiden abgeleitet werben, d.h. es folgt aus ber
Freiheit mittelbar (durch die Natur) ald Individuum und unmit-
telbar ald Ich. Das Ich ald Naturprincip ift demnach von
dem Ich ober, genauer gefagt, von dem Individuum ald Natur-
product genau zu unterfcheiden. Als Naturprincip-ift es (nicht
das individuelle, fondern) das allgemeine oder abfolute Ich, die
abfolute Freiheit, die Fichte auch Wiffen oder Sehen (Licht, Licht
zuftand) nennt, die fich abbildet als Natur, individuelles Ich,
Gemeine der Ich, Rechtöwelt, Vernunftreich und ſich vollendet
als veligiöfes Leben, indem es die Refleriondform fallen läßt und
damit die Trennung und Selbftheit überwindet. Nom Stand:
punkt des Individuums aus erfcheint bie Sinnenwelt als bad Ge⸗
gebene und Reale, die Natur ald dad wahrhaft Wirklihe; vom
Standpunkt des abfoluten Ich aus erfcheint fie ald Bild, als
Freiheitöprobuct, ald Mittel zur Verwirklichung der Freiheit, als
Schauplatz ber fittlichen, auf den Endzweck gerichteten Tätigkeit.
Aus dem Geſichtspunkte der Natur betrachtet, erfcheint das In:
dividuum als ein „organifches Naturprobuct”; aus dem Gefichts-
punkte des Endzwedes betrachtet, erfcheint. bad individuelle Ich
als „‚Probuct bed Endzweds“, als Glied einer fittlihen Weltord⸗
nung, als Erſcheinung einer beftimmten fittlichen Aufgabe. Auf
diefem Standpunkt ſteht die Wiſſenſchaftslehre. Aus dem Wil:
fen begründet fie die Erſcheinungswelt. Wie begründet fie das
Wiſſen? Das ift die zweite Grumbfrage.
72 Bein (Gott) und Wiffen.
Begründung des Wiffens aus dem Abfoluten. (Die Wiffenfchafteichre aus
dem Jahr 1801.)
Das Wiffen felbft ift Bild, und alle feine anſchauende und
1071
teflectivende Thatigkeit erichöpft fich im Bilden und Abbilden;
es ift als Freiheit Vorbild oder Endzweck, und alles fittliche Hans
deln erfchöpft fich in dem Streben, den Endzwed zu verwirklichen.
Das Bild ift nicht das Reale, aber es fordert ein Reales, wos
rauf es ummittelbar fich bezieht, das ed unmittelbar ausdrückt.
Dad Reale ift jenfeitd ded Wiſſens, unabhängig von ihm, nicht
Bild noch Bilden, nicht Werben noch Vielheit: es iſt im Un-
terfchiebe von aller Erfcheinung, von aller Mannigfaltigkeit und
Veränderung, dad abfolute, eine, wandelloſe Sein,. dad Ab:
folute als ſolches, Gott.
Ohne Realität kein Bild, ohne Sein fein Wiffen. Zwi⸗
ſchen beiden nicht8 Drittes. So ift dad Wiffen nicht bloß abhän-
gig vom Sein, fondern unmittelbar von ihm abhängig, es
ift feine Erſcheinung (Bild), feine unmittelbare Folge. Das
Wiſſen begründet die Welt aus fich und begreift fie als fein Abz
bild, es begründet fich aus dem Abfoluten und begreift ſich ald
deffen unmittelbare Erfcheinung. Wie ift diefe Begründung mög:
lich? Indem es die Welt aus fich begründet, geht ed nicht über
fi Hinaus. Indem es fi) aud dem Abfoluten begründet, geht
es über ſich hinaus.” Wie ift dad möglih? Wie kann das Wiſ⸗
fen über ſich hinausgehen und die Form der Anfchauung und Res
flerion durchbrechen ?
a. Urſprung und Grenze des Wiſſens.
Diefe Ableitung hat Fichte, fo viel ich fehe, nirgends fo bes
ſtimmt zu geben verfucht, als in ber Darftellung der Wiflen-
(haftölehre vom Jahr 1801. Das Wiffen ift nicht das reale
Sein, denn es ift Bild; es ift nicht das Abfolute, denn es ift
Reflerion und befchreibt eine nothwenbige Entwicklungsreihe, die
als ſolche die Form der Mannigfaltigkeit und Veränderung an
1072
fid) trägt. Das Wiffen entfpringt, aber ed entfpringt aus fich,
fonft wäre es nicht Freiheit. Nun ift dad Willen, was es ift,
für ſich; e8 muß daher auch in feinem Urfprunge für fich fein,
ober, was baffelbe heißt, fein Urfprung muß ihm einleuchten.
Das Wiſſen durchdringt und durchſchaut fich felbft, alfo muß es
auch feinen Urfprung durchſchauen. Urfprung ift Grenze. Das
Wiſſen durchſchaut feine Grenze. Die Grenze des Wiſſens ift
Nichtfein des Wiſſens, Nichtwiffen. Nun ift alles im Wiſſen
umfaßt und durdy daffelbe gefegt, alles objective Sein; das
Nichtfein des Wiſſens if einzig und allein das abfolute Sein.
Wenn daher dad Wiſſen feinen Urfprung und feine Grenze durch
ſchaut, fo fieht es nothwendig fein eigenes Nichtſein, d.h. es
fieht das abfolute Sein und fich felbft als deffen unmittelbare
Folge, „ES findet in fi und durch fich fein abfolutes Ende
und feine Begrenzung: — in ſich und durch ſich, fage ich; es
dringt wiffend zu feinem abfoluten Urfprunge (aus dem Nichtwif:
fen) vor und kommt fo durch fich felbft (d. i. in Folge feiner ab:
foluten Durchfichtigkeit und Selbfterfenntniß) an fein Ende,
Dieß ift nun eben bad große Geheimniß, dad da Feiner hat er
blicken tönnen, weil es zu offen baliegt, und wir allein in ihm
alles erblidden: befteht das Wiffen eben barin, daß es feinem Ur:
fprunge zuficht, ober noch ichärfer, heißt Wiſſen ſelbſt Sürfich-
fein, Innerlichkeit des Urſprungs; fo ift es eben Bar, daß fein
Ende und feine abfolute Grenze auch innerhalb diefes Fürſich fal-
len muß. Nun befteht aber laut unferer Erörterungen und bes
Haren Augenfcheind das Wiffen eben in diefer Durcdringlichkeit,
in dem abfoluten Lichtcharakter, Subject» Object, Ich: mithin
ann ed feinen abfoluten Urfprung nicht erbliden, ohne feine
Grenze, fein Nichtfein zu erbliden. Was ift denn nun daB abs
folute-Sein? Der im Wiffen ergriffene abfolute Urfprung deſ⸗
|
|
1073
felben und daher das Nichtfein des Wiſſens: Sein, abfolu-
tes Sein, weil das Wiffen abfolut if. Nur der Anfang des
BWiffens ift reines Sein; wo dad Willen fchon ift, iſt fein
Sein, und alles, was fonft noch etwa für Sein (objectives) ge:
halten werden könnte, ift diefes Sein und trägt feine Geſetze.
Und fo hätten wir und von afteribealiftifchen Syſtemen zur Genüge
getrennt. Das reine Wiſſen gedacht als Urfprung für ſich und feinen
Gegenſatz als Nichtfein des Wiſſens, weil es fonft nicht entfpringen
Tönnte, iſt reines Sein. (Ober fage man, wenn man ed
nur vecht verftehen will, die abfolute Schöpfung, als Erſchaf⸗
fung, nicht etwa als Erfchaffenes, ift Standpunkt des abfoluten
Wiſſens; diefes erſchafft eben ſich felbft aus feiner reinen Mög:
lichkeit, als das einzig ihm vorauögegebene, und biefe eben ift
das reine Sein)*).”
So kommi nach Fichte das Wiffen zum Begriffe des abfos
Iuten Seins, und die Wiffenfchaftölehre (ald Wiſſen slehre) dazu,
ein folches Sein zu fegen. ° Sie begründet nicht dad Wiffen aus
dem Sein, fonbdern dad Sein aus dem Wiſſen; fie zeigt nicht
dad Sein ald den Realgrund des Wiſſens, fondern das Wiflen
als den Erkenntnißgrund des Seins; fie begreift dad Wiffen in
Rückſicht auf das objective Sein (Welt) ald Realgrund, in Rüd:
ſicht auf das abfolute Sein (Gott) ald Erkenntnißgrund. So
wird auch dad abfolut Reale von der Wiffenfchaftölehre aus dem
Idealgrunde erkannt. Ober, wie fih Fichte ausdrückt: „fie lei⸗
tet dad Sein aus dem Wiffen ald deſſen Negation ab, ift alfo eine
ideale Anficht deffelben, und zwar die höchfte ideale Anficht**).”
*) Darftellung der Wiſſenſchaftslehre aus dem Jahr 1801. 1Th.
8.26. 5. W. I Abth. II Bd. ©. 63,
**) Ebendaſelbſt L $. 26. ©. 64. Bol. 8. 27. ©. 68. $. 29.
S. 73,
Blfäen, Gefäihte ber Phllofophie V. 68
1074
b. Der Ioentitätspunkt von Sein und Willen. (Fichte und Schelling.)
If nun das Wiffen der Erkenntnißgrund des abfoluten
Seins, fo muß es ſich felbft betrachten ald deffen Folge, und
zwar, ba dem abfoluten Urfprunge, des Wiſſens nichts anderes ald
das abfolute Sein vorauögehen kann, ald deffen unmittelbare
Folge. Indem dad Wiſſen feinen tiefſten Grund (Urfprung)
durchſchaut, erkennt es unmittelbar das abfolute Sein. Das
Erfaffen des abfoluten Seins ift Denken, das ſich Erfaflen des
Wiſſens („dad Fürfich ded Entfpringens‘) ift Anfhauung. Hier
find daher Denken und Anfchauen unmittelbar vereinigt. Indem
das Wiſſen von dem abfoluten (ihm entgegengefegten) Sein aus⸗
geht in feinem Entfpringen, fo find in diefem Punkte abfoluted
Sein und Wiffen, oder abfoluted Sein und abfolute Freiheit (Noth:
wendigkeit und Freiheit), dad abfolut Objective und das abfolut
Subjective untrennbar, unmittelbar vereinigt ober identifch. Sie
find nicht indifferent, denn fie find entgegengefeßt; wohl aber
find fie identiſch, denn dad Wiffen geht unmittelbar aus dem ab:
foluten Sein hervor. Hier ift der abfolute Standpunkt oder
Focus, in dem dad abfolute Wiffen anhebt, hier die unüberfteig:
liche Grenze der Wiſſenſchaftslehre: „nicht der Indifferenzpuntt,
fondern der Identitätspunkt beider, die imperceptible, nicht
weiter ergreifbare, erflärbare, fubjectivirbare Einheit des abfolu:
ten Seind und Fürfichfeind im Wiffen, über welche felbft die
Wiſſenſchaftslehre nicht hinausgehen fann*).” Hier fallen Idea:
les und Reales, dad Grundprincip ded Idealismus (Wiffen) und
das Grundprincip des Realismus (Sein) ſchlechthin zufammen.
Die Ipentität in diefem Sinn bildet den tiefften Grundbegriff der
Wiſſenſchaftslehre. Sie widerftreitet ald Wiſſenſchaftslehre der
ſchelling ſchen Naturphilofophie (ob mit Recht oder Unrecht, bleibe
*) Ebendaſelbſt. ITh. 8.29. ©. 74 u. 75.
1075
hier dahingeſtellt); fie wiberftreitet ald Identitätslehre in dem
‚eben befchriebenen Charakter dem Begriff der abfoluten Indiffe⸗
renz, worauf Schelling fein Syſtem gründet, „Das Fürfichfein
des abfoluten Urfprungs ift abfolute Anfhauung, Lichtquelle oder
abfolut Subjectived; das daran ſich nothwendig anfchließende
Nichtfein ded Wiffend und abfolute Sein ift abfoluted Denken, '
Quelle ded Seind im Lichte, alfo da ed im Wiffen doch ift, das
abfolut Objective.” „Wären Subjectived und Objectived ur:
fprünglich indifferent, wie in aller Welt follten fie je different
werden? Ob denn bie Abfolutheit fich felbft vernichtet, um zur
Relation zu werden? Dann müßte fie ja eben abfolutes Nichts
werden, fo daß vielmehr diefed Spftem, ftatt abfoluted Iden⸗
titätöfoftem, abfoluted Nulitätsfyftem heißen ſollte ).“
©. Der Uebergang vom Sein zum Wiffen. (Fichte und Spinoza.)
Man weiß, daß fich die fcheling’fche Identitäts- oder In:
differenzlehre mit dem Syſteme Spinoza’8 verglichen hat. Auch
Fichte vergleicht die Wiffenfchaftölehre in der Darftellung vom
Jahre 1801 mit der Lehre Spinoza's und erhellt in dieſer Aus—
einanderfegung fehr deutlich den entfcheidenden Punkt ſowohl der
Uebereinftimmung ald des Gegenfaged. Man hat namentlich den
Charakter ded Gegenfaged, der mit dem unveränderten Geifte der
Wiſſenſchaftslehre zufammenfält, zu wenig beachtet und darum
die Verwandtſchaft beider Syſteme für größer und die fogenannte
„ſpätere Lehre” Fichte's für fpinoziftifcher gehalten, als fie iſt.
Das abfolute Sein gilt der Wiffenfchaftölehre ald Grund
und Träger bed Wiffend; demnach verhält fi dad Wiffen zum
Sein, wie dad Accidens zur Subſtanz. Diefed Verhältniß gilt
auch bei Spinoza. Hier ift der Berührungäpunft. Dagegen
*) Ebendaſelbſt. J Th. 8. 27. S. 65 u, 66.
68*
1076
hat Spinoza etwas gänzlich überfehen und nicht zu erBlären ver:
mocht: den Webergang von ber Subftanz zum Accidens. „Er
fragt nach einem ſolchen Uebergange nicht, daher ift im Grunde
keiner: Subſtanz und Accidens kommen in Wahrheit nicht aut:
einander; feine Subftanz ift Peine, fein Accidens iſt Feines, fon-
dern er nennt daffelbe nur bald fo, bald fo und fpielt auß der
Taſche.“ Die Wiſſenſchaftslehre erleuchtet diefen Uebergang. Hier
iſt der abfolute Gegenfa beider Syſteme. Den Uebergang macht
das Wiffen, genauer gefagt „die Grundform des Wiffend, in
der die Nothwendigkeit einer Spaltung und Unenblichleit für das
Bewußtſein liegt.” Diefe Grundform ift die Reflerion. Die
Reflerion ift eine That der Freiheit, der formalen Freiheit. Diefe
ift ed, welche den Webergang vollzieht, dad Wiſſen trennt- und
abfondert von dem abfoluten Sein. Das ewig Eine liegt. fchlecht:
bin alem Wiffen zu Grunde: in diefer Rüdficht ift die Wiffen-
ſchaftslehre „Unititmus (ky xal mäv)." Das wirkliche (fac-
tifche) Wiffen ift durch Reflerion geſetzt und in ihr befangen, es
kann ald ſolches das abfolut Eine niemald erreichen; das ab:
folute Sein ift das Ienfeitd alles wirklichen Wiſſens: in dieſer
Rüdficht ift die Wiffenfchaftdlehre „Dualismus”*).
d. Die Zufälligkeit des Urſprungs.
Einmal bad Wiffen geſetzt, entwidelt fi die Reihe der Re
fleriondformen und die Welt der Erfcheinungen nach nothwendi:
gen Gefegen, die nicht anderd fein fönnen. - Aber daß überhaupt
das Wiffen zum Dafein kommt, gefchieht durch einen Act abſolu⸗
ter Freiheit, der als folcher auch nicht ſein könnte. Was aus
bloßer Freiheit gefchieht, Tann ebenfo gut auch nicht gefchehen
und ift daher feinem Urfprunge nach zufällig. Was von dem
Urfprunge des Wiffend gilt, gilt notwendig auch von allen da⸗
*) Ghendafelöft, IL X. $. 32, ©, 86-89,
1077 .
durch bedingten Formen und Erfcheinungen. &o ift die Welt
zwar nothwenbig ald Erfcheinung und Gebilde des Wiffens, aber,
wie dieſes felbft, zufällig im Urfprunge ihre Dafeind. Das
Zufällige ift in fich nichtig und beſtandlos. Wer der Welt und
dem Wiſſen auf den Grund fieht und diefen durchſchaut, er-
kennt die Zufälligkeit ihre Urfprungs und barin die Nichtigkeit
ihres Dafeind. Daher jener fichte ſche Ausſpruch, der auf den
erften Bli fo peſſimiſtiſch erſcheint, daß Schopenhauer bamit
übereinftimmen Pönnte: „wenn man von einer beften Welt und
ben Spuren ber Güte Gottes in diefer Welt redet, fo ift Die Ant:
wort: bie Welt ift die allerfhlimmfte, die ba fein
Tann, fofern fie an fi ſelbſt völlig nichtig iſt.“
Indeffen überhöre man nicht, was unmittelbar folgt und je
nem Sage den peffimiftifchen Charakter nimmt: „boch liegt in
ihr eben darum die einzig mögliche Güte Gotted verbreitet, daß
von ihr und allen Bedingungen berfelben aus die Intelligenz ſich
zum Entſchluſſe erheben Tann, fie beffer zu machen*).”
Weil die Welt in ſich nichtig ift, darum liegt in ihr. die
Moglichkeit, von ihr Iodzukommen. Weil fie von einer Bedin⸗
gung abhängt, die durch Freiheit gefegt ift, darum kann die
Freiheit den Standpunkt des Wiſſens oder der Weltvorftellung
ändern und vermöge ber Reflerion von Stufe zu Stufe erhöhen.
Beil fie mit Feiner gegebenen Form des Bewußtſeins zufammen:
fat, denn jede ift durch fie bedingt, darum kann die Freiheit
fich über jebe erheben, von allem gegebenen Inhalt abftrahiren
und zulest, indem fie die ganze Reflerion und dad Wiſſen bis in
feinen Urfprung durchſchaut, die Zufäligkeit dieſes ihred eigenen
Productd einfehen. Die Abftraction von allen Objecten der Ans
ſchauung läßt dem Wiffen nichtd übrig ald die leere Denkform,
*) Ebendaſelbſt. IWh. 8.47. 9.48. 6, 157.
1078
das formale Denken mit feinen Gefegen: in ihm befleht die &o-
gie und alle fogenannte Ppilofophie, die über biefe Reflerionsform
bed endlichen Verſtandes nicht hinaußfommt und unfähig ift, ie
das Unbedingte zu erreichen. Die Erhebung über ben endlichen
Verſtand giebt dem Wiffen die Einficht in alled Wiffen, in den Urs
fprung beffelben, in die Zufaͤlligkeit dieſes Urſprungs: das ift Die Er⸗
bebung, die dad Wiffen zur Wiffenfchaftölchre macht, die Anſchau⸗
ung, in welcher bie letztere ruht, und bie felbft vorbringt bis zu
der abfoluten Grenze des Wiſſens. „In der Erhebung über alle
Wiſſen, im reinen Denken des abfoluten Seind und der Zufäl⸗
ligkeit des Wiſſens ihm gegenüber ift der Augpunkt der Wiſſen⸗
ſchaftolehre *)."
35. Das theoſophiſche Problem.
Jetzt können wir urtheilen, wie ſich die fichte ſche Philofophie
zu ihrem zweiten Hauptprobleme verhält: zu der Frage nach der
Begründung ober Genefid des Wiffend aud dem Abfoluten. Sie
bat gezeigt, wie dem Wiffen mit der Einficht in feinen eigenen
Urſprung ber Begriff ded abfoluten Seins nothwendig aufgeht,
wie ed im Lichte des abfoluten Seins die Zufälligkeit feines eige⸗
nen Urfprungd und Dafeind erkennt und damit zugleich die Nich-
tigfeit ber Welt. Der Uebergang vom Wiffen zum Sein ift er:
belt: fo weit reicht das Licht der Wiffenfchaftölchre, es ift der
lebte Punkt, den fie erleuchtet. Der Uebergang vom Sein zum
Wiſſen bleibt dunkel. Wir fehen das Wiffen vor und ald Er—
kenntnißgrund bed Abfoluten, aber nicht dad Abfolute ald Reals
grund des Wiffend. Die Begründung des Wiſſens aus dem Ab⸗
foluten, alfo aud) die mittelbare Begründung der Welt aus Gott
iſt demnach eine nicht gelöfte Frage.
*) Ghendafelbft, IIXE. 9.48. 6, 157—163,
1079
Die Wiffenfchaftölchre Läßt jenen Uebergang vom Sein zum
Wiſſen (von Gott zur Welt) in einem charakteriftifchen Zwielicht.
In demfelben Augenblick, wo bie eine Seite erhellt wird, ver:
dunkelt fi) allemal bie andere. Was die eine Hand giebt, wird
in bemfelben Augenblid von der anderen genommen. Sept heißt
es, das Wiffen fei die „unmittelbare Folge” des Abfoluten, und
zugleich wird erklärt, dad Abfolute fei nicht der hervorbringende
Grund des Wiſſens; jest gilt das abfolute Sein ald der Grund
des Wiffens, und zugleich gilt das Iehtere ald ein Entfpringen
aus fi, fein Urfprung als ein Act der Freiheit, feine Entfte:
bung daher ald zufällig. Diefe Wiederfprüche kehren wieder und
variiren in verfchiedenen Formen.
Diefe Widerfprüche find nicht von ungefähr, fondern ein
harakteriftifcher (keineswegs incorrecter) Ausbrud des Syſtems;
fie fallen diefem zur Laft, nicht etwa dem Denken ober der Aus:
drucksweiſe des Philofophen ald ein Fehler, ben er hätte vermei⸗
den können. Verſetzen wir und zur Beurtheilung der Sache ganz
in den Standpunkt der Wiffenfchaftölchre. Kein Object ohne
Bewußtfein, Fein Bewußtſein ohne Selbftbewußtfein (Ich), Fein
Selbftbewußtfein ohne abfolute Einheit von Subject und Object,
ohne abfolute (von Feiner Reflerion zerſetzte) Identität beider,
Die Wiffenfchaftölehre fordert dieſe Identität ald Grund und Prin⸗
cip alles Wiſſens. Iſt aber die Identität Urgrund und Bebin-
gung aller Reflerion, fo ift fie von biefer unabhängig, alfo felbft
nicht Reflerion, nicht Wiffen, nicht Bild, fondern Realität, abs
folut Reales, abfolutes Sein. Ohne diefen Begriff Tann die
Wiffenfchaftölehre ihr Princip (dad Ich) nicht ausdenken und voll⸗
enden. Es ift darum nothwendig, daß fie dad abfolute Sein
(Gott) als Urgrund alles Wiffens behauptet, daß fie dieſes als
die unmittelbare Folge bed erften betrachtet, daß fie in dem
1080
Urfprunge des Wiffens den Identitätöpumkt beider erblickt. Aber
fie darf als Wiſſenſchaftslehre nicht über das Wiffen hinauögehen,
fie erfaßt nicht das abfolute Sein ald ſolches, ſondern den Be:
griff deffelben, der jenfeitd aller Anfchauung nur dem „reinen
Denken” einleuchtetz dad abfolute Sein felbft, das Reale als
ſolches bleibt, unabhängig von biefem Begriff, jenſeits alles
Wiffend. Damit löft fi die unmittelbare Einheit des Seins
und Wiſſens wieder auf, ber „Identitätöpunkt” beider’ verfchwin-
det, das Reale und Ideale klafft auseinander, der Uebergang
von bem einen zum andern erfcheint unmöglich, und die Wiffen:
ſchaftslehre felbft bekennt an diefer Stelle offen ihren dualifti-
ſchen Charakter. Sie fei „Unitiömus in idealer Hinficht, Dua⸗
lismus in realer” *). Kein Wiffen ohne Selbftbemußtfein, ohne
Freiheit. Der erſte Satz, mit dem die Wiffenfchaftölehre an:
fing, behält feine Geltung: „das Ich fett fich felbft, es iſt durch
nichts anderes geſetzt.“ Es ift in feinem Urfprunge eine That
der Freiheit, es ift als folche auch nichtfeintönnend, d. h. zufällig;
erſt Dadurch wird es dem abfoluten Sein gegenüber ‚wirklich ac
cidentell, und dieſes dem Wiflen gegenüber ‚fubftantiell; erft in
diefem Lichte erhellt der Uebergang von der Subſtanz zum Acci:
dens, den Spinoza niemals erklärt hat noch erftären konnte,
So finden wir auf dem tiefften Grunde der Wiſſenſchafts⸗
lehre einen unmittelbaren Zufammenftoß voiberflreitender Vor⸗
ſtellungsweiſen. Im der legten Begründung bes Wiſſens erklärt
ſich die Wiſſenſchaftslehre pantheiſtiſch („unitiftifch”), dualiftifch,
indeterminiftifch, und fie kann feinen diefer Züge entbehren, ohne mit
einer ihrer Grundbedingungen in Widerfpruch zu gerathen. Hebe
den Begriff des abfoluten Seins auf als des AU: Einen, dad allem
Wiſſen ſchlechthin zu Grunde liegt: fo ift dad Wiffen unmög:
*) Ebenbafelbft, I Th. 8.32, 6, 89, -
1081
lich. Hebe den Gegenfag von Sein und Wiffen (Realität und
Bild) auf, das Sein jenfeitd des Wiſſens: fo ift dad Sein ald
folches unmöglich. Hebe in Rüdficht des wirklichen Wiſſens die
Zufälligfeit feines Urfprungs auf: fo iſt die Freiheit unmög-
lich. Die Bejahung des abfoluten Seins als des All-Einen
(& xal röv) macht die Wiffenfchaftsiehre pantheiftifch oder,
wie Fichte ſich ausdrückt, „unitiſtiſch“. Die Bejahung des rea⸗
len Seins jenſeits des Wiſſens (oder im Gegenſatz zu dieſem als
dem Idealen) macht die Wiſſenſchaftslehre dualiſtiſch; die Beja-
hung der Freiheit, die dad Wiffen aus fi) entfpringen läßt und
zum Dafein bringt, macht die Wiſſenſchaftslehre indetermini⸗
ſtiſch.
In dieſem Zuſammenſtoß widerſtreitender Erklärungsweiſen
findet die Löſung des legten Problems der Wiſſenſchaftslehre kei:
nen Ausweg. Die Frage nach der Begründung des Wiffend
aus dem Abfoluten ift nicht bloß ungelöft, fie bleibt es auch.
Sie erfcheint unter dem Standpunkt der fichte ſchen Wiffenfchafts:
lehre als unlösbar, ald deren Grenzproblem, wie die kan—
tifche Philofophie ſolche Grenzprobleme gefunden hatte. Fichte
entdeckt ben Uebergang vom Wiffen zum Sein, aber nicht mehr
den Rückweg vom Sein zum Wiſſen. Hier ift flatt des Ueber:
gangs die Kluft, der Hiatus. Innerhalb des Wiſſens ift für
die Wiſſenſchaftslehre ale begreiflich; aber das Dafein oder bie
Entftehung des Wiffens felbft ift nach ihrer eigenen Erklärung z u⸗
fällig, womit die Möglichkeit der rationalen Löfung ihr Ende
erreicht hat. (In diefem Punkte ließe fich die fogenannte ſpä⸗
tere Lehre Fichte's weit eher mit der fogenannten fpäteren
Lehre Schelling’8 vergleichen, ald mit ber gleichzeitigen, denn
fie berührt in gewiffer Rüdficht die Theorie, welche die Noth—
wendigkeit von der Freiheit, dad „Nichtnichtfeinfönnen” von
Wilder, Geſchichte der Philofophie V. 69
1082
dem „Auchandersfeinkönnen”, bie rationale Philofophie von der
irrationalen, die negative von der pofitiven zu fcheiden be
muht iſt.)
Soll das Problem gelöſt und das Wiſſen wirklich aus dem
Abſoluten begründet werden, fo muß dieſes gefaßt werben als
ber erzeugende Grund des Wiffend. Die Grenze, welche die fich⸗
te ſche Wiſſenſchaftslehre nicht überfchreiten konnte, wird über-
fhritten. Aus dem Grenzproblem wird jest bad Grunbpro=
. blem der Philofophie, die zur Löſung biefer Aufgabe eindringen
muß in dad Wefen und die Tiefe des Abfoluten und hier ihren
Standpunkt nehmen. Die Frage nach dem Abfoluten ald dem
Realgrunde des Wiffens ift nur theofophifch zu löfen. Ich
ſage „theofophifch”, um weder „myſtiſch“ noch „theologifch” zu
fagen. Das Erkenntnißproblem, die kritiſche Grundfrage der
Philoſophie, fieht ſich nach Vollendung der Wiffenfchaftslehre. un:
mittelbar mit dem Gotteöbegriffe verknüpft; jet wird der Got:
teöbegriff in Verbindung mit dem Wiffen eine notwendig zu lö—
fende Aufgabe der Philofophie. Diefed Problem nenne ich (nicht
theologifch, fondern) theofophifh. Das theofophifche Problem
rüdt in den Vordergrund ber Philofophie, ed wird dad letzte Ziel
der ſchelling' ſchen Lehre, dad Element der baader’fcen; bie
Philofophie will „Wiffenfchaft des Abfoluten” werden, in biefer
Abſicht begegnen einander Kraufe und Hegel.
So gewinnen wir aus dem Geſichtspunkte der Wiſſenſchafts⸗
lehre und ber Einficht in ihre Probleme einen Blid auf die Fort-
entwidlung der Philofophie und die nothwendige Ausbildung natur
philofophifcher und theofophifcher Syſteme; wir können von Fichte
- Richtungslinien ziehen nach Schelling, Baader und Hegel, Wie
verfchieben diefe Standpunkte unter ſich fein mögen, fie liegen
ſammtlich in der metaphyſiſchen Richtung, fie ſetzen dad Real⸗
1083
princip in das Abfolute, fie kommen ſchließlich auch darin über:
ein, daß fie das Abfolute ald Proceß faflen. .
Ale diefe Standpunkte, die Wiffenfchaftölehre eingefchloffen,
haben ihre contrabictorifchen Gegentheile, die ebenfalls Stand»
punkte und Träger philofophifcher Syſteme werden und ſich eben⸗
falls von hier aus erleuchten,
Das abfolute Sein ift Fein Gegenftand der Erkenntniß, denn
alle menfchliche Erfenntnif gründet fi auf unfere Selbſterkennt⸗
niß, auf Selbftbeobachtung oder innere Erfahrung, die empiris
ſcher Natur iftz die wiffenfchaftliche Selbftbeobachtung ift Pſy⸗
hologie, dieſe daher die philofophifche Grundwiffenfchaft: ber
Standpunkt, den Fried ald „neue Vernunftkritik“ der ganzen
übrigen nachkantiſchen Philofophie entgegenſetzt.
Das abfolute Sein ift Realprincip und als folches Gegen
ftand metaphufifcher Erkenntniß, aber es ift nicht Proceß, fonft
wäre es Widerfpruch und als folcher undenkbar. Es ift abfolut
widerſpruchslos und einfach, die „abfolute Pofition”, unabhängig
von allem Denken. Der Begriff des Realen ober Seienben ift
fein thesfophifches, fondern ein rein metaphyſiſches (ontologifches)
Problem, nur lösbar, indem dad Denken bearbeitet und von ben
Widerfprüchen befreit wird, die es von Natur unfähig machen,
das wahrhaft Seiende zu erkennen. Das Denken in widerfpruchd-
vollen Begriffen ift incorrect, und alle Identitätsſyſteme gründen
ſich auf ein widerſpruchsvolles und darum incorrected Princip.
Daß ift der Standpunkt Herbart's, der mit Fichte dad wider:
ſpruchsloſe Sein ald dad Reale bejaht und das in der Reflerionds
form befangene Ich für widerſpruchsvoll und darum unmöglich
erklärt, für einen incorrecten, durch die Metaphyſik zu berichti
genden Begriff. Der Standpunkt Herbart's ift durch die Wis
fenfchaftslehre pofitio motivirt, wie der von Fried negativ.
69*
1084
Dad Realprincip, welches als dad All⸗Eine ſämmtlichen
Erfcheinungen zu Grunde liegt umd den eigentlichen Gegenfland des
metaphyſiſchen Grundproblemd ausmacht, ift nicht dad Abfolute,
denn bad Abſolute iſt nicht real, fondern ein Abftractum, um fo
leerer, je allgemeiner, um fo allgemeiner, je abftracter es ift.
Das wahrhaft Wirkfame oder Reale ift das Individualprincip,
der Wille zum Dafein, zum Leben: der Einzelwille, der fein
Dafein macht, die Dafeinsform allmälig fleigert bi zum Leben,
dieſes zum Erkennen, biefes zu allgemeinen Begriffen, zur praf:
tifhen Vernunft im Sinne der Lebens: und Weltklugheit, zuletzt
auf der höchften Stufe fich felbft bis in fein innerſtes Weſen
durchſchaut, die Selbftfucht ald Träger und Kern der Erfchei:
nungöwelt erfennt, in dieſer Selbfterfenntniß die Nichtigkeit der
Welt und die eigene Nichtigkeit einfieht und nun in der Selbſt⸗
verneinung, welche Welt und Begierden fallen läßt, die höchfte
Lebens: und Weltweiöheit erreicht. Es ift der Standpunkt
Schopenhauer’s, der ſich felbft aus der Bantifchen Lehre un-
mittelbar ableitet, allen übrigen nachkantiſchen Richtungen ent:
gegenfest, vor allem den theofophifchen Syſtemen widerſtreitet.
Nachdem wir die Wiffenfchaftölehre in allen ihren Entwid-
lungsformen durchwandert und von ihrer legten Höhe aus das
Ganze überfchaut haben, erfennen wir in einem freien Umblid
die Gegend und Hauptzüge der nachkantifhen Philofophie wieder,
die wir dad erftemal, gleich im Anfange diefed Werks, von dem
kantiſchen Standpunkt und dann, am Schluffe bes erften Buchs,
von Jacobi's antifantifhem Standpunkt aus gefehen hatten.
In Fichte vollendet ſich in folgerichtigem Fortfchritt der erſte
geſchichtliche · Entwicklungsabſchnitt der Fritifchen Philofophie.
Hier entfcheiden fich die Fünftigen Probleme. Aus der kantiſch⸗
fichte ſchen Lehre folgt unmittelbar die fchelling: hegel ſche. >
Google
Doz» Google
Diglizes by Google
Doz» Google