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sglÄDAn POLITZER
E=' -SCHICHTE DER OHRENHEILKUNDE
ZWEI BANDE I. BAND
PERDDiAND ENKB tRSTOITSflRr
ÄA^i^^'^V^^-
GESCHICHTE
DER
OHRENHEILKUNDE.
VON
B^ ADAM POLITZER.
O. 5. PBOFKMOB DXB OHBENH EILKUNDE ÄV DER WIENEB UKITERSItXt, K. K. HOFRAT,
▼OBiTAVD DER K. K. UNIVERSITÄTSKLINIK FÜR OHRENKBANKE DC ALLO. XEANKENHAU8E IN WIXX.
ZWEI BANDE.
I. BAND.
VON DEN ERSTEN ANFÄNGEN
BIS ZUR MITTE DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS.
Mit 31 Bildnissen auf Tafeln und 19 Ttxifigurtn.
STUTTGART.
VET • VON FERDINAND ENKE.
1907.
3
I •
•
• • •
Draok der Union Deutsche VerlagsgeBellschaft in Stattgart.
DEM AXDEXKEX MEINES VEREWIGTEX
FREUNDES
BOFRAT PROF. Dil HERMANN NOTHNAGEL
GEWIDMET,
34772
Vorwort.
Die Geschichte der Medizin hat bis vor kurzem nur wenig Be-
achtung gefunden. Erst in neuerer Zeit hat das gesteigerte historische
Interesse, das sich gegen die Neige des 19. Jahrhunderts auf allen Ge-
bieten kundgibt, in weiteren ärztlichen Kreisen Eingang gefunden. Auch
hier beginnt die Ueberzeugung durchzudringen, daß der Arzt, soll sein
Beruf voll erfaßt und nicht zum bloßen Handwerk herabgedrückt werden,
den Entwicklungsgang seiner Wissenschaft, wenigstens in ihren Grund-
zügen, kennen muß.
Was von der Medizin im allgemeinen gilt, läßt sich mit verschärf-
tem Nachdruck von ihren Spezialfächern behaupten. Wer Anspruch
darauf erheben will, sein Gebiet nach jeder Richtung hin zu beherrschen,
muß die Leistungen früherer Epochen kennen. Nur das gründliche
Studium der Fachliteratur öffnet ihm den Blick für wichtige und un-
entbehrliche Vorarbeiten, und die lebendige Beziehung zwischen den
Leistungen einer früheren Zeit und den Errungenschaften der Gegenwart
werden ihn vor Prioritätsansprüchen schützen, wo es sich um literarisch
festgestellte Leistungen einer früheren Epoche handelt.
Der Gesamtüberblick über das geistige Inventar vergangener Peri-
oden gibt uns aber außer der richtigen Wertschätzung abgeschiedener
Geschlechter auch nützliche Anregungen für eigene Forschung. Die Ge-
schichte einer Spezialwissenschaft soll in gewissem Sinne der Leitfaden
aus der Vergangenheit in die Gegenwart sein und die Grundlage, auf
der die Wissenschaft weiter ausgebaut werden soll.
Dies ist der Grundgedanke, der mich bei der Abfassung der vor-
liegenden Geschichte der Ohrenheilkunde geleitet hat, deren Vorarbeiten
mich so manches Jahr beschäftigt haben. Bedarf es eines Beweises für
die Berechtigung einer solchen Arbeit, so sei auf die Spezialgeschichten
der Anatomie, Chirurgie, Ophthalmologie, Gynäkologie und Syphilidologie
hingewiesen, die sich als vortreffliche Nachschlagebücher erwiesen haben.
Die Sichtung des literarischen Materiales zur historischen Dar-
stellung eines Spezialfaches erfordert große Opfer an Zeit und Mühe
und den bewährten Rat befreundeter Kollegen. Von diesen nenne ich in
VI Vorwort.
erster Reihe Herrn Prof. Dr. Neuburger, dem ich für seine Ratschläge
in der Anordnung des Stoffes und für die zahlreichen Literaturnachweise
zu Dank verpflichtet bin. Desgleichen spreche ich meinen Dank aus
Herrn Prof. D^mätrios Demetriadis in Athen für die Abschrift des
in der Bibliothek zu Athen befindlichen Manuskriptes Nr. 1489, und
endlich den Herren Vorständen der k. k. Hofbibliothek, der Universitäts-
bibliothek und dem Vorstande der Handschriftensammlung der Biblioth^que
Nationale in Paris für die Bereitwilligkeit, mit der sie mir die zu meiner
Arbeit nötigen Werke zur Verfügung stellten.
Das vorliegende Buch ist fast durchwegs nach den Originalwerken
bearbeitet. Nur dort, wo diese in den Bibliotheken fehlten, mußte zu
den älteren Quellenwerken von Portal, Sprengel, Lincke und zu dem
Literaturwerk Stanislausv. Steins gegriffen werden. Einzelne, trotz
umfassender Quellenforschung nicht zu umgehende Lücken mögen durch
den großen Umfang des zu bearbeitenden Materiales entschuldigt sein.
Möge denn dieses Werk, dessen Abfassung mir bei aller Arbeit
doch auch Stunden reinster Freude gewährt hat, meinen Fachgenossen
nützliche Anregung zu eigenen fruchtbringenden Studien auf dem Felde
unseres Spezialfaches bieten.
A. Politzer.
Inhaltsverzeichnis.
Die Otiatrie bei den alten Völkern des Orients.
Seite
Aegypter 1
Babylonier und Assyrier 4
Juden 6
Inder , 7
Anhang: Die Ohrenheilkunde bei den Naturvölkern 10
Die Otiatrie bei den Griechen und Römern.
stand der Otiatrie bei den Griechen vor Hippokrates.
Die Philosopheme über den Gehörsinn 11
Pythagoras. Heraklit. Empedokles. Alkmäon. Plutarch. Diogenes von ApoUonia.
Demokrit. Plato 12 u. 13
Hippokrates 18
Aristoteles 18
Die Ohrenheilkunde im Zeitraum Yon Aristotelea bis Oalen.
A. Anatomie und Physiologie.
Erasistratus. Herophilus. Rufus von Ephesus. Cicero. Lucretius Carus . . 21
6. Pathologie und Therapie.
Dioskorides. Plinius der Aeltere. Aulus Cornelius Celsus 22
Heraklides von Tarent. Asclepiades 24
Archigenes. Scribonius Largus. Diagoras von Cypem 25
Oalen 26
Antyllus. Philumenus. Caelius Aurelianus. Marcellus Empirius. Cassius Felix.
Philagrios SQ
Die Otiatrie im Mittelalter.
a) Die Byzantiner.
Alexander von Tralles • 31
Aetius von Amida 36
Paulus von Aegina 37
b) Die Araber.
Abul Easim 40
Serapion. Rhazes 41
VIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
Haly Abban. Avicenna 42
Mesue 43
Avenzoar. Averroes 44
c) Die Latinobarbaren.
Benedetto Crispo 45
Ruggiero 48
Arnaldus de Villanova 49
Guilelmo Saliceto 51
Bernard von Gordon
5
o
o
Henri de Mondeville 56
Guy de Chauliac 58
Valescus de Taranta 60
Nicola Nicole 61
Bruno da Longoburgo 63
Pietro d'Argellata. Galeazzo di Santa Sofia 63
Giovanni Arcolano. Giovanni da Vigo 64
Jehan Yperman. Anglicus Gilbertus. Johannes de Ketham 65
Znr Anatomie nnd Physiologie des Gehörorgans im Mittelalter.
Copho junior 69
Ricardus Anglicus 70
Mondino de Liuzzi 70
Betrucci. Mondeville. Petr. de Argellata. Bartolomeo Montagnana .... 71
Die Otiatrie in der Uebergangsperiode zur Neuzeit.
a) Vorlänfer der großen Anatomen Italiens.
Achillini 73
Berengario da Carpi 74
Nicolaus Massa 76
Alessandro Benedetti 70
Zerbi 77
Anhang: Lionardo da Vinci 77
b) Die Otiatrie in der Renaissancezeit 77
(16. Jahrhundert.)
Vesal 80
Giov. Fil. Ingrassia 8r>
Gabriele Falloppio 89
Bartholomeo Eustachio 94
0) Zeitgenossen nnd Nachfolger der großen Anatomen in Italien im
16. Jahrhundert 101
Realdo Colombo 101
Giulio Cesare Aranzio 103
Constantius Varolius 104
Volcher Koyter 106
Fabrizio ab Aquapendente 111
Giulio Casserio 116
Inhaltsverzeichnis. IX
Seite
d) Stand der Ohranatomie in Deutschland nnd Holland im 16. Jahrhundert 122
Felix Plater 123
Kaspar Bauhin 125
Salomon Alberti 126
e) Stand der Ohranatomie in Frankreich im 16. Jahrhundert . . 127
Günther von Andernach 127
Charles Estienne 128
Vidus Vidius 129
Du Laurent 182
f) Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen im 16. Jahrhundert 135
Theophrastus Paracelsus 186
Johannes Fernelius 137
Hieronymus Mercurialis 139
Hieronymus Capivacci 143
Amatus Lusitanus 144
Petrus Forestus 145
Joh. Heumius 146
Felix Plater 147
Ambrosius Par^ 148
Fabricius Hildanus 151
Caspar Tagliacozzi 157
Die Otiatrie im 17. Jahrhundert.
a) Anatomie und Physiologie des Gehörorgans im 17. Jahrhundert.
(Erste Periode) 160
Italien 161
Caecilius Folius 162
Domenico de Marcbetti 164
Antonio Molinetti 165
D. Bartoli 166
Giovanni Celle 166
Giambattista Cortesi. Paolo Manfredi 167
Deutschland.
Johannes Veslingius 167
Michael Lyser 169
J. Heinrich Glaser 171
Johannes Bohnius 173
Theophile Bonet 175
Conrad Victor Schneider 176
Theodor Kerckring. Johann Rupr. Sulzberger 177
Tob. Burckard. Joh. Jessen 177
Niederlande.
Nicolaas Pieters Tulpius 178
Sylvius de le Boe 179
X Inhaltsverzeichnis.
Seite
Adrian van den Spieghel 179
Ludovious Bils. Joh. Ant van der Linden. Plempius. Drelincourt. Diemer-
broeck. Gerard Blaes. Deusing 180
Dänemark.
Thomas Bartholinus. Nikolaus Steno 181
Kaspar Bartholinus 182
England.
Thomas Willis 183
Franc. Bacon von Verulam 185
Walther Charleto». Allen Müllen 186
Frankreich.
Jean Riolan der Jüngere 187
Claude Perrault 188
Jean Mery 192
G. Lamy 195
Nicolaus Habicot. Theophile Gelee 195
Duverney 196
Günther Christoph Schelhammer 210
b) Pathologie nnd Therapie der Ohrerkrankungen im 17. Jahrhundert
bis DuTemey 215
Riolan der Jüngere 215
Lazare Riviere 217
De le Bo(? Sylvius 218
Daniel Sennert 220
Conrad Victor Schneider 221
Michael Ettmüller 223
Antonius Nuck 225
Matth. Gottfr. Purmann 225
Die Otiatrie in der neueren Zeit.
a) Stand der Anatomie nnd Physiologie des Gehörorgans im 18« Jahrhundert 230
Italien.
Ant. Mar. Valsalva 230
Giovanni Battisia Morgagni 243
Giovanni Domenico Santorini 252
Domenico Cotugno 253
Antonio Scarpa 260
Andrea Comparetti 271
Leop. Marc Antonio Caldani 272
Floriano Caldani 273
Frankreich.
Raymond Vieussens 275
Nie. Le Cat 278
Jean P. Palfyn 279
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
Jean Bapt. S^nac 280
Joseph Lieutaud 281
Etienne Louis Geoffroy 282
Felix Vicq d'Azyr 284
Etienne Perolle 285
M. F. X. Bichat 287
Niederlande. England.
Fredrik Ruysch 289
H. Boerhaave 290
J. B. Winslow 292
Bemh. Siegfr. Albinus 293
Fr. Bemh. Albinus 294
John Elliott 295
Deutschland.
Job. Friedr. Cassebohm 297
Theodor Pyl 302
Gottfried Brendel 303
J. G. Zinn 304
Ph. Fr. Theod. Meckel 305
Aug. Fr. Walther 306
Herrn. Fr. Teichmeyer 307
Job. Andreas Schmidt 809
Wildberg 309
Albrecht von Haller 311
Pathologie und Therapie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert 315
üebersicht des Standes der pathologischen Anatomie des Gehörorgans
bis zum Ende des 18« Jahrhunderts 316
Pathologie und Therapie 319
Systematiker:
Friedrich H. Hoflfmann 320
Gerhard van Swieten 321
De Haen 322
Maxim. Stoll 322
Chirurgen:
Jean Louis Petit 322
Lorenz Heister 825
Heuermann 326
Die Perforation des Processus mastoideus 327
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete 331
Die künstliche Perforation des Trommelfells 336
Dissertationen über Pathologie und Therapie des Gehörorgans im
18. Jahrhundert 339
Martin Naboth 339
Job. Aug. Rivinus 340
\ll iDhalteverzeichni«.
Seite
Der »streit über da» Foramen Rivini 340
Job. Heinr. Hofmeister 342
Oeorg iJaniel Wibel 34>
iMer (inidiUch 342
\Vildberj( 345
Trampel 34a
Lescbevin und Lentin 344
Anhange. Die OhrenheilkuDde bei den ChineiseD und Japanern 348
r'hina 348
Japan 350
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . 355
stand der Ohranatomie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 856^
8amijeJ Thomas Soemmerrinj^ 3.!if>
Kiiiil HuMrhke 35.S
Kv<frard llouu* 302
Henry Jolm Shrapnell 363
Friedrich Cornelius 36>
'J'bomuH Hijrthanan 36(>
AnÜioriy Carlihltf 3(58
i'aji)ierih<Mni 3t)*>
'J'oiirtual 371
(Juilbi'rt HruHchet 374
•SteifeiiBund 377
Job. iinmn Hk 378
Friedr. CliriMt. HoHenUml 37^
L. h. JucobHüti 381
Fri«MJr. Arnold 381
(luiiriiii 383
AnnicJiten übur die Vtjrbreitunjjf und Kndi|»un^ des Hörnerven 384
AnhicbtiMi IUmt die Kndij^unjj dos Vorhofanerven . 385
VerKli*i<li(*iide Anatomie d«H (iehöror^ifanfl 388
H.vrl.l 388
Litenitur 392
Kntwirklun^'H^cKcbichti^ di*H (i(>höror^an8 394
J. Fr. Mcckel 304
Oiirl KrnHt von Hjmm- 395
(Jünth«M- 397
Seydel 39^
Kathkc 398
Stand der Physiologie des Gehörorgans in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts 399
Job. Uoinr. Ferd. v. Autenrietb 3i»V>
J. H. Venturi 400
Fran^ois Maj;ondie ... 4(y2
Jobaniifs Müller .... 404
Felix Savart . . .... 40^
Marie ^leun Pierre FJourens . . 4u«>
Inhaltsverzeichnis. XIII
Seit«
Purkinje 411
Marcus Herz 411
Wollaston 412
Chladni 413
Wheatstone 413
Ernst Heinrich Weber 414
Polansky 416
Literatur der Physiologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts .... 417
Uebersicht der pathologiBch-anatomiBcheii Befunde im Gehörorgane
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 418
Literatur 422
uebersicht der diagnostischen Hilfsmittel in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts 424
Stand des Taubstummenunterrichtes bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 427
Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts 432
England 432
John Cunningham Saunders 432
John Harrison Curtis 434
Thomas Buchanan 435
William Wright 436
Webstar. A. Tumbull 437
George Pilcher 437
John Stevenson. J. Williams. W. Dufton 438
James Yearsley 438
Frankreich 439
J. M. G. Itard 439
Antoine Saissy 444
Nie. Deleau jeune 447
Philippe 449
Gairal. Bonnet. Petrequin. Ducros 450
Deutschland 450
Karl Joseph Beck 451
Joseph Frank 451
Literatur 452
H. Breßler 454
Gustav V. Gaal 455
Martell Frank 455
Wilhelm Kramer 456
Gustav Lincke 463
Verzeichnis der Tafeln.
Tafel
Andreas Vesalius I
PhilippuB Ingrassia II
Gabriel Falloppius III
Bartolomeus Eustachius IV
Volcher Koyter V
Fabricius ab Aquapendente VI
Jalius Gasserius VII
Guilelm. Fabricius Hildanus VIII
Thomas Willis IX
Joannes Riolanus X
Claude Perrault XI
FranciscuB Deleboe Sylvius XII
Antonio Maria Valsalva XIII
Joann. Bapt. Morgagni XIV
Domenico Cotugno XV
Antonio Scarpa XVI
Raymond Vieussens XVII
Samuel Thomas Soemmerring XVIII
Kmil Huschke XIX
Gilbert Breschet XX
Friedr. Arnold XXI
Joseph Hyrtl XXII
Carl Ernst v. Baer XXIII
Johannes Müller XXIV
M. J. P. Flourens XXV
Ernst Heinrich Weber XXVI
Abbe de L'Epäe XXVII
John Cunningham Saunders XXYHI
J. M. Gaspard Itard XXIX
Nie. Deleau Jeune XXX
Wilhelm Kramer XXXI
Die Otiatrie bei den alten Völkern des Orients.
Aegypter. Juden. Inder.
Die Ohrenheilkunde der alten Kulturvölker bis zu den Griechen
kann, wie die Medizin jener Epochen überhaupt, als rein empirische be-
zeichnet werden. In Ermanglung jeder anatomischen und wissenschaftlichen
Grundlage ist sie gleich der in- und externen Heilkunde ohne Zweifel
aus der Ueberlieferung der beim Volke sich allmählich eingebürgerten
Heilmittel hervorgegangen. Gewiß hatten schon die Urvölker, die be-
sonders manchen Mineralien und Pflanzensäften geheimnisvolle Heilkräfte
gegen allerlei menschliche Gebrechen zuschrieben, auch gegen Ohren-
schmerz, Ohrenfluß und Ohrgeräusche mineralische und pflanzliche
Substanzen angewendet, welche, durch Tradition auf die Kulturvölker
vererbt, im Laufe der Zeit als spezifische Ohrmittel galten. Sind doch
jetzt noch verschiedene, seit Jahrhunderten gebräuchliche Pflanzensäfte,
z. B. der ausgepreßte Saft des Sempervivus tectorum u. a., beim Volke
als Mittel gegen Ohrenschmerz und Ohrensausen im Gebrauche.
So geringes Interesse die Otiatrie der alten Kulturvölker bietet, so
konnte dennoch aus historischen Gründen auf deren Schilderung nicht
verzichtet werden, umsomehr als die Otiatrie der Griechen sich vt)n der
Ueberlieferung der älteren Epoche nicht ganz frei zu machen vermochte.
Aegypter.
Die vielseitige ärztliche Tätigkeit der alten Aegypter, welche nach
den uns überlieferten Aufzeichnungen die Spezialisierung der Medizin
in extremster Weise durchführten, mußte sich notgedrungen auch der
Therapie der Ohrenleiden zuwenden. Es läßt sich jedoch aus dem vor-
liegenden Materiale nicht feststellen, ob im Pharaonenlande neben anderen
zahlreichen Spezialisten auch Ohrenärzte tätig waren, da solche in der
übrigens unzuverlässigen Notiz Herodots^) neben Augenärzten, Zahn-
ärzten, Aerzten für Kopf- und ünterleibskrankheiten etc. nicht erwähnt
werden. Ob sich eine eigene Klasse von Leuten mit dem Durchstechen der
Ohrläppchen befaßt hat, ein Eingriff, der bis in die frühesten Zeiten zu-
rückdatiert, ist aus den alten Schriften nicht zu erweisen. Als bestimmt
jedoch kann angenommen werden, daß Mißbildungen und die Verstümme-
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkuude. I. 1
2 Aegypter.
\\\\\}X »<ov \y\\\\^n \\\ Ao^yphMi — Ro wiü Hpllter bei den Juden — zum Priester-
^rM\< )i>^hi^\^U»h jiT^rnnrUt Imhon**). Die fremden Gewährsmänner über
SVUM^^^*^^^^^^' '^''^'^^^^^*'^' wie Unrodot, IMutarch, Diodor, Pliniusu.a.,
s'.'^^\ <^^'St>^^v A\^hM>»« lii»«on UUH bezüglich der Uranfänge unserer Fach-
N\*<cvHw\\s*\<V m wwkUww. Krpit «eit Entzifferung der medizinischen Texte
\^\ «t ^S^^WMU U» Mifi'ob'^)» iU'H Papyrus Ebers**) und des Papyrus Leiden
M<i ^vs-^*^»'N M N\u «MMi* kUron» VorHtellung über den Stand der Ohrtherapie
\'\v nU v^ \vi\\pt«'in. hio VfM'hliltnismiißig große Anzahl von Rezeptformeln
\\\\ \^\\\\\\\\^\\\\^\\^ wolrbo «irh in diesen vorfindet, gibt uns ein über-
u^ vUv ^vbv>» \\\\\\ von tloni Hostrebou der vor mehr als drei Jahrtausenden
\\yA\u\lou U^Nphiiohon Thorupouton, die mannigfachen Beschwerden der
\Mvu vkuu\kMnM[ou NU lioilon. Einem wissonschafUichen Fortschritt der
\^u\ ulhviU\Mudo von rohor Empirie zu rationeller Methode stand indes der
>\UuMlhb»^ MhUgol unutomischen Wissens entgegen. Die Kenntnisse,
N\*v|*b»» ^(^logou(lioh bei der Einbalsamierung gewonnen wurden, be-
•M luu»\Kl«M\ Hw\\ \\\\( die Form und Umrisse der Eingeweide, doch waren
i\\\\\\ d\0N0 i^.\) dÜrtYig« als daß sie wissenschaftlich in Betracht gekommen
\\\\\\^\\ OwK Mob((n>)^n scheint nie untersucht worden zu sein.
NNonn nu ein«olnen Stt^Ucn v\\n GtefäLßstringen gesprochen wird, die
¥\\ doM Obivu hinziehen« s\^ ist tiabei jtu bemerken, daß als Gefaßstrange
\\\\\\\ Mur dio lUutiit^fUlV>^ siÄ^rTR a;ach andere röhrenförmige Gebilde
>«M><rtndon woiMcn. die mit dem Traclieieir?y>5tem der Arthropoden gewisse
A«^bul\obk^^i< W*it«ciu was k R asjs ier ZuxiUang der Luflrohre zu den
t^or»UW\\ UervxM'jj^htH Im l>Äp5T5as K><"r> werfen Xase und Ohr***) gemein-
KibiUlhob al^ba«dchs Lrtm«y?? Sin die Bexeiclmung .mester". Die
Uodou<uui;t •wcsnt^r* is: ^rci -Äas kv^Masche Wort und durch Stellen im
'l\^tcub\uh, wie »Ick >cx ^«s Axure, ias sieht, und das Ohr, das hört*
x^dov du^ >Äi<sicTih>h ii; T^lap^^x T<-x«ä T^ffirommende Phrase: .das Ohr
b*M1\ Mchcnr»w=*^^hv ^-wvil iit F^fcjyras Brugsch (Spalte 15, Zeile 1
b^> Sj^altx^ l<\ 7x\k > ^ :iL Pjyrrrcs Ebers ^Tafel 103) ist das für
d>c l^^rcr.hcilkTßTDik St, IWist:»;^ ^:aLii>eizioe Bxicli •Cchedu* «liber ulcenim),
cu>c rvk«t»*?c xv-flr. biVibsQ^en: Aifeer« «:ii*li«i, welches, wie es in der Eän-
Icitiin*:: bcifc, ix S^vitfot lrfa*a*fcif xuser «Der Anubisstatue gefunden
>Ä«V4^c. l>i^ TT, ÄjfÄC rrVnu» "Sf-inöiki«! Xodaen über das Ohr zeigen,
>Ät^)c>; ^r#7WKC W:r«^ isvos o«r w«: v^cwsdiritJeDen Kultur der alten
\^or»^^r. *«: A^Dsa^aim «ler« wxroK So lautet eine Stelle; ^Der
" ÄAwifii: ii^ Ton&imxatt^ Ef^rnaais^ i»n.f Pi«», Pi&Bclie 85 — 107. p. 114
«
Aegypter. 3
Mensch besitzt zwei Gefäßstränge, die zu seinem rechten Ohre ziehen und
von Lebenshauch (Pneuma) durchströmt werden; er besitzt zwei Gefäß-
stränge zu seinem linken Ohre, die Todeshauch (Wind des Todes,
tödliche Luft) durchströmt/ Dem Buche Uchedu geht das „Geheimbuch
des Arztes vom Herzen** voraus, welches die Verzweigung der Arterien
(von der Nase ausgehende Pneumagefäße) und der Venen (vom Herzen
entspringend) aufzählt. Auch hier werden dem Ohre je zwei Gefäße
zugeschrieben. „Es sind vier Gefäßstränge zu seinen beiden Ohren; dar-
unter sind zwei Gefäßstränge rechter und zwei linker Hand. Es strömt
Lebenshauch durch das rechte Ohr und Todeshauch durch das linke Ohr."
Ob die Tuba Eustachii als einer dieser „Gefäßstränge" nach Ana-
logie der Trachea anzusehen ist, oder ob man unter den zwei Röhren
den Gehörgang und die Tuba zu verstehen hat, bleibt dahingestellt*).
Man würde daher zu weit gehen, wollte man aus dieser eigentümlichen
Textierung schließen, daß die Aegypter bereits die Ohrtrompete gekannt
haben**).
Reicher ist der therapeutische Inhalt der genannten Papyrus.
So finden sich im Papjnus Brugsch (Spalte 23, Zeile 6 und 12) Mittel
gegen die „Schwere des Ohres" und gegen „Unreinheit (stercus) des
Ohres" *). Letzteres ist wohl ein flüssiges Krankheitsprodukt, das mit der
Galle verglichen wird, da es im Texte als Galle bezeichnet wird. Nach
der Lehre von den Kardinalsäften wäre demnach ein Ohrsekret zu ver-
stehen, das dadurch krankhaft ist, weil es zu viel Galle enthielte. Diese
Stelle ist auch deshalb interessant, weil auch noch in späteren Jahrhun-
derten das Ohrenschmalz wegen seiner Farbe und seines bitteren Ge-
schmacks als Derivat der Galle gedeutet wurde.
Im Papyrus Ebers wird die Therapie der Nasen- und Ohrenleiden
(Nase und Ohr waren ja nach damaliger physiologischer Theorie die bei-
den Eingangspforten des Pneuma) zusammen abgehandelt. Von den
98 Tafeln des therapeutischen Textes enthalten 26 Zeilen Ohrtherapie,
diese bildet daher den sechzigsten Teil des ganzen Inhaltes, woraus auf die
Wichtigkeit der Ohrenheilkunde bei den alten Aegyptem geschlossen
werden kann. Hier nur einige kurze Beispiele: „Beginn von den
*) Nach Oefele (briefl. Mitteilung) würde die Stelle im Papyrus Ebers
richtiggestellt so heißen: Nach dem rechten Ohre geht ein GefUßstrang mit Blut
und ein Gefößstrang mit belebendem Pneuma (0). Nach dem linken Ohre geht auch
ein Qefäßstrang mit Blut und ein Gefößstrang mit tödlichem Pneuma (COj).
**) Bei der Jahrtausende alten Sprache, in welcher der Papyrus abgefaßt ist,
stößt die Deutung der anatomischen Begriffe selbstverständlich auf beinahe unüber-
windliche Schwierigkeiten. Dazu kommt noch, daß verschiedene Körperteile mit
glichen Bezeichnungen belegt werden , wie z. B. die Nasenmuschel und die Ohr-
muschel, wodurch das richtige Verständnis für die anatomischen Kenntnisse der
Aegypter noch mehr erschwert wird.
Babylonier und Assyrier.
Mitteln für das Ohr; wenig hört es. Eisenoxyd (Hämatit) und
Schleim von Loranthus (Mistelschleim) fein kontundieren mit frischem
Harz. Applizieren in das eine Ohr. Anderes für das Ohr: Es gibt
stinkende Flüssigkeit: Weihrauch in Gänseschmalz, Rahm von der
Kuh, „betet hauit*' [ausgeschwitzter Salpeter (?) oder Borax (?)] fein zer-
mahlen, applizieren in das eine Ohr.
Anderes zur Kühlung des Ohres. Du kannst es kühlen mit
Arzneien. Damit kühlt sich ihm (dem Ohre) die Hitze, wenn der Puls
hämmert (Phlegmone?). Mache du ihm einen Teig von Grünspan, zer-
mahlen, zum Applizieren darin vier Tage. Bei der Bereitung und bei
der Anwendung dieser Medikamente ist im Papyrus Ebers und B rüg seh
die Anrufung der Gottheit vorgeschrieben.
Der Papyrus Leiden 348 enthält Beschwörungsformeln gegen
Ohrenkrankheiten ^).
Wenn wir mit der Ohrenheilkunde der Aegypter begonnen haben,
so geschah dies nur aus dem Grunde, weil wir über die Medizin dieses
alten Kulturvolkes verhältnismäßig am besten orientiert sind. Viel
schlechter ist es um unsere Kenntnis der Medizin der alten Völker West-
asiens und der mediterranen Vorarier bestellt, v. Oefele*) hat durch
seine eifrigen Untersuchungen wohl einiges Licht in die vorhippokratische
Medizin gebracht. Doch bleibt noch viel den künftigen Medikohistorikern
vorbehalten, wenn einmal das Dunkel, in das die Geschichte dieser Völker
gehüllt ist, aufgehellt sein wird.
Die Medizin der Sumerer, der Kulturvorläufer der Babylonier
und Assyrier, ist uns durch ihre Keilinschriften einigermaßen bekannt
geworden. In dieser Keilschriftliteratur wird das Ohr als das Organ
des Willens bezeichnet.
Was die vorarische Medizin Indiens betrifft, ferner die Medizin der
alten nubischen Völker, der Götterländer und Weihrauchländer, der
alten Nordwestafrikaner, der Babylonier etc., so läßt sich ein Bild der
medizinischen Gebräuche dieser Völker aus den notdürftigen Behelfen,
die uns heute noch zur Verfügung stehen, schwer konstruieren ; noch viel
weniger läßt sich über unsere Spezialwissenschaft ein Urteil abgeben.
In einem Geburtsprognostikum aus der Zeit des Königs Naramsin aus
Babylonien (um 3750 nach Nabonids Datierung) wird geweissagt: „Wenn
eine Frau ein Kind gebiert, das Löwenohren hat**), so wird ein starker
*) Handbuch der Geschichte der Medizin von Puschmann, herausgeg. von
Neuburger und Pagel. I, p. 52.
**) Ob es sich bei diesem Ausdruck um eine Ausgeburt der Phantasie oder um
einen Terminus technicus im Sinne unserer „Hasenscharte" handelt, kann v. Oefele
nicht entscheiden.
Babylonier und Assyrier.
König im Lande sein. Wenn eine Frau ein Kind gebiert, dem das rechte
Ohr fehlt, so werden die Tage des Fürsten lang sein. Wenn eine Frau
ein Kind gebiert, dem beide Ohren fehlen, so bringt es Trauer ins
Land und das Land wird verkleinert. Wenn eine Frau ein Kind gebiert,
dessen rechtes Ohr zu klein ist, so wird des Mannes Haus zerstört
werden.**
Auf Tafeln in assyrischer Schrift finden sich Stellen, welche unter
anderem vom „Löwenohr"**) und den Ohren des Neugeborenen handeln.
— Für die Medizin der Assyrier kommen die in letzter Zeit aus-
gegrabenen Archive babylonischer Städte in Betracht, deren Verwertung
für die Geschichte der Medizin noch nicht möglich war, und femer auch
Tausende von Tafelfragmenten, die erst zum geringsten Teil heraus-
gegeben wurden. Ein sogenanntes 19-Tafelwerk enthält auf der 8. Tafel
eine Abhandlung über das rechte Ohr (K 4080 + Sm 552). Zwei
medizinische Serien der Bibliothek Ninive, welche jedoch kaum Original-
arbeiten enthalten dürften, behandeln unter anderem otiatrische Gegen-
stände K 4023, K 10498, K 10767, K 11027, K 11788, K 13492,
Sm 379. Die Otitis media acuta, als ^Feuer im Herzen des Ohres*
bezeichnet, wird besprochen (K 10453); außerdem finden sich Notizen
über das rechte Ohr und Erkrankungen des inneren Ohres K 6661.
Wahrscheinlich schrieben auch die Assyrier wie die Aegypter den beiden
Ohren verschiedene Funktionen zu. Das Ohrenschmalz galt als Materia
peccans, durch welche schlechtes Pneuma und schlechte Säfte entfernt
werden*).
*) Herodot, Mnsae seu Historianim libri IX. Euterp. Cap. 84. 'f\ ol IfitptxYj
xata xdZz o«pl SiSa^tat fJLtYj? vousou ixaoxo^ t-rjTpö^ ^zxi xal oh nXsovuiv. ITavia 8' lYjTpÄv
latl Kkia' ol |iiv fap o^^aX|jLü>v Ifjtpol xateat^aai, ol 81 xs^aXYj^ oSovtuiv, etc.
*) Erwähnung des Ohrrings u. a. Pentateuch, Genesis Cap. 35 v. 4, Ezechiel
Cap. 16 V. 12. Ilias XIV, 182; XVIII. 401. Odyssee XVIII, 297.
•) Das Rezept lautet nach B rüg seh (Archiv f. Ohrenheilk. Neue Folge.
Bd. I, p. 54): „Mittel, um zu beseitigen die Schwere am Ohre.
Die Pflanze ank 1
Balsam 1
die Pflanze ma 1
past (?) 1
tierisches Fett 1*
Die Zahlen beziehen sich auf eine noch nicht fixierte Gewichtseinheit.
'*) Meyer in Schwartzes Handbuch der Ohrenheilkunde Bd. II, p. 868.
*) Eine Ohrenerkrankung (, Ohrenfluß *) eines Assyrerkönigs zwischen 700 und
600 V. Chr. ist beschrieben in den Zeilen 4 u. fg. des Briefes E 8509 aus der Biblio-
thek Sardanapals des Assyrerkönigs (nach der keilinschriftlichen Reproduktion in
Bezolds Catalogue der Cooyuxyik Collection; vergl. Oefele in Janus 1903, p. 640).
Juden.
Jaden.
Die Medizin der Juden zerfällt in die althebräische und. in die tal-
mudische. Da sie ihrem Wesen nach monotheistisch-theurgisch war,
traten erst in einem verhältnismäßig späteren Zeiträume eigentliche
Aerzte auf. Spuren einer Ohrtherapie finden sich in der Bibel, die
für andere medizinische Fächer als Quelle herangezogen werden kann,
nicht vor. Dagegen enthält der Talmud einige bemerkenswerte Stellen,
die schon auf eine nicht unansehnliche Therapie hindeuten. Da bei den
Juden die Berührung einer Leiche durch die Religionsvorschriften unter-
sagt war, konnte von einer Anatomie des Menschen keine Rede sein.
Nur die Beobachtungen an Opfertieren führten zu einzelnen anatomischen
Kenntnissen, welche sich jedoch bloß auf das äußere Ohr beziehen. So
werden unter den Fehlem, die ein Tier zum Opfern ungeeignet machten,
aufgezählt: Verletzung des Ohrknorpels durch Spaltung, ein noch so
geringer Ausschnitt im Knorpel, Verdoppelung, Durchlöcherung, Verdor-
rung des Ohrknorpels (so daß bei einem Stich keine Blutung eintritt) etc. ^).
Als Leibesfehler, die zum Priesteramte unfähig machten, galten
unter anderem: zu kleine Ohren, Ungleichheit, schwammige Aufgedunsen-
heit und Herabhängen der Ohren *)*
Von Wichtigkeit ist, daß Taubstumme in religiöser wie in juridi-
scher Hinsicht den Minderjährigen und Irrsinnigen gleichgestellt waren.
Die Heilmittel für Ohrleiden waren ebenso absonderlich wie bei
anderen Völkern, vielleicht zählte zu ihnen auch Mohnsaft, der öfter
z. B. als Medikament gegen Gift und gegen Zauber erwähnt wird und
auch von griechischen Aerzten vielfach verwendet wurde.
Einer der vier im Talmud namentlich angeführten Aerzte, Manjume,
ein Zeitgenosse Rabbas (um 280 n. Chr.), bezeichnete alle Flüssigkeiten
für das Ohr als schädlich, mit Ausnahme des Saftes von Nieren.
Es heißt nämlich im Traktat Aboda Sara 28 b: Rabbi Abahu litt
an einem Ohrenschmerz, da belehrte ihn Rabbi Jochanan über ein Mittel,
das er anwenden soll.
Man nehme die Niere einer Ziege, mache in sie einen Querschnitt,
lege sie auf Kohlenglut und tue den ausfließenden Saft in lauem Zustande,
nicht kalt und nicht heiß, ins Ohr.
Als andere Mittel werden bei Mangel des obigen empfohlen: Fett
eines Käfers mit Namen Chipuschuta (?) zu schmelzen und ins Ohr zu
geben; oder man tue Oel ins Ohr, matjhe sieben Dochte aus Weizen-
stroh, das im grünen Zustande abgemäht wurde, binde sie an einem
Ende mit dem Grünen von Knoblauch, bringe das andere Ende in das
Ohr und zünde diese Docht« an, lasse einen nach dem anderen aus-
brennen und verhüte dann, daß Luft ins Ohr kommt. Oder man nehme
Inder. 7
hundert Jahre altes Schilfrohr, fülle es mit Steinsalz, verbrenne es und
verstopfe damit das Ohr. (Bei Ohrenfluß.) Die flüssigen Mittel sind bei
trockenen, die trockenen Mittel bei fließenden Ohren anzuwenden*).
Im Traktat Sabbat 65, a wird von Baumwolleinlagen gegen Ohren-
schmalz gesprochen, das sich bei alten Leuten anhäufe. Dort heißt es
auch (Seite 152 a), daß das Alter schwerhörig macht.
Nach diesen Stichproben darf man wohl die talmudische Kenntnis
unseres Fachs auf dieselbe Stufe mit derjenigen stellen, die andere in
medizinischer Hinsicht sonst bedeutend vorgeschrittenen Völker des Alter-
tums hatten. Lief doch im Altertum und Mittelalter, wo Anatomie und
Physiologie die vernachlässigten Stiefkinder der Heilwissenschaft waren,
alles auf rohe Empirie hinaus.
Im Mittelalter stellten die jüdischen Aerzte es sich bekanntlich zur
Aufgabe, eigene und arabische Heilkunst dem christlichen Abendlande
zu vermitteln, ein Verdienst, das ihnen auch vom Standpunkt der Ohren-
heilkunde zugesprochen werden muß.
Aus der mittelalterlichen jüdischen Medizin wäre namentlich eine
auf den Lehren der ^ Mischnah" beruhende Anschauung des berühmten
Moses Maimonides (1135 — 1205) hervorzuheben. In seinem Religions-
kodex (IV. Mamzim, V. 6) schreibt er: „Derjenige, welcher seinen Vater
aufs Ohr schlägt und ihn taub macht, ist des Todes schuldig, da es nicht
möglich ist, daß er ohne Verwundung taub geworden, sondern es ist ein
Tropfen Blutes in das Innere des Ohres hineingezogen, wovon es taub
geworden ist.** (Vgl. Baba kamma 86a und 98a.)
') Meimoni, Tempel Vorschriften.
') Ibidem.
*) Die Lehre Rabbi Chaninas: ^Man darf die Ohren am Sabbat heben*
(im Jeruschalmi Sabb. 14. 4 heißt es die Töchter der Ohren), welche sich vielleicht
auf eine Phlegmone bezieht, wurde von dem Kommentator Raschi ausgelegt: Das
Geäder der Ohren senkt sich so, daß die Kiefer Siuseinandergehen , und man muß
sie heben, da sonst eine gefährliche Krankheit entsteht; ob dieses Heben mittels
eines Arzneimittels oder nur mechanisch mit *der Hand geschehen soll , ist nicht
erklärt.
Inder.
Obschon die neuere Kritik die Entstehungszeit der ältesten, uns
erhaltenen indischen medizinischen Werke in eine wesentlich jüngere
Periode verlegt, als man nach der archaistischen Form annehmen sollte,
so enthält doch namentlich der berühmte Ayur-V^da, das Buch des my-
thischen Susruta, gewiß die ältesten Traditionen und bietet ein ebenso
klares, Wie unverfälschtes Bild des altindischen Heilwesens ^). Was wir
darin von otiatrischen Kenntnissen finden, gilt für einen Zeitraum von
fast zwei Jahrtausenden. Das Charakteristische der indischen Ohrenheil-
8 Inder.
künde liegt in der fast unermeßlichen medikamentösen Therapie, welche
sich die reiche Pflanzenwelt der Heimat zu Nutzen machte, und in der
Pflege der 0 toplas tik. Letztere wurde erst in der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts durch den siziliauischen Chirurgen Branca, später durch
den Bologneser Tagliacozzi in Europa bekannt.
Diese Kunst nahm, infolge der Strafe des Ohrabschneidens, die auch
bei den Skythen, Persem und in den älteren Perioden der Hellenen üblich
war, großen Aufschwung. Leider ist die betreffende Stelle in dem Ayur-
veda sehr dunkel gehalten*). Sie schließt an einen Absatz an, der mit
großer Weitschweifigkeit vom Durchbohren der Ohrläppchen
handelt, das seit alter Zeit zum Zwecke der Ableitung krankhafter
Säfte und zum Tragen der Ohrringe ausgeführt wurde.
Diese Operation scheint nur von den Aerzten unter Beobachtung
religiöser Vorschriften vollzogen worden zu sein mit einer Umständlich-
keit, von der die genauen Angaben über die bei den verschiedenen Fällen
notwendigen Verbandarten Zeugnis geben ^)*).
Die eigentliche Ohrenheilkunde entbehrte ebenso wie die übrigen
medizinischen Zweigwissenschaften der anatomischen Grundlage. Die
anatomischen Kenntnisse beruhten, da religiöse Vorurteile hindernd im
Wege standen, auf einer eigentümlichen Präparationsmethode, die darin
bestand, daß man den Leichnam im fließenden Wasser liegen ließ und
nach sieben Tagen mit Rinden das Erweichte abrieb. Immerhin hatte
diese sonderbare Art anatomischer Forschung einen größeren Wert als
die auf legendarischer Ueberlieferung basierenden Vorstellungen über den
menschlichen Körper bei anderen Völkern. In dem Buche Särirast'hana
(Somatologie) findet sich über Ohranatomie folgendes. Bei der Aufzählung
von Knochen wird gesagt, daß die Ohren in ihrer Höhlung Knochen von
zarter Beschaffenheit besäßen, mit gelenkiger Verbindung. Später werden
zwei Ohrmuskeln und zehn Ohrgefäße, die teilweise den Schall leiten,
erwähnt. Endlich spricht Susruta von Nerven (wahrscheinlich identisch
mit Kanälen, wie das griechische «öpot), welche die Perzeption des
Schalles vermitteln.
Die Krankheiten des Ohres werden entsprechend der indischen
*) Nach einer Uebersetzung von Roth (Tübingen), die sich bei Zeis (Die
Literatur und Geschichte der plastischen Chirurgie. Leipzig 1863. p. 59) findet,
lautet die betreffende Stelle folgendermaßen: .Demjenigen, der kein Ohrläppchen
hat, kann der Arzt eines machen, indem er (den Stoff dazu) aus der Wange nimmt»
mit lebendigem, noch anhängendem Fleisch, nachdem er zuvor (die Stelle) wund
gemacht hat* Gurlt bemerkt zu dieser Stelle, es gehe aus ihr hervor, daß man
zum Ersatz des Ohrläppchens nicht die Haut hinter dem Ohre, wie es später
Tagliacozzi tat, sondern vor demselben aus der Wange entnahm.
**) Geschichte der Chirurgie Bd. I. 48. Vergl. auch Grundriß der indo-arischen
Philologie, begr. von S. Bühler. Bd. III. Jul. Jolly, Medizin. Straßburg 1901.
Inder. 9
Pathologie, soweit sie nicht durch Trauma bedingt sind, von Mißverhält-
nissen in den Lebenselementen: Luft, Schleim und Galle hergeleitet.
Man unterschied *) achtundzwanzig Ohrleiden, darunter verschiedene Arten
von Geschwülsten, Entzündungen, Hämorrhoidalknoten, dann Ohren-
schmerz, Ohrensausen, Ohrenklingen, Ohrenschmalz, Ohrenfluß, Ohr-
eiterung, Ohrjucken, Schwere der Ohren u. a. m.
Der Ohrenschmerz wird z. B. durch Eindringen der Luft verursacht,
die, wenn sie länger verweilt, Ohrgeräusche erzeugt. Das Jucken im
Ohre wird durch Anhäufung von Schleim veranlaßt. Trocknet dieser
durch den Einfluß der Galle (die also auch bei den Indern in der patho-
logischen Erklärung des Ohrenschmalzes eine Rolle spielt) aus, so sammelt
sich Ohrenschmalz an. Ohreiterung kann mit Schmerzen verbunden sein
oder schmerzlos verlaufen. Entzündliche Geschwülste können durch Ver-
letzung oder durch Säfteverderbnis verursacht sein. Eine ausführliche
Beschreibung wird den Krankheiten des Ohrläppchens gewidmet. Als
solche werden Härte und Geschwulst, Schwere, Jucken und Anschwellung
hervorgehoben, wobei wieder Luft, Schleim und Galle als krankmachende
Momente herangezogen werden.
Als allgemeine Regel bei der Therapie der Ohrenkrankheiten
gelten folgende Vorschriften: Trank von flüssiger Butter, Lebenselixir,
Waschen des Kopfes, keine Ermüdung, Beobachtung der brahmanischen
Vorschriften (brahmacharya) und Stille. An Ohrkrankheiten leidende
Personen durften nicht baden.
Die Hauptbestandteile der indischen Apotheke, welche besonders
Pflanzenmittel in Anwendung zog und über einen schier unübersehbaren
Heilschatz gebot, gelangten auch in der Otiatrie zur Verwendung. Dem
Charakter des Landes entsprechend wurden pflanzliche und tierische Fette,
Oele, Harze, dann Milcharten, Honig und Zuckerstoffe bevorzugt. Die
Form der Arzneien waren Salben, Linimente, Pulver, Extrakte, Oele etc.
Wie bei anderen Völkern wurden unter den animalischen Stoffen Milch
und Urin nicht selten bei der Zusammensetzung von Medikamenten in
Gebrauch gezogen. Die Heilmittel waren meist sehr kompliziert.
Bei der Ansammlung von Ohrenschmalz und zur Entfernung von
Würmern bedienten sich die indischen Aerzte des Ohrlöffels oder eines
hörnernen Instruments »).
Die Physiologie und Pathologie des Gehörsinnes wird nur spekulativ
behandelt.
Von den fünf Elementen, mittels welcher Brahma die Welt durch-
dringt (Erde, Wasser, Liebt, Luft und Aether), ist es der Aether, der
dem Gehörsinn als Medium entspricht. Verwirrung der Sinne deutet auf
baldigen Tod; im Bereich des Gehörsinns geben folgende Erscheinungen
böses Omen: Wenn einer nicht existierende Töne hört, dagegen den
10 Naturvölker.
wirklichen Schall nicht oder andersartig wahrnimmt, durch Mißtöne er-
freut, durch angenehme Klänge aber aufgeregt wird etc., so kann er
nach ärztlicher Voraussicht plötzlich dahingerafft werden.
^) Wir benutzten die lateinische Uebersetzung von Heß 1er. Sosrutas Ayar-
v^das id. est Medicinae Systema a venerabili D*hauvantara demonstratum a Susruta
discipulo compositum. Nunc primum ex Sanskrlta in Latinum sermonem vertit.
Dr. Fr. Heß 1er. Erlang. 1844—45. T. lU. Cap. XX, XXI. Die Angaben über die
Entstehung des Ayurveda schwanken zwischen 1500 v. Chr. bis 500 v. Chr.
^) 1. c. Sütrast'hana cap. XVI.
^) Ibidem.
*) Earüa (Ohr-) süla Schmerz, praüada (tönen), karuasrava Ohrfluß; karüa-
güt'ha Ohrschmutz; puti-karüa Ohreiterung etc.
^) In auris cavitate versatum vermem aut madorem, sordes etc. extrabat peritus
medicus comu aut auriscalpis.
4
Anhang.
Die Ohrenheilkande bei den NatarToIkem.
Wir entnehmen aus Bartels Arbeit „Die Medizin der Naturvölker"*) über
Ohrenheilkunde bei den Naturvölkern folgendes:
Nach einem eigentümlichen Glauben der Annamiten (Hinterindien) wird das
Ohr von einem kleinen Tiere (Conray) bewohnt, welches das Ohr beschützt und da-
selbst auch seine Exkremente, das Ohrenschmalz, absetzt. Ohrenklingen wird hervor-
gerufen, wenn dieses Tier mit anderen eindringenden Tieren oder Fremdkörpern
in ^ampf gerät. Geht das Tierchen verloren, so entsteht Taubheit. Bei den An-
namiten ist femer die Ansicht verbreitet, daß beide Ohren miteinander in Kom-
munikation stehen; deshalb verschließen sie, wenn ihnen z. B. ein Insekt in das
eine Ohr dringt, rasch das andere und glauben dadurch zu bewirken, daß das
Insekt aus Mangel an Luft zum Atmen schnell wieder hinauskriechen müsse. Bei
Ohrenerkrankungen wenden sie Räucherungen mit der Haut einär ungiftigen
Schlangenart an. Die Harrart, ein Volk im östlichen Zentralafrika, legen gegen
Ohrenschmerzen und Taubheit eine Pflanze, die nicht näher bekannt ist, auf das affi-
zierte Ohr. Die Aschanti, ein Negerstamm in Oberguinea (Afrika), bereiten sich
aus verschiedenen Pflanzen einen Saft, den sie bei Ohrenerkrankungen ins Ohr
gießen. Femer träufeln die Mittelsumatraner ihren Kindem, die recht häufig
an Ohrenflässen nach Mittelohrentzündungen leiden, ein Mittel ein, welches sie
sich durch Kochen von Klapperöl mit dem Milchsafte einer zu diesem Zwecke an-
gebauten Kaktuspflanze bereiten. Die Taubheit wird von ihnen mit einem eigenen
Namen belegt; ein Mittel dagegen kennen sie nicht. Endlich erwähnen wir noch
den bei den Marokkanern absonderlichen Gebrauch, daß der Arzt Oel in den
Mund nimmt und dieses dem an Ohrenfluß leidenden Kranken geschickt in den
äußeren Gehörgang einspritzt.
*) Max Bartels, Die Medizin der Naturvölker. Ethnologische Beiträge zur
Geschichte der Medizin. Leipzig 1893. p. 212.
Die Otiatrie bei den Crriechen und Römern.
Stand der Otiatrie bei den Griechen vor Hippokrates.
(Die Philosoplieine über den Gehörsinn.)
Die Medizin der Hellenen stand in ihren Anfängen zweifellos unter
dem mächtigen Kultureinfluß der Aegypter und der orientalischen Völker.
Bald jedoch hat sich dieses Kulturvolk von fremdem Einfluß zu eman-
zipieren gewußt, um auf allen Gebieten, sowohl in der Philosophie wie
in der Naturwissenschaft, Originelles zu schaffen. Diese Umformung
alter Traditionen war nach allen Richtungen eine durchgreifende, doch
blieb es der neuesten Forschung vorbehalten, den Anteil der Griechen
von jenem der älteren Kulturvölker zu sondern.
In der ältesten Epoche findet sich nur äußerst wenig, was auf
Otologie Bezug hat. In Betracht kommen eine Anzahl von Stellen in
der Ilias und Odyssee, wo von Verwundung der Ohren und ihrer
nächsten Umgebung mit oder ohne tödlichen Ausgang die Rede ist;
ferner Votivgaben*), die von Geheilten in den Tempeln des Asklepios
gespendet wurden.
Ueber den Zustand der praktischen Ohrenheilkunde vor Hippo-
krates läßt sich nur ein höchst unklares Bild gewinnen, weil die voraus-
gehenden medizinischen Schriften gänzlich in Verlust geraten sind und
die Fragmente, welche von den ältesten Naturphilosophen in Form von
Zitaten noch vorliegen, begreiflicherweise höchstens das Gebiet der
Ohranatomie und Gehörsphysiologie streifen. Nur die Tatsache steht
fest, daß es bei den Griechen keine otologischen Spezialisten gab und
bei dem Mangel an sicheren anatomischen Kenntnissen höchstens von
einer roh empirischen Behandlungsweise die Rede sein konnte. Immer-
hin wäre schon dieser Epoche vieles von dem zuzuschreiben, was
sich an praktischen Kenntnissen im hippokratischen Kanon vorfindet.
Was die anatomisch-physiologischen Vorstellungen der griechischen
Philosophen anbelangt, die bekanntlich zu ihrer Zeit die Stelle der Natur-
forscher einnahmen und gelegentlich Tierzergliederungen vornahmen, so
wäre darüber folgendes zu berichten:
*) unter anderem bezieht sich eine aufgefundene Weihinschrift auf die Heilung
eines taubstummen Knaben.
12 Die griechischen Philosophen über den Gehörsinn.
Pythagoras (etwa 575 v. Chr. bis zur Jahrhundertwende) dachte
sich das Hören als einen nach außen wirkenden Akt und nahm an, daß
von der Seele ein warmer, feiner Hauch ausströme. Heraklit (etwa
535—475 V. Chr.) und Anaxagoras (etwa 500—428 v. Chr.)^) erklärten
die Sinnesempfindungen aus dem Gegensatz der Elemente in den emp-
findenden Organen und dem empfundenen Objekt. Das meiste ist uns
über die akustischen Hypothesen des Empedokles und Alkmäon über-
liefert. Empedokles*) (etwa 495 — 435 v. Chr.) soll nach Plutarch
einen schneckenförmigen Knorpel (xoxXt(b5Y]<; ^^vSpoc) im Ohr entdeckt
haben, der, durch die Luft erschüttert, wie eine Glocke einen Ton von
sich gebe. Sinnesempfindungen kämen überhaupt dadurch zu stände,
wenn sich der Elementarbeschaffenheit nach gleichartige Teilchen der
Objekte mit den entsprechenden Emanationen (aroppoai) der Sinnesorgane
in den „Poren** begegneten; die Wahrnehmung selbst erfolge in der Seele.
Der Schall beruhe demgemäß auf dem Zusammentreffen der Luftteilchen
in der Ohrhöhle und hänge in seiner Qualität ab von den Poren, durch
und gegen welche er sich bewege. Trotz der Erwähnung des schnecken-
förmigen Knorpels wäre es aber gewagt, Empedokles daraufhin für den
Entdecker des Ohrlabyrinths zu erklären. Alkmäon^) (um 500 v. Chr.),
zugleich Philosoph und Arzt, ein Forscher, der anscheinend auf Grund
von Tiersektionen über ganz ansehnliche anatomische Kenntnisse ver-
fügte, dürfte auch das Gehörorgan zum Gegenstand 'seiner Untersuchungen
gemacht haben. Eine Stelle bei Aristoteles, wonach Alkmäon be-
hauptete, daß die Ziegen durch die Ohren atmen, berechtigt allerdings
noch keineswegs zur Annahme, daß ihm die Tuba Eustachii bereits bekannt
gewesen wäre, aber er hatte anscheinend eine Vorstellung vom Gehörgang,
da er die Sinneswahrnehmung auf dem Wege von Gängen (xöpot) zum
Gehirn gelangen ließ, und ebenso deuten die Angaben vom xsvöv tj xotXov
auf Kenntnisse vom inneren resp. mittleren Ohr hin. Diogenes von Apol-
lonia (etwa 430)*), der sich um die Gefäßlehre im allgemeinen Ver-
dienste erwarb, beschrieb zum Kopfe ziehende, sich kreuzende Blutadern,
die jederseits im Ohre endigen; er erwähnte die verschiedene Größe der
Ohrmuschel, kannte den Gehörgang und nahm ebenso wie die übrigen
Philosophen an, daß der Hohlraum des Ohres mit Luft erfüllt sei. Seiner
Ansicht nach werde bei Entstehung des Schalls zuerst das Ohr, sodann
die im Kopfe befindliche Luft erschüttert. — Der Zeitgenosse des Hippo-
krates, Demokrit aus Abdera, stellte eine eigentümliche Hörtheorie
auf, welche den materialistischen Lehren dieses Philosophen getreu ent-
spricht. Wie die übrigen Sinneswahrnehmungen, beruht nach ihm das
Hören auf den materiellen Ausflüssen (siScoXa) der Körper, die durch die
Sinnesorgane zur feurig-luftartig gedachten Seele hinströmen und deren
Atome in Bewegung setzten. Das Eindringen geschehe jedoch nicht bloß
Hippokrates. X3
durch die Poren des Ohres, sondern durch den ganzen Körper. Daß es
aber bloß im Ohre zur Schallwahmehmung kommt, erklärt er daraus,
daß dort ein Hohlraum vorhanden sei, durch den die Teilchen am besten
hindurchgetrieben werden.
Aus der sokratischen Zeit sind uns nur dürftige bedeutimgslose
Notizen über das Hören von den Sophisten Protagoras (489 — 404)
und Gorgias (485—378) überliefert.
Plato*) (427 — 347) entwickelte im Timäos seine Lehrmeinung
folgendermaßen: „üeberhaupt wollen wir also als Ton den durch die
Ohren hindurch vermittels der Luft, des Gehirns und des Blutes sich
bis zur Seele verbreitenden Stoß bezeichnen, als Hören aber die dadurch
erfolgende Bewegung bestimmen, welche vom Kopfe beginnend in der
Gegend der Leber aufhört.** Daß Plato die Wirkung des Gehörten sich
bis zur Leber ausbreiten läßt, hängt damit zusammen, daß nach seiner
Ansicht die Gehörswahrnehmung auf die ganze Seele, also Denken, Emp-
finden und Begehren, einwirkt. Sitz dieser Hauptfaktoren des Seelen-
lebens sind aber nach seiner Theorie Kopf, Herz und Leber.
Die Theorien der Philosophen übten auf die ältesten griechischen
medizinischen Schulen einen starken Einfluß, namentlich auf Kos und
Knidos, deren Lehrmeinungen sich in dem Corpus Hippocraticum wider-
spiegeln.
*) Plutarch, De placitis philosdphorum. v. Dübner, Paris 1841. Cap. 16.
*) Plutarch, ibid. Cap. 16, u. Theophrast, De sensu. Cap. 9.
') Plutarch, ibid. Cap. 16.
*) Plutarch, ibid.
») Timaos, 29. (Pia tons sämtliche Werke übers, v. H. Müller. Leipzig 1857.
VI. Bd)
Vergl. femer: Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1893.
Das mir von Dr. Stylio Dimitriades in Kopie übersendete Manuskript
Nr. 1489 der Bibliothek in Athen aus dem 16. Jahrh.
Hippokrates
(460—377 V. Chr).
Wie die meisten Spezialfächer der Medizin leitet auch die Otiatrie
ihre systematische Entwicklung von den lange fortwirkenden Impulsen
her, die der große Arzt von Kos der Heilkunde gab, da er, von den
naturphilosophischen Spekulationen abstrahierend, der nüchternen Natur-
betrachtung zum Siege verhalf Medicinam a sapientiae studio separavit,
sagt Celsus. Obschon auch seine Otiatrie auf bloßer Empirie beruht, so
läßt sich doch nicht verkennen, daß ihn die sorgfältige, wahrhaft geniale
®t>alv l5*rjpTYj39'at Ivxö^ xob u>to<; xwocuvo? olxr^v aiU)poüp.svov xat tüT:t6[uvov.
1 4 Hippokraites.
Beobachtung der Krankheitssymtome stets auf die Bahn einer nüchternen
und unschädlichen Therapie verwies. Letzteres gerade bildet ein nicht
gering zu schätzendes Moment, da sich früher die rohe, mit den schäd-
lichsten Mitteln Unfug treibende £mpirie nirgends mehr als in der Otia-
trie überbot. Eine Anzahl sorgfältigst geschriebener Krankengeschichten,
in denen scharfsinnig auf die Wechselbeziehungen zwischen Ohr und
Gesaratorganismus verwiesen wird, verraten reiche Erfahrung und ein ge-
übtes Urteil, eine Tatsache, die bei den mangelhaften anatomischen Kennt-
nissen geradezu überraschend wirkt.
Von den düi*ft;igen anatomischen Bemerkungen des Hippokrates
sei einiges hier erwähnt. Der Gehörgang, sagt der Verfasser des Buches
•De Camibus"^), führe zu einem, sich durch besondere Härte auszeich-
nenden Knochen hin; der das Ohr umgebende Knochen sei von Hohl-
räumen durchsetzt. Tö 8^ oot^ov tö xotXov Irrj'/ei 5ta toö oxXirjpoO.
Hippokrates wird von den Historikern für den ersten
Autor erklärt, der das Trommelfell als Bestandteil des Ge-
hörorgans hervorhob. Er sagt, es sei dünn wie Spinngewebe
und durch seine Trockenheit zur Schallaufnahme besonders geeignet:
To Sdpjjia TÖ Tipb^ Tg axo-g 7Cf>ö<; t<j) öatdcp t^ GxXYjpcp Xsrtöv iottv &a:rsp
apd/vtov, i^lporaiov toö äXXoo S^pfiatoc. texjiTjpia Sk noWa. Ott ^TjpÖTaTOV
if/ei (idXtota.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß den Forschem und Aerzten jener
Periode, die gewiß nach Tiersektionen die Lage der inneren Organe
und auch den primitiven Bau des Auges kannten, die selbst zur groben
Zergliederung des Gehörorgans erforderliche Fertigkeit gänzlich abging.
Nach dem vorliegenden Quellenmateriale kann mit Bestimmtheit
angenommen werden, daß Hippokrates und seine Zeitgenossen nur sehr
geringe Kenntnisse vom Baue des Gehörorgans besaßen. Der Vergleich
des Trommelfells mit einem dünnen Spinngewebe zeigt, daß Hippo-
krates zu dieser durchaus irrigen Angabe nicht durch anatomische Be-
obachtung gelangt ist. Denn eine noch so oberflächliche Untersuchung
des Gehörorgans an Tieren hätte ihn belehren müssen, daß das Trommel-
fell eine ziemlich resistente Membran ist, und der scharfsinnigen Beob-
achtungsgabe Hippokrates' wäre die Verbindung des Trommelfells mit
dem Hammer nicht entgangen, dessen erst im 15. Jahrhundert Erwähnung
geschieht. Der Vergleich mit einem spinngewebigartigen Häutchen dürfte
vielmehr darauf zurückzuführen sein, daß Hippokrates bei Sonnenlicht
in der Tiefe des Gehörganges einen Teil des glänzenden Trommelfelk
sehen konnte.
Der mangelhaften anatomischen Kenntnis des Gehörorgans ent-
spricht auch die durchaus irrige Ansicht des Hippokrates über die
physiologische Funktion des Ohres. Nach ihm beruht das Hören auf
Hippokrates. 15
folgendem Orundsatz: Nur Gleiches kann von Gleichem empfunden
werden, darum diene auch nur das Harte im Organismus als Gehörorgan.
Der Schall, welcher durch das äußere Ohr und die trockene zarte Mem-
bran eindringt, hallt an dem harten Knochen mit seinen Hohlräumen
wieder. Falsch sei die Ansicht einiger zeitgenössischen Naturforscher,
welche meinten, das Hirn sei es, das wiederhalle, denn dieses sei ja von
feuchter und weicher Beschaffenheit, während doch nur Trockenes und
Hartes tönen könnte ^). Die Apperzeption des Schalles dagegen vollziehe
sich erst im Gehirn, denn der in den Ohrräumeri widerhallende Schall
sei bloß verworrenes Geräusch, und erst, was davon durch eine in der
Hirnhaut befindliche Oeffnung in das Hirn gelange, werde deutlich
gehört^). Aehnlich lautet auch eine Stelle im Buche De Morbo sacro^).
In der Pathologie des Hippokrates, in der wir ihn als scharf-
sinnigen Symptomatologen bewundern, werden als die wichtigsten Ur-
sachen der Ohrkrankheiten die vier Kardinalsäfte, namentlich Schleim
und Galle, angeftthrt. Außerdem gilt für die Entstehung oder Ver-
schlimmerung der Ohrleiden die Art der Jahreszeit und der Wind-
richtung als wichtig. Ohrenflüsse seien im Sommer besonders häufig,
Südwinde machen wegen ihrer Feuchtigkeit schwerhörig ; trockene Nord-
winde dagegen bessern das schlecht gewordene Gehör. Auch das Alter
sei von Einfluß auf die Natur der Krankheit, so überwiegen bei Kindern
Ohrenflüsse, während bei älteren Leuten am häufigsten Schwerhörigkeit
vorkomme *).
Von den Beziehungen zwischen Erkrankungen des Gehörorgans
und anderer Organe waren Hippokrates einige bekannt. So wußte
er, daß Entzündungen der Tonsillen auf die Ohren übergehen können^),
daß Ohreiterung oft in Konnex mit schweren zerebralen Leiden stehe,
und auch bei Pneumonie vorkomme, daß Schwerhörigkeit oder Taubheit
manchmal ein febriles oder prämortales Symptom bilde.
Im 7. Buch der Epidemien beschreibt er ein bei Spitzköpfigen vor-
kommendes Krankheitsbild, bestehend aus Ohrenfluß, Kopfschmerz, hohe
und enge Gaumen Wölbung nebst unregelmäßiger Zahnstellung, ein Sym-
ptomenkomplex, der von Körner*) als Folgezustand von adenoiden Vege-
tationen gedeutet wird. Der Gehörshalluzinationen und subjektiven Ohr-
geräusche wird an mehreren Stellen gedacht, vorkommend bei Psychosen,
Delirien, bei hohem Fieber, nach erschöpfenden Blutungen, beim Eintritt
der Menses^).
Im 2. Buche De Morbis wird auch die Entstehung der subjektiven
Ohrgeräusche auf die Wahrnehmung der Pulsation in den Kopfgefäßen
*) Die Ohrenheilkunde des Hippokrates. Vortrag in der 67. Vers, deutsch.
Naturf. u. Aerzte 1895. Wiesbaden 1896.
16 Hippokrates.
zurückgeführt. Die dadurch hervorgerufene Schwerhörigkeit wird zum
Teil als Folge der Geräusche, zum Teil als Folge der Eongestionen ge-
deutet. Blutfluß aus dem Ohre wird in einer Krankengeschichte des
7. Buchs der Epidemien erwähnt, wo es sich wahrscheinlich um einen
Fall von Basalfraktur handelt.
Auch in der allgemeinen Prognostik und Semiotik, deren un-
vergängliches Hauptergebnis in den berühmten Aphorismen niedergelegt
ist, verwendet Hippokrates Ohrsymptome, so z. B. soll süßes Ohren-
schmalz ein Zeichen des nahenden Exitus bilden.
In der Prognosestellung der Ohrenkrankheiten fand er, daß Taub-
heit, die auf ein Fieber folgt, durch Nasenbluten oder Durchfall geheilt
werde, daß akute Ohrentzündungen oft schon am dritten Tag letalen
Ausgang herbeiführen.
Unter den Krankheitsbildern findet sich im hippokratischen Kanon
namentlich die Ohreiterung, als Folge der eitrigen Mittelohrentzündung,
ohne jede anatomische Kenntnis, mit ihren klinischen Symptomen be-
schrieben. Die falschen Vorstellungen vom Baue des Gehörorgans waren
die Ursache, daß Hippokrates und seine Nachfolger den primären
Sitz der Erkrankung in das Hirn verlegten, wo eine übermäßige An-
sammlung von Schleim zum Abfluß aus dem Gehörorgane führe, ebenso
wie in anderen Fällen durch die Nase '). Kommt es zum Abfluß durch
das Ohr, so wird dies als günstiger Ausgang betrachtet; wenn nicht,
so tritt der letale Ausgang nicht durch die Ohreiterung, sondern durch
die Himkrankheit ein.
Offenbar rührt diese Auffassung, wie Körner richtig meint, von
der Erfahrung her, daß dem Ausflusse von Ohreiter häufig schwere Hirn-
erscheinungen vorangehen. «Alle diejenigen Schriften der hippokrati-
schen Sammlung, welche sich mit den akuten Ohreiterungen befassen,
stimmen darin überein, daß ein bestimmter Komplex schwerer zere-
braler Symptome mit hohem Fieber nach Eintritt einer Ohreiterung
schwindet, oder, wenn keine Ohreiterung eintritt, den Tod herbeiführt** ^).
Nicht die Hirnsymptome sind Folgen der Ohreiterung bei Hippokrates,
sondern umgekehrt, die Ohreiterung gilt ihm als Folge des zerebralen
Zustandes.
Das klinische Bild, welches er folgendermaßen skizziert, ent-
spricht im allgemeinen unserem heutigen Symptomenkomplexe der
akuten eitrigen Mittelohrentzündung. Der Kranke wirft sich vor
Schmerzen hin und her, fiebert hoch und deliriert. Anfangs besteht
intensiver Schmerz im Ohre, der in die Schläfen und Vorderkopfgegend
und in die Augen ausstrahlt. Der Kopf erscheint voll und schwer, bei
Bewegung tritt bisweilen Erbrechen ein. Außerdem kommt Harndrang
oder Harnverhaltung vor. Der Ohrenfluß stellt sich am 5., 7. oder 8. Tage
Hippokrates. 1 7
ein und beendigt sofort die schweren zerebralen Himerscheinungen.
Verhaltung des Ohreiters führt gewöhnlich am 7., 9. oder 11. Tage
den Tod herbei. Der Ohrenfluß ist geruchlos, bald von Anfang an
eitrig, bald im Beginne schleimig oder wässerig, wird später durch Zer-
setzung eitrig.
Die akuten Ohreiterungen treten entweder als selbständige Erkran-
kung oder als Komplikation bei Peripneumomie*), Lipyrie**) und In-
fluenza***) auf. Von einer Miterkrankung des Warzenfortsatzes findet
sich keine Erwähnung, wenn nicht die vom Ohre stammenden Knochen-
eiterungen (airJjX^ev oitkp toö coröc) oder manche der als Parotitiden be-
zeichneten Geschwülste (ta Tcap' oh(;) als solche aufgefaßt werden.
Ebenso wie die akuten waren dem Hippokrates auch die chro-
nischenOhreiterungen, namentlich bei Kindern, bekannt.
Als Symptome der otitischen Meningitis werden von Hippokrates
und später auch von Paul von Aegina und Oribasios Verengerung und
Trägheit der Pupillen, Nackensteifheit, Lichtscheu, Schlafsucht oder
Schlaflosigkeit, unregelmäßiger Puls und Atembeschwerden angegeben.
(Dr. Dimitrios Dimitriades, 1, c. p. 67, 311.)
Von äußeren Ohrenleiden wird einiges über Kontusion der Ohr-
muschel und Bruch des Ohrknorpels mit ihren Konsequenzen mitgeteilt;
es sind Verletzungen, die bei den Wettkämpfen der Faustkämpfer
häufig vorkamen.
Auch Schädelverletzungen als Ursache von Taubheit werden
bei Hippokrates erwäh nt. „ Jemand , der eine Kopfverletzung durch
einen Stein oberhalb der linken Schläfe erhielt, verlor nach dem dritten
Tage die Stimme und hörte nichts." (Dr. Dimitriades, 1. c. p. 75.)
Die Behandlung^) gestaltet sich bei Ohreiterungen durchaus
nicht exspektativ, sondern teils diätetisch, teils lokal. Empfohlen wird
vor dem Durchbruch des Eiters neben magerer Diät Honigwasser,
Gerstenschleim und verdünnter Wein. Auf den Kopf des Kranken wurden
mit heißem Wasser getränkte Schwämme gelegt. Die lokale Therapie
bestand darin, daß das kranke Ohr über Wasserdampf gehalten oder in
dasselbe Mandelöl gegossen wurde. Bisweilen wurden auch Blutentzie-
hungen vorgenommen oder durch Auflegen reizender Salben auf rasierte
Stellen der Kopfhaut eine Ableitung versucht. Verträgt der Kranke die
wannen Umschläge schlecht, so wird Kälte angewendet. Wenn der
Eiter durchgebrochen, darf der Kranke wieder kräftige Nahrung zu sich
*) Nach Körner wahrscheinlich ein mit Pneumonie und Empyema pleurae
komplizierter Gelenksrheumatismus.
**) Nach Littre eine im wtirmen Klima vorkommende endemische Fieberseuche.
***) Diese Erkrankung war zu Hippokrates' Zeiten in der Gegend von Korinth
epidemisch.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 2
lg Aristoteles.
nehmen. So lange das Ohr stark läuft, läßt man es in Ruhe, später
werden Injektionen mit warmem Wasser, süßem Wein, Frauenmilch oder
ranzigem Oel vorgenommen. Bei langdauerndem Ohrenfluß werden Ein-
streuungen eines feinen Pulvers von Silberglätte, Rauschgelb und Bleiweiß
empfohlen. In der Rekonvaleszenz muß noch einige Zeit der Aufenthalt
in Sonnenglut, in starkem Wind und rauchgeschwängerten Räumen ver-
mieden werden.
Im Buche De Morbis vulgaribus (Lib. VI, Sect. 5) findet sich eine
merkwürdige Stelle, welche darauf deutet, daß sich Hippokrates zu-
weilen kleiner suggestiver KunstgrifFe bediente. Dort heißt es nämlich:
„Wenn jemand an Ohrenweh leidet, so wickle man etwas Wolle um den
Finger, gieße etwas warmes Oel in das Ohr, nehme dann die Wolle in
die hohle Hand, halte sie vor das Ohr, damit der Kranke glaube, sie sei
aus dem Ohre gekommen und, um die Täuschung vollkommen zu machen,
werfe man sie gleich darauf ins Feuer.**
In der Behandlung der Ohrwunden ^®) verbietet er jeden drückenden
Verband, da ein solcher schmerze und schade. Höchstens sei eine
leichte Befestigung der Ohrmuschel mit Kleister oder Wachspflaster (tö
7XCo)rpov äXY]TOv) zulässig. Bei eingetretener Eiterung an der Ohrmuschel
kann man sich des Messers oder des Glüheisens bedienen. Im ersten Falle
muß man einen nicht zu kleinen Schnitt, tief und ergiebig, machen. Will
man das Glüheisen benützen, so muß man die Muschel ganz durchbrennen.
Besonders bemerkenswert ist die Vorschrift, nach der Inzision den eröffneten
Abszeß nicht auszustopfen und keine feuchten Umschläge zu machen!
*) Littresche Ausgabe der Werke des Hippokrates (Paris 1839—1861).
^) De locis in honune 2.
') De morbo sacro. 14.
*) Aphor. III.
^) De gland. 7.
®) De morbo sacro 14; Coact praenot 186, 190; prorrh. I, 143.
^ De gland. II.
') Die Ohrenheilkunde des Hippokrates von 0. Körner (eine vortreffliche
Abhandlung). Wiesbaden 1896, p. 10.
') De locis in hom. 12; de morbis II, 14, 16; de morbis III, 2 u. a. and. Stellen.
**) De articulis liber.
Dr. Stylio Dimitriades in Athen. AI AtaTto-rjTtxal ^Xe^p^oval toö fjiooi>
oixb^ xal ex tootcDV ouvenetaiveoi^ hid b^'ri'^9zia. 'Ev *AO-rivat<: Ix toü. Ö ToiiOYpoc<petoo ic. 8.
SaxEXXapiou 1895.
Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1893.
Fuchs, Hippokrates' sämtliche Werke. Leipzig 1900—1902.
Aristoteles
(384—322 V. Chr.).
Auch durch den Philosophen von Stageira, den Lehrer Alexanders,
hat die Anatomie und Physiologie des Gehörorgans nur geringe Förderung
Aristoteles. ig
erfahren. Dies muß umsomehr befremden, als Aristoteles zahlreiche
Sektionen an Tieren vornahm und sich eingehend mit dem Hören der
Tiere, besonders der Fische^), beschäftigte. So hoch aber auch die
Verdienste Aristoteles^ fUr die Medizin im allgemeinen angeschlagen
werden müssen, so finden wir, daß die durch seine Autorität gestützten
Lehrsätze eher hemmend auf den Entwicklungsgang der Otiatrie gewirkt
haben.
Vom menschlichen Gehörorgan waren ihm die Ohrmuschel *) und der
äußere Oehörgang bekannt. Ob er anatomische Kenntnis Yom Trommel-
fell besaß, ist zweifelhaft. Wenn es gestattet ist, die vagen Beschrei-
bungen genauer zu deuten, dürfte Aristoteles an Tieren die Ohr-
trompete*) und die Schnecke gesehen, doch wenig beachtet zu haben. Von
der Ohrmuschel war zur Zeit des Aristoteles bloß die Benennung des
Lobus üblich, die übrigen Teile der Ohrmuschel waren nicht speziell
benannt. Es heißt nämlich (De animalibus historiae, Lib. I, Cap. XI):
Der obere Teil des Ohres heißt Ohrmuschel, das andere Ohrläppchen;
das ganze besteht aus Knorpel und Fleisch. Im Inneren gleicht seine
Bildung der des Strombos; der innerste Knochen aber hat Aehnlichkeit
mit dem äußeren Ohr(?) und in ihn gelangt der Ton wie in ein letztes
Gefäß; von da geht ein Gang in die Wölbung der Mundhöhle (Ohr-
trompete), aber keiner ins Gehirn; aus dem Gehirn erstreckt sich eine
Ader dorthin (nach Aubert -Wimmer Leipzig 1868).
Bezüglich der Hörfunktion wird von Aristoteles als Träger der
Schallleitung die im Ohre befindliche, von der äußeren abgeschlossene
innere Luft angenommen, die unbeweglich sein muß, damit ihr
alle Differenzierungen des Schalles genau und deutlich übertragen werden
können *). Sitz des Gehörs ist nach ihm das Hinterhaupt, welches einen
hirnlosen, hohlen, bloß mit Luft gefüllten Raum darstellt. Während die
Augen mit dem Gehirn in Verbindung stehen durch Gänge, die zu den
um das Hirn befindlichen Adern hinführen, verläuft von den Ohren ein
Gang nach dem Hinterkopf*).
Diese sonderbare Theorie war die spekulative Konsequenz des
Axioms: Das Ohr ist das Organ für den Luftsinn, es muß demnach die
Natur der Luft haben, so wie die Nase die des Feuers, das Auge die
des Wassers etc.*). Da das Gehör aus Luft besteht, so mußte sich in
logischer Konsequenz auch im Innern des Kopfes Luft befinden und zwar
im Hinterkopf, weil ja ein Loch aus dem Felsenbein dahin sich öflnet.
Die hohe Autorität, welche sich die Lehren des Aristoteles
das ganze Mittelalter hindurch bewahrt haben, waren die Ursache, daß
"*) Das Ohr ist innen mit dem Monde durch eine Röhre verbunden, mit dem
Gehirn jedoch durch eine Ader. Handbuch der Geschichte der Medizin I, p. 284.
jf; Aristoteles.
fjf/^.u \M^'jy. lui^bher seine falschen Schlüsse über das Gehörorgan als
f^.*ÄA:fji^f«id üB^eiiehen wurden. Wurde ja, wie wir sehen werden, bis
ifjt 1^. Jaibrbundert, zu einer Zeit, wo die grobanatomische
Küfijöioifc 4/fth Gehörorgans schon gesichert war, noch an der Aristotelischen
l>:hrtc Yon der im Ohre befindlichen, eingepflanzten Luft festgehalten und
ujii «fjfi^m, einer besseren Sache würdigen Scharfsinn, mit dem ganzen
Aufif<;b'/t }scholaKtischer Spitzfindigkeit die Existenz dieses eigenartigen,
YOh dttr äußeren Luft abgeschlossenen «a^r innatus*^ verteidigt, gestützt
uui/rr anderem auf folgende Stelle des Buches De anima, Lib. II,
Ca|>, VIII: 0 ?' iv Totc (öolv l7xat(|)xo8ö(i7jTai npb^ zb axivYjto^ etvat, oxcoc
i,y,y/fiö>^ aloMvsTat rdtoac tac Sta^opa^ zffi xivfjOeox; (at is aSr qui in
auribuK est collocatus, insitus est, ut sit immobilis, idque propterea, ut
itxsa:ie sentiat differentias omnes motus).
Von weit höherem Wert als diese unnatürliche Hypothese ist das,
was Aristoteles über den Schall und über die Bedeutung des Gehör-
sinns für das intellektuelle Leben sagt*^), doch finden sich auch hier An-
sichten, die uns in Anbetracht der Bedeutung des Aristoteles be-
fremden müssen.
In der reichhaltigen fälschlich unter dem Namen des Aristoteles
gehenden Sammlung der Probleme, welche sich auf die Medizin beziehen,
findet sich auch manches auf das Ohr Bezügliche. Z. B. beantwortet der
Autor die Frage, warum das Ohrenschmalz bitter ist, damit, daß es eine
faulige aus Schweiß stammende Salzmasse sei. Ohrgeräusche weichen
bei starkem äußeren Schall, weil stärkerer Schall den schwächeren ver-
dränge. Das Husten beim Kratzen der Ohren erklärt er aus der Ver-
bindung, die das Gehörorgan mit der Lunge und Trachea besitze^.
Dieser Verbindung sei auch das Zusammenvorkommen von Taubheit und
Stummheit zuzuschreiben, ebensowie der Uebergang von Ohrenleiden auf
Affektionen der Lungen*).
^) De animal. hißtor. Lib.IV, Cap.8. St. v. Stein. Lit. d. Anat. u.Physiolog. 1890.
') De animal. histor. Lib. I, Cap. XI, 2. 'Axtvnrjxov U tö otx; ÄvO-poiKOc fx«t
|i.6vo5 td)v Ixovxwv toöxo xb jjLoptov. (Omne animal, quodeumque auriculas habet,
movet, praeter hominem.)
^) De anima. Lib. II, Cap. 8.
*) De partibus animal. Lib. II, Cap. 10.
*) De sensu. Cap. II.
«) De sensu. Cap. I. (Schluß.)
^) Problemat. Sect XXXII. (Quae ad aures pertinent.)
*) Constat autem: simul enim et surdi et muti fiunt, et morbi aurium in
pulmouis alFectus transeunt, nonnullisque tusses superveniunt scalpentibus aurem.
Die Otiatrie von Aristoteles bis Galen. 21
Die Ohrenheilkunde im Zeitraum yon Aristoteles bis Galen.
A) Anatomie und Physiologie.
Die Fortschritte der alexandrinischen Schule auf anatomischem
Gebiete kamen unserem Fache wenig zu gute. Dieses Urteil basiert
allerdings nur auf den Angaben der späteren Autoren, da die Schriften
der Alexandriner nicht auf uns gekommen sind. NachGalen^) war dem
Erasistratus (um 330 — 250 v. Chr.), der zuerst den Ursprung der
Ner?en vom Gehirn feststellte, bereits der Gehörnerv genau bekannt,
und mit höchster Wahrscheinlichkeit läßt sich dasselbe auch von Her o-
philus (ca. 335 — 280 v. Chr.), dem Entdecker des Calamus im 4. Ven-
trikel, annehmen*). Eine über das Wissen des Aristoteles hinaus-
gehende Kenntnis vom Gehörorgan scheint aber auch in dieser Epoche
kaum erworben worden zu sein, doch dürfte mancher heim Zerschlagen
des Schläfebeins auf den verwirrenden Anblick der zahlreichen Gänge
und Löcher gestoßen sein, welche Galen später mit einem Labyrinth
verglich. Darauf deutet wenigstens folgende Stelle beiCelsus hin: «In aure
quoque primo rectum et simpliciter, procedendo flexuosum, juxta cere-
brum in multa et tenuia foramina diducitur, per quae facultas audiendi
est** «).
Dagegen finden wir hier bereits spezielle Bezeichnungen der einzelnen
Erhabenheiten und Vertiefungen der Ohrmuschel, welche uns ßufus von
Ephesus*) (ca. 97 n. Chr.) übermittelt. Diese sind in griechischer und
lateinischer Sprache folgende : Xößoc (fibra), «TspÖYtov (pinna), sXtS (helix),
4v*4XtS (anthelix), xö^x*"] (concha), tpdifoc (hircus), ferner avTtTpa70(;, avti-
Xößiov.
In der Physiologie des Gehörsinns ist auch in diesem Abschnitt
kaum ein Fortschritt zu verzeichnen. Die Theorien behandelten mit Vor-
liebe den Schall resp. seine Natur oder erläuterten den Nutzen der Form
und Stellung des äußeren Ohres, wobei entweder der Standpunkt der
Stoa oder Epikurs (geb. 341 v. Chr.) maßgebend war. Als Beispiele
wollen wir zweier Römer, des Cicero und des Lucretius Carus
(98 V. Chr. bis 55 n. Chr.) gedenken, um den Gegensatz recht grell zu
beleuchten, Cicero spricht in seiner Schrift „De natura deorum** über
den Nutzen, welchen das Offenstehen der Ohren, die Krümmung des
Gehörgangs (Resonanz) und das Ohrenschmalz (Hindernis für das weitere
Eindringen kleiner Tiere) mit sich bringt und preist die feine Differen-
zierung des Gehörs^). Lucretius Carus dagegen, fußend auf Epikurs
Lehren, verwirft derartige teleologische Lehren gänzlich und vertritt fast
moderne Anschauungen, wenn er sagt:
Nil adeo quoniam natum est in corpore ut uti
Possemus, sed quod natum est, id procreat usum.
-■v:»
Celsos.
moltoque creatae Bunt prias aures
quam sonos est aaditns et omnia denique membra
ante foere at opinor eomm qaam foret usus.
Thi LiicTetii Cari, De rerum natura, Lib. IV, Vera 832—833; 887—840.)
Iht Gebdnmhmehmang entstehe durch den Anprall körperiicfaer Teilchen
dAF SnmeBorirBB:
Corpoream quoque enim Tocem constare fatendum est,
£t Bonitam; quoniam possunt impellere sensus.
Tnidem Tere 529, 530.)
B) Plifhologie und Therapie.
I^ie Pathologie war Torwiegend symptomatisch wid dementsprechend
erhol* sich die Therapie nicht über die rohe Empirie. Die damals herr-
lichen den jiatholc^ischen Begriffe waren: Ohrschmerz. OhrentzQndung,
C^hrxreschwüre, blutige oder eitrige OhrenflOsse^ Ohrpolypen, Schwer-
hanckeiL Taubheit nnd Ohi^erausche. Die hervorragenden Aerzte unter-
üchifäen sich T<m den übrigen nur dadurch, daß sie auf das ätiologische
Moment ero&ere BOcksicht nahmen und daher die Therapie mehr
inäiTidu&bsierend rationeller gestalteten, femer dadurch, daß sie dem
Fachf^ durch Heruiziehung der Chirurgie größere Exaktheit zu verleihen
suchten. In der Tat ist in dieser Periode in chirurgischer Beziehung
manchei^ Xene von bleibendem Werte zu verzeichnen. So finden wir eine
p-r>f>ere Anrahl sinnreich konstruierter Instrumente zur Entfernung Ton
Fremdkörfiem, zur Beseitigung von angeborenen und erworbenen Atre-
sien u. &. m. Auch plastische Operationen wurden angeführt, was in-
Bofeni von historischem Interesse ist, als dieselben bald völlig in Yer-
firessenheit gerieten.
Die zu jener Zeit in Anwendung gekommene materia medica, von
geradezu überquellendem Reichtum, ist uns am ausftihriichsten von D i o-
skorides*^) (I.Jahrhundert n. Chr.) und Plinius dem Aelteren*)
(2S— 79 n. Chr.) überliefert Produkte des Tier-, Pflanzen- und Mineral-
reiches sind dann vertreten. Mit Vorliebe wurden ölige, ätherische,
haiziire. bittere^ scharfe, zusammenziehende und betäubende MitteL meist
in flüssixrer Form, verwendete
y^iTi übersichtliches Bild vom Stande der Ohrtherapie dieses Zeit-
raumf irewährt Aulus Cornelius Celsus*>*), der wohl selbst kein
Aizi war. aber mit großem Verständnis die vorausg^^jangene medizinische
Literatur benützte**). Celsus empfiehlt bei Behandlung der Ohraffek-
*' Imt«n auf dem Leben dieses ScbrifteteJler» sind nur spärlidi Torhanden.
fciaie: Bcbeint. daß er zur Regieruncszeit des Tiberius gelebt und ach leitweilig in
'L'jiL auürehahen bau
"' ir fi<ini xütb ep zu dieser Zeil sjdilreiche Sj^ewalärat^, darunter noch Ohren-
K umricuiarü;.
Celsus. 23
tionen die größte Vorsicht, weil diese nicht immer auf das Organ be-
schränkt bleiben, sondern zuweilen mit Wahnsinn oder Tod enden
können.
Außer diätetischen Vorschriften, Purganzen, Blutentziehungen be-
diente er sich bei Ohrenschmerzen verschiedener Eataplasmen, mit
warmem Wasser getränkter Schwämme, endlich mannigfacher stets lauer
Einträufelungen in den Gehörgang. Als solche wurden benützt Oel, in
dem Regenwürmer (lumbrici) gekocht wurden, Saft von bitteren Mandeln
oder von Pfirsichkemen (mali persici), mit oder ohne Zusatz von Mohn,
Myrrhe, Krokus, Bibergeil, Alaun u. a.
Bei Ohreiterungen, bei denen die Gefahr des üebergreifens auf
das Gehirn hervorgehoben wird, empfiehlt er Saft des Lauches gemengt
mit Honig, mit Zusatz von Myrrhe, Krokus, Bittermandeln etc., bei
fließenden Ohrgeschwüren Ausspülungen mit in Honig gekochtem
Grünspan.
Zur Entfernung von Würmern diente entweder die Sonde oder
Medikamente, welche geeignet sind, die Würmer zu töten, z. B. weiße Nies-
wurz in Essig zerrieben. Um eingekrochene Flöhe zu fangen, soll man
Wolle mit einer klebrigen Substanz, z. B. Harz oder Terpentin, tränken
und damit das Tier herausziehen. Um Steinchen und andere Fremd-
körper zu entfernen, seien OhrlöflFel, Sonden oder ein stumpfer Haken,
femer Niesmittel oder kräftige Injektionen mit der Ohrenspritze (aut
oriculario clystere aqua vehementer intus compulsa) anzuwenden. Führen
diese Methoden nicht zum Ziele, so soll man den Kranken mit der ent-
sprechenden Seite auf eine schwebend aufgehängte Tafel legen und
mit einem Hammer auf die äußersten Enden der Tafel schlagen, um
durch die Erschütterung den Fremdkörper herauszubefördem *).
Ist die Schwerhörigkeit, bei der man immer das Ohr näher
besichtigen müsse, durch Krusten infolge von Geschwüren ver-
ursacht, so sind erweichende Einträufelungen mit warmem Oel oder
Lauchsaft u. a. anzuwenden und danach Ausspülungen vorzunehmen; Ceru-
minalanhäufungen sind durch die Sonden zu entfeiiien, was durch voraus-
gehende Spülungen erleichtert wird.
In Fällen von Atresie ist ihre Mächtigkeit durch die Sonden-
untersuchung festzustellen. Oberflächliche (Bildung membranöser
Septa) sollen mit der Sonde durchbohrt werden, während bei in die
Tiefe reichenden Atresien Skalpell, Glüheisen oder Aetzmittel in An-
wendung kommen. Zum Offenhalten des geöfiheten Ganges wird ein
Federkiel eingelegt, dessen Außenfläche mit einem die Vemarbung be-
♦) Außer dem Ohrlöffel (specillom aoricularium) [VI. c. 7. §§ 5—9] führt
Celsns an anderer Stelle noch den Striegel (strigilis) an, welcher dazu dient, flüssige
Medikamente ins Ohr zu gießen [VI. c. 7].
24 Heraklides von Tarent. Asclepiades.
iTirdemden Mittel bestrichen isL Von chirurgischen Leiden er-
wähnt Celsus noch die Durchreißung des Ohrläppchens durch schwere
Ohrijehänge, die mittels blutiger Naht geheilt wird, und den Bruch
de5^ Ohrknorpels. Bei letzterem und anderen Verunstaltungen der Ohr-
muschel kam die berühmte plastische Methode in Betracht, welche
durch Herbeizichung der benachbarten Hautdecke das Ver-
lorene zu ersetzen trachtete. Celsus widerrät die Vornahme dieser
Operation bei sehr alten oder kachektischen Individuen, weil sie bei be-
st.ehender Disposition zu krebsigen Geschwüren Anlaß geben könne.
Dies sind die Hauptmomente der Otiatrie des Celsus, resp. die
kritisch überarbeitete Lehre seiner Vorgänger und Zeitgenossen.
Celsus zitiert ebenso wie Galen viele Aerzte, die sich als Therapeuten
in der Otiatrie einen Namen gemacht hatten.
Zu diesen gehören: Aelius Gallus, Andron, Andromacbus,
Andronikos, AntipaterArius, Ar ist a rebus, Ghar ixen es, Clau-
dius Damonicus, Chrysanthus, Crato, Heras, Eleon, Eriton,
Menophilus, Musa^ Niceratus, Themison, Xenokrates u. a.;
mehrere dieser Namen sind auch auf anderen Gebieten nicht unbekannt.
Ton bedeutenderen Aerzten seien noch fo^^nde erwähnt.
Heraklides von Tarent*) (Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr.)
verwendete ein aus Grünspan, Kupferfeilen und Honig zusammengesetztes
Aetzmitte] gegen wuchernde Ohrgeschwüre. Der Herophileer^^) Apol-
lonius <Mysi, um 3C» v. Chr., empfahl eine Menge sehr zusammen-
gesetzt^jr Mittel gegen eine Reihe von Ohrleiden, ohne aber dabei rationell
zu verfahren. Die Formen, in denen er seine Mittel applizierte, waren
C»oIlutiones (z. B. warmes Wasser, Urin und Wein gemischt), Infusilia
(Ziegen- oder Schafmilch erwärmt mit Kuhmilch). Resiccatoria (Myrrhe
nnd Schwefel mit Oel gemischt), Insufflatoria (E^effer zerrieben mit Wein).
Gegen Schwerhörigkeit empfahl er Fomente, InstiUationen und beson-
dere Diät*
Flohe und Würmer iMitfernte er durch scharfe Pflanzensäfte oder
durch ein Dekokt von Bittermandelöl, während er fremde Körper mittels
Ohrlofi'eln, Pinzetten, Häkchen und Sonden, die mit in Terpentin ge-
tauchU'T Wolle umwickelt waren, beseitigte. Erhärtetes Ohrenschmalz
ließ er zuerst durch eine Auflösung von Salpeter in Essig erweichen,
w'irauf er das Ohr mit lauem Wasser oder Oel reinigte.
Der berühmte Asclepiades") von Bithynien (Arzt in Rom im
1 -Iktrhundert v. Chr.) setzte ein Mittel zusammen« welches gegen jed-
▼•-«•öef Ohrleiden uad omnia auriuni vitia*) helfen sollte. Eis bestand
iz^ ZiüiinU Kassia, Riedgrasblilte, BihergeiU weißem und langem PfeflFer,
JTTi-.Tr ■ Tn Mvrobalanum, Weihrauch, Narde, Mvrrhe, Krokus und Natnim
_i i^^>i£ verrieben und vor dem (iebnuu h mit derselben Flüssigkeit ver*
Archigenes. Scribonius Largus. Diagoras. 25
dünnt. Sein Mittel gegen Ohrenschmerz war Einträufelung von Oel, in
dem Kellerasseln oder eine afrikanische Schnecke gekocht waren. Das
letztere Mittel wird nicht wundernehmen, wenn man bei Plinius liest,
daß zu den Ohrmitteln auch Taubenmist und die Asche von Pferdemist
gezählt wurden.
Archigenes^*), hochberühmter Arzt in Rom zur Zeit Trajans,
empfiehlt gegen Ohrenschmerzen nebst Aderlässen und Klistieren
auch warme Bähungen, erweichende Umschläge, ölige Einträufelungen.
Zur Entfernung von Fremdkörpern, als deren Folge er zuweilen
Konvulsionen beobachtete, empfahl er Erschütterung des Kopfes, femer
Niesmittel, wobei Mund und Nase verschlossen wurde und die in das
Ohr eindringende Luft den Körper in den äußeren Gehörgang hinaus-
drückt (Galen, Comp. sec. loc, Lib. III). Auch soll Archigenes nach
Galen zuerst das von Löwenberg in der Neuzeit vorgeschlagene
Adhäsionsverfahren (Anleimung des Fremdkörpers an einen Pinsel)
zur Entfernung von Fremdkörpern ausgeübt haben. Gegen Ohren-
sausen wird eine Mischung von Bibergeil, Schierlingsamen und Essig
angewendet. Von größtem Interesse aber ist seine Bemerkung über die
Behandlung Schwerhöriger, wobei er als Reizmittel starken Schall
anrät, der durch eine ,tuba" ins Ohr geleitet werden soll. Die schall-
verstärkende Wirkung von in den Gehörgang eingeführten Röhren war
somit schon Archigenes ^^) bekannt
Endlich sei des Scribonius Largus^*), eines im I.Jahrhundert
n. Chr. zur Zeit des Kaisers Claudius lebenden, römischen Arztes, gedacht,
der allerlei Mittel gegen den Ohrenschmerz empfahl, deren bestes
die Flos picis (der mit Wolle aufgefangene Dunst von kochendem Pech)
mit Oel vermischt wäre. Fleischige Exkreszenzen (Polypen) im Ohre
wurden mit Glüheisen oder mit einem aus Alaun, Grünspan und Atra-
mentstein zusammengesetzten Mittel zerstört.
Es lag im Geiste der damaligen Zeit, möglichst künstliche Mittel
anzuwenden, die man flir den wesentlichsten Teil der Arzneikunde hielt.
Dabei wurde ohne kritische Sichtung und ohne Indikationsstellung ver-
fahren. Zu den größten Verirrungen dieser Epoche gehört der Mißbrauch
mit Opium, der schon von Diagoras von Cypem*) ^^), einem Arzt, der
von Plinius in seiner Naturgeschichte erwähnt wird, getadelt wurde, und
der Unfug mit scharfen Mitteln. Erzählt doch Galen, daß ein Arzt bei
entzündlichem Ohrenschmerz Pfeffer ins Ohr gebracht habe, worauf die
Patientin, vor Schmerz rasend, fast zum Selbstmord getrieben wurde.
Weniger drastisch, doch immerhin schädlich war das Eingießen von
♦) Unberechtigterweise wird er von manchen mit dem bekannten Diagoras
von Melos identifiziert.
«äiii2*n "Vjswr im? Olir* worüber Archigenes berichtet. Zu welch'
-^cdliurh^a lEcaHiL nKiDJ5«riiu Ziegenurin etc. i zuweflen g^priffen wurde,
u^^-^'G j?to«:!i ha ;«2c»i AusEüge genugsam Zeugnis.
• r.^-iix r-nxEnuan d^ plftdt* Hippocrat et PImt. Lib. VI, Gap. 6.
' fi^fü. r« «nsL fidxnmtstr. Lib. IX.
J« Tit^riirüia iTMn ^rx<v. Lib. Mll, Gap. 1.
^ j^ mottltfcanxDhw pan. c<>r}\. kum. Lib. L Cap. VI.
^ r::-:^-!. 2h ütcsTk 6tt&nmi. Lib. IL Cap. 57 0.58.
' J^ Ä siftöisii. ÜTi. 1. Cap. 9 — 12.
• 1*^ j^msiub mar, Till, Lib. VL Cap. 7 : Lib. Tu. C^p. 8 n. 9.
• fii- r 1. Zti Bnnq*a&, xciMic. siec. loc Lib. IIL Cap. 1.
^' fii. to, iniosiL..
- -*.r=x Üi)0«il: C*l>i, IV mwi. libri VllL Lib. TL Cap. 7.
" r^r^*r 1»! .mng^ m*^ «t^c loc LiK IIL C*p. L
- J iskA ^psTt ürrnuf tx^cTmi^ asacbis et vidssiin craribns mtStagnMmsa et per
'^ii'.AZz. £siin. mmicu mümc MwOr« cvoiainiir. Galen, ibiöem.
r ■JBDiBiiiuniK nteoi^'^fte. Oap. T »d aTuiom doloiemi.
1- näii;<~^Cf*-. Zh sua^cü iK^cjL Lib. IT. C^p. 65:
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- oa i«e. iko9c?mniiiu<f!xi ffffciiafliiea aatiken riirxrfif eben Ibsi
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"ia, lur i^Äa'.Ts:^ iinv fm»t>ioii:ii '^sx^ssaia^ft.
Galen. 27
ihrer starren Autorität lähmten, verdankt die Otiatrie verhältnismäßig
nur weniges. Seine Anatomie, nur an Tieren (Hunden und Affen) ge-
übt, hat wenig dazu beigetragen, das bisherige Dunkel im Baue des
inneren Ohres zu erhellen. Der von ihm in die Ohranatomie eingeführte
Terminus „Labyrinth** für das innere Ohr ist bezeichnend für seine Un-
kenntnis der anatomischen Details des Gehörorgans. Seine Therapie
basierte auf der Tradition der Vorgänger, die allerdings einer mehr ratio-
nellen Kritik unterworfen wurden.
Anatomie und Physiologie. Im Buche „De usu partium* erörtert
er teleologisch die Gründe, weshalb die Ohrmuscheln knorpelig seien,
und welche Nachteile es hätte, wenn sie aus knöcherner oder fleischiger
Substanz beständen, und spricht über den Nutzen, welchen die Buchten
und Biegungen, sowie die XJnbeweglichkeit oder geringe Beweglichkeit
des menschlichen Ohres mit sich brächten. Wären die Ohren des Men-
schen so groß wie z. B. bei Pferden, Eseln, Hunden und anderen Tieren,
die große Ohren besitzen, so müßte dies zu großen Unbequemlichkeiten
führen, da die Kopfbedeckung diu-ch Hüte, Helme u. a. erschwert wäre ^).
Die Teile des Schläfenbeins finden sich im Buche ,|De ossibus ad
tirones" sehr dürftig beschrieben *), doch erwähnt er bereits den Warzen-
fortsatz, den Proc. styloideus und zygomaticus.
Vom Trommelfell scheint Galen kaum eine auf Anatomie basierte
Vorstellung gehabt zu haben'). Der äußere Gehörgang erstreckt sich
nach ihm bis zur Dura mater und tritt mit dem Hömerven in Berührung*),
welcher durch die zwischen dem Gehörgang und dem Nerven liegende
harte Knochenmasse gegen die Wirkung zu starken Schalles geschützt
wird. Von seiner krassen Unkenntnis der Ohranatomie zeugt seine An-
sicht, daß er die vor dem Nerv liegenden Teile des Gehörorgans mit
der Kristallfeuchtigkeit des Auges vergleicht^).
Die einzige positive Leistung der Galenischen Ohranatomie be-
steht in der Unterscheidung des Gehör- und Antlitznervs, die als Zweige
des von Marinus^), dem Lehrer Galens, aufgestellten fünften Nerven-
paares gedacht sind, und die Beschreibung des Verlaufs des N. facialis.
Die eigentliche Ausbreitung des N. acusticus vermochte Galen jedoch
nicht festzustellen. Was den Verlauf des Facialis anbetrifft, so wußte
Galen, daß dieser Nerv nach dem Eintritt in den inneren Gehörgang,
den die Alten das blinde Loch (Foramen coecum) nannten, durch einen
für ihn bestimmten gekrümmten knöchernen Kanal zieht, um dann aus
dem Griffelloche hervorzutreten^).
Das innere Ohr, dessen einzelne Teile ihm als unentwirrbar erschienen,
wird, wie schon erwähnt, mit einem Labyrinth verglichen^).
Zu den oben mitgeteilten physiologischen Bemerkungen wollen wir
der Vollständigkeit halber noch hinzufügen, daß Galen durch das be-
2S Galen.
kannte Beispiel Hadrians^ der wegen Schwerhörigkeit die hohle Hand
hinter dem Ohre zu halten pflegte, den Nutzen der Ohrmuschel fQr die
Schallautnahnie illustriert ^). Aufgabe des Gehörnervs, der weder zu den
harten« noch weichen Nerven gehöre, sei es, die Schalleindrticke zum
Gehirn fortzuleiten ^^). Am zuträglichsten für das Ohr ist die mensch-
liche Stimme und Sprache * *X
Pathologie. Die Ohrkrankheiten werden von Galen in fünf Klassen
eingeteilt: 'ÜTo^Yta, auris dolor: Bavjr,xota, auditus gravitas; Kcofoatc, sur-
dit;is: lla.üixo'w.;, obauditio: Jlapaxoiiaata, auditus haUucinationes*)^*).
Wie Hippokrates, beobachtete auch Galen eitrige OhrentzQndungen
bei Infektionskrankheiten. An einer anderen Stelle spricht er von den
Ohren schul erzen (ex frigiditate, ex aqua medicata« ex inflammatione,
ex tlatulento spiritu aut crassis et viscosis humoribus). von Ohr-
vreschwüren, Schwerhörigkeit und Ohrenklingen **). Schwer-
höriffkeit und Taubheit können durch eine Lasion des Gehörorgans selbst
v^der des Hornervs oder endlich durch eine Läsion des Ursprungs des Hör-
nerv er. im Gehirne iHHÜingt sein. Aus einer Bemerkung Galen s scheint
hervorzugehen, daß die mit Facialj^ralyse komplizierten Hörstörungen
seiner Be^U>achiur.>f nicht entirangen sind und er erwähnt auch die dabei
juweileii aut^retende Sonsibilitatsstörunir an der betreffenden Gesichtshälfte.
Therapie **\ Pas wichtigste Grundgeserz ist nach Galen, in
jt-der.; Fall *u individualisieren, ein IViuzip. das die meisten Aerzte vor
G*le:: av.:"< irri^bhchste verlöteten. Zu einer rationellen Behandlungs-
wi-isv kor.r.e iv.au uaoh i^alcn nur celAniivn, wenn man immer die das
!.■«■:, ;er. ^Cvr.v.c^ r.do Irsiuhc borüik>icht!jre. Die Beseiiiiranfir der krank-
'r.ÄtV:: S\:v.v:.Mr»o i^^sihioht dunh Anwcr.d;:::c dos Gesrensatzes. d. h.
H:rj? s^r, »v,:^Ah Käho. Kalte duivh Hitro. Trockenboii durch Anfeuch-
Kv. sv..u":\< x^.vht'.ct^s Go^ot:. xxiU'V.<s G äI« n &u:siellte, ist die niög-
".-..r.s:* V;— v.u^v'.rc *'.<"• NÄ:kv'»:'.k;t. r.Än:ov.:V.oV. »us Op:ur:is, das er nur in den
.v.vc;'v,:>:*v V..*Uv. ÄV.«rv,u':,\\o'lo>io:t S r.ro Ä^s:;::v.r:t-.zr*d schwache: auch
^:V.: "SV s:*:s ^.v. *^.or. r...!.^,,v:ov, M;!!o>.* .'.V.r.'.ÄV.Vi^h rus^Ärkeren ansteigen.
V ; -. :>: /.c»" V::«*. >^.;:v.<v. v.v.: *,^t';vrr.:ictr. Instrumenten
,.T,: -:;:> >»,-•: V. .v> v^^: c* ■>:;,/:•; U*'r.-.c':*v; v.»» ;r: is5 auch der Rat,
>; ; . .- ,..;... V .....>*.,.. * »,.«^ \ *,..:,. .V r? 7. ..Cd nacu dem
¥:v:r-. ,::>.■ •• : ^^ k^'.\ ..,. Xi\-vt,-v^'- \ ,-* ', -.s:: ..v.-.vr.irr waren die
/*>,rs,' . .^,;\ .-•AT.. »'. v. i^ivN*; V. :»\V«^: *^ .^'»vv './.r/. Äur.c^i'Are*. der Ohr-
iwc vtowi rt.<^>»^>l»gk Xa«fcWiftwi(|L ^H ^ly \w..,tA *^ -. > ;n \-,'r;i^*.^ Uet^wchiiß
ndK-Mm«^ ^^ ^"^^tsK^ <c^^ . « -tr-vr.-av. Taubheit
\»^ Nn»(>ifV K«x*^¥^ . ..^ Tm».Is^^ CAp,15.
Galen. 29
löffel, wt^yXo^ic, (auriscalpium), die Pinzette, Xaßt<;, volsella, und die Ohr-
spritze, 6 (i)Ttxö<; xXooTTJP; <*>'C£TX^'^» clyster auricularis, zur Applikation
von Medikamenten in Anwendung.
Spezielle Therapie. Bei Ohrenschmerz infolge von Erkäl-
tung empfiehlt Galen erwärmende Mittel. Mit Vorliebe benützt er
Wolfsmilch oder Pfeffer mit altem Oel vermischt, desgleichen Narden,
Rauten oder Majoranöl. Landleute pflegen, wie er sagt, sich des Oels
zu bedienen, in welchem Zwiebel gebraten worden sind.
Bei entzündlichem Ohrenschmerz kommen fette oder ölige
Mittel in Betracht, wie Rosen- öder Nardenöl, Gänse- und Hühnerfett
und bei sehr heftigen Schmerzen ausnahmsweise Opium in Milch und
Eiweiß, mit oder ohne Zusatz von Bibergeil, oder Opium in Most gelöst,
welch letzterer mehr schmerzlindernd wirken soll als süßer Wein.
Gegen Ohrenschmerz, der durch Ansammlung von Dünsten
und zähen Feuchtigkeiten veranlaßt ist, empfiehlt er zweckmäßige Diät,
innere Mittel, welche geeignet sind, lösend zu wirken, und örtlich Pastillen
oder Kollyrium, aus verschiedenen Substanzen hergestellt, unter denen
z. B. Salpeter, ausgewittertes Kali, Zimt, Kassia, Natterwurz, Zaunrübe,
Tausendguldenkraut u. a. aufgezählt werden.
Gegen Geschwüre verwendete er Zubereitungen aus Glaucium
und Essig, Kollyrien aus Krokus und Rosen, aus Myrrhe, Galläpfel, Eisen-
rost, Alaun u. a. m. Von chirurgischem Interesse ist sein Vorschlag, bei
Karies des Gehörgangs hinter dem Ohre einen Einschnitt zu machen und
durch diesen die kariöse Stelle auszuschaben. (De comp. sec. loc, Lib. III.)
Zur Extraktion von Fremdkörpern wurden mit klebriger
Harzwolle überzogene Ohrlöffel angewendet und aufgequollene Körper
(Bohnen, Erbsen) mit einer Spatel zerstückelt und dann entfernt.
Erwähnenswert ist die bereits von Galen beobachtete Tatsache,
daß bei Ohreiterungen der Eiter oft plötzlich ins Gehirn vordringe und
die Veranlassung eines Schlagflusses (apoplexia) werde*).
Gegen Ohrwürmer bedient er sich der Einblasung von gepul-
verter, weißer Nieswurz oder der Einträufelung von Brombeersafb u. a.
Die Therapie bei subjektiven Ohrgeräuschen bestand in der
Abstumpfung der Empfindlichkeit durch Opium oder Mandragorasaft oder
in der Anwendung von zerteilenden Mitteln.
Sehr reichhaltig ist die Behandlungsweise Galens bei Schwer-
hörigkeit und Taubheit, wobei er vorwiegend das ursächliche Moment
berücksichtigt. Dahin gehört eine verdünnende Diät, Purganzen, Kaumittel
und örtliche Medikamente, welche dicke und zähe Säfte verdünnen und auflösen.
*) Nicolai Nicoli Florentini pbilosophi medicique praestantis&imi Sermo tertius
de membris capitis. Tract. VI. De aegritudinibus aurium. Cap. lY. De apostemate
auris p. 207. Yenetiis 1538.
30 Galen.
Zum Schlüsse überliefert er uns die therapeutischen Vorschriften einer
Reihe von Aerzten, über die wir im vorigen Abschnitt bereits berichtet haben.
Galens Therapie wurde zwar in den folgenden Jahrhunderten
wesentlich erweitert, jedoch nicht rationeller gestaltet. Der gesunde
Kern seiner Ansichten ist im Gegenteil durch einen Wust von Aber-
glauben und planloser Empirie verhüllt worden. Galens anatomische
Kenntnisse, die durch Jahrhunderte als feststehende Tatsachen anerkannt
waren, haben erst im 16. Jahrhundert durch den Aufschwung der ana-
tomischen Wissenschaft in Italien die richtige Korrektur erfahren.
Au8 der nachgalenischen Epoche sind noch anzuführen: Antyllus, der be-
rühmte Chirurg; Philumenus (3. Jahrh. n. Chr.) und Caelius Aurelianus
(5. Jahrh. n. Chr.), von dem gute Beobachtungen der Symptome und Stadien der
akuten Trommelhöhlenentzündung herrühren. Caelius Aurelianus fand, daß bei lang-
dauernder Eiterung der Knochen ergriffen wird und sagt, daß bei Otalgie die eigene
Stimme den Schmerz steigert. (De morb. acut, et chron., Lib. VIII.) Utendum etiam
requie corporis atque abstinentia et silentio suo. Etenim officio accepta voce aures
necessario commoventur, et propterea maiores dolores efficiuntur. Zur Abtötung von
Insekten, welche in den Gehörgang eingedrungen waren, empfahl er Speichel von
einem nüchternen Menschen. Erwähnt seien noch Marcellu8£mpiricus(4. Jahrh.)
und Cassius Felix (5. Jahrh. n. Chr.), welche sich in ihren Schriften mit Ohr-
erkrankungen befaßten. Philagrios, ein alezandrinischer Arzt im 4. Jahrh. n. Chr.,
der bei Taubheit, falls sich keine andere Ursache feststellen ließ, eine Nervenver-
letzung annahm. (Vergl. Kühn, Bibliotheca medica. 1794.)
0 De usu part. Lib. XI, Cap. 12. Nam si durae penitus aeque ac ossa
essent, aut molles ut cames, duorum alterum necessario accideret, aut enim ram-
perentur facile, aut omnino contunderentur. Ob eam sane causam cartilaginosae
extiterunt ... At hominibus magnitudo tanta esset incommoda, dum caput pileis,
aut galeis, aut aliis id genus tegere vellent, quod non raro erant facturi . . .
Merito igitur aut nihil omnino in hominibus moventur, aut eziguum quendam atque
obscurum habent motum.
') De ossibus ad tirones. Cap. I.
5) De usu part. Lib. VIII, Cap. VI.
*) Method. medendi. Lib. VI.
*) De Symptom, causis. Lib. I, Cap. III.
*) De nervorum dissectione. Cap. IV.
^) De usu partium. Lib. VIII, Cap. VI: Ad aures sane descendere etiam
omnino propaginem quandam a cerebro erat necesse, sensibile extrinsecus occursurum
excepturam . . .
®) De nervorum dissectione. Cap. IV.
®) De usu part. Lib. XI, Cap. XII. Cujus rei Hadrianus Romanorum consnl
testis est locupletissimus, qui, quum sensum hunc laesum haberet, manus cavas, quo
audiret facilius, a posterioribus ad anteriore spectantes auribus obtendebat.
^®) De Symptom, causis. Lib. I, Cap. VI.
'') Ibidem.
'-) De Symptom, causis. Lib. I, Cap. VI.
^') De compos. medicam. sec. loc. Lib. 111, Cap. I.
'*) Ibidem.
Die Otiatrie im Hittelalter.
a) Die Byzantiner.
Dem yerdienstvoUen Wirken Galens folgen Jahrhunderte trostloser
Oede und Verfalls, in denen wir umsonst nach einem Fortschritt in der
Medizin überhaupt und noch weniger in der Otologie suchen. Erst im
6. Jahrhundert treten Männer auf den Plan, die sich als Therapeuten und
Chirurgen bleibenden Ruhm erwarben und auch die Otologie in den Kreis
ihrer Beobachtungen zogen. Es sind dies Alexander von Tralles,
Aetius und Paul von Aegina, von denen ersterer vorwiegend in
arzneilicher, letzterer in chirurgischer Beziehung, unser Interesse be-
sonders in Anspruch nimmt. Ihre Werke waren die letzten Blüten der
alexandrinischen Heil Wissenschaft und dienten, gleich denen des Galen
und Aetius, dem Eklektizismus aller späteren Aerzte zur Folie.
Das Werk des Alexander Trallianus hat für die Geschicht-
schreibung den hohen Wert, daß es nicht nur die Bedeutung ihres Autors,
sondern auch die Bedeutung einer ganzen Eulturepoche der Vergessen-
heit entriß. Seine Werke entrollen uns ein Bild des ärztlichen Wissens
der spätalexandrinischen Eulturepoche, deren Nachwirkung entstellt und
verstümmelt in der arabischen, arabistischen und scholastischen Medizin
Jahrhunderte hindurch zu spüren ist.
Bei der spärlichen Anzahl von Quellen, über welche die Geschichte
der Ohrenheilkunde verfügt, sind die Bücher Alexanders von beson-
derer Wichtigkeit und überraschen durch die Fülle ihres Inhalts auf
diesem Gebiete, der als Gradmesser des otiatrischen Wissens weiter Zeit-
räume angesehen werden muß.
Alexander von Tralles
(525—605 n. Chr.).
Alexander wurde zur Zeit des Kaisers Justinians in der lydi-
schen Stadt Tralles als Sohn des angesehenen Arztes Stephanus ge-
boren. Seine Brüder, in anderer Richtung noch berühmter als er, waren
Anthemius, der Erbauer der Sophienkirche in Konstantinopel, Metro-
dorus, ein hervorragender Grammatiker, Olympius, ein trefflicher Jurist,
und Dioskorus, ein ausgezeichneter Arzt. Alexander erweiterte die
32
Alexander v
1 Tralles.
reichen medizinischen Kenntnisse, die er sich durch den Unterricht seines
Vaters und des Vaters seines Freundes Cosmas erworben, auf Reisen nach
Italien, Afrika, Gallien und Spanien, indem er überall ohne Vorurteil das
ihm richtig Scheinende aus Theorie und Praxis aufnahm. Später wirkte
er als Archiater oder als Lehrer in ßoni und hinterließ der Nachwelt
seine im Greisenalter aufgezeichneten Erfahrungen, ein Denkmal he-
wundenings würdigen, wissenschaftlichen Strebens, das, wie Meyer sagt,
an Dauerbarkeit und Glanz wetteifert mit dem herrlichen Tempel seines
ältesten Bruders. Obwohl Alexander die Schriften seiner Vorgänger
benützt und oft zitiert, wußte er sich auch gegenüber der damals herr-
schenden bhnden Autorität Galens eine große Selbständigkeit des Urteils
zu bewahren.
Das Wirken Alexanders wurde von vielen medizinischen Geschichts-
forschern*) gewürdigt, am gründlichsten und mit den weit besten Aus-
blicken jedoch durch den leider zu früh dahingeschiedenen Prof. Pusch-
raann zu der ihm gebührenden Anerkennung gebracht,
So groß aber auch die Verdienste Alexanders um die Förderung
anderer medizinischer Disziplinen, z. B. der Ophthalmologie, sein mögen,
so befremdlich erscheint uns, nach unseren heutigen Anschauungen,
seine Pathologie und Therapie der Ohrenkrankheiten, abgesehen von einer
Anzahl treffender Bemerkungen, die den scharfsinnigen Beobachter ver-
raten. Ueber seine Otiatrie, die den Inhalt des 3. Buches (Kap. 1 — 7)
seines therapeutischen Werkes bildet') äußert sich Puschmann folgender-
maßen; „Erfreulicherweise liefert gerade dieser Teil, der .sonst von an-
deren Autoren mit einer gewissen NachliVssigkeit behandelt wird, ein.
treffliches Zeugnis für die praktische Erfahrung sowohl, wie für die Utera-.
rischen Kenntnisse Alexanders."
Die pathologischen Begriffe, unter denen er seine Erfahrungen
subsumiert, sind: 1. der Oliren schmerz, 2. die Ohrentzündung, 3. def
katarrhalische Ohrenachmerz, 4. Ohrensausen, 5, Schwerhörigkeit und
Taubheit.
Als Ursachen des Ohrenschmerzes führt er Dyskrasien, Ent-
zündungen, Verstopfungen, Kälte oder Hitze an. Die wissenschaftliche
Differentialdiagnose wird nun folgendermaßen gemacht: „Die Vermutung,
daß der Schmerz hauptsächlich von der Verstopfung zu dicker und zäher
Säfte herrührt, ist wissenschaftlich dann berechtigt, wenn der Kranke
das Gefühl der Schwere im Kopfe hat, und wenn die genossenen Speisen
und Getränke zu kalte und feuchte Säfte zu erzeugen geeignet waren.
Sollte Spannung vorhanden sein und der Kranke dabei durchaus keine
Schwere im Kopfe oder in den Ohren fühlen, so ist es klar, daß blähende,
I
Alexander von Trollet.
dicke Luft, die keinen Ausweg finden kann, hnuptsächlich die Ursache
des Schmerzes büdet. Wenn jedoch das Gefühl der Schwere und Span-
nung mit Hitze und klopfenden Schmerzen verbunden ist, so darf man
mit Sicherheit annehmen, daß dem Schmerze Entzündung zu Grunde liege,
welche durch den Zufluß erhitzten Blutes hervorgebracht ist."
Der Sitz einer Entzündung des Gehörorgans ist nach Alexander
bald in der den Gehörgang auskleidenden Haut, bald in dem in der Tiefe
verlaufenden Gehörnerv zu suchen. Manchmal führe dieser Zustand, ver-
möge der nachbarlichen Beziehung des Ohres zum Gehirn, sogar den
Tod herbei, sei es durch Fieber, Wahnsinn oder ein krampfartiges Leiden.
Bei jüngeren Personen komme es nicht so raach zur Eiterung, weil die
Heftigkeit des Schmerzes die Eiterbildung vereitle-
Sobald jedoch die Entzündung in Eiterung Überzugehen droht, wür-
den die Kranken vom Schmerze befreit und fänden Heilung. Chronische
Otorrboen geben nach ihm vom Gehirne aus. Der Entzündung stehen
die katarrhalischen Schmerzen nahe.
Blutungen aus den Ohren können Zeichen der Krise sein oder
Vorläufer schwerer Krankheiten. Sie sind als gefährliches Symptom an-
zusehen (,Dimitriades, 1. c).
Das Ohrensausen entsteht durch blähende dicke Luft, die'keinen
Ausweg finden kann, oder durch zähe, dicke Säfte. Im ersteren Falle
ist es bald vorhanden, bald wieder verschwunden, im letzteren Falle
dagegen tritt es nicht plötzlich ein, sondern nimmt allmählich zu. Zu-
weilen beruht es auf einer Schwäche, wie sie nach Krankheiten zurück-
bleibt, oder auf einer reizbaren Empfindlichkeit des Gehörsinns, wobei
die Kranken die Dämpfe nach oben -steigen fühlen. Manchmal hat das
Ohrensausen kritische Bedeutung oder begleitet Krankheiten des Gehirns.
Der Verlust des Gehörs ist entweder mit Fieber verbunden oder
«ntwickelt sich ohne dieses. Heilbar, meint Alexander, sei die Taub-
heit dann, wenn sie von der Galle herrühre, die nach oben gestiegen ist.
Schwer oder gar nicht zu beseitigen sei sie dagegen in jenen Fällen, in
denen sie von zähen und zu dicken Säften verursacht wird, die sich aufs
Gehör geworfen haben, z. B. bei der Schlafsucht, der Betäubung, dem
chronischen Kopfschmerz und anderen Leiden. Außer den genannten
pathologischen Zuständen führt er an : Fremdkörper, Würmer und Scbmuta
in den Ohren.
Die Therapie Alexanders zeichnet sich durch große Reich-
}]<igkeit aus und basiert anscheinend auf strenger IndikatJonssteUung.
Freilich rationell würde sie nur sein können, wenn die Pathologie auch
«ine anatomische Grundlage statt der spekulativ humoralpatbologischen
besessen hätte. Immerhiu unterscheidet sie sich durch die Methodik vor-
teilhaft von der späterer Autoren.
Palitzer, Geechlolite dur Ohrenhailkuiide. I.
84
Alexander von Trallet.
Wie sehr Alexander auf Gründlichkeit bedacht war, beweist die
Vorsicbt, die er bei Anwendung des Opiums anriet, welches zu jener
Zeit bei Ohrenschnierz aller Art vielfach mißbraucht wurde. Nach
Alesander darf es nur ein- oder zweimal angewendet werden, da ilini
Kranke bekannt sind, die durch Opium die Sprache und die Empfindung
verloren haben. Statt des Opiums empfiehlt er mit Vorliebe das Bibergeil.
Eine strikte Diät ist nach ihm oft das alleinige Heilmittel. So soll
man bei Ohrenschmerz, der durch Entzündung hervorgerufen ist, die
gaUenartigen Bestandteile durch passende Nahrung unschädlich machen
und u. a. Lattich, Gurken, Endivien, Melonen, Aepfel, Malven, Fische
mit hartem Fleisch und Speisen, welche die galligen und heißen Säfte
umwandeln, verordnen.
Bei katarrhalischen Schmerzen findet er es irrationell, frühzeitig zu
örtlichen Mitteln zu greifen. Vielmehr seien bei plethorischen Kranken
Bäder und Schröpfköpfe auf das Hinterhaupt, bei Schwäcblichen milde
Diät, Ruhe, Bäder und schlaferzeugende Mittel (Mohn) indiziert. Bei
Entzündung, die durch Zufluß erhitzten Blutes verursacht ist, verschmäht
er auch den Aderlaß nicht. Eigentümlich erscheint uns seine Therspie
bei jenen Fällen von Schwerhörigkeit und Taubheit, die fieberhafte
Krankheiten begleiten und nach seiner Anschauung von der nach oben
gestiegenen Qalle herrühren. Hier rät er Reinigung des Unterleibs
durch Julianischen Essigmet, Purgiersalze die Euphorbiuniharz ent-
halten u. a. Ist der Leib entleert, so soU mau zu Medikamenten über-
gehen, die den Schleim beseitigen und die Nase reinigen. Dazu rechnet
er Gurgelmittel, die aus Senf und Läusekraut zusammengesetzt sind,
oder Niesmittel, welche aus Pfeffer, Seifenkraut, weißer Nieswurz
und Hahnenfußkrant bestehen und fein gepulvert mit dem Saft der
Cyklaman und Honig vermengt in die Nase geblasen werden. Dieses
Medikament befreie in vortrefflicher Weise den Kopf von der Menge
■der ihn belästigenden Stoffe.
Von der großen Anzahl der Mittel, die gegen die öeherlott i
stehende Schwerhörigkeit und Taubheit angewendet wurden, hält er nicht '
viel, doch «wenn auch in schwereren Krankheiten die meisten Mittel
keinen nennenswerten Erfolg zu haben scheinen, so muß man trotzdem
darüber nachdenken und darf mit der Hilfe nicht säumen und nichts
unterlassen ; denn nicht selten verläuft etwas günstig wider Erwarten*.
Solche Mittel waren z. B. der Saft des Kellerassels , Brechmittel die
Nieswurz enthalten, Seebäder, Blutegel, Senfpflaster, Hautabreibungen, '
Arteriotomie. Besonders erwähnenswert aber ist die Mitteilung Alexan-
ders, manche Aerzte hätten versucht, dem TJebel durch akustische j
Instrumente und Hörrohre, beizukommen. Ja, man scheint bei Taub-J
stummen und Schwerhörigen Hörübungen versucht zu haben, deronj
L
a Trallefl.
35
Nutzlosigkeit freilich daraus hervorgeht, ilaQ sie wieder verlassen
wurden und in Vergessenheit gerieten, um zu Ende des 19. Jahr-
hunderts wiederholt als neue Methode mit überschwenglicher Anpreisung
neuerdings aufzutauchen und nach großen Enttäuschungen wieder auf-
gegeben zu werden. Die betreffende Stelle in Alexander von Tralles
lautet: .Manche*) Aerzte haben nicht bloß diese Mittel verordnet, son-
dern nachher noch die Arteriotoniie vorgenommeu und dann eine Trom-
pete genommen, das Ende derselben an den Gehörgang gesetzt und ge-
blasen. Andere haben mit großen Schellen Lärm gemacht, und noch
andere haben selbsterfundene Instnunente dazu benutzt."
Zur Charakterisierung der symptomatischen Therapie seines Zeit-
alters sei hier nur angeführt: das Ausspülen der Ohren mit Essig, Honig
und Natron bei Ohrensausen, die warme Einträufelung von in Essig
zerriebenem Bibergeil und Schierlingsamen bei Ohrenklingen, das
Einstreichen einer aus Kardamomsamen, Natron und Feigen bereiteten
Salbe in den Gebörgang zur Beseitigung des Ohrenschmutzes, das
Eingießen des warmen Sitftes von Rebhuhnerkraut bei Ohrblutungen etc.
Ist "Wasser in das Ohr gedrungen, ao läßt er den Kranken auf dem
Fuße der leidenden Seite hüpfen, wobei er sich nach der nämlichen Seite
abwärts neigen muß. Ins Ohr gedrungene Fremdkörper, die oft
Krämpfe erzeugen und, wenn sie nicht herauseitern, den Tod herbei-
führen, entfernte er wie Galen mit dem Ohrlöffel, den er mit Wolle
umwickelt und in Terpentinharz oder einen anderen leimartigen Stoff
taucht. Indem er dann Niesen erregt und dabei Mund und Nase schließen
läßt, hofft er, daß durch die im Innern des Ohres erzeugte Spannung der
Luft der fremde Körper nach außen getrieben und die Extraktion des-
selben erleichtert wird, oder er spritzt Flüssigkeit ein und sucht den ein-
gedrungenen Körper mit der Haarzange herauszuholen. Andere Aerzte,
erzählt Alexander, haben den Fremdkörper durch Saugen an einem in
die Ohröffnung gesetzten Rohre entfernt. Durch Einspritzung scharfer oder
narkotiacber Substanzen vei-suchte er Würmer im Ohre zu töten (Wermut,
Bergminze, Nieswurz, Essig). Sehr reich ist die Behandlungsart Alexan-
ders bei Ohrenschmerz, wobei er nach den oben erwähnten pathologischen
Gesichtspunkten verfahrt. Im ganzen und großen schließt er sich hierbei
Galen an, doch hält er sich z. B. bei der Therapie des entzündlichen
Ohrenschmerzes nicht völlig an dessen Vorschriften, sondern empfiehlt
Bähungen mit in warmes Wasser getauchten Schwämmen, oder mit
Wasserdampf, der aus einem Gefäß durch eine Röhre ins Ohr geleitet
wird, ein Verfahren, das sich als Volksmittel bis zum heutigen Tage
erhalten hat.
Von der großen Anzahl der Mittel wollen wir kurz einige erwähnen :
a) Pflanzliche: Nieswurzpulver, Opium, Safran, Pfeffer, Knob-
3G Aetius.
lauch, Lorbeer, Zwiebel, Saft des Nachtschattens, des Korianders, des
Asphodills, der Zehrwurz, Haselwurz, Zaunrübe, des Mangolds, ver-
schiedene Oele, die als Konstituentia verwendet wurden, wie Mandel-,
Irisöl, Harze, Ysop etc,
b) Mineralische: Bleiglätte, Bleiweiß, Metallschlacke, geschabter
Grünspan, kohlensaures Natron etc.
c) Animalische : Frauenmilch, Hühnerfett, Gänsefett, Harn vom Eber,
Bibergeil, Honig, Wachs, gekochte Heroldschnecken, Kellerwürmer, Regen-
würmer.
Von Instrumenten kommen vor : der OhrlöflFel, die Haarzange ; außer-
dem empfiehlt er einigemal einen mit öligen Mitteln durchtränkten
Lampendocht in den Gehörgang zu legen.
Von großem Wert ist die erneute Vorschrift, nichts Kaltes, sondern
nur Erwärmtes in den Gehörgang zu bringen.
Bei Verletzungen und Entzündungen der Ohrmuschel wandte Ale-
xander von Tralles erweichende Kataplasmen an und wiederholte
das Verbot des Hippokrates, feste Verbände anzulegen.
^) Alexander von Tralles, Originaltext und üebersetzung nebst einer ein-
leitenden Abhandlung von Dr. Th. Puschmann, 3 Bde. Wien 1878.
*) Bd. II, p. 105, 1. c. ('AXc^avSpoü TpaXXtavoö ßtßXtov tptxov x£?p. 5' it«pl xai^cu^to)^):
xivh^ oh oh pioyov Tooxoi^, &XXa xal &prr)pioTOfjLia( Sottpoy icposiqvrf^xav xal oakiztfra
irposO-evie^ , eI^ tö Äxpov tyj^ ooLkm'C^oq töv icopov f?j<; Äxo-yj^ Öivtt^, o5t(u xaTirj6Xfjaav,
itspoi Bc pista [U'^aXüiiV xü>$(uy(uv &xtuicir]3av xal &W01 SXkui^ ty^p-fpavxo icpog6ic(voouvx6g.
Aetius
(530 n. Chr.)
Aetius von Amida, Leibarzt und Oberstkämmerer Justinians I.
in Byzanz, aus der alexandrinischen Schule hervorgegangen, galt unter
den Nachfolgern Galens durch lange Zeit als erste Autorität. Seine
Pathologie ist völlig dem Galen entnommen; neu ist nur die Erwähnung
der Ohrpolypen. Seine Therapie der Ohrerkrankungen ist ebenso
kompliziert wie die seiner Vorgänger. So verwendete er bei Ohren-
schmerz „ex frigiditate** warme Umschläge, warme Dämpfe von
mit Wasser gekochtem Absinth als Narkotikum, Frauenmilch gemischt
mit Eiweiß, Oel mit Wolfsmilch oder feinst zerstoßenen Pfeffer mit Wein;
gegen Ohrentzündung Honig, Wein, Nuß- oder Mandelöl, Gänsefett,
Myrrhe mit Alaun und Essig, Fischgalle u. a. Bei Ohrenschmerz durch
Eindringen von Wasser ins Ohr empfiehlt er das Aussaugen mittels
einer Röhre. Bei Ohreiterung empfahl er zunächst Reinigung des
Ohrs durch einen mit Wolle umwickelten OhrlöflFel, sodann Ausspülungen
mit Wasser und Wein oder Essig, Honig mit Wein, endlich Sal-
peter oder Alaun, gelöst in Honig und Rosenöl, auf Wolle appliziert;
\ Aegiaa.
37
ge^en profuse Otorrhoen fein gepulverten Eiaenrost mit Essig. Das
Ohrentönen bei fieberhaften Krankheiten betrachtete Aetius als un-
günstiges Symptom und erklärt es als Folge des Zuflusses blähender
Dämpfe und zu großer Sensibilität des Ohres.
Dm Terhiirtetes Ohrenschmalz zu beseitigen, versuchte er, es
zunächst durch eiue Auflösung von Salpeter in Essig zu erweichen
und hierauf mit einem Ohrlöffel zu entfernen. Zur Entfernung von
Fremdkörpern, die oft Kopf- und Zahnschmerz verursachen, benutzte
er mannigfach geformte Instrumente und mit klebenden Stoffen bestrichene
Sonden.
Beträchtlich ist die Anzahl der absonderlichen Mittel , welche er
zur Behandlung der Schwerhörigkeit und Taubheit empfiehlt, die
er zumeist auf Ansammlung von dicken und zähen Säften zurückführt.
Dabin gehören Purganzen, Gurgel- und Niesmittel, ölige Einreibungen
auf den geschorenen Kopf, örtliche Dämpfe von verschiedenen Dekokten,
Einträufelungeu von Lauchsaft, Essig, Rindsurin, Ziegenurin (am besten
der Blase einer frisch geschlachteten Ziege entnommen und in einem Ge-
fäße durch 9 Tage zur Eindickung dem Rauch ausgesetzt), femer ver-
schiedene Mittel, deren Bestandteile: Nieswurz, Nasturtium, Origanum,
Ysop, Lorbeerblätter, Bibergeil u. a, waren, in Form von Eingüssen
oder Fomenten.
') Äetii Medici Graeci Contractae i
Setm. I u. U u. lU, cap. 139; Secund. Sern
I veteribuB Medicis Telrabiblos, Prim.
!. tap. 12 D, 121. Serm. II, cap. 73—87.
Paulus von Aegina
(Mitte des 7. Jahrhunderte n. Ch.)
Den letzten Lichtpunkt in der Geschichte der alexandrin is eben
Schule bildet Paul vonAegina, dem in chirurgischer Beziehung eine
besondere Bedeutung zukommt. Seine Lehrmeinungen tragen den Stempel
der einfachen, klaren, nüchternen Beobachtungsgabe, wie sie den Hippo-
kratikem eigen war. Alle späteren Aerzte schöpften direkt oder indirekt
aus seinen Werken. Seine uns interessierenden chirurgischen otiatri-
S4^en Leistungen ') übertreffen weitaus diejenigen des Alexander.
Er beschreibt die Ätresien des Gehörgangs und unterscheidet ober-
flächliche und tiefe, die er als angeborene oder durch Geschwtlrs-
prozesse (Granulationswucherungen) entstandene differenziert. Die ersteren
ließ er mit dem Skolopomacbairion (t6 axoXoitO[i.ax*-f^°^ ^= Spitzbisturi)
inzidieren, bei den tiefen, deren Prognose eine zweifelhafte ist, empfiehlt
er die Inzision mit einem schmalen und spitzen Messerchen. Polypen
des Qehörgangs entfernte er mit dem ^Pterygotom' oder der „Spatha
polypica", worauf eine mit austrocknenden Pulvern bestreute Wleke
88 Paulus von Aegina.
zum Auseinanderhalten der Ränder eingelegt wurde. Bei der Operation
auftretende Blutungen wurden mit Schwämmen gestillt, die in kaltes
Wasser getaucht wurden. Mit einem Aufwand besonderer chirurgisclier
Geschicklichkeit ging Paul bei den Versuchen, Fremdkörper aus dem
Ohre zu entfernen, yor. Hier bediente er sich mannigfacher Instrumente,
nebst Sonden und Häkchen auch der Pinzetten und der schon von
Alexander angeführten Saugröhrchen. Wenn die Herausnahme der
Fremdkörper, welche er in solche teilt, die ihre Größe beibehalten
(Steine, Glasstücke, Insekten), in solche, die aufquellen (wie Bohnen,
Johannisbrotkörner), und in flüssige, nicht durch instrumentellen Eingriff
gelingt, wobei er auch Niesmittel bei Verschließen von Mund und Nase
anwendet, so greift er zum ultimum refugium : halbmondförmige Inzision
hinter der Ohrmuschel und Ablösung des hinteren oberen Abschnittes
des membranösen Gehörganges vom knöchernen Teile, ein Verfahren,
das in schwierigen Fällen auch heute geübt wird. Zur Behandlung der
Kontusionen der Ohrmuschel sind nach ihm keine Arzneimittel nötig,
doch müsse man, um dem Wunsche des Kranken zu entsprechen, einiges
anwenden.
Die nüchterne, rationelle Denkweise des Paulus äußert sich auch
darin, daß er die angeborenen und inveterierten Formen der Taubheit
für schwer heilbar oder unheilbar erklärt. Hingegen beweist seine An-
sicht, durch „Aufsteigen der Galle '^ veranlaßte Fälle könnten durch
Gallagoga beseitigt werden, aber auch spontan heilen, daß er sich
von der U eberlief erung seiner Vorgäuger nicht gänzlich zu befreien
vermochte.
Die sonst verwendeten Mittel Paulus' sind ebenso zahlreich wie die
seiner Vorgäuger. Gegen Ohrenschmerzen empfiehlt er Einträufelungen
von OL pegami, Ol. nardi, Ol. lauri, Amarconöl oder Oel in welchem
Zwiebel oder Knoblauch gekocht wurden. Zur Austrocknung fließender
Ohren empfahl er Einlage von mit Alaun bestreuter Wolle oder Destil-
lation mit altem Wein, Gans- oder Fuchsfett, bei hartnäckigen Otorrhoen
Weinhonig, Essighonig, Absud von Linsen oder Rosen, gegen Ohrwürmer
Ausspülung mit Abkochungen von Wermut, Lauch, Centaurium etc.
Die Gicht beruht nach Paulus auf einer Schwäche der Gelenke
und dem Vorhandensein eines Krankheitsstofi'es, der bei unzweckmäßiger
Lebensweise sich wie in anderen Organen auch in den Ohren absetzen
kann (III, 78).
Paul von Aegina, Alexander von Tralles und Aetius
bilden nebst Galen nicht bloß die Quelle für alle späteren byzantini-
schen Aerzte, sondern diese kopierten mehr oder minder sklavisch die
Werke jener Autoren, ohne, von geringfügiger Kommentierung abge-
sehen, selbst etwas zu leisten. Das gilt für TheodorusPriscianus,
Die Araber. 39
Leo*), Theophanus Nonnos*)*), der fast wörtlich die otglogischen
Kapitel des Trallianus abschrieb, fQrActuarius oder Myrepsus*),
der zur Entfernung der Ohrpolypen statt der chirurgischen Methode
Pastillen aus Grünspan, Alaun und Essig verordnete.
Das Erbe der hellenisch -römischen Heilwissenschaft hatten in-
zwischen schon die Araber angetreten«
') Pauli Aeginetae Medici Opera. De arte medendi. Lib. I, cap.- 12; Lib. III,
cap. 28, 24.
') Sövo(|»ic laxpix*}] (Conspectus medicinae) in ErmeriuB; Anecdota media Graeca.
LugdoBi Batavorum 1840. Lib. lY.
') Theophanis Nonni epitome de curatione morborum. Gothae et Amstel.
1794. Tom. I, c. 74—90.
*) Nicolai Myrepsi, Alexandrini medicamentorum opus, Sect. 48, cap. 11.
b) Die Araber.
Die auf den Trümmern des Hellenismus sich entwickelnde arabische
Medizin, die durch griechische Aerzte aus Byzanz vermittelt wurde,
stützte sich auf die kaum nennenswerten anatomischen Kenntnisse des
Altertums, ohne selbst etwas zur Erweiterung der exakten Forschung
beizutragen. Es ist daher klar, daß die Ohrenheilkunde durch die arabi-
schen Aerzte nichts Wesentliches gewinnen konnte.
Immerhin sind einige wenige Tatsachen und Gedanken, die der
Arabismus zeitigte, von Bedeutung. Trotz der großen Masse abenteuer-
licher Mittel, welche die Therapie der Araber charakterisiert, wäre es
verfehlt, das Wirken der arabischen Aerzte abfällig zu beurteilen, wie
es von manchen Historikern geschieht; denn ein Blick auf das christliche
Abendland genügt, um zu erkennen, wo in jenem Zeitalter die Heil-
kunst ihre wahre Heimstätte gefunden hat. Die Namen eines Serapion,
Rhazes, Ali, Avicenna, Averrhoes, Mesue und Abul Easim
verdienen immer mit Ehren genannt zu werden.
Die geringe Förderung der Otiatrie durch die Araber beruht ins-
besondere auf der durch religiöse Gründe bedingten Vernachlässigung
der anatomischen Forschung, ja es scheint sogar als hätte das von den
Hellenen überkommene karge Erbe bei den Arabern noch an Klarheit
der Anschauung eingebüßt. Als Beispiel hierfür seien einige Sätze aus
Rhazes^) und Averrhoes*) angeführt. Ersterer sagt: Auris foramen
in osse duro, quod vocatur petrosum, invenitur. Hoc autem os valde
tortuosum est et multas habet evolutiones et taliter protenditur usque
ad nervum quinti paris, quod a cerebro exoritur, per quem fit auditus.
*) Bemerkenswert ist, daß Theophanus Nonnos den Exophthalmus als Sym-
ptom der Thrombose des Himsinus beschrieb. (Styl. Dimitriades 1. c. p. 85.)
40 1^^ Araber.
Letzterer: Quia auris est in osse petroso et ideo nominantur in lingua
arabica .agari*. Et in ipso sunt viae obliqnae mnltae et tendunt taliter
per yiam tortam, donec jungantur nerro qninto orto a cerebro, a quo
oritur pellicula extensa supra os petrosum.
Die Physiologie entbehrt jeder Originalität und fußt zum größten
Teil auf der Aristotelischen Ueberlieferung und somit Torzugsweise auf
teleologischer Grundlage.
Auf reellerer Basis steht die Patholc^e, die sich aber von der
galenischen und hellenistischen nur wenig unterscheidet und wie diese
vorzugsweise auf der genauen Beobachtung der Symptome beruht. Sie
zählte folgende Begriffe: Ohrenschmerz (ex complexione mala calida et
frigida) mit Abszeß oder ohne Abszeß, Ohrgerausche (sonitns, tinnitus)
bei Avicenna auch sibilus, Schwerhörigkeit und Taubheit (von Geburt
an oder erworben), Fremdkörper im Ohre (Wasser, feste Körper, Würmer),
Geschwüre, Blutflüsse, Ohrenschmutz (-schmalz). Die Abszesse wurden in
kalte und heiße unterschieden.
Die Diagnose stützte sich außer auf der Berücksichtigung der Aetio-
logie und der subjektiven Angaben auch auf den lokalen Befund, der
womöglich im Sonnenlichte erhoben wurde.
Den größten Raum in den otologischen Abhandlungen der arabi-
schen Werke nehmen die therapeutischen Vorschriften ein, welche sich
durch eine Reichhaltigkeit verschiedenartigster Mittel auszeichneten, die
nur in der indischen Medizin ihresgleichen finden. Pflanzen-, Tier- und
Mineralreich wurden in mannigfacher Kombination in Anwendung ge-
bracht.
Die beliebtesten Mittel waren Oele und Pflanzensafte aDerlei Art,
femer Milch, Honig. Essig. Alaun und Salpeter, die Naricotika Mohn,
Nieswurz. Bilsenkraut und Bibergeil : nicht selten wurden auch die Ghdie
vom Rind, vom Baren und Kranich, sowie der Urin des Rindes oder
der Ziege nicht verschmäht.
Der Form nach zerfielen die Arzneien fürs Ohr in Instillationen
und Infusionen, Pastillen und Pillen. Pflaster und Salben« Bähungai
und Umschläge. Beliebt war auch die Verwendung der IHunpfe ron
mannifftaehen Dekokten, die man mit einem Trichter ins Ohr appli-
zieren ließ.
Die höchste Stufe erlangte die chirurgische Behandlung durch
Abul Kasim^i 1912 — lOloi, der im wesentlichen auf Paul Ton
A e ? i c a rißt, dessen chirurgisches Werk * \ jedoch reicher an Erfahnmg
:-:. Mi: Vorliebe benützt er die Kauterisation als Heilmittel bei Okren-
^cinr-rrz. wobei er das <ilüteisen an zehn verschiedenen SteUen
Kir::el ö und 7 des II. Bucb^ bebandeln die Obr*r
Die Araber.
41
um das Ohr anzusetzen empfiehlt. Bei Ätresie des Gehörgangs wurde
durch Sondenuntersuchung ermittelt, ob sie eine tiefe oder ober-
flächliche sei. Bei ersterer verwendete er das Gluheisen, bei letzterer
die Sonde zur Durchbohrung des Verschlusses, wobei er, um eine
Verletzung des Nerven zu vermeiden, vor unvorsichtigem Eindringen
in die Tiefe warnt. Das neuerliche Verwachsen wird durch täglich ein-
zulegende, mit Salbe bestrichene Wieken verhindert. Äbul Kasini be-
diente sich außer der Sonden und Kauterien noch verschiedener kleiner
chirurgischer Instrumente verschiedenster Form, wie Messer, Saug-
maschinen etc. Besonders reich war die arabische Medizin in der Erfin-
dung von Instrumenten zur kunstgerechten Beseitigung von Fremdkörpern
im Ohre. Es gab Pinzetten, Kanülen zum Aussaugen des Fremdkörpers
aus dem Gehörgaug, kleine Messer zum Zerkleinern aufgequollenen
Samens und endlich Obrenspritzen. Ahul Kasim teilte die Fremd-
körper in vier Kat-egorien: 1. in solche aus dem Mineralreiche und
andere harte Substanzen, 2. in Samen von Pflanzen, 3. in Flüssigkeiten,
4. in lebende Tiere, eine Einteilung, die praktischen Wert besitzt. Bei
der Entfernung des Fremdkörpers soll immer heiles Licht in den
äußeren Gehiirgang fallen und die Ohrmuschel entsprechend gerade-
gezogen werden.
Äußer der lokalen wurde auch die allgemeine Behandlung nicht
außer acht gelassen. Zu dieser gehören diätetische Vorschriften (Essen,
Trinken, Bäder, Reiten), die Verwendung von Purgiermitteln, Cholagogis
und die häufig geübte Venäaektion.
Aus der älteren Zeit wäre zunächst Serapion*), (9- oder 10. Jahr-
hundert) (Jahjah Ibn Serabi), auch Janus Damascenus genannt,
hervorzuheben. Derselbe warnt im II. Traktat seiaer „Praktika" Blutflüsse
aus den Ohren, wenn sie von der Krisis herrühren, durch Styptika zu
stillen und empfiehlt gegen Ohrgeräusche Moschus. Im übrigen befolgt
er eine Therapie, wie sie am ausführlichsten heiAvicenna und Mesue
zusammengestellt ist.
Rhazes^) (850—932); (Muhamed Ebn Secharjah Abu Bekr
el Räzi), der das Ohr bei einfallendem Licht untersuchte, bespricht
eingehend die prophylaktischen Maßregeln zur Verhütung von Ohren-
leiden wie Vermeidung zu schwerer Speisen, von Kälte, von Schlaf
bei vollem Magen u. a. Auch rät er gegen Ansammlung von ,Ohren-
sehmutz" (welcher wegen seiner Konsistenz Ohrwachs genannt wurde),
wfichentlich einmalige Einträufelung von Mandelöl in den (Sehörgang. Er
unterschied Ohrenschmerzen, bei denen Änschw ""'"^tion
im Gesichte beobachtet wird, andere, die nac*
folge des Einflusses kalter Winde entsteh«
Ohrentönen verbunden sind. Unter seinen
finden sich Aderlaß, Bäder, Einträufelung vüd Milch, Rosenöl, Sesamolj
Euphorbium, Bibergeil, Opium, Bei Ohrgeräuschen (sonitus et tinnitufl]
applizierte er Opium in Rosenöl oder Mandelöl mit Bibergeil oder Rind»>
galle. Ansammlungen von Ohrenschmalz beseitigt Khazes folgender-
maßen: Abends wird Oel ins Ohr geträufelt, frühmorgens hat der Kranke
ein Bad zu nehmen, dann leitet er Wasserdänipfe ins Ohr und beseitigt
die erweichten Massen mittels Baumwolle. Würmer im Ohre siii4
durch den Saft von Pfirsichblättem und von Wermut oder durolt
Pfirsichkernöl zu beseitigen. Zur Austrocknung von OhreoflUssen dienen
Lösungen von Alaun in Wein oder Mischungen von Safran, Salpetovi
Essig und Wasser.
Schwerhörigkeit könne von Dämpfen, die sich durch zu reicli'
liehen Genuß von Speisen entwickeln, herrühren, oder nach bäul
Nachtwachen entstehen. In solchen Fällen rät er zum Gebrauch von
Bädern, vielem Schlaf, Waschungen des Kopfes mit warmenv Wasser,
Leitung von Dämpfen ins Ohr mittels Trichter u. a.
Ein Mittel gegen Taubheit ist das Hirn des Löwen.
In dem Werke des Halj Abbas (t 994; auch Ali Ben el-
Abbas; Ala ed-Din el Madschusi genannt)"), das in zwei Teilq
(„Theorice" und ,Practice") zerfällt, wird im V. Buche die Behandlui
der Ohrenerkrankungen vom Standpunkte der internen Medizin, im Kw
pitel 30 und 31 des IX. Buches vom Standpunkte der Chirurgie be-
sprochen. Er unterscheidet einen Ohrenschmerz es complexione mi
calida und frigida. Jede der beiden Arten erfordert eine eigentUmlichj
Therapie nach dem Grundsatz: Contraria contrarÜs.
Im ersteren Falle empfiehlt er die Venäsektion oder Qallago)
und lokal Koriander-, Kosen-, Lattichwasser etc. im letzteren Gurgel(
und örtliche Instillation von Mandelöl, Bären- und Kranicbgalle, Myrrln
Wolfsmilch, Rindsurin etc. Der Kunstgriff, durch den er Wasser au
dem Ohre entfernte, ist schon im Talmud enthalten. Man stecke einij
Stück Rohr mit dem feinen Ende in den Gehörgang und zünde die Baumr^
wolle, welche um das andere Ende gewickelt ist, an. Gelangt die Hitz^
zu den inneren Teilen, so soll man das Rohr möglichst schnell heraus^
ziehen, dann werde sogleich das Wasser nachfolgen.
Avicenna'l (980 — 1037), dessen Name von allen arabisch*
Aerzten am bekanntesten wurde, brachte in seinem Hauptwerke, in de
auch die Ohrenheilkunde sehi- eingehend behandelt wird, wenig Originell«
Seine prophylaktischen Vorschriften enthalten die gewöhnlichen Plattbeitei(
seine Therapie zeigt wenig von der rationellen Beschränkung, die me
einem so gerühmten Denker erwarten sollte. Die wenigen ani
tomischen Andeutungen suchen vergeblich durch schwerfällige, dunklf
Sprache die Unwissenheit zu verhüllen. Erwähnenswert wegen ihrer Abi
d
Die Araber.
43
sonderlichkeit ist die Pathologie der Taubheit. Diese kann nach
ATicenna entweder zentral verursacht sein durch Verstopfung des leeren
Raumes, der den Sitz des Gehörs bildet, oder durch Verstopfung des
Gehörnerven; im ersteren Falle können die , Spiritus" nicht in den Gehör-
raum gelangen, im letzteren Falle ist dem „Spiritus auditorius* der Weg
zum Nerven verlegt. Die Obrgeräusche werden als .sonitus", „tinnitus"
und .sibilus" unterschieden, auch wird das Jucken im Ohre erwähnt.
Der christliche Arzt Mesue*) (f 1015) faßte die Lehren der
Griechen und Araber In ein Übersichtliches Ganze zusammen. Nach ihm
ist die angeborene Taubheit gar nicht, die veraltete aber sehr schwer
heilbar. Eine bessere Prognose stellt er in den Fällen von Schwerhörig-
keit, welche durch Eiterungsprozesse hervorgerufen wurden. Die beste
aber dann, wenn die Taubheit durch Fremdkörper bedingt ist oder durch
Ansammlung dicker Dämpfe oder Saft« verursacht wird. Mesue gibt
den Schwerhörigen auch einige diätetische Vorschriften; er empfiehlt
Bäder, häufige Wagenfahrten, Reiten auf sandigem Boden, außerdem
Instillationen von öligen Mitteln ins Ohr. Bei Obrenscbmerzen, die
durch verschiedene schädliche Einflüsse, wie Kälte, Wärme, Feuchtigkeit,
Trockenheit, oder durch die Galle hervorgerufen sein können, verwendet
er die üblichen Mittel, unter denen auch Eiweiß mit Milch, Mohnöl,
Quittenschleim, Bilsenkraut erwähnt sind, in Form lauer Instillationen,
bei Abszessen erweichende Pflaster und Gerate. Die Geschwüre werden
in akut und chronisch entstandene unterschieden, Erstere müssen zu-
nächst durch Einspritzungen gereinigt werden (mit einer Mischung von
Honig und Wein oder Oxyrael Scillae), worauf zur Austrocknung durch
Alaun, Aloe oder Myrrhe geschritten wird. Bei den chronischen Ge-
schwüren zerfiel die Kur in drei Stadien, in denen zuerst reinigende,
dann austrocknende, endlich die Vernarbnng befördernde Medikamente
zur Verwendujig kamen. Die Ohrg'eräusche leitet er entweder von
Schwächezuständen, z. B. bei Rekonvaleszenten, oder von der Krisis in
fieberhaften Krankheiten oder von Ansammlungen von Dämpfen im Kopfe
her. Zu ihrer Beseitigung dienende Mittel werden in großer Anzahl an-
geführt: neben Niesmitteln Instillationen mit Oel, Wolfsmilch, Honig,
Essig, Milch, Lauchsaft, Bibergeil oder ein Präparat des Autors, welches
aus Helleborus, Castoreum, Baute, Salpeter, Pfeft'er, Kettichsaft, Lauch-
saft, Narden-, Mandel-, Anisöl bestand. Die Entfernung von Wasser im
Ohre wurde auf dreierlei Art versucht: durch heftige Bewegungen
des Kopfes oder des ganzen Körpei-s, diu-ch Niesen bei Verschluß von
Mund und Nase oder durch Aufsaugen mittels feiner Scbwämmcben
oder Meerwolle (lana, quae invenitur in conchis niariuis) oder Holunder-
mark, endlich durch Ansaugen mittels Röhrchen.
Erwähnenswert scheint uns an dieser Stelle das von Mesue
44 I)ie Araber.
empfohlene Verfahren zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem
Ohre. Es besteht darin, daß dem Kranken ein Niesmittel verordnet und
ihm aufgetragen wird, durch Verschließen der Nase und des Mundes
den Luftstrom mit voller Intensität gegen die Ohren zu treiben, eine
Prozedur, die augenscheinlich mit dem Valsalvaschen Versuch identisch ist.
Würmer im Ohre sollen durch Instillation von Wermut-, Tausend-
guldenkraut-, Pfirsichblättersaft beseitigt werden, oder man gibt Nies-
mittel und verschließt beim Niesen Mund und Nase.
Auch die beiden spanischen Araber, Avenzoar^) (f 1162) und
sein Schüler Averroes^^) (f 1198?), trugen wenig zur Erweiterung
der Otiatrie bei und stützten sich, infolge mangelnder anatomischer
Kenntnisse, auf die alten physiologischen Lehren des Aristoteles und
die Humoralpathologie des Galen. Die Therapie beider enthält nichts,
was nicht schon bei den Griechen und Arabern benützt wurde*).
Die arabische Periode hat vorzugsweise die Bedeutung, das Wissen
der hellenischen Forscher, wenn auch entstellt, erhalten zu haben. Dieses
Verdienst ist vom Standpunkt der Otiatrie freilich nicht zu hoch anzu-
schlagen, da durch die Späthellenen, Araber und ihre Nachbeter ein
nutzloser therapeutischer Wust geschaffen wurde, zu dessen Beseitigung
die Arbeit mehrerer Jahrhunderte erforderlich war.
^) Abubetri Rhazae Mahometi, De re medica, Lib. I, cap. 10.
') Averrois Liber de Medicina, qui dicitur Colliget, Lib. I, cap. 19.
^) De chirurgia. Arab. et latine cura Jo. Cbanning Oxon. 1778. Tom. I,
Lib. I, Sect. 5, p. 25; Lib. II, Sect. 2, p. 115—117, Sect 6, p. 127-135; Lib. I,
Sect. 7, p. 135—137 ; Lib. II, Sect. 26, p. 179.
*) Practica Joannis Serapionis. Venet. 1550. Tract. II, cap. 12.
^) Abubetri Rhazae Mahometi opera. Basil. 1544. De re medica, Lib. IX,
cap. 31 — 36; de facultate animalium, Lib. I, cap. I et cap. 3; ad regem Mansorem
de antidotis, Lib. I, cap. 30; Divisionum Lib. I, cap. 37 — 39; de re medica Lib. IV,
cap. 23.
•) Liber totius medicinae. Lugd. 1523. Pract. Lib. V, cap. 62 — 67 ; Lib. IX,
cap. 80—31.
") Avicennae Medicorum Arabum principis Liber canonis; de medicinis
cordialibus et canticis. Basil. 1556. Lib. canon. Lib. XL Fen. IV, c. 1 — 26.
^) Mesue Joannis Damasceni opera. Venet. 1689. Grabadin id est com-
pend. secret. medicament. Lib. IL Summa VI, cap. 1 — 8.
®) Abimeron Abynzoahar Liber Tbeizir. Venet. 1553. Lib. I, Tract, IV
erwähnt, daß Schwerhörigkeit, durch einen Schlag aufs Ohr entstanden, schwer
heilbar sei. da Blut nach innen getreten ist. (Vergl. Maimonides.)
^°) Averrois Cordubensis Colliget, Libri VII. Venet. 1553. Lib. I, cap. 19;
Lib. II, cap. 16; Lib. IlT. cap. 37; Lib. IV, cap. 48; Collect, sect. I, cap. 16.
*) Avenzoar schildert ausführlich einen Fall von akuter Otitis. Liber Theizir.
Venet. 1553. Trakt. IV, cap. L
c) Die Schulen von Salerno und Montpellier.
Die Lntinobarbareu.
Die Geschichte der Otiatrie, wie der Medizin Überhaupt, bietet vom
7. bis zum 13, Jahrhimdert ein trostloses Bild der Stagnation und des
RUckGch ritte s. Mit dem Zusammenbruch des heidnischen römischen Reiches
war infolge der kriegerischen Wirren zwischen dem Morgen- und Abend-
lande und der alles vernichtenden Völkerwanderung die von Griechenland
nach Rom verpflanzte Kultur und mit ihr der wissenschaftliche Fortschritt
in der Medizin verschwunden. An Stelle der nüchternen Naturbeobachtung
trat der finstere Aberglaube und die Heilung der Krankheiten durch
Wundermittel und Zauberei, Die Heil Wissenschaft ward eine Domäne
der Klöster, wo infolge der Aechtung der Anatomie und der naturhistori-
schen Beobachtung durch das Dogma sich eine mehr auf religiöse An-
schauung basierende Mönchsmedizin entwickelt, welche Jahrhunderte
hindurch das Feld behauptete.
Das wichtigste Hemmnis jeglichen Fortschritts in der Medizin war
in erster Reihe das strenge kirchliche Verbot der die Auferstehung
hindernden Leichensektionen, die als schwere Sünde erklärt wurden.
Dieser Wahn faßte nicht nur bei der vom Aberglauben beherrschten
Laienwelt feste Wurzel, sondern er fand auch bei den als ärztliche Autori-
täten geltenden Männern Eingang. Gab es doch noch im vorge-
schritteneren 14. Jahrhundert Anatomen, die trotz des kirchlichen Verbots
zwar den Mut hatten, Sektionen menschlicher Leichen auszuführen,
aber das Auskochen menschlicher Knochen behufs Mazeration ftlr Sünde
hielten.
Bevor wir auf eine Besprechung der Mitglieder der salemitanischen
Schule näher eingehen, sei mit einigen Worten der Mönchsmedizin
gedacht. Zur Zeit, als die politische und geistige Macht des Klerus in
ihrer größten Blüte stand, als die ganze Wissenschaft durch Kleriker
rertreten wurde, lag auch die Ausübung der Arzneikunst in den Händen
der Geistlichkeit. In Klosterschulen wurde Medizin betrieben und ge-
lehrt. Ein Nutzen für die medizinische Wissenschaft im allgemeinen
oder für die Otiatrie im speziellen ei^ab sich hieraus nicht. Im Gegen-
teil. Die wissenschaftliche Bearbeitung lag in dieser Zeit unter der
Aegide des Mönchtums (6. — 12. Jahrhundert) gänzhch darnieder und die
Schätze an Wissen, die das Altertum hervorgebracht hatte, bheben un-
berücksichtigt und fielen der Vergessenheit anheim.
Als Beispiel für viele, wie die Mönchamedizin mit der Otiatrie
Tflrfuhr, teilen wir hier aus dem „Commentarium niedicinale" des mai-
ländischen Erzbischofs Benedetto Crispo (f 725 oder 735) dif ■
46 ^16 Schulen von Salerno und Montpellier.
interessierenden Stellen mit, die in mehr oder minder plumpen Hexametern
damals gebräuchliche Volksmittel empfehlen.
XV. De verme aaris.
Convenit incaatis cautas praetendere caras
Nee minus indocili turbentur corpora sensu.
Cum sopor immensus hominis pervaserit artus
Tum seiet indigpias animal pentetrarier aures.
Accipe cum saevo citius fei muris aceto,
Nee moram fucias, poteris sie pellere vermen.
XVI. De surditate.
At si surditiam pateris, rubros lege vermes
Arboris antiquae, puro si miscis olivo.
Auribus infundis, cupitam tibi redde salutem.
Anserinus adeps prodest, et vulturis atri.
Caeparum succus iuvat auribus, et bona praestat,
Cum solet incautis aures pervadere lympha.
Saepe solet ventris nimius transcurrere cursus,
Paulatim teneram multorum solvere camem.
Quem prudens medicina Bei compescere noscit.
Galla asiana iuvat, cerasi longum quoque pomum.
Caseus aptus erit dulci cum munere mellis;
Proderit et calidum hirci de viscere raptum
Appositum ventri secum, quae cognita cura est.
At proprium si forte unguem demittit ab ipso,
Significat citius cupitam iam perdere vitam.
(Coli. Salem, ed. de Renzi I, p. 81.)
Die poetische Form wurde offenbar gewählt weil sie leichter im
Gedächtnis haftet. Von einer wissenschaftlichen Darstellung des Gegen-
standes kann dabei keine Rede sein.
Die ersten Anzeichen beginnender Regsamkeit auf medizinischem
Gebiete finden wir erst im 12. Jahrhundert, ausgehend von den Schulen
von Salerno und Montpellier.
Zwischen der Mönchsmedizin, in der sich die Gebräuche der Volks-
medizin erhalten, und der öden Scholastik liegt wie eine Oase die
Schule von Salerno, die Bewahrerin griechischer Tradition, Ihr Auf-
blühen verdankt sie insbesondere dem Schutze des erleuchteten Kaisers
Friedrich U., der eine noch heute bewunderungswerte medizinische Studien-
ordnung entworfen hat.
So rühmlich aber auch die Bestrebungen dieser Schule sein mögen,
so finden wir bei Durchsicht der uns überlieferten Collectio Salemitana,
sowie aller medizinischen Schriften aus dem 12. — 14. Jahrhundert kaum
etwas, was als wissenschaftlicher Fortschritt in der Otologie bezeichnet
werden könnte, 'da in den neugegründeten Schulen jener Epoche noch
an den Lehren der Hippokratiker, des Galen und Avicenna mit dogma-
Die Schulen von Salerno und Montpellier. 47
tischer Strenge festgehalten wurde. Was wir von neueren Zutaten
in den noch erhaltenen Manuskripten und in den später durch den Buch-
druck veröflfentlichten mittelalterlichen Werken finden, ist nichts als spitz-
findige metaphysische Spekulation und Polemik, meist in barbarischem
Latein imd in schier unerschöpflicher Breite. Des literarhistorischen
Interesses halber sei der Stand der Otiatrie in der Epoche der Latino-
barbaren kurz geschildert.
Das zimi Teil von unbekannten Autoren herrührende, aus dem
12. Jahrhundert stammende Sammelwerk, die „Collectio Salemitana" *),
gewährt den besten Einblick in die Anschauungen und Methoden der
mittelalterlichen Otiatrie. Im Buche „De aegritudinum curatione* wer-
den als Ohraflfektionen: Schmerz ohne oder mit bestehender Eiterung,
Geschwür, Würmer, Fremdkörper, Taubheit und Ohrenklingen unter-
schieden.
Was den „Schmerz" anbelangt, so kann seine Qualität (ex calidi-
tate oder ex frigiditate), sein Zusammenhang mit einem Abszeß aus der
Intensität und Dauer des Schmerzes, aus der Beschaffenheit der Um-
gebung des Ohres erschlossen werden. Die Therapie beruht auf dem
Satze: Contraria contrariis und richtet sich nach der vermuteten Ele-
mentarqualität. Die Würmer entstehen aus verdickten Säften vermittels
der Aufnahme belebender Luft und verraten sich durch Jucken und Ohr-
geräusche; man kann sie auch bei der Untersuchung im Sonnenlichte
„aure soli apposita" zuweilen direkt beobachten. Ebenso läßt sich aus
dem Fremdkörpergefühl des Patienten odör durch direkte Untersuchung
im Sonnenlichte das Vorhandensein von Fremdkörpern im Gehörgange
erkennen. Taubheit entsteht durch Verstopfung der Nerven oder aus
den vorgenannten Ursachen, z.B. durch Fremdkörper. Ohrenklingen
ist manchmal Affektionen der Leber oder des Magens zuzuschreiben.
Im letzteren Falle wird es heftiger nach dem Essen und pflegt nach
Erbrechen schwächer zu sein.
Die Behandlung der schmerzhaften Affektionen beruht auf der
Anwendung von Salben (in der Umgebung des Ohres), Kataplasmen,
Instillationen, wozu passende Pflanzensäfte oder Fette benützt wurden.
Einlagen von adstringierenden Pulvern kamen bei Ohrgeschwüren zur
Anwendung. Würmer wurden durch Lösungen von Bitterstoffen (bit-
tere Mandeln, Absinth etc.) getötet, eventuell mit Häkchen (unco ferreo)
extrahiert. Fremdkörper entfernte man teils durch mechanische
Applikationen direkt, teils durch Niesmittel (fiat stemutatio, ore et na-
ribus apprehensis, ut ex impetu spiritus possit educi).
Gegen Schwerhörigkeit, welche, wenn angeboren oder länger als
*) Ed. Salvatore de Renzi. Napoli 1853. Bd. II, p. 161—167.
4^ Die Schulen von Salemo und Montpellier.
*J— %^ Juhrt" dauernd, als unheilbar galt, empfahl man nach dem Vorbild
dor titton Autoren eine ganze Reihe von Medikamenten (auch Rauche-
run^MU Ourgel- und Niesmittel). Schwerhörigkeit infolge von Fieber
iulor AiH>plexie wurde als unheilbar betrachtet.
Anzuerkennen ist es, daß die Salemitaner einen relativ geringen
Iloilschatz von meist unschädlichen Stoffen aus dem Küchengarten be-
nutzten und vor jeder Behandlung die lokale Inspektion des Ohres
forderten: .primum considera foramen auris".
Von historischem Interesse dfirften einige auf die Otiatrie bezügliche Stellen
aus dem berühmten Lehrgedicht Flos Medicinae scholae Salemi (auch Regimen
sanitatis Salemitannm genannt Ende des 11. bis Anfang des 12. Jahrhunderts) sein,
welches Ton Pagel als Quintessenz salemitanischer Heilkunde bezeichnet wird.
Anriculae surdae si te vexatio laedit
Instillatar adeps anguillae, moxque recedit,
Hoc et de colubro facias, meliusque valebit,
Aut titulo8a(?), sub hac effectum prorsus habebit.
Virginia urina pueri mala dicta cavebit.
iUfV7ri, M.Li Kap. 64 — 68 (in Versen) des zitierten Buches (de secretis muliemm,
Ut^nz'i, M^ IVi behandeln die Otiatrie nach obigen Gresichtspunkten.
Vi»utfr enthält das salemitanische Lehrgedicht nebst Rezepten für Ohraltera-
^iffft^i iu d^r Pars quinta, cap. III, folgende leonischen Verse Ober die Ursachen der
^v f. w^i^^fijifkeit. der subjektiven Geräusche und des Ohrenschmerzes.
Art. 4. Impedimenta auditus.
Balnea, sal, vomitus, anser, repletio, clamor
Et mox post escam dormire, nimisque moveri,
Ista gravare solent auditum, ebrietasque.
Art. 5. Causae tinnitus.
Motus, longa fames, vomitus, percussio, casus,
Ebrietas, frigus tinnitum causat in aure.
Art. 6. Causae doloris aurium.
Ventus, apostema, dolor, fames. ictus et aestus,
Atque clamor causae sunt quales quatuor istae.
Von dieser traurigen Epoche in der Geschichte der Medizin wenden
y^'iT uns den bedeutendsten Repräsentanten der Schulen von Salemo und
Montpellier zu, denen im folgenden auch nicht zu diesen Schulen ge-
Lörijre, außerhalb Italiens und Frankreichs wirkende Autoren des Mittel-
alters angereiht wurden. Auf eine strikte chronologische Reihenfolge
konnte hiebei keine Rücksicht genommen werden.
Buggiero. Der älteste bekannte Chirurg der salemitanischen
Schule Roger behandelt im letzten (44.) Kapitel des ersten Buches*)
*) Renzi, Coli. Salemit. II, p. 451.
Arnaldus de Villanova. 49
seiner 1180 verfaßten Chirurgia die Ohrerkrankungen. Er spricht dort:
^De doloribus aurium ex quacunque causa perveniant. De cura ejus-
dem, si non sit ibi apostema nee vermis. De signis apostematis
quando est ibi, vel sequi debeat, et cura ejusdem. De vermi occi-
dendo in auricula, et extrahendo. De quolibet alio extrahendo, si in
auricula ceciderit. Bemerkenswertes findet sich in dieser Darstellung
nicht. In der Therapie folgt er dem Grundsatze der Araber (Abul
Kasim) und den von uns bereits eingangs erwähnten Prinzipien der
salemitanischen Schule. Dasselbe gilt von dem Textus Rolandi und
den Glossulae Quatuor Magistrorum, in welchen die Angaben Rogers
wiederholt sind und die nur wenige unwesentliche Zusätze aus alten
Autoren enthalten*). In der vor Roger datierenden „Practica Petro-
celli (Petronii Petricelli'' ; 11. Jahrhundert)*), an der wahrscheinlich
mehrere Autoren gearbeitet haben, findet sich auch einiges über das
Ohr (I. Buch, Kap. 16 „De vicio aurium" und Kap. 17 „De parotidis*),
die betreffende Stelle ist jedoch, da sie nichts Originelles enthält, für
uns ganz interesselos. Ebenso finden sich in den „Practica** des Ma-
gister Bartholomaeus^) (13. Jahrhundert), des Copho senior*) und
des Archimathaeus^) einige wertlose Notizen über Ohrerkrankungen.
Aus den „Tabulae" des Salemitaners Petrus Maranchus^) erwähnen
wir die Arzneimittel: „Confortantia aures; Mellilotum; Laudanum; Herba
citri; Olibanum; Oleum de scolopendria; Oleum lilii; Aristologia; Oleum
camomille**, ferner die Educentia humores per aures; Piper; Succus biete;
Succus cappari. Radices ; Bidellium ; Cassia ; Fei taurinum ; Fei leoninum ;
Aristologia concava (?); Caconidium; Galbanum; EUeborus albus. Die
Therapie der Ohrerkrankungen sollte diesen Wust von allerdings kaum
schädlichen Medikamenten lange nicht los werden.
>) Renzi, Coli. Selernit. IV, p. 378.
«) Id. IV, p. 473.
») Id. V, p. 874.
*) Renzi, Bd. IV, p. 560 u. 563.
*) Renzi, Bd. IV, p. 197—199.
Arnaldus de Villanova. Unter den zahlreichen Jüngern der
salernitanischen Schule sei hier des katalanischen Arztes Arnaud de Vila-
nova (1235 — 1312?) gedacht; dessen Persönlichkeit noch vielfach in
Dunkel gehüllt ist, der aber bei seinen Zeitgenossen hohen Ruhm genoß.
Er verfaßte einen Kommentar über die salernitanische Schule (Scholae
Salemitanae opusculum), bewies aber auf dem Gebiete der Medizin in-
sofern eine Selbständigkeit, als er in seinen Arbeiten kein gedankenloser
Nachahmer der salernitanischen Schule noch der Araber gewesen ist.
*) Id. II, p. 672.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I.
50 Amaldus de Villanova.
Im 33. Kapitel des umfangreichsten seiner Werke, des^Breviarium**,
das ihm vielleicht mit Unrecht zugeschrieben wird, bespricht er die
Therapie bei den Ohrerkrankungen (de passione aurium, primo de sur-
ditate, tinnitu et sonitu). Er empfiehlt, Tauben kalte oder warme
Kräuter auf das Ohr zu legen, je nachdem der die Erkrankung hervor-
rufende Eiter (materia faciens aegritudinem) kalt oder warm sei, femer
auch ein Dekokt verschiedener Arzneimittel, das den Patienten in
das Ohr eingeflößt werden müsse. Bei veralteter chronischer Schwer-
hörigkeit (surditas chronica inveterata) infolge reichlicher Flüssigkeits-
ansammlung (abundantia humorum) schlägt er ein Verfahren vor, das
er im großen und ganzen den Arabern entlehnte, fügte aber aus eigenem
so viel hinzu, daß man darin eine Andeutung des bekannten Valsal va-
schen Versuches erblicken kann*). Wir meinen das Hervorrufen des
Niesens durch Anwendung von Niesmitteln bei gleichzeitigem Verschluß
der Nase. Die betreffende Stelle lautet: „Postea provocetur sternutatio
cum pulvere hellebori albi vel condisi, vel piperis et similibus. Et cum
incipit sternutatio, patiens teneat se fortiter per nares, vel ab alio
teneatur sie, quod per nare spirare non possit, cum stemutat: cum hoc
nam plures antiqui surdi pro certo curati sunt."
Auch zur Entfernung von Fremdkörpern empfiehlt Arn au d im
35. Kapitel dasselbe Verfahren, wobei er als therapeutisches Moment
neben der lebhaften mechanischen Erschütterung auch den starken Lüft-
andrang in Betracht zieht: „ut propter magnum impetum spiritus pos-
sunt extraduci".
Medizinische Kompendien, wie das besprochene „Breviarium*' des
Amaldus von Villanova, gab es im Mittelalter in großer Menge. Jeder
angesehene Arzt schrieb ein solches Buch, in dem er seine in der
Praxis erworbenen Erfahrungen niederlegte. In diesen Werken wird in
der Regel auch der Otiatrie ein kurzer Abschnitt gewidmet. Das wenige,
das heidnischer Gräzizismus, Arabismus und christliche Wissenschaft
für die Otiatrie geleistet haben, wird hier immer wieder als eigene
Weisheit im Lichte einer falschen Gelehrsamkeit von neuem kommentiert,
ohne den Versuch, die in großer Menge gehäuften Absurditäten aus-
zumerzen. Bei dem ausgesprochenen kompilatorischen Charakter , der
speziell der Behandlung der Ohrenheilkunde eigen ist, und bei der ge-
dankenlosen Nachschreiberei kann es nicht wundernehmen, daß die
*) Vergl. K. Baas, Historische Notiz über den Valsal vaschen Versuch und
das Politzersche Verfahren. Münch. med. Wochenschrift Nr. 47, 1908. Doch war
Amaldus keineswegs der erste, der dieses Verfahren in Vorschlag brachte» viel-
mehr haben bereits vor ihm Archigenes, der Araber Mesue, ferner Guilelmo
Saliceto, Bruno u. a. bei der Entfernung der Fremdkörper diese Methode
empfohlen.
Gruilelmo Saliceto. 51
Kapitel über Ohrerkrankungen bei den verschiedenen Autoren einander
oft gleichen. Wenn wir nun dennoch die Werke der einzelnen Aerzte
aus dem Mittelalter auf ihren otiatrischen Inhalt hier eingehender prüfen,
so versuchen wir damit bloß, ein Bild der damaligen wissenschaftlichen
Arbeit auf ohrenärztlichem Gebiete zu entwerfen. Wir beginnen mit
dem Italiener Saliceto.
Onilelmo Saliceto^ auch Guglielmo da Saliceto genannt
(geb. 1210), der bekannte mittelalterliche Arzt und Chirurg, gehört zu
den bedeutenderen Männern seiner Zeit*). Vor allem sei betont, daß
er als erster in Mailand Leichen seziert hat. Nach den Angaben der
Medikohistoriker liegt der Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf dem Ge-
biete der Chirurgie. Pageis Verdienst ist es, die Aufmerksamkeit
auf Saliceto imd insbesondere auf dessen Arbeit „Summa conser-
vationis et curationis" in den letzten Jahren von neuem hingelenkt
und die geschichtliche Würdigung Salicetos von modernen Gesichts-
punkten aus inauguriert zu haben. Grunow, Loewy u. a. heben
Salicetos reiche Erfahrung, seine kritische Schärfe, seine große Be-
obachtungsgabe, seine ausführliche Kasuistik, seine hohe Meinung von
der Hygiene u. a. hervor. Was jedoch Guilelmos Verdienste auf dem
Gebiete der Ohrenheilkunde betriflft, so konnten wir weder finden, daß
seine Arbeiten einen Fortschritt in der Entwicklung dieses Faches
bedeuten, noch daß seine Leistungen die seiner Vorgänger übertreflFen.
Wenn in seiner reichen Kasuistik auf eigene Beobachtungen von Ver-
hältnissen in seiner Heimat (nostra contrata, wie Saliceto sich aus-
drückt) hingewiesen wird, so konnten wir dort, wo er über Ohrerkran-
kungen handelt, nichts Originelles entdecken; dieser Teil läßt vielmehr
subjektive Auffassung und Selbständigkeit vollkommen vermissen, da
Saliceto ihn ganz nach dem Vorbilde der Griechen und Araber be-
arbeitet hat.
Am Beginn seines Werkes „Summa conservationis et curationis etc.'*
kommt Saliceto gleich nach den Augenerkrankungen auf die Aflfektionen
des Ohres zu sprechen (de aegritudinibus aurium), denen er sechs Ka-
pitel (Cap. LVI — LXI) widmet. Jedes Kapitel behandelt eine Krank-
heitserscheinung, das 56. den „ Ohrenschmerz ** (de dolore auris), das 57.
das „Ohrengeschwür*" (de ulcere in aure), das 58. die subjektiven Ge-
räusche (de sonitu et tinnitu aurium), das 59. die Schwerhörigkeit und
Taubheit (de gravedine auditus et surditate et appellatur a medicis taras),
das 60. die „Ohrwürmer** und das Eindringen anderer Insekten ins Ohr
(de vermibus aurium et de animalibus intrantibus aures), und das 61.
endlich die Fremdkörper (de his, quae in aurem extrinsecus cadunt). In
*) Vergl. die französische Ausgabe von Paul Piffeau. Toulouse 1898.
52 Lanfranchi.
jedem dieser Kapitel schildert Guilelmo nach dem bekannten Schema
zuerst die Ursachen, die zu dieser Krankheitserscheinung führen, dann
die Symptome (Signa), aus denen diese sich diagnostizieren läßt und
hierauf die Therapie (Cura).
Bei der Peststellung der Symptome mißt Saliceto die größte
Bedeutung den Angaben des Patienten bei. Von einer objektiven Unter-
suchung ist keine Rede, man wollte denn die von ihm empfohlene In-
spektion des äußeren Gehörganges zur Konstatierung eines eingedrungenen
Fremdkörpers dafür gelten lassen. Die komplizierte Therapie mit einer
großen Menge von äußeren und inneren Mitteln nimmt in seiner Dar-
stellung den breitesten Raum ein. In der chirurgischen Schrift „Cyrurgia*
des Saliceto (vollendet 1275 oder 1279) werden die Krankheiten des
Ohres im 1. Buche (Kap. 14 — 16) besprochen, für die Entfernung von
Fremdkörpern und Cerimiinalanhäufungen verwendet er die alten Me-
thoden; Ohrpolypen werden von ihm abgeschnitten oder mit einem
Seidenfaden oder einem Pferdehaar abgebunden und die Wurzel geätzt.
Lanfranchi (Lanfranc de Milan; f 1306?), ein gebürtiger
Mailänder und Schüler Wilhelms von Saliceto, wird von vielen Me-
dikohistorikern als der größte Chirurg des Mittelalters bis auf Guy de
ChauHac bezeichnet. Hervorgehoben zu werden verdient, daß Lan-
franchi im College de St. Cöme zu Paris einen großen Kreis von wiß-
begierigen Jüngern der Heilkunde um sich scharte, welche daselbst seinen
öffentlichen unentgeltlichen Krankenordinationen und chirurgischen Ope-
rationen beiwohnten, und daß, wie die zahlreichen Manuskripte von mittel-
alterlichen Aerzten in den Bibliotheken zu Paris beweisen, seine Werke
von seinen Berufskollegen viel benützt wurden.
In der „Chirurgia parva" (1270), die gewissermaßen die Einleitung
zu der umfangreicheren Arbeit des Lanfranchi, der „Chirurgia magna*"
(1295, (>), bildet, wird der OhraflFektionen überhaupt keine Erwähnung
getan. Hingegen beschäftigt er sich in der „Chirurgia magna *" (HI. Doktr.
III. Trakt., 2. Kap.) in ausführlicher Weise mit der Otiatrie, ohne jedoch
irgend einen neuen Gedanken den Mitteilungen der älteren Vorgänger
beizufügen. Nichtsdestoweniger ist seine Darstellung interessanter als
die seiner Zeitgenossen, weil sie durch eine Kasuistik belebt wird, die
wir sonst bei Besprechung der OhraflFektionen in anderen Werken ver-
missen. Lanfranchi beginnt mit einer kurzen anatomischen Beschrei-
bung des Ohres, die noch dürftiger ist als die der Griechen und Araber
und an der wir nichts Erwähnenswertes finden. Nach der anatomischen
Einleitung geht er zur Besprechung der Krankheiten des Ohres (aegri-
tudines aurium) über, deren er bloß zwei annimmt: den -Ohrenschmerz*'
(dolor auris) und den ..Gehörsfehlcr'' (vitium auditus). Was den „Dolor
auris" betrifft, sei er einmal Krankheit, ein andermal Ursache einer
Bernard von Gordon. 53
Krankheit. Hervorgerufen wird er 1. „propter malam complexionem cali-
dam* und zwar bei Abwesenheit eines Apostems und Ulcus, 2. „propter
malam complexionem frigidam**, die bedingt wird durch einen «ventus
vel aör frigidus*, 3. durch Fremdkörper (ab his, quae ingressa sunt
aurem), 4. de apostemate calido, 5. de apostemate frigido, 6. a ventosi-
tate, 7. ab ulceribus und endlich 8. ab humiditate.
Bei Besprechung der Ulzera erwähnt er folgenden Fall , der jedoch in vieler
Beziehung unklar ist: Optimum est etiam in antiquo auris ulcere cum dolore in
fontanella apostema cum attractiva medicina provocare et provocato novum ibi facere
vulnus: et inde materiam expurgare: sicut feci fratri Petro de nana de praedicto
ordine in lugduno. passus enim longo fuerat tempore: nee poterat sanies expur-
gari! sed cruciatus doloribus perierat. Ego et postquam ad mortem fui vocatus
emplastrum de fermento: quod dicam in antidotario posui super aurem. caput
saepe cum aqua decoctionis maioranae embrocavi: ibique profundum feci vulnus
cum sagitella: et inde quantitatem putredinis extraxi plus quam credibile crederetur.
cum sanie per locum vulneratum noviter exeunte : fortificatus est : et dolores omnino
cessaverunt: et perfecte fuit omnipotentis auxilio restitutus. Aus obigem geht bloß
hervor, daß Lanfranchi bei einer eitrigen Okrerkrankung , die einen bösartigen
Verlauf zu nehmen drohte, mit einem spitzigen Skalpell eine tiefe Inzisionswunde
setzte, aus der sich eine große Menge Eiter entleerte. An welcher Stelle die In-
zision vorgenommen wurde, ob es sich vielleicht um eine Eiterung des Warzenfort-
satzes handelte, läßt sich aus den Angaben Lanfranchis nicht feststellen.
Bei Besprechung der Gehörsverminderung (deminutio auditus) rät
Lanfranchi „aures ad audiendum cum subtilibus vocibus incitare**.
Hieraus ergibt sich in voller Klarheit, daß schon dieser mittelalterliche
Chirurg Hörübungen vorgeschlagen, wie sie dann in der Folgezeit oft
bei Schwerhörigkeit empfohlen wurden, ohne jedoch jemals einen nennens-
werten EfiFekt zu erzielen. Endlich sei noch als Kuriosität mitgeteilt,
daß Lanfranchi durch Fett grüner Laubfrösche veraltete Taubheit
heilen will: pinguedo ranarum viridium quae morantur in arboribus
collecta quando decoquuntur, in auribus iniecta habet proprietatem curandi
surdos etiam desperatos.
Bemard von Oordon. Eines der ältesten Mitglieder der angesehenen
Schule zu Montpellier, der berühmte französische Arzt Bernard de
Gordon, hat in seinem Werke „Lilium medicinae** (1305), welches er
in anerkennenswerter Uebersichtlichkeit und Knappheit zum Gebrauche
der Aerzte und Studierenden vom Standpunkt des Internisten abgefaßt
,hat, den Ohrerkrankungen einen verhältnismäßig breiten Kaum ein-
geräumt. (De passionibus aurium, Particula III, Cap. VIII — XIV*).)
Die anatomische Beschreibung des Gehörorgans, die Gordon zu Be-
ginn seiner Darstellung mitteilt, ist ebenso kurz als unklar. Er sagt darüber
*) Bern. Gordonii opus lilium medicinae inscriptum de morborum prope
omnium curatione, septem particulis distributum. Lugduni 1559. p. 286 — 299.
foit;endes: litstruiiientum audilus est compoiitntn ex osee petroso, nervo eipaneo et nery«
optico concavo, et aere quieto, et ex direrticulU et circumvolutionibui anfractuosü
in foramine, et cartihigine esteriori apparente circa foramen ad modum ostrafornm.
Aus welcliem Grunde Gor don den Nervus opticus mit dem Gehör-
organ in Verbindung bringt, ist nicht ersichtlich. Einen ebenso dunkeln
Sinn birgt der Satz, in welchem Gordon die Physiologie des Olires
bespricht. Dieser Sata lautet: ^Intelligendura quod cum aer conquietus,
qui est naturalis in nervo concavo, movetur propter a^rem exteriorem.
tunc fit auditus'. Gordon meint also, das Hören sei eine Folge der
Erregung der Lufl im Inneren des Ohres durch die äußere Luft. Wie
dies zu verstehen ist, wird nicht näher ausgeführt.
Was endlich die Ohrerkrankungen anbelangt, so hatGordon
den umfangreichsten therapeutischen Werken der Araber das, was ihm
am wichtigsten schien, entnommen und auf diese Weise eine gedrängte
Zusammenstellung der damals gebräuchlichsten Heilmethoden gegeben.
Zuerst bespricht er die Taubheit (Kap. VITI) und ihre verschiedenen
Ursachen.
Er hält vor allem die veraltete Taubheit, die länger als 2 .Jahre
gedauert hat, für unheilbar. Taubheit, die bald zunimmt, bald geringer
wird, erklärt er für prognostisch günstig. Bei der Behandlung der
Taubheit, wie bei allen Ohrenerkrankungen überhaupt, empfiehlt er dem
Ohrenarzte auf nenn Regeln {novem canonesi zu achten, von denen wir
einige herausgreifen wollen.- Vor allem seien die anzuwendenden Injekta
lauwarm; man möge sie nie länger als 3 Stunden im Ohre lassen; bevor
ein zweites Medikament angewendet werde, müsse man das erste ent-
fernen und das Ohr sorgfältig reinigen; nur flüssige Arzneien mögen
Verwendung finden, da diese leichter ein- und ausfließen; die Quantität
des Mittels sei eine geringe; nach Einflößung des Mittels in den äußeren
Gebörgang möge sieh der Patient auf das gesunde Ohr legen; nur reine
Substanzen dürfen benützt werden; kann eine Behandlung durch Um-
schläge und Pflaster erfolgen, so mögen Injektionen tunlichst vermieden
werden, da alles ins Oht Gelangende schadet, besonders wenn das
Ohr Torber nicht aufs peinlichste gereinigt wurde.
Daß in diesen Vorschriften so großes Gewicht auf reinliche Mani-
pulationen gelegt wird, ist beachtenswert. Und mit Rücksicht darauf j
kann man, wenn man nicht allzu kritisch ist, wohl behaupten, daß die
alten Äerzte im 13. .Jahrhundert bereits eine Ahnung von der Nützlichkeit'
der Asepsis hatten.
Kapitel IX handelt über die subjektiven Geräusche (De
tiunitu et sibilo). Diese erklärt Gordon als .Verderbnis des Gehör.':''
(corruptio auditus), gerade so wie das Mückensehen ein , Verderbnis des
Gesichtes' bedeute.
Bemard von Gordon. 55
Sie entstanden dadurch, daß Dämpfe (ventositas et vapor) die Luft
des inneren Ohres heftig erschüttern. Entsprechend den verschiedenen
Qualitäten des Dampfes gebe es auch verschiedene subjektive Geräusche,
wie Glockengeläute , Regenprasseln , Rauschen der Bäume , Gären des
Mostes etc. Nach diesen und ähnlichen Gesichtspunkten teilt Gordon
nun die subjektiven Ohrgeräusche ein und empfiehlt zu ihrer Behandlung
innere und lokale Mittel, die er dem Arzneischatze der Araber entlehnt.
Hierauf geht Gordon im Kapitel X auf die Besprechung des
Ohrenschmerzes und der Ohreiterung über (De dolore auris et
apostemate intrinseco). Am heftigsten sei der Ohrenschmerz infolge
warmer Eiterung (ex apostemate calida) des Ohres und dieser führe auch
zu den schrecklichsten Nebenerscheinungen (ad terribilia accidentia). Am
lebensgefährlichsten sei dieser bei Jünglingen, weniger gefährlich bei
Knaben und am allerwenigsten bei Greisen. In zweierlei Dingen unter-
scheide sich die Behandlung der heißen Ohraposteme von der anderer
Apostome.
Erstens müsse man von der Anwendung von „Repercussivis" absehen
und eher „Mitigativa** anwenden, da zu befürchten sei, daß der Eiter zu
irgend einem edlen Körperteile gelangen könne, wie zum Gehirne, wo er
eine Gehirnhautentzündung (phrenesim aut lethargiam) hervorrufe, oder
zu der Lunge, wo er Lungenerkrankungen verursache (Metastasen?).
Zweitens mögen auch keine „Maturativa" verordnet werden. Zum Schlüsse
des Kapitels gibt Gordon den Rat, auf alle Vorschriften sorgsam zu
achten, da er viele, die an heißen Ohrapostemen litten, in den Händen
des Chirurgen sterben sah. Zur Illustration seiner Ansicht, daß man bei
akuten Ohreiterungen nicht sofort operativ vorgehen solle, erwähnt er
einen Fall, bei dem die unerträglichen Ohrenschmerzen, die allen Be-
handlungsmethoden nach den Regeln der Kunst des Galenus und
Avicenna widerstanden, durch die von ihm verordneten Einträufelungen
von Oleum de chamomilla ins Ohr geheilt wurden.
Kapitel XI, in dem er das „Ohrgeschwür" und den „Ohren-
fluß* (De ulcere aurium et sanie) bespricht, und Kapitel XII, welches
die „Blutung aus dem Ohre" (De sanguine fluente ab auribus) be-
handelt, enthalten durchwegs belanglose Details, die wir als ganz un-
interessant übergehen.
Erwähnenswert wäre nur die Tatsache, daß G o r d o n vor der Blut-
stillung die gründliche Reinigung des Ohres empfiehlt, damit nachher
keine Eiterung entstehe (ne fiat sanies aut apostema).
Im Kapitel XHI zählt Gordon die Fremdkörper des Ohres
auf (De oppilatione auris a re cadente in eam), z. B. Wasser, Staub,
Flöhe, Würmer etc.; auch die Ohrpolypen rechnet er zu den Fremd-
körpern. Zur Entfernung eingedrungenen Wassers gibt er drei Methoden
56 Henri de Mondeville.
an: Nach vorhergegangener Reinigung des Ohres (corpore igitur mun-
dificato) möge eine Röhre in das Ohr eingeführt werden und irgend
eine niedrig gestellte Person (vilis persona) daran saugen. Oder man
könne zum Aufsaugen ein Kinderspielzeug (syrinx) benützen, mit dem
die Knaben Wasser aufziehen und dann wieder fortspritzen; endlich
könne man auch ein Rohr mit einem Ende in das Ohr einfuhren und
an dessen äußerem Ende ein Feuer anzünden, durch welches das Ohr aus-
getrocknet werde.
Zur Entfernung von Würmern wird folgender ganz absonderlicher
Vorschlag gemacht: Der Patient lege sich mit dem Ohre auf einen in
der Mitte gespaltenen, ausgereiften Apfel; dann würden die Würmer
schon zu diesem Lockmittel hinkriechen und man könne sie nun rasch
entfernen.
Polypen ätzt Gordon mit Auripigment oder er entfernt sie auf
operativem Wege.
Das XIV. Kapitel endlich, das sich ^De apostematibus accidentibus
extra in radice auris*^ betitelt, und das Weseu und die Behandlung der
Parotitis bespricht, enthält in keiner Hinsicht etwas Bemerkenswertes.
Henri de Mondeville. Von dem französischen Anatomen und
Chirurgen Henri deMondeville [1320?], der zuerst als Professor in
Montpellier und später als Leibarzt Philipps des Schönen von Frankreich
sich bei seinen Zeitgenossen großen Ansehens erfreute, ist vom otiatri-
schen Gesichtspunkte nur wenig Rühmliches zu berichten.
Daß die Anatomie des Gehörorgans durch ihn keine Förderung er-
fuhr, daß er sich mit den spärlichen Mitteilungen der älteren Anatomen
zufriedengab, nimmt uns bei dem Umstände nicht wunder, daß im Mittel-
alter Ueberlieferungen als Dogmen galten, an denen niemand zu rütteln
wagte. Wenn wir nichtsdestoweniger die Ausführungen Henris, soweit
sie sich auf das Gehörorgan beziehen, hier wiedergeben, so geschieht
dies bloß aus dem Grunde, weil seine Darstellungsweise vielen seiner
Nachfolger als Vorbild diente.
Aus der von Pagel nach den besten Handschriften zusammengestellten ersten
Ausgabe der Werke Henris zitieren wir die auf die Anatomie des Ohres Bezug
habenden Stellen.
Anathomia organorum auditus et auris. . . . Nervi ergo, qui sunt Organa
auditus, oriuntur a cerebro et portant ad ipsum species sonorum et sunt concayi et
dilatantur in orbita forarainis auris et ibi multipliciter dividuntur et finiuntur.
Utilitates concavitatis istorum nervorum fuerunt duae: 1. ut sj^iritus audibilis per
ipsos libore valeat pertransire ; 2. ut 8i)ecie8 sonorum audibilium valeant per eorum
concavitates ad cerebrum deportari. Utilitates, quare foramina aurium fuerunt tor-
tuosa, cai^itulo de anatomia capitis sunt ostensae. (Henri meint hier folgende
Stelle: Ttilitates, quare foramina hujusmodi ossium in auribus fuerunt tortuosa,
fuerunt 2: 1. ut afer transiens per ipsa ad cerebrum alteretur, ne cerebrum laedot
Henri de Mondeville. 57
et multis revolutionibus degradetur; quia excellens senaibile corrumpit sensum, ut
patet in secundo de anima, sed ex ejus longa remanentia in dictis revolutionibus
ejus excellentia minoratur. (Tract. I, Cap. 2, p. 28.) Auris est membrum coadjuvans
auditum et est membrum consimile vel officiale, complexione frigidum et siccum,
cartilaginosum, nervosum, extra caput eminens, plicabile. Utilitas creationis auris
et quare apparens extra caput elevata fuit, ut soni, qui sunt flexibiles, valde sub
ejus umbra laterent» donec essent ab auditus organo apprebensi. Utilitates, quare
auris fuit plicabilis, fuerunt 2: 1. ut possent plicari sub cucufa sive mitra, et haec
utilitas debilis est, quia bruta habent aures plicabiles, quamvis mitra non utantur:
2. quia si non essent plicabiles, multotiens cum obviant corporibus duris extrinsecis,
lederentur. Utilitas, quare cartilaginosa, est, ut sustentetur et nihilominus aliquando
plicetur (Tract. I, Cap. 3, p. 31).
Von den 13 Abbildungen, die Henri seiner Anatomie nach den
Mitteilungen Guys von Chauliac beifügte und die übrigens bloß in
rohen Nachzeichnungen eines seiner Schüler erhalten sind, bezieht sich
keine auf das Gehörorgan, ein Beweis, wie gerade dieses Sinnesorgan
von den Alten stiefmütterlich behandelt wurde.
Von der Pathologie des Gehörorganes desHenrideMondeville
wäre hier bloß das 12. Kapitel aus der II. Doktrin des HI. Traktates
mitzuteilen.
An dieser Stelle spricht Henri „de cura apostematis, quod fit in
radice auris scilicet inter ejus foramen aut circumcirca immediate* nach
den Gesichtspunkten: 1. de notificatione ; 2. de cura; 3. de declarationi-
bus. Daß ihm die Lebensgefahr von Abszessen des Gehörorganes be-
kannt war, beweist die Stelle : »facit dolores acutissimos atque febrem et
quandoque mentis alienationem et mortem, maxime, quando fit in fora*
mine et in nervo". Gurlt ist der Ansicht, daß es sich bei diesen »apo-
stemata in radice auris" wahrscheinlich um Abszesse des äußeren Ge-
hörganges handeln dürfte. Wahrscheinlicher sind darunter Eiterungen
aus dem Gehörgange im allgemeinen zu verstehen, zumal ja die mittel-
alterlichen Aerzte in voller Unkenntnis des Mittelohrs die Lokalität der
Ohrerkrankung festzustellen nicht in der Lage waren.
Im nächsten Kapitel (XIH) bespricht Henri, dem Titel nach zu
schließen, die Parotitis. „De cura apostematum emunctorii cerebri, quod
est sub aure per spatium quattuor digitorum transversalium inter maxillas
et gulam in vacuitate super venam organicam ascendentem." Ueber
die Art dieser Erkrankung sowie der vorhin erwähnten fehlt jede Be-
schreibung.
Die genaue Besprechung der Ohrerkrankungcn hat Mondeville der dritten
Doktrin des dritten Traktates vorbehalten, zu deren Ausführung es jedoch nicht
mehr kommen sollte, da ihn der Tod ereilte. Wir besitzen jedoch ein Inhaltsver-
zeichnis dieser dritten Doktrin, aus welchem der Plan der beabsichtigten Arbeit
ersichtlich ist. Im nachstehenden reproduzieren wir daraus den Abschnitt, der sich
auf das Gehörorgan bezieht: Cap. IV. De morbis organorum auditus, qui sunt 16:
58 Guy de Chauliac.
1. Defectus totalis aaditus, vel amissio vel surditas. 2. Diminutio auditas in parte,
non in toto. 3. Corruptio ipsius. 4. Tinnitus ant sibilus. 5. Dolor immaterialis.
6. Dolor qui est causa alterius morbi. 7. Dolor a causa vel materia intrinseca, qui
est accidens alterius morbi, ut ulceris et similium. 8. Res eztrinseca existens in
foramine aurium. 9. Opilatio a nativitate. 10. Opilatio ex cerumine. 11. Opilaüo
ex Verruca aut simili. 12. Fluxus sanguinis. 13. Pruritus. 14. Ulcus recens. 15. Fistula.
16. Tremor ex fortibus vocibus sive sonis.
Guy de Chauliac^ dem geistvollsten Chirurgen des 14. Jahrhunderts
und gefeiertsten medizinischen Schriftsteller des Mittelalters, dessen «Chi-
rurgia" bei den zeitgenössischen Wundärzten sich einer großen Beliebt-
heit erfreute, hat die Ohrenheilkunde kaum eine bedeutendere Leistung
zu danken.
Was Chauliac in seinem berühmten Werke, nCollectorium artis
chirurgicalis medicinae* (1363), das mit ungewöhnlicher Gelehrsamkeit,
umfassender Kenntnis der früheren Schriftsteller und vorzugsweiser Be-
nützung griechischer und arabischer Quellen verfaßt ist, über das Gehör-
organ zu sagen weiß, gibt ein charakteristisches Bild von der Stagnation
der wissenschaftlichen Forschung auf anatomischem Gebiete und von der
rohen, oberflächlichen Empirie bei der Behandlung von Ohrerkrankungen.
Obwohl der otologische Teil von Chauliacs Werk nicht jene Selb-
ständigkeit zeigt wie das seiner Vorgänger Saliceto und Lanfranchi,
so hat doch sein Collectorium den bleibenden Wert, uns die Behandlungs-
methoden der mittelalterlichen Wundärzte und Bader bei Ohrerkrankungen
drastisch vor Augen zu führen, weil Chauliac alles, was sich ihm nur
irgend Interessantes an Material darbot, darin zusammenstellte. Mit Recht
sagt daher von ihm ein Dichter des Mittelalters, Joannes Spinasius:
„Nam quae sparsa locis tot erant, baec scriptor in unum
Sedulus instar apis cuneta co^git opus*"*').
In richtiger Erkenntnis der Bedeutung der Anatomie für die Medizin
wird diese von Chauliac zu Beginn seines Werkes behandelt und ihr
der ganze 1. Traktat eingeräumt (De anatomia continens duas doctrinas).
Im 2. Kapitel (De anatomia faciei et partium eins) beschreibt er das
Gehörorgan. Zur Illustrierung der Dürftigkeit dieser Beschreibung, die
auf den ersten Blick zeigt, daß Chauliac nie ein menschliches
Gehörorgan zergliedert hat, möge sie hier ungekürzt Platz finden:
^Aures cartilaginosae et anfractuosae , super os petrosum ad audiendum
sunt ordinatae. Ad eas perveniunt foramina tortuosa dicti ossis, et pori
seu nervi ex quinto pari nervorum cerebri, in quibus est auditus. Et
sub auribus sunt carnes glandulosae, quae sunt cerebri emunctoria: iuxta
*) Siehe Chirurgia magna Guidonis de Cauliaco. Herausgegeben und kom-
mentiert von Laurentius Joubertus. Lugduni 1585. Einleitung p. 8.
Guy de Chauliac. 59
quae loca transeunt venae, quae (ut dicit Lanfrancus) portant partem
materiae spermaticae ad testiculos: itaque si incidantur, perditur gene-
ratio. Cuius contrarium tenet 6al. ut in tract. de phleboiomia recitat
Avicenna/
Das ist alles, was wir von Chauliac über den Bau des Gehör-
organes erfahren.
Was die Pathologie anbelangt, so teilt Guido die chirurgischen
Erkrankungen ein in Eiterungen (apostemata), Wunden (vulnera), Ge-
schwüre (ulcera), Knochenerkrankungen (ossium passiones) und ver-
schiedene andere krankhafte Veränderungen (variae aegritudines). Nach
diesen Gesichtspunkten behandelt er auch die Krankheiten des Ohres.
Wir unterlassen es, auf seine Differenzierungen dieser Bezeichnungen näher
einzugehen, und wollen nur einige geschichtlich interessanten Bemerkungen
herausgreifen.
Ueber die Symptome der Ohrerkrankungen hat Guido ungefähr
folgende Ansicht: Rührt das Ohrenleiden von einer Eiterung her, so ist
es mit Fieber, Schmerzen, Mattigkeit und Pulsationen verbunden.
Wenn es von kaltem Eiter stamme, erkenne man dies aus der
Mattigkeit des Patienten mit Kältegefühl. Ohrenleiden, die warmen Eiter
erzeugen, sind von Hitze und stechenden Schmerzen begleitet. Trägt
die Zugluft am Ohrenleiden schuld, so bestehe Ohrensausen. Ist ein Ge-
schwür vorhanden, so leide der Patient an schmerzhaftem Zucken u. s. w.
Zur Diagnose eingedrungener Fremdkörper empfiehlt Guido
die Inspektion des Ohres bei einfallendem Sonnenlichte und gleichzeitiger
Erweiterung des äußeren Gehörganges mit einem Speculum oder einem
anderen Instrumente. Soweit sich dies aus der Literatur konstatieren läßt,
ist es Guido, der zum ersten Male ein Ohrenspeculum zur Erweiterung
des äußeren Gehörganges erwähnt.
Für die Heilung der Taubheit und Schwerhörigkeit schlägt
Guido nebst dem ganzen großen therapeutischen Apparat der Griechen
und Araber allgemeine und örtliche Behandlung vof.
Die allgemeine Behandlung besteht in der Regelung der Diät, in
Purgativ- und Schmerzstillungsmitteln. Für die örtliche Behandlung gibt
Guido dem Ohrenarzte Weisungen, von denen man einige auch heute
noch anerkennen muß. So verlangt er beispielsweise, daß die Medika-
mente, die ins Ohr eingeflößt werden, weder allzu kalt, noch allzu
heiß seien, eine Maßregel, an die sich auch jeder moderne Ohrenarzt
halten wird.
Das Instrumentarium, das Guido für einen chirurgisch gebildeten
Otiater unumgänglich notwendig findet, besteht aus: Auriscalpia, Leva-
toria, Uncus parvae curvationis, Cannulae fugitivae; Suffumigatoriae,
Lana, Xylon, Spongia, Pannus, Viscum.
60 Valescus de Tarania.
Valescus de Taxanta. In keinem medizinischen Kompendium
des 14. und 15. Jahrhunderts dürfte die Ohrenheilkunde in solch breiter
Ausführlichkeit behandelt sein als in dem Philonium s. Practica
medica (1418 beendigt) des Portugiesen Valescus (Balescou) von
Taranta (seit 1382 Lehrer in Montpellier). Man würde jedoch fehl-
gehen, wollte man aus dieser Tatsache den Schluß ziehen, daß im
Philonium viel Neues über Ohranatomie und Pathologie des Ohres
enthalten ist. Denn die Breitspurigkeit dieses Werkes ist nur das Er-
gebnis der peinlichen Genauigkeit, mit der der Autor die Arbeiten der
Alten und der arabischen Schriftsteller, sowie auch einiger Zeitgenossen
bei der Abfassung seines Sammelwerkes benützt hat. Nichtsdestoweniger
sind im Philonium auch manche selbständige Notizen und Beobachtungen
über OhraflFektionen enthalten, denen jedoch kein großer Wert beizu-
messen ist.
Die Darstellung der Ohrerkrankungen umfaßt das 49. — 56. Kapitel
des 2. Buches. Valescus beginnt mit der Anatomie des Ohres (Eap. 49).
Die Worte bei Beschreibung des Os petrosum: ^Ista quidem ossa habent
in se circungirationes et anfractuositates ad intra^ beweisen,
daß Valescus wahrscheinlich auf Bruchflächen des zersprengten Felsen-
beins den komplizierten Bau des inneren Ohres erkannt hat, doch fehlte
es den Aerzten jener Periode an der nötigen Fertigkeit, die Details des
inneren Ohres anatomisch darzustellen. Seine anatomische Beschreibung
des Gehörorgans ist daher ebenso wertlos wie die aller anderen Anatomen
des Mittelalters.
In Kapitel 50 spricht Valescus „de nocumentis auris et primo de
surditate'* nach dem Schema: Causae, Signa, Pronosticatio, Cura, Diaeta,
Clarificatio. Was er unter diesen Rubriken über die Schwerhörigkeit
mitteilt, beansprucht als reine Kompilation kein Interesse. Hervorzuheben
wäre bloß, daß Valescus lebensgefährliche Ohrerkrankungen kennt,
die durch Eiterungen hervorgerufen werden und für die er rasche Er-
öffnung vorschlägt: „si ibi sit apostema calidum: adest febris continua
pulsatio, dolor grandis cum orripilatione et tremor, et aliquando venit
permixtio intellectus: et aliquando mors nisi cito aperiatur". Ob hier
Eiterungen im Warzenfortsatze gemeint werden, wird aus dieser Stelle nicht
recht klar, da wir eine Beschreibung dieser Erkrankung gänzlich vermissen.
Das nächste Kapitel (51) handelt „De tinnitu aurium". Hier er-
wähnt Valescus selbst beobachtete Fälle von subjektiven Geräuschen
infolge Schädelerschütterung durch einen Schlag: „ego vidi hominem
iuvenem, qui fuit in capite percussus cum fuste lignea et exinde per
raagnum tempus habuit capitis dolorem cum tinnitu aurium. Et vidi
puerum cum manu frequenter supra aurem percussum et exinde factus
est surdus cum tinnitu".
Nicola Nicole. 61
Das Kapitel 52 (De dolore auris) enthält bereits von anderen Au-
toren her bekannte Mitteilungen über den Ohrenschmerz, der nicht als
Symptom, sondern als selbständige Erkrankung behandelt wird.
Im Kapitel 53 hingegen, woValescus «De sanie et ulceribus au-
rium" spricht, hält er die ^sanies aurium* nicht für eine Krankheit; er
sagt nämlich: sanies aurium non est morbus, und dann später: sanies
est Signum morbi.
Von dem kurzen 54. Kapitel (De fluxu sanguinis aurium) und von
dem viel ausführlicheren 55. (De oppilatione auris a causis extrinseca
vel intrinseca) sind keine Details erwähnenswert.
Nicola Nicole. Einer der gelehrtesten und verständigsten Aerzte
des Mittelalters war unstreitig der Florentiner Nicola Nicole (1357
bis 1430), der seinen Zeitgenossen nur wenig und auch späteren Mediko-
historikern wie z. B. Sprengel gar nicht bekannt war. Man würde
jedoch fehlgehen, Nicolas Verdienst in irgend einer hervorragenden
Leistung auf dem Gebiete der Ohrenheilkunde zu suchen ; seine Bedeutung
besteht vielmehr in seiner trefflichen Kompilation, die er mit solchem
Verständnis und richtiger Auswahl hergestellt hat, daß sich in seiner
umfangreichen Schrift *) gewiß noch manche wichtige Momente zur Auf-
klärung der mittelalterlichen Medizin vorfinden müssen. Für uns ist eine
Bemerkung von ganz besonderem Interesse, die ich sonst bei den anderen
mittelalterlichen medizinischen Autoren nicht finde.
An einer Stelle**) erzählt nämlich Nicola: ein gewisser Simeon
empfehle bei Taubheit ein silbernes oder eisernes Rohr, welches genau
in den äußeren Gehörgang passe, ins Ohr einzuführen und wiederholt
heftig an diesem Rohre zu saugen, also mit anderen Worten die Luft
im äußeren Gehörgang zu verdünnen. (Et dixit Simeon: impone auri
cannulam argenteam vel aeneam factam ad modum ipsius auris et suga-
tur cum ea. cum violentia saepe. qm confert surditati vehementer.)
Wer dieser Simeon ist, konnte ich nicht feststellen; wahrscheinlich
dürfte es der am byzantinischen Hofe im 11, Jahrhundert lebende Arzt
Simeon Seth gewesen sein. Demnach wurde schon im 11. Jahrhundert
der therapeutische Einfluß der Luftverdünnung im äußeren Ge-
hörgange bei manchen Ohrerkrankungen erkannt. Dies verdient des-
halb hervorgehoben zu werden, weil in allen Werken über Ohrenheil-
kunde der englische Militärarzt Cleland***) als derjenige angeführt
'^) Nicolai Nicoli Florentini philosopbi medicique praestantissimi Sermones
medicinales septem. (Venetiis 1491, 4 voll.; ibid. 1507 u. 1533.)
**) Sermo tertiua de membris capitis. Tract. VI. De aegritudinibus aurium.
Cap. IL De nocumentis auditus. p. 205 c.
***) Van Swieten zitiert nacb: Komment, zu Boerhaves Aphorismen. Tom. II,
1805, p. 677.
62 Nicola Nicole.
wird, der zuerst die Luftverdünnung im äußeren Gehörgange thera-
peutisch angewendet hat.
Aus den ,,Sermones** des Nicola Nicole zitieren wir noch
nach Gurlts vorzüglichem Geschichtswerke (I, p. 810): „Bei der Be-
handlung der Ohrenkrankheiten (Kap. 26) handelt es sich um die Aus-
ziehung der Fremdkörper aus dem äußeren Gehörgange in der bekannten
Weise.** Es geschieht dies zum Teil „cum picicarolis seu tenaculis
acutarum extremitatum^, oder „cum uncina subtili pauce duplicationis
ut non possis ledere aurem**, oder mit Zuhilfenahme einer „canulla ex
ere**, die mittels weichen Wachses luftdicht an den Gehorgang angesetzt
und zum Aussaugen benützt wird. Bei einer Verstopfung („oppilatio")
des letzteren „came nata in ea**, also durch einen Granulationspolypen,
entfernt man diesen „cum spatumali subtili in cuius extremitate sit
quedam latitudo parva eius quedam pars sit acuta et reliquum spatumile
sit duorum laterum levium ut non ledat aurem".
Was Nicolas sonstige Ausführungen über unser Fach anbetri£Ft.
so findet* sich in ihnen kaum etwas Neues; immerhin sind seine Mit-
teilungen, welche sich durch klare Diktion vorteilhaft von seinen Zeit-
genossen unterscheiden, angenehmer zu lesen als die gleichzeitigen
medizinischen Werke. Wer durch eigene Lektüre eine richtige Vor-
stellung von dem Stande der Otiatrie im Mittelalter erlangen will, wird
dieses Werk in erster Reihe mit Vorteil benützen.
Die Ohraffektionen werden in 11 Kapiteln besprochen und
zwar im Kapitel I: De quibusdam quaesitis circa auditum et circa aures
et solutionibus eorum et conservatione sanitatis aurium et auditus; im
Kapitel II : De nocumentis auditus : im Kapitel III : De dolore auris ; im
Kapitel IV: De apostemate auris; im Kapitel V: De ulceribus et pustulis
et exitu sanguinis et saniei ab aure; im Kapitel VI: De sorde aggregata
in aure; im Kapitel VII: De oppilatione auris; im Kapitel VIII: De tinnitu
et sibilo; im Kapitel IX: De attritione auris seu conquassatione et pni-
ritu et tremore ex magnis vocibus; im Kapital X: De aqua ingrediente
aurem et aliis eandem ingredientibus, und im Kapitel XI endlich: De
verme trenerato in aure et aliis animalibus parvis intrantibus aurem.
Alle diese Kapitel enthalten, wie wir bereits früher ausführlich aus-
eiiiandorjrosetzt haben, eine Auswahl aus der medizinischen Literatur der
Giiochon, Araber und der christlichen Zeitgenossen und die umfassende
und iTonaue Zusammenstollung beweist nur die eminente Gelehrsamkeit
dos Verfassers.
Pio zahlroiolion bisher nicht erwähnten medizinischen Autoren des
14. und 15. Jahrhunderts befassen sich in ihren umfangreichen Kom-
per.dion mehr oder minder austiihrlich mit der Otiatrie. Von dem Galeni-
sther. Prinzipe ireleitet. die Erkrankuniren des menschlichen Körpers vom
Bruüo da Longoburgo. 63
Scheitel bis zur Zehe (a capite ad calcem) zu besprechen, haben fast alle
in ihren Schriften den Leiden des Ohres bei den Eopfkrankheiten einen
Platz eingeräumt. Ueberall jedoch begegnen wir denselben gedanken-
losen Wiederholungen, ohne auf neue Gesichtspunkte oder originelle
Beobachtungen zu stoßen. Der Vollständigkeit halber sollen hier die
bedeutendsten Aerzte dieser Periode, die sich sonst um den Fortschritt
der medizinischen Wissenschaft einiges Verdienst erworben haben, kurz
erwähnt werden*).
Bruno da Longoburgo» der Zeit nach vor Guilelmo Saliceto (vergl.
p. 51), schließt sich in seiner ^Chirurgia Magna"^ (1252) bei der Be-
sprechung des Ohrenschmerzes und der Extraktion der Fremdkörper aus
dem äußeren Gehörgange (Lib. II, Kap. 4) vollkommen den Angaben des
Paulus von Aegina und Abulkasim an. Niccolo Bertuccio (f 1342),
dessen Guy de Chauliac als seines Lehrers gedenkt, behandelt im
ersten Buche seines „Compendium sive coUectorium artis medicae* die
Ohrerkrankungen nicht viel besser oder schlechter als seine Vorgänger.
In der Arbeit eines der bedeutendsten italienischen Chirurgen des
15. Jahrhunderts, der „De chirurgia libri Vr des Pietro d'Argellata
(t 1423; (Pietro de la Cerlata), der in vielen otiatrischen Werken**)
als der Erfinder des Ohrspeculums bezeichnet wird, jedoch mit Unrecht,
da Guy de Chauliac vor ihm dasselbe erwähnt (p. 59), handelt der
V. Traktat des II. Buches in 3 Kapiteln: „De apostematibus calidis, frigidis,
duribus". Im Kapitel V des IIL Buches beschäftigt sich Arg eil ata
mit den Wunden des Ohres und empfiehlt die Teile durch eine Naht
genau zu vereinigen. Bei Verwundungen durch einen Pfeil kommt es
darauf an, ob der Pfeil in die Schädelhöhle eingedrungen ist oder nicht.
Danach richtet sich dann die Prognose und Behandlung. Der V. Traktat
des IV. Buches bespricht „De ulceribus aurium* in zwei Kapiteln: „De
ulceribus putridis et virulentis et corrosivis aurium** und „De sanie
aurium et ulceribus earum in universali". Auch im IX. Traktat des
V. Buches wird einiges über Ohrerkrankungen vorgebracht.
Galeazzo di Santa Sofia (f 1427), der aus Padua von Albrecht IV.
an die neugegründete Wiener Universität berufen, im Jahre 1404 die
ersten anatomischen Demonstrationen in Wien abgehalten hat, bringt
in seinem „Opus medicinae practicae saluberrimum*" (Kap. 36) bloß
eine Kopie der arabischen Autoren. Dasselbe gilt von den „Consilia**
des Benzi (f 1493), der einer der größten Anatomen der vorvesalischen
Periode gewesen sein soll, und der „ Practica '' (Trakt. VI, Kap. 4) des
*) Vergl. Gurlts «Geschichte der Chirurgie*, welche als verläßliche Quelle für
diese Periode zu bezeichnen ist.
*♦) Linkes Ohrenheilk. II, p. 23.
04 GiovanDi Arcolano.
Paduaners Savonarola (f nach 1440), des Großvaters des als Ketzer
verbrannten Girolamo Savonarola. Unbedeutende Abhandlungen über
Ohraflfektionen sind weiter in der „Practica nova** des Mailänders Oionni
da Concoreggio (geb. um 1380) und im „Admirabile et Novum opus*
des als Astrologen und Scholastiker bekannten Menge Bianchelli (geb.
um 1440) enthalten.
Oievanni Arcelane (Johannes Arculanus), ein berühmter Arzt
aus Verona (f 1484?), empfiehlt in seiner „Practica** (Kap. 34 — 41)
die Umgebung des leidenden Ohres zu betasten, unterscheidet zwischen
Eiterung aus dem Ohre und Gehirnabszeß und beobachtet Geschmacks-
veränderung bei Ohrenleiden. Zur Entfernung von Fremdkörpern
aus dem äußeren Gehörgang hat er eine besondere Pinzette angegeben,
die er auch zur Entfernung von Fremdkörpern aus der Nase und aus der
Harnröhre benützt. Für das Aussaugen eingedrungenen Wassers bedient
er sich eines Schwammes, der stark zusammengedrückt in den Gehörgang
eingeführt wird ( ^spongia facta subtilis per fortem constrictionem**). Zu
gleichem Zwecke verwendet er ^medullae meliguae, aut fustes anethi,
aut papirus palustris*.
Eines komischen Beigeschmackes entbehrt nicht das von ihm zur Entfernung
von Insekten empfohlene Verfahren, nämlich den einer lebenden oder frisch ge-
töteten Eidechse abgeschnittenen Kopf in den Gehörgang zu bringen. Nach drei
Stunden werde sich der fremde Körper im Munde der Eidechse befinden'*').
Oiovanni da-Vigo, ein gebürtiger Genuese (geb. 1460) schreibt,
im IL Buche, H. Traktat, Kapitel 11 — 12 seiner ^Practica in arte chirur-
gica copiosa* über Ohrenkrankheiten entzündlicher Art. Ob es sich bei
den im Kapitel 13 abgehandelten ^apostemata calida aut frigida sub
auribus evenientia" um Parotitiden handelt oder ob vielleicht Eiterungen
aus dem Warzenfortsatze gemeint sind, läßt sich nicht genau feststellen.
Die Therapie bei diesen Apostemen besteht in maturierenden Pflastern,
in der Eröffnung, eventuell in der Anwendung von Schröpfköpfen. Im
III. Traktat des IV. Buches befaßt sich Vigo neuerdings mit den Ohren-
krankheiten (Kap. 5 — 10). Er bespricht hier „ulcera in inferior! parte
aurium nascentia", ^Verruca nascens in aure", „tinnitus et ventositas
aurium'', „dolor aurium", „surditas aurium" und schließlich die Fremd-
körper. Zur Entfernung von Wasser, das in den Gehörgang eingedrungen
ist, will er sogar den Katheter in Anwendung bringen: „Syringa quo-
que sive argalia qua boni et experti chirurgi urinam hauriunt extra
vesicam." Endlich sei noch erwähnt, daß Vigo sich auch des Ohren-
spiegels bedient hat („ad solem speculo instrumento aure ampliata**). Bei
-Verruca nascens in aure" handelt es sich höchstwahrscheinlich um den
*) Pratica. Venetiis 1493. p. 60.
Jehan Yperman. 65
Polypen des äußeren Gehörganges. Da dieser die gleiche Behandlung
erfordert wie der Nasenpolyp, über den Vigo an anderer Stelle spricht
(Lib. U, Trakt. III, Eap. 9), so sei einiges darüber hier mitgeteilt.
Vigo unterscheidet einen krebsigen Polypen und einen gewöhnlichen
Schleimpolypen. Bei dem krebsig entarteten Polypen geht Vigo bloß
palliativ vor; den Schleim polypen hingegen entfernt er durch Aetzmittel
oder Exstirpation mit nachheriger Anwendung adstringierender Mittel in
Pulver- imd Salbenform.
Zum Schlüsse seien noch die folgenden am Ausgange des Mittel-
alters in Belgien, England und Deutschland wirkenden Aerzte erwähnt.
Der niederländische Chirurg Jehan Yperman aus dem 13. Jahr-
hundert, der seine fachmännische Bildung in Frankreich bei Lanfranchi
erhielt, hat sich in seinen chirurgischen Arbeiten auch mit der Otochirurgie
beschäftigt. Er empfiehlt die Befestigung eines halbabgehaueneü Ohres
durch Naht, erklärt jedoch für unmöglich, daß ganz abgehauene Nasen
und Ohren wieder anheilen können ^). Bei Besprechung der Ohren-
krankheiten erörtert er die „zweeringen der oeren", „die zweeren die
wassen in de oeren**, die Fremdkörper und Würmer. Zur Entfernung
der Fremdkörper bedient er sich einer langen, an ihrer Spitze stark ge-
krümmten Nadel. Außerdem enthält die Stelle noch einige Bemerkungen
über Ohrenfluß (loepinghen der oeren) und Taubheit*).
Im nachstehenden seien weiters zwei englische Aerzte angeführt,
die, was die Otiatrie betrifft, ihre Vorfahren und Zeitgenossen nicht
überragen, da sie nur deren Werke eingehend benützt haben. Oilbertus
(Anglicus), dessen Leben ins 13. Jahrhundert fallt, befaßt sich im
III. Buche seines „Compendium medicinae*^ mit den Ohrenkrankheiten,
denen er 8 Abschnitte widmet. Auch sein Landsmann John of Ga-
desden, gewöhnlich Joannes Anglicus genannt, bringt im 11. Traktat
des III. Buches seiner ^Rosa Anglica practica** einiges über die Er-
krankungen der Ohren (Kap. 7). Er ist ein Gegner der zu seiner Zeit
gegen Schwerhörigkeit und Taubheit vielfach angewendeten Niesmittel,
da durch sie nach seinen Erfahrungen schwer zu stillendes Nasenbluten
hervorgerufen werden könne. Eiter im Ohre läßt er durch eine in den
Gehörgang gesteckte Röhre von einer Person, die sich dazu hergibt, mit
dem Munde aussaugen. Auch gegen subjektive Geräusche soll
dieses Mittel von Nutzen sein. Sicherlich beruht in diesem Falle
die günstige Wirkung nicht so sehr auf der Aufsaugung des Eiters, als
vielmehr auf der Luftverdünnung im äußeren Gehörgange, ein Moment,
das natürlich dem mittelalterlichen Arzte unbekannt war. Endlich sei
noch von dem deutschen Arzte Johannes de Eetham (15. Jahrhundert)
erwähnt, daß sich in seinem „Fasciculus medicinae" einiges findet, was
wir, weil es mit der Otiatrie in Beziehung steht, hier vorbringen. Er
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. o
66 Manuskripte der Pariser Bibliotheque nationale.
beschäftigt sich dort Torzüglich mit den Ohrerkrankungen der Kindei
und zwar in den Kapiteki: ^De sanie aurium puerorum*, „De venen
fluente de aure^, welches «accidit pueris ex vesica vel plaga accideni
in auricula*. —
*) La Chirurgie de maitre Jehan Yperman Chirurgien beige (XIlIc — XIS
siecle). Publice pour la premi^re fois, d 'apres la copie flamande de Cambridge pa
M. C. Broeckx. p. 83.
*) 1. c. p. 119—125.
Eine Prüfung des otiatrischen Inhaltes der medizinischen Handschriften au
dem Mittelalter, die in nicht geringer Zahl in den verschiedenen Bibliothekei
aufgestapelt sind, fördert kaum neue oder interessante Tatsachen zu Tage. Ueberal
dieselbe Sterilität wie in den erst später gedruckten Kompendien der Zeitgenossei
Ohne Ausnahme konnte ich diese Beobachtung bei allen Mannskripten machen
die ich in den Bibliotheken zu Wien und Paris einer genaueren Dnrehnch
unterzog. Sie alle weisen sowohl in der Anatomie des Ohres, als auch in de
Diagnostik imd Behandlung der Ohrenkrankheiten keine neuen Gesichtspunkte ani
und wir finden in ihnen nur die öftere Wahrnehmung bestätig^, daß die Antorei
dieses Zeitalters in ihren Schriften, denen es keineswegs an otiatrischem Inhalt ge
bricht, die Griechen, vor allen Galen, und die Araber unbedingt und kritiklo
nachahmen.
Am Ende des 14. imd zum Beginne des 15. Jahrhunderts erfreuten sich im
besondere die chirurgischen Arbeiten des seinem Zeitalter als Autorität geltende]
L an fr an c großer Beliebtheit. Einige Manuskripte, die ich in der Pariser BibÜG
thek fand, mögen für diejenigen, die näheren Einblick in sie zu nehmen beah
sichtigen, erwähnt werden.
629. La cirurgie de Maistre de Lauf ran ou Alenfranc de la este de Millai
a])pele Art complet laquelle il compella a Paris en Fan 1295.
1328. La cirurgie de maistre Alanfranc de Millan, laquelle est appel^e Ar
complecte de cirurgie XV s.
1323. Ici se commence la cirurgie de maistre Lanfranc de Millan de l'an 1377
1808. (De Thom. Colbert.) Le höre de medecine compose en la cist^ d(
Pampliac ])ar ung Docteur lequel est appele Dyacorides pour le profect do corpi
humain a Tencontre de maladies. — Commencement d. XVI. siecle.
2022. (Colbert.) Le livre nomme le regime du corps que fit jadis maistn
Alebrandin medecin du roy de france.
2027. (Mentel.) Ung abrege de Tanatomie de la saignie par Jehan de Bom<
de ]a dioc^se Rutheniensis.
1317. La connaissance des corps humains lequel contient par pluseors parti«
et tracties 170 Chapitres avec L'expositions des sönges en Tan 1896, par pere Nicoh
Saoul autrement dict de Sanct Marcel de l'Ordre de N. D. du carme.
S. 42. Des Significations de la complexion et qui des oreilles.
Welche Deutung die äußere Form der Ohrmuschel zu jenen Zeiten erfahr
ergibt sich aus den folgenden Sätzen.
Les grands oreilles en la teste signifie quil soit estourde et de gros nutrimeni
Item: al qui a les oreilles longues du travers signifie qui il est fol et hardi
volonteus.
Aus der Handschriftensummlung der Wiener k. k. Hofbibliothek sei all
Beispiel für viele das mittelhochdeutsche Manuskript 1.5106 angeführt:
Manuskript der Wiener Hofbibliothek.
67
[Fol. 4b].
Von den boesen geboren.
Di gehorde hizen div weisen hie be-
vor des mutes porten: di wird ettwenne
gar verlorn, ettwenne ein teil. Swenne
daz geschiht. der sol sich leigen an di
sunne. Tn heiz im sehen in div oren.
vindet man im denne in den oren ein
geswer. oder platem. stoub oder asschen,
da vo ist, daz er niht geboren mach.
Ist aber daz der deheinz da vunden
wirt, so ist der siechtum von etlicher
vonht oder von eim pladem, der sich
gesamnet hat in die ader, da daz boren
in get oder von eim geswerc,) daz in der
[Fol. 5 a] selben ader ist. Swem also
geschiht, der redet also sanft, daz man
in cboam vemimt vn wirt agezzel. wil
do dem zehelfe chomen so vurbe im daz
houbet mit terapigra vnde beiz daz
enphahe den tumt in div oren(,) der ge
ouz heizem wazze(,) da inne gesoten sei
venichel, aneis, petersil, nite vnde laz im
in die oren ole von tille oder von mandel-
chem. merche daz div oleo mit den man
wermen, tmnchen od(er) ouf tun wil(,)
schuln sein gemachet von grAnen schaben.
Von der orenchlingen.
Oren chlingene ettwenne von einem
grozem pladem oder von einer leimigen
vonht. Swem daz geschiht, der sol daz
houbet vurben mit terapigra vnde sol
lazzen in diu oren rosen ole mit ezzeiche
oder pibergeil. Swenne der siechtum ist
von chalter vouht(,) der soll lazzen pforren
souch mit weibes milche vnde mit rosen
ole vn lazze si in div oren(.) Damach
nem wermute vn lege di in wein oder
in ezzeich vnd siede si dar inne also-
langec) vnz der wel hemtich werde von
der wermuet vnde lazze danne den tunst
also warmen gen in daz ore vn teche daz
houbet anderthalben dar(,) daz iz swizende
werde von dem tunst vnde seige denne
durch ein tuch zwivol 80uch(,) in tem sei
gelegen gepulverter chum drei tage(,) vnd
lazze des(,) so iz la sei(,) zwen oder drei
tropfen in daz ore, zwir oder drei stunt
in der wochen. Dan noch ist auch gut
Von dem schlechten Gehör.
Das Gehör nannten die Weisen ehe-
mals die Pforte der Seele. Manches Mal
geht es gänzlich verloren, manches Mal
bloß ein Teil. Wenn dies einem ge-
schieht; führe ihn in das Sonnenlicht und
sieh ihm ins Ohr. Findet man dann in
den Ohren ein Geschwür oder Blattern,
Staub oder Asche, so ist dies die Ursache,
weshalb er nicht hört.
Ist aber davon nichts zu finden, so
rührt die Krankheit von Feuchtigkeit her
oder von einer Blähung, die sich gebildet
hat in der Ader, wo das Hören hinein-
geht, oder von einem Geschwür, das in
derselben Ader ist. Dem dies widerflLhrt,
der redet leise, daß man ihn kaum hört,
und wird vergeßlich. Will man ihm Hilfe
bringen, so reinige man das Haupt mit
Terapigra und lasse ihn den Dampf heißen
Wassers, in welchem Fenchel, Anis, Peter-
silie und Raute gekocht wurden, in die
Ohren aufnehmen, und gieße ihm Till-
oder Mandelkemöl ins Ohr. Merke, daß
die Oele, mit denen man wärmen, trocknen
oder auftun will, von grünen Sachen ge-
macht sein sollen.
Vom Ohrenklingen.
Das Ohrenklingen entsteht infolge einer
großen Blähung oder infolge klebender
Feuchtigkeit. Wem das geschieht, der
soll das Haupt mit Terapigra reinigen
und soll einfließen lassen in die Ohren
Rosenöl mit Essig oder Bibergeil. Wenn
die Krankheit von kalter Feuchtigkeit
herrührt, so mische man Lauchsaft mit
Frauenmilch und mit Rosenöl und lasse
es in die Ohren. Hierauf nehme man
Wermut, lege ihn in Wein oder Essig
und koche ihn darin so lange, bis der
Wein bitter wird vom Wermut und lasse
dann den warmen Dunst ins Ohr gehen
und decke das halbe Haupt zu, damit es
schwitze von dem Dunst und seihe dann
durch ein Tuch Zwiebelsafb, in welchem
gepulverter Künmiel drei Tage gelegen
hat und lasse davon, sobald es lau ist,
zwei oder drei Tropfen in das Ohr, zwei-
oder dreimal in der Woche. Femer ist
M&nnBkript der Wiener Uofbibliotbfk.
warmer ezxeich mit werntut '/ ouge des
zwir B,h vi! eei sam des ezzeiches«,) des
aotl man lazzen in div oreu.
Dan noi;h muchtD ein undem ttini i
nim toaun ole vnde ehren ole vnde pforren
saiich vnde Hcbaf gnllei,) mische 17. under
ein ander vnde \azie iz in div oren , so
. d(er) ori
ecbtum
Dm die twene aiecbtutu«,) von de» da
gesagt Kt(,i Ut an den oren dan noch
ander aiechtumi.j der ehumt von heiEKer
aunne oder vun chaltem lüfte. Ist er von
der sunnei.i bo enphindet man in den
oren groiset hi/.e. Ist (er) aber von
cheken(,i eo enpfindet fnan) grozzer
froale in den oren. Für den aiechtum,
der da ist in den oren von der hi^e, so)
tu roeen ole mit weibes milche tempern
oder mit ehvirbiz aouch viid la daz in div
oren. Sei aber der ore wen von des luftes
chelten ode voneingeswerod von pladem
So nim lor ole vnde ole von tülen vnde
ote von Ham [Fol. Sb] tigen mandlch'n
vnde ole von ruten vnde mische daz mit
schaffe ham oder mit rinder harne. Sein
dir div oren in dem houbet frat«.) so lii^de
wermuete in weine vfi mi^be den wein
mit ole von pherachechen oder mit rettich
flonch vnde la daz in div oren oder 1
vn(ei(li)ger pfeneich eourh vn la den
div oren.
noch ({Tit warmer Eaaig mit Wermut. Be-
achte._ daß davon zweimal so viel t
von dem Kssig und laase davon i
Ohren.
Anch kann man etwa.-' anderes
man nimmt Rosen- , Krenöl , Lauchsafl
oder Schafpalle. mischt es untereinander
und l&Bt es in die Ohren, sobald es lau iiL
Vom
chtum der Ohren.
AaQer den bereits besprocheiieo
Erkrankungen der Ohren gibt es noch
eine dritte, welche von heißer Sonne oder
kalter Luft entsteht. Entsteht sie
der Sonne, so empfindet man in den Ohren
große Hitze, rQhrt sie aber von der E&ft«
her. HO empfindet man großen Frost
den Ohren. Gegen die Erkrankung, welche
infolge von Hitze in den Ohren entfltan.
den ist, temperiere Rosenöl mit Frauen-
milch oder KUrhiseaft und gib das IB
die Ohren, liührt aber der OhrenBchmen
von der KHite der Luft oder von einen
Geschwür oder von Blähungen her, W
nimm LorbeeriSl, Tillül, Gel von bittenn
Mandelkernen und RautenSl und miscbt
dies mit Schaft«- oder Rinderharn. Sind
die Ohren im Eopfe entzündet, so sieds
Wermut in Wein und mische den W«n
mit Pfiraichal oder Bettigsaft und gib
das ins Ohr. oder nimm Saft unreifer
Pfirsiche und gib das ins Ohr.
Von den Ohrwürmern.
Nimm einen gebratenen Apiel, so heiB
wie er ist, schneide ihn auseinander und-
lege ihn auf das Ohr . wo die Würmer
sind ; sie werden herausgehen. Eb
tut eine Natter , die im Magen einH
Menschen ist ; die geht durch den Mond
heraus, nenn man frtscbgemolkene Milah
warm an den Mund r<etzt: dazu iat ancli
Bocksblul gut, so warm wie es ist, di*
soll er trinken.
Bezeichnend für den Geist der therapeutischen Ansichten im 14, Jabrhimdei!^
in Frankreich ist auch eine Sammlung von Rezepten, die in einem in der Biblio-
thek von Evreux befindlichen Manuskript enthalten sind (Recettes medicales «B
franQais publiees d'apres le Manuscrit 28), veröffentlicht durch Paul Meyet und
Ch. J,orel in der Romaniu 18, p. ,571 ff. Die Stelle, welche sich auf die Obrenhail-
Von dei
in dei
Nim einen gepraten apfel also heiten
vnde sneide in von ein ander vnde lege
in vber daz ore(,) da div wurme inne sint(,)
so gent ai ouxo Alsam tut ein ateri.i
div in eina menschen magen ist, div ^et
ouzber durch den miitf!) ob man niwe
molche milch warme für den munt seiet(,)
dar zu ist onch poches bluot also wann.
daz soll er trinchen.
Anatomie und Physiologie des Ohres im Mittelalter. 69
künde bezieht, hat folgenden Wortlaut: p. 573, 13. Pour les orelles sourdes, prenez
le jus de mente et de aluine, si le fetes tieve, et metez es orelles, si garront; et se
il i a Ters, si destrempez le jus de mente de vin et coulez parmi j. drap si le faite»
tieuTe, et metez es orelles, si garront.
14. A home qui a est^ longuement sourt metez le jus de hieble tieve, si garra.
Zur Anatomie und Physiologie des Oehörorganes im Mittelalter.
Wie eingangs dieses Abschnittes erwähnt wurde, war es im Mittel-
alter um die Anatomie und Physiologie des Ohres schlecht bestellt'*').
Von den anatomischen Produkten der salernitanischen Schule, an
der menschliche Leicheii nicht seziert wurden, führen wir die „Ana-
tomia porci* das Copho junior (1085 — 1100) an. Sie enthält über
das Gehörorgan bloß den Satz: Nervus qui ab interioribus venit ....
ad aures, dicitur auditorius nervus. Wie man sieht, eine sehr dürftige
Leistung. Nicht viel besser steht es mit einer anderen anatomischen
Arbeit der salernitanischen Schule, der sogen. ^Demonstratio ana-
tomica****), in der nicht einmal der Versuch einer Beschreibung des
Gehörorgans gemacht wird. Das „Po6ma anatomicum****) endlich
enthält folgende Verse im Liber primus:
*) Aus T. Töplys «Studien zur Geschichte der Anatomie im Mittelalter' geben
wir hier eine Zusammenstellung der ohranatomischen Literatur im genannten Zeit-
raume, die Jedoch nichts Bemerkenswertes enthält und selbstverständlich keinen An-
spruch auf Vollständigkeit erhebt:
Pseudogalenische Schriften: De compagine membrorum s. de natura
hnmana. A. 2. Gehör. De anatomia vivorum. B. 7. Ohr.
Der Anonymus des Lauremberg: 'Avü>v6}loo tlaa^uiY*}] avaxofiix*f]. (Nach
Sprengel aus dem 4. Jahrhundert stammend.) C. 54. Ohr, Ohrmuschel,
Trommelfell
Oreibasios (826 — 403 n.Chr.). 24. Buch. Eingeweidelehre: 7. Ohren.
Nemesios (im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts): IIspl «paoeco^ ^vifpcuiioü.
10. Gehör.
Meletios (600 — 800? n. Chr.), Anecdota graeca e codd. manuscriptis biblio-
thecarum Ozoniensium descripsit J. A. Cr am er. B. 7. Ohren.
*Ali ben el-'Abbäs (Haly Abbas) el-Madschusi (| 994), Liber omnia com-
plectens, quae ad artem medicam spectant. 3. Buch. Kap. 15.
Abu Merwän ihn Zohr (Avenzohar), f 1162. Khitäb-el-kuUidschät.
19. Ohren.
Ihn Abu Oseibia (f 1269). 6. Anatomie der Sinneswerkzeuge.
Abu Bekr'Muhammed ben Zakeryja el-Räzi. N. 65. Liber de figura
aurium. N. 67. Liber de figura auditoriae cavernae (nach Wüstenfeld). In
der Anatomie des Rhazes. Kap. 10. Das Ohr.
Bartholomaeus Anglicus. De genuinis rerum coelestium, terrestrium et
infemarum proprietatibus libri XVIII. V. Buch, Kap. 12. Ohren.
♦*) Renzi, Coli. Salemit. II, p. 390.
♦**) id. II, p. 391.
70 Mondino de Liuzzi.
Quod voces hauris hinc nomen suscipit auris:
Pars auris summa de primo primula dicta
Significat primum venit inde bipennis avitum"^).
Auch die Arbeiten der anderen Anatomen des Mittelalters bieten
nur sehr dürftige Leistungen über die Anatomie des Ohres, so z. B.
Ricardus Anglicus in seiner „Anatomia" **) (ca. 1242 — 52), welche
Prof. Robert von Töply zum ersten Male nach einem in der Wiener
Hofbibliothek befindlichen Manuskripte herausgegegeben hat. Schon
der Beginn des 17. Kapitels, das die Beschreibung des Ohres (de
auribus)***) enthält, beweist die mönchische Richtung des Autors. Im
weiteren Verlaufe vergleicht Ricardus den „aer quietus* (= complan-
tatus) im Innern des Ohres mit dem „cristallinus humor^ des Auges
und das Trommelfell (panniculus), von dem er nichts anderes mitteilt,
als daß es vom Hörnerven abstamme (oritur a nervo descendeute a quinto
pari nervorum cerebri) und dem Felsenbein seine ganze Sensibilität ver-
leihe (totam ei prestat sensibilitatem quam habet), mit der Pupille des
Auges. Von geringem Wert ist die „Practica** des Joannes Mattaeus
de Gradibus (f 1472), der die Ohranatomie und die Ohrerkrankungen,
ohne neue Gesichtspunkte, nach den Schriften der Vorgänger be-
arbeitet hat.
Einen, wenn auch geringen Fortschritt erfuhr die anatomische
Wissenschaft erst durch Mondino.
Mondino de Liuzzi, Die „Anathomia** des Mondino de Liuzzi
(geb. zu Bologna um 1275, f 1326), die nach der Erfindung der Buch-
druckerkunst f) nicht weniger als 25 Auflagen erlebte, war im 14. Jalff-
hundert neben Galens anatomischem Werke das allgemein gebräuch-
liche Lehrbuch der Anatomie. Doch kann die kurze Schrift keinen
Anspruch auf Selbständigkeit machen, da Mondino mit wenigen Aus-
nahmen den Standpunkt Galens vertritt. Sie ist nur deshalb von
einigem Interesse, weil ihr Verfasser einer der ersten war, der menschliche
Leichen sezierte und för seine Schüler eine Anleitung zum Sezieren
verfaßte. Die Stelle, welche „De Anathomia Auris" behandelt, be-
findet sich am Ende der Schrift; sie lautet:
His expeditis videbis aurem positani a latere capitis: quia sonus
percipitur a dextris et a sinistris et ante et retro et sursum et deorsum
et ideo instrumentura eins oportuit locari in dextra et sinistra: non autem
in parte anteriori: quia ibi erant instrumenta alioruni sensuum.
*) id. V. p. 178.
**) Anatomia Ricardi Anglici. Primum ed. Rob. Töply Eques, Vindob. 1902.
***) 1. c. p. 15.
t) Die erste Auflage wurde 1478 in Venedig gedruckt.
Mondino de LiuzzL 71
Auris autem fuit figurae rotundae in homine vel circularis : ut esset
plurimum capacissima: et cartilaginosa.
Cartilaginosa autem fuit: ut esset ab alterantibus extrinsecus tuta.
Et ut esset sonora, cuius foramen est longum terminatum ad os petrosum
in cuius concavitate est Spiritus audibilis complantatus: qui est instru-
mentum auditus. Et eins foramen Tel cavemositates cooperit panni-
culus subtilis contextus ex yillis nervorum auditus iam supra dictorum.
Ossa autem alia quae sunt infra basilare: non bene ad sensum apparent
nisi ossa illa decoquantur : sed propter peccatum dimittere consuevi, verum
est quae de mandibularum ossibus potes videre principium et finem. In-
cipiunt. n. a commissura sive addorea quae est inter craneom et basilare
in loco qui est in fine supercilii et frontis: et procedit versus partem
posteriorem iuxta os petrosum et ad auriculam terminatur: aut ad dentes:
quorum anothomiam supra dixi. (Anothomia Mundini noviter impressa
ac per Carpum castigata. 1514.)
Die Anatomie des Gehörorgans des Mondino, die wir hier dem
ganzen Wortlaute nach geben, zeigt den geringen Fortschritt, den dieser
Teil der Anatomie von Seite des im Mittelalter als erste Autorität auf
anatomischem Gebiete geltenden Autors erfahren hat.
Seine Schilderung unterscheidet sich dadurch von der früherer
Autoren, daß sie den „spiritus audibilis complantatus' in eine Concavit'ät
des Os petrosum verlegt und von einem „panniculus subtilis** spricht,
der sich aus den Verzweigungen (villis) des Hömerven zusammensetzt
und von manchen Autoren als Trommelfell gedeutet wird.
Der Umstand jedoch, daß ein «panniculus** schon von früheren
Autoren erwähnt wird und Mondino ihn als eine Ausbreitung des
Hörnerven ansieht, vom Hammer aber nichts erwähnt, beweist, daß
Mondino selbst das Gehörorgan nicht oder nur sehr oberflächlich
untersucht und bloß aus den Mitteilungen seiner Vorgänger geschöpft
hat. Wie schwer noch in dieser Periode des Mittelalters das Verbot,
menschliche Leichen zu sezieren, auf der anatomischen Forschung lastete
und wie sehr dieses Dogma bis ins 16. Jahrhundert den Forschungs-
drang mancher Aerzte lähmte, zeigt die Aeußerung Mondinos, daß
sich die Details des Felsenbeins besser zur Anschauung bringen ließen,
wenn man den Knochen auskochte, eine Prozedur, die er als eine Sünde
unterließ.
Der ersten Anregung zur anatomischen Forschung durch Mon-
dino folgt abermals eine fast zwei Jahrhunderte andauernde Stagnation,
die erst mit dem Aufblühen der Künste und Wissenschaften in Italien
im 16. Jahrhundert ihr Ende erreicht. Denn das, was Betrucci, ein
Schüler Mondinos (1347), die schon früher erwähnten Mondeville (1350)
und Petr. de Argellata (1423), Bartolomeo Montagnana (1460)
72 Mondino de Liuzzi.
' und selbst der verdienstvolle Alex. Achillini geschaffen, ist so gering-
fügig, daß es fOr den Fortschritt der anatomischen Wissenschaft kaum
in Betracht kommt. Wie lange noch die dürftige Anatomie des Mon-
dino als maßgebend galt, beweist die Tatsache, daß Achillini in
seinen „Annotationes in Anatomiam Mundini *^ 110 Jahre nach Mondino
und J. B. da Carpi noch zu Anfang des 16. Jahrhunderts, vor dem Er-
scheinen seiner «Isagoga*, es für zweckmäßig fanden, die Anatomie des
Mondino zu kommentieren und herauszugeben.
Die Otiatrie in der Uebergangsperiode zur Neuzeit
a) Vorläufer der großen Anatomen Italiens.
Achillini. Berengario da Carpi. Nie. Massa.
Die erste Etappe zur Durchforschung des Gehörorgans bildete die
Auffindung von Hammer und Amboß. Der Zeitpimkt ihrer Entdeckung
wird von den Historikern in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ver-
legt, doch ist es sehr wahrscheinlich, daß die schon bei oberflächlicher
Zergliederung leicht darstellbaren Enöchelchen viel früher von un-
bekannten Anatomen oder Chirurgen zufällig entdeckt wurden, ohne daß
ihre Bedeutung erkannt worden wäre*).
Als Entdecker des Hammers und Amboßes werden Achillini und
Berengario da Carpi, zwei hervorragende Anatomen des zur Neige
gehenden 15. Jahrhunderts, angeführt; doch kommt Achillini, wie
wir sehen werden, hierbei nicht in Betracht und Carpi kann nur das
Verdienst in Anspruch nehmen, bei seiner Beschreibung des Gehör-
organs den Hammer und Amboß zuerst erwähnt, nicht aber sie entdeckt
zu haben.
Achillini.
In den meisten historischen Werken wird Alessandro Achillini
(1463 — 1512) als der Entdecker des Hammers und Amboßes bezeichnet.
Achillini, ein Bolognese, einer der hervorragendsten Gelehrten in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, lehrte in seiner Geburtsstadt und
später in Padua Philosophie und Medizin und betätigte in beiden
Wissenszweigen seinen eminenten Scharfsinn in hervorragender Weise.
Obzwar noch Arabist, war er doch einer der ersten, die den Mut hatten,
menschliche Leichen zu sezieren.
Neben anderen umfangreichen Werken erschienen posthum seine
«Annotationes anatomicae inMundinum**, Bononiae 1520. Das ganz dünne
Bändchen ist weder in der Wiener Universitäts- noch in der Hof bibliothek
*) Potuit enim ignobili cuidam ac minus docto Prosectori, aut Ghirurgo, qui
probe dijudicando , aut publice indicando , quod casu reperisset , ut saepe fit , par
ipse non esset, id Achillini, et Garpensis temporibus accidisse in Malleo et Incude
quod postea in Stapede sibi obtigisse, Ingrassias testatur! (Morgagni, Epistol.
onatom., VI., 3.)
74 Berengario da Carpi.
vorbanden. Die kurze Beschreibung des Ohres in demselben verdanke
ich einem befreundeten Kollegen, der während seines Londoner Auf-
enthaltes im Sommer 1905 aus dem in der Bibliothek des College of
Surgeons befindlichen Exemplare mir die betreffende Notiz zukommen
ließ. Sie lautet:
«Auris: lateralis capiti; rotundae figurae, cartilaginoaa ambiqui foraminis, in
cuius extremitate est miringa claudens in osse petroso aerem coronalem.*
In dieser kurzen Skizze ist wohl ^miringa*" ein Hinweis auf das
Trommelfell, doch enthält sie nichts über die Gehörknöchelchen. Die
irrtümliche Annahme der Priorität Achillinis bei dieser anatomischen
Entdeckung beruht offenbar auf der falsch ausgelegten Stelle des Nie.
Massa, die eigentlich nur besagt, daß die Entdeckung zur Zeit Achil-
linis erfolgte:
,Haec ossicula anatomici tempore Achillini. viri in omni scientianim genere
eminentissimi (ut ex eins scriptis clarissime videre est) invenerunt. Nie. Massa, Epist.
medicinales. Venetiis 1558. Ep. V. f. 55. b.
Welche „scripta" des Achillini hier gemeint sind, konnte ich nicht
eruieren, da ich bei Durchsicht der anderen Werke Achillinis keine
auf die Anatomie des Gehörorgans bezügliche Stelle fand.
Berengario da Carpi.
Jacopo Berengario da Carpi wurde kurz vor 1470 in Carpi
bei Modena als Sohn eines angesehenen Wundarztes geboren, studierte
in Bologna, lebte dann als Arzt in seiner Heimat, floh aus politischen
Ursachen nach Bologna, wo er von 1502 — 1527 die Professur der
Chirurgie mit ausgezeichnetem Erfolge bekleidete. Beschuldigt, Vivi-
sektionen am Menschen ausgeführt zu haben, begab er sich von hier in
die freiwillige Verbannung nach Ferrara, woselbst er 1550 starb.
Carpi erlaugte große Berühmtheit, als Arzt durch Verwendung des
Merkur bei venerischen Krankheiten, als Chirurg durch treflFliche Behand-
lung der Schußwunden und Schädelverletzungen, als Anatom durch eine
Fülle von wertvollen Entdeckungen, die er bei Sektionen an mensch-
lichen Leichen machte. Seine Erfahrungen legte er in den zwei Werken
nieder: «Auatomi (^arpi Isagogae breves Perlucidae ac uberrimae in Ana-
tomiani huniani corporis a conimuni Medicorum Academia usitatam etc.",
Bonon. 1514 und ,Commentaria cum amplissimis additionibus super
anatomium Mundini, una cum textu ejus in pristinum et verum nitorem
redacto", Bonon. 1521.
Berengario war der erste Anatom, der seinen Werken eine An-
zahl in der Austiihrung recht roher anatomischer Abbildungen bei^b.
Berengario da Carpi. 75
Von seinen Leistungen sei hier nur die Entdeckung der Keilbeinhöhle
und des Wurmfortsatzes hervorgehoben. Er kannte die Membrana tym-
pani genauer als seine Vorgänger und entschied sich in dem damaligen
Streite, ob sie von den Gehirnhäuten, Periost oder dem Gehörnerv ab-
geleitet werden sollte, für die letztere irrige Ansicht, die er von Mondino
überkommen hatte'*').
Die bezüglichen Stellen über das Trommelfell und die Gehör-
knöchelchen in der „Isagoga* lauten:
^intra quod est certa vacuitas, quam claudit quidam panniculus
subtilis et solidus.**
«Sunt aliqui volentes praedictum panniculum oriri a pia matre quae
transit cum nervo auditivo ad praedictam vacuitatem: de suo tamen
ortu vide comenta."
^In praedicta vacuitate, quam ante velat praedictus panniculus, est
aSr implantatus, qui suspicit species auditus quas dat nervo auditorio
dilatato in panniculum, qui vocatur miringa auris.''
Der letzte Satz würde in deutscher Uebersetzung lauten: In der
genannten Höhlung, welche das Trommelfell verschließt (somit in der
Trommelhöhle), befindet sich der A6r implantatus, der die Arten des
Hörens aufnimmt, die er auf den in ein Fell ausgespannten Hömerv
überträgt.
Die Stelle über die Gehörknöchelchen lautet:
,,et huic panniculo intra praedictam vacuitatem adiacent duo ossi-
cula parva apta moveri ab a^re ibidem proximo moto, quae in suo
motu se invicem percutiunt, a quibus secundum aliquos causantur omnes
speties (species) soni: plus et minus secundum at^rem extrinsecus motum/
Zu Deutsch: an diesem Fell (Trommelfell) lagern innerhalb der
genannten Höhlung (Trommelhöhle) zwei kleine Knöchelchen, welche
geeignet sind, von der dort bewegten Luft bewegt zu werden und sich
in ihrer Bewegung mehr oder weniger, je nach der Bewegung der
äußeren Luft, wechselseitig erschüttern.
Aus dem letzten Zitate ist ersichtlich, daß Carpi sich keineswegs
als der Entdecker des Hammers und Amboßes bezeichnet. In der
Isagoga Carpis geschieht deren ohne Benennung nur Erwähnung, und
erst in den Kommentarien werden sie mit ihrem Namen bezeichnet.
Eine genaue Schilderung ihrer Form und Größe vermissen wir aber hier
ebenso wie Angaben über Form, Größe und Wölbung des Trommelfells.
Vom Labyrinthe hatte Carpi wohl Kenntnis, doch äußert sie sich nur
in unklaren Andeutungen.
*) Commentar. in Mundin. f. 477 a, b.
76 ^^^' Massa.
Nie. Massa.
Zu den Vorläufern der großen Epoche der Wiedergeburt der ana-
tomisclien Wissenschaft zählen noch Nie. Massa, Alessandro Bene-
detti und Gabr. Zerbis.
Nicolaus Massa (f 1569), dessen Werk*) einige interessante
historische Daten enthält, erwähnt das Trommelfell nur kurz (ista cavitäs
tegitur a quadam membrana subtili dura), es werde „meninga*' auf
Griechisch oder auch „timpanum*^ genannt. Von den beiden Gehör-
knöchelchen (supra quam membranam intus sunt) sagt er, daß sie
wie die Schlegel einer Trommel (ad modum malleorum timpani) aus-
sehen und daher die Bezeichnung ^malleoli*^ erhalten hätten; er be-
schreibt sie als beweglich und mit dem Trommelfell zusammenhängend
(mobilia et adhaerentia) und hebt hervor, daß sie sich nach den
Schwingungen des Trommelfells mitbewegen (moventur ad motum dictae
membranae). Von Interesse ist die von ihm angeführte Sektionsmethode,
nach welcher Gehörknöchelchen und Trommelfell aufgefunden würden.
Aus seinen nicht ganz klaren Ausführungen scheint nämlich hervor-
zugehen, daß er das Dach der Trommelhöhle lateral wärts von der
Eminentia arcuata der Pyramide mit dem Skalpell entfernt und das
Trommelfell mit dem Hammer und Amboß freilegt, eine Technik, wie
sie auch heute noch geübt wird. Die betreflfende Stelle lautet:
Nota quod a lateribus cavitatis cranei supra os basilare, ubi correspondent
ezterius aures, sunt duae eminentiae osseae, una a deztris altera a sinistris, quas
eminentias osseas oportet diligenter scalpello incidere, ne intrinsecae partes frangantnr,
quae intra cavum ossis sunt, et sie elevato ossa apparebunt ista ossicula iacentia
supra meningam, timpanum aliter dictam, quae quidem meninga, ut dixi, correspoxidei
foramini auris in osse exteriori.
Gleichzeitig fordert Massa auf, bei der Präparation die krummen
Gänge des Knochens zu besichtigen (vide etiam diligenter anfractus ossis
intrinseci, ubi facta incisio). Welcher Wert übrigens seinen anato-
mischen Daten beigemessen werden darf, ergibt sich aus der Angabe^
daß der Gehörnerv bis zum Trommelfell verlaufe (videbis nervum trans-
euntera per substantiam ossis ad timpanum).
Die Arbeit .Historia corporis humani sive anatomice*, Venetiis 1497, des
Italieners Alessandro Benedetti enthält im 38. Kapitel des 4. Buches blo&
einen dürftigen Hinweis auf das Trommelfell. Er sagt dort nämlich, daß am Ende
des äußeren Gehörganges eine Membran ausgespannt sei, die man „mininga* nenne
*) Nicolai Massa, Veneti artium et medicinae doctoris L i b e r introdac-
torius Anatomiae, sive dissectionis corporis humani, nunc primum ab ipso auctore
in lucem editus etc. 1536. Cap. XXXXf. De dissectione aurium, nasi, et superiomm
maxillarum, una cum osse basilari, p. 93.
Alessandro Benedetti. 77
(in imo anfractu membrana posita est, quam mininga vocant). Seine weiteren phan-
tastischen Ausffihrangen, daß beim Trommelfell die Luftstöße aufhören und infolge
ihrer Nähe zum Gehirne geleitet werden, daß diese Membran vom Gehirne abstamme,
durch dessen Vermittlung mit der Zunge in Verbindung stehe u. s. w. (hac aeris
ictus desinit: qui ad cerebrum vicinitate defertur: qm ea membrana a cerebro est;
cuius connexione linguae annectitur etc.) sind kaum von wesentlichem Interesse.
Auf die dürftigen Angaben Zerbis*), nicht zu reden von den deutschen
Anatomen dieser Zeitepoche, kann hier verzichtet werden.
Anhang.
Nach den neueren historischen Forschungen wird auf Grundlage der in den
königl. Bibliotheken in Windsor und Paris befindlichen Bianuskripte und anatomi-
schen Handzeichnungen Lionardo daVinci als der hervorragendste Vorläufer der
großen Anatomen Italiens, ja als der eigentliche Begpründer der menschlichen Ana-
tomie bezeichnet'*"^). Lionardos anatomische Studien an zahlreichen menschlichen
Leichen fallen in das Ende des 15. und in die ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts^
somit in die vorvesalische Periode. Zu seinem Zeitgenossen Berengar da Garpi
dürfte Lionardo kaum in Beziehungen getreten sein. Während nämlich die ana-
tomischen Zeichnungen Lionardos von wahrhaft künstlerischer Schönheit sind und
an Exaktheit und Naturtreue nichts zu wünschen übrig lassen, sind die in der
^Isagoga* Garpis enthaltenen anatomischen Abbildungen nicht nur roh und un-
künstlerisch, sondern auch fehlerhaft.
So umfangreich und eingehend nach dem noch vorhandenen Material die
anatomischen Forschungen Lionardos auch waren, so wenig scheint er sich mit
der Anatomie der Sinnesorgane beschäftigt zu haben. Blumenbach gibt zwar an,
daß er Zeichnungen Lionardos vom Gehirne, Auge und Ohr gesehen habe (Holl. 1. 0.);
doch dürften damit nur Zeichnungen der Ohrmuschel gemeint sein. Einen Versuch,
den Bau des inneren Ohres näher kennen zu lernen, hat Lionardo nicht unter-
nommen. Wenn er bei seinen physiologischen Reflexionen über den Nutzen der
Sinnesorgane bezüglich des Gehörs von , konkaven Porositäten des Os petrosum,
welches innen im Ohr liegf ***), spricht, so hat er offenbar damit die Ueberlieferung
der Araber und der mittelalterlichen Anatomen wiedergegeben.
b) Die Otiatrie in der Benaissancezeit.
Tesal. Ingrassia. Falloppio. Eustachio.
Italien darf mit Stolz das große Verdienst für sich in Anspruch
nehmen , daß hier die Anatomie des Gehörorgans und damit die Grund-
lage für die wissenschaftliche Otiatrie geschaffen wurde. Dank dem
großen Aufschwünge der Künste und Wissenschaften im 15. und 16. Jahr-
hundert war auch die Anatomie in ein neues Stadium rascher Entwick-
*) Anatomia corporis humani et singulor. Membror. über. Venet. 1502.
**) Holl, Die Anatomie des Lionardo da Vinci. Archiv f. Anatomie u.
Physiologie 1905, Heft II. u. III.
♦♦♦) Holl. 1. c. p. 238.
78 ^id Otiatrie in der Renaissancezeit.
lung getreten, nachdem man aufgehört hatte, sich an die kirchlichen
Verbote von Sektionen menschlicher Leichen zu kehren. Auf der frei-
gewordenen Bahn der Naturforschung folgten einander nun rasch die
wichtigsten anatomischen Entdeckungen. Mit Bewunderung sehen wir
den edlen Wettstreit um die Förderung der Anatomie, der sich an den
hervorragenden Pflanzstätten der Wissenschaft, vor allem in Padua,
Bologna, Pavia, Palermo, Neapel und Rom*), entwickelte, und an dem
sich die bedeutendsten Gelehrten jener Zeit beteiligten. Unter diesen
Männern wird die Geschichte der Ohrenheilkunde die Namen Vesal,
Falloppio, Ingrassia, Eustachio und Casserio fQr alle Zeiten als
die bahnbrechenden Forscher auf dem Gebiete der Ohranatomie feiern.
Während fast alle medizinischen Wissenszweige ein mehr oder
weniger reiches Erbe aus dem allerdings bescheidenen anatomischen
Forschungsschatze des Altertums zugeteilt erhielten, hatte die Ohrana-
tomie fast nichts aus der früheren Zeit überkommen, da sich die Kennt-
nisse noch am Ende des 14. Jahrhunderts kaum bis zum Trommelfell
erstreckten. Diese vollständige Unkenntnis der Anatomie des Ohres
erklärt zur Genüge die rohe Empirie, mit der bis dahin die Behandlung
der Ohrenkrankheiten geübt wurde. Noch weniger als die griechische und
römische hatte hier die mittelalterliche Heilwissenschaft in ihrer religiösen
Scheu vor Leichenöffnungen geleistet, ja sie hatte eher dazu beigetragen,
die freie Forschung zu Gunsten eines traditionellen, blinden Autoritäts-
glaubens zu ersticken und in einem Wüste krauser Heilformeln zu ver-
graben.
Als endlich die Finsternis des Mittelalters durch die Wiedergeburt
der Künste und Wissenschaften in Italien zerstreut wurde und das
Bewußtsein der Notwendigkeit anatomischer Studien zum Durchbruch
kam, warf sich die Wißbegierde mit Feuereifer auch auf das bisher
brachliegende Gebiet der Anatomie des Gehörorgans, wo gerade durch
die große Schwierigkeit der anatomischen Untersuchung das Interesse
noch gesteigert wurde. So gelang es der bewundernswerten Ausdauer
der berühmten Anatomen des 16. Jahrhunderts in Italien, in einer ver-
hältnismäßig kurzen Zeit die Anatomie dieses im Schläfebeine ver-
-') Daß sich die päpstliche Regierung^ dem Beispiele der genannten Universi-
täten folgend, entschloß, auch in Rom eine anatomische Lehrkanzel zu errichten,
beweist, daß sie. ohne das kirchliche Verbot der Leichensektionen aufzuheben, dem
Drängen der modernen Natur forschung keinen längeren Widerstand zu leisten ver-
mochte. Während noch 1515 dem Lionardo da Vinci, der in der Sapienza heimlich
anatomische Studien betrieb, von Leo X. der weitere Besuch dieses Spitals verboten
wurde, sehen wir einige Dezennien später B. Kustachio als Professor der Anatomie
an der Sapienza wirken.
Lanzelotti Buonoanti. 11 pensiero anatomico de Lionardo da Vinci in
rapporto eir arte. K. Accad. di belle arti. Milano 1897; zit. Ho 11, 1. c. p. 187.
Die Otiatrie in der Renaissancezeit. 79
borgenen Sinnesorganes fast auf eine Stufe mit der aller anderen Organe
zu erheben.
Es kann sogar behauptet 'werden, daß die mangelhaften anatomischen
Kenntnisse der verflossenen Periode den Forschem insofern zu statten
kamen, als die anatomische Beobachtung hier nicht, wie anderwärts, in
Galenischen Dogmen und arabischen Doktrinen befangen war. Mit Recht
können wir sagen, daß das Cinquecento für die Otiatrie nicht wie
für die anderen medizinischen Fächer eine Restaurations- , sondern die
Schöpfungsperiode bildet, von der kaum eine Spur zum Altertum zurück-
fQhrt. Daß gerade Italien, das Vaterland der genialsten Künstler, auch
die Geburtsstätte der modernen Anatomie wurde, hatte den nicht genug
zu schätzenden Vorteil, daß sich Gelehrte und Künstler verbanden, um
in bildlichen Darstellungen der anatomischen Objekte den oft schwer
verständlichen Text durch anschauliche Abbildungen aufs wirksamste zu
ergänzen. Es bedarf in dieser Richtung nur des Hinweises auf die
früher erwähnten unübertroflFenen anatomischen Zeichnungen Lionardo
da Vincis (s. S. 77) und auf die Illustrationen des Werkes des unsterb-
lichen Vesal, die durch Calcar, einen Schüler Tizians, in bewunderungs-
würdiger Weise ausgeführt wurden.
Trotz der nun an den genannten Universitäten zur freien Ausübung
gelangten anatomischen Sektionen an menschlichen Kadavern konnte das
Vorurteil gegen die Zergliederung des menschlichen Körpers in der
großen Volksmasse nur allmählich zum Schwinden gebracht werden.
Infolge des Mangels an Leichenmaterial geschah es gar nicht selten, daß
die wißbegierigen Jünger der Anatomie zu Leichenausgrabungen ihre
Zuflucht nehmen mußten. Wird doch von Zeitgenossen über nächtliche
Kämpfe zwischen Leichenwächtern und Studenten berichtet, welch letztere
behufs Beschaffung von Sektionsmaterial zur Ausgrabung frischer Leichen
auf den Friedhöfen sich vereinigten. Dieser Mangel an menschlichen
Leichen war auch der Grund, daß man sich zur Erforschung der ana-
tomischen Details vielfach der Gehörorgane von Tieren bediente. Da-
durch ist, vielleicht unbeabsichtigt, die Basis für die vergleichende
Anatomie des Gehörorgans geschaffen worden.
So wurde die Kenntnis des äußeren, mittleren und inneren Ohres
durch die verdienstvollen Anatomen Italiens und deren Schüler in rascher
Folge gefördert. Der träge Verkehr zwischen den einzelnen Ländern
zu jener Zeit war die Ursache, daß die Resultate der rasch empor-
blühenden anatomischen Wissenschaft in Italien so spät den Schulen der
anderen europäischen Staaten übermittelt wurden, und daß erst im fol-
genden Jahrhundert deutsche und französische Forscher Gelegenheit
fanden, die Entdeckungen ihrer italienischen Vorgänger zu vermehren
und zu vertiefen.
Die bescheiden es Leistunf^en auf anatomischem Gebiete zu Aus-
gang des 15. Jahrhunderts wurden bald durch die Entdeckungen Vesals
und seiner großen Zeitgenossen in Schatten gestellt. Die Namen Vesal,
Falloppio, Eustachio,Ingrassia sind die Leuchten der klassischen
anatomischen Aera, deren glänzende Leistungen noch heute Bewunderung
erwecken und in ihrer Art mit denen des 19. Jahrhunderts wetteifenu.
Ihr Verdienst, in rascher Reihenfolge eine vorher ungeahnte Anzahl
anatomischer Entdeckungen von bleibendem Werte an den Tag gefordert
zu haben, wird keineswegs geschmälert durch die Tatsache, daß diese
Männer einen jungfräub'chen Boden für ihr Forschungsgebiet vorfanden.
Vor allen war es Vesal, der mit dem Einsatz seiner ganzen Per-
sönlichkeit und mit leidenschaftlich ret'orniatorischem Eifer den Kampf
gegen die Cralenische Tradition fiihrte und der Idee der freien, un-
befangenen Naturbeobachtung aum Siege verhalf.
Ist Vesal mit Recht als der NeubegrUnder der Anatomie zu be-
zeichnen*), so muß doch zugegeben werden, daß seine Leistungen auf
dein Gebiete der Ohranatomie weit hinter denen des genialen Falloppio
zui-ückstehen, der die Grenzen der Kenntnis des Gehörorgans am meisten
von allen Zeitgenossen erweiterte und hier für lange die Führerschaft
an sich riß.
Andreas Vesalius**), am 31, Dezember 1514 zu Brüssel geboren.
entstammte einer Familie, in der schon seit alters her Medizin gepflegt
wurde, und die mehrere ausgezeichnete Aerzte unter ihren Ahnen
zählte. Er erhielt seine erste wissenschaftliche Bildung, in Philologie
und Matbematili, zu Löwen. Schon als Knabe soll er anatomische
Untersuchungen an Tieren ausj^eführt haben. Um 1532 begab er sich,
zum Zwecke anatomischer Studien, nach Montpellier, dann nach Paris,
wo er aber durch seine Lehrer, Guido Guidi (Vidus Vidius), Jacque
Dubois (Sylvius), Günther von Andernach, nur dürftige und oberflächliche
Anleitung fand, doch zum Ersätze mit jugendlicher Begeisterung eigene
Untersuchungen anstellte und oft, selbst mit Lebensgefahr, seinen un-
ersättlichen Hang zum Zergliedern befriedigte. Man sah ihn nicht selten
mit Knochen hingerichteter Verbrecher beschäftigt, die er auf den Kirch-
höfen den Hunden entrissen hatte. Der zwischen Karl V. und Franz I.
ausbrechende Krieg trieb Vesal nach Löwen zurück, wo er kurze Zeit
•) Roth, Andrea Vesal. 18B8.
*") Wir beschränken um wegen des io weitesten Kreisen bekannten Lebena-
laufs Veials nur auf die wichtigsten Daten. Die ausführlichste Darstellung gibt
Burggraeve. Etüde« aur Ändr<^ Yetale, Gand (Annoob-Braeckman) . 1841 und
Roth I. c.
J
Tafel I
I
aDatoniische Vorlesungen hielt, um bald darauf, in seiuem 20. Lebens-
jahre, als Feldarzt in der kaiserlichen Armee Dienste zu nehmen, vor-
wiegend in der Erwartung, sich hierbei Gelegenheit zur Erlangung von
Leichen zu verschaffen. Mit dem Heere kam er bald darauf nach Italien,
und aus dieser Zeit stammen die zahlreichen Sektionen, deren Er-
gebnisse er in seinen ersten Werken niederlegte. Schon damals war
sein Ruf so bedeutend, daß ihm zu Padua der Lehrstuhl der Anatomie
angeboten wurde, wo er sieben Jahre (1539 — 1546) unter großem Bei-
fall Anatomie vortrug. Auch in Bologna und Pisa lehrte er vorüber-
gehend, und hielt zu Basel, als er hier im Jahre 1542 gelegentlich
des Druckes seines unsterblichen Werkes weilte, einige Vorlesungen
mit Sektionen ab. Im Jahre 1543 folgte er dem Kaiser nach Geldern
und behandelte ihn bald darauf zu Regensburg an der Gicht. Drei
Jahre später gab er sein Lehramt in Bologna auf, das er durch wieder-
holte Reisen nach Deutschland und Holland unterbrochen hatte, und
verweilte zunächst längere Zeit in Basel, um den Druck seines Werkes
,De corporis humani fabrica" in der zweiten Ausgabe vorzubereiten.
Sein Erscheinen rief ebensoviel Haß, Feindschaft und Erbitterung wie
Beifall und Anerkennung hervor. Die Wucht der gehässigen Angriffe
namentlich seines alten Lehrers Sylviua verletzte Vesal so tief, daß
er in einem Momente aufwallender Verzweiflung einen Teil seiner
Manuskripte verbrannte. Der Ansturm seiner Gegner, die ihn mit
Luther verglichen und der Ketzerei beschuldigten, war noch im
Jahre 1556 so gewaltig, daß Karl V. es für gut fand, der theologischen
Fakultät Salamanca die Frage vorzulegen, ob es katholischen Christen
gestattet sei, menschliche Leichen zu zergliedern. In demselben Jahre,
nach der Abdankung Karls V., trat Vesal, der dem Kaiser nach Spanien
gefolgt war, in die Dienste Philipps IL als Leibarzt. Die vielerlei klein-
lichen Pflichten des Hofdienstes, noch verschärft durch die Intrigen und
offene Anfeindungen des spanischen Klerus, sowie gänzlicher Mangel an
Sektionsmaterial, dies alles drängte ihn 1564, Madrid zu verlassen, um
angeblich zur Erfüllung eines Gelübdes sich nach Jerusalem zu be-
geben. Als er dort aukam, traf ibn die Aufforderung, den durch
Falloppios Tod erledigten Lehrstuhl der Anatomie in Padua zu über-
nehmen, worauf er sich zur raschen Rückreise entschloß. Am '2. Oktober
1564 erlitt sein Fahrzeug an der Küste von Zante Schiffbruch. Vesal
erkrankte infulge der großen Aufregung und wurde am 15. Oktober 1564,
noch vor seinem 50. Lebensjahre, dahingerafft. So endete tragisch das
Leben eines Mannes, dem die Wissenschaft Unvergängliches verdankt.
Kach unverbürgten Nachrichten wurde er von einem Goldschmied er-
kannt, der ihm auf Zante ein einfaches Grabmal setzte.
Die bahnbrechenden Entdeckungen Vesals beziehen sich fv
Politzer, Qesohiohle der Ohrontielltunde. 1.
82 Vesal.
alle Teile des menschliclien Körpers. Am genauesten und sorgsamsten
wurde von ihm insbesondere die Osteologie, Angiologie, Splanchnologie
und die Anatomie des Gehirns bearbeitet, während die Neurologie und
die Zergliederung der Sinnesorgane große Mängel aufweisen. Namentlich
wurde die Kenntnis des Gehörorgans von Vesal nicht in dem Maße
gefördert, wie man nach seinen glänzenden Erfolgen auf anderen Gebieten
schließen sollte.
Von seinen Werken, die zum Teil durch unübertreffliche, von der
Hand Joh. Stephan von Calcars, eines Schülers Tizians, herrührende
anatomische Abbildungen bereichert sind, kommen für die Otologie zwei
in Betracht:
Das Hauptwerk De corporis humani fabrica libri Septem
(erste Ausgabe, Basil. ex off. Joann. Oporin lb4:3*)^ und die letzte seiner
Schriften, Anatomicarum Gabrielis Falloppii observationum
ex amen. Venet 1564. In diesem finden manche Irrtümer des ersten
Werkes mannigfache Berichtigung, auch enthält es, angeregt durch die
Errungenschaften anderer Anatomen, mehr Neues über die Ohranatomie
als das Hauptwerk. Doch auch dieses, dessen Bedeutung Haller mit
den Woi*ten „Immortale opus, et quo priora omnia, quae ante
se scripta fuissent, paene reddit supervacua" hervorhebt, hat
für die Otologie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.
Indem wir im folgenden den auf die Ohranatomie bezüglichen
Inhalt beider Werke Vesals skizzieren, soll von den Mängeln nur so
weit Notiz genommen werden, als sie Hindernis oder Antrieb für weitere
Untersuchungen bedeuteten.
Von großem Interesse sind die Bemerkungen Vesals, die sich
auf die Art der Zergliederung des Gehörorgans und auf die
Wahl der Objekte beziehen. Bezüglich des technischen Vorganges war
Vesal der erste, der zur Untersuchung des Gehörorgans dessen Heraus-
nahme aus dem Schädel empfiehlt ^).
Dieser die Zergliederung des Ohres einleitende Akt entspricht der
erst spät zur Uebung gelangten Herausnahme des Gehirns aus dem
Schädel, welche bedeutenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der
Hirnanatomie übte. Von großem Nutzen für die Erforschung der Ohr-
anatomie ist nach Vesal die Zergliederung der Gehörorgane von
Tieren, wodurch zweifelsohne das Studium der vergleichenden Anatomie
des Ohres gefördert wurde*).
Auf die Details der einzelnen Abschnitte des Gehörorgans über-
^) Ferner: Aniitomia in qua tota humani corporis fabrica iconibus elegantissimui
juxta penuinam Auctoris delineatur. Amstelodami exeudebat Joannes Jansonius in
fol. 1617. Des großen Zergliederers Andreas Vesals anatomische OriginalBguren in
sieben Büchern. Ingolstadt. Herausg. v. Leveling, 3. Nov. in fol.
Vefal.
gehend, registriert Vesal zunächst die von ihm als richtig erkannten
Besehreibungen seiner Vorgänger und gibt eine eingehendere Schilderung
der Form Verhältnisse der Ohrmuschel, des äußeren Gehörgangs
und des Trommelfells, dessen Befestigung in einem knöchernen King
er besonders hervorhebt.
Von den Gehörknöchelchen waren ihm nur der Hammer und
Amboß bekannt^).
Fig. 1. Erste Abbildang des Hammers un<l Ambollee u
G^OTorKanB. Pbotographische Reproduktion aus Vt-sals ,
libri Septem'. Basel 1543.
Die vorstehende robe Abbildung des Hammers und Amboßes, inebesondere der
kanm veratändlicbe Durcfascbnitt der TrommelbQhle läßt auf den ersten Blick die
Meisterband Üalcars vermissen. Aucb zeigt die anatomisch ganz unrichtige Ab-
bildung der HammeT- Amboß Verbindung (P. Q.), daß Vesal diese ilnSehelcheo nur,
nachdem sie durch MaKeration aus dem Schläfenbeine herausfielen. güRefaen hat
Ueber ihre Topographie am nicht mazerierten Prtlparate scheint er nicht orientiert
gewesen zu sein.
Dem Hammer legte er den Namen ,malleus" bei, den Amboß
nannte er .incus' und verglich den ersteren mit dem femur, den letzteren
mit einem zweiwurzeligen Backenzahn*). Beide KnÖcbelchen finden
sich in dem genannten Werke einzeln und in ihrer Lage in der
Trommelhöhle abgebildet (Fig. 1), Noch primitiver und durchaus im
Gegensatz zu den meisten Anatomen seiner Zeit erwähnt er einige
Fortsätze, die sich am Hammerbake befinden. Er war der Ansicht,
daß .sie zur innigeren Befestigung mit der Membrana tympani dienten '').
Ob er unter diesen auch den langen Fortsatz gesehen hat, läßt sich
Rus seinen Aeußerungen nicht entnehmen. Auch sprach er beiden Gehör-
knöchelchen das Periost zu, was bi.s Ruysch von vielen Anatomen be-
stritten wurde,
Iji der Trommelhöhle, von ihm als ,pelvis' bezeichnet, waren
ihm beide fenestrae bekannt, von denen er das ovale (fenestra vesübull)
.foramen anterius", das runde (fenestra Cochleae) als „foramen secundum
84 Vesal.
vel posterius** benennt; auch das Promontorium entging ihm nicht, das
er als ein ^tuberculum inter fenestram utramque positum superiori sejde
parvae conchae, quae in frenorum ornamenta adhibetur*' beschreibt.
Was die inneren Ohrmuskeln betrifft*), so scheint er den
Tensor tympani früher als Eustachio gesehen zu haben, jedoch leug-
nete er dessen muskulöse Struktur und glaubte nicht an seine will-
kürliche Aktionsmöglichkeit, oder war wenigstens im Zweifel darüber,
welchen Gebilden er ihn zurechnen sollte, wie aus seinen Worten »in-
signem et notatu dignum cui nervosum quid et fibrosum instar rotundae
oblongaeque cujusdam glandulae insistit** deutlich hervorgeht.
Wie bei Celsus finden wir auch bei Vesal eine allerdings noch
unklare Vorstellung von dem Vorhandensein der Tuba Eustachii.
Wenn wir Vesals Kenntnis des mittleren Ohres trotz der
großen Mängel doch als wesentlichen Fortschritt in der Ohranatomie
bezeichnen müssen, so vermissen wir dagegen bei der Beschreibung des
inneren Ohrs jene Klarheit und Uebersicht, welche die vortrefiEliche
Darstellung Falloppios auszeichnet. Vesal nennt das Labyrinth „antrum
metallicum** und vergleicht es „cum praecipua fodinae alicujus metallicae
sede, a qua multae plateae aut viae aut cuniculi excurrunt, qui per duram
ossis substantiam velut in circulum excavati incedentesque in amplam
cameram rursus revertuntur** **).
Im „Examen observ. Fallopp.** beschreibt er Vorhof und Bogen-
gänge sehr oberflächlich. Die Schnecke wird von ihm „antrum buc-
cinatum** oder „buccinosum** genannt***).
In dem Hauptwerke Vesals herrscht dagegen eine völlige Un-
klarheit über Anordnung und Zahl der Höhlen und Gänge im Labyrinthe,
die seiner Meinung nach von einer Membran ausgekleidet sind, welche
vom Gehör- und Antlitznerven stammen soll. Höchst verworren ist
seine Ansicht über den Verlauf des N. acusticus. Er hielt ihn nicht
für einen eigenen Nerv, sondern nur für einen Ast, der mit dem
Facialis aus einem gemeinschaftlichen Stamm, dem schon von Oalen
und seinen Nachfolgern als fünften bezeichneten Gehimnerven hervor-
gehe. Dieser Ansicht huldigten übrigens, Falloppio ausgenommen,
noch alle Anatomen der damaligen Zeit. Vesal verfolgte den Nerven-
eintritt im Meatus auditorius internus, den er beschreibt und ab-
bildet f), ohne den weiteren Verlauf des Acusticus auch nur annähernd
richtig anzugeben. Seine Abbildungen von den Nervenverzweigungen
*) Pixam. observ. Fall. p. lo.
**) Examen observ. Fallopp.
*H=*j A buccina comu recurvo ac contorto quo pastores pecus convocare solebant
vel a buccina conchilii specie. 1. c.
f) De corp. hum. fabr. L. I. p. 65, Cap. XII.
Vesal. 85
•
in der Trommelhöhle, welche die Endigungen des Gehör-
nerven darstellen sollen, verraten die totale Unkenntnis Vesals von dem
Verhalten des Hömerven zum Labyrinthe, was umsomehr auffällt, als
dieser Irrtum auch in den später erschienenen „Exam. observ. Fallopp/
nicht richtiggestellt wurde.
Ueber die Physiologie des Ohres und den Nutzen der ein-
zelnen Teile des Organs spricht sich V^sal als objektiver Forscher sehr
zurückhaltend aus und entwickelt seine Ansichten nur so weit, als ihm
die anatomischen Entdeckungen jener Zeit hierfür eine Grundlage boten.
„Nihil enim certius de auditu, sonituque percipiendo hie, quam inibi,
attexere possum***).
Ein Ueberblick dieser kurz skizzierten Leistungen Vesals in der
Ohranatomie zeigt, daß dieser große Forscher gerade dem Gehörorgan
nur geringes Interesse entgegenbrachte und daß er namentlich das
Labyrinth höchst oberflächlich untersuchte. Beweis hierfür, daß ihm der
Steigbügel, den jetzt jeder Student beim rohen Aufsprengen der Trommel-
höhle sofort findet, entgangen ist. Trotz des nicht ungerechtfertigten
Tadels Eustachios über Vesals Ohranatomie müssen wir dessen ein-
schlägige Leistungen aber dennoch als einen bedeutenden Fortschritt
bezeichnen, der nur deshalb einer strengeren Beurteilung unterliegt, weil
es sich um einen der Größten handelt, deren die medizinische Geschichte
Erwähnung tut.
*) Omnia tarnen mihi percommode succeduntr si serra totam ossis partem, quae
auditus Organum continet, a reliqua calvaria libero et deinde transversim validiori
cultro OS Universum impetu diMseco. De corp. hum. fahr. L. VIT, Cap. 18.
^) Imo, si in uno latere negotium panim ex sententia cesserit, nihil sane
prohibet alterum quoque aggredi, et brutorum calvarias, ut bovis et ovis> operi ad-
hibere, quam illis animalibus Organum auditus non multum ab hominis fabrica dis-
crepet. 1. c.
') Auditus örgani ossicula quatuor sunt, duo scilicet ad singulas aures. 1. c.
L. I, Cap. 39.
^) Ossiculum reponitur, duobus tenuibus et acutis processibus, seu cruribus
firmatum, astabilitumque horum exterius, ac auri vicinius, est brevius et crassius
latiusque, ac in acutum desinit apicem. Alterum crus, quod interius consistit, et
membranae orbicularem illam cavitatis sedem succingenti magis, quam exterius crus,
innascitur, longius nonnihil et tenuis est ipsiusque extremum quasi in unculum cessat,
quo membranae illi implicatur, firmiusque innectitur. Ossiculi huius pars extra
membränam prominens, superius partim plana, partim rotunda cemitur: quemad-
modum minores nonnulli incudes effingi solent, quorum amplior pars plana est: altera,
quae veluti in mucronem desinit, instar coni rotunda. Grandiores enim incudes
penitus plani depressive et quadranguli fiunt. Caeterum si hoc ossiculum, quia tantum
binis donatur cruribus, incudi assimilare minus placuerit, nihil profecto obstiterit,
molari denti duabus tantum radicibus praedito id conferre. 1. c. L. I, Cap. 8. Siehe
auch Ex. obs. Fall.
♦) 1. c. L. VI, Cap. 15.
>y. Ingrassia.
''*) Alterum ossicolum, a iam commemorato plurimum variat, alterique in-
iibbcitur membranae, Foramen enim cavitatis, seu antri in temporis osse incisi, quod
aurem spectat. ea parte qua cavitatis amplitudini vicinum est, membranula tenuiB-
tiima et prorsus i^ellucida in eum modum obtegitur, quo vas suo fnndo obturari dici-
mu8. Huic itaque membranulae transversim id ossiculum innascitur ; itaque ipsi intus
tra.ns>'er6im instemitur, ac in tympanis fidem unam atque alteram crassiorem
membranae, seu asinorum pelli, obtendi conspicimus. Üt vero ossiculum validius
firmaretur, longum tenuemque habet processum, quo membranae secundum illius
latitudinem innascitur. Hunc processum liceret femoris ossis parti comparare, quae
ab ipsius processibus, quos rotatores vocamus, ad inferiora usque femoris capita
pertinet; imo si baec inferiora capita a reliquo femore resecta finxeris oniFersnm
ossiculum femori opportune assimilabitur. Quemadmodum enim femnr iuxta ipsios
cervicem duos asciscit processus, sie etiam ossiculum hoc eadem sede proceesulos
aliquot sibi vendicat, quorum beneficio membranae suae firmius innascitur . . . 1. c.
Ingrassia.
Bevor wir uns den epochalen Leistungen Falloppios zuwenden,
müssen wir des Schülers Vesals gedenken, der nach den besten histori-
schen Quellen das Verdienst für sich in Anspruch nehmen kann, das
dritte Gehörknöchelchen, den Steigbügel, zuerst aufgefunden zu liaben.
Giov. Fil. Ingrassia (1510 — 1580) wurde im Jahre 1510 zu
Recalbuto in Sizilien geboren und war Zeitgenosse des Vesal,
Eustachio und Falloppio. Erst Professor zu Padua, dann in Neapel^
endlich zu Palermo, wurde er 1563 von Philipp 11. von Spanien (dem
damaligen König von Sizilien) zum Archiater von Sizilien ernannt. In-
grassia gewann durch seine Vorträge über Anatomie und praktische
Medizin, in denen er sich nicht als blinder Nachbeter des Hippokrates
und Galen erwies, so viele Hörer, daß in Palermo kaum genügende
Wohnungsräume für die zuströmenden fremden Studierenden und Aerzte
gefunden werden konnten. Außer durch die glänzende Beherrschung
seines Faches zeichnete er sich auch durch allgemeine, philosophische
und literarische Bildung so sehr aus, daß ihn der König wiederholt
als Ratgeber beizog. Noch mehr war er wegen seiner Menschenfreund-
lichkeit und Mildtätigkeit beim Volke beliebt und verehrt. Nament-
lich während der Pestzeit im Jahre 1575, wo Ingrassia als
Gesundheitsrat zu Palermo wirkte, trug er durch Besonnenheit und
Unerschrockenheit dazu bei, daß in seinem Aufenthaltsorte die Epidemie
weniger Opfer als anderswo forderte. Er erwarb sich so sehr das Ver-
trauen und die Dankbarkeit des Volkes, daß man ihm damals als Ehren-
gabe eine Pension von 250 Dukaten spendete, die er bescheiden ablehnte
und zur Ausschmückung einer Kapelle bestimmte. Sein Ruhm drang
durch ganz Italien und verschaffte ihm den ehrenden Beinamen „Hippo-
crates Siculus*". Er starb, allgemein betrauert, 1580 im Alter von
70 Jahren. Auf einer Wand des Universitätsgebäudes in Neapel setzten
PHILIPPUS INGRASSIA
Ingrassia. 87
dankbare Schüler die Inschrift: „Philippe Ingrassiae Siculo, qui veram
Medicinae artem atque Anatomen publice enarrando Neapoli restituit,
Discipuli meraoriae causa**).
Ingrassias Verdienste um die Anatomie beziehen sich vorwiegend
auf die Osteologie^ die er mit einer Sorgfalt bearbeitete, welche späteren
Forschern nur wenige Entdeckungen übrig ließ; er war einer der
ersten, die Vesals Verdienste um die Anatomie anerkannten. Auch für
die Chirurgie leistete er Ersprießliches, und selbst die Greschichte der
Epidemien verdankt ihm wertvolle Beiträge. Sein wichtigstes ana-
tomisches Werk wurde von seinem Enkel lange nach seinem Tode heraus-
gegeben und enthält manche dem Vesal entnommene Abbildungen: In
Galeni librum de ossibus doctissima et exspectatissima commentaria.
Panormi. Ed. post mortem 1603.
Was im letztgenannten Werke in Bezug auf die Anatomie des Ge-
hörorgans enthalten ist**), kommt allerdings nur zum Teil auf Rechnung
seiner eigenen Leistungen, da er bis zur Vollendung seines Werks wohl
reichlich Gelegenheit fand, die Werke Falloppios und Eustachios
zu benutzen. Immerhin muß auch die Berücksichtigung der Leistungen
seiner Zeitgenossen ihm als Verdienst angerechnet werden, wenn man
bedenkt, wie dürftig die Anatomie des Ohres von den zeitgenössischen
deutschen und französischen Anatomen behandelt wird.
Nach einer Beschreibung der Ohrmuschel und des äußeren Gehör-
gangs schildert er die Trommelhöhle, deren wichtigste Bestandteile und
Erhabenheiten er fast vollständig aufzählt. Er beschreibt die Gehör-
knöchelchen, von denen er, wie erwähnt, den Stapes bereits im Jahre 1546
entdeckt und zuerst beschrieben hat, femer die beiden Fenestrae, die
Chorda tympani, und bildete den angeblich von E u s t a c h i o entdeckten,
jedoch bereits von Vesal erwähnten Hammermuskel ab, den er aber für
einen Nerv hielt. Die Existenz der Tuba Eust. war ihm bekannt;
er vermied es aber auf die morphologischen Verhältnisse näher einzugehen.
DieCellulae mastoideae beschrieb er besser als Vesal. Vom
inneren Ohr erwähnt Ingrassia die Schnecke und die halbzirkel-
förmigen Kanäle und gibt eine klarere Beschreibung derselben als seine
Vorgänger. Den N. acusticus trennte er als Portio moUis vom Ge-
sichtsnerven; doch hielt er sie für zwei Zweige eines gemeinschaftlichen
Stammes. Seine größte Ruhmestat ist die Auffindung des Stapes, die
ihm im Jahre 1546 durch Zufall glückte^). Die Entdeckung wurde ihm
jedoch von Eustachio, Realdo Colombo, dem spanischen Anatomen
Collado und eine Zeitlang auch von Falloppio streitig gemacht; und
*) Vergl. Arcangelo Spedalieri: Elogio storico di Giov. Filippo Ingrassia.
Milano 1817.
**) 1. c. p. 57.
gg Ingrassia.
es muß zugegeben werden, daß möglicherweise einer oder mehrere der
Genannten unabhängig von Ingrassia dieselbe Entdeckung gemacht
haben können.
Der Streit über die Priorität der Entdeckung des Stapes zog sieb längere Zeit
hin, um schließlich zu Gunsten Ingrassias zu enden. Ccfllados') Ansprüche
wurden deshalb hinfällig, weil sie viel zu spät kamen. Falloppio, der wohl un-
abhängig von Ingrassia den Steigbügel sah, trat sofort, als er erfuhr, daß Ingrassi.a
das Enöchelchen schon früher entdeckt habe, von seinem Ansprüche zurück and
betonte mit der ihm eigenen Gerechtigkeitsliebe und Bescheidenheit Ingrassias
Verdienst.
Durch Falloppios beweiskräftige Behauptung wurden somit auch Colombos*)
Prioritätsansprüche zurückgewiesen. Von Eustachio ist wohl mit Sicherheit anzu-
nehmen, daß er unabhängig von Ingrassia den Stapes gefunden hat, aber nach
allem zu schließen erst nach Ingrassia. Morgagni und Hall er dürften zu weit
gegangen sein, wenn sie Eustachio als Entdecker des Stapes erklären, indem sie
sich von der Erwägung leiten ließen, Ingrassia könnte, da sein Werk so spät voll-
endet war, die Errungenschaften seiner Vorgänger benützt und als die seinigen aus-
gegeben haben. Vesal*) und Royter**^) erklären sich entschieden für die Priorität
Ingrassias.
Den hier skizzierten Forschungsergebnissen Ingrassias wäre
noch hinzuzufügen, daß sich in seinem Werke neben zerstreuten gehörs-
physiologischen Bemerkungen von geringem Werte eine wichtige Be-
obachtung findet, nämlich die Beobachtung der Leitungsfähigkeit
der Zähne für den Schall. Diese Angabe und die Auffindung des
Stapes sichern ihm wohl für alle Zeit einen Ehrenplatz in der Geschichte
der Ohrenheilkunde.
') Die Stelle lautet: Quo autem modo id ossiculum primo nobis cognitum
fuerit, dum publice Neapoli theoricam et practicam, ambas medicinae sie Tocantor
partes, atque anatomen quoque profitemur; id tertium non invenimus, sed reperimos;
ipsum enim minime quaerebamus, quia nuUam de eo notitiam, neque suspicionem
habebamus. Sealpro autem malleoque auris ossa percutientes ut internas cavemulas
et in i]i8is contentas substantias circumstantibus scholaribus nostris ostenderemos, ubi
jam duo priora ossicula demonstraveramus , tertium id ossiculum nescio quomodo
in tabulae piano, casu potius inspecimus: quod inspectum, consideratumque ac ada-
mussim perpensum, non ex acoidenti, sed ex naturae proposito factum esse decrevimus.
Unde autem resilierit et (|uis ejus esset usus ignorabamus. Statim igitur alionim
animalium praesertimqiie boum diversa capita, quae in macellis non defuerant, dis-
secare aggressi sumus, facillimeque singulas ossis in quo auditus sit partes observando,
alteri tandem , longiori scilicet termiorique ineudis cruri annexum pendensqoe id
tertium ossiculum invenimus: indtsque quam primum ad humani capitis disaectionem
reversi perpetim illud vel clausis oculis invenimus. cui quidem vestigando staphae
primum nomen imposuimus, (|uia longe majorem similitudinem hoc ossiculum habet
cum stapha, seu stapede, ([uam alia duo cum malleo et incude . . . 1. c. p. 7 et seq.
'^) Aliud OS repori cui , quod simile est equitando instrumento quo pedes
firmantur, stapedis nomen imposui. Collado (vide Morgagni, Epistel, anatom.,
Kpist. VI. Cap. o. p. IK)) adversaria s. commentaria medica. Genevae 1615.
Falloppio. g9
») RealdoColombo sagt in seinem Werke De re anatomica, Lib. I, Cap. VII:
„His tertium (sc. ossiculom) accedit nemini, quod sciam, ante nos cognitum.*
*) Vesal, Opera omnia Lugdan. Batav 1725, tom II, p. 771 bemerkt: »Post-
quam audivissem tertium quoque ossiculum quoddam repertum, ego illud mox inveni,
hocque tarn ezig^um esse conspiciens, observatoris Ingrassiae siculi praestantissimi
operam laudavi, comparationemque cum stapede apud neapolitanos eqnites factam,
jucunde recepi."
*) Koyter, Extern, et intern, part hum. corp. Tab. etc. Norimberg 1572:
Haec tria ossicola priscis fuere incognita, duo a Jacopo Carpenai, unum a Joan.
Philippo Ingrassia siculo inventum.*
Gabriele Falloppio.
In der Reihe der berühmtesten Anatomen der Renaissancezeit ragt
der Modenenser Falloppio dadurch hervor, daß er Größe des Wissens
mit einer seltenen Erhabenheit des Charakters vereint. In ihm erschien
das Ideal eines bedeutenden Gelehrten verkörpert. Nach dem überein-
stimmenden Urteile seiner Zeitgenossen übertraf Falloppio seinen
Meister Vesal an Genialität, namentlich in der Ergründung der schwie-
rigsten und dunkelsten Partien des Nervenverlaufs und des Baues der
Sinnesorgane. Seine in schlichten Worten abgefaßten Schriften und
Abhandlungen enthalten eine solche FüUe neuer Tatsachen, daß man sie
in ihrer einfachen und klaren Darstellung mit Recht als klassisch be-
zeichnen darf. Die hohe Bedeutung seines Wirkens für die Anatomie
des Ohres läßt es gerechtfertigt erscheinen, daß wir im folgenden eine
Skizze seiner Persönlichkeit und seiner wissenschaftlichen Leistungen
entwerfen.
Gabriele Falloppio (Faloppio, Faloppa, Faloppius, selbst
Foloppia'^geschrieben , die Schreibart ist unsicher; 1523—1562) wurde
zu Modena 1523 geboren und stammte aus einer der berühmtesten
Familien Italiens. Von der Natur mit den glänzendsten geistigen und
körperlichen Gaben ausgestattet, wandte er sich trotz großer Entbehrungen
wissenschaftlichen Studien zu und trieb anfangs mit großem Eifer Philo-
sophie und die schönen Wissenschaften, wandte sich aber bald der Medizin
zu. In hohem Maße fühlte er sich zur Anatomie hingezogen, in der er
später so Hervorragendes leistete, daß er als der Begründer der italieni-
schen Schule anzusehen ist, aus welcher die bedeutenden Anatomen aller
Länder hervorgegangen sind. Er verdankte seine großen Kenntnisse zum
Teil dem Umstände, daß er viele Universitäten aufsuchte und mit an-
gesehenen Forschem seiner Zeit in regen freundschaftlichen Verkehr trat
unter anderen mit Ingrassia, Colombo, Cannanus, Madius und
Bartholinus. Ob er jemals Vesals Schüler gewesen, ist nicht gewiß
Durch seine hervorragenden Geisteseigenschaften, durch seine liebens-
würdige Bescheidenheit und durch das feine Taktgefühl, mit dem er die
90 Falloppio.
Verdienste der Vorgänger anerkannte und pietätvoll ehrte, gewann er
überall Freunde und wurde eine der beliebtesten Persönlichkeiten des
Zeitalters. Nur mit dem schroffen Eustachius scheint auch er trotz
der Weichheit seines Charakters nicht in gutem Einvernehmen wie mit
allen übrigen gestanden zu sein. Schon mit 24 Jahren wurde er Pro-
fessor zu Ferrara, bald darauf zu Pisa. Im Jahre 1551 erhielt er einen
Ruf nach Padua, wo er seine Studien begonnen hatte, und wirkte daselbst
als Lehrer der Anatomie und Botanik, zugleich aber auch als Praktiker,
namentlich in der Chirurgie, in der er einen solchen Ruhm gewann, d&8
ihm der Ehrennamen „Aeskulap seines Jahrhunderts" zugeteilt
wurde. Noch über den Tod (1562) hinaus ehrte ihn Padua dadurch,
daß es zu seinem Nachfolger auf den Lehrstuhl, der zwei Jahre unbesetzt
blieb, zuerst Vesal berief. Da dieser auf der Fahrt nach Italien Schiff-
bruch litt und in Zante (1564) starb, unterblieb das seltene Schauspiel,
daß ein Lehrer dem Schüler im Amte nachfolgte.
Es gibt fast kein Gebiet der Anatomie, welches von Falloppio
nicht durch wichtige Entdeckungen bereichert worden wäre, die Früchte
sorgfältigster, mühevollster Untersuchungen. Erinnern doch die Be-
nennungen der Tuben, des Ligamentum ciliare, des Aquaeductus (jetzt
Canalis facialis) allezeit an ihn und beweisen, auf welch verschiedenen
anatomischen Gebieten er sein Talent betätigte! Seine zahlreichen Sek-
tionen — er obduzierte durchschnittlich sieben menschliche Kadaver im
Jahre, was damals viel war — ermöglichten ihm eine genaue Beschreibung
des Knochensystems, sowie die von ihm begründete und von seinen
Schülern Fabricius ab Aquapendente und Koyter fortgesetzte Be-
arbeitung der Entwicklungsgeschichte, die sorgfältige Durchforschung^ des
Gesichts- und Gehörorganes.
Sein bestes und umfassendstes Werk, das trotz der Kürze mehr
enthält als die voluminösesten Folianten anderer, sind die «Obser-
vationes anatomicae***). Venet, 1561. 8. (1562. 8. 1571. 8. Par, 1662.
— Francoforti 1584. Colon. 1562. 8. Venet. 1606). Haller fällte über
dasselbe folgendes schmeichelhafte Urteil: „Eximium opus est, cui nullum
priorum coraparari potest* **).
Obwohl ihm die Anatomie so viel Neues verdankt, unterließ er es
doch niemals, die Verdienste anderer voll anzuerkennen und bewahrte im
'*) Siehe lerner: Lectiones Gabr. Falopii de partibus similaribus humani cor-
poris. Kd. Coiter 1575.
**) Außerdem rühren von Fallopio her: Lectiones de partibus similaribus
corporis humani. His accessere diversorum animalium sceletorum ezplicationes
iconibus illustratae. Norimberg 1575. Opera omnia, Venet. 1584, enthalten auch auf
praktische Medizin bezügliche Abhandlungen Falloppios nach den Aufzeichnungen
seines Schülers Marcolini.
Tafd III
Falloppio. 91
wohltuenden Gegensatz zu Realdo Colombo rühmenswerte Pietät für
Vesal, als dessen Leistungen in mancher Hinsicht bereits überholt waren.
Was die meisterhafte Beschreibung des Ohres betrifft, so teilt er
diesen Ruhm nur mit Eustachio, den er aber, wie überhaupt in der
Neurologie, in der Kenntnis des Acusticusverlaufs weitaus überholte. Er
selbst erkennt den Wert seines Fleißes auf diesem Gebiete, wenn er
sagt: „Scias autem, quod si qua in parte anatomes laboravi ac infundavi,
haec illa fuit, ut apertis oculis cognoscerem auditorii organi structuram
atque huius quinti nervi ductum* *).
Falloppio untersuchte das Gehörorgan in verschiedenen Alters-
perioden und fand, daß schon in sehr frühen Entwicklungsstadien die
Teile, wie sie sich im Ohre des Erwachsenen finden, vorhanden sind ^).
Vom Process. styloid. bemerkt er, daß er anfangs knorpelig und
leicht abtrennbar sei und behauptet, daß der Process. mastoideus
bei Neugeborenen fehle, sich aber mit dem weiteren Wachstume nach
und nach zur normalen Größe entwickle. Die Kommunikation der
Cellulae mastoid. mit der Trommelhöhle war ihm bekannt. Wichtig
ist seine Entdeckung, daß der Trommelfellring beim Fötus von dem
übrigen Schläfenbeine getrennt sei und später mit ihm verwachse*); nach
Falloppio verleiht der Annulus tympanicus dem Trommelfell ge-
nügende Spannung. Von der Membrana tympani selbst gab Fal-
loppio die erste exakte Beschreibung, namentlich was ihre Neigung an-
belangt, so daß späterhin kaum mehr etwas Wesentliches hinzugefügt
werden konnte ^). Er weist durch schlagende Gründe die Ansicht seiner
Vorgänger zurück, die das Trommelfell von der Dura mater herleiteten.
Falloppios Kenntnisse von der Trommelhöhle, welcher er
wegen der Aehnlichkeit mit der Trommel den Namen „Tympanum** gab,
wobei die vorgespannte Membran das „tertium comparationis" abgibt*),
sind für seine Zeit vollgültig. Er beschreibt die drei Gehörknöchelchen,
die beiden Fenestrae, das Promontorium, die Chorda tympani und
fand den nach ihm bezeichneten Canalis sive Aquaeductus, welcher
den N. facialis in seinem Verlaufe durch das Schläfenbein in sich schließt.
Von weiteren Details beschreibt Falloppio die Insertion des
Hammers am Trommelfell, die gelenkige Verbindung des Caput
mall ei mit dem Incus und unterscheidet zwei Fortsätze des Amboßes,
einen kürzeren dickeren, der an der Wand oberhalb des Aquaeductus
fixiert ist, und einen längeren zarteren, der sich mit dem Stapes
verbindet, welch letzterer das höher gelegene Fenster mit seiner Basis
verschließe. Die knorpelige Gelenkverbindung der Gehör-
knöchelchen wird von ihm erwähnt. Zu seinen wichtigsten Ent-
') Obierv. anat. p. 289.
92 Falloppio.
deckungen zählt der Aquaeductus (Canalis Falloppiae). Die Entdeckung
dieses Kanals datiert vom Jahre 1561. Er beschreibt seinen Verlauf
so anschaulich, daß wir nicht umhin können, die ganze Stelle hierher
zu setzen. Observ. anat. p. 46:
Tertium, quod ego observatione digDum existimo, canalis quidam osaeus est,
qui recto huius cavitatis quasi subtenditur exitque extra calvariam post radicem,
calcaris int er illam ac mammillarem processum. Nam si reete inspicias, videbis quintum
par nervonim a reliquis anatomicis ita vocatum, extendi ad medinm ferme processum
oasis temporum, quem intemum atque petrosum appellamus, illuc tensum hoc par
ingreditur in canalem quendam insculptum, in quo latens in duas finditur partes,
alteram quendam magnam, alteram vero parvam et gracilem valde dnrioremque.
Haec posterior perforato osse occulto quodam canali, versus anteriora capitis serpit,
deinde rcflexa, tympanumque ingressa proprio hoc canali osseo deorsum etiposteriora
versus ad pinnae ipsius auriculae radicem erumpit et disseminatur ut suo löco
dicam. Via igitur istius nervi canalis hie est, de quo loquor et aquaeductum a
similitudine appello.
Aus dieser trefflichen Schilderung geht zugleich das Widerstreben
hervor, mit dem er Facialis und Acusticus als einen Nerv im Sinne seiner
Zeitgenossen auffaßt, und er entschuldigt sich gleichsam der Nachwelt
gegenüber, daß er dies getan habe, um nicht zu sehr von jenen ab-
zuweichen^).
Seine Beschreibung der Chorda tymp. ist unrichtig, da er es|. un-
entschieden läßt, ob sie ein Nerv oder eine kleine Arterie sei*).
Das innere Ohr teilt er in zwei Höhlen, deren erste (secunda
eavitas) die Bogengänge und das Yestibulum umfaßt und von ihm
Labyrinth') genannt wurde; während er die zweite als Schnecke,
Cochlea (tertia eavitas) bezeichnet. Seine Schilderung des Labyrinthes
ist viel genauer als die seiner Vorgänger und übertrifft an Exaktheit die
seiner nächsten Schüler und Nachfolger, Koyter und Fabricius ab
Aquapendente.
Was die einzelnen Details des Labyrinthes anbelangt, so wird das
Vestibulura nur kurz beschrieben. Die Bogengänge hält er für kreis-
förmig*); seine Angaben über die Lage der Schnecke im Felsenbein
stimmen mit der gegenwärtig geltenden überein. Die Schnecke selbst
besteht nach Falloppio aus drei Windungen®). Das runde Fenster
hält er für den Anfang der Schnecke. Er beschrieb zuerst das Spiral-
blatt der Schnecke und wußte, daß sich das Labyrinth in Bezug auf
Form, Grc'iße und Räumlichkeit nach der Geburt wenig ändere.
Ueber die Nervenausbreitung des N. acusticus weiß er nur, daß
mehrere Xervenzweigchen durch drei oder vier Löchelchen des inneren
Gehörgangs zur Membran hinziehen, welche die Schnecke im Innern
auskleide oder vielleicht durch diese gebildet werde. Genauere Det-ails
■-■) 1. c. i>. 48.
Falloppio. 93
über die Endausbreitung der Hörnerven konnte Falloppio aus Mangel
an einer feineren Zergliederungstechnik nicht finden, weil diese Eanälchen
selbst mit einer Borste nicht sondiert werden konnten*).
Eine besondere Sorgfalt verwendete Falloppio auf die Unter-
suchung der Ohrmuschel, deren Muskeln er zuerst exakter schilderte.
Er beschrieb zuerst den Emporzieher des Ohres, kannte den Rück-
wärt szieher und zerlegte diesen, den Retrahentes entsprechend, in drei
Teile. Vom Platysma nahm er an, daß es die Ohrmuschel nach abwärts
bewegen könne**).
Falloppios naturwissenschaftlicher Blick erkannte die Mangel-
haftigkeit der damaligen Hörtheorien. Er gibt daher nur wenige
physiologische Notizen, darunter eine über die harmonische Bewegung
der Gehörknöchelchen*) und einige Bemerkungen über den Nutzen der
einzelnen Teile des Gehörorgans, z. B. über den Nutzen des Schiefstands
der Membrana tympani^^).
Die Gesamtausgabe der Werke von Falloppio***) enthält nur spär-
liche Andeutungen über die Behandlung der Ohrenkrankheiten.
Bei gewissen chirurgischen Eingriffen am Ohre empfiehlt er den Ge-
brauch des Ohrenspiegels (speculum). Bei Polypen im Gehörgange
rät er, um eine Verletzung der benachbarten Teile zu vermeiden, eine
bleierne Röhre bis zur Neubildung vorzuschieben und dann durch diese
den Polyp mit einer in Schwefelsäure getauchten Wieke zu ätzen. Trotz
seiner ausgebildeten anatomischen Kenntnisse war Falloppio noch in
dem Irrtume befangen, daß der eiterige Ausfluß aus dem Ohre ein
Exkrement des Gehirns sei und daß die Otorrhoe bei Kindern überhaupt
nicht, bei Erwachsenen jedoch nicht mit austrocknenden und zusammen-
ziehenden, sondern mit milden und ableitenden Mitteln behandelt werden
solle. Aus diesem Grunde spricht er sich gegen eine Behandlung der
Otorrhoe durch „Repellentia" aus und empfiehlt die Anwendung pulver-
förmiger Medikamente, die in den Gehörgang eingeführt werdenf).
Eine eigentümliche Ansicht hatte Falloppio über die Entstehung
der subjektiven Gehörsempfinduugen, die er der Ansammlung von
Dünsten im Kopfe zuschrieb, welche sich einen Ausweg bahnen wollen
und durch ihre Bewegung das Tönen veranlassen. Bemerkenswert ist,
daß Falloppio bereits die Uriheilbarkeit des luetischen Ohr-
geräusches kannteft)-
*) 1. c. p. 50.
**) 1. c. p. 102.
***) Opera omnia, Francoforti 1616. Tom. I, Tom. II, Tract. VIII, Cap. 2, p. 287;
Cap. 11, p. 690; Cap. 80, p. 731; Cap. 100, p. 748.
f ) Tom. II, Tract. VIII, Cap. 2, p. 238.
ti) De morbo Gallico, Tom. I, Cap. 11, p. 690.
94 Falloppio.
So schätzenswert die Arbeiten Falloppios im ganzen för die
Medizin der damaligen Zeit sind, so muß doch den „Observationes ana-
tomicae* unter seinen Schriften die Palme zuerkannt werden. Hierfür
spricht die Tatsache, daß sie den Meister Yesal zu genauen Nach-
forschungen anregten, die er in seinem „Examen observationum* nieder-
legte. Aber selbst jetzt noch gewinnen wir bei der Lektüre dieses
Werkes den Eindruck, daß wir es mit einem Anatomen ersten Ranges
zu tun haben. Treffend charakterisiert ihn der Nachruf Hallers:
„Candidus vir, in anatome indefessus, magnus inventor et in neminem
iniquus.**
Als der unermüdliche Gelehrte 1562 im blühendsten Mannesalter
für immer die Augen schloß, herrschte an den italienischen Universitäten,
und auch im Auslande, allgemeine Trauer über seinen Verlust. Die
ganze dankerfüllte Bewunderung seiner Schüler drückt sich in der ihm
gewidmeten Grabschrift aus, welche lautet:
^Fallopi, hie tumulo solns non conderis, una
Est pariter tecum nostra sepulta domos.*
^) In puerulis auditus Organum integerrimum est, quod probent prima, secunda
et tertia cavitas, incus, malleolus, stapes ossicula minima, quae partes omnes inte-
gerrimae sunt, neque per transversum pilum in puero unius diei distant ab iisdem
in senio decrepito. 1. c. p. 37.
^) Qui (sc. annul. tymp.) ut ego observavi, in calvariis puerorum ferme usqne
ad septimum mensem per cooturam sejungi potest. Quoniam cartilagine (ut multae
aliae appendices) reliquo ossi incrustatus est. 1. c. p. 39.
^) Extenditur autem ipsa non per transversum sed oblique, veluti ei scriptorium
oalamum oa parte, qua derasum et attemperatum dicitur, tensa membrana obstm-
amus : haec enim non per transversum sed oblique calamum claudet. 1. c. p. 40.
*) Ob eam <{uam habet cum militari tympano similitudinem. l. c. p. 24.
') Sed quoniam alii anatomici hie asserunt, ne ab ipsis in omnibus dissentiam,
pariter et ego quintum par constare ex parte dura atque molli. 1. c. p. 289.
^) Attenditur illi articulo tantum, quo stapes cum altero crure incudis copu-
latur(!) Quidam nervulum id opinati sunt. Ego quid sit. aperte fateor, ignoro.
1. c. p. 48.
') Cum igitur haec eavitas valde minor priore (tympano) tot habeat meatus
et cuniculcs, merito labyrinthus dicetur. in quam prospicit fenestra ovalis clausa a
^tapede et altera orbienla. quae otiam in eoecam cavitatem tendit. . . Obs. anat. p. 48.
■^l Unde Cochlea, vcl cochlearis eavitas, vel coeea etiam est dicenda. L c.
^) Airitata vel eoneussa myrin<;e, malleolum moveri et incudem et stapedem,
aut apertn üinu . acu quodain uiio ex his ossieulis agitato, reliqua duo simul etiam
eonsentire. Morjragni. Ep. anat. XIII. p. 482.
^") Ictus enim obliquus minus laedat quam <|ui recte fertur. Obs. anat. p. 40.
Bartkolomeo Kustaehio.
Zu den größten Pfadfindern in der Otologie gehört Bartholomäus
Eustachius (lolo — 1574), einer der bedeutendsten Anatomen seiner
Bartholomeo Eustachio. 95
Zeit, der von manchen selbst höher als Falloppio geschätzt wurde.
Leider sind uns nicht alle seine Werke erhalten, doch findet sich in den
vorhandenen so viel Neues und Wertvolles, daß man sich in vollster
üeberzeugung dem Ausspruch Hallers anschließen kann: ,,Quae nova
Eustachius invenerit, nuUa paene ratione enumeres, adeo sunt infinita."
Das Charakteristische an seiner genialen Forschungsweise ist, daß er der
erste war, der sich nicht bloß mit der anatomischen Formenlehre be-
gnügte, sondern auch den inneren Bau der Organe, deren Struktur zu
erforschen bestrebt war.
Ueber seinen Lebenslauf ist nur Spärliches bekannt, nicht einmal
sein Geburtsjahr ist sichergestellt. Man setzt es gewöhnlich gegen 1510
an, sicher fällt es in das Ende des 15. oder in den Anfang des 16. Jahr-
hunderts. Selbst über den Geburtsort ist man nicht einig. Drei Städte
streiten um die Ehre, San Severino in Kalabrien, San Severino bei
Salerno und San Severino in der Mark Ancona. Letzteres ehrte sein
Andenken durch Aufstellung einer Marmorbüste. Eustachio studierte
zu Rom, wurde Leibarzt des Herzogs von Urbino, ging dann mit dem
Kardinal della Rovere wieder nach Rom, wo er Stadtarzt und Professor
der Anatomie an der Sapienza wurde. Er erwarb sich nicht nur als
Anatom und Arzt, sondern auch als Philosoph und Philolog einen großen
Ruf bei seinen Zeitgenossen. Seine Werke zeichnen sich vielfach durch
schöne Diktion aus im Gegensatze zu dem oft barbarischen Stile seines
Zeitalters.
Chronische Gicht zwang ihn in den letzten Lebensjahren, auf die
Professur zu verzichten, doch behielt er seine Stelle als päpstlicher Leib-
arzt bei. Er starb im August 1574 in Fossombrone auf einer Reise zu
dem Kardinal della Rovere.
Eustachios Charakter ist psychologisch dadurch interessant, daß
er trotz seiner eigenen glänzenden Entdeckungen in allen Teilen der
Anatomie doch das Ansehen Galens nicht nur hochhielt, sondern fana-
tisch zu stützen und insbesondere gegen Vesal zu verteidigen suchte.
Seine hieraus sich ergebende Polemik war die Ursache, daß er oft bitter
und unduldsam gegen andere wurde und in seinem tendenziösen Tadel
gegen den Neuerer Vesal dessen große wissenschaftliche Bedeutung
ganz und gar verkannte. Namentlich Vesals Beschreibung des Gehör-
organs tadelt er so heftig, daß er sich zu dem Ausspruch versteigt, es
sei darin nicht eine Spur von Wahrheit enthalten. Wenn uns dieser
Tadel Eustachios zu heftig erscheint, so muß doch zugegeben werden,
daß der die Ohranatomie betreffende Teil von Vesals klassischem Werke
vielfache Irrtümer enthält, die nur dem mangelnden Interesse Vesals
für diesen Teil der Anatomie zuzuschreiben sind. Haller fällte über
Eustachios intellektuelle und moralische Eigenschaften das treffendste
96 Barthol omeo Eustachio.
Urteil in den" Worten: „Vir acris ingenii, parcus laudator, sed ad in-
veniendum et ad subtiles labores a natura paratus, omnium quos novi
anatomicorum, plurima inventa plurimasque correctiones ad perficiendam
artem attulit"*).
Von den Werken Eustachios sind als die bedeutendsten hervor-
zuheben :
1. Opuscula anatomica, Venet. 1563, in welchem die ,,Epistula
de auditus organis**, p. 153, enthalten ist**).
2. Tabulae anatomicae cl. viri Bartholomaei Eustachii, quas e
tenebris tahdem vindicatas, et sanct. Dom. Clementis IV, Pont. max.
munificentia dono acceptas, praefatione notisque illustravit Jo. Maria
Lancisius, intimus cubicularius et archiater pontificis^ Romae 1414, in
fol. Editio 1728***).
Die Tabulae, welche Eustachio (nach einer Stelle in „De renum
structura" c. 16, p. 44) schon im Jahre 1552 durch Giulio de Musi
stechen ließ, erschienen nicht bei Lebzeiten Eustachios. Wie Eustachio
in der Einleitung zu den Opuscula erwähnt, hatte er die Absicht,
46 Kupfertafeln herauszugeben, wurde jedoch durch Alter und Krankheit
daran gehindert. Nach seinem Tode gingen die Kupferplatten an seinen
Verwandten Petrus Pinus über und galten durch 150 Jahre für verloren,
bis sie der päpstliche Leibarzt Lancisi bei den Erben des Pinus auffand
und sie 1714 zuerst herausgab. Der Zweck dieser Tafeln, welche nach
jungen Kadavern gearbeitet zu sein scheinen, war einerseits der, die
Behauptungen Vesals, anderseits die Entdeckungen Eustachios in
das richtige Licht zu stellen. Ein Kommentar des Eustachio zu diesen
Tafeln hat sich nicht vorgefunden und fehlt auch heute noch.
Die Leistungen Eustachios in der Anatomie des Ohres
müssen als hervorragend bezeichnet werden, und aus der Vorliebe, mit
der er sich gerade diesem schwierigen Gebiete zuwandte, erklärt es sich,
daß er nicht wenig Neues den Entdeckungen seiner Vorgänger hinzu-
fügen konnte. Diese Untersuchungsergebnisse sind in dem Abschnitte
Epistula ^De auditus organis*", in den genannten „Opuscula anatom.*^!)
niedergelegt.
In der Einleitung gibt er einen kurzen historischen üeberblick,
wobei er sich die Entdeckung des Steigbügels zuerkennt und behauptet,
M Bibl. Anat t. I, p. 223.
**) Die Kpistüla „De Audit. org." findet sich in den späteren Ausgaben: Lug-
duni Batavorum 1707. p. 134, und in Editio Delphis 1726, p. 125.
*''^') Verj^l. ferner die vortrefflichste Ausgabe dieser Tafeln Bernardi Sigfried
Albini. P^xplicatio tabularum anatomicarum Barthol. Eustachii, castigavit auxit
denuo edidit. Loidae, fol. 1744, 1761.
7) Im nachstehenden habe ich die Editio Delphis 1726 benützt.
Bartholomeo Eustachio. 97
denselben vor Ingrassia demonstriert und abgebildet zu haben ^). Sein
wichtigstes Argument, womit er Ingrassia diesen Ruhm streitig zu
machen sucht, besteht darin, daß er so viele andere verborgene Teile
des Gehörorgans aufgefunden habe, die zur Zeit den übrigen, selbst
dem Ingrassia unbekannt gewesen wären. Bei der Wahrheitsliebe
Eustachios ist kaum daran zu zweifeln, daß er und ebenso Realdo
Colombo unabhängig von Ingrassia den Steigbügel entdeckten. Waren
doch die anatomische Forschung jener Periode und der Ehrgeiz, sich
durch neue Entdeckungen einen bleibenden Namen zu erwerben, so
rege, daß es nicht überraschen kann, wenn ein so leicht auffindbares
Knöchelchen von mehreren Forschern gleichzeitig entdeckt wurde.
Mit besonderer Schärfe kritisiert er sodann mit Recht Vesal,
namentlich wegen seiner Darstellung des Verlaufs und der Verzweigung
des Antlitz- und Gehörnerven und seiner allzu oberflächlichen Beschrei-
bung des so kompliziert gebauten Gehörorgans*).
Nach dem geschichtlichen Abriß folgen die eigenen Entdeckungen
des Eustachio. Die Erwägung, daß überall, wo gelenkige Verbindungen
bestehen, auch ein Muskelapparat da sei, der die Bewegung besorge,
leitete ihn dahin, nachzuforschen, ob es nicht auch für die Lokomotion
der Gehörknöchelchen einen eigenen Muskel gebe. Wir wissen, daß
bereits Vesal und Ingrassia einige Kenntnisse von dem Tensor
tympani*) hatten, immerhin gebührt Eustachio das Verdienst, eine
exakte, unzweideutige Beschreibung desselben geliefert zu haben,
welche noch dadurch wirksam unterstützt wird, daß er genau angibt,
wie man den Muskel leicht auffindet. Eine Abbildung des Tensor
tympani, der beim Hunde mit einer fleischigen Drüse verbunden sei,
findet sich in der Tabula septima seiner anatomischen Tafeln*).
Die Schilderung der Präparation dieses Muskels zeigt, wie klar
und genau seine Anweisungen sind ; daß in die Stelle mehr hineingelegt
wurde, als dem Forscher wirklich bekannt war, ist nicht zutrefltend.
„Diese Präparation des Muskels," setzt er hinzu, „ist zweifellos schwer,
aber bei öfterer Uebung nicht zu verfehlen.** Man dürfe nicht glauben,
daß man den Muskel bei großen Tieren leichter als beim Menschen
auffinden könne. Er finde sich bei allen, aber bei den meisten sei er
noch viel kleiner als beim Menschen. Viele Anatomen hätten die
falsche Ansicht, daß die Größe der Körperteile ihrer Funktions-
wichtigkeit entspreche. Dies sei aber ganz falsch, nament-
lich beim Gehörorgan. Die Entdeckung des Trommelfellspanners sei
sehr wichtig, denn sie gewähre einen Einblick in das Wesen der Gehör-
funktion und zeige, wie unvollkommen die bisherigen Anschauungen waren.
*) Dieser Terminus ist erst später von Albinus in die Nomenklatur ein-
geführt worden.
Politzer, Oeschichte der Ohrenheilkunde. I 7
o- rJirt&ii'.is*-:-
h'.r: • i '.' r i i : T E: t« a L ! rrfkar-ütie £u«ta*:hio zoerst mit Toller
Brrsrjx::L:i'lT 'a> NrrT -z.i "^i&ie. 'iaö ?ie mh dem CreschmacksnerTen
T.ii irlr:^- A-* ie^ Triseniitus in Verbii;d:iEg stehe *>-
Di- ZTvitr verdien*' um die Ohrazutomie enrarb sich Eastachio
c. ."•:•: cir zer^-r >.£iidrr;:r.j? der Gt^alt. der Stnikuir imd des Verlaufs
i^r -ivi. iLn beze:c'Lr.eT«en Ohrircinp»ete Zwar hatten, wie wir sahen.
s'.i.:c i:^ AlT*rL. LameLtlich Aristoteles and Celsus. femer VesaP«
■j^i Ii.jri--ia*. eine -r-klare Vorstellanir ron der Eidstenz dieses
Käi^ils: E-s:acL:o j-ri-xrh war es. der ihre Morphologie zuerst on-
zireir'-irliifT *:•: herstellte. Wie wenig Beachtung die Ohrtrompete von
iri. z^.zzr:z.o^^i.^:'n^Ti AtÄtomen fand, geht daraus herror. daß sie Ton
le." Silier des Falloppio. Fabricias ab Aquapendente. nicht
r.miL. erwi;i.L: wird ucd daß auch spatere Anatomen wie Biolan.
ft i r : - -• 1 1 r. : . T u 1 p i u s . S •:■ h n e i d e r u. a. eine falsche Beschreibimg
■le--r- Kiiritls ::e:erteL. oder ffar mit dem Aquaedactos FaDoppü rer^
EisTa«:t;o vergleicht die Taba mit einer Schreibfeder. Sic ziehe
toi: 'ier Basis cr?»r»i: uci seitlich nach vorne und sei fpegen den Proc.
pTerriroii. ö-rs Keilbeins g^rrichtet. Zwei Teile setzten die Ohrtrompete
zusaniine!:. ei::r dem *Js tea-i». angehörende feste, der PankenhöUe naher
grleger.e. uni eine weinhe. teil< knorf*elige. teil« ligamentöse Partie.
wri'.Le ffegea den cinTertrn Nasenrachenraum gerichtet sei. Der Qaer-
schiir: sri licl: regelmäßig mnd und im inneren Teile zweimal breiter
oi- '.ii: ajöerer. Die erstere. welche dem Na.<enraum zugewendet ist,
--r. nJ: rir.er >■ LIeimhaut überkleidet und scheine am Aus^ranfr einen
^phir.ktrr zi bilden. Diese Schleimhaut bilde die Fortsetzung der Nasen-
s L-riri/LauT. Il den Tabulae de> E'jstachio vermissen wir eine Ab-
•■ijd.r.ir ier Ohrtr-i-nir-eie.
m
Eu-:ä«:h.'> be-.hrieb r.i-jht nur die Tube, er erkannte auch den
irrir!- ^V-rr: meiner Enid»:'.k-.:r-ir itr die Phvsioloffie ond Therapie. ,Erit
r'..:i:L Mei:-::- üui..- Meatus Cv'ar.iti«» ad rectum Medicamentorum
u-:iL ::.iix:rLr utili- . «rjc-i -^ci-rnt pösthac ab auribus non angustis
:.rö::.:r..'. _> >ri üinplis^iina via posse mat<rrias etiam crassas. vel a natura
"r. Mei:va::.e!::-r.:R: --pe. «yjae masrioatoria appellantnr, commode
-TI T—,
' T^ _ .*■ J '.\T.
L-.ir .vjhrt- -:- irerainir Zeit, bis die Kenntnis der Tube eine
--T — - :■: "^-rie. und erst im IS. .1 ab r hur. den fand diese bedeutungs-
.._-> ...... ;: I .ri>.;'ntn Entdcokuniren -iie entsprechende rationelle Ver-
rr.^j i.r::. iie Anw^ndunir de> Kutbeters.
A_: i.T T..-r. .;■:-:' -eine> Jahrbuniers übte Eustathios Entdeckung
Barth olomi
nicht den gerinRsten Einfluß, insofern als die auf rohe Empirie basie-
rende, von alters her geiäbtö Anwenduuf^ von Gurgel- und Kies-
mitteln den wichtigsten Teil der damaligen Behandlung der Ohren-
krankheiten bildet.
Die bisher aufgezählten Entdeckungen würden genUgen, um Eu-
stachio ftlr alle Zeiten einen Ehrenplatz in der Geschiebte der Otolugie
zu sichern. Nicht minder verdienstvoll sind aber auch seine Unter-
suchungen des inneren Ohres. In seinen Tabulae anatora., welche
Abbildungen venschiedeoer Schnitte der Pars petrosa des Schläfebeins,
der Gehörknöchelchen, des Tensor tyrapani, der Chorda tymp. des Pro-
montoriums und des Vestibulums enthalten (Tab. 7, 18 I. III, 43 11. III,
44 II. III, 46 II), sind auch die Bogengänge und die Schnecke
gut dargestellt. Letztere beschrieb er weit besser als Falloppio. Er
kannte den Schneckenkanal, der nach ihm drei Windungen mache, be-
schrieb genauer als Falloppio das knöcherne Spiralblatt, entdeckte
die Spindel und die häutige Zone der Lamina spiralis ').
Fi)^. 2. Schläfebeindarchschoitt durch Fig. 3. Sehlafebeindurchschnitt durcli
den äußeren GehÖrgang, die Trommel- den äußeren liebörgang, die Trommel-
höhle, den Vorbuf undden CooftliB emoti- höhle, den oberen und horiiontaleu
cus. Photograph. Reproduktion aus de» Bogengang und die Schnecke. Repro-
Tabul. anatomicae. Barth. Eustacbio. duktion aus demitelhen Werke. Taf. 35.
Taf. 33. Kd. Romne 1742.
Den N. facialis, dessen Verlauf Eustachio beschreibt^), und den
N. acusticus ließ er irrtümlich von einem gemeinsamen Stamme ent-
springen: den Gehörnerv verfolgte er bis zur Schnecke, wußte aber
nicht, ob er den Spiralgängen folge oder früher endige.
Auch die Muskeln des äußeren Ohres untersuchte Eustachio
genau und kannte den oberen und hinteren Ohrmuskel, welch letzteren
er fUr einfach, nicht (wie Falloppio) in drei Teile gespalten,
hielt und bildete sie zuerst ab.
Ueber die Physiologie des Hörens drückt sich Eustachio sehr
bescheiden aus, da er wußte, daß die Kenntnisse seiner Zeit zur Er-
klärung nicht hinreichten'). Für sicher schien ihm bloß, daß die Gehör-
100 Bartholomeo Eustachio.
knöchelchen in Bewegung gesetzt werden^®) und daß der Tensor iympani
mit der Schallwahrnehmung in Verbindung stehe, ja für diese notwendig
sei. Die Aktion dieses Muskels glaubte er der Willkür unterworfen und
regte hierdurch eine schwierige Frage an, die noch heute ihrer end-
gültigen Lösung harrt ^^).
Welch reiche Fundgrube Eustachio s Werk darbietet, geht schon
aus unserer, auf das nötigste eingeengten Darstellung hervor. Ingrassia,
Falloppio und Eustachio sind als die ruhmreichen Begründer der
makroskopischen Anatomie des Ohres zu bezeichnen, deren Leistungen
die Zeitgenossen nur Spärliches, die Nachfolger nur feinere Details hinzu-
zufügen vermochten*).
') Kgo quidem scio, me neque edoctum neque monitum ab aliquo, multo ante*
quam ipsi scribant. id ossiculum novisse, Romaeque non paucis ostendisse atque in
aes incidendum curasse. De org. audit. p. 181.
') Qui Anatomicae hodie artis Inventor et quasi Architectus ab omnibus pene
creditur. quintum nervonim Cerebri par, foramine admodum tortnoso, propria ipsius
causa facto, in ca vitalem auditus Organo praeparatam vehi, ibique varie discindi, ac
propagines quasdam , an similitudinem membranae dilatas , huius cavitatis sedibus
oiTerre . atque etiam Auditus Organi non infimam partem constitaere asseiit . . .
1. c. p. 131.
') Sektionsmethode und Beschreibung lauten: Mosculum, quod sciam, nemo
adhuc invenit, tu si illum videre cupis, operta calvaria os incide, quod Petram refert,
eo loco, quo linea minime alte penetrante exsculptum est, et versus tenuiorem ossis
Temporis sedem in anteriorem partem magis eminet, ejosque squammam accurate
detrahe, summa diligentia adhibita, ut subjecta Organa nihil laedas: hoc sane
experta manu ubi efPeceris, statim musculus conspiciendum se exhibebit, qui etsi
omnium minimus sit. elegantia tarnen et constructionis artificio nulli cedit; oritnr
a substantia ligiimentis simili qua parte os, quod Cuneum imitatur, cum temporis
osse committitur, indeque carneus evadens redditur sensim ad medium usque ali*
quando lafcior; deinde vero angustior cffectus tendinem gracillimum produeit, qui in
majorem apophysim ossiculi Malleo comparati . fere a regione minoris apophysis
ejusdem inseritur. p. 135.
*) Poterat sane ad Tympanum, et ad Orgiina Auditus, ab una aut ab alten
portione quinti puris nervorum cerebri commode nervus dispensari; quod tamen minime
factum fuisse cernimus , sed ab altere ejusdem visceris quarti jugi nervorum ramo
exilis quiiedam propago, reflexo itinere juxta illum, quemmodo descripsi osseum
canalem, Aurium ciivuin. in quo ossicula Auditus continentur^ ingreditur et obliqne
Tjmpano, ac deinde ossiculo malleum imitanti supra musculi insertionem adhaerescit
nee ibi desinit. sed ulterius procedens os lapideum in posteriori sede Meatus Auditorii
p',Tfora*- . deorsmiique reflexo pariiniper sepit ac tandem cum tenuiori darioriqoe
TAii.rj q iliiti paris nervorum Cerebri juiigitur et coit. p. 140 f. De org. audit.
K'.»raMien in externa tantum infernaque calvariae basis sede esse obYium.
:.. oblique versus exteriora protensum. in auditorii organi cavitatem temporis
'. ..j 'ä::: i»^sinere . . . aereni etiam in temi)ori6 ossis antrum auditus organo
.'. :.-: : i foramen ferri. De corj». h. fabr. L. 1. Cap. 12.
r r
9 ' r *'
*.■:.■.■ /;..*t^-l. Ann.iles des Maladies de l'oreille et du larynx. Tom. VIII,
Nr. .:,. I "-
Realdo Colombo. 101
*) Comment in Gal. de ossib. C. I, comm. 8.
') Est autem id corpus, quod testam Cochleae elegantissime refert, tribus
spiris in orbem convolntum, quarum elatior snperiorem obtinet sedem et Nervuni
snscipit; angustior vero inferiorem, et ossis cavo terminatur; neque tarnen est hanc
ob causam, uti quidam faciunt, os istud caeca caviias exitum non habens appellan-
dum. quia etsi in modum testae cochlearum spiras habet, nihilominus foraraine, veluti
iliae, non caret. . . . Nee silentio praetereundum est, os Cochleam referens ex duplici
spirarum genere constare» quorum alterum, a nobis jam expositum, ab ossea sub-
stantia admodum tenui, sicca, et quae facile teritur, creatur; alterum vero, omnibus
Anatomicis adhuc ignotum, ex materia quadam fit molli et mucosa, et quae nescio
quid arenosi permixtum habet, oriturque ex medio spatio priorum spirarum, tan-
quam ex ampliore basi, sensimque extenuatum in aciem desinit; sed non tam alte
conscendit, ut ossis ambitum, qui priores spiras terminat, attingat . . . os Cochleae in
medio, ea nimirum parte, cui spirae innituntur, a principio ad extremum usque,
angusto et recto meatu esse pervium . . . Opusc. anat. p. 136 £P.
') Quintum nervorum Cerebri jugum ex duobus tantum nervis, ut alii arbi-
trantur. minime constat, sed duas utrimque propagines inaequales habet, quarum
major secundum longitudinem , instar semicirculi eleganter excavatur, minoremque,
quod alios fugit, amice suscipit et amplectitur, eoque modo ambae simul junctae
oblique in anteriorem et exteriorem partem, usque ad extremum sinus in osse Petrae
simili earum gratia exculpti, procedunt, ubi minor propago a majore recedens, par-
vum foramen sibi paratum invenit et ingreditur, mireque admodum flexuoso incessu,
de quo nunc loqui non est opportunum, extra calvariam elabitur; major autem
propago videtur in tres portiones parum invicem distantes terminari, ex quibus prae-
cipua exiguo foramine, in Cochleatum os pervio obducitur, sed num instar operculi
eidem tantum incumbat, an vero alte penetret et in spiras ejus ossis convolvatur,
propter difßcultatem administrationis, certo explorare adhuc non potui. ]. c. p. 136.
*) Sed qualis nam eorum sit motus, quove principio, et quae vi fiat, vix
aliquis Anatomicorum explicare audet. 1. c. p. 134.
^°) In hoc fere omnes consentiunt, a^rem, qui, dum sonus editur, tanquam unde
fluctuat, membranam Auditorio meatui obductam pulsare. ab illa deinceps conse-
cutione quadam illa ossicula moveri. Ibid.
'') Quum instituisset Natura Auditus Organa arbitrio voluniatis moveri, arti-
cnlationem quoque ac musculum, sine quibus fieri is motus nequit, tribuere illis
Yoluit. Caeterom exigui hujus musculi inventio, in quo summa naturae ars elucet,
nisi invidia snt malevolentia prohibearis, non poterit tibi videri non magni facienda,
quum ejus cognitio aditum patefaciat, tum perscrutandi quomodo Auditus in nobis
fiat. p. 135.
c) Zeitgenossen und Nachfolger der grofien Anatomen in
Italien im 16. Jahrhundert.
Bealdo Colombo.
Die Schilderung der glanzvollen Leistungen der anatomischen Führer
würde unvollkommen sein, wenn wir nicht auch der Männer gedenken
würden, die, angeregt durch ihre Vorgänger, durch neue Details die
noch bestehenden zahlreichen Lücken in der Ohranatomie zum Teile er-
gänzten. Vor allem waren es italienische Forscher, die das Begonnene
Hr.!
l>k..:'. ^<,.'>•r.^<.
Hill l''t'iii'.M'ili'i \'hri".t-i'/.i*'M. l'uu-r ibn^n sei vor allem Realdo Colombo
(| li'iVV) ri'wiilinl, tU'S'-.t-n L<:i:-1 linken aiit dem Gebiete der Ohranatomie
iMilr'. wril. ^«'lin^^r HJn'l til-, seine Entdeckungen an anderen Teilen des
iMi'if.rlilirlii'ii Korpfr.s.
U* r II I d II H ( ! o I li iij h ij s (Apotheker in Cremona, dann Prosektor
N'omiIm) itrhicii. tl'u» l'rofVfssur in Padua. ging jedoch später nach Pisa
und von liirr iiurli Korn. Ihm verdankt die Wissenschaft wichtige ana-
(oiiiisrlu' KntdtM'l<un^<*ii, ivo/.ii er durch zahlreiche Sektionen reichlich
Ürlril^nilirit rund. Kr liffdii^nte sich zur Zergliederung vorerst lebender
llundr« in dtM' Folge jedoch nur menschlicher Leichen. Durch großen
Ki^oniliWikel uus^(*/.eirlin<*f, kritisierte er in schonungsloser Weise seinen
l oluor Vosiil und lieK sich durch die Sucht, Neues zu sagen, nicht
sv'lton n\ nnwnhren Ansahen verleiten. Seine anatomischen Erfahrungen
•.;Ih lUelerlt» er in tleni Werke «De re anatomica** libri XV, Venet. 1559
TaMNUs upud Andr. Weehelnni ir)72, Francof. 1590, 1593*), in dem aber
Ivu^'lirl» des Ohres nur wenig Neues vorgebracht wird. Indes muß an-
o- k.innt werden, diilt rolunibns die Zerlegung des Gehörorgans mit
M.*>to»Nrliart Innnllnihte und daß er sich mit großer Vorliebe mit der-
x/.-»oM hosrhiinigte, wie seine Begeisterung verratenden W^orte bezeugen:
.'0 ..iv^ iidnunistnilit» euni est jucunda visu, tum etiam adrairabilis, et quae
• ;x - Na^»u»nlissinii ti|iilieis anuneni nolontes, volentesque trahit, rapitque."
Im*, der lleselneihnni; der drei Gehörknöchelchen, deren Namen
\ '.N ;iu> der Kunklioiu teils aus der (lestalt erklärt, vindiziert ersieh
, : :.ioxk;:nir »les Sta^ies*». Hervorzuheben ist seine Kenntnis, dafi
':v ..V.'. -..t^^NiKu hen der Ossienla mit einer dünnen Knorpelschicht
\\ .. \:-.,l \<v:il die (tehörknöehelohen tur kompakt hielt, behaup-
*•./»*. »-ir x^'U".- \uA\l, sponsjios und mit Mark gefüllt, aus-
^. . ..N. •■,.:<• O'v' V 1 d;iN i^ K'ücituhire kannte, wie Drelincourt
^ : N. ^v :: ^r, ;e io. h r.uv'li ^::*.er Sttile • ► wahrscheinlich, wo er
. ■, :..■';*: **v:! :or: vW<^.i N:a:»tde ditfert, quod caret eo
,• •.■ .,\.. .V :.::.":. : :v i ^Miv-irm >eUae utrinque alli-
V X .-, . , .;•. . ...••i.i'v. ^xm: roruiiduiii. quoad incudis
x^.
XX
■ X ■
.:'x:s. ■.:.r .::- «.Teräße des inneren
V. i>ru:Trku.r:sr*n durch-
: -r '.rn Muskelapparat
sjiTirr. b-rcierkt jedoct.
'. X
Giulio Cesare Aranzio. . 103
Was die Physiologie betrifft, so glaubt er, daß die Gehörknöchelchen
bei der Hörempfindung in Bewegung geraten.
') His tertium accedit nemini quod sciam ante nos cognitum. L. I, Cap. 7.
De ossiculis organi Auditorii, p. 50.
Vom Stapes sagt er : Jacet hoc, vel latitat potius in cavernula quadam ferme
rotunda intra sinum auditorium excalpta, quo fit, ut ad organi auditus fabricam non
pertinere non possit: cavum est, et perforatum egregie, ferrei instrumenti naturani
imitatur, quod stapham novo vocabulo nuncupamus, in quo equorum sellis insidentes
pedis sistunt. Ibidem.
') 1. c. L. I, Cap. 7: Ubi ista articulata sunt, caitilagine incrustantur, p. 50.
') 1. c. L. I, Cap. 7, p. 50.
*) 1. c. L. VII : De corde et arteriis, p. 336.
*) 1. c. L. II, Cap. 2: De Aurium cartilaginibus, p. 181.
•) 1. c. L. V, Cap. 10 : De musculis Aurium, p. 228.
Oialio Cesare Aranzio.
Neben Colombo sind noch seine Zeitgenossen Aranzio und Varoli
zu nennen, beide verdienstvolle Anatomen, die jedoch die Ohranatomie
nur wenig förderten.
Giulio Cesare Aranzio, 1530 — 1589 (auch Aranzi de Maggi),
geb. um 1530 in Bologna, beschäftigte sich frühzeitig mit Anatomie
und Chirurgie, wobei ihm Vesal und der berühmte Wundarzt Barto-
lommeo Maggi als Lehrmeister dienten. Schon im Jahre 1556 erhielt
er in seiner Vaterstadt die Professur der Anatomie, welche er bis zu
seinem Tode 1589 bekleidete. Von seinen Arbeiten, welche er in den
Werken: „De humano foetu opusculum", Rom 1564 (Venet.
1571, 1587); „Anatomicarum observationum liber et de tumoribus
praeter naturam secundum locos aflfectus liber'*, Venetiis 1587 und 1595;
„Commentarius in librura Hippocratis de vulneribns capitis**,
Lugd. 1639, 12, überlieferte, legen die Entdeckung des Ductus arteriosus
und die sorgfaltige Beschreibung des schwangeren Uterus, sowie des
Fötus beredtes Zeugnis für seine Bedeutung als Anatom ab.
Auf die Ohranatomie Bezügliches findet sich nur wenig Neues in
den „Observationes anatomicae**. Aranzio beschrieb das Gehörorgan,
soweit schon Bekanntes vorlag, ziemlich gut, indem er die Entdeckungen
seiner Vorgänger vereinigte und kritisierte. Den Tensor tympani
kannte er wohH), war aber im Zweifel, ob er ihn für einen Nerv
oder ein Gefäß halten sollte. Dagegen scheint er bereits das Os lenti-
culare gekannt zu haben, nach einer Stelle zu schließen, welche Mor-
gagni zum Beweise für diese Ansicht zuerst ans Licht zog-).
Die Chorda tympani verkannte auch er, gleich den meisten Zeit-
genossen, imd hielt sie für ein Hammerband, wenn er auch die Möglichkeit,
daß sie Arterie oder Nerv sein könnte, zugibt. Dabei wirft seine Be-
104- Constanzo Varolio.
merkung über die Schwierigkeit dieser Entscheidung immerhin einen
Lichtstrahl auf den Zustand der damaligen Präparationsmethode »non
deesse qui dubitent, arteriane aut nervus censendus sit, sed nihil
mirum in re adeo exigua, quae Lyncaeos postulat aures^^).
Bei seinen entwicklungsgeschichtlichen und vergleichend anatomi-
schen Studien fand er, daß die Gehörknöchelchen bei den Kindern
kleiner und weniger konsistent als bei den Erwachsenen seien, femer
daß die menschlichen Gehörknöchelchen diejenigen des Pferdes und
Kindes bedeutend an Größe überträfen^).
M Observat. anat. Venet. 1587. Cap. 2, p. 56.
') Ibidem Cap. 17 : Stapes in äummo superioris angoli apice , in capitulum,
moiiice sinuatum desinit. ut incudis minimum tuberculum, tibiolae adnaacentem, per
symphisim ac synchondrosim agglutinatum. amice excipiat.
*) Observ. anat. Cap. 11.
*) Vide Porta, t 2. p. 10.
Constantius Tarolius
11543-1575).
Constanzo Varolio aus Bologna, der hochberOhmte Forscher
auf dem Gebiete der Hirn- und Nervenauatomie , der mit glänzendem
Erfolge Anatomie und Chirurgie (wie auch Philosophie) lehrt«, Qberging
zwar die Ohranatomie und Gehörsphysiologie nicht« ohne jedoch für diese
Wissenszweige Epochemachendes zu leisten. Er leitete den Ursprung
des Acusticus von der Brücke ab^), ein Irrtum, der etwas spater
von Piccoluomini widerlegt ^nirde. Varolis Beschreibung des Trommel-
fell?, der Gehörknöchelchen, des inneren Ohres u. s. w. fußen noch ganz
auf den Arbeitt'n der Vorganger. Dagegen ist vom historischen Stand-
punkt sein Verhalten zur Frage der inneren Ohrmuskeln sehr
!r.T^re^sant. weil es zeigt, wie häutig bei spekulativen Köpfen eine theo-
reti^clle Prämisse eine nackte Tatsache verdrängen kann.
Iij dem Werke «De nervis opticis epistola" (Patav. 1572) leugnet
KT d:*^ Exister.z der Muskeln der Gehörknöchelchen*), respektive ihr«
iiiuj?kul>-'r Struktur und behauptet, was man dafür angesehen, seien
Nervei:, die btim Durchsägen des Schläfebeins zerrissen würden. Seine
M"tiv;er.;r.s=r }>e>tfht darin, daß die Röte der angebhchen Muskeln
beim Wa«/!j*:L mit lauern Wasser verschwinde: .quam veritatem cum
eLT'.' ul:MUJ:i:.'i' in jv.;blicuni tuidam Anatomico musculos auditus jactanier
ostviiiriiti rtj'vrji>-fm. statim obmutuit.'
Beil i je'i'M.h iiijßTM N'arnl selbst seine falsche Ansicht richiür
stellen, iüi-:-];: er ii; «i».!!: zweiten Werke .Anatomia, s. de rescdmäonr
corpuriv buiiiaii:" ii'-ri IV. Fraiuuf. lolM. das als Supplement zq seiner
ersten Arbtrit tTscLi»-:;. i.:- ht nur d-rn Tensor tympani, sondern aoci
Constanzo Varolio. 105
den Musculus stapedius^), letzteren in einer zum ersten Male klaren
und sicheren Beschreibung anführt*).
Während er in dem Buche „De n er vis opticis** die Gehörknöchel-
chen für unbeweglich hält, sagt er von ihnen in der «Anatomia**, daß
sie sehr beweglich seien, daß das Gehörorgan ebenso wie das Auge eines
Muskelapparats bedürfe, welchen er mit dem Sphinkter und Dilatator
Pupillae vergleicht. Erwähnenswert wäre noch die absonderliche Be-
merkung Varols, daß die Tauben gemeiniglich stumm zu sein pflegen,
weil die Chorda tympani mit dem Geschmacksnerven in Verbindung stehe *).
Von minderer Bedeutung für die Ohranatomie ist Archangelo
Piccoluomini aus Ferrara (geb. 1526), der in seinen „Anatomicae prae-
lectiones explicantes mirificam corporis humani fabricam** (Rom 1586,
2. Ausg. von Joh. Fantoni, mit einigen schlechten Abbildungen unter
dem Titel „Anatome integra revisa**, Verona 1754) angibt, daß der
Acusticus von den weißen Markstreifen auf dem Boden des vierten
Ventrikels entspringe*).
Dagegen nehmen unter den italienischen Anatomen noch zwei
Forscher einen hervorragenden Platz ein, die der Schule Falloppios
entstammen und in mancher Hinsicht die Schöpfungen ihres Lehrers
erweiterten, obschon sie, was Originalität anlangt, in ihren Leistungen
weit hinter ihm zurückblieben. Es sind dies Fabricius ab Aqua-
pendente und der Holländer Volcher Koyter, welch letzterer lange
in Italien lebte und in Bologna lehrte, weshalb auch er trotz seiner
Nationalität allgemein den italienischen Anatomen zugezählt wird. Beide
haben für die Geschichte der Gehörsphysiologie eine größere Bedeutung
als für die Anatomie, weil sie im Gegensatz zu den vereinzelten und
abrupten Bemerkungen ihrer Vorgänger zuerst eine zusammenfassende
und für ihre Zeit befriedigende Erklärung des Höraktes in ihren Werken
lieferten. Wir müssen daher bei der Darlegung ihrer nicht immer ori-
ginellen Forschungen w^eiter ausgreifen, umsomehr, als sie gleichsam das
Resum^ der Errungenschaften ihres Jahrhunderts vorführen.
*) De nervis opticis nonnullisque aliis praeter communem opinionem in humano
capite observatis epistola. Padua 1572, f. 4a; Frankfurt 1591.
«) 1. c. f. 10 a.
') Anatomia. Lib. I, Cap. 6, p. 28 ; Lib. III, Cap. 5.
*) Qui ab anteriori sede natus, in articulationem trianguli cum incude inseritur.
Ibid. p. 28.
*) Anatomia. Lib. I, Cap. 7, p. 31.
♦) Anat. prael. 1586, lib. VI. — Haller fand fünf (Elem. physiol. IV.), Serres
sechs solcher Querstreifen (Anat. comparee du cerveau, Paris 1827). Daß diese Striae
acusticae den Ursprung des Nervus acusticus bilden, leugneten u. a. J. F. Meckel,
Pfeffinger (De struct. nervor., Argent. 1782), Prochaska (De struct. nervor. tract.
anat., Vindob. 1779) etc.
lOG Volcher Koyt«r.
Yolcher Koyter.
Volcher Koyter (1534—1600; Koiter, Coiter, Coeiter), ein Schüler
Falloppios, ist eine der ehrwürdigsten Gestalten in der Geschichte der
Otologie. Er war der Sprößling einer angesehenen Familie zu Groningen,
wo er 1534 geboren wurde. Er begab sich frühzeitig zu Studienzwecken
nach Italien, wo er im Mutterlande der Anatomie für seinen regen ana-
tomischen Forschungsdrang volle Befriedigung fand. In Padua war er
Falloppios Prosektor, in Bologna Schüler Aranzios und Aldrovandis.
in Rom Freund Eustachios. Nach seiner Rückkehr aus Italien ver-
brachte er einige Jahre in Montpellier, wo er Rondelets Freundschaft
gewann, war dann Leibarzt des Herzogs Ludwig Ton Bayern zu Amherg
in der Pfalz, endlich Stadtarzt in Nürnberg, wo er 1600 plötzlich starb,
als er sich eben anschickte, in das zur Unterstützung Cond^s bestinunte
Heer des Pfalzgrafen Johann Kasimir einzutreten.
Koyter verfolgte die von Falloppio eröfiFhete entwicklungs-
geschichtliche Richtung durch sorgfältige Beschreibung der Osieologie
des Fötus, und machte sich besonders durch seine Beitrage zur patho-
logischen Anatomie und auf zahlreiche Vivisektionen gestützte Beob-
achtungen um die Lehre von den Verrichtungen des Herzens und
Gehirns verdient. Seine Werke sind: „De ossibus et cartilaginibus
corporis humani tabulae*", Bonon. 156G f.; „Extemarum et intemarum
principalium corporis humani partium tabulae atque anatomicae exer-
citationes etc.**, Norinibergae 1572 f. Neuer Titel: 1573 f. (mit den
ältesten Abbildungen der Knochen des Fötus). 1653. Letzteres enthält
den für die Otologie so wertvollen Traktat: ,De auditus instru-
mento.*"
Koyters Werk ,De auditus instrumento^, das auch gesondert
erschien, ist insbesondere deshalb eingehender Besprechung wert, weil
es die erste Monographie über das Gehörorgan enthält und dadurch
auch äußerlich der Otologie zum ersten Male den Rang eines Spezial-
faches einräumt.
Das Buch zerfällt in siebzehn Kapitel, in denen die einzelnen Ab-
schnitte (\ei> Gehörorgans sowohl in anatomischer, als auch in physio-
logi^^cher Hinsicht gesondert behandelt werden. Von großem Umfang
i.>t insbe>ondere die teleologische Erklärung des Nutzens der ver-
schied«nen Teile, wobei der Verfasser, entsprechend der Denkweise seiner
Zeit. LO' h immer in Galens «De usu partium*" ein nachahmenswertes
Muster -ieht. Immerhin befleißigt sich Koyter auch bei dieser teleo-
loi^ischer; Erklärun;;; einer gewissen Selbständigkeit.
lii den ersten Kapiteln wird über den Schall und die Gehörs-
wahrnehmunjj: gehandelt, das 3. Kapitel bespricht die Ohrmuschel
Tafel V
Volcher Koyter. 107
das 4. die Höhlen des Warzenfortsatzes, das 5. den äußeren
Gehörgang. Dann folgt die Besprechung der Trommelhöhle mit
ihren Teilen, sowie des „A6r implantatus" im (5., 7., 8., 9., 10., 11. und
12. Kapitel. Den Inhalt des 13. Kapitels bildet Anatomie und Physio-
logie der Tuba Eustachii, während die folgenden drei Abschnitte sich
mit dem inneren Ohr beschäftigen. Das letzte Kapitel (17.) ist der
Beschreibung des Acusticus gewidmet.
Für die Anatomie bringt das Werk kaum etwas Neues, ja im
ganzen zeigt es fast einen Rückschritt gegenüber Falloppio, für dessen
Anschauungen der Verfasser sich nicht immer mit Bestimmtheit aus-
spricht. Das Buch erscheint daher mehr als ein Kompendium, welches
die Meinungen der wichtigsten Autoren berücksichtigt, ohne stets eine
selbständige Entscheidung über Wert oder Unwert des Geleisteten zu
fällen. Koyter läßt uns nur erkennen, daß die otologischen Kenntnisse
seines Zeitalters sich in den wesentlichen Hauptzügen auf das äußere
und mittlere Ohr erstreckten, wogegen für die genauere Erforschung
des Labyrinths erst ein schwacher Ansatz vorhanden war. Eine über-
sichtliche Zusammenstellung des damaligen Wissens erhalten wir in den
^Tabulae ossium humani corporis*" p. 44 (enthalten in dem Werke „Extern,
et int. part. hum. corp. tabulae^), wo Koyter die Bestandteile des Ge-
hörorgans gruppiert.
Koyter unterschied die einzelnen Teile der Ohrmuschel, kannte
den schiefen Verlauf des Gehörgangs, die Insertion, Stellung und
grobe Struktur des Trommelfells, die Kommunikation der Zellen des
Warzenfortsatzes mit der Trommelhöhle, er beschrieb die meisten
wichtigeren Teile der Trommelhöhle und der drei Gehörknöchelchen,
beide Labyrinthfenster, die Chorda, das Promontorium^), den
Hammermuskel, den Aquaeductus (canalis) Falloppii und gab eine
gute Beschreibung der Tuba Eustachii. Mangelhaft dagegen ist das
Wenige, was Koyter über die drei Bogengänge, den Vorhof^) und die
Schnecke berichtet, ebenso seine Darstellung des Nervenverlaufs, bei der
er die Ansicht des Falloppio, daß der Acusticus einen eigenen Nerven
bilde, schüchtern hervorhebt^).
Ausführlich, und wenn auch nicht immer zutrefifend, sind die Er-
klärungen, die Koyter über den Nutzen der einzelnen Bestandteile des
Ohres gibt.
Die Ohrmuschel sei nicht knöchern, weil sie durch Insulte leicht
frakturiert werden könne, anderseits nicht fleischig, weil sie dann zur
Schallaufnahme nicht geeignet wäre. Die Formation des äußeren Ohres
diene durch ihre gewundenen Erhebungen und Vertiefungen am besten
zur Aufnahme, Reflexion und Verstärkung des Schalles. Der Einschnitt
zwischen Tragus und Antitragus soll flüssigen Stoff*en, wie z. B. Eiter
108 Volcher Koyter.
oder anderen im Inneren des Ohres angesammelten Flüssigkeiten , einen
günstigen Abfluß gewähren.
Die Enge des äußeren Gehörgangs habe den Nutzen, daß der
Schall mehr kondensiert und zusammengehalten, vor Zerstreuung be-
wahrt bleibe, wogegen die Schrägheit seines Verlaufs wiederum die Ein-
wirkung eines zu heftigen Schalles abschwäche, das Trommelfell vor den
Schädlichkeiten zu kalter oder zu warmer Luft schützen könne und
außerdem das Eindringen fremder Körper oder kleiner Tiere erschwere
oder gänzlich unmöglich mache. Der Hauptnutzen des Trommelfells,
das er vom Periost ableitet und dessen Ränder er in der seichten
Furche des Annulus tympanicus inserieren läßt, bestehe darin, daß es eine
schützende Scheidewand für die hinter ihr gelegenen zarten Teile des
Mittelohrs gegen das Eindringen von Staub, Sand, Wasser, kleiner
Tiere u. s. w. bilde. Ueberdies habe das Trommelfell den Zweck, die
Vermengung der äußeren zu kalten, zu warmen und unreinen Luft mit
dem reinen „A(?r implantatus** zu verhindern, anderseits die Fortleitung
des Schalles zu erleichtem. Das Trommelfell sei fest und doch dünn;
fest, zur Abwehr der Schädlichkeiten, dünn, um zur Schalleitung ge-
eignet zu sein.
Die Trommelhöhlenwand sei knöchern, und zwar härter als die
übrigen Knochen, um besser der Resonanz dienen zu können. Durch
ihre Lage zwischen Proc. mamillaris und dem Gelenk des Unterkiefers
erkläre sich die Steigerung der Ohrenschmerzen bei Bewegungen der
Kiefer. Die Trommelhöhle sei deshalb größer als die anderen Höhlen,
weil sie den größten Teil des „Aer implantatus** enthalte, der ihr von
den Zellen des Warzenfortsatzes zugeführt werde.
Die Gehörknöchelchen, die nach Koyter bei Neugeborenen
dieselbe Größe wie bei Erwachsenen haben, stützen das Trommelfell»
damit es bei großen Schallintensitäten nicht zerreiße, und dienen als feste
Körper sehr gut der Fortpflanzung des Schalles, was Koyter durch ein
interessantes physiologisches Experiment beweist, jedoch sei der eigent-
liche Nutzen noch nicht recht klar^).
Die beiden Fenestrae leiten den mitgeteilten Schall in die folgenden
Höhleu. Ausführlich verbreitet sich Koyter über den Zweck der Ohr-
trompete. Er besteht teils in der Erneuerung der in der Trommelhöhle
enthaltenen Luft, teils in der Ableitung von Flüssigkeiten, welche sich
in der Trommelhöhle abgesetzt haben''), teils darin, die von einem sehr
heftigen Schall im Cav. tyrap. komprimierte Luft entweichen zu lassen,
wodurcli eine Zerreißung des Trommelfells hintangehalten werde. Endlich
habe die Tube den Nutzen, daß bei krankhafter Beschaffenheit der Mem-
brana tympani der Schall vom Mund aus in das Mittelohr geleitet werden
könne, wodurch das Hören ermöglicht wird; daher käme es auch, daß
Volcher Koyter. 109
Schwerhörige bei offenem Munde besser hören und daß man die Schwin-
gungen eines Musikinstruments bei verschlossenen Oehörgängen deutlich
empfinde, weno man ein mit dem Instrumente in Berührung be-
findliches Stäbchen zwischen die Zähne stecke. Hier begeht
Koyter den Irrtum, die Leitung durch die Schädelknochen mit der Luft-
leitung durch die Tube zu verwechseln. Die Bogengänge und die
Schnecke, bei denen die Kleinheit des Raumes durch die Windungen
ersetzt werde, verstärken durch ihre Gestalt, ähnlich wie manche Musik-
instrumente, den Schall^). Im Gegensatz zu Eustachio und Fabricio
mißt er den inneren Ohrmuskeln keine Bedeutung für den Hörakt bei
und bestreitet namentlich ihre willkürliche Funktion^).
Die Schallwahrnehmung geht nach Koyter, dessen An-
schauungen von den meisten seiner Zeitgenossen als maßgebend an-
gesehen wurden, folgendermaßen vor sich. Vom äußeren Ohr gelangt
der Schall in den Gehörgang, wird hier verstärkt und durch das
Trommelfell und die Kette der Gehörknöchelchen (die durch feste
Artikulation gleichsam ein Kontin uum bilden, sowie durch ihre Härte
zur Leitung am meisten geeignet sind) zu dem Vorhof- und Schnecken-
fenster fortgepflanzt und von hier aus den knöchernen Partien und dem
Hömerv mitgeteilt®). Durch die Erschütterung des Hammers wird
auch die Chorda tympani ^) erschüttert und dadurch die innere Luft der
Paukenhöhle in Schwingung versetzt. Diese innere Lufb, die nach
Koyter der wahre Träger und Leiter des Schalles ist^®), der „Aer im-
plantatus*, an dessen Dasein man bis Cotugno glaubte, muß sich leidend
und ruhig verhalten, um selbst für die leisesten Stöße der äußeren Luft
empfänglich zu sein. Der Name rühre davon her, daß die Alten, die sich
den Ursprung des «aör" nicht erklären konnten, annahmen, die innere
Luft sei von Anfang her vom Schöpfer eingepflanzt. Koyter leitet sie
von der äußeren Luft ab, die in den Zellen des Warzenfortsatzes einen
Erwärmungs- und Reinigungsprozeß durchmache ^ ^).
Im Labyrinth und in der spiralförmig gewundenen Schnecke, welche
nicht blind enden könne, sondern einen Ausgang haben müsse, wird der
Schall auf ähnliche Weise wie in musikalischen Instrumenten verstärkt
und von den Verzweigungen des Hörnerven aufgenommen, der sie zum
Perzeptionsorgan fortleitet.
Prüft man den Inhalt dieses Abschnittes genauer, so muss rühmend
anerkannt werden, daß Koyter es verstanden hat, auf Grund der spär-
lichen Kenntnisse seiner Zeit eine lichtvolle Darstellung der damals über-
haupt möglichen Gehörsphysiologie zu geben, die, abgesehen von manchen
Irrtümern, so manches enthält, was auch durch spätere Forscher kaum
wesentlich geändert werden konnte. Zum Schlüsse dürfen wir nicht un-
erwähnt lassen, daß Koyter das Gehörorgan verschiedener Tiere, z. B.
110 Volcher Koyter.
der VögeP*), in seinen Beobachtungskreis zog, und daß er auch dasselbe in
verschiedenen Entwicklungsepochen des Menschen eingehend studierte ^*).
So darf sein Werk für alle Zeit als ein Muster bezeichnet werden, das
einer reinen Begeisterung für den komplizierten Bau jenes Organs ent-
sprang, welches nach Koyter den erhabensten Meisterwerken der Natur
zugezählt werden muß. „Adde quod in auditus instrumento multa cognitu
non minus jucunda et utilia quam difficilia admirationeque obstupendum
nobis per obscuram quandam nebulam vix notum D. 0. M. artificium
quam dignissima sint/
*) ,De auditus instrumento*, Cap. 12- Tuberculum inter utramque fenestram
positum euperiori sedi parvae conchae, quae in frenorum omamenta adhibetor.
') 1. c. TertiuB meatus communis est portae anteriori et posteriori foramini,
vel utraeque fenestrae, ubi videlicet termini fenestrarum congrediuntur et unde
labyrinthus et Cochlea prodeunt.
') 1. c. Cap. 17. Equidem multoties ductum huius nervi secutus et eodem
modo sese habere deprebendi.
*) Videmus solide corpora aptissima esse ad soni communicationem , yel de-
lationem, cujus rei experientia fieri potest. Invenias tibi trabem vel ferrum, quam
potes longissimum , colloces aliquem ab altero fine , tu vero stes ab altero , ferias
digitorum condylo partem tu am ita leniter, ut ictus vix a te percipiatur, alter vero
ex altero fine trabis coUocatus, si aurem proprius ad trabem admoverit, quamvis
longissime a te dissitus exquisitius tamen ictus percipiet, atque sed aliquo post
tempore, siquidem per lignum sonus non ita cito, atque per aerem permeare potest:
idem attestantur Musica instrumenta. Attribus itaque iis (ossiculis), ut sonmn per
myringae commotionem iis participatum , foraminibus, per quae sonus ad nervum
auditorium deferetur et ossibus vicinis communicent . . . sed verus usus ossiculorum
nos latet. 1. c. Cap. 9.
'') 1. c. Cap. 13.
«) 1. c. Cap. 14.
') 1. c. Cap. 10.
®) Aer externus soni qualitate affectus in membranam mjringam incurrit,
myrinx pulsata ossicula membrana colligata commovet, ossicula porro nervum quen-
dam per transversum membranae expansum percutiunt, ex illa nervi sive funiculi
percussione ipse nervus in membranam percutitur, unde aar inclusus alterationem
et sonos excipit, soni vero i)er aurium tortuosos et flexuosos anfractus citra uUam
turbam fertur pervaditque ad nervum auditorium, hoc demum exploratore et ministro
strepitus imago ad sentiendi principiam transmittitur. 1. c. Cap. 1.
®) Tribuitur itaque chordae hie usus, ut aerem percutiat, ex exceptione verbe-
rationis factae a tribus ossiculis. 1. c. Cap. 11.
^^) Act hie qualiscumque sit, est primum et praecipuura audiendi instrumentum
pars scilicet animae. 1. e. Cap. 7.
'') I. c. Cap. 8.
'■-) Vide ^Observationes anatom/ : De anatome avium. Extern, et intern, part.
h. c. Norimberg 1572.
") Meatus auditoriiis, sive canalis externus non unde quaque in pueris osseus
est. sed quasi omnino cartihitrinosus et ad septiinum usque mensem post pro-
creationem sejungi potest. 1. c. p. 5.
Fabricius ab Aquapendente. Hl
Fabricins ab Aquapendente
(1537—1619).
Girolamo Fabrizio, einer der hervorragendsten Schüler Falloppios,
wurde 1537 in dem zum Kirchenstaate gehörigen Städtchen Aquapendente
geboren. Er genoß eine sehr sorgfältige Erziehung, studierte anfangs
Philologie und Philosophie, widmete sich aber später in Padua unter
Falloppio, von diesem vielfach gefördert, der Anatomie und Chirurgie.
Schon 1562 wurde er in Anbetracht seiner eminenten wissenschaftlichen
Leistungen der Nachfolger seines Lehrers. Die Universität Padua ehrte
seine Verdienste durch den Ehrentitel: „Professor supraordinarius*,
der venezianische Senat durch seine Erhebung in den Adelstand. Er
genoß den unbestrittenen Ruhm eines großen Anatomen und gefeierten
Lehrers und sein Ruf als Arzt und Chirurg war so bedeutend, daß die
Vornehmsten des Landes ihn zu Rate zogen. Er nahm nur von den
Reichsten Honorare an. Hochadelige Herren belohnten seine Dienste
mit wertvollen Kunstgegenständen, die er in seiner Villa bei Padua zu
einem Museum vereinigte, das die Aufschrift: „Lucri Neglecti Lucrum **
trug. Sein Andenken wurde durch eine Bildsäule verewigt. Fabrizio
war der erste der Paduaner Professoren, die gleichzeitig das anatomische
und chirurgische Lehramt ausübten. Das von ihm auf eigene Kosten
erbaute anatomische Theater gibt Zeugnis für die Begeisterung, mit der
er die anatomische Wissenschaft zu fördern bestrebt war.
Von seinen Werken kommen für die Ohrenheilkunde in Betracht:
,De visione, voce et auditu". Venet. 1600. f. Patav. 1600. f.*); „De
formato foetu**. Venet. 1600. Die beste Gesamtausgabe ist die von
Albinus (Leid. 1737).
Einen Fortschritt seinen Vorgängern gegenüber bedeutet seine
Schilderung des äußeren und mittleren Ohres, die er mit wenig ge-
lungenen Abbildungen illustriert.
Vermengt mit zahlreichen in seinem Zeitalter beliebten philologi-
schen Erklärungen, beschreibt er die Ohrmuschel mit allen ihren Er-
habenheiten und Vertiefungen recht gut, den äußeren Gehörgang mit
Rücksicht auf seinen Verlauf, das Trommelfell und den Annulus tym-
panicus. In der Trommelhöhle, welche er als „concha" bezeichnet,
fand er manche Einzelheiten, die seinen Vorgängern unbekannt ge-
blieben sind.
Eingehend werden die Gehörknöchelchen geschildert. Bemerkens-
*) Der auf das Gehörorgan bezügliche Abschnitt besteht aus folgenden Teilen
,De aure, auditus organo, de dissectione et historia" (P. I. Taf. 1). — ^De actione
auris, h. e. de auditu' (P. II). — „De utilitatibus, tum totius auris, tum partium
iUius* (P. III).
112 FaViriciuii ab Aquapendente.
wert ist. daß sirh unter den sonst formlosen und unrichtigen Abbildung^eii
der Gehörknör-helchen (S. 2bo} eine Reproduktion des Hammers mit
seinem lan^ron Fortsatze befindet, den Caecilius Folius später als neue
Eritder:kunj( beschreibt.
Fabrizio teilte den Irrtum mancher zeitgenössischer Anatomen, daB
die Kriöcbelohen kein Periost (periostio nequaquam operta) besäßen und
hielt sie f\\r hohl und mit Mark gefüllt. Er ging näher auf ihre ge-
lenki;(e Verbindung ein, indem er die Artikulationsflächen beschreibt und
die Verbindung von Hammer und Amboß als Gingljmus auffaßt (ea scilicet
de articulationis specie, quae '('.'('(h}\Lrjsi07fi appellatur. 1. c. P. I, Cap. 5,
p. JOl). Die Knöchelchen sind nach ihm heim Fötus ebenso groß wie
beim Eruaehsenen (dura perfectaque ossa etiam in nascentibus infantiboa).
Die eil or da faßt er als corpus sui generis, nicht als Nerv auf. Was die
Muskeln des inneren Ohres anbelangt, so ist ihm der innere Hammer*
muskel gut bekaimt; er nennt ihn „Musculus malleum ad incudem
movens*. Den SteigbUgelmuskel hingegen hält er für ein Ligament^).
Ferner beschreibt er einen von ihm im Jahr 1599 entdeckten Muskel,
d(^r angelilich von der Mitte der Gehörgangswand entspringt und xa
Jener Stiele des Trommelfells hinzieht, wo der Hammer befestigt ist.
Dieser Muskel soll nach Falirizio das Trommelfell mit dem Hammer nadi
außen ziehen, wäre somit ein Antagonist des inneren Hammermuakds
(Muse. Tens. tyni]).) Die Abbildung dieses Muskels findet sich auf S. 254
(Fig. 17). P\'ibrizio konnte jedoch diesen Muskel nicht bei allen Ton
ihm untersuchten Gehörorganen nachweisen. Eine Bestätigung dieses
Kefundes finden wir bei den späteren Autoren nicht, mit Ausnahme des
('asserio, der diese fragwürdige Entdeckung im Jahre 1593 gemacht
)ial)en will. Die betreuende Stelle bei Fabrizio lautet: «Praeterea hoc
anno IM\) Musruluni invenire visus sum in meatu auditorio, qui xdpo;
axo'j-iTi'/.o; dicitur, (|ui extra membranam est, exiguus, carneus, non ezpers
teiulinis. qui a niedietate ipsius duotus seil nieatus recta fertur, usqueqno
in nieinbranam exterius ad ejus tonne centrum inseratur, ea scilicet paite,
• (ii:i inalleus intus nienibranae annectitur quam exterius una cum maUso
•r.thit" il. 0. I*. 1, Tap. <), p. 2.^1). Die Funktion dieser beiden Muskefai-
V- Ti 'ininellells besteht uaeh seiner Ansicht darin, die Membraai
•-...: . v..r ZerreifHjn.ir zu seliützen (1. c. V. 111, Cap. 6, p. 203. IM
j- ' . • airii'ijlatinnis MaUoi utilitatibus). Von der Tube, die er »aquaftr
■- ' ..■..•, knint er »las tvin]»anale und pharyngeale Ostium; waA
■ ' -- ■■:r.r*'fi vom iiuhoron (lohörgange aus mit einer Schweins^
■...:.. ^:ll».'riifn Drahte sondiert. Eine ausführliche Be?»
_• — K.i:..ils jibt-r verniissrn wir (1. r. P. I, Cap. 9, p. 252$.
. . D.ii-trlhinir des Promontoriums entspricht durdi-
.■ . ,: '•■•.: :iii;iT«»inisih««n Verhältnissen der inneren Trom-
Ta/el VI
Fabrizio ab Aquapendente. 113
melhöblenwand , doch ist die Kenntnis und Bezeichnung der beiden
Labyrinthfenster mangelhaft.
Unter allen Teilen des Gehörorgans ist das Labyrinth am schwäch-
sten beschrieben. Dies geht schon daraus hervor, daß er nicht sicher
weiß, daß das Yorhoffenster in das Vestibulum führt. Er beruft sich
bloß auf die Autorität seines Lehrers, dem er in „rebus abstrusis^, wie
er sich ausdrückt, großes Vertrauen schenkt*). Der Vorhpf selbst ist
ihm fast unbekannt, die Bogengänge läßt er aus einer nicht zu
zählenden Menge von Kanälen bestehen und hält es für vergebliche
Mühe, sie darstellen zu wollen^). Auch die Schnecke, die er oft seinen
Schülern demonstrierte, kannte er höchst oberflächlich*). Gleich Vesal
steht er auf dem Standpunkt, daß der N. acusticus in der Trommelhöhle
endet, hält es jedoch nicht für ausgeschlossen, daß manche kleinere
Zweige des Nerven in anderen Höhlungen des Ohres sich ausbreiten*).
Von größerem Werte ist der physiologische Teil seiner Ab-
handlung*), namentlich soweit er sich auf den Nutzen der einzelnen
Teile des Ohres bezieht, wo allerdings meist Bekanntes aus Hippo-
krates, Aristoteles und Galen vorgebracht wird. Eine Unmasse von
Fragen, z. B. warum die Ohren am Kopfe stehen, weshalb vorne und
nicht hinten, weshalb sie oben breiter sind als unten, weshalb sie un-
beweglich sind u. s. w. wird ebenso wie der Nutzen jeder Erhabenheit
und Vertiefung der Ohrmuschel mit peinlichster Weitläufigkeit erledigt.
Bevor wir die Anschauungen Fabrizios vom Nutzen der übrigen Teile
des Gehörorgans besprechen, wollen wir kurz auf seine Hörtheorie eingehen.
Im wesentlichen schließt er sich hierin Koyter an. Der Träger
der Schall Wahrnehmung ist wieder der „aör implantatus^, welcher die
angeblich zahllosen Höhlungen des Gehörorgans nach dem Gesetze „natura
horret vaccuum** ausfüllt^); der Gehörnerv spielt nach Fabrizio nur
eine sekundäre Rolle,* insofern er, da nur Festes oder Lufbförmiges als
Schallleiter diene, die Lebensluft, den ,»spiritus animalis'* ausströmen lasse.
Diese vermische sich mit dem aSr implantatus und teile ihm die wesent-
lichen Eigenschaften mit, worauf sie als „species sensibilis*^ wieder zur
Seele zurückkehre "O- Der Schall selbst ist nach seiner Meinung nichts
anderes als eine „evaporatio", welche die Hphlen des Ohres durchdringe.
Da nach Fabrizios Theorie (wie bei Koyter) das Trommelfell die äußere,
unreine, unruhige, kalte Luft vom ^aör** strenge trennt und abschließt,
so erwächst ihm bei Erklärung der Fortpflanzung des Schalles eine
Schwierigkeit®), die er dadurch beheben will, daß er den Schall als
solchen vom Trommelfell aufgenommen und dann in das Tympanum
übertragen werden läßt, ohne daß äußere Luft eindringen könnte^).
*) In P. II u. m.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 8
114 Fabrizio ab Aquapendente.
Würde dies der Fall sein, so müßte die Luft dem Oehömerv und dem
Gehirne schädlich werden und, da sie durch ihre heftige Bewegung den
«aSr implantatus^ und damit den Lebensgeist verdrängen würde, wäre
Taubheit die nächste Folge.
Im Lichte dieser Theorie betrachtet Fabrizio das mittlere und innere
Ohr. Weiche Gewebe, sagt er, nehmen an seinem Aufbau deshalb nicht
teil, weil der Schall nur durch harte Körper geleitet wird. Das Trommel-
fell ist sehr dünn, um zur Schallleitung, fest, um zur Trennung der
äußeren und inneren Lufb geeignet zu sein, trocken zur Schallaufiiahme
und konkav, um den anprallenden Schall, der wie ein Wasserwirbel
gegen den Umbo schlage, zu konzentrieren und zu verstärken.
Bei Erörterung des Nutzens der Gehörknöchelchen erwähnt er ihre
Härte und Glätte ^^) als günstig und bemerkt, daß sie angeheftet und
schwebend aufgehängt seien (durch den Hammer am Trommelfell), damit
der Schall ähnlich wie auf eine schwingende Glocke am besten über-
tragen werden könne. Hohl seien die Gehörknöchelchen deshalb nur,
um Mark zur Ernährung enthalten zu können, anderseits behindern sie
Verletzungen des Trommelfells, die ihre Schwere begünstigen würde.
Auch die Mehrheit der Gehörknöchelchen und die Aktion des äußeren
und inneren Hammermuskels verhindere dies letztere.
Das eigentliche Aufnahmsorgan sei die Trommelhöhle, wo der
Schall, wenn er schwach ist, aufhöre, während er sich sonst in den
inneren Höhlen verliere. Die Löcher des inneren Ohres haben den
überschüssigen Schall durchzulassen, die großen den tiefen, die kleinen
den hohen Ton. Die Höhlen des Labyrinths und der Schnecke, die
ihrerseits in ihrer Gestalt dem Schall akkommodiert sein sollen, haben
keine andere Bestimmung als die, den überschüssigen Schall aufzunehmen,
damit Reflexion und Echo vermieden werde.
In der Frage über die willkürliche Bewegung der inneren Ohr-
muskeln nimmt Fabrizio einen bejahenden Standpunkt ein, indem er sich
auf eigene Erfahrung stützt und meint, man könne diese Bewegung,
welche synergistisch mit den Muskeln der anderen Seite verlaufe, wahr-
nehmen ^M. Jedoch diente sie weniger zum Hören selbst, als vielmehr
zur Hinwegschaöung der (verdorbenen) Luft.
Der Nutzen der Ohrtrompete, deren Entdecker er merkwürdiger-
weise nicht nennt, ist nach Fabrizios Darlegung ein vierfacher. Sie
dient erstens zur Reinigung ^^) und Trockenhaltung des Gehörorgans,
zweitens zur Zuleitung neuer Luft und Ergänzung der „eingepflanzten*,
drittens zur Abschwüchung starken Schalles, der eine Trommelfellruptur
bedingen könnte, endlich damit Personen, deren Trommelfell verletzt ist,
auf dem Wege der Tuba, namentlich bei weitgeöff'netem Munde, hören
könnten.
Fabrizio ab Aquapendente. \\^
Auch die Entwicklungsgeschichte des Ohres hat Fabrizio in den
Kreis seiner Beobachtungen gezogen. Es ist ihm bekannt, daß die Ge-
hörknöchelchen im Fötus vorhanden, beim Neugeborenen fast so groß
wie beim Erwachsenen sind, und daß die Trommelhöhle beim Fötus
mit Schleim erfüllt ist. Hingegen dürfte er noch nicht, wie be-
hauptet wurde, die Existenz der noch nach der Geburt das Trommelfell
bedeckenden dicken Epidermislage klar erkannt haben, da er von einer
das Trommelfell bedeckenden und ablösbaren Pseudomembran spricht.
Die GegengrUnde, die Morgagni gegen Fabrizio") vorbringt, sind so
überzeugend, daß wir uns ihnen anschließen müssen.
In seinem die operative Chirurgie behandelnden Werke „Opera
medica** widmet Fabrizio den Ohrerkrankungen nur einen kurzen
Abschnitt. Bei den im Gehörgange vorkommenden Operationen scheint
er besonderes Gewicht auf eine günstige Beleuchtung des tieferen Ge-
hörgangsabschnittes gelegt zu haben. Es ergibt sich dies aus einer von
Morgagni erwähnten, von Fabrizio angewendeten üntersuchungsmethode,
die darin bestand, daß er die Sonnenstrahlen durch ein kleines Loch im
Fensterladen in den Gehörgang fallen ließ. Zu demselben Zwecke soll
sich Fabrizio auch einer mit Wasser gefüllten Flasche bedient haben,
durch welche die konzentrierten Strahlen einer Kerze in den Gehörgang
geleitet wurden^*).
Bei allen operativen Eingriffen im Ohre, die sich vorzugsweise auf
die Extraktion von Fremdkörpern beziehen, legt Fabrizio besonderes
Gewicht auf den Schutz des Trommelfells gegen etwaige Verletzungen.
Die von Paul von Aegina bei schwer zu extrahierenden Fremdkörpern
empfohlene halbmondförmige Inzision hinter der Ohrmuschel mit darauf-
folgender Ablösung des knorpelig-membranösen Gehörgangs verwirft er
als einen zu schwerwiegenden Eingriff, bei dem das ausfließende Blut das
Operationsfeld verdunkle und in den nächsten Tagen eine Entzündung
entstehe. Fabrizio bedient sich zur Entfernung der Fremdkörper öfters
kleiner Zangen mit gezähnten Branchen oder eines Instruments, das an
einem Ende eine ohrlöffelförmige Aushöhlung und am anderen ein Häkchen
hatte. Letzteres benützte er bei weichen Fremdkörpern, jenes schob er
unter härtere Substanzen. Zur leichteren Herausbeförderung des Fremd-
körpers empfiehlt er den äußeren Gehörgang ad maximum zu strecken.
Vor der Extraktion mit einer spitzen Sonde wurde stets die Stelle auf-
gesucht, wo das Instrument anzusetzen sei^*).
>) 1. c. Cap. 5, p. 251.
^) Ovalis cavitas est (nämlich die Trommelhöhle), cui stapes incumbit, ipsum-
que ostiom magna ex parte occupat cluditque, a quo Fallopius, cui in rebus ab-
strusis mazimam fidem adhibeo utque praeceptorem colo, vult in labyrinthum iri.
,De yisione voce et auditu* in , Opera omnia anatomica et physiologica**. Lugd.
Batav. 1737. P. I, Cap, 7, p. 252.
Wß Ginlio Casaerio.
') 1. c. Tertium foramen, ut patet, in alias dadt caTitafte«, qnae tarnen in-
numerae sunt, inTicemqae intricatae at merito labjrinthiu dicantar et admirari qai-
dem eas licet dinumerare auiem sen ad ordinem qaendam redigere aat dirigere
non est ut quispiam tentet.
*) Secundum foramen ducit in cochleam qaam ego molios jam annos, Organum
ad ostensionem parans, transrerse ipsam per iotum cochlearem ductam forte incidi
diuque senrari et solenni complurium annomm spectaculo auditoribua meis intpec-
tandam proposui quotannifl publice plenis theatria oatendL 1. c Cap. 7.
^) . . . atque in nonnullas diductnm propagines sie in plerasque ostis caTemnlas
majoris momenti discurrit, donec ad primam praecipnamque cavitatem, concham
appellatam, ubi ossicula consistunt. perveniat termineturque. Quam rem ita accipi
velim, ut negandum baudquaquam sit. nonnullas minoris momenti propa^^es in alüs
cavernulis cessare sed tamen potiores ad potiorem et minorem, uti dictum est, ac-
cedere. 1. c. Cap. 10, p. 253.
*) Hie ille agr est, qui ab Aristotele et priscis complantatus, inaedificatus et
congenitus appellatur. 1. c. P. I, Cap. 8, p. 252; femer P. III, Cap. 10, p. 265.
7) 1. c. P. III, Cap. 9. p. 265. De Nerri Auditorii utilitatibus.
") Verum boc loco difficnltas non levis insurg^t, quomodo scilicet per hanc
membranam, quae aerem complantatum ab externe separat, fieri poaait alieiatio
ipsius soni in complantato aere, cum secundo de anima Aristoteles dicat extemum
aerem motum per continuitatem intemum quoque movere. 1. c. P. III, Cap. 4. De
Membranae utilitatibus.
•) 1. c. Cap. 4.
^^ Quae tamen operta non sunt ut reliqua ossa, sed nuda, alioqni ad soni
receptionem ac delationem forent inepta, ac perinde contingeret ac si jam proposita
dura Corpora aliquo molli panno involveres. 1. c. P. III, Cap. 5, p. 262. De ossi-
culorum utilitatibus.
'^) Illud praeterea babet notatu dignum bic motus, quod in ntraqne aure
eodem tempore fit, neque ullo modo separatim in altera tantum aure fieri potest
ut videatur bic modus quandam habere analogiam cum oculorum mota, siquidem
uno moto oculo alter quoque movetur. 1. c. P. I, Cap. 6, p. 263.
*^) Der Schleim der Trommelhöhle werde vermittels der Tuba durch Seiten-
lage, noch mehr durch Niesen entfernt. 1. c. P. III, Cap. 11.
^') Morgagni, Epist. Anat. Ep. V, 2.
'*) Morgagni, De sedibus et causis morborum. 4. T. I, p. 229 u. 230.
**) Opera Chirurgica A^enetiis 1619. — De Aurium Chirurgia p. 89 — 41.
Giulio Casserio
(1561—1616).
Bevor wir von den italienischen Anatomen dieser glanzvollen Periode
scheiden, müssen wir noch eines Mannes gedenken, mit dem die Reibe
der hervorragenden Anatomen des Cinquecento abschließt: Giulio Cas-
»erio (Casserius Placentinus), der sich mit besonderer Vorliebe der Ohr-
anatomie widmete und dessen Leistungen die seines Lehrers Fabrizio
> Aquapendente weit übertreffen. Dieser war es, dessen Scharfblick
I hervorragende Talent Casserios erkannte und ihn als seinen würdigsten
ichfolger auf dem Lehrstuhle zu Padua bezeichnete.
Tafel VII \
' vhToS&I'
JEmuki^AtJreJ. (MSSZRl magm lija
Caßminulh i-emporf ncnKn nuhes
JULIUS CASSERIUS
Oiulio Gasserio. 117
Giulio Gasserio wurde zu Piacenza 1561 geboren und trat als
Famulus in die Dienste des Fabrizio. Da er bald ausgezeichnete An-
lagen verriet, ließ ihn Fabrizio bei seinen Vorlesungen assistieren und
gab ihm dadurch, wie durch manche andere gütige Förderung reich-
liche Gelegenheit zum gründlichen Studium der Anatomie. Gasserio
benützte die Zeit so yortrefflich, daß er, ausgerüstet mit den nötigen
Kenntnissen, sehr bald den Doktorhut an der Universität Padua erwarb.
In seiner Ausbildung stetig fortschreitend, vermochte er bald seinen durch
Krankheit verhinderten Lehrer in den anatomischen Vorlesungen zu ver-
treten, und als Fabrizio, vom Alter gebeugt, sein Lehramt aufgab, wurde
1604 Gasserio auf seinen Vorschlag zum Professor der Anatomie in Padua
ernannt. Dieses Amt bekleidete er zum Ruhme der Universität bis zu
seinem 1616 erfolgten Tode.
Besondere Verdienste erwarb sich Gasserio durch seine Unter-
suchungen über Stimm- und Gehörwerkzeuge, deren vergleichende
Anatomie er in hervorragendem Maße förderte.
Die Werke Gasserios verraten einen stupenden Fleiß und seltene
Exaktheit und gehören zu dem Besten in der älteren anatomischen Lite-
ratur, stehen aber in Bezug auf Diktion und Darstellungsweise hinter
den Werken seiner Zeitgenossen zurück, ein Mangel, der vielleicht aus
dem Bildungsgang des Autors erklärlich wird. Dagegen ersetzen sie
diesen Mangel durch viele gelungene Abbildungen, deren Gasserio eine
so große Zahl lieferte, wie keiner seiner Vorgänger und wenige seiner
Nachfolger*).
An praktischer Fähigkeit, besonders als Ghirurg, übertraf Gasserio
den Fabrizio beträchtlich, dagegen stand er als Theoretiker weit hinter
ihm zurück.
Seine Leistungen in der Ohranatomie übertrafen aber imbestritten
die seines Lehrers. Gasserio geht ausgreifender ins Detail, wo Fabrizio
in der Schilderung nur andeutungsweise vorgeht.
Die für die Otologie in Betracht kommenden Werke sind das in
schöner Austattung edierte Werk: „De vocis auditusque organis historia
anatomica tractatibus IL explicata**. Ferrar. (1600). Mit 37 Kupfern
in Fol. und ,|Pentaesthesion, h. e. de quinque sensibus liber**. Venet.
1609. f. 33 Kupfertafek. — Francofurti 1610. Lib. IV, 148-265. Femer
«Tabulae anatomicae*'. LXXIX. Omnes novae nee ante hoc visae. Venet.
1627. f. cum supplementis Dan. Bucretii. S. 1. et a. f. Francof. 1632.
*) BucretiuB, der seine Tafeln später herausgab, erzählt, daß bei Gasserio
ein Maler (Eduard Fialectus) und ein Kupferstecher (Franciscus Valesius) wohnten,
wodurch er seine Entdeckungen rasch fixieren konnte. Auch ein deutscher Maler,
Joseph Morer, wird als einer seiner Mitarbeiter genannt.
118 Giulio Casaerio.
Was in den genannten Werken Casserios zunächst auf^Ult, ist die
reiche Fülle von Tatsachen aus der vergleichenden Anatomie des Ohres.
Diese bearbeitete er zu dem Zwecke, um in den Bau des menschlichen
Ohres besser einzudringen, und es gelang ihm, bei Tieren manches auf-
zufinden, was die weitere Forschung auch beim Menschen feststellte^).
In ausgezeichneten Tafeln^) ließ er das Gehörorgan im Zusammenhange
oder in die einzelnen Bestandteile gesondert darstellen, wozu außer dem
menschlichen Gehörorgan auch das vom Schwein, Schaf, Rind, Ziege,
Hund, Pferd, Katze und Maus wie auch das von Fischen und Vögeln als
Objekt diente.
In welch subtiler Weise Casserio die vergleichende Anatomie des
Ohres behandelte, beweist seine Abbildung der Gehörknöchelchen ver-
schiedener Tierarten (Fig. 4). Die Gehörknöchelchen des Menschen dürfte
er bloß im mazerierten Zustande gesehen haben, wie aus der vollkommen
unrichtigen Darstellung der Hammeramboßverbindung erhellt.
Bei der Zergliederung der Gehörorgane von Tieren fand er den
von Varoli beim Menschen beschriebenen Steigbügelmuskel'), der
beim Pferde und Hunde im Jahre 1601 aufgefunden und zum ersten Male
abgebildet wurde, femer dieinzisuren des knorpelig-membranösen Gehör-
ganges. Die Entdeckung des fälschlich als Muskel bezeichneten Levator
tympani minor veröffentlichte er im selben Jahre wie Fabrizio und
beruft sich, seine Priorität wahrend, auf das Zeugnis mit Namen an-
geführter Personen (Pentaestheseion, Cap. 11).
Casserio war auch der erste, der die Verschiedenheiten der Form
und Insertion der inneren Ohrmuskeln der Tiere von denen des
Menschen eingehend schilderte.
Ebenso genau beschrieb Casserio die äußeren Ohrmuskeln, die
bisher nur zum Teile bekannt waren und von manchen Nachfolgern
gänzlich geleugnet wurden. Er bildet den M. superior auriculae s.
Attollens sowie die drei Rück wärtszieher, M. retrahentes, ab, während
Falloppio die letzteren für einen Muskel ansah und Eustachio wie auch
Colombo überhaupt nur einen einzigen Muskel der Ohrmuschel zugaben.
Aeußerst eingehend schildert Casserio die einzelnen Unterabschnitte der
Ohrmuschel, wobei er hauptsächlich die Bezeichnungen des Rufus von
Ephesus benützt und die Struktur der Ohrmuschel (Haut, Fett, Knorpel,
Bänder, Muskel) eingehender Betrachtung in teleologischer Hinsicht
unterzieht"*).
Genauer als seine Vorgänger beschreibt Casserio die Art der Ver-
lauf srichtunf]^ des äußeren Gehörganges*'') und die Stellung des Trommel-
fells, welch letzteres nach seiner Ansicht vom Periost abstammt. Da-
gegen spricht er sich über die Natur der Chorda tympani nicht be-
stimmt aus. Bei der Schilderung der Trommelhöhle erwähnt er eine
Oinlio Caiserio,
Ton der Vena jugul. intern, ubstanmiende Vene und eine Arterie, die von
der Art. tempor. entspringt.
Was die GehörknöchelcUen ") betrifft, unterscheidet Casserio am
Hammer den Kopf, den Stiel und eioen größeren und kleineren Fort-
satz'). Bezüglich des Harn mermiisk eis, den er, wie Eustachiu, Musculus
iotemus nannte, meinte er, daß sieb derselbe in zwei Sehnen spalte, mit
120 Giulio Casserio.
denen er sich am Hammer befestigen soll^). Femer beschrieb er den
Aquaeductus Falloppii (Canalis facialis)') ziemlich genau und war
der erste, der die auch von Guido Guidi erwähnte Membrana fenestrae
Cochleae, die er von dem Periost des Labyrinths herleitete, exakt
schildertet^). Hingegen scheint er der Anatomie der Ohrtrompete nur
wenig Beachtung geschenkt zu haben, da ihre Abbildung in seinen
Tafeln fehlt.
Vorzüglich für die damalige Zeit sind Gasserios Untersuchungen
und Abbildungen des inneren Ohres, die lange Zeit als unübertroffen
galten. So kennt er den Vorhof und weiß, daß die Bogengänge
mit fünf Oeffhungen in diesen einmünden*)").
Ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer setzt er die Zahl der Bogen-
gänge auf drei fest und berichtet eingehend über ihre Lage und Größe^').
Die Schnecke, deren Windungszahl er noch mit drei bestimmt,
bildete er losgetrennt vom Knochen ab und erkannte in ihr als erster
mit Sicherheit den schon von Eustachio erwähnten^") membranösen
Teil der lamina spiralis (septum spirale). Auch scheint er wenigstens
beim Kalbe den Verlauf des Schneckennerven verfolgt zu haben**);
irrtümlich jedoch beharrte er bei der alten Anschauung, daß Facialis
und Acusticus Zweige eines Nerven seien, woraus er die ,1 Sympathie*
der Ohren, der Zunge und des Kehlkopfes ableitet. Alle diese Beschrei-
bungen, unter denen sich gerade die des inneren Ohres durch eine alle
vorhergehenden an Exaktheit und Detailkenntnis überbietende Genauig-
keit auszeichnen, sind durch treffliche bildliche Darstellungen erläutert
Casserio beschäftigte sich auch mit der Entwicklungsgeschichte
und kam zu folgenden Ergebnissen. Das Felsenbein ist bei Kindern
vom Schuppenteil noch deutlich getrennt, der Processiis styloides ist
knorpelig, der Gehörgang ist knorpelig (bei Erwachsenen teils knöchenif
teils knorpelig), der Annulus tympanicus deutlich erkennbar, die drei
Gehörknöchelchen sind bei Neugeborenen nicht so fest, wie bei Erwach-
senen etc.
Noch wollen wir erwähnen, daß er sich über die Beschaffen-
heit und den Nutzen des Ohrenschmalzes eingehend ausspricht und die
Existenz der Drüsen des Gehörgaugs andeutet.
Casserios Physiologie enthält eine Menge wenig origineller
Ansichten über den Nutzen der einzelnen Teile des Gehörorgans^*).
Sfino Physiologie des Hörens gleicht im wesentlichen der des Koyter
■ ) Von veifjjleichend- anatomischem Interesse ist der Befund Casserios bei
Fischfn lEsox Lucius), bei denen er Hörj^teincben auffand, von denen er sagt, daß
^ie in einem ovaU-n. wass er gefüllten Bläschen enthalten sind. nYesicula ovalem
ti^uram praeseferen^, aqua plena: cui insunt duo corpuscula osaea discontinna.
divisa ac ab omni vinculo libera."' 1. c. Lib. I, Cap. 20.
Oiulio Gasserio. 121
und Fabrizio, doch teilt er dem Nerven, den er als ,instrumentum
auditus" ansieht, eine größere Rolle als dem ,a6r in genitus'' zu, an
dem er noch festhält^*). Hinsichtlich der Rolle der Gehörknöchelchen
für den Hörakt steht Casserio insofern im Widerspruch mit der Ansicht
seines Lehrers, als er die Kette der Gehörknöchelchen bloß als eine
Stütze ftir das Trommelfell ansieht, während sie mit der Fortleitung
des Schalls nichts zu tun hätten^''), eine Ansicht, die auch in neuerer
Zeit von Secchi und Zimmermann yertreten wird.
Die Förderung, welche die Ohranatomie durch Casserio erfahren,,
muß imiso höher angeschlagen werden, als die nächsten Dezennien arm
an neuen Entdeckungen waren.
') Ego una cam delineatione Auriculae hominis etiam brutales qnasdam aares
perfiguravi: sunt quidem ubique in animalibus vivis conspicuae et obviae: iuvabit
tarnen, in suo musaeo eas cum humano conferre posse etsi ipsa animalia ibidem
non adsint.
') Tabulae duodecim.
') Pentaesthes., Lib. I, Cap. 12, Tab. IX, Fig. 24, 25 Equus. Musculus in-
ternus a nemine hactenus inventus et observatus suo tendine tenuissimo stapedi
a4junctus.
*) 1. c. Lib. I, Cap. 5, p. 19. J)ort heißt es auch betreffs der Muskeln: nun-
quam mihi obtigit caput hominis, cui omnes (musculi auriculae) defuere.
*) 1. c. Cap. 6, p. 41.
*) De tribus quippe ossiculis quorum conformatio adeo elegans, ac artificiosa,
usus adeo ezcellens ac nobilis, ut utrumque oratione satis Buperque exprimere im-
possibile sit. 1. c. Lib. I, Cap. 12, p. 66.
T 1. c. Cap. 12, p. 66.
> ^) l. c. Cap. 13, p. 79 beschreibt ihn beim Pferd und Schwein etc. Insertion:
1) in elatiorem mallei apophysin, 2) altero in cervicem.
») 1. c. Cap. 6, p. 40.
^®) .Fenestra ovalis tortuosa* . . . «attamen membrana cui Stapedis basis ap-
poflita est clausum existit*. 1. c. Cap. 11, p. 58.
") 1. c. Cap. 11, p. 59.
^^) ünus transversim, ab interioribus extrorsum; alius recta, ab anterioribus
retrorsum. Tertius oblique a posterioribus extrorsum. ibid.
^') Duplici constat helice, altera ossea latiori, quae a labyrintho est continua,
altera membranosa est molli, quam ea format membrana, quae duplex hoc antrum
vestiens utramque obserat fenestram. ibid.
") 1. c. Tab. X, Fig. 17, p. 60.
") 1. c. Lib. III, Cap. 1.
^*) Nervus est primaria pars in auditus organo. 1. c. sec. II, Cap. 12.
>T 1. c. sect II, Cap. 9.
Außer den im Texte angeführten Autoren wurden als Quellen benützt:
6. B. Morgagni: Epist. anatomicae 17.
M. Portal: Histoire de 1* Anatomie et Chirurgie. Paris 1770.
C. G. Lincke: Handbuch der theoret. u. prakt. Ohrenheilkunde 1837.
Edm. Dann: Skizze einer Geschichte der Ohrenheilkunde. Berlin 1834.
Stanislans von Stein: Literatur der Anatomie u. Physiologie des Ohres
(russisch). Moskau 1890.
122 Ohranatomie im 16. Jahrhundert.
Während des Druckes kam mir die Inauguraldissertation des Stud. med.
Max Mayer Earlin, Königsberg 1905, zur Hand, die keine uns unbekannte
Daten enthält.
d) Stand der Ohranatomie in Deutschland und Holland
im 16. Jahrhundert.
Trotz des lebhaften geistigen Verkehrs, der sich gegen Ende des
16. Jahrhunderts zwischen Italien und den benachbarten Ländern ent-
wickelte, dauerte es sehr lange, bis die in Italien schon in höchster
Blüte stehende anatomische Wissenschaft in Deutschland, Frankreich und
Holland festen Fuß faßte. Besonders gilt dies yon Deutschland. Noch
zersplittertien hier die Universitäten in scholastischen und philologischen
Fehden ihre Kräfte, noch war der Aberglaube gegen die Zergliederung
menschlicher Leichen in den großen Massen des Volkes nicht geschwunden,
und noch weit bis in das 16. Jahrhundert hinein ist von Seiten der
regierenden Fürsten keine Förderung der aufkeimenden Wissenschaft zu
entdecken. Wie tief die Aversion gegen die Zergliederung der mensch-
lichen Leichen selbst in gelehrten Kreisen wurzelte, beweist die Tat-
sache, daß noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Anatom Jacob Trew
sich veranlaßt sah, eine Verteidigung der Anatomie zu veröffentlichen.
Bei den im 16. Jahrhundert an den deutschen Universitäten vorge-
nommenen spärlichen Sektionen begnügte man sich im allgemeinen mit
der oberflächlichen Besichtigung der äußeren Körperteile und der in den
großen Höhlen eingeschlossenen Organe.
Die noch erhaltenen deutschen anatomischen Werke aus dem Ende
des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts liefern ein trauriges Bild von
dem damaligen Stande dieser Wissenschaft. Zu ihnen gehört «die erste
in deutscher Sprache geschriebene höchst armselige und stümperhafte
Anatomie'^, welche den Anhang zu der im Jahre 1497 gedruckten
Cirurgia von Hieronymus Brunschwig bildet*), femer die Schriften
von Job. Peyligk und Magnus Hundt, „Der Spiegel der Artzny* des
Laurentius Phryesen, „Das Feldtbuch der Wundartzney* des Hans
von Gersdorf, „Die Anatomie*^ des Gualtherus Hermannus Ryff u.a.
Alle diese medizinischen Inkunabeln, die zum Teil durch beigefügte rohe,
nichts weniger als naturwahre Holzschnitte illustriert; ein mehr anti-
quarisches Interesse bieten, enthalten fast nur mangelhafte und unrichtige
Beschreibungen. Erst die Anatomie des Job. Dry ander, der sich um
die medizinische Philologie große Verdienste erwarb und wie es scheint,
zuerst anatomische Vorlesungen zu Marburg hielt, verdient einige Be-
"^'j Ilyrtl, Lehrbuch der Anatomie. 20. Aufl., p. 54.
Felix Plater. 123
achtung, doch stützt er sich ganz auf Galen und gehört zu den er-
bittertsten Gegnern Vesals*).
Bei dieser Sachlage darf es nicht befremden, daß die Anatomie
des Gehörorgans in Deutschland erst sehr spät zur Entwicklung kam,
zumal die an und für sich schwierige Präparation des Organs eine
bereits ausgebildete Technik erfordert. Zu dieser fehlten aber geeignete
Instrumente, was aus der Tatsache erhellt, daß bis gegen Ende des
16. Jahrhunderts unter den auf den Titelblättern der Anatomien dar-
gestellten Sektionsinstrumenten sich nicht einmal die Pinzette findet**).
Die ersten deutschen Anatomen, welche den Spuren Vesals folgten,
sind Felix Plater, Kaspar Bauhin und Salomon Alberti. Sie
allein kommen für die Geschichte unseres Fachs im 16. Jahrhundert in
Betracht. Ihre anatomischen Entdeckungen können nicht entfernt mit
denen der Italiener verglichen werden, doch müssen wir es dieser ge-
ringen Zahl Ton Forschern als Verdienst anrechnen, daß sie sich zuerst
bemühten, die Ergebnisse ihrer großen Vorgänger, und Zeitgenossen
durch eigene Untersuchungen zu bestätigen oder richtigzustellen. Ihre
Leistungen sollen hier kurz erwähnt werden.
Felix Plater (Platerus, 1536 — 1614), dessen Lebenslauf durch
G. Freitags Auszüge aus den Tagebüchern allgemein bekannt geworden
ist***), gehört zu den interessantesten Gestalten der Geschichte der
Medizin. Für die Anatomie bekundete er schon sehr frühe ein lebhaftes
Interesse, das er während seiner Studienzeit zu Montpellier durch eifrige
Sezierübungen betätigte. Der große Mangel an Sektionsmaterial yer-
anlaßte ihn, unterstützt von Freunden, in finsteren Nächten frische Leichen
aus den Gräbern zu entwenden.
Nach Vesal war es Plater, der in Basel (1557) an mensch-
lichen Leichen Anatomie lehrte. Im ganzen dürfte er während 50 Jahren
fast dreihundertmal Kadaver zergliedert haben. Als Professor in
Basel widmete er sich eifrig der anatomischen Forschung, deren Er-
gebnisse er in dem Hauptwerke: De corporis humani structura et usu
libri III tabulis methodice explicati, iconibusque accurate illustrati,
Basiliae 1583 u. 1603 (mit 50 Kupfertafeln), niederlegte. Die Ab-
bildungen sind zum Teil Vesal und Koyter entnommen, zum Teil neu
hinzugefügt, doch ist eine Anzahl von diesen schematisch und, wie die
hier wiedergegebenen zwei Figuren zeigen, auch jeder Realität bar.
Platers Beschreibung des Gehörorgans, welche in dem ge-
♦) Haeser, Geschichte der Medizin. IL Bd., p. 23.
*♦) Hyrtl, 1. 0. p. 65 meint, Fallopio, Eustachio, vielleicht auch Vesal müßten
sich der Pinzette bedient haben, wenn dieselbe auch erst bei Yidius dargestellt ist.
***) G. Freitag, Bilder aus deutscher Vergangenheit. 4. Aufl., Leipzig 1863,
I, S. 262.
124 Felii Platar.
nannteD Werke entbalten ist, muß insofern lobend envähnt werden, als
er im Gegensatz mancher seiner Zeitgenossen die ErrungeDScbaften der
Italiener verwertet hat. Seine Schildenii^ des knöchernen OehSrgangs
und der Trommelhöhle sowie des Trommelfells enthält nur Bekanntes.
Vom Hammer kennt er zwei Fortsätze^). Genauer als seine Vor-
gänger schildert er die Ligaments der Gehörknöchelchen, Ton denen
er das Ligam. process. min. incudis als neu beschreibt*). Die
wirkliche Lage der Gehörknöchelchen scheint er, wie die betreffende
Abbildung zeigt, nicht richtig erfaßt zu haben. Zutreffend ist seine Be-
Schreibung der Trennung der knöchernen Ohrtrompete von dem Canalis
pro tensore tympani durch eine dUnne Enochenlamelle '). Durch den
knöchernen Kanal der Ohrtrompete dringe beim Schneuzen Lufl in das
Ohr , wodurch Sausen entstehe *). Besser als die beigegebenen Ab-
bildungen vermuten lassen, ist seine Beschreibung der Bogengänge
und der Schnecke. Bei den knöchernen Bogen{^gen erwähnt er
deren ampulläre Erweiterung').
Im Gegensatze zu der in mancher Beziehung richtigen Beschreibung
einzelner Teile des Gehörorgans sind die hier reproduzierten schem^-
schen Zeichnungen, welche die Topographie des Hörapparates versinn-
lichen sollen"), primitiv und mai^elhaft. Die TexterkUirung zeigt die
Irrtümnier der damahgen Vorstellung von den LageverMltnissen der
einzelnen Teile des Gehörorgans, insbesondere von dem Verlauf der
Nerven und Gefäße im Obre.
Fig. 5. Aiiditus organi Tftsorum, uiembranarum OBaiculomm. foramjnamqae delineaUo.
na Aerem adniittens nieatua. forameo 1 auditus organi (Äeufierer GebOrgang).
A NtMviis uuilituHua quinti paris cerebri, bipartitus ubi foramen 4 auditas orgtuii
subit (Ilür- und liesidilanerv). Hbb Vena iugularis, cum nervea portione, primam
L'avitnti'm (Troinmulbühli-) auditiia orgnoi. per Jllius foramen 2, iuzta b perradeni.
c e Arti'rirt. auditus orpanuni per illius foramen 3 subienB. et nervus per idem forame»
eliijisus. C Kodein, i'itni auditus orpanum per foramen illiaa 5 procidens. dd Hn-
miliiT nervi ipiinti )iuris portiu (Uürnerv), in secundam et tertiam cavitatem (Bogen-
iTJniie und .-=Hiiii'tki') pertinc'n!'. ee Klatior nervi quinti parit portio (QesichtsDerv}
per i'anuloni antra et uiisiiiu (Kanal des N. faciiilia] ad c usque, ubi elabitar, ductne.
t' Tvmp.uiuui auri<i priuiam cavilatem Sauden!, g Ossicula aoditus tria, invicem
iuii.ta. li fiivit;is lerliii. se« buL-cinum auditus organi (Schnecke), i Cavita« «cundi,
--o-.iiodiDiUVorliun. tribiis<'unifu)i3(Hont'ngiinge)i'seurrena.auditua organi. kl Canatis
seu aiiuaedui'tu^. ncrvuin ^1 iirtoriam vfhens, duobue fo ramin ib ua 1 «e aperieiu.
'1 Tab. XLIX. FiK.-20.
Kaspar Bauhin. 125
Die an den anatomischen Teil sich anschließenden physiologischen
Bemerkungen entbehren jedes Interesses.
^) ProcessuloB duos habet sede posteriori tenues, acutos quorum elatior liga-
xnento inhaeret, humilior orbitae membranae immersus est, 1. c. L. I, p. 33.
') Cmra duo seu procesaus mutuos distantes emittit, quorum brevius ac fere
latius, ligamento nectitur orbitae, 1. c. p. 33.
') Privati Cavitati primae gemini Ganales, mutuo accumbentes tenuissima
tantam ossea squama invicem dirempti, 1. c. Lib. I, p. 31 und Lib. III, Tab. 7,
Fig. 4 ; litt i i.
*) Per hos canales crederem aerem nonnumquam irrumpere, cum impetuosius
nasum emungendo sentimus aurium sibilum. ibid.
^) Cnniculos tres seu Canales, qui ex ipsa amplo initio prodeuntes, an-
gostiores sensim, nt observavi, facti, per ossis substantiam delati et reflexi, rursum
in hanc cameram recurrunt illicque rursum desinunt, 1. c. p. 32.
Kaspar Bauhin (1560—1624), der Nachfolger F. Platers auf
dem Lehrstuhle der Anatomie in Basel, entstammte einer französischen
Familie aus Amiens und zeichnete sich als Arzt, Anatom und Botaniker
aus. Seine anatomischen Kenntnisse erwarb er als Schüler des Fabricius
ab Aquapendente und als Freund und Studiengenosse des Casserio.
Er ist der Entdecker der Blinddarmklappe und der Begründer der noch
gegenwärtig zum Teil gebräuchlichen anatomischen Terminologie.
Sein »Theatrum anatomicum", Francoforti ad Moenum, 1605, ist,
wie Bauhin selbst zugibt, nur ein Auszug aus den Werken der großen
Italiener, illustriert durch verkleinerte Abbildungen aus den Anatomien
des Vesal, Eustachio, Fabrizio und Plater^), doch enthält der
Abschnitt über das Gehörorgan manches interessante Detail.
Die Ohrtrompete wird in ihren Einzelheiten ausführlich be-
schrieben; doch nimmt er, wie Koyter, irrtümlich das Vorhandensein
einer Klappe an der Kachenmündung an, „damit dieser Gang nur
nach Bedarf oflFen sei***). „Um dies zu bewirken, ende die Tube
beiderseits dort, wo sich ein ,faucium musculus' befinde; daher werde,
wenn der Schlund während des Schlingaktes erweitert wird, auch die
Tube gleichzeitig geöffnet" ^). Erwähnenswert ist seine Mitteilung, daß
man das Trommelfell bei weitem Gehörgange sowohl bei Sonnenlicht
als auch bei künstlicher Beleuchtung sehen könne*). Die Gehör-
knöchelchen schildert er in der Art seines Vorgängers. Das Linsen-
knöchelchen ist ihm gänzlich unbekannt. Was die Chorda an-
belangt, so stimmt er am meisten der Anschauung des Eustachio bei,
daß diese ein Ast des 4. Nervenpaares sei. Dem Musculus tensor
tympani schreibt er, wie Casserio, zwei feine Sehnen zu, von denen
sich die eine am Hammergriff, die andere am Hammerhalse inseriert^).
Die Bogengänge beschreibt er den Entdeckungen seiner Vorgänger
entsprechend und behauptet, daß sie sich beim Kinde leichter >
126 Salomon Alberti.
präparieren lassen; er findet sie mit einem sehr dQnnen und weichen,
membranösen Ueberzuge ausgekleidet*). Bezüglich der Schnecke,
die nach ihm drei bis vier Windungen besitzt, lehnt er sich an die
von Eustachio gegebene unklare Beschreibung des membranösen
Teiles an.
Seine Hörtheorie stützt sich im wesentlichen auf Fabrizio und
Casserio*^). Er erkannte den Nutzen der Gestalt und Stellung des
äußeren Ohres für die Schallaufnahme^), meinte, daß das Trommelfell
zum Schutze der dahintergelegenen zarten Teile diene ^), und daß sich
der Schall vom Trommelfell durch die Gehörknöchelchen fortpflanze^®).
Der Nutzen der Tuba Eustachii bestehe darin, daß die durch Mund und
Nase eindringenden Schallwellen durch sie in die Trommelhöhle geleitet
werden, von der aus sie durch die Gehörknöchelchen und die Membran
des Schneckenfensters zum Hörnerv gelangen ^^).
') 1. c. L. III, Tab. 23—26, p. 168—175.
') I. c. p. 422 u. 423. De canali, qui ex anre in os fertur. .Dein tanica mucosa
valvulae instar obdiictus, ne semper hie meatus in ore patente sit orificio, sed pro
necessitate pateat, alias quasi concidat, ne facile mali vapores ex ore in aures transeant.
^) Ibid. quare dum fauces dilatantur sive aperiuntur ab bis muscolis ad de-
glutitionem etiam meatus bic reseratur.
*) 1. c. p. 425. De Membranula Concbae seu tympani. Haec in viventibns
patulas aures babentibas, vel in Sole, vel candela apposita extrinsecus conspici potest
^) 1. c. p. 437. De Musculis Auris internae. Duos tendines gracillimos prodncit
et alteram elatiori mallei apophysi, alterum ejus cenrici infigit.
*} 1. c. p. 445. De Labyrintho et Cocblea, sive cavitate secunda et tertia ossis
petrofli. Canaliculi quoque hi in superficie interiore membranula quodam mollissima
ac tenui-i^ima vestiuntur.
'. 1. 0. p. 448—454.
-> 1. c. p. 412—419.
»f 1. c. p. 425—428.
»^; 1. c. p. 451—454.
'') 1. c. p. 422— 425.
Zu den deutschen Aerzten, die sich mit Ohranatomie befaßten, gehört
auch Salomon Alberti (1540 — 1600) aus Naumburg, Professor zu Witten-
berg, bekannt durch seine Schrift über die Tränenwerkzeuge.
In seiner ^Tlistoria plerarumque partium humani corporis, in usura
tyronum edita", Viteberg 1585 etc. (mit 30 Holzschnitten) beschreibt er
in dem das Gehörorgan behandelnden Abschnitte besonders ausfOhrhch
die Schnecke, die er entdeckt zu haben vorgibt. Er kennt den Modiolus
und behauptet, daß der Schneckenkanal mit einem Nerv gefüllt sei.
Auch f^iib er nach Morgagni^) dem Vestibulum zuerst seinen Namen
und unterschied es, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, als eigenen
Bestandteil des Ijabyrinths -).
Unter den hoUiindischen Anatomen verdient noch Petarus PaYllSi
Günther von Andernach. 127
Pieter Paaw (Paauw, Pavus, 1564 — 1617) genannt zu werden. Er
war seit 1589 Professor zu Leiden, wo er als Anatom und Chirurg
wirkte. In seinem Werke über Osteologie: Primitiae anatomicae de
humani corporis ossibus, L. B. 1615, beschrieb er auch das Gehörorgan,
doch stützte er sich hierbei vorwiegend auf die Zergliederung von Tieren.
Für seine Angabe, daß der Hammer mit dem stapes artikuliert ^), finden
wir keine Erklärung. Pavus scheint das Os lenticulare zuerst beim
Ochsen aufgefunden zu haben '^). Die zu seiner Zeit noch wenig be-
kannte Tuba Eustachii ist in dem genannten Werke meistens gut be-
schrieben.
Von den im 16. Jahrhundert erschienenen otologischen Abhandlungen seien
noch erwähnt:
Matthesius, De admirabili auditus instrumenti fabrica. Vitteberg 1577.
Werner, Johannes, Disputatio de visionis et auditus doctrina. Helmstad 1590.
Havenreuter, J. Ludovicus, De sensibus. Argentorati 1593.
Goclenins, Rud., De sensu et sensibus. Francofurt 1596.
Poll, MichaSl, De auditu. Francof. ad Viadr. 1600.
*) Morgagni, £p. anat. XII, Cap. 2.
') Histor. pler. c. h. part.
') De hum. corp. Ossib. Part. I, Cap. 8.
*) Nach Wildberg, vide Lincke, Handb. d. Ohrenheilkunde, I. Bd. p. 127. ^
e) Stand der Ohranatomie in Frankreich im 16. Jahrhundert.
In Frankreich, wo die Schulen von Montpellier und Paris noch
spät bis in das 16. Jahrhundert hinein den Lehren Galens anhingen,
währte es lange, bis die Anatomie zur Blüte kam. Von den großen
Errungenschaften Vesals und seiner italienischen Zeitgenossen wurde
in Frankreich gar nicht oder in polemischer Weise Kenntnis genommen. '
Eigene Entdeckungen in der Otologie von größerer Bedeutung sind in
diesem Jahrhundert von den französischen Anatomen nicht zu verzeichnen.
Die hervorragendsten Professoren in Montpellier und Paris, Günther
von Andernach und Jacobus Sylvius, beide Lehrer des jugend-
lichen Vesal, waren zur Zeit, als dieser in Frankreich studierte, strenge
Galenisten und wandten erst später, nach dem Bekanntwerden des Werkes
Vesals, ihre Aufmerksamkeit den epochalen anatomischen Entdeckungen
der Italiener zu.
Qünther von Andernach. Dies gilt insbesondere von Joh. Günther
von Andernach (1487 — 1574), der sich schon in jungen Jahren des
Rufes eines ausgezeichneten Philologen erfreute. Als Professor der
griechischen Sprache in Löwen und später als Professor der Anatomie
an der Universitöt in Paris zählte Vesal vorübergehend zu seinen
Schülern. Noch Anhänger Galens, hat er in seinem ausführlichen Werke
128 Charles Estienne.
„Joannis Quintherii Andernaci medici clarissimi, de mediciDa veteri et
nova tum cognoscenda, tum faciunda Commentarii duo; Basileae 1571*,
dem wir unsere folgenden, die Otologie betreffenden Notizen entnehmen,
die Entdeckungen der neueren Zeit nicht ganz außer acht gelassen. So
erwähnt er das Trommelfell und beschreibt die drei Gehörknöchelchen,
die ihm' durch die Publikationen V es als und der Italiener bekannt
wurden ^). Hingegen ist seine Beschreibung der Trommelhöhle und des
Labyrinthes, die durch die italienischen Anatomen bereits eine große
Förderung erfahren hatte, sehr mangelhaft.
Auch Günthers Besprechung der Ohrenkrankheiten ^) läßt deutlich
den Anhänger der alten Richtung, insbesondere der hippokratischen
und galenischen Schule erkennen, insofern er das alte abgebrauchte
System der Einteilung in Dolor, Surditas, Sonitus beibehält. Nur einige
an sich unbedeutende Bemerkungen, die yielleicht einigen Anspruch auf
Selbständigkeit erheben dürften und die Methode Günthers charakteri-
sieren, seien hier kurz angeführt. Bei Feststellung der Krankheits-
ursachen, welche subjektive Geräusche hervorrufen, berücksichtigt er
Temperatur, Habitus und frühere Lebensweise des Patienten, stellt femer
fest, ob die Geräusche dauernd oder in Intervallen auftreten. Sind sie
dauernd, so werden blähende oder unverdauliche Speisen, ein angeftdlter
(a corpore repleto) oder ein leerer (aut exinanito) Körper, allzu große
Hitze oder Kälte, als ursächliche Momente hervorgehoben. Treten sie
in Intervallen auf, so sind dicke schleimige Flüssigkeiten und ähnUches
mehr die Ursache. Angeborene Schwerhörigkeit bringt er unter anderem
auch mit einem fehlerhaften Bau des Gehörorgans in Zusammenhang')
und hält sie für unheilbar.
») 1. c. Comm. 1, Dialog. IV, p. 93 u. 94.
') 1. c. Comm. I. Dialog. VIII, p. 620—624.
') A siructurae vitio, quo aut figura adest depravata aut instnimentum aliqnod
deest, 1. c. p. 623.
Zu den verdienstvollsten Männern der französischen Schule dieser
Epoche zählen Charles Esti«nne, Guido Guidi und Laurent. Für
die Otologie haben alle diese Namen keine hohe Bedeutung und an
keinen knüpft sich irgend eine wertvollere Entdeckung, Guidi aus-
genonnnen, der als erster den nach ihm benannten Vidianischen Nerven
<Tfenauer beschrieb. Die beiden anderen stehen hinter ihren Zeitgenossen
und Vorgänsfern sogar weit zurück.
Charles Estienne (Stephanus), gegen 1503 in Paris geboren,
stammte aus der berühmten und gelehrten Buchdruckerfamilie Estienne
und entwickelte frühzeitig eine vielseitige wissenschaftliche Tatigkeiti
durch die er sich große Anerkennung im Gelehrtenkreise erwarb, virährend
er gleichzeitig durch die Verfolgung seiner dem Protestantismus an-
Charies Estienne. 129
häDgenden Familie Tielfache Kränkungen erlitt. Er erreichte ein Alter
Yon 60 Jahren.
Seine ,De Dissectione partium corporis humani libri tres. etc/«
Pansiis 1545, mit zahlreichen großen Holzschnitten ausgestattet, galt
in Frankreich lange als das beste anatomische Werk. In seiner Dar-
stellung ein Anhänger G a 1 e n s , zeigt er doch in vielem « besonders in
der Schilderung der Bander des menschlichen Korpers, eine auch von
späteren Anatomen anerkannte Selbständigkeit. Die Aehnlichkeit mehrerer
Abbildungen seines Werkes mit denen in der •Fabrica'^ Vesals ver-
leitete neuere Historiker zu der Annahme, Vesal hätte Abbildungen
des Estienne kopiert. Diese Annahme entbehrt jeder Begründung. Ob
umgekehrt Estienne die .Fabnca' tur die bildliche Ausstattung seines
Werkes benutzt hat. muß dahingestellt bleiben ; textlich scheint dies nicht
der Fall zu sein, da die anatomische Schilderung des Gehörorgans von
Estienne von den zeitgenössischen Entdeckungen der Italiener nicht
einmal die 30 Jahre früher publizierte Schilderung des Trommelfells und
der Gehörknöchelchen in der «Isagoga* des Berengario da Carpi
enthält.
So wertvolle Details sein anatomisches Werk im allgemeinen auch
besitzt, teilt es bezüglich der Ohranatomie doch noch vollständig die An-
schauung alter und mittelalterlicher Autoren, indem es über das Gehör-
organ bloß sagt, daß der Gehörgang anfangs gerade, dann gewunden
verlaufe und sich gegen das Gehirn zu mit mehreren Löchern öffne,
durch welche der Schall eindringe ^).
*) Ultra praedictiim sinum. foramen auris apparot. quod primo rootum et
Simplex, procedendo flexuosam est, deinde vero iuxta cerebrum in multa alia tonuia
foramina diducitur, per quae facultas audiendi nobis est. 1. c. Lib. I, p. 19.
Vidus Vidius (Guido Guidi), ein Florentiner, ging im Jahre 1542
als Professor der Anatomie nach Paris, wo er unter großem Beifall lehrte.
Dort verblieb er 6 Jahre, worauf ihn Herzog Cosmo I. von Toscana
zurückberief und zum Professor der Philosophie und Medizin in Pisa er-
nannte. Sein anatomisches Werk erschien erst im Jahre 1011, lange
nach seinem Tode (1569), von seinem Neffen Julian Guidi heraUvS-
gegeben, und enthält auch die Ergebnisse späterer Zeit: De nnatomia
corporis humani libri VII, tabulis LXXVII in aere inoisis strata; Venetiis
1611 (Frankf. 1611, 1626*), 1645, 1677). An vielen Stellen sowie in
der ganzen Anordnung erscheint dieses Werk mit seinen vielfach mangel-
haften Tafeln als eine Kopie des Vesaischen Buches. Originelles iindet
sich darin nur wenig. Doch gebührt Vidius das Verdienst, den gemein-
*) Diese Ansgabe wurde nls Quelle benützt.
Politzer, Oeschichte der Ohrenheilkumio. I.
130 Vidus Vidius.
schaftlichen Stamm des Vidianischen und des Gaumennerv zuerst genau
beschrieben zu haben.
Die Beschreibung des Gehörorgans findet sich an zwei verschiedenen
Stellen des Werkes, und zwar im 2. und 7. Buche.
Im 2. Buche ^), das die gesamte Osteologie des Menschen enthält,
bespricht er unter Hinweis auf die Arbeiten Vesals und des be-
deutendsten Anatomen Spaniens, Juan Valverde de Amusco, der
bekanntlich die Vesaischen Lehren in seinem Vaterlande verbreitete,
die Struktur des Schläfebeins. Eine kurze Skizze dieser Beschreibung
gestattet einen Einblick in die gehöranatomischen Kenntnisse des Vidius.
Vom Proc. mastoid. weiß er, daß er im kindlichen Alter solid, beim
Erwachsenen jedoch hohl sei. Am Schläfebein werden vier „foramina* der
früheren Anatomen und ein fünftes von ihm aufgefundenes geschildert.
Seine Darstellung dieser „foramina" ist nicht klar genug, da er jeder
Namensbezeichnung aus dem Wege geht. Als erstes ,|foramen*^ be-
schreibt er den Meatus auditor. ext., als zweites das Foram. stylomastoid.,
von dem er sagt, daß es viele für blind endigend gehalten haben, weil
der Kanal, in den es führe, so gewunden sei, daß man schwer eine Borste
durchstecken könne. Vidius jedoch sah, daß die Borste aus dem Meatus
auditor. int. herauskomme und weiß auch, daß durch diesen Kanal die
Portio dura (N. facialis) des 5. Hirnnerv (N. acusticus) verläuft. Ob
er diese Entdeckung unabhängig von Falloppio gemacht hat, läßt sieb
schwer feststellen. Tatsache ist, daß er an anderen Stellen das Werk
des Falloppio zitiert. Welches die anderen beiden „foramina*' sind,
läßt sich bei der Unklarheit des Textes nicht entscheiden, zumal auch
die entsprechenden Abbildungen -) nicht zur Aufklärung beitragen. Das
fünfte, von ihm selbst mitgeteilte „foramen" ist das For. mastoid., das
neben der Lambdanaht in der Nähe des Proc. mast. liegt und einem
Emissarium zum Eintritt in den Sinus diene ^). Außer diesen fünf großen
„foramina" gebe es noch andere kleine Löcher (parvula alia), gleichsam
Spalten (riniae), in die eine eingeführte Borste nicht allzu tief ein-
zudringen vermag.
Die bereits von Falloppio konstatierte Tatsache, daß bei Kindern
an Stelle des Meatus auditorius externus ein ringförmiges Knöchelchen
(Annulus tymj).) sich findet, welches sich leicht durch Kochen isolieren
lasse und erst später mit den übrigen Teilen des Schläfebeins verwachse,
wird von Guidi eingehend erörtert, ohne daß er Falloppio nennt"^). Die
Tronimelböhle und das Labyrinth werden als vier „sinus" beschrieben.
In dem ersten der vier „siiuis", der Trommelhöhle, die er nur als
Sinus bezeichnet, kennt er das runde und ovale Fenster, die drei Gehör-
knöchelchen und die Chorda. Beim Stapes bemerkt er, daß dieser mit
seiner Basis das nicht immer offen stehende ovale Fenster verschließe *).
Vidua Vidius. 13 j
Der letzte Passus kommt auch für seine Hörtheorie in Betracht. Er sagt,
die Gehörknöchelchen seien durch Häutchen miteinander verbunden
(Membranulis alligantur) und die artikulierenden Flächen mit Gelenks-
knorpel bedeckt. Die Nervenstruktur der Chorda, die nach seiner
Beschreibung den Stapes mit dem zweiten Fortsatz des Incus verbindet,
erkennt er nicht an und läßt es dahingestellt, ob sie ein kleiner Nerv
oder eine kleine Arteric sei®). Als zweiten „sinus** schildert er den
Vor ho f und die Bogengänge, ohne auch diese mit einem eigenen Namen
zu bezeichnen, und als dritten die Schnecke. Erwähnenswert ist
seine Angabe, daß man im zweiten und dritten „sinus*' drei bis vier
kleine Löchelchen finde, durch die haardünne Aeste der weichen Portion
des 5. Hirnnerven (N. acust.) zu der weichen und dünnen Membran gehen,
welche diese beiden ^sinus** innen auskleidet'). Als vierten „sinus'*
endlich beschreibt er den inneren Gehörgang mit den kleinen dort sicht-
baren Löchelchen ^.
Im 7. Buche ^) fügt er dem bereits Mitgeteilten einige neue Be-
merkungen hinzu. So erwähnt er, daß der Canalis facialis kleine Löcher
besitze, durch die Gefäße und Aeste des Facialis austreten. Ferner hält
er die Membranen, die das runde und ovale Fenster verschließen, für
Derivate des Periosts der Trommelhöhle^^). Die inneren Ohrmuskel
übersieht er gänzlich.
Recht kurz und bündig äußert er sich über die Hörtheorie ^*).
Es sei nicht genügend festgestellt, inwieweit die einzelnen Teile des
Qehörorganes zum Hören beitragen. Durch den Schall würden die Gehör-
knöchelchen in Bewegung gesetzt und das ovale Fenster auf diese Weise
geöffnet, so daß durch dieses und das runde der Schall in die anderen
„sinus", welche „membranula ex nervulo quinti pari dilato* ausgekleidet
seien, eindringen könne. Dort sei nämlich der Sitz der vom Gehirn ver-
liehenen Hörfähigkeit. Daneben erklärt er an anderer Stelle^*) die Luft,
welche „in intimo foramine auris residet*, als das „praecipuum instru-
mentum auditus".
Zu erwähnen wäre noch einiges, was von Vidius über Ohr-
pathologie mitgeteilt wird. Bei Eongestionen des Blutes nach dem
Ohre läßt er Blutegel in der Nase ansetzen. Schwerhörigkeit und
Taubheit will er durch laute Geräusche günstig beeinflussen. End-
lich empfiehlt er, das Ohr nicht zu verstopfen, damit einerseits der
Schall ungehindert einfallen und anderseits das Cerumen abfließen
könne 1»).
>) Cap. 2, p. 24 u. 25.
«) l. c. L. II, Tab. V, Fig. 1—6 (A, B, C, D), p. 29.
') HiB qaatuor adde quintum, quod ab externa parte calvariae deprehenditur
iuzta suturam lambdoidem ad originem processus mastoidis: interdum non in solo
132 ^^ Laurent,
OBse temporum, sed partim etiam in occipitia insculpitur; ezit per hoc vena, quae
a fönte sanguinis durae membranae cerebri fertur ad occipitium, 1. c.
'*)... initio foraminis os parvum annuli modo figuratum deprehenditur in-
fantibus, praesertim ubi coquatur, separatum a reliquo osse, cum quo aetatis pro-
grcssu coalescitf 1. c.
^) ... et sua basi ovatum foramen quod diximus claudit; neque enim semper
patet, 1. c.
^) Discurrit et per hunc primum sinum chorda tenuissima, qua stapes cum
altero crure incudis coniungitur : videtur autem aut nervulus, aut parva arteria, 1. c
^ Deprehenduntur tarnen tria, aut quatuor minima foramina in secundo, ac
tertio sinu. per quae ramuli mollis nervi quinti paris capillorum modo tenues ad
membranulam feruntur, möllern, ac tenuem. quae eosdem sinus iniemos ambit, 1. c.
®) Mollis, qui praebet audiendi facultatem per minima foramina in hoc sinus
viz conspicua. distribuitur in reliquos sinus iam dictos, ac membranam ipsos circum-
dantem, 1 c.
») 1. c. Cap. V, p. 303 u. 304.
^°) ünum ovatam figuram habens situm est ad superiorem, ac mediam partem
sinus ;tenuis8imaquemembrana clauditur ambiente Universum sinum, clanditor
autem a basi stapedis. Alteram versus posteriorem atque inferiorem partem est
rotundum, atque eadem membrana obductum, per quod patet auditus per unam
viam in secundum sinum, per alteram in tertium, 1. c.
^M ... illud tamen in aperto est. quod ubi agitetur membrana, agitatur etiam
malleus per manubriolum membranae illigatum; et propterea incus, et stapes, et ita
aperitur ovatum foramen. adco ut sonus per hoc, et per alterum rotundum penetrare
ad alios sinus possit obduetos membranula ex ner\'ulo quinti pari dilata, ubi domi-
ciliuni est facultatis audiendi a cercbro transmissae. Sed haec coniectura magiü
quam scientia comprehenduntur.
'-) 1. c. p. 308.
^«) Artis medicinalis Tom. V, Francof. 1595. Lib. IV, Cap. 10—12, p. 168—177.
Lib. VI, Cap. 5. p. 274—275.
Du Laurent. Zu den in dieser Epoche wirkenden französischen
Anatomen zählt Andreas Laurentius (f 1601>), Kanzler der Universität
Montpellier, später Dekan der Pariser Fakultät und Leibarzt am franzö-
sischen Hofe. In seiner ..Ilistoria anatoniica** ^) bezeichnet Du Laurent
als äußeres Ohr bloß die knorpelige Ohrmuschel, die nicht nur zum
Schmuck, sondern auch zur Schallaufnahme dient*). Geht sie aus
irgend eim'm Anlasse verloren, so vernimmt man Schall und Stimme
nur wie (la> Hauschen des Wassers oder das Zirpen der Zikade^). Die
KewoLrlitbkeit der (Ohrmuschel bei manchen Menschen schreibt er der
Wirkuiiir bo'^oiulerer Muskeln zu M. Das Ohrenschmalz habe die Auf-
LTabo. klrino Tiorchen , die etwa versuchen ins Ohr einzudringen, fest-
zuhalttMi.
Da-- innert- ()hr, zu dem Du Laurent auch den äußeren Gehör
iraiiii uml (la< Trommelfell rechnet, wird von vier Gängen (meatus,
laviras» i^cbiMit. Dm erstfu (ieliörixanj]^, der durch das Trommelfell
narh innen zu seinen Abschluß findet, beschreibt er als gewunden, schief,
Du Laurent. 133
rund und eng („tortuosus est, obliquus, rotundus, angustus"); das
Trommelfell dagegen als zart, dicht, trocken, durchsichtig und sehr
empfindlich. („Tennis est, densa, sicca, pellucida et exquisitissimi sensus.")
Des Schutzes wegen ist es schief gestellt. Es entstammt weder der Pia
mat^r, noch dem 5. Gehirnnerv, sondern der harten Hirnhaut^). Ge-
staltet es sich bei der Bildung zu dick und zu dicht, so bewirkt es
unheilbare Taubheit, während es von Flüssigkeit (Eiter) triefend, Schwer-
hörigkeit erzeugt^). Der zweite Gang, der sich an das Trommelfell
anschließt (Trommelhöhle), von Aristoteles „Cochlea", von anderen
„pelvis* genannt, enthält neben Luft (aör vernaculus) die Gehör-
knöchelchen, von denen Du Laurent bemerkt, daß sie sonderbarer-
weise beim Knaben ebenso groß sind wie beim Greise („et, quod mirum
est, eorum in puerulo eadem est quae in sene magnitudo"). Von der
Chorda meint Du Laurent, sie sei so klein, daß man nicht ent-
scheiden könne, ob sie Nerv, Vene oder Arterie sei. («Tam exilis est
chorda, ut quid sit, nervus an vena, an arteria dubitetur.") Auch das
Vorhandensein von Muskeln, die ihrer Kleinheit wegen sich fast der
Beobachtung entziehen, wird erwähnt. Du Laurent wendet sich gegen
die Ansicht des Arantius, daß nur der Hammer sich bewege. Er weiß,
daß die Knöchelchen, die Chorda und die ausnehmend kleinen Muskeln
nur Organe der Fortleitung sind'). Denn nicht durch die Bewegung
und das Zusammenschlagen der Knöchelchen werden Töne ausgelöst.
(•Errant autem qui ossicula ita moveri putant, ut invicem percussa stre-
pitum edant.") Noch findet man im zweiten Gange einen knorpeligen
Kanal, der zum Gaumen hinführt (Tuba Eustachii), und zwei Fensterchen,
von denen das untere, wie Du Laurent bemerkt, keinen Namen besitzt.
Es folgt der dritte Gang, das Labyrinth, so geheißen, weil es von
vielen verborgenen Gängchen und Kämmerchen gebildet wird. („Tertia
sequitur cavitas, quam labyrinthum vocant, quod multis quasi cuniculis
et conclavibus furtim agatur/) Der Zweck dieser Windungen ist es, die
Töne durch die Verengungen zu verschärfen und ihre Zerstreuung zu
verhindern. („Horum anfractuum hunc usum agnoscimus, ut sonus per
angusta transiens loca acutior fiat, nee dissipetur.") Der vierte Gang,
von Falloppio „Cochlea** genannt, beherbergt den Hörnerv, der vom
5. Hirnnerv seinen Ausgang nimmt und die Töne zum Gehirne (ad
sensum communem) leitet.
Was die Physiologie des Gehörorgans betrifft^), so gibt Laurent
über das Hören folgende Erklärung: Die Luftwelle, von Avicenna
„Klangwelle *" (unda vocalis) genannt, pflanzt sich bis zum Ohre fort
gleich Kreisen im Wasser. Sie dringt in den ersten (äußeren) Gehör-
gang ein und bewegt das Trommelfell. Die Bewegung setzt sich ver-
mittels der Gehörknöchelchen und der inneren Luft („vernaculus aer et
136 Paracelaus.
rurgen ihrer Zeit erfreuten, fast nichts für die Reformierung der Patho-
logie des Ohres geleistet haben.
Die große Mehrzahl der in dieser Periode erschienenen medizinischen
Werke enthalten fast ausnahmslos einen Abschnitt über Ohrerkrankungen
und deren Behandlung. Doch ergibt eine Durchsicht dieser Werke fast
nie eine selbständige Bearbeitung des Gegenstandes, sondern meist Wie-
derholungen früherer Autoren. Nur hie und da finden wir eine von den
älteren Aerzten abweichende, originellere Auffassung der Ohrpathologie
oder einen interessanten Krankheitsfall oder endlich einen praktischen
Eingriff, der verzeichnet zu werden verdient. Ich werde mich daher im
folgenden nur auf eine kurze Schilderung der ohrenärztlichen Literatur
dieser Periode beschränken, ohne auf die einzelnen, meist wertlosen
Schriften näher einzugehen. In der folgenden Darstellung wurde mehr
auf die geschichtliche Bedeutung der Autoren als auf die chronologische
Reihenfolge Rücksicht genommen.
Paracelsus. Zu jenen Männern, die sich in ihren Anschauungen
von der mittelalterlichen Tradition lossagten, und die Pathologie nach
eigenartigen — allerdings vielfach mystisch beeinflußten — Ideen zu
reformieren bestrebt waren, zählt Aureolus Philippus Theophrastus
Paracelsus (1491 — 1541) Bombast ab Hohenheim, eine der meistge-
nannten und doch dunkelsten Persönlichkeiten seiner Zeit. In seinen
zahlreichen, nur zum Teile von ihm selbst verfaßten Schriften sind der
Behandlung der Ohrkrankheiten an verschiedenen Stellen kurze Abschnitte
gewidmet. Ein Verächter der arabischen und Galenischen Medizin, ver-
wirft er die von ihnen empfohlenen, reizenden Einspritzungen bei Ohr-
entzündungen (Recepta universa, quae infusiones in aures suadent, im-
proba sunt et falsa*). Indes ist die von Paracelsus vorgeschlagene Be-
handlung der Otitis kompliziert genug und seine Verordnungen entbehren,
wie die folgenden Rezepte zeigen, keineswegs stark reizende Ingredienzien.
Als besonders wirksam preist er die Solutionen der Tutia (Nihil enim in
aures infundi debet, nisi Receptuni sit ex Tutia). Die von Paracelsus
empfohlenen Rezepte lauten:
%.. Tutiae praeparatae sine uceto 3?. Carabae '^j. Reduc in liquorem. Deinde
huius liquoris 5 vij ?. Alcohol vini exicoati o ij- Keduc per maris praeparationem.
Fiat Siet*. Hoc debot in modum Emplastri imponi.
■y.. StMiiinis .lusquiami papaveris. lolij. nigellae an. 5?* Fellis tauri oß- cam-
phonie liqiu'facta ad pondus omnium. Keduc in siceum Sief. — Id. p. 510 a.
) Die von mir benützte Aiis^Mbe ist: Aur. Philipp. Theoph. Paracelsi
B(jnibast ab Hohenheim 0]>era oiiinia medico-chemico-chirurgica tribus volumiiiibus
com]>rehensa. Genevae lt)5.s. — Vol. I. Paraj^raphorum Liber XIII et XIV. De
düloribus Aurium et oculovum, p. 509 b.
Paracelsus. 137
An anderer Stelle bezeichnet Paracelsus die von den Alten an-
gewendete Therapie der Ohraffektionen als vollkommen unnütz (Prae-
terea nulla cura a veteribus in dolore aurium tradita utilis est, sed sunt
omnes erroneae), ohne dabei eine bessere an deren Stelle zu setzen. Sein
Skeptizismus gegenüber der Behandlung von Ohrenleiden charakterisiert
sich auch durch folgenden Satz: si surditas adfuerit, frustra est omnis
cura. Nam quod natura semel adimit, reparare medicus nuUo pacto
potest*). Ebenso hält er die Verwundung des Ohres für unheilbar**),
berichtet jedoch über einen Fall***) von Heilung der Schwerhörigkeit nach
Verlust der Ohrmuschel. Subjektive Geräusche f) werden nach
Paracelsus durch heftige Geräusche (fragor tormentorum, campanarum
sonitus, molendinorum tumultus) hervorgerufen. Als Heilmittel empfiehlt
er wiederholte Skarifikation der Ohrmuschel, Cucurbitula hinter dem Ohre,
und endlich Venaesektion unter der Zunge.
Für das Entstehen von Würmern macht er ein Sperma, Fäulnis
und Hitze im Ohre verantwortlich und schreibt vor, jede Wurmart durch
ein anderes spezifisches Mittel zu töten. So empfiehlt er Agaricus, Kaute,
Engelwurzel, Johanniskraut, Koloquinthen, Mehl von einer faulen Tanne
und weißen Vitriol ft)-
J. Fernelius. Als einer der ältesten, jedoch nicht als bedeutendster
in dieser Reihe ist Johannes Fernelius (1497 — 1558) zu nennen, der
in seiner „üniversa Medicina** (I. ed. Venetiis 1564) die „Aurium morbi
et symptomata, horumque causae et signa" behandelt, aus denen hier die
markantesten Stellen hervorgehoben werden sollen ff f).
Wenn Fernelius Ohrenschmerz, subjektive Geräusche
und Schwerhörigkeit denselben Ursachen entspringen läßt (Jam vero
dolor, tinnitus, auditusque gravis, et omnia audiendi symptomata, ex iis-
*) Ibid. Scholia in Libros paragr. p. 549 a.
♦*) Id. vol. III. Chirurgia Magna, Tract. I, Cap. 3. p. 3 b.
***) Ibid. Cap. 16. Surditas a vulnere curata. p. IIb und Chirurgia vulnerum.
Cap. 16. Surditas illuvione vulneris curata. p. 831).
-J-) Ibid. Aurium Tinnitus. Chir. Mag. Tract. II F, Cap. 15, p. 37 a.
-j-f) Weitere bedeutungslose Bemerkungen über das Gehörorgan finden sich in
dem umfangreichen Werke des Paracelsus an folgenden Stellen:
Vol. 1. De caduco Matricis Paragr. VI. Surditas ex caduco. p. 687 b. Modus
pharmacandi. Tract. I.
Vol. II. Archidoxis über I. De Prologo et Microcosmo. Surdi cur fiant. p. 4b.
Lib. nonuB de signatura rerum natura. Aures magnae. quid ; depressae, quid.
p. 109 a.
Vergl. femer: Schriften des Paracelsus, herausg. v. Joh. Huser, Straßburg
1618. Vol. I, p. 192, 455 u. 536, Ohrenheilk. von Lincke, Bd. II, p. 28 und Sudhof,
Paracelsus, 1905.
ftt) Trajecti ad Rhenum 1556. Pathologiae Lib. V, Cap. 6, p. 93.
138 Johannes Fernelius.
dem saepe causis procedunt), so bedeutet das sicherlich einen Fortschritt
gegenüber der Anschauung vieler seiner Vorgänger, welche diese Einzel-
sjmptome als ebensoviele Krankheitsbilder behandelten. Die subjek-
tiven Ohrgeräusche, die durch Bewegung und Erregung von Stoffen
im inneren Ohre entstehen (ex motu et agitatione eorum nascitur quae
intiraam aurem occupant), unterscheidet Fernelius in Sibilus, Tinnitus,
Sonitus, Strepitus und Fluctuatio. — Sibilus (Sausen) entstehe infolge
eines schwachen Hauches, der spärlich entweicht (ex flatu tenui exiliter
elabente), tinnitus (Klingen) infolge unterbrochenen Ausströmens jenes
Hauches (ex illius cursu interrupto), sonitus (Brausen) infolge einer
dichteren Luft, die voller herausströmt (ex crassiore plenius erumpente),
strepitus (Rasseln) infolge heftigen Antriebes (ex valido impulsu)
und endlich die fluctuatio durch Hin- und Herwogen von Flüssig-
keit (ex humoris jactatione). Seine Therapie der Ohraffektionen, ebenso
kompliziert wie die der Vorgänger, bietet nichts Erwähnenswertes.
Rondeletti, Lehrer Vesals und Professor an der Universität Montpellier,
bringt in seinem vorzugsweise der Therapie der Krankheiten gewidmeten Werke*)
nur eine Anzahl komplizierter Rezepte gegen Ohrschmerz (p. 298), gegen Ohrgeränsche
(p. 297) und gegen Schwerhörigkeit (p. 298). Seine Mitteilungen unterscheiden sich
nur wenig von dem unwissenschaftlichen Wust, dem wir so oft bei den Autoren des
Mittelalters begegnen.
Hier wäre noch der früher (S. 76) als Anatom angeführte Alessand ro Bene-
detti (f 1525) zu erwähnen, der in seinem pathologisch-therapeutischen Werke**)
sich dahin ausspricht, daß die klinischen und pathologisch-anatomischen Beobachtungen
die einzige Grundlage eines Fortschrittes der medizinischen Wissenschaften bilden
müssen. Trotzdem ist in seiner Ohrpathologie kaum eine Spur dieses Ideenganges
zu entdecken. Seine Therapie gefällt sich vielmehr in der Anpreisung der phan-
tastischsten Mittel, z. B. Sperma eines Ebers oder eine Mischung von Mäusekot und
Honig gegen Ohrenschmerz, Urin von Kindern, Speichel eines nüchternen Menschen,
und in Essig aufgelösten Taubenmist gegen Ohrwürmer etc.
Ebensowenig p]rfreuliches bieten die medizinischen Werke dieser Zeitepoche
des Antonio Donato d'Altoniare (Donatus ab Altomari, geb. 1520)*), des Gio-
vanni Battista Monte (Montanus, geb. 1408)*), des Vittore Trincavella
(geb. 1490)3).
') De medendis humani corporis malis ars medica. Venet. 1570, Cap. 33—85,
p. 145—151.
'-) Consultationes medicae. 1583.
^) Consilia medica. Basel 1587.
'=) Gulielmi Rondelettii, doct. medici, et medicinae in schola Monspelien«
proffesoris Regij et Cancellarij Methodus curandorum omnium morborum corporis
humani in tres libros distincta. Lugduni MDLXXV.
*'•) Omnium a vertice ad calcem morborum signa, causae, indicationes et
remediorum compositiones utendique rationes generatim libris XXX, conscripta
Basileae 1539. Lib. III. Cap. 1—30.
Hieronymuä Mercurialis. 139
Hieronymus Mercurialis. Einer fast ebenso großen Popularität
als Mediziner wie Paracelsus erfreute sich im 16. Jahrhundert Gero-
nimo Mercurialis. 1530 zu Forli in der Romagna geboren, ab-
soWierte er seine Studien in Bologna, wurde in Padua zum Doktor
promoviert und 1569 daselbst zum Professor ernannt. Im Jahre 1587
folgte er einem Rufe nach Bologna, von wo er 1599 nach Pisa über-
siedelte. Er starb 1606 in seiner Vaterstadt.
In seinem in der Uebergangszeit aus der arabischen in die neu-
bippokratische Periode verfaßten, reichhaltigen therapeutischen Werke*)
werden die Erkrankungen des Gehörorgans weitläufig behandelt. Wenn
in diesem Werke auch vorwiegend dasjenige, was die Alten und die
Araber gelehrt hatten, zusammengetragen ist, so findet sich darin doch
auch manches Selbständige und Eigentümliche, das wir zur Charakteri-
sierung der medizinischen Denkweise der damaligen Zeit erwähnen wollen.
Die Taubheit und Schwerhörigkeit, lehrt Mercurialis, kann durch patho-
logische Veränderungen im Gehirn oder im Gehörorgane selbst be-
dingt werden, sie kann angeboren oder erworben, veraltet oder frisch,
essentiell oder sympathisch (durch consensus) sein. Liegt die Ursache
im Gehirn, so wird die Schwerhörigkeit durch die „mala intemperies^,
Tumoren, Verletzungen, Entzündungen (Phrenitis) etc. hervorgerufen, in-
dem nämlich keine genügende Versorgung des Gehörorgans mit den zur
Funktion nötigen „Spiritus animales* stattfindet. (Viele und reine Lebens-
geister erzeugen gutes Gehör, wenige oder krankhaft veränderte ein
schlechtes.)
Ist die Ursache im Gehörorgan selbst gelegen, so kann sie bestehen
in „mala intemperies", Solutio continui (in den Knochen oder im Trommel-
felle), oder in der Verschließung durch Sordes (Ohrenschmalz) und „hu-
mores*.
Im Alter wird Schwerhörigkeit beobachtet, weil zu wenige und zu
schwache Nervengeister vom Gehirn zum Ohre dringen.
Aeußere Veranlassungen bilden starke Geräusche , Fremdkörper,
kaltes Wasser, schädliche Medikamente, Dämpfe (Auripigment, Queck-
silber, Arsenik). Sehr häufig trete Schwerhörigkeit im Gefolge von Krank-
heiten auf (Epilepsie, „Lethargie*, „Phrenitis", Lungenkrankheiten).
Der Zusammenhang mit Lungenkrankheiten wurde (schon seit Ari-
stoteles) aus dem funktionellen Zusammenhange des Sprechorgans (Luft-
röhre) mit dem Gehörorgan erklärt.
Der Konnex mit cerebralen Prozessen erkläre sich dadurch, daß das
Ohr dem Gehirne vermöge der Beziehung des Gehörsinnes zur Vernunft
*) De Compositione medicamentorum tractatus, tres libros complectens, eiusdem
de oculomm et aurium affectionibus praelectiones seoräim. editae. Francoforti 1591
(I. Edit. 1584, p. 138—182).
140 Hieronymus Mercurialis.
am nächsten stehe und weil sich die Entzündungen auf dem Wege der
harten Hirnhaut in das Gehörorgan fortpflanzen, welches ja von ihren
Fortsetzungen ausgekleidet sei. Das verhältnismäßig häufige Vorkommen
angeborener Taubheit erklärt Mercurialis aus folgenden Momenten:
1. Sei das Ohr in utero Schädlichkeiten am leichtesten ausgesetzt, weil
es olBFen stehe; 2. werde es wegen seiner Leere leicht verstopft; 3. seien
die Hörnerven wegen ihrer nachbarlichen Beziehungen zum Gehirne
empfindlicher und daher leichter verletzbar^).
Innere Ursachen bewirken stets doppelseitige Gehörsfehler, im Gegen-
satz zu äußeren.
Was die Diagnostik anlangt, so steht Mercurialis einfach auf
dem Standpunkt des „Ex juvantibus*, wofür wir zwei Beispiele anführen
wollen: „Quod si fiat auditus vitium a stomacho, cognoscetis hoc iudicio;
quia cibo et cocto evacuato stomacho, melius audiunt; pleno et crudo de-
terius." . . . „Si intemperies fuerit frigida ex adverso cognoscetur; quia
in aure frigiditas percipietur, lenietur afifectus usu calidorum." In der
Prognostik verhält er sich sehr zurückhaltend, indem er angeborene
oder auch sehr veraltete Fälle einfach für unheilbar erklärt.
Auf einer sehr reichen Belesenheit basieren die therapeutischen und
prophylaktischen Vorschriften des Mercurialis.
Vor allem gebietet er zur Verhütung der Schwerhörigkeit Ver-
meidung zu großer Kälte oder Hitze, Exzesse im Trinken und Essen und
heftiger Geräusche. Alles, was schwere Dünste aufsteigen lasse, wie
z. B. starker Wein, manche Nahrungsmittel, wie Lauch (nach Rufus von
Ephesus: „allium maxime nocere*') wirke schädlich.
Von großem Nutzen bei Taubheit seien starker Schall (Hörtrompete),
weil er erwärmend wirke und die stockenden Säfte auflöse, zerteile, aus-
treibe -).
Die lokale Therapie Mercurialis^ verfügt über schwache, mittel-
starke, starke Mittel. Zu den schwachen zählt Oleum amygdalarum,
araararum, Oleum laurinura, juniperinum, Succus absiuthii, Mel alembi-
carum, Adeps anserinus, acetum, Aqua raarina, Succus raphane cum sale.
Zu den mittelstarken: Succus rutae , Fei taurinum , vulpinum, lepo-
rinuni, F^ulvis aristolochiae cum raelle, Succus ceparum, porri, crocus,
muscus, galbanum, myrrha, Oleum sabinae, Succus sambuci, Succus traga-
cjuithae, Succus cueumeris asinini, Succus cvclaminis. Zu den starken:
Beide Nieswurz, Salpeter, Castoreura, Ol. Euphorb., Ol. sinap. (letzteres
besonders von A v e n z o a r und M a i m o n i d e s empfohlen) , Ameiseneier
in Ol. oliv, t^ekoclit, Aali^^ulle etc.
Die Medikamente sollen stets temperiert, fein zubereitet, in geringer
Menf^e angewendet werden, und zwar in Form von Instillationen, Ein-
güssen, KoUyrien, Vaporisationen"), Bähungen, Pflastern etc.
Hieronymus Mercnrialis. 141
Zur Instillation^) bediente man sich der sogenannten (oidY/ota^)
und der KoUyrien^).
Außer den genannten Medikamenten empfiehlt Mercurialis auch
Nies- oder Kaumittel.
Die zweite Hauptgruppe in der Pathologie des Ohres bildet bei
Mercurialis das Ohrensausen. Ursache desselben sei die Ansamm-
lung von Dünsten, und die Feuchtigkeit spiele nur insofern eine Rolle,
als sie die Ausgänge versperrt und sich in DUnste auflöst^). Zur Be-
seitigung des Leidens empfiehlt er Narcotica und scharfe Mittel oder auch
Eauterien ^),
Endlich unterzieht Mercurialis auch den ,,Ohrenschmerz' einer
eingehenden Betrachtung und gedenkt hierbei der Entzündung des Trommel-
fells, die er durch Ausdehnung der zarten Venen und durch vermehrten
Blutandrang verursacht hält^).
Der Ohrenschmerz gehört nicht dem Gehörsinn, sondern dem Tast-
sinn an (Galen), sei von inneren oder äußeren Ursachen abhängig, trete
beständig oder intermittierend auf, mit oder ohne Jucken (Avicenna).
Hitze (heiße Luft, heißes Wasser, Ofenhitze etc.) vermöge Ohrenschmerz
durch Verderbnis der Säfte hervorzurufen.
In der Prognose hält sich Mercurialis an Hippokrates,
Galen, Celsus und Avicenna. In der Therapie sind zwei Wege ein-
zuschlagen, je nachdem die Ursache behoben werden kann, oder aber
lediglich die Betäubung beabsichtigt wird. Unter den lokalen Medika-
menten erwähnt er Albumen, Lac. mulieris, Succ. coriandri, Succ. grana-
tor, Ol. rosar. (bei Intemperies calida), Succ. cepar. mint, ad ignem una
cum oleo, cui immersum sit piper vel euphorbium. Um die supponierten
Dämpfe zu zerstören, empfiehlt Mercurialis folgendes:
Ego vero accipio cepain seu corticem cepae in quo pono 3 y vel iij olei chamo-
millae; deinde addo 9j pulv. anisor. et tantidem pulv. piperis albi, jubeo. ut cortex
supra prunas ignitas contineatur usque quo totum oleum absorbeatur, deinde con-
tundi curo et ezprimi Buccum, qui instillatus in aurem dolentem ex vaporibus
dolorem trahit.
Unter den Mitteln zur Entfernung der Fremdkörper verwendet
er nichts, was nicht bereits die früheren Autoren angegeben hätten. Zu-
nächst müsse das Ohr ausgewaschen (ausgespritzt) werden, was oft allein
schon genüge*^). Führt dies nicht zum Ziele, so soll die Sonde oder
mit Terpentin bestrichene Wolle zur Verwendung kommen.
') . . , tribus de causis potissimum auditum a nativitate oblaedi: una est. quia
foetus in utero habet omnia fere instrumenta sensuura occlusa. exceptis auribus: nam
neque nares, neque os, neque oculos apertos habet, aures ut plurimum habet patentes;
et propterea facile fit, ut aliquid ex utero in aures labatur, quod quidem continger'
non potest aliis sensibus; altera ratio est, quia instrumentum auditus interr
142 Hieronymus Mercurialis.
vacuiim e»t. ut dixi: vacuum autem in utero, et capite humidissimo facile repleri
potost; tertia ratio est, quia nervi auditorii, cum sint propinquiores cerebro, sunt
magis possibiles; et hinc fit, ut etiam facilius oifendantur. ]. c. p. 148.
-) , Capite vero vacuo juvat sonitus; nam medici praecipiant, ut tubae appo-
nantur auribus. ratio autem, cur haec juvent est duplex; prima, quia calefaciunt
meatum auditorium, quae calefactio non trabit a capite; quia non est plenum, sed
discutit reliquias bumorum existentium in instnimento; altera, quoniam vebemens
illa inclaniatio suo impulsu elidit bumores ex locis impactis, et ita surditatem solvif
1. c. p. 154.
') Beispiel für eine Vaporisation: Rp. myrrbae, galbani, croci ana J-J-ß«
fol. rosar.. major., sabinae, ää o*ß- terantur omnia, et super carbones ponantur
adurenda. et dum comburuntur, bauriatur tumus per fistulam in aures. 1. c p. 158.
*) Beispiel für eine Instillation: Rp. mellis, succi ceparum, olei sinapis
ää 3.^. castorei o*ß> misce. et guttatim infundatur in aurem. 1. c. p. 158.
') yNam medici habent instrumentum quoddam, quod Graeci appellant fursfx^^v,
Celsus et Scribonius vocant modo strigilem. modo clysterem auricularem, est hoc in-
strumentum veluti ab una parte concavum. habet concalam, qaae impletur liquore
et deindo immittitur intra anfractus auris. 1. c. p. 157.
') Beispiel für ein .CoIIyrium" : Rad. ellebori nigri, nitri, castorei ää 3J*
myrrbae onKn äü^-ß- ^um albumine ovi formetur collyrium. I. c. p. 159. Qaando
enim tractavi de bis. dixi sub illis intelligi medicamenta ad modum fistalae, qaae
Omnibus oavis partibus imponuntur: fiunt interdum ex medicamenÜs, interdum ex
panno lineo. vel go$sypio. quae contorta et aliqao liquore oblita induntur in
aures. 1. c. p. 1-M. CoDyria Tero ex gos^ypio. aut lino ita parantur, accipitar haec
materia. ot intorquetur: ad modum. quo utuntur chirargi in imponendis his collyrüs
in vulueribus et postquam intortum est collyrium. illinitur oleo et musco vel melle.
1. 0. p. hV.\
-^ Dixi fals;im os«to. nisi «ano modo intelligatar: quia etiam humores con-
ournmt ad tinnitum: humoros inquam intra aures. hoc pacto. tum quia claudimt
iutm aurem datus: tum quia ex ip^is fiunt vapores, qui deinde faciunt tinnitum; ut*
oumquo fit. siouti dooui. vera oau<a est vapor. qui interdum multas est. et tum semper
tinnitum la.ü:: intordum pauous. et tuno non faoit tinnitum. nisi in bis, qui pollent
au.Htu subtili. 1. 0. p. li»-.
^> Kxportus sunt oautoria faota in bnioohio auri affectae maltum conferre, quia
b.u:uort\< illi ox quibus oontinuo tlatus fimit. paulatim per baec emissaria eTacuantnr.
1- v\ p. 170.
*^ In h.io r.v n tv;:a sivou!a:;one. ita sta:uendum judioo. nullibi intemasposfe
v^riv. ;n:*.r.v.'.v..i:io:u>. r:.u':ei\]'.:a::; in hao :*.:n:ca Trommelfell): in qua tametsi fenae
^'.n: :ivi'.v.v^i;:v.\ o\:.<>. :,r..'0!i ter.'.poro vioioris piu:.i::m dilatantur. et quo maior fit
a : : : .1 . ; -. .^ •.-. m : 0 r - a ;• .i .i : : > /» v.*. . c 0 :v. a ci* v 0 1: a 0 viisten a i:n: nr. et fiunt capaces sangninis
'.:.! v\ i^-.^<-. ■;: ;\'s>".: r.i'v: *>.::l.i:uir.a::v> in h-u* i «>l'.i:ii*.a arida. 1. c. p. IT2.
. '.; '.: ". .i i" X 0 ' . : -. .^ V. c *. V. : 0 : .'. v. ::*. s . ". .i t \e ;: r : :: .1 e*; »x» rpo ra . * 1. c. p. 1 S 1 .
V :• .\ •. : »: o:-. s^ » .^ »i -, s >U' r v v. : : .% *. . s . ^io r .: eL;:#obe Praktiker Johann Crato
\ ' •' "v ■■ ••'•"''•.••»•' t..-^»*- ■..%.« *•■'.• Kr i"*^ L^l"^ — '-""*>. ^ i*j* in :»einer frchnft .Con«
si/.v ■.,:••.*. r: x'.".>;y.AruTn iv.t\i:\*u;a*.iu:i; *.ibr: V.l*. t'rinkiurt 15Sd. sich nur mnig
.-.v,: a<!-. K:ar.kho;ton de* Ohw» i«eK'hät\i»::. f'r l^<prioh: bloö folgende Arten ron
Ob:.*rlVkt:onen: ;k*h««tMriiAitit *)• Schw^rh^rjrk^i: ita Verein mit OhreiBaMen«l
v^hrc'AMiH*« i Wffkrankuck:' . Ohr^nsauten infolge einei
Ma^ttai*^ knoikiuig^n v«rKluedeM äofient kom-
plwi «itl^ machenmgen etc.
HieroDymus Cnpiva^ci.
f ") 1. c Lib. VI- In difBcultate auditus conailium XLII.
■( tbid. In difficnltate auditua et tinnitu aurium cons. XLIII.
■) Ibid. Tq tinnitu aurium e ventriculi et cerebri vitio cona. XLIV.
*) Ibid. De tianitu aurium e ventrieuli vitio ooub. XLV.
Hieronymus Capivacci. Ein Schüler RondeUta und Landsmann
Mercurialis, der Paduaner Hieron imo Capivaccio (Oapo di
Bco, gest. 1589), nimmt in seinem Werke „Operu omnia quinque Sec-
Übus comprehensa, Cap. I, p, 587—591, De keso auditu" *) in Her
rstelluDg der Ohrenkrankheiten einen ziemlich selbständigen Stand-
ikt unter seinen Zeitgenossen ein. Er gibt zunächst eine allgemeine
bersicht über die Aetiologie der Ohraffektionen, Die Krankheiten,
rcb die das Gehör verletzt werden kann, teilt er ein in Erkrankungen
I Gehirns, Erkrankung (Verdickung) des Hörnerven, des Labyrinthes,
1 Trommelfells, des knöchernen und knorpeligen Gehörganges und des
tarnten Gehörorgans.
Von Affektionen des Trommelfells werden erwähnt schlechte Zu-
mmen Setzung (mala compositio), abnorme Verdickung (densitas praeter
lluram) und Geschwüre mit darauf folgender Narbenbildung (cicatrix,
ue interdum sequitur ulcera). Läsionen der Gehörknöchelchen
abeii, wie er aus ihrer Anatomie zu erklären sucht, keinen Einfluß auf
ie 6ebärs3chärfe (errant enim valde qui credunt, auditum laedi ob vitia
tticulorum: ignorantque anatomes).
Bei Besprechung der differentialdiagnos tischen Momente der Trommel-
fell- und Cabyrintherkraokung teilt er einen interessanten Versuch mit:
Mu) nehme einen Eisenstab von Ellenlänge, Das eine Ende wird auf
fc Zähne des Patienten, das andere auf die Saiten einer Zither auf-
pMtet. Hört der Patient die Töne des Instrumentes, so läßt sich daraus
du Schluß ziehen, daß die Ursache der Taubheit in einer Erkrankung
^8 Trommelfells liege. Vernimmt der Patient die Töne nicht, so rühre
"ie Taubheit von einer Erkrankung des Labyrinthes her**).
Die Wichtigkeit dieses Versuches für die spätere Entwicklung der
Differentialdiagnose zwischen Hörstörung infolge eines Schal! leitungs -
nindernisscB oder einer Erkrankung des nervösen Apparates bedarf keiner
witorea ÄusfQhrung.
*1 Hetautgegeben von J. H. Bayer, Frankfurt 1603.
**) Quar« muime diligentia est opus, ut cognoacatur an auditu« ait ablatua.
oll Börtum injringae, Tel potius nervi expansi : quod sie cognoBcitur. Sumatur
'«HUB loBgilDdine cnbiti; et una extremitas imponatur eupra dentea, altera autem
[BÖMmitM imponatur. verbi gratia, supra chordas citharae: et ciuispiain ferro com-
irut olwrÜKi Pithame: tiiac, si aeger sentit aonura citbwae, turditaB dependet a
««jniig««; •) non sentit, surditaa dependet a morbo nerti eipansi, ut proraug:
144 Amatus Lusitanus.
Der Nachfolger des Capivaccio im Lehramte, Ercole Sassonia (Herkules
Saxonia, 1551 — 1607), behandelt in seinem Werke*) die Ohrerkrankongen sehr ober-
flächlich und gelangt wiederholt zu unhaltbaren Hypothesen, von denen nur der
Absonderlichkeit halber die folgende zitiert sei: Schwerhörige, deren H5merv er-
krankt ist, sprechen leise, weil gleichzeitig der Zungennerv affiziert sei, während
Taube, mit Erkrankung irgend eines anderen Teiles des (jehörorganes , mit lauter
Stimme sprechen. Noch sonderbarer "klingt es, daß Sassonia dies als differential-
diagnostischen Behelf heranziehen will. Von praktischem Interesse ist ein Verfahreo,
das Sassonia zur Entfernung von gequollenen Bohnen aus dem äußeren Gehör-
gange vorschlägt. Durch eine in den Gehörgang bis zur Bohne vorgeschobene Kanüle
wird ein glühender Draht eingeführt und mit diesem die Bohne darchbohrt. Durch
wiederholtes Durchbrennen werde der Fremdkörper so verkleinert » daß es doon
leicht gelingt, ihn zu entfernen.
Amatus Lusitanus. Als einer der tüchtigsten und rationellsten
Therapeuten dieser Periode ist Amatus Lusitanus (geb. 1511) zn
nennen, in dessen „Curationum Medicinalium Genturiae Septem'
1551 mehrere interessante Krankengeschichten in Betracht kommen. Die
eine in der „Centuria sexta** enthaltene führt die Ueberschrift: „Curatio
quinta, in qua agitur de puero loquente, qui postea ob morbum saeyum
supervenientem , mutus factus est'' ^). Ein 5jähriger Knabe, der das
Sprechen mit zwei Jahren erlernt hatte, wurde von einer fieberhaften
Krankheit befallen, nach welcher er an Armen und Beinen gelähmt,
gleichzeitig taub und stumm wurde. Da die Lähmung der Extremitäten
nach einiger Zeit nachließ, holBTte Amatus die Taubstummheit heilen zn
können, was ihm auch angeblich gelang. Er empfahl eine durch eine
genau angegebene Diät geregelte Lebensweise und eine sehr komplizierte
Medikation, von der folgendes Uezept Zeugnis gibt:
^Rcc. ülei aiiiygdalarum amararum, uncias duas, vini optimi albi, ancias
duas et alterius mediam, maioranae pug. medium, ellebori nigri, scrjptulum medium.
misoe. et ad ignem fiat decoctio usque ad vini consumptionem ; et fiat expressio, et
colatura, cui adde mosclii grana duo. misce, et utere, ac per aures ex eo panim
infunde, quod moscato gossypio occludebatur, item succum hunc per nares attra-
hcbat-j/
Die zweite Krankengeschichte betrifft einen Fall von Taubheit bei
einem 34jiihri<^en Manne, der die gallische Krankheit (Lues) durchge-
maclit bat: „Curatio vigesima quinta, in qua agitur de surdidate contracta
ob iiialinn vitae regimen* ^).
'! ]K ir,2; Vonetiis 1500.
-*/ j). l<j(j: il)idem.
■'.) 1». 1S8 : ibicU-m.
'■) Piiiithoimi iiieilicinae selectum etc. Francoforti 1604. Lib. I, Cap. 20,
p. 133-l:JH. Lib. IX. Cap. 41. p. 7s3.
Petrus Forestus. 145
Petrus Forestus (1522—1597). Zu den Schriftstellern dieser
Periode, die auch die Krankheiten des Gehörorgans in den Bereich ihrer
Beobachtungen zogen, zählt Pietervan Foreest, der von seinen Lands-
leuten den Ehrentitel eines holländischen Hippokrates erhielt. Sprengel
urteilt in seiner Geschichte der Arzneikunde über ihn folgendermaßen:
«Nicht nur für sein Jahrhundert, sondern für alle folgenden Zeitalter ist
Forests Sanunlung von Beobachtungen klassisch; er erzählt, was seine
Vorgänger selten tun, seine Beobachtungen vollständig, hascht nicht nach
Seltenheiten, sondern sucht die gewöhnlichen Erscheinungen des kranken
Zustandes mit aller Treue und Einfachheit des geraden, rechtschaffenen
Mannes und scharfsinnigen Arztes vorzutragen. ^ Auch für seine Beobach-
tungen über Erkrankungen des Gehörorgans*) läßt sich, wenn man nicht
strenge ins Gericht geht, dieses Urteil akzeptieren; die 15 mitgeteilten
Krankengeschichten sind, obwohl sie nichts Epochemachendes enthalten,
immerhin vorurteilsfrei beobachtet und deshalb lesenswert. Minder inter-
essant sind die beigegebenen Scholien, welche deutlich das arabische Vor-
bild, gleichzeitig aber auch die hohe Gelehrsamkeit des Verfassers erkennen
lassen. In der ersten Beobachtung (De auris dolore intensissimo) schil-
dert Forest den Krankheitsverlauf eines Schankburschen , der seit drei
Monaten an Ohrenschmerzen litt und bei dem eine innere Ohrenentzün-
dung auf die Hirnhaut übergriff und zum raschen Tode führte. Daran
schließt sich die kurze Krankengeschichte einer Frau, die seit zwei
Wochen an heftigen Schmerzen des linken Ohres erkrankt war, bei der
es ihm aber gelang, durch drastische Purgantien, Schröpf köpfe auf
Nacken und Schulter und Umschläge aus gebratenen Zwiebeln, Ka-
millenöl und frischer Butter die Schmerzen bald zu beheben. Die zweite
Beobachtung (De aurium dolore ex frigore contracto) enthält die Be-
schreibung eines durch Erkältung hervorgerufenen Ohrenschmei*zes. Als
Gegenstück zu diesem Falle dient die dritte Beobachtung (De aurium
dolore ex calore contracto) einer Ohrenaffektion , die durch Einwirkung
großer Hitze entstanden sein soll. Ferner erwähnt er einen Fall, in
dem die Ohrenerkrankung durch Einlegen eines Stückchens Zwiebel in
das Ohr gegen Zahnschmerz hervorgerufen wurde. Von den anderen
Beobachtungen erwähnen wir einen Fall, wo ein Knabe sich eine Muschel
ins Ohr gesteckt hatte, die darin ein halbes Jahr verweilte, bis sie die
Mutter mit einer Haarnadel herauszog, ferner den Fall einer Frau, die
sieben Jahre hindurch taub war, so daß sie nicht einmal das Glocken-
geläute hören konnte und nach vielen erfolglosen Kuren auf den Rat
eines alten Weibes Moschus ins Ohr steckte, wodurch sie plötzlich von
*) Observation um et curationuin medicinalium ac chirurgicarum Opera omnia.
Franeoforti 1619. Lib. XII. De aurium morMs. p. 56 — 83.
Politzer, Oeschichte der Ohrenheilkunde. I. 10
X46 Jo^- Heumiu8.
ihrem Leiden befreit wurde. Forest gibt an, dafi er selbst in einigen
Fällen, bei denen ein eitriger Ausfluß aus den Ohren bestand, die Taub-
heit durch Anwendung von Moschus zur Heilung brachte. Bei der Be-
sprechung der Otitis behandelt er ausführlicher als seine VorgäDger die
nachfolgenden Eiterungen und Ulzerationen. Hierbei legt er besonderes
Gewicht auf die Erkenntnis, ob die Krankheit bloß die äußeren oder auch
die inneren Partien des Gehörorganes affiziert habe, weil davon Prognose
und Therapie in hervorragendem Maße abhängen. Die Entzündung der
inneren Teile schließt er aus der Intensität der Symptome und der gleich-
zeitigen „ Paraphrenesis **' .
Joh. Heurnius. Eine der ältesten Schriften des 16. Jahrhunderts,
in der auch die Pathologie des Ohres ausführlicher behandelt wird, ist
die des holländischen Arztes «Jan van Heurne (Heurnius, 1543 — 1601),
,De morbis oculorum, aurium, nasi, dentium et oris liber*' *)^ die posthnin
vom Sohne des Verfassers, Otto Heurnius (1577 — 1652), herausgegeben
wurde. Der Hauptinhalt des Buches stellt sich als eine wertlose Kompi-
lation dar, in der die Therapie den weitesten Raum einnimmt, die in
ihrer Kompliziertheit und Absonderlichkeit an die Arabisten erinnert.
Von einigem Interesse dürften die prophylaktischen Maßregeln sein,
die das Werkchen enthält und die auch von den späteren Autoren viel-
fach zitiert werden.
Es heißt da: , Meide die heftigen Nord- und Südwinde; denn der
Frost schadet den Nerven sehr. Hast du in solcher Zeit einen Weg, so
gib Baumwolle ins Ohr, in welche zwei Kömer Moschus oder Bibergeil
eingeschlossen sind. Achte stets darauf, daß dir kein Wasser beim Regen
ins Ohr falle. Reinige dir häufig deine Ohren mit Essig und Honig.
Beim Waschen des Kopfes verschließe die Ohren u. s. w.***).
Ein anderer holländischer Arzt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Godefridus Stechius (Versteeg, Steegh), behandelt in seiner »Ars medica, sire
medicinae" (Francofurti 1606, Lib. Vlll, Cap. 13) die Ohrerkrankungen höchst ober-
flächlich und nach den alten, rein empirischen Prinzipien, unter anderem empfiehlt
er gegen subjektive Geräusche nach Syphilis ein Dekokt von Guajakbolz und Ehren-
preis in Wasser, welches über grünen Nußschalen destilliert wurde. Sein Vorschlag,
ein Trommelfell, welches durch heftiges Geräusch nach innen gedrängt wurde, durch
Saugen zu reponieren, ist keineswegs neu, da dieses Verfahren, wie ich gezeigt habe,
schon von Simeon im 11. Jahrhundert (s. S. 61) und nach ihm von anderen Aerzten
empfohlen wurde.
*) Lugd. Batav. 1602.
'*'''•) Vitii calidos incursus Aquilonis et austri: frigus enim nervis indicit bellum.
Si iter tunc iigendum, indat auri gossipium cui inclusa sint mosci aut castorei grana
duo. Ciiveat ne acjua ex pluvia au rem ingrediatur. Saepe eluat aures aceto et melle.
Si Caput lavandum , obstruat aures ... I.e. Cap. 8. De passioniboa aurinm. p. 61-
*'^'"-) Ephem. med. physic. Dec. 11. Ann. 6, Obs. 123, p. 254.
Felix Plater. 147
Anschließend hieran sei eine Mitteilong des Joh. Ludwig Hanneman
(1640 — 1724) erw&hnt, nach der ein Chirurg die Methode der Luftverdannung bei
Tauben mit großem Erfolge angewendet haben soll. Das Verfahren bestand darin,
daß er dem Patienten eine Bohre ins Ohr steckte, an der er so lange sog, bis der
Patient einen Schmerz im Ohre verspürte.
Felix Plater (1530—1614), der bereits früher (S. 123) als Anatom
genannt wurde, galt als einer der gefeiertesten Aerzte des 16. Jahr-
hunderts. Seine therapeutischen Vorschriften wurzeln ganz in den An-
schauungen der absonderlichen Systeme des Paracelsus und Mer-
curialis.
In seinen «Obseryationum libri tres'^, die von seinem Sohne Fran-
ziskus mit einer beigefügten «Mantissa observationum*' herausgegeben
wurden (Basileae 1680), findet sich nur weniges, was für die Patho-
logie und Therapie der Ohrerkrankungen in Betracht kommt.
Ausführlicher und für die Bedeutung Platers charakteristischer ist
sein ,Praxeos medicae opus cum centuria posthuma, emendatum et auct.
a Feiice Platero*'. Basileae 1656"^). Abweichend von der Galen sehen
Einteilung der Ohrerkrankungen, versucht er diese auf Grundlage der
neuen anatomischen Entdeckungen zu klassifizieren. Seine Einteilung in
Verletzungen der Funktionen des Gehörorgans, in Ohrenschmerz und
Ohrenfluß muß jedoch schon deshalb als mißglückt bezeichnet werden,
weil er die Ejrankheitssymptome als selbständige Erkrankungen auffaßt.
Von einigem Interesse jedoch sind seine vorurteilsfreien Beobachtungen
über Ohrenerkrankungen.
Er erwähnt eine Art von Taubheit, die in Alpengegenden auftreten
soll und dadurch charakterisiert ist, daß sie sich gleich von Geburt an
zeigt, wobei das betreffende Individuum stets an einem Kröpfe leidet. Er
führt sie auf einen Erguß von Flüssigkeit aus dem Kopfe ins Ohr zurück*).
Dieser Symptomenkomplex entspricht unseren jetzigen Erfahrungen
über den endemischen mit Taubheit komplizierten Kretinismus in Alpen-
gegenden.
Als Krankheiten des Trommelfells führt Plater Verwundungen
durch Ohrlöffel, Abszesse, Geschwüre, Verdickung, Erschlaffung und
vermehrte Spannung an, ohne daß er diese Veränderungen jemals durch
Okularinspektion des Trommelfells am Lebenden gesehen hätte. Als
krankhafte Veränderungen der Gehörknöchelchen werden Verbil-
dungen und Ankylose erwähnt. Die von ihm beobachteten Fälle von
Ulzerationen am Ost. pharyng. tubae Eust. dürften nach Kuh (De in-
flammat. auris mediae. Vratisl. 1842) als syphilitische Geschwüre an-
*) Sicuti inAlpinis regionibus, hac de causa multos difficilem auditum
ab ortu, vel moz in aetatis progressu una cum strumis, illis ob similem causam
familioribus habere cemimus.
150 Ambroise Pare.
liehen. Bei ihrer Behandlung, operativ sowohl als durch Aetzmittel,
müsse man wegen der großen Empfindlichkeit dieser Teile und ihrer
Nähe zum Gehirne sehr vorsichtig vorgehen, da bei ErgrifiEensein des
letzteren der Kranke in Konvulsionen tödlich endet ^).
Zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem Qehörgange benützt
Par^ Pinzetten und gekrümmte Instrumente nach Art eines «cure-oreille*
und bei stark eingekeilten Körpern eine kleine «tire-fond*, deren man
sich zur Extraktion von Bleikugeln aus Schußwunden bedient. Gelingt
der instrumentale Eingriff nicht, so wird in der Tiefe des Ohres eine
kleine Inzision gemacht, um Platz für das einzuführende Instrument zu
schaffen.
Individuen, die das ganze Ohr verloren haben (Vol. II, p. 442),
empfiehlt er den Defekt durch langen Haarwuchs zu decken oder eine
entsprechend geformte Mütze zu tragen (Calotte).
Interessant ist die Methode Par^s, bei teil weisem oder gänzlichem
Verlust die Ohrmuschel durch eine Prothese zu ersetzen. Ist noch ein
Rest erhalten, so werden mittels eines kleinen „portepi^ce* an dem Rand
des stehengebliebenen Ohrknorpels eine Anzahl kleiner Oeffnungen ge-
macht und nach Ueberhäutung dieser Oeffnungen ein künstlich geformtes
Stück an den stehengebliebenen Rest angeheftet. Bei Totalverlust der
Ohrmuschel wird ein schön geformtes Ohr aus Pappe oder gepreßtem
(gesottenem) Leder durch eine federnde Spange befestigt*).
') Et de ton aiguille ne toucheras au Cartilage , de peur que la partie ne
tombe en gangrene (ce que souuentes fois est arriu^) mais seulement prendras le
cuir. et ce peu de chair qui est autour le dit Cartilage: et auec compresses et
bandages (Vol. II, p. 89).
') Que si la boue et sanie ne pouuoit estre euacuee, il faudroit la tirer par
une seringue propre, dite Pyoulcos (Vol. II, p. 263).
■^) Or il faut traiter ce mal bien curieusement, de peur de faire tomber le
malade en conuulsion, et le faire mourir, pour la grande sensibilit^ de ceste partie,
et qu'elle est proche du cerueau (Vol. II, p. 442).
*) On doit troüer le cartilage auec une petite porte-piece, et y faire des trous
tant qu'il sera necessaire. Apres la cicatrisation des dits troua, on attachera une
oreille artificielle: et oü Toreille auroit este du tout amput^e, on y en appliquera
une artificielle de papier coUe, ou cuir boüilli, fa^onn^e de bonne grace (Vol. II, p. 610).
Ein Zeitgenosae P a r e s und Freund des Paracelsus, der berühmte deutsche
Wundarzt F e 1 i x W u e r t z ( W i r t z , 1514—1575) gibt in seiner , Practica der Wund-
arzney, darin allerlei schädliche Mißbräuche des Wundarztes abgeschafiPt werden etc.**)
einige nützliche Winke zur chirurgischen Behandlung des Ohres. Um einen sicheren
kosnietisclien Erfolg bei genähten Wunden der Ohrmuschel zu erzielen, rftt er, die
Nähte baldigst zu entfernen, da es sonst leicht zur Eiterung komme, wodurch un-
schöne Narben entstehen.
*■) Basel 1612. \k 108; ferner p. 469.
FabriciuB Hildanus. 151
Fabricinfi Hildanii8 (1560 — 1634)*). Zu den berühmten Chirurgen
deutscher Abstammung, deren Wirken in die zweite Hälfte des 16. und
die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts fällt, zählt Fabricius, nach seinem
Geburtsorte vanHilden genannt. Trotz ungünstiger Lebensverhältnisse
in der Jugend eignete er sich einen solchen Bildungsgrad an, daß er
sich im 16. Lebensjahre der Wundarzneikunst widmen konnte. Dem
Brauche jener Zeit gemäß nahm er zunächst . Dienste bei mehreren
Wundärzten und ging dann, mit praktischen Kenntnissen ausgerüstet, an
die Hochschule in Köln, wo er Gelegenheit fand, sich wissenschaftlich
auszubilden. Nach 5jährigem Aufenthalte daselbst (1596) finden wir
Fabricius bald in Oenf, bald in Lausanne, Basel, Bern, überall in-
folge seines großen Rufes von zahlreichen Kranken aufgesucht und trotz
intensiver Berufstätigkeit eine fruchtbare, schriftstellerische Tätigkeit
entwickelnd, stets umgeben von Aerzten aller Länder, die seinen Ruf als
Lehrer verbreiteten.
Fabricius wird mit Recht als derjenige bezeichnet, der zuerst in
Deutschland die Wichtigkeit der Kenntnis der Anatomie für die Medizin
im allgemeinen und die Chirurgie im besonderen anerkannte'*'*). Von
seinen zahlreichen Schriften sind für die Otiatrie nur seine „Observatio-
num et curationum chirurgicarum centuriae'* (1606 — 1641) von Inter-
esse***). Diese enthalten eine Anzahl von Beobachtungen über ope-
rative Eingriffe bei Fremdkörpern und Polypen, von denen hier einige
kurz mitgeteilt werden sollen.
Am ausführlichsten ergeht sich Fabricius über die Fremd-
körper des äußeren Gehörganges, von denen er fünf Fälle
(observationes) schildert. Die Observatio IV. der ersten Centuriaf)
beginnt Fabricius mit einer brieflichen Mitteilung an Kaspar Bau-
hin über eine anatomische Entdeckung, durch die er den Symptomen-
komplex des betreffenden Falles zu erklären versucht. Seiner Ansicht
nach soll nämlich ein Ast des „fünften Nervenpaares* (Gesichts-
und Hömerv) zum Rückenmark verlaufen und Aestchen durch den
ersten und zweiten Halswirbel für die Muskeln des Kehlkopfes ab-
geben. Als eine Stütze für diese Annahme gilt ihm das Auftreten von
Husten beim Kitzeln des Ohres. Jetzt wissen wir, daß der vom Gehör-
*) Traagott Wilh. Gnst. Benedikt, «Commentatio de Fabricio Hildano*.
Inaogaraldissert. BroBlau 1847.
**) VergL seine kleine Schrift ^ Kurze Beschreibung der Fuertrefflichkeit, Nutz-
und Nothwendigkeit der Anatomey". Bern 1624.
*♦*) I. ed, Baiel 1606; von mir wurde als Quelle benützt: Guilhelmi Fabricii
Hildani opera observationnin et curationum medicochirurgicarum quae extant omnia.
Francofurti ad Moennm 1646.
t) 1. c p. 15.
152
FaliriciuB EildonUE.
Piaage ausgelöste Reflexhusten durch den Rsmus auricularis N. vagi ver-
mittelt wird. Durchwegs hypothetisch und nur auf die Symptome des
folgenden Falles gegründet ist seine angebliche anütomische Entdeckung.
daß Zweige vom Gesichts- und Hömerven mit dem vierten, fünften und
sechsten Armmuskelnerven (Spinalnerven) zu den Armen und Fingern, ja
sogar zu den Beinen und Zehen ver-
lauf en-
Einem 10jährigen Mädchen ge-
riet beim Spiele eine erbsengroße
Glaskugel ins Ohr. Da den vier
zitierten Chirurgen die Extraktion nicht
gelang, beschloß die Mutter, das Kind,
das über die heftigsten Ohren sc hm er-
zen klagte, „Dei et naturae arbitrio"
zu überlassen. Die Ohrenschraerzen
ließen wohl bald nach, doch stellten
sich heftige, bis zur Sagittalnaht aus-
strahlende Kopfschmerzen ein, deren
Intensität nach der Witterung wech-
selte. Außerdem entwickelte sich eine
(tefilhllosigkeit im linken Arme . die
sich auch auf Daumen und Zeigefinger
erstreckte, später bis zur Lende fort-
schritt und schließlich auch Unter-
schenkel und Fuß ergriff, bis die ganze
linke Körperhälfte anästhetisch war')-
Darauf wechselte, besonders des Nacht".
Gefühllosigkeit mit den heftigsten
Schmerzen in den oberen und unteren
Extremitäten. Gleichzeitig litt das
Mädchen an trockenem Husten und
unregelmäßiger Menstruation. Nach
Sjährigem Leiden traten außerdem epi-
leptiforme Konvulsionen auf und der ,
Arm vertiel der Atrophie*). Durch die
bedenklichen Symptome geängstigt,
konsultierte die Mutter ohne Erfolg
«medicos, chirurgos et empiricos", ohne jedoch diesen vom Vorhanden-
sein des Fremdkörpers im Ohre Mitteilung zu machen. Auch Fabricius,
der aber die Krankheitsursache nicht informiert wurde, erzielte durch
interne und externe Medikation kein Resultat , bis ihn die Patientin auf
die DUO seit 8 Jahren in ihrem Ohre befindliche Glaskugel aufmerksam
Fig. 6. Reproduktion des Speculu
Auria dea Fabriciua HildaDun at
dem ritierten Werke, |i. 17.
FabriciuB Hildnnus.
153
machte. Durch die hierauf von ihm ausgefuhrtf Extraktion wurde die
Patientin mit einem Schlafe von allen ihren Beschwerden befreit. Nach
dem geschilderten Syaiptomenkomplex dürfte es sich in diesem Falle
um eine durch den Fremdkörper im Gtebörgange bedingte Reflexneurose
u;ehandelt bähen.
Ira Anschlüsse an diese Krankengeschichte schildert er den Vor-
i^ang bei der Exti'aktion des Fremdkörpers und fügt dem Texte in
rohen Holzschnitten die Instrumente bei, deren er sich hier sowie bei
ähnlichen Operationen bediente. Darunter befindet sich auch die Ab-
bildung des Zange nförmigen gespaltenen Ohrspekulums, dessen Kon-
struktion mit den späteren Itardschen und Kram ersehen Specula
ühereinfltironrt. Fabricius benutzte sein Spekulum hauptsächlich zur
Erweiterung und besseren Beleuchtung bei operativen Eingriffen im Ge-
hdi^ange: von einer Inspektion des Trommelfells war dabei keine Rede.
PietTo de la Cerlata (s. S. 63) gult lange als der eiste, der sich eines Olli-
■pekulams bedient haben ^oll. Die Stelle Dber den Ohren Bpiegel in seiner Chirai^a
iVeneL 1492. Lib. V, Tract. IS, Gap. 9. p. lU) , die beweisen soll, dafl der Ohren-
ipiegel ein laoggekanntes Instrument sei, tautet: ,Si autem fuerit (sc. surditas) ii
termca ant a re aliqaa ingreaea, acitur per patientetn et per inspectiLinem ad solem
Crabendo aurem et ampliando cum speculo aut alio instrumento." Diese Stelle
iil jedoch wörtlich der .Grande Chirurgie" de» Guy de Chauliac (14. Jahrhundert)
tnlnommcD. (La gründe (. binirgie de M Uuv de Ch luliac conpoaee I'an de Grace
1363. Tours 1S98. p. S30, Im 19—21) Auch die \nffabe Gurlts. daß Vigo (S. 64)
^ OhrenspiegeU als erster gedacht trifft nicht zu da Cl auliac lange vor Vigo
!<Idit hat — In späterer 7eit wird das Ohrs) ekuluni iuih von Fallopjiio (Opera
«fflia, Francof. 1606, Tom II Tract 11 p 235) erwähnt — Ein dem Ohrspekulum
«HpabrieitiB ähnlicher ale Dilatutor benutzter .Ohrspegel* wird von Konrad
""> Solingen in seinen Handgriffe der Wuniarznei" (Wittenberg 1712. 8. 155.
'^- m, Fig. 7) abgebildet
Hier eine kurze Skizze der von Fabricius geübten Methode der
'''^mdkörperextraktion*): Nachdem die Patientin an einen sonnigen Ort
^"»^cht wurde, erweiterte er mit seinem Zangenspekulum den vorher
""*■ ^Mandelöl eingefetteten Gebörgang, suchte hierauf mit einer Sonde
'*P^cillum) eine Stelle, wo er am besten mit seinem Ohrltiffe! (cochleare)
"^Schen Fremdkörper und Gehörgang ansetzen konnte und stemmte
''■'in mit einiger Gewaltanwendung die bereits durch Ceruminalraassen
^^Seheftete Glaskugel heraus. Außerdem hatte er noch zur eventuellen
^^'^rendung eine gerade Pinzette (tenaculum) zur Verfügung. Ein von
™*i ersonnenes Instnunentariuni zur Entfernung von Erbsen, mit dem
**" Operateur dem Kranken weniger Schmerzen bereitet als mit dem
i'^'^clileare'' , welches aber zu seiner Anwendung eine größere Gescbick-
™tiVeit erfordert, 6ndet auch hier Erwähnung. Es besteht aus zwei
u>euiaiiderpass enden Röhren, von denen die mit kleinerem Durchmesser
an ihrem vorderen Ende eine trepanartige Zähnung besitzt. Zuerst wirf
die weitere Röhre bis an den Fremdkörper geschoben, dann durch diese
die kleinere gezahnte Röhre eingefdlirt und durch kleine Drehungen an
den Fremdkörper fixiert. Endlich wird durch die kleinere Röhre ■
kleiner Bohrer in die Erbse eingebohrt und zum Schlüsse beide Röhren
mit Bohrer und Fremdkörper herausgezogen. Als Beispiele werden
(()bser\-. V, Cent. I) zwei nach dieser Methode mit Erfolg operierte Falle
angefUlirt.
Schließlich berichtet Fabricins (Observ, VI) über die Entfernung
einer in den äußeren Gehörgang geratenen Nadel und lObserv. X its
Cent. VI)*) über einen Fall, wo eine Taubkeit durch Extraktion ä.
mit Cerumen (,sordes aurium") bedeckten Grille sofort beseitigt wurde*).
Die Observ. 1. der III. Cent.**) bespricht in recht ausführlicher Weise
die Entfernung eines Polypen des äußeren Gehörganges,
nach Variola bei einem 8jährigen Mädchen sich gebildet haben solL
Der Polyp, den Fabricius wegen seiner Form und Härte „fungus
scirrhosua" nennt, ragte aus dem Ohre heraus und hatte den Gehörgang
bereits stark erweitert. Eigentümlicherweise verschob Fabricius dieE
fernung wegen der herrschenden Kälte auf das nächste Frühjahr und ver-
suchte in der Zwischenzeit interne und externe Mittel. Du die Basis det
gestielten Polypen tief im Gehörgange in der Nähe des Trommelfells saB
und die Patientin einer Exzision abgeneigt war, erdachte sich Fabricius
einen Apparat, um den Polypen hart an seinem Ursprung abbinden zu
können. Er verwendete hiezu eine U-fÖrmig gebogene, an ihren beiden
Enden und in der Mitte durclilochte elastische Silberspange, die sii
mit ihren beiden Enden, den Polypenstiel umfassend, in den Qehörgai
einsthieben ließ. Nachdem Fabricius nun einen einfachen Knoten u
den Polypen geschürzt hatte, zog er die Enden des Fadens durch dit
Endlöcher seiner Silberspange und schob diese und damit die Ligidw
so tief als möglich in den äußeren Gehörgang, wähi-end gleichzeit^ »
Assistent mit einem Faden, der durch das Mittelloch der Spange getÜai
wurde, den Polypen nach außen spannte. Der Faden wurde zuerst tockn
liegen gelassen und erst in den nächsten Tagen nach und nach s
zugeschnürt. Als der Polyp abgefallen war, behandelte er den zm
gebliebenen Rest mit ätzender Flüssigkeit, wobei er den normalen TeS
des äußeren Gehörganges durch eingelegte Wachsplättchen schützte.
Erwähnt sei noch, daß Fabricius ein curetten artiges Instrument (»on
ihm „cultellus separatorius" genannt) abbildet, das ihm zur EntfernanH
von Granulationen (carunculas) im äußeren Gehörgang diente.
Die Observ, IV. ergeht sich eingehend über einen Fall, bei li
L
*) 1. e, p. 507.
") 1. c. p. 183-
Tafel VIII
I
156 FabriciuB Hildanus.
darin, meint Fabricius, habe jener ,,Empiricus*' einen groben Fehler
begangen, daß er in beide Ohren zu gleicher Zeit das scharfe Medika-
ment einflößte. Zum Schlüsse wird noch erwähnt, wie man Flüssigkeit
aus der Tiefe des Ohres entfernen könne. Man nimmt einen mit Be-
tonienwasser getränkten und dann gut ausgepreßten Schwamm, führt ihn
in den Gehörgang ein und läßt den Patienten auf der kranken Seite
liegen; doch muß der Schwamm eventuell häufig gewechselt und ge-
reinigt werden.
Die nächste Erankheitsgeschichte (Obserr. XXVI.)'*') behandelt den
Fall eines 8jährigen Knaben, der nach einer schweren Erkrankung nicht
nur taub, sondern auch stumm blieb. Fabricius erklärt ganz richtig,
daß der Knabe, der seine Muttersprache als Kind noch nicht beherrschte,
diese einfach vergaß, und sie, nachdem er einmal taub wurde, nicht
wieder erlernen konnte.
Die Observ. XXXIX.**) handelt von einem Abszeß, der sich bei
einem 40jährigen Weibe hinter dem linken Ohre bildete und, nachdem
er Faustgröße erreicht hatte, spontan nach außen durchbrach. Da die
Krankheit letal endete, dürfte es sich in diesem Falle um ein üeber-
greifen einer Schläfenbeincaries mit Abszeß im Warzenfortsatze auf das
Gehirn gehandelt haben. Anknüpfend hieran rät Fabricius, bei
solchen Abszessen nicht bis zum spontanen Durchbruch zu warten, son-
dern früher zu inzidieren.
Am Schlüsse der Observ. IL***) spricht Fabricius ^de puru-
lentis auribus". Ein 24jähriges Weib hatte seit ihrer Kindheit «puro-
lentas aures**, aus denen manchmal „cocta et digesta materia**, bisweilen
auch „subtilis et tenuis** floß. Gleichzeitig bestanden Schmerzen und
zeitweilig ein .»foetor". Bei naßkalter Witterung klagte die Patientin
auch über Schmerzen in den Armen. Bei der Okularinspektion fand nun
Fabricius den äußeren Gehörgang mit Eiter erfüllt und beim Aus-
wischen der Ohren zog er ein Stückchen halbverfaulten Knorpel heraus.
Hierbei beobachtete er, daß bei dieser Patientin, wenn sie Mund und
Nase verschloß und eine heftige Exspirationsbewegung ausführte, Luft
aus den Ohren entwich, indem Blasen im Eiter entstanden*). Als Fa-
bricius diesen Versuch mehrmals wiederholte, berichtete ihm die Pa-
tientin, daß sie ihr Gehör bedeutend gebessert finde und daß ihr die
Krankheit wenig Unannehmlichkeiten mehr bereite.
Eine ähnliche Krankengeschichte behandelt die Observ. UI. der
IIJ. Cent, t) in der Form eines Briefes an seinen Freund Georg Horst,
■^) 1. c. Cent. V, p. 406.
'■''■■) 1. c. Cent. I, p. 33.
*^*) Cent. III. p. 189.
V) p. 189.
Qaspar Ta.gIiiioo£zi. 157
dem er gleichzeitig von der Erkrankung seines Sohnes an der Pest Mit-
teilung macht Ein SOjähriger Mann, der vor einigen Jiihien am Unken
Ohre an einem schmerzhaften Katarrh litt, bekam im äußeren Gehör-
gange einen ^abscessus' und wurde, wie Fabricius sich ausdrückt.
mehr durch die Natur als durch die Arzneimittel geheilt. Von da an
zeigte es sich aber, daß bei Verschluß von Mund und Nase und gleich-
zeitiger heftiger Exspirationsbewegun^ Luft au.s dem üebörgange aus-
strömte, die Ton den Danebenstehenden deuthch wahrgenommen werden
kotmt« *). Schmerzen waren seither nicht vorhanden, und als wunderbar
hebt Fabricins hervor, daß das Gehör kaum verschlechtert war. Es
handelt sich hier zweifellos um eine abgelaufene Mittelohreiterung mit
persistenter Perforation des Trommelfells,
') Accidebant praeterea levo brachio quasi attiporee, ueque ad digitoa pollicam
pt indicem. progredienteB ad lumbos usque tibiam et pedem; et ut paucis dtcam.
totnm latu» ginistrum continuis ija ccu stuporibuE tanguebat.
*) Qnum annis quatnoc aut quinque sie doleret, ticciderunt interdiim epilepticoe
coDTnlsiones : ipsutu quoque brachium in atrophiam inuidit.
') Prima locum splendidum etegi, itn quidem ut rsdii solares iu auris meatum
penetrarent. Mox ueatutn auris undique inuTUci oleu amygdalumm dulcium, Deinde
dilatato noiuiibil apecato |iiifr:i Ggurato) aiiris medio (quo facilius eo possem intro-
«picere) tum oculi« contemplari. tum j^pecillo explorare coepi - . .
*) ,Admoto Bpeeulo auria in profiindo aliijuid praeteraftturale video; im-
miaEÜ jtaque iaatTUineatia. quatia bie depicta sunt, miiteriam quaudani pinguBm
flavamque, totiet aurium prae se ferentem, et prope inembranam tyrapani tenaoitar
haerenteni extraii: binc in ipso momento binnitua reniisit, et auditum recuperare
oepit. Material!) autem hancue cum dilig«nter inapexisse grilliiin aemiputridum,
•ordibuBqne auria iavolutuni esse reperi.*
*J Id uutem obBerTutibne dignum in boc aS'ectu occurrit , niminim aerem.
claunB naribiu et ore, tarn violenter ex auribus efSare et exspiraie, ut impogitis
*) Ab eo tempure, quotiens cuinqQt ob et nares claudit ac bucas inflat spiri-
^que vi expellere tentat, flatus tarn impetuose per aurem illam sinistram eispirat,
"( aibilus aatia claruB ab ipais quoque adstantibus facjle percipiatur, et caadela ai
'lui admoveas. eiatinguatur.
Qaspar Tagliacozzi. Den Chirurgen des 16- Jahrhunderts ist der
Bolognese Caspar Tagliacozzi (1546—1599) beizuzählen. Ihm ver-
''^»»lit die Chirui^ie das Wiederaufleben der schon im Altertume geübten
*''■ *>)ilastischen Operationen. Wie fi-Uher erwähnt, haben schon
''1® Inder und spater Cclsus und die Byzantiner versucht, verloren ge-
gangPQg Stückchen der Ohrmuschel auf plastischem Wege zu ersetzen,
später war es der siziUanische Wundarzt B r a n c a aus Catania und
ilessen Familie, die dieses Verfahren übten. Von ihnen ging die Kenntnis
*" plastischen Operationen auf die Familie Vianeo (Bojani) zu Tropaea
'" Kalabrien über, von der sie Tagliacozzi erlernt haben dürfte.
Ttgliacozai, der sich eingehend mit dieser Operationsmethode
158
Gaapac Tagliai
beschäftigte, beschreibt in seinem 1597 au Venedig, em Jahr später i
Frankfurt erschienenen Werke*) die plastischen Operationen an der
Nase, an den Lippen und am Ohre nach Methoden, die sich zum große«
Teile noch bis jetzt in der Chirurgie erhalten haben. Das am Schlüsse
des Werkes angegebene Verfahren zur Wiederherstellung von Ohr-
defekten wird durch mehrere rohe Holzschnitte illustriert. Bei gänz-
lichem Mangel der Ohrmuschel rät er von jeder kosmetischen Operation
ab. Nach seiner Erfahrung könne nur bei partiellen Defekten ein günstiges
Resultat erzielt werden, und zwar seien die Chancen fi3r den Ersatz des
unteren Teiles der Ohrmuschel viel
günstiger als bei Defekten des obe-
ren Abschnittes, weil dieser eine kom-
pliziertere Form habe und wegen
seiner vom Kopfe abstehenden Stel-
lung schwerer ernährt werde. Zum
Ersatz des Defektes entnimmt er Haut-
lappen der benachbarten Gegend hin-
ter und unter dem Ohre, und zwar
bei Mangel des oberen Teiles
von der oberen Gegend des Pla-
num mastoideum (Fig. 7), und
bei Mangel des unteren Ab-
schnittes von der s e i 1 1 i c h e n
Halsgegend'). Bei der Lappenbü-
Tig. 7. Ersatz di?e defekten, oberen Ab- düng am Planum mastoideum wird
sclmiUes der OhriüUBchelB durch emen ^j yj^ ^^^ Warzenfortsatz ver-
oberhftlb des Planum luaatoid. entnom-
menen Hantlappen A. — Beiu'oduktiun laufende Arterie verletzt'). Mit ge-
ausdemzitiertenWerkeTagHacozÄi«, ^^^^^ Schnitt^) durchtrennt er das
vorher mit Schwarzstift umzeichnete
Hautstück und heftet den gestielten Lappen in einem Akte an die
unter Schonung des Knorpels') sorgfältig wundgemachten Känder der
Ohrmuschel an.
'l 1, c. p. 604. Icon vigesiraasecunda.
'') Cum enim per locum ex 'luo tradui e;
camuB perreptet, quem velis noÜB oportet incider
') Hec negligere illad oportet, ut qoanti
ducatnr sectio. 1. c- p. 552.
•) Interea feriet autem curlam, et acutJBaimo ferro ad ertiemam
Collum detrahet, cavens ne cartilaginem dilacerel, I, c. p. 552.
dit.ur. inajgnia quidam arteriot^
I. f. p. r>il.
fieri poterit , ad rectum lineBm
*) Cheirurgift nova Gasparia Taliacotii de narium. aurium. labiorumqne defectu,
per msitionem cutis ei bumero, arte bactenun omnibus ignota, aarciendo etc.,
Francofurti 1598. Lib. II, Cap- 20 De curUrum aurium chirurgia. p. 546—558.
Otologische Literatur im 16. Jahrhundert 159
Außer den im Texte angeführten Autoren sind noch folgende in dieser Periode
erschienene Schriften zu erwähnen, die nur unwesentliche otologische Details enthalteo.
Hieronymus Card an us, De Suhtilitate. Lib. XXI.
Garbo Ludovicus, Jnterior homo vel de sui ipsius cognitione. Coloniac
1597. De auribus et auditu spirituali. Cap. 55 u. 56.
Jo. Ferrerius, Audi tum esse magis necessarium quam visum. Parisiis 1539.
Cipriano GiSimbelli, Trattato deir Anima. Trevigi 1594. Della Vista e
deir üdito. Lib. 1.
Baccius Andreas, De thermis, lacubus, fluminibus, balneis totius orbis.
Venetiis 1571. De Aurium morbis. Lib. III, Cap. 1, p. 138.
Jo. Alphonsus de Fonsecha, Medicorum Incipientium medicina etc.
Madriti 1598. Luminar. 2, Cap. 3, p. 104 et seqq. multa de auribus.
Galeotus Martins, De Homine. Basileae 1517. De Auribus. Lib. I, p. 12.
Sim. Maiolus, De Irregularitate. Romae 1585. De Aurium defectibus.
Lib. I, Cap. 25.
Franc. Petrarcha, De remediis utriusque fortunae. Basileae 1581. De
Auditu perdito. T. I.
Plutarchus, De Auditione libellus: inter Moralia. Basileae 1573.
Bartolomeo Montagnana (f 1525), Selectiorum Operum, ubi consilium de
Aegn^tudinibus aurium. Francofurti 1604.
Barth^lemy Pardoux (Perdulcis 1545—1611), üniversa medicina ex medi-
corum principum sententiis. Lugduni 1651. Lib. XIII, Sect. 4, Cap. 3 et seqq., de
Auriuiii tinnitu, snrditate et parotide.
Giovanni Battista della Porta (1536—1615), Magia naturale. Napoli 1677.
Lib. XX, Cap. 5 d*un istrumento per udir da lontano.
Id., Fisonomia, ridotta dallo Stelluti. Roma 1637. Fol. 36, Lib. II, delle Orecchie.
Id., Phjtog^omonica Plantarum etc. Rothomagi 1650. Lib. III, Cap. 40,
magnarum aurium animalia ad auditus gravitatem valere.
Thomas Feyens (Fienus 1567), Simiotice, de Signis medicis. Lugduni 1683.
Part. 2 a, Cap. 3, § 7, ab auribus.
Johann Dolaeus (1651 — 1707), Encyclopaedia chirurgica rationalis. Franco-
furti 1703. Lib. I, Cap. 14—15, p. 109 — 131. De aurium dolore, inflammatione etc.
MarcellusDonatus, De medica historia mirabili libri VI. Mantnae 1586.
Lib. II, Cap. 12, p. 77—78.
Dune an Liddel (1561 — 1613), Ars medica, succincte et perspicue explicata.
Hamburgi 1608. Lib. III, Cap. 7, p. 301—304.
Reinert Solenander, Consilioiiim medicinalium sectiones quinque. Francof.
1596. Sect. I, Cons. 3 et 4, p. 14—20; Sect. II, Cons. 10 et 11, p. 130—132.
Job. Schenk von Grafenberg (1530 — 1598), Observationes medicinal.
Francof. Lib. I, p. 175—178.
Henricus Petraenus (1589 — 1620), Nosologia harmonica, dogmatica et
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Jean Baptiste van Helmont (1577 — 1644), Opera. Herausgeg. von seinem
Sohne Franciscns Mercurius Helmont. Lugd. Bat. 1677.
Marcus Aurelius Severinus (1580 — 1656), De efficaci medicina. Franco-
furti 1646. Lib. VII, p. 295.
Hieronymus Provenzalis, De sensibus. Romae 1597. Part. II, Cap. 26
et seqq., de sensu, organo et situ auditus.
Rapb. Volaterranus, Commentaria. Lib. XXIV, fol. 738, Aures. Lugduni 1552.
stand der Otiatrie im 17. Jahrhundert.
Ein Ueberblick der Leistungen auf otologischem Gebiete im 17. Jahr-
hundert ergibt nur wenig Erfreuliches. Den Leistungen der großen
Italiener in der vorhergehenden Epoche gegenüber erscheinen die Ergeb-
nisse des 17. Jahrhunderts eher als ein Rückschritt. Dies gilt insbesondere
von Deutschland, wo die wissenschaftliche Forschung durch den dreißig-
jährigen Krieg auf das niedrigste Niveau herabgedrückt wurde, während
sich gleichzeitig in Frankreich und in den Niederlanden eine erfolg-
reiche wissenschaftliche Tätigkeit entwickelt, die auch unserem Fache
zu gute kommt.
Immerhin sind in diesem Jahrhundert mehrere für den Fortschritt
der Naturwissenschaften und der Medizin epochale Ereignisse zu ver-
zeichnen, deren Ergebnisse für die Otologie allerdings erst im folgenden
Jahrhundert zu Tage treten. Wir meinen die Erfindung des Mikroskops
und die neue Richtung der naturwissenschaftlichen Forschung durch die
von dem genialen Baco von Verulam inaugurierte induktive Methode.
Wir würden jedoch zu weit gehen, wollten wir das ganze 17. Jahr-
hundert als eine sterile Zeit für die Otologie bezeichnen. Denn am Aus-
gang des Jahrhunderts begegnen wir zwei Forschem, deren Leistungen
einen Wendepunkt in der Otologie bedeutet: Du Verney und Val-
salva. Da das Wirken des Letzteren zum Teil in das folgende Jahr-
hundert fallt und mit dem seines Schülers Morgagni im engen Konnexe
steht, so erscheint es gerechtfertigt, Valsalva an die Spitze der italieni-
schen Anatomen des 18. Jahrhunderts zu stellen.
a) Anatomie und Physiologie des Oehörorgans im
17. Jahrhundert.
(Erste Periode.)
Die lange Periode von Casserio bis Du Verney ist hinsichtlich
der Hnatoniischen Entdeckungen am Gehörorgane mit der vorhergehenden
großen italienischen Epoche nicht in Vergleich zu ziehen. Trotz des
raschen Anwachsen der Spezialliteratur ist die Summe hervorragender,
neuer anatomischer Beiträge nur recht bescheiden. Immerhin aber zeigt
Die Ohranatomie in Italien im 17. Jahrhundert. 161
das vorliegende historisclie Material, daß der Kreis der Forscher, die
der Ohranatomie ihr Interesse zuwendeten, immer größer wurde und
daß die französischen, englischen, dänischen, niederländischen und deut-
schen Anatomen, die nun — allerdings spät — den hohen Wert der
Forschungsergebnisse der Italiener anerkannten, sich eifrig am Aufbau
der Anatomie beteiligten.
Während im 16. Jahrhundert außerhalb Italiens die Ohranatomie
nur andeutungsweise behandelt wurde, finden wir im 17. Jahrhundert
kein anatomisches Werk, in dem dieser Teil der Anatomie nicht be-
rücksichtigt würde. Ja wir finden Schriften, die ein bestimmtes Thema,
z. B. das Schläfebein, das Trommelfell, die Gehörknöchelchen u. a., ge-
sondert behandeln.
Im ganzen stellt sich dieser Zeitraum als XJebergangsperiode dar.
Die groben anatomischen Verhältnisse waren zum großen Teile auf-
gedeckt. Für die feinere Zergliederung aber fehlte noch jene aus-
gebildete Technik und Schärfe der Beobachtung, welche die Männer der
folgenden Periode, Yalsalva und Morgagni, charakterisiert.
Die physiologischen Anschauungen über die Gehörfunk-
tion bewegen sich anfangs noch zum großen Teile in dem Gesichtskreis
des Eoyter und Gasserio, doch wurden später im Anschluß an den
großen Aufschwung, den die Physik insbesondere durch französische und
italienische Forscher nahm, die Kenntnisse über den Schall und über
Schallfortpfianzung wesentlich vertieft und erweitert.
Auch in diesem Zeitabschnitt leisteten die Italiener noch Einiges,
doch behaupteten sie nicht mehr in dem Maße das Uebergewicht wie
in der früheren Periode. Jetzt sind es namentlich französische und
niederländische Forscher, deren Leistungen rühmend hervorgehoben wer-
den müssen. Von den Männern, die sich um die Ohranatomie verdient
gemacht haben, sind zu erwähnen: die Italiener Ca^cilius Folius,
Marchetti, die Deutschen Heinrich Glaser, Michael Lyser, Bohn
und der Schweizer Bonet, die Niederländer De le Boe Sylvius,
Tulpius und Spighel, die Dänen Nicolaus Steno, Bartholin,
der Engländer Th. Willis, die Franzosen Claude Perrault und
Jean Mery u. a. — Für die Physiologie des Gehörorgans und die
Schallehre kommen in Betracht Kircher, Molinetti, Willis, Lamy,
Bartoli, Mersenne und Gassendi.
Italien.
In dem Yaterlande der wichtigsten anatomischen Entdeckungen auf
otologischem Gebiete trat nach Casserio ein lange dauernder Stillstand
ein. Die glänzende italienische Epoche der anatomischen Forschung
fand im 17. Jahrhundert nur kleine Epigonen. Erst im 18. Jahrhundert
Politzer, Oetohiohte der Ohrenheilkunde. I. 11
162 Caecilius Folius.
wurde durch Yalsalva und Morgagni, Cotugno und Scarpa die
Reihe jener Forscher geschlossen, welche den Ruhm der italienischen
Anatomen für immer begründet haben.
Das Hauptinteresse in dieser Periode hatte sich den Tiersektionen,
die allerdings auch für die Ohranatomie manches Ersprießliche ergaben,
und der von Malpighi begründeten mikroskopischen Anatomie zuge-
wendet. In der auf Zergliederung von Tieren basierenden anatomischen
Forschung haben sich Ron deletti, Ulysses Aldrovandi^), namentlich
aber Marc Aurelius Severinus (1580 — 1656) hervorgetan. Letzterer
bevorzugte die Sektion von Tieren vor der menschlichen Anatomie und
legte seine Ergebnisse in der „Zootomia Democritea** (Nürnberg
1654) nieder. Die mikroskopische Anatomie wurde in glänzendster Weise
durch Malpighi (gest. 1694) gefördert. Seine mit Silvestro Bon-
figlioli unternommenen Untersuchungen über das Gehörorgan brachten
jedoch nichts Neues. Erst seinem Schüler Yalsalva war es vorbehalten,
sein ganzes Talent und seinen unermüdlichen Eifer in den Dienst der
otologischen Forschung zu stellen.
Unter den vor Yalsalva wirkenden Anatomen seien im folgenden
jene Italiener genannt, denen die Ohranatomie wenn auch keine hervor-
ragende, so immerhin eine erwähnenswerte Förderung verdankt.
*) De piscibus libri quinque. De Cetis über unus. Francofurti 1670. 1. c
Lib. IV, Cap. 2. p. 159; Lib. I. Cap. 19; Lib. II, Cap. 25, p. 23.
Caecilius Folius. Zu den Anatomen, die sich durch Entdeckung
eines einzelnen Details einen Namen in der Anatomie erworben haben,
zählt Cecilio Folio (1615 — 1650). Zu Modena geboren, studierte er an
der L'niversität Padua, wo er an der anatomischen Lehrkanzel der Nach-
folger Veslings wurde. Nach Niederlegung seines Lehramtes nahm er
bleibenden Wohnsitz in Venedig. Er hinterließ die Resultate seiner
anatomischen Untersuchungen über das Gehörorgan in einer dem Tho-
mas Bartholinus gewidmeten Tafel mit sechs anatomischen, in Kupfer-
stich ausfreführten Abbildungen, welche wohl zu den besten jener Zeit
gehören, nach unseren heutigen Anforderungen aber durchaus keinen
Anspruch auf Naturtreue erheben können. Wir finden daher das über-
scbwenjrliche Lob. welches Portal dieser Tafel widmet, in keiner Weise
«gerechtfertigt.
Die den Titel -Nova auris internae delineatio** (Yenet. 1645)
führende Tafel*), der außer der Widmung nur zwei Seiten Figuren-
erkliirung, aber kein beschreibender Text beigegeben ist, enthalt unter
*) Von mir wurde die in den ^ Disputation, anatomicar. selectar*. Vol. 111
des Albr. v. Hai 1er enthalU-ue Tafel des C. Folius benutzt
CaeciliuB Folins. 163
anderem die bekannte Entdeckung des Folio, die des langen Ham-
merfortsatzes (Processus longus spinosus s. Folii).
Zwar war dieser schon dem Koyter (Proc. primus), Casserio (Proc.
anterior elatior et ezilior) und Fabricius ab Aquapendente nicht ganz unbe-
kannt, wurde aber von Gaecilius Folius zuerst als eigener Fortsatz be-
schrieben und abgebildet. Dieser Fortsatz führt wohl auch mit mehr
Berechtigung den Namen „Processus Ravii'' nach dem deutschen Ana-
tomen Jac. Ravius, der den beim Neugeborenen in seiner ganzen
Länge darstellbaren, grazilen langen Fortsatz zuerst beschrieb, während
Folius nur den kurzen Rest desselben beim Erwachsenen darstellte
und abbildete. Von inneren Ohrmuskeln nennt Folius den Muse. rot.
intern, (tensor tympani) sowie einen Muse. aur. extern., der sich an dem
langen Fortsatz inseriert. Dieser Musculus Folii (laxator major s. obli-
quus) ist aber wohl nichts anderes als das vordere Band des Hammers
(ligamentum mallei anterius s. process. long, mallei).
Von den sechs Abbildungen der Tafel stellt die erste das Laby-
rinth und die Schnecke mit der Fenestra rotunda (Cochleae) und
ovalis (vestibuli) dar. Die halbzirkelförmigen Kanäle (Circumvolutiones)
werden ziemlich gut abgebildet. In der Erläuterung spricht Folius von
einem kleinen Loch, welches in eine der Schneckentreppen einige
Blutgefäße durchtreten läßt. Der Fazialkanal wird als Aquaeductus
Fallopiae bezeichnet, durch den die Portio dura des Nerrus audi-
torius geht.
Die zweite Abbildung enthält unter anderem Detail der Trom-
melhohle auch den obenerwähnten langen Hammerfortsatz („subtilior
Processus, cui alligatur musculus alter auris externus**).
Die dritte Abbildung bringt die Gehörknöchelchen zur An-
sicht, von denen jedoch nur der Amboß und Stapes gut getroffen sind,
während das Detail des Hammers mit seinem zu lang geratenen Hals,
dem viel zu kurzen Hammergriff und der falschen Stellung des langen
Fortsatzes sofort als mißlungen in die Augen fällt. Was Folius als
Stapedis osseus globulus in dieser Abbildung bezeichnet, wird von Manchen
als das Linsenbein gedeutet.
Die vierte Figur stellt die Schnecke in zwei und einer halben
Windung mit ihren beiden Skalen dar, die fünfte die einzelnen Teile
des Gehörorgans im Zusammenhange in richtiger topographischer Lage.
An der sechsten mehr schematischen Abbildung sieht man unter
anderem die Scheidewand, welche die Schnecke in zwei Treppen teilt
(^intermedium quoddam cochleam in duos gyros dividens"), ferner daß
zwei Bogengänge, der senkrechte und hintere, mit einer cremein-
schaftlichen OefFnung in den Vorhof münden, wora' im
ganzen fünf Oeffnungen ergeben.
164 Domenico de Marchetti.
Domenico de Marchetti (1626 — 1688), Assistent Veslings und
Nachfolger auf dem Lehrstuhle für Anatomie zu Padua, schildert in
seinem Handbuchc der Anatomie*) das Gehörorf^fan im Sinne seines
Lehrers, weicht jedoch in mancher Beziehung von ihm ab. So beschreibt
er irrtümlicherweise den kurzen Amboßschenkel in Verbindung mit dem
Trommelfellring und erwähnt ein membranöses Ligament, das den langen
Amboßschenkel mit dem Stapes verbindet ^). Er leugnet femer das von
Sylvius und seinem Lehrer Vesling beschriebene Linsenbein (ossiculum
quartum) oder wenigstens dessen konstantes Vorkommen*). Schnecke
und Labyrinth (Bogengänge) schildeii er eigentümlicherweise als zwei
vereinigte Knochen in „tympani cavitate** ^), das Labyrinth als aus vier
runden Höhlungen bestehend (ex quatuor constituitur cavitatibus rotundis),
von denen der „aör** gereinigt (puriorfactus) zur Schnecke hinabsteigt.
Von der Schnecke weiß er, daß sie aus zwei Windungen und dem Teile
einer dritten besteht. Unverständlich ist die Beziehung, in die er die
trockene und gebrechliche Substanz der Schnecke mit der besseren Kon-
servierung des Tones bringt *). Das innere Ohr versorgen seiner Ansicht
nach Aeste vom dritten (N. trigeminus) und fünften Nervenpaare (N. fac.
u. acust.). Als Ast des dritten Nervenpaares sieht er die Chorda an, die
einerseits durch die Trommelhöhle verlaufe, sich mit dem Gesichtsnenr
verbinde und sich anderseits im Warzenfortsatze ausbreite. Ob Mar-
chetti, wie von Manchen behauptet wird, einer der ersten war, die
mit Entschiedenheit das Vorkommen des später vielfach diskutierten
„foramen Rivini** im Trommelfelle gesehen hat, kann aus den in der
„ Anatomia** vorliegenden Angaben nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
Für diese Ansicht Marchettis scheint vielleicht die im physiologischen
Teile entwickelte Theorie zu sprechen, daß die äußere Luft in den
Gehörgang und dann in die Trommelhöhle gelange*'^); doch ist bei der
Trommelfellbeschreibung und auch sonst an keiner Stelle von einem
„foramen** die Rede. Endlich sei noch die auf falschen Voraussetzungen
basierende Meinung Marchettis erwähnt, daß die „audiendi facultas'
allen Teilen des Gehörorgans insgesamt zukomme, dem Nerv, dem
Trommelfell, den Knöchelchen, und nicht irgend einem dieser Teile allein^).
') Kx Pedibus primus, et brevior, annulo tympani connectitur: alter vero, liga-
meiito menibranoso, ossiculo alteri adhaeret, quod Os Stapes dicitur. p. 225.
^) Additiir ii Sylvio, et a Veslingio, quartum ossiculum, quibus ego non
assentior: quoniain in medio iatorum ossiculorum nihil aliud reperitur, nisi liga-
uientuiii, quod i[)sa oasicula alligat. p. 225.
■') Caetcrum, in tympani cavitate, duo ossa unita, sed ä figura distincta resident,
(pionnn unum coclilea. alterum verö Labyrinthus nuncupatur. p, 226.
■' ) Anatomia, (-iii responsiones ad Riolanum, Anatomicum Parisiensem, in ipsiufl
Aniniadversionibus contra Veslin^ium additae sunt. I. edit. Paduae 1652. III. edit.
Lugd. I3atav. 1G8S, Cap. 16, p. 220—230. De Auribus.
Antonio Molinetti. 165
*) Est Cochlea aurium cavitas, in processu petroso posita, ex duobus gyris cum
aliqua portione tertii, cujus substantia siccissima est, facileque frangibilis, a natura
sie producta, ut melius sonum conservare, et puriorem detinere possit. p. 227.
^) Cui dabitur igitur ex istis portionibus sensus auditus? Non nervo: nam,
eo laeso, auditus amittitur : non membranae tympani, non ossibus ; nam, illis quoque
laesis, cessat audiendi facultas. Vidi ego quendam membrana tympani carentem,
cui sensus auditus defecerat: unde audiendi facultas non est propria, sed communis
Omnibus istis partibus. p. 229.
Antonio Molinetti (gest. 1673), ein venetianischer Arzt, später
Professor zu Padua, gibt in seinen Werken: „Dissertationes anatomicae
et pathologicae de sensibus et eorum organis" (Padua 1669)*) und
,f Dissertationes anatomico-pathologicae, quibus humani corporis partes
accuratissime describuntur morbique singulas divexantes explicantur**
(Venedig 1675)**) nichts, was einen Fortschritt in unserem Fache be-
deuten könnte. Im letzten Werke nimmt eine weitläufige und ge-
künstelte Parallele zwischen der Physiologie des Auges und des Ohres
den größten Raum ein. Seine anatomische Beschreibung ist an vielen
Stellen mangelhaft, am oberflächlichsten wird das innere Ohr behandelt.
Die Chorda beschreibt er richtig als Ast des fünften Nervenpaares und
zwar der »pars dura" (N. facialis) und erklärt alle Angaben, die sie
vom vierten Nervenpaare herleiten, als Irrtümer^). Er läßt sie in den
Hammermuskel gehen und sich dort ausbreiten ^). Auf diese irrige
Annahme baut er eine eigentümliche Hypothese der Chordafunktion.
Die mit dem Trommelfell und Hammer gleichzeitig erschütterte Chorda
soll den Hammermuskel mehr oder minder innervieren, wodurch in
weiterer Folge das ovale Fenster durch die Stapesplatte mehr oder minder
fest verschlossen werde'). Er behauptet femer, daß der Folianische
Fortsatz dem Annulus tympanicus fester als dem Hammer anhafte*).
Daß Schwerhörige bei geöffnetem Munde besser hören, erklärt er damit,
daß die durch die Tube eindringende Luft die Schwingungen der
Stapesmembran verstärke und somit die „innere Luft** des Labyrinthes
in intensiverer Weise erschüttere *). Seine gehörphysiologischen An-
schauungen, die noch immer im „aör ingenitus** fußen, sprechen sich
in folgender Hypothese aus: der Schall, resp. die Erschütterung der
äußeren Luft pflanzt sich durch das Trommelfell und die Gehörknöchel-
chen fort imd gelangt zur Membran des Stapes. Dieser teilt Moli-
netti eine wichtige Rolle zu; sie wird nämlich in Schwingungen ver-
setzt, dadurch der Schall verstärkt und die im Labyrinthe befindliche
*) Cap. 7, p. 39 nach Lincke (1837). Cf.: Bibliotheca anatomica sive recens
in anatomia inventomm thesaunis locupletissimus etc. Geneve 2 voll. 1699. T. II,
p. 273. M^moires de Trevoux 1707. p. 415 . . . 1685.
♦♦) Lib. IV, Cap. 7—10, p. 160—172.
\^\^\ Antonio Molinetti.
liiiH orNchUttert. In den Bogengängen wird der Schall (resp. die in
Srhwingung versetzte innere Luft) konzentriert und reflektiert und ge-
langt hioruuf in die Schnecke. Dort trifft er auf die Endigungen des
lliirnerven, von denen er zum Gehirne geleitet wird.
') Nunc autem de origine dicamus, et quidem communis hactenos sententia
iibtinuit. originem nerui huius esse a coniugatione quarta nervomm cerebri; quod
(»pinione magis, quam rei veritate asseritur; cum enim, surculum esse coniugationis
«luintae impossibile duzerint, in quartam fere omnes concessere, persoasi scilicet ab
iilia nulla ez magis distantibus propagari neruulum posse; nuUa igitur hactenoB
crrtior (*ognitio de ortu huius nerui fuit; cum, neque illi, qui ita opinati sunt
tiiiiniintom a quarta neruum ostendere potuerint. Nee mirum, nam a quinta suam
iraliit origimMu. quae res omnino ita se habet p. 166.
*) Kiumlam inde nactus alteram, ad latus pariter Tympani, per illam in mni-
nihiin roiitendit, describendum, deinceps, per quem diffiinditur. p. 167.
') S(>i|uitur igitur necessario, vt quoties aer sonorus, hoc est ab eztrinseco
piiK'UMMUN, inembranam Tympani percutit, neruus, qui inter membranam et malleum
mt, |iiM-ruiiHionem czcipiat eiusque modum impertiat statim musculo Uli intemo auris;
liic vfi-n liptans se usui, Kubito corripitur, et magis quidem ac minus, pro modo
|i(<tniNMioiiiH primae; Correptus itaque musculus Mallei processum trahit, cui inseritur,
hiriifliMi|iift poHitum proinde inuertit, cuius caput articulatur capiti Mallei, vt postea
(iKiifii. (ijiiique incudis processui oblongo, superiori angulo, et obtusiore stapes ad-
),„iMt'it\ , iii;quitur etiam necessario, vt ad modum trahentis musculi, stapes eleuetar.
h\ iittii/,!", vel minus attollatur k foramine ouali labyrinthi, quod naturaliter obsidet,
yf «liiiiiiijM, illudque magis aut minus patulum esse cogat p. 167.
*) Arctius quipp^ annulo adhaeret, vel circulo Tympani, quam Malleo.
f. \t'/i.
'-) Causam denique coUigamus, propter quam, qui minus perfecta audiunt,
i).«u t'-xdipere ore aperto student, scilicet aer ez palato per foramen dictum Tym-
l.ä.niiui Hubit, et insinuatus in aerem Tympani, motum ez percussione membrame
u'Jitugens, eundem cogit in membranulam Stapedis maiori cum impetu ferri, et illum
ifHiilttr mouere vehementiüs, qui est in labyrintho.
D. Bartoli. Hier wäre noch des vielseitigen Jesuiten Daniele Bartoli
t\iii)H — 1684) zu gedenken, dem die Akustik ein wertvolles physikalisch- physiologisches
Werk: »Del Suono, de Tremori armonici e delT üdito", Romae 1679,
Hononia 1680, verdankt. In diesem sucht er nachzuweisen, daß feste Körper ebenso
wie die Luft geeignet sind, den Schall fortzupflanzen und zu übertragen, und dafi
die Konsonanz der tönenden Körper abhängig sei von der Uebereinstimmuiig ihrer
Vibrationen. Kr schloß im Gegensatz zu Kircher und Gassendi, daß sich starker
.S(;hall nicht schneller und leichter als schwacher fortpflanze und erklärte den
.Mttchanismus des sogen. Ohres des Dionys von Syrakus aus akustischen Ge-
Hetzen. Nach Hai 1er in seinen ^Praelectiones Aeademicae Boerhavii** soll Bartoli
die Funktion der Tuba als Ventilationsapparat der Trommelhöhle bereits gekannt
haben. Seine Angaben über den Nutzen der einzelnen Teile des Gehörorgans bieten
ubcnsjo wie seine Notizen über Pathologie und Therapie der Ohrenerkrankungen
nichts Erwähnenswertes.
Unter d^n italienischen Anatomen sind noch Colle, Cortesius und Man-
fredi zu nennen.
Giovanni Colle aus Belluno. Professor zu Padua (gest. 1631), bringt in seiner
Johannes Wesling. 167
Sammlung chirurgischer und anatomischer Merkwürdigkeiten*) nur wenig Bemerkens-
wertes über das Gehörorgan.
Giambattista Cortesi (1553 — 1689[?]) aus Bologna, Schüler des um die
Rhino- und Otoplastik verdienten Tagliacozzi, teilte in seinem medizinischen
Sammelwerke auch einiges aus der Ohranatomie mit und fügte mangelhafte eigene
Abbildungen hinzu*"*').
Paolo Manfredi, Professor zu Rom, wendet sich in seinem ,Novae circa
aHrem observationes* ***) vorzugsweise der Detailanatomie der Gehörknöchelchen zu,
an denen er Feinheiten erkannte , die den früheren Anatomen entgangen waren.
Besonders hervorzuheben ist seine Schilderung der Gelenksverbindungen der Gehör-
knöchelchen, das Jiigament zwischen Amboß und Linsenbein, die Membran des Stapes
nnd die Furchen seiner Schenkel.
Von minderer Bedeutung für diese Epoche in Italien sind Curtius Mari-
nellusf), Aemilius Parisanusff), Octav. Scarlatinusftt)» welche die Ana-
tomie des Gehörorgans bloß vorübergehend streiften, Gremoninus Caesar *t) und
Bonaventura*"''t), die die Physiologie des Gehörorgans kursorisch behandelten.
Deutschland.
Die Leistungen der Deutschen auf otologischem Gebiete müssen in
dieser Periode als sehr geringfügig bezeichnet werden, da die Ana-
tomen fast durchwegs ihre Daten aus italienischen und fremdländi-
schen Werken entlehnten. Wir können uns daher auf eine kurze
üebersicht der otologischen Literatur der zeitgenössischen deutschen
und schweizer Autoren beschränken. Hervorzuheben sind die anatomi-
schen Schriften J. Veslings, Michael Lysers, J. H. Glasers,
die physiologischen Arbeiten Joh. Bohns und des Physikers Ath.
Kirch er und das die pathologische Anatomie behandelnde Werk des
Theophile Bonet.
Johannes Veslingius (Wesling, 1598 — 1649) aus Minden, ein
Westfale, der seine medizinische Ausbildung in Wien erhielt, wurde
nach vorübergehendem Aufenthalte in Venedig, wo er Privatvorlesungen
über Anatomie veranstaltete, wegen seiner hervorragenden Begabung im
Jahre 1632 als Professor der Anatomie nach Padua berufen. Die Hoch-
schätzung seiner Zeitgenossen ergibt sich aus der Tatsache, daß sein
Hauptwerk, das „Syntagma anatomicum'', ins Italienische, Deutsche,
Englische imd Niederländische übersetzt wurde ^).
*) Elucidarium anatomico-chirurgicum ex Graecis^ Arabibus et Latinis selectum.
Venet 1621. Cf. Haller, Element phys. Vol. V. Lib. XV, Sect. § 12.
**) Miseelleanorum medicorum Decades X, yid. Dec. 1.
***) Novae observationes circa uveam oculi et aurem. Romae 1668.
t) Anatomia. Patav. 1652.
fi*) De morbis nobiliores animae facultates obsidentibus. Venet. 1615.
fi-f) Homo et ejus partes, figuratus et symbolicus. Bonon. 1680.
'^'f) Tractatns de sensibus extemis. Messan. 1637.
**t) Quid Bit sonus? Mediol. 1681.
t r>^ Johannes Wesling.
Vosling teilt das Gehörorgan in eine «Auris externa'', wozu er
■)I«.^S tlio Ohrmuschel mit dem äußeren Ohrmuskel rechnet, und in
.;ri ^Auditus Organum**, unter welchem Begriff er die übrigen Teile
vi^s iiohörorgans, nämlich den äußeren Gehörgang, die Trommel-
hohle, das Labyrinth und die Schnecke zusammenfaßt. Das
Trommelfell ist nach ihm nur eine Ausspannung des Periosts, mit dem
es ununterbrochen zusanmienhangt, und wegen der in ihm verlaufenden
und unter ihm hinwegziehenden Nerren sehr empfindlich. Manchmal will
er es doppelt beobachtet haben*). Ob Yesling unter einem von ihm
erwähnten, als «subtensumque exile ac nerreum'* beschriebenen Ligament
die Chorda rersteht, wie es sein Kommentator Gerard Blasius deutet,
läßt sich aus dem Torliegenden Text nicht mit Sicherheit feststellen').
Unklar ist auch seine Beschreibung des Annulus tympanicus, den
er nicht unter diesem Namen kennt. Elr spricht von ihm bloß als
einer .proximae caritatis orbüa*« in die das Trommelfell fest eingefügt
worden sei, die obere Stelle ausgenommen, an der es leicht gelinge, das
Trommelfell herauszunehea (unsere jetzige Incisura Rivini)*). Die Ge-
hörknöchelchen kih er wie alle anderen Anatomen jener Zeit ftlr
•membranis destitutt* periosüos); den Hammergriff (pediolus sive cauda)
beschreibt er als «ztt Kttde ein wenig nach einwärts gedreht, wodurch
er das ihm aciuAeode Trommelfell leicht gegen die Mitte hinein-
ziehe ^V Die H^aittier-Ambüßverbindung sieht er f&r wenig fest
an. IVn Ham*^er«iuskel fand er mit zwei, in seltenen Fällen mit einer
Sehne sich *» Hummer inserieren. Verhältnismäßig zutreffend darge-
stellt shtvl V:ti>v»3 und Steigbügel, weniger das Linsenbein, von
ihn» vV<s;vvt»uiii viUiU'tuiu" genannt. Dieses beschreibt er als dem Steig-
bü •vllc*»*^*"* Hoittr or die Sehne des Muse. Stapedius hält) eingefügt '^.
v.l^\' ui^iAien (Vnier das Antrum mastoideum („antrum laxum*"),
1» * r* V 0 t\i»paiio ad palatum meatus*), die ^fenestra ovalis"
... * ^• joMC'^trji rotunda'*. Mangelhaft geschildert ist der Vorhof
^' K^»»;t'»»^ii">J^- (,Labyrintbus**), denen er vier Foramina zu-
,^. o*^ aio Schnecke (^Cochlea**), die er mit zwei Windungen und
.*;:\*oiMMi dritten darstellt. Er erspart sich hier eine weitläufige
^^XVX»'^-^
,i>uu^, iMilom er auf die wenig gelungenen Abbildungen verweist
*\ , ^ii^ui^'i^ (,jH»rtio mollior*') findet er am Ende des inneren Gehör-
... \oiu (iosichtsnorv (portio durior) durch einen leichten Knochen-
Nijauii«K i^eMchioilen. Der größere Teil des Hörnerven begibt sich in
K^, ^iHo Jor Schnecke, ein kleinerer in die Bogengänge, beide der
NkH4U»Ktu»n iliencnd ^). Ein kleiner Ast unseres dreigeteilten Nerven
4 viu*mU norvonnn oonjungatione") verlaufe mit dem „fünften Nerven-
u» '« ^^ **»*'*' '*» einer versteckten Grube des inneren Ohres aufgenommen
.li^l uol»kn><t' in die Troninielhöble , wo er sich in zwei Aeste teile, von
Michael Lyser. 169
denen der eine sich mit dem Gesichtsnerven verbinde, während der
andere die Höhlungen des Warzenfortsatzes innerviere. Dieser Ast ver-
sorge mit sensiblen Fasern die Schleimhaut, mit motorischen die inneren
Ohrmuskeln ®). Obwohl Vesling noch am Aör ingenitus des „ Labyrinthes**
und der Schnecke festhält, räumt er ihm doch bei der Hörfunktion keine
Bolle mehr ein, sondern hält die Schnecke für das eigentliche Per-
zeptionsorgan »).
') Syntagma anatomicum, publicis dissectionibus in auditorium asum diligenter
aptatum. Padua 1641. — Ich habe hier ^Joannis Veslingii Syntagma anatomicom,
commentario atqae appendice ex veterum, recentiorum, propriisque, obseryationibus,
illustratom et auctum a Gerardo Blasio, £d. II, Amstelodami 1666' verwendet. De
Auribus. Cap. 16, p. 246—259.
') Periostii ezpansio quaedam videtur, quo separate et ipsa protinus secedit,
sensuque propter nervös, et quos suscipit, et qui sub ea progrediuntur, exquisite valde
praedita. Duplex interdum conspicitur. 1. c. p. 249.
') Est autem velamentum auris intemum, tenue quidem, attamen ob singularem
lentorem, subtensumque exile ac nerveum ligamentum satis firmum, ut non minus
extemam a^ris vim, citra facilem noxam sustineat, quam iUapsam soni speciem sic-
citate conservet, atque in cavitates auris penitiores trajiciat. 1. c. p. 249.
*) Adhaeret firmiter ossiculo, cui mallei nomen impositum est, tum proximae
cavitatis orbitae, sf partem excipias, quae superiorem auditorii meatus regionem
attingit. In ea enim laxior omnino connexio est, ut evolvi membrana atque explicari
nonnihil queat. I. c. p. 250.
^) Reliquum ossiculi, sive id pediolo sive caudae compares, extremo suo intror-
8um aliquantulum contortum, adhaerentem sibi membranam leviter circa medium
intorquet. 1. c. p. 251.
^) Stapedi additur ossiculum quartum^ rotundum, perexiguum, h'gamento
Stapedis innexum, quod Francisco Sylvio inventum adscribitur. 1. c. p. 252.
^) . . . altera mollior, in extremo ossei meatus, ä priore leviter prominente
apophysi dirempta. Haec parte majore Cochleae centro insistit, minore ad labyrinthi
circulos porrigitur, utrobique audiendi munus officiumque consummans. I. c. p. 254.
') Addit sese bis ramulus singularis, k quarta nervorum conjungatione huc
productus. Is intemae auris secretiore cuniculo receptus in tympanum progreditur
egressuque bifidus, partim quinti paris duriori portioni descendenti se jungit, partim
in mammiformis processus cavemas spargitur. L c. p. 254.
*) Nam cum partem respicimus, quae in primis sonum conservat, intendit et
ad scopum intimum perducit, penes Cochleam utique principatus steterit: cum eam
qoae ad recepti soni perceptionem requiritur pervestigamus, utique Nervi mollioris
expansio, qui intimo Cochleae gyro accumbit, reliquis partibus dignitate praecellit.
1. c. p. 254.
Michael Lyser. Eine um die Mitte des 17. Jahrhunderts er-
schienene, für ihre Zeit sehr nützliche Schrift über anatomische Sektions-
iechnik, welche auch ein Kapitel über die Zergliederung des Gehör-
organs enthält, hat den Schüler des Bartholinus, Michael Lyser
(1626 — 1659), zum Verfasser. Das Buch, welches nach einer Aeußerung
Th. Bartholinis so vortrefflich sei, daß es nunmehr den Besuch von
Mioliaet Lyaer.
Padua, Basel und Paris behufs anatomischer Studien unnötig maclie,
fuhrt den Titel ,Ciilter anatomicus' und erschien zuerst 1653'), Das
Werk ist das erste seiner Art, denn die .Administrationes" G-alens,
die . Dissection du corps humain" des Charles Etienne, das
„Encheiridium anatomicum" betreffen nur die Behandlung der Muskel
und die Skelettopog, enthalten aber nichts auf unser Fach Bezügliches,
Wohl finden sich einzelne die Sektionstechnik betreffende Details bei
Nicol. Massa (siehe S. 76) und Eustachio (siehe S. 97), Die
Sektionsmethode Lysers jedoch, obwohl nach unseren heutigen Begriffen
äußerst primitiv, umfaßt das ganze Gehörorgan, Wir geben im folgen-
den das Wichtigste aus dem „Culter anatomicus".
Bemerkenswert ist vor allem die Präparationsmethode des Trom-
melfells und der Gehörknöchelchen. Beim Mazerieren und Aus-
einandernehmen der Schädelknochen empfiehlt er weitgehende Vorsicht,
um zu verhüten , daß das innere Ohr eine Verletzung erleide , das
Trommelfell zerreiße oder die Gehörknöchelchen aus ihrer natürlichen
Lage gebracht werden. Er weist mit besonderem Nachdrucke darauf
hin, daß man vom Gebörgange aus das Trommelfell und wie er hinzu-
setzt, wenn man über scharfe Augen verfUge, auch den durch das
Trommelfell durchscheinenden Hammer sehen könne. Um die Topo-
graphie der Gehörknöchelchen und des Hammermuskels zu
studieren, zerbreche man vorsichtig mit der eisernen Zange (Knochen-
zange) den der Stirne zugewendeten Teil des Scbläfebeins unter Schonui^
der PjTamide, Nach dieser nicht ganz klaren Angabe ist es wahr-
scheinlich, daß er bei der Präparation der Trommelhöhle die vordere
Wand des knöchernen Gehörgangs und die laterale Wand des knöchernen
Teils der Tub. Eust. bis zum Annulus tjmp. entfernt, diesen aber
stehen läßt*).
Vestibulum und Schnecke werden durch Entfernung der inaerea
Trommelhöhlenwand mittels einer feinen Säge und unter vorsichtiger
Anwendung der Feile freigelegt ^).
Bei der Präparation der Bogengänge wird von der Eminentia
arcuata*) aus die zwischen den drei Gängen liegende Enochensubstanz
entfernt und zwar die äußere härtere, kompakte durch Zerstoßen mit
dem Hammer, die übrige spongiöse mit dem Skalpell, Hierauf eröffnet
er die Bogengänge, wenn der Knocheu noch frisch ist, durch Schaben
mit dem Meißel, wenn er bereits trocken ist, mit der Feile, Auf diese
Weise könne man die Gänge bis zu ihrem Zusammentreffen freilegen.
Sollte dies nicht erwünscht sein, so genüge es auch, eine Schweinsborste
durch die einzelnen Bogengänge durchzuführen '').
Zum Schlüsse bemerkt Lyser, daß man beim Schläfenbein des
Neugeborenen einen solchen Apparataufwand nicht nötig habe und, da
J. H. Glaser. 171
der Knochen dünner und weicher sei, ohne Verwendung einer Säge mit
dem Meißel auskomme.
Ueberdies schrieb Lyser eine „Dissertatio de auditu** (Lipsiae
1653), in welcher er Schläfenbeine verschiedener Altersstufen, die Emi-
nentia pyramidalis, das Rostrum Cochleae schilderte, ohne neue
Details vorzubringen.
') Michaglis Lyseri Culter anatomicus, hoc est: Methodos brevis, facilis ac
perspicuus artificiose et compendiose humana incidendi cadavera. (Edit. Hafn. 1658,
1665, Francof. 1679, Lugd. Batav. 1731). Von mir benützte Ausgabe: Utrecht 1706.
Lib. III, Gap. 9. „De aurium consectione.'
') Dum vero Granu ossa disjungis, cave nimia vehementia utaris, quae Aurem
interiorem laedat, et vel tympanum rumpat, vel Ossicula auditus loco moveat. Quo
facto. Auribus a sordibus emundatis, Tympanum inspicias: si acle Oculorum vales,
Malle um etiam per membranam transparentem contueri poteris. Deinde forcipe
ferrea partem ossis, quae fronti obvertitur, circumspecte confringas, ita ut meatus
anditorii ad os petrosum ing^essus manifestus fiat, ac dimidia pars ejus ablata sit,
quo ossiculorum in concha positorum situm contempleris : ne tamen os lithodes vel
minimum violes vitabis, in quo Labyrinthus et Gochlea reconduntur. Oceurret hie
tibi musculusauris internae, qui malleo movendo dicatus. 1. c. Lib. III, Gap. 9.
De Aurium consectione. p. 97 — 98.
') Jam serra tibi in promptu sit, subtilis admodum. qua laminam osseam, quae
tertium latus incrustat rescindas; principio apparebit Gochleatus ductus, cujus
locus est oppositus foramini, pro auditorio nervo firmato: non tamen directe oppo-
nitur; sed Gochlea temporum ossi vicinior est. Si majorem Gochleae partem serra
resecveris, videbis quoque Labyrinth i meatus binos, qui supra Gochleam in idem
foramen coeuni Si integer Gochleae ductus serra non apertus fecit, lima radendo eum
amplius aperies; non enim in omnibus locis eminet aequaliter. 1. c. p. 98 — 99.
*) In latere secundo levis quaedam observatur protuberantia, non ita longe ab
osse temporum: sub hac latitat unus ex ductibus, qui pro basi trianguli haberi debet.
1. c. p. 99.
*) Hos circulos deinde aperies: si recens et nondum exsiccatum fuerit Os
scalpro radendo id perfici potest: sin aridum, lima hinc negotio erit aptissima; foramina,
quae limato osse apparent, prolongabis nonnihil, et si libet, utriusque ad communem
concursum persequeris: quod si hoc non placuerit, setam suillam per singulos gyros
trajicias, ut omnium extrema per fenestram ovalem exeant. 1. c. p. 99 u. 100.
J. Heinrich Olaser. Der Baseler Anatom Johann Heinrich
Glaser (1629 — 1675) gilt als der Entdecker der nach ihm benannten
Glaserschen Spalte (Fissura petrotympanica s. ölaseri). In seiner
Hauptarbeit „De Cerebro"*), die von dem Arzte Johann Jakob Stac-
hel in nach seinem Tode herausgegeben wurde, konnte ich jedoch eine
darauf bezügliche Stelle nicht finden. Immerhin ist es möglich, daß
Glaser von seiner Entdeckung in einer seiner Dissertationsschriften, die
mir nicht vorliegen, Mitteilung gemacht hat.
*) Tractatus posthumus de cerebro , in quo hujus non fabrica tantum . sed
actiones omnes principes, sensus ac motus ex veterum et recentiorum placitis et obser-
vationibos perspicue ac methodice explicantur. Basileae 1680.
172 J- H. Glaser.
Lincke"^), der sonst stets, wenn auch nicht immer richtig, die
Quellen zitiert, unterläßt dies bei Beschreibung der Glaserschen Spalte.
Auch bei Sprengel und Portal konnte ich keinen näheren Aufschluß
finden, wo Glaser diese seine Entdeckung publiziert habe.
Was den Inhalt seines dem Willis nachgeahmten Werkes ^De
Cerebro'', anbelangt, so sieht Glaser das Ohrenschmalz als ein Exkre-
ment der Gehirnrinde an, welches von der Gehimbasis dem Hömerven
entlang in den äußeren Gehörgang zwischen Knorpel und Haut ge-
langt, wo es sich in die dort befindlichen Drüsen einsaugt, yon denen es
dann in den Gehörgang ausgeworfen wird ^). Am Gehörorgane des Kalbes
will Glaser nun folgende Beobachtung gemacht haben, durch die er den
Weg, den das Cerumen nimmt, zu erklären rersucht. Der Trommel-
fellring habe in der Gegend des Hammerkopfes ein kleines Loch, das
von der Trommelhöhle in den äußeren Gehörgang führe. Das den Ge-
hörgang auskleidende „pericranium*^ bilde auch die Auskleidung jenes
kleinen Loches und formiere das Trommelfell. Es fließe also Flüssig-
keit durch diesen von Glaser entdeckten Kanal in den äußeren Gehör-
gang oberhalb des Pericraniums und gelange so zu den Drüsen').
Glaser bemerkt ferner, daß das Trommelfell in der Nähe jenes Kanals
bei genauer Untersuchung dichter erscheine, daß Flüssigkeit durch diesen
Kanal von innen nach außen gelangen könne, aber nicht umgekehrt. Beim
Menschen, wo er diese Spalte nicht auffinden konnte, sah er im sogen,
äußeren Hammermuskel, der seiner Ansicht nach am oberen Teil des
Gehörganges entspringt und seine Sehne zum Hammer schickt, auch
einen Weg, der von innen nach außen führe ^) und auf dem eben das
Exkrement zu den Drüsen komme. So mißglückt nach dieser Dar-
stellung der Versuch Glasers war, die alte Hypothese von der Sekretion
des Cerumens durch das Gehirn mit der neuen Kenntnis der Drüsen
des äußeren Gehörganges in Einklang zu bringen, so ergibt sich doch
aus seinen Angaben keineswegs mit Bestimmtheit, daß er eine Lücke
zwischen Ring und Trommelfell nachwies, wie Lincke**) irrtümlich
behauptet.
Auf gleich spekulativer und hypothetischer Grundlage basiert die
Hörtheorie Glasers. Zur Verrichtung eines äußeren Sinnes (senisatio)
sind notwendig: „facultas, instrumentum , objectum, medium*'. Die
Hörfähigkeit führt er auf den Lebensgeist zurück, als Organ des
Hörens bezeichnet er ausdrücklich nicht den „aer internus**, sondern die
feine, in den Höhlungen des inneren Ohres ausgebreitete, vom Hömerv
stammende „membrana'*, weil dorthin der Lebensgeist reichlich fließen
*) 1. c. J, p. 48.
**) 1. c. p. 99.
Job. Bohn. 173
und sich mit dem eiDgeborenen vereinigen könne , als Objekt den Ton,
als Medium endlich die atmosphärische Luft, den ASr internus und auch
das Wasser. Die durch den Ton erschütterte Luft bewegt das Trommel-
fell, dieses die innere Luft und diese wieder die Fasern der ausge-
spannten Membran, welche ihren Impuls dem ^spiritui acoustico" mit-
teile, wodurch der Ton wahrgenommen werde*).
An einer anderen Stelle hält er den Hörnerv wie alle anderen
Sinnesnerven auch für ein Organ des Tastgefühls ^).
') Hoc amarum excrementum ex corticali substantia descendit ad basin cerebri
et secundam ductum nervi auditorii fluit in glandalosam camem in meatu aurium
extemo, inter cartilaginem et cutem sitam, quae illud inibibit et in meatum audi-
torium eructat.
') Quia in vitulo observare est, circulum illum ossenm, qui tympanum continet,
prope mallei capnt findi, fissura baec eziguum foramen efiPbrmat ex pelvi in meatum
auditorium; meatus auditorius pericranio succingitur, hoc pericranium continuatar per
fissuram eamqoe succingit; cum fissuram transiit, expanditur et facit tympanum.
Ergo humor ex pelvi per hunc canalem in meatum auditorium fluit super perici-anio.
') In foetu humano haue rimulam non reperio forte nee in adulto. £xtemus
musculus malleolum movens, externe in superiore meatus auditorii parte ortus ten-
dinem suum intromittit ad malleum; videntur ergo viae esse, ab intemis ad externa;
hoc probabile tantum.
*) Hie motus tympanum pellit; tympanum pulsum aSrem intemum movet; in-
ternus motus pellit fibras membranae expansae, fibrae hae impulsae impulsum spiritui
aeoustico communicant, per quem impulsum sentit sonum; Spiritus insitus influenti
animali hunc impulsum communicat; influens animalis fibris cerebri; fibrae cerebri
spiritui cerebri, anima in eo residens cognoscit sonum et eum a colore distinguit.
') Ergo nervus opticus, auditorius, olfactorius, gustatorius, quoque instrumentum
tactus est tactusque, consequenter per omnia sensoria se diffundit.
Zu den Physikern dieser Periode, die wesentlich Neues über den Schall
vorbrachten und auch die Physiologie des Gehörorgans in den Bereich ihrer Er-
örterungen zogen, z&hlt Athanasius Eircher (1601—1680). ein deutscher Ge-
lehrter, der in seiner ,Phonurgia nova sive conjugium mechanica-physicum Artes et
naturae', Romae 1673 (welche Schelhammer benützte) die Aufnahme und Fort-
pflanzung des Schalles durch das äußere Ohr nach akustischen Gesetzen zu erklären
suchte. Nach Kircher wird durch die Ohrmuschel die Schallintensität nach Art
eines Echos verstärkt. Seine Ansicht, daß starker Schall sich schneller fortpflanze
als schwacher, wurde durch spätere Forscher als irrtümlich erwiesen.
Johannes Bohnius. Einer der genialsten, hervorragendsten Aerzte
seiner Zeit war der Leipziger Professor Johann Bohn (1640 — 1718),
dem wir die Begründung der Experimentalphysiologie und der gericht-
lichen Medizin verdanken. Wiewohl die Physiologie des Gehörorgans
in seinen Werken etwas stiefmütterlich behandelt wird, läßt doch das
Wenige, das er uns mitteilt, mit voller Berechtigung auf den klaren
Blick und das unbeirrte Urteil eines ernsten Forschers schließen.
In seinem berühmtesten Werke, dem ^Circulus anatomico-physio-
174 Job. Boho.
logicus seu Oeconomia corporis animalis etc/ *), welches er dem Malpighi
widmete, wird bloß der Gehörsinn behandelt.
Bohn bestreitet hier die Yon vielen Anatomen aufgestellte Be-
hauptung, daß das Trommelfell bei hohen Tönen von seinen Muskeln
gespannt werde, bei tiefen Tönen aber erschlaffe. Die Funktion der Ge-
hörknöchelchen erklärt er im Großen und Ganzen als dunkel, schließt
sich jedoch am ehesten noch der Meinung an, wonach sie als Schall-
leiter fungieren. Eine eingeborene Luft, den A6r implantatus, in der
Trommelhöhle stellt er entschieden in Abrede, denn es könne ja
jederzeit atmosphärische Luft durch die Tube, die er wie so viele seiner
Zeitgenossen Aquaeductus Fallopii nennt, in die Trommelhöhle eintreten
und auf diese Weise die dort enthaltene Luft erneuern. Von hervor-
ragend historischem Interesse ist die scharfe Kritik Bohns, durch die er
dem Glauben vom „a^r ingenitus** im Labyrinthe einen gewaltigen
Stoß versetzte. Nicht auf Grund anatomischer Anschauung, sondern
durch scharfsinnige, folgerichtige Ueberlegung zu seiner Ansicht gelangt,
muß Bohn als ein Vorläufer Cotunnis angesehen werden. Obwohl er
aber mit Entschiedenheit den „S'^i* i^^^plänt&tus'" bekämpfte, kam er doch
nicht zum Schlüsse, daß die Labyrinthhöhle Flüssigkeit enthalte. Er polemi-
siert insbesondere gegen Duverney**) der noch ganz im Banne der alten
Aristotelischen Hypothese steht. In einem so engen Räume, wie es das
Labyrinth sei, meint Bohn, könne die eingeschlossene Luft durch so
viel<^ Jahre hindurch eine dauernde und gleichförmige Elastizität, wie
sie ihr zugeschrieben werde, kaum bewahren. So wie man alles Orga-
nische als perspirabel annehmen müsse, so werde auch jener Hohlraum
unmöglich von Flüssigkeitsströmungen verschont bleiben, zumal die
I^abyrinihhöhle von Arterien und Venen durchzogen sei. Es ergibt sich
hieraus, daß Bohn durch seine theoretischen Erwägungen der von Co-
t u ji n i sjiäter anatomisch festgestellten Tatsache, daß das Labyrinth mit
Flüssigkeit gefüllt sei, sehr nahe gekommen war.
'j LipHiae 1680, 1686, 1697, 1710. (Von mir wurde die Ausgabe vom Jahre
16><6 benützt.) Progymnasma XXVI: De Auditu p. 393—411.
""M Quando vero Idem Clarissimus Vir (sc. du Vemey) aerem Labyrintho in-
clyiHum irii])]aiitatum censet. ideo, quod ejus fenestrae seu foramina bina adeo exacte
olaiiha nirit. ut nec cum aere tympani, nee cum ambiente hinc aliquod intercedere
vid^atur commercium: cum venia ipsius mihi ambigere liceat de modo, quo ejusmodi
aer. ar<tiori «'junmodi spatiolo inclusus, adeo perpetuam et uniformem elasticitatem
per UA annorum seriem colat. ut praestando sine interruptione auditui semper praesto
bii. »Siciit finirn totum corpus cum Hippocrate perspirabile concipere debemus, sie
n*iv ab enianationibus humorumcavitashaeceritimmunis, potissimuin
cum insi^^ni« satis urteria ac vena eam permeat; per consequens brevi obtnndent
bac spiram illam aeri buic implantato connatam ac usui ejus congruam reddent
I. c. p. 407.
Theophile Bonet. 175
Auch die physiologische Bedeutung der Schnecke hat Bohn bereits
geahnt. Wenn er auch diese nicht als einziges Apperzeptionsorgan für
das Hören bezeichnet, so glaubt er doch, daß sie sich infolge ihres
Baues besser als Yorhof und Bogengänge für das Hören eignen
müsse. Sie sei gewissermaßen das Ende des ganzen Gehörorgans und
scheine am meisten Sensibilität (Nervenfasern) yom Hörnerv zu er-
halten"^). Zum Schlüsse bestreitet er die auf sophistische Klügelei auf-
gebaute Annahme des Fabricius ab Aquapendente, daß ein Ton nur von
etwas Gleichartigem, nämlich nur von Luft aufgenommen werden könne,
eine vielgebrauchte Hypothese, um die vom «ASr innatus**, zu stützen.
Wäre die Prämisse des Fabrizio richtig, so müßte, wie Bohn be-
merkt, auch das Tastorgan, wenn es etwas Weiches empfindet, weich,
wenn es etwas Hartes wahrnimmt, hart sein. Ebenso müßte man an-
nehmen, daß das Geschmacksorgan schmackhaft sei. Endlich tritt Bohn
dem weitverbreiteten Glauben entgegen, daß das häufige «Vorkommen
von gleichzeitiger Taubheit und Stummheit (Taubstummheit) auf die
anastomotischen Beziehungen zwischen Hörnerv und Nerv des Kehl-
kopfes zurückzuführen sei.
Aus dieser kurzen Skizze ergibt sich die Bedeutung Bohns für
die Physiologie des Gehörorgans. Seinem scharfen Verstände verdankt
die Otologie, daß die auf naturphilosophiscber Grundlage aufgebauten
Hypothesen über die Funktion des Gehörorgans erschüttert und der
künftige Fortschritt in der Entwicklung der Gehörphysiologie angebahnt
wurden.
Theophile Bonet. Der Genfer Anatom The'ophile Bonet (1620
bis 1689) wird mit Recht als Vorläufer Morgagnis auf dem (Jebiete
der topischen pathologisch-anatomischen Forschung bezeichnet. In seinem
großen Werke „Sepulchretum sive anatomia practica ex cadaveribus
morbo denatis, proponens historias et observationes omnium humani
corporis affectuum ipsorumque causas reconditas relevans. Genevae 1700**,
das außer eigenen auch eine große Anzahl von pathologischen Befunden
fremder Autoren enthält, findet sich nur Weniges über pathologische
Veränderungen am Gehörorgane^). W. Kram er, der bekanntlich den
Wert der pathologischen Anatomie des Ohres unterschätzte, rügt, daß
Bonet seinen Leicheneröffnungen nach tödlich abgelaufenen Ohren-
krankheiten die Krankheitsgeschichten nicht nur nicht beigefügt, son-
dern auch nicht einmal das krankhaft ergriffene Gehörorgan genau
*) Qnia nihilominus ultimus quasi totius organi auditorii seu auris internae
termixias Cochleae est, haec que plus sensibilitatis a nervo majore videtur habere,
accoratiu» foraan et ultimate magis hie specierum impressionem fieri, verosimile est,
imprimiB cum lamina hujus spiralis seu testudo facile contremiscere sonosque egregie
moltiplicare et refractos nervorum fibrillis potenter magis imprimere queat.
17() Theophile Bonet
untersucht hat, so daß man Bonets Leistungen nur als Beispiel be-
trachten muß, wie solche Leicheneröffhungen nicht gemacht werden
dürfen, wenn sie der Wissenschaft irgend einen Nutzen bringen sollen.
Trotz dieser nicht ganz unberechtigten Kritik der otologischen
Befunde Bonets beanspruchen diese, mit Rücksicht auf den damaligen
Tiefstand der Medizin, dennoch einiges Interesse.
Unter den von Bonet erwähnten pathologisch-anatomischen Be-
funden sind hervorzuheben: ein Fall von Taubstummheit mit beider-
seitigem Mangel des Steigbügels. Ein ganz analoger von Petrus
Mersennus beobachteter Befund bei einem Taubstummen wird von Bonet
zitiert. Bonet fand femer als anatomische Grundlage der Taub-
stummheit besondere Kleinheit der Gehörknöchelchen und
Defekt des Ambosses (Obs. IV.: Surdus quidam a nativitate ob de-
f^ctum ossiculi Incudis dicti).
Von anderen Beobachtungen Bonets seien erwähnt die Obs. IL,
di^ einen Fall von Taubheit infolge eines Hirntumors behandelt
^nurditas a tumore Steatomatico inter cerebrum et cerebellum), die
Obs. V\, in der er einen versteinerten Ceruminalpfropf beschreibt
^Auditus laesio a Sordibus aurium lapi descentibus), femer die Obs. VI.,
in ihtr er den Sektionsbefund einer Frau schildert, die an beftigen
Kopf- und Ohrenschmerzen litt und bei der nach Eröffiiung des Schi-
ddh große Flüssigkeitsmengen (Hydrocephalus) vorgefunden ¥rurden
^Aurium dolor a cerebro humidiore).
Aus den beigefügten Additamenta, in denen sieben Beobach-
tifijT'rn mitgeteilt werden, sei angeführt ein Fall von Taubheit infolge
h«;hl<fimansammlung in der Trommelhöhle (Obs. II.: Surditas
httü a muco multo internam tympani cavitatem obsidente), femer Falle,
m 'l^nen die Schwerhörigkeit auf eine übermäßige Spannung des
Trommelfells und auf Anhäufung krustöser Exkremente im Ge-
hör jr an ge zurückgeführt wird (Obs. III. und IV.: Surditas nativa ob
//.<r/fibranam tympano supertensam, Auditus laesio ob condensata excre-
UihiiVd rrustulae forma obducentia membranam tympani).
Endlich sucht er in der Obs. VI. zu beweisen, weshalb angeborene
Taubheit weitaus häufiger ist als die angeborene Schädigung irgend
<-irjes anderen Sinnesorganes (Cur a nativitate plures sensu Auditus pri-
vhntur quam ullo alio, ex nervorum origine detecta).
') 1. c. Tom. prim. Lib. 1, Sectio XIX, p. 435.
Von Spezialschriften dieser Epoche wäre besonders das Werk des Witten-
U,*rfl:*;r Professors Konrad Viktor Schneider (1614—1680) »De osse temponxm'
(Viteberp lti58) zu erwähnen, in welchem er manches Detail des Schläfenbeins besser
beschreibt als die Vorgänger und Zeitgenossen. In seinem Werke ,De Catarrhis*
(1660—1664), welches im pathologisch-therapeutischen Abschnitt dieses Jahrhunderts
Kerckring. Sulzberger. Jessen. 177
ausführlicher besprochen werden soll, ist als wichtig herrorzuheben, daß er den seit
Jahrtausenden eingewurzelten Irrtum von der Entstehung der Katarrhe durch den
vom Gehirn herabfließenden Schleim für immer beseitigte. Daß er die Tuba Eustachii
als Aquaeductus Fallopii bezeichnete, war ein Irrtum, den unglaublicherweise viele
sonst hochstehende Anatomen, wie Riolan, die beiden Bartholin, Tulpius u. a.,
teilten *).
Theodor Kerckring aus Hamburg, ein Schüler des Sylvius de le Bog,
der lange Zeit in Amsterdam als Arzt tätig vrar, gibt in seinem von Monat zu Monat
erscheinenden „Spicilegium anatomicum") die Entwicklung des Gehörorgans be-
treffende belanglose Angaben').
Von den physiologischen Schriften verdienen namentlich Erwähnung: Johann
Rupr. Sulzberger: „Diss.de sensibus extemis'^ (Lipsiae 1619); Tob. Burckard
yDiss. de quinque sensibus extemis' (Lipsiae 1625).
Außerdem wären noch eine Anzahl anatomisch-physiologischer Autoren von
minderer Bedeutung anzuführen:
Job. Jessen aus Breslau (1566—1621), der Prager Rektor, der nach der
Schlacht am Weißen Berge enthauptet wurde; Martin Jacob gab in seinen ,Exer-
citationes icepl tyj^ 'Ioxv)^' eine Abhandlung über das HOren*); Agerius Nicolaus
(,De sensibus extemis", Agentor. 1623; „De auditu sono", ibid. 1626); Franciscus
Hildanus, einer der besten Chirurgen seiner Zeit, berührt auch einiges Ana-
tomische in seinen „Observat. Chirurg, centuriae* (1606 — 1641); Candisius Gottfried
(„De auditu", Viteberg 1628); Laurenberg Petrus aus Rostock^), Daniel
Müller«), Nösler Georg'), Job. Hombug«), Ch. Faseltus«), Mengolus»«),
Samuel Skunk*'), Merhof^'), Professor der Rhetorik zu Rostock, Georg Frank,
von Frankenau*'), J. Ott*^). Die hier genannten sind Verfasser von meist
physiologischen Abhandlungen über den Gehörsinn auf spekulativer Grundlage, wäh-
rend C h r i s t i a n T i n t o r i u s aus Danzig'^), Brehm'«), Salzmann*'), ein
Schüler des Casserius und Bauhin, Eichhorn*^), Fridericius*') und der Jenenser
Anatom Werner Roifink (1599—1677)*°), der auch einen mangelhaften Abriß der
Geschichte der otologischen Entdeckungen lieferte, vorwiegend die Anatomie des Ohres
auf Grund fremder Forschungen darstellten.
') „De catarrhis*, L. Ill, S. I, Cap. 10.
') „Spicilegium anatomicum, continens observationum anatomicarum rariarum
centuriam unam; nee non osteogeniam foetuum, in qua quid cuique ossiculo singulis
accedat mensibus, quidque decedat et in eo per varia immutetur tempora, accura-
tissime oculis subjicitur* (Amstelodami 1670, 1673; Lugd. Batav. 1717—1729).
*) Vergl. femer vom selben Autor: „Anthropogeniae iconographiae, sive, con-
fii-matio foetus ab ovo usque ad ossificationis principia in supplementum osteogeniae
foetuum' (Amstelodami 1671; Parisiis 1672).
*) „Theorematum anthropologicorum s. exercitationes itepl ttj; '^ox**);* XL: De
auditu. Viteberg 1606.
^) „Disputationes de visu, auditu, odoratu, gustu et tactu.' Hamburg 1616.
„Anat., corp. hum.* Francof. 1665. Exercit. XI: De capite in genere, pericranio,
meningibus, cerebro, sensoriis.
*) „Oscupca duorum exteriorum sensuum, visus et auditus specialis.' Lips. 1638.
^) „De sensibus.* Altdorf 1640.
«) Exercitatio VI. De auditu. Helmstadt 1655.
») „De auditu.« Witteberg 1668. „De natura soni." ibid. 1668.
^^) „Musica speculativa.' Colon. 1670. Mit einer, nach Hallers Urteil, lächer-
lichen Beschreibung des Gehörorgans.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 12
ITS Nicol. Tulpini.
= '> „De sensibua.* Halle 1072.
'♦') ,Epifltola de .scypho vitreo per certnm hnmanae vods sonuin nipto.* Kiel
1672. Handelt über Natnr und Ursachen des Schalls, nnd Ober das Zerspringenlassen
von (.iläsem durch die Stimme.
^^^ ^De aoribuB mobilibui.'' Heidelberg 1676. Femer ,Satyrae medicae.* Lipsiae
1722. 20. >;atyr. 11. de Auribus humanis.
^*) „Epistola de sono voda hnmanae.^ 1679.
^^) ^Disput, anat. de tabrica et obu anris hnmanae.' Gedani 1639.
•'*) „Diss. de auditu in genere et tinnitn in specie.* Ingolstadiae 1651.
^') ^Obserrata anatomica hactenns inedita.* Amstelod. 1669 (berichtet Ober ein
Gehörknöchelchen der Vogel).
^^) ^Dissert. anat de aure." Jenae 1670.
'*) ^De aure.* Jenae 1670.
'*\) ^Disnertationes anatomicae synthetica methoda ezaratae.* Jenae 1656.
5ie4erfauide.
Die nach schweren Kämpfen errungene Unabhängigkeit der Nieder-
lande hatte nicht nur einen raschen Aufschwung aller Kulturzweige»
suiuleru auch eine rege Forschungstatigkeit an den medizinischen Schulen
zur Folge. Unter den auf anatomischem sowie auf physiologischem
(jcbiete zu hohem Kuhme gelangten Aerzten dieser Epoche sind in erster
Keiho Nie. Tulpius und De le Boß Sylvius zu nennen. Ihre
Leistungen in der (.Hologie sind indes sehr geringfügig. Nur der histori-
sclion V oliständigkeit halber beschränken wir uns auf eine kurze Skizze
Nicolaas Piet^rs Tulpius» 1593 zu Amsterdam geboren, fungierte
\oa U)2S U)rv> ;ils Leiter der Anatomie und wurde 1654 zum BOrger-
moiNtei vv»u Vm^teniam ir^wählt. Ein berühmtes Gemälde Rembrandts
sU'lli rul|»?iiN Mrt :ti,hr>Mvn seiner Schüler bei einer ^anatomischen
\oileMiM>;- vlj4J K* v;:4;b U^74 im Haag.
tu x,iiu;> \'i»^\ : ^ *• o:v,;w modicaruni libri tres cum figuris aeneis*
Vihnh U'vl ^M* s -' * * . • -v h v?,e t>hranatomie und Gehörsphysiologie.
: .*^v .»V; Tuba Eustachii ist nichts weniger
» va \.;Uut* als vom Rachen beiderseits gegen
. ».. '.»^'xvcuu Warzen- und Griffelfortsatz auf-
V ■ - v*ü:tiv»itj^»cce sei bisweilen auch dadurch von
\,,, . . :• • ^' . . :x.,..^^^\i;tat a:e Atmung durch den Tubenkanal
^».h. ,» ',. .« vwlia \a^i.^ Xor^tellung Tulpius vom Baue des
Miii.l.»!«'. •>.«. K» iwij^i a?o Möirliohkeit des Durchdringens der
1.1,11 I... in ,!»!«•. U um l'iouiaioltell und glaubt, daß manche Individuen
^jiu.i •«•».. n \\«il vIk- L;iit, die zur Respiration nötig wäre, statt in
4li,. I uiu'» .» .1» .'/ l.iii>;i'n, vlin\h das durch löeherte Trommelfell entweiche^).
li,i,>ii i .Uli ii en»o Noii lulpius vorgebrachte Krankengeschichte^),
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De le Bo6 Sylvias. Adr. Spieghel. 179
weil aus ihr hervorgeht, daß ihm die Bedeutung des Tuben verschlusses
für das Gehör nicht unbekannt war.
*) „Ex ore ascendere utrimque, ad latera maxillae versus aures inter processum
mastoideum ao stiliformem.* Obs. Med. Lib. I, Cap. 35, nach Morgagni Ep. VII,
Cap. 10, p. 187.
^) Scilicet Tubas ,concedere interdum exitum per aures ** spiritui, ,ob gutturis
angustiatn alias" aegrum certo suffocaturo, adeo non dubitabat Tulpius, ut affirmaret,
ab ejusmodi periculo se „vidisse duos aegros liberatos effuso spiritu per vias jam
commemoratas". 1. c.
») Obs. Med. Amstelod. 1674, Lib. I, Cap. 35 § 4.
Sylvius deleBoS (1614 — 1672), der sich als Anatom und Physiolog,
insbesondere aber als Begründer der Chemiatrie eines europäischen Rufes
erfreute, wurde 1614 zu Hanau geboren. Er entstammte einer edlen
französischen Familie (Dubois), welche in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts wegen Verfolgung der Hugenotten nach den Nieder-
landen ausgewandert war.
Sylvius, der mehrere holländische und deutsche Universitäten
besuchte und zu Basel die Doktorwürde erwarb, ließ sich zuerst in Hanau
nieder, begab sich dann nach zweijährigem Aufenthalt in Paris nach
Leiden, wo er im Jahre 1658 die Professur der praktischen Medizin
mit fast gleichem Erfolge wie später Boerhaave bekleidete; er starb
am 14. Nov. 1672.
So wertvoll auch die sonstigen anatomischen Arbeiten Sylvius'
sein mögen, so beschränkt sich das Resultat seiner Untersuchung am
Gehörorgane auf das nach ihm benannte Os lenticulare, sowie ein
bei Tieren vorkommendes Sesamknöchelchen an der Sehne des Steig-
bügels. Die Priorität dieser Entdeckung blieb jedoch vielleicht mit Recht
nicht unbestritten, Drelincourt hat sie dem Realdo Colombo,
Morgagni dem Anatomen Aranzi, andere haben sie dem Caecilius
Folius zugeschrieben. Diese große Meinungsverschiedenheit über den
Entdecker des Linsenknöchelchens erklärt sich daraus, daß viele Ana-
tomen am Ende des langen Amboßschenkels ein kleines Knötchen (tuber-
culum) geschildert haben.
Die Pathologie imd Therapie des Ohres von De le Boö wird im
nächsten Abschnitte besprochen werden.
*) Sylv. opera, Utrajecti 1695, p. 185, cf. Vesling, Syntag. anat. Cap. 16, p. 215.
Adriaan van den Spieghel, zu Brüssel 1578 geboren, studierte
in Löwen, war ein Schüler des Fabrizio und der Nachfolger Casserios
auf dem Lehrstuhle zu Padua, den er zwei Jahrzehnte mit ausgezeichnetem
Erfolge bis zu seinem Tode (1625) bekleidete; er wird wegen seiner
langjährigen Tätigkeit in Italien von den Medikohistorikern den italieni-
schen Anatomen zugezählt.
180
Bus. Tan Linden.
Seine Anatomie des Gehörorgans bält sich streng an die seiner
Lehrer Fabrizio und Casserio; selbst deren Irrtümer werden ohne
Kritik und Nachprüfung wiederholt. Die Gehörknöchelchen erklärt er
für periostfrei '), erwähnt den von Fabrizio fälschlich angenommenen
Kufieren Trommelfellmuskel und spricht dem inneren Hammerrauskel,
dessen Ursprung er falsch beschreibt, zwei Sehnen zu *). Seine Schilderung
des Labyrinths entspricht in keiuer Weise dem zu seiner Zeit bereits
vorgeschrittenen Stande der Ohranatoniie. Nach ihm ist das Labyrinth
eine runde Höhle, die in zahlreiche gewundene, gegen den Warzen-
fortsatz sich erstreckende Gänge übergeht. Gesondert vom Labyrinthe
beschreibt er in ganz mangelhafter Weise die Schnecke ^). Endlich sei
noch erwähnt, daß er, wie Vesal ein Jahrhundert früher, den Hörnerven
in der Trommelhöhle enden läßt').
Seine Physiologie des Ohres, die nur wenige Zeilen umfaßt, ent-
hält nichts Bemerkenswertes.
') Adriani Spig'elti. De humani corporis fabrica libri decem. Opu« post-
homuin. Venetiis 1627. Lib. II. Cap. 9, f. 40.
•) 1. c. Lib. IV, Cap. 5, p. 103.
*} Secunda (ac. cavema), Labjriiithue dicitur, et iii ossia petrosi radice inwuIliU,
rotunda est, in innnmeroa et anfractuoBOB meatus, magna ex parte posterius ad nuin-
millaria proceeaus Joteriora tendentea, deüiait. Tertia, quam Cochleam appelUst
omniani minima est, cochlearumque gyros affabre eipriiuit, in anteriore ^ede pro-
cesHiu peirosi aub primae cavitatis luberculo aita. 1. c. Lib. X, Cap. 10. p. 328.
*) Caetenim molÜH illa portio. cum dura portinne fertur: at ubi ad primam
auri« illam cavitateni perrenit, membranae in modum per ipaam expaaditnr, unjot
merito Nervus auditorius dici ineretur, cum apirituB omnei ad auditum ipse suggenL
1. c. Lib. Vll Cap. 2, p. 207.
Von geringerer Bedeutung för die Ohraiiatomie in dieser Epoche sind:
Ludovicug Bila (.tonker LongB de Bila, 1624—1670) in Rotterdam, ein reichet
Dilettant auf iinatomiachem Gebiete, der sich durcli ein Verfahren zur EonaervieniDg
anatomischer Fnlparate bekannt inaclitc uod sein Präpariertalent an der Zergliede-
rung dea GehGrorgana betätigte. Seine kleine Schrift , Anatomisch Vertoon van bet
Gehooi*, BrUghe IShb, die auch ina LateiniEche Übersetzt wurde, iat mit mittelmSSigta
Abbildungen nusgeatattet. Neu iat aeinu Angabe, dall das. Gehörorgan (Schl&Febeinl
in vier durch Nahte abgegrenzt-e Partien geteilt sei'l.
Joh. Ant. van der Linden {1609—1664), der in seiner .Mediciija Physio-
logie»'', Amsterdam lö,üS, das Gehörorgan dea Kindea und Erwachsenen einet tri-
gleichenden Betrachtung untei'ziebt, ohne dem Bekannten Neues hinzuzuf eigen.
Ferner; Plempius'), Drei tncourt ') und Dieme rbroeck*). von dem
eine gute , jedoch nichts Neues bietende Beflcbreibnng dea Ohres vorliegt, in der et
die Annahme eines APr ingenitus in der Trommelhöhle scharf bekämpft, endlich
Gerard Blaes'l und der GrÖninger Deuaing'}, der in seiner ^Oeconomia tot-
poris hutnani* die HQrfunktion in keineswegs klarer Weise bespricht.
Die größte Bedeutung unter den holländischen Anatomen erreichte
Ruysch, dessen Wirken indes schon zum großen Teile in die folgende
Periode fällt.
Thom. BarthoIinuB. Nik, Steno.
181
iS— 1697), Praeludift anatomica. Arasterd. 1672.
oeck 11609—1674), Anatoine corporiB humani.
') Opera Bilaii cum titulo inventonim anatomicorum antiqui
epiituÜB et teBtämoniis coiuuiictei, Amet. 1682.
') Vapiacus Fortunatus PlempiuB (1601—1671). Fundamenta medicinae
libri sex. Lovanii 1638.
') Charles Drelinci
") Isbrand van Di
Dtruject. 1672.
'} Uerard Blaes (Rlasius), Commentarium in sjntagma anatomicum Joh. Tes-
lingii etc. Amsterdam I6.'i9,
") Anton Deusing (1612—1666). Oeconomia corporis humani in quinque
partes distributa. P. V. de aensuum functionibus . «ensuum functione in genere et
appetito sensitivo. Gröning. 1661.
Däiiomark.
Fast alle bedeutenden dänischen Anatomen des 17. Jahrhunderts
wandten ihr Interesse der Ohranatomie zu, und es finden sich manche
treffliche Beobachtungen und Bemerkungen in anatomischer, pathologischer
oder therapauti.scher Bicbtun^ in den .Acta mcdica et philosophica
Hafniensia", einer der ersten medizinischen Zeitungen, sowie in den
Sanunelschrifteii : ^Ci-sta medicinalium centuriae IV. " niedergelegt. Ge-
nannt zu werden verdienen Thomas Bartholin und Steno.
Thomas Bartholinus (lülti— 1680), Professor der Anatomie zu
Kopenhagen, einer der berühmtesten Anatomen seiner Zeit, arbeitete die
.Institutiones anatomicae*" seines Vaters um und versah sie mit nur
zum Teile guten Abbildungen. In seiner ,Anat«mia nova ex Caspari
Bartholini parentis institutionibus etc. locupleta" *'), Lugd. Batav. I. ed.
1641 (1645, 1651, 1673) und in anderen Ausgaben ist die Ohranatomie
sehr flüchtig und in manchen Daten fehlerhaft behandelt. So nennt er
von den inneren Ohrmuskeln bloß den Trommelfellspanner unJ den
von Casserius irrtümlich als Muskel beschriebenen .Musculus extemus
auris internae", während er den Steigbügelmuskel gar nicht er-
wähnt. Der Tube, die er als „Aquaeductus Fallopii" bezeichnet, schreibt
er, da er den ,A6r ingenitus* noch immer in die Trommelhöhle verlegt,
eine Klappe zu, welche das Ausströmen von „Exkrementen" wohl ge-
statte, jedoch keine atmosphärische Luft eintreten lasse.
Nikolaus Steno (Stenon, Stenson, Stenonius 1638 — 1682)
förderte nur wenige, aber bemerkenswerte Details in der Ohranatomie
zu Tage. Geboren zu Kopenhagen, studierte er zuerst daselbst, später
iß Leiden und Paris. Nach einem längeren Aufenthalte in Padua
•) Ich benötstte die 8. Ausgabe vom Jahre 1651, Lib. lU, p. 352—356; Lib. IV.
p. 492—494. Siehe ferner vom salben Autor: De Luce bominnm etc. Hafniae 1669,
Lib. III, Cap. 11 und lliatür, Amitom. centur. IV. Amatelodami 1654. Histot. 80.
Aurii perf oratio.
Kaspar ßarthoIinu9.
■»■■.:rir rv Professor zu Kopenhaijen. In dieser Stellung verblieb er nur
kurze Zeit, «la er von Innozenz XL zum Bischof von Titiopel i. p.
Uü'i zum apostolischen Vikar ttlr Xiedersachsen ernannt wurde. Als
«oloher lebte lt am Hofe zu Hannover und in Hamburg. Steno, einer
'i^v (größten Anatomen seiner Zeit, förderte seine Wissenschaft fast in
allen ihren Zweigen. Für die Otologie ist seine 1661 erschienene In-
iiULTuraMissertation : .De izlandulis oris et nuper observatis inde pro-
•leiiii'nis vasis", welche die erste Beschreibung des nach ihm benannten
Au^fiihrungsganges der Parotis enthält, insofern von Bedeutung, als in
ihr zum ersten Male der OhrenschmalzdrUsen Erwähnung geschiehL
A:::' >i!»><e k' »turnt er auch in seiner größeren anatomischen Schrift zurflck,
'i;»* <]rh .Ohservationos anatomicae, quibus varia oris, oculorum et narium
\ i^.i ii»-^iriburitur novit [ue salivae. lacrymarum et muci fontes deteg^ntur*,
L* : i' r: Pi'iJ. betitelt. Hier spricht er sich dahin aus, daß die Existenz
■ i-r < ■.■!t:miii;ililnNeri nicht SO leicht demonstriert werden könne und teilt
■.: I.) f!i:v, l.iiS ^\r NJch zwischen Haut und Knorpel des äußeren Oehör-
/;:./*■: ip-iiii-li-ri, ohric iiuf ihre Beschreibung näher einzugehen').
>f.-ii'i Ikii. auch eingehende Untersuchungen über das Gehörorgan
.:: )-':.- li'i: ahi^fNtellt Und Uauu iu dicser Hinsicht als ein Vorläufer
i:,- ■-: i:.r . iiiii-t-Nfhen werden.
!'■- ^:i iii«Jiiln<.<i cunie. «luae in zneatu aurium extemo cartilaginein inter et
< : it'-ir. i«'i iK»ii ita maniteista, cum eeruminam color aliam videatur originem
K't^pur Bartholinus ai»5."» — 1738), Sohn des Thomas Bartho-
! t. . ; I-: .H li um lue Kenntni'< des weiblichen Genitale verdient machte,
!, :.:.-ip :r: •.•in» II! «Specinieu Iiistoriae anatomicae* ^) zwei Hammer-
.;- ::'/ .Hl «Irnm einci' dem Hauimerniuskel zum Ansätze diene, femer
1 1 . \..:. .. r.Liii.. Iii-lclien, das er zwischen langem Amboßschenkel und Steig-
.. . ^ : ;; \ii'.j iiiiiiinimt "K den Steiirbilürelmuskel *). und leugnet das Vor-
i. I . i . .:j ••m»T Kluppe der Tube M.
J^•. Z'iu'lifdt'runL,^ von Tiej-en. mit Rücksicht auf das Gehörorgan
.• ii HliiiiN Woiui I ir>SS--lt»o4), der das Skelett, darunter
, . .. :. - «fii'iiKnrMliflchen V(>n Mus maculatus in einer Abhandlung
:....•, i rtini Olii^er .lacobäus, ein Freund Stenos, der das
1 ■;:.■!! und /.uri O^sicuhi bei Fn*>schen auffand*^).
' : ::. i'..Litii"!ini Tiiom. Hl. spi^cimen historiae nnatoinicae partium corporis
•- .-!ir:<.iiiiii inentrin aon^mm'>dat:ie novisqiio obserrationibus illastratae.
. ■ 'litii- ;i)ii>]ili,v-» vel <Tuni. tjuorum quoil long! ua est, cum stapede
... . .. ■ ; :.. •■•! i um quartum ossiculum. 1. c. p. li>3.
. ■ •. . ....'. .l'i- -t.ip^^ilis oai»iti ini«L'ritur. 1. o. p. 153.
■ . i..»Mtuir.'. iiui lönirior est et ail palatum tendit. aqnae dnctum
Th. Willig. 183
communiter dicunt, quod per hunc canalem humores, in cavitate tjmpani collecti,
«xcemi possint nulla illum transitum impediente valvula, uti opinantur non-
nulli, sed ita dispositus est hie canalis, ut aer, qui per nares in os intrat, hie detentus
ad interiora eanalis aliqua ex parte transmitti possit. 1. c. Cap. 6, p. 151.
^) Historia animalis quod in Norwegia quandoque e nubibus decidit et sata et
gramina celerrime depascetur. Haf. 1653.
*) De ranis observationes. Paris 1676.
England.
Im 17. Jahrhundert wendete sich die Aufmerksamkeit der Anatomen
und Physiologen vornehmlich der von Harvey inaugurierten Lehre vom
Blutkreislauf und den damit im Zusammenhange stehenden Organen zu,
während die Anatomie der Sinnesorgane geringe Beachtung fand. Die
englische otologische Literatur ist in dieser Periode im Vergleiche zu
der anderer Nationen sehr dürftig.
Thomas Willis (geb. 1622), eine der hervorragendsten Gestalten
in der Geschichte der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, entstammte
einer wohlhabenden Familie zu Great-Bedwin in Wiltshire. Anfänglich
für die Theologie bestimmt, wandte er sich später dem Studium der
Medizin zu und wurde Professor in Oxford. Nach seinem Rücktritt
von diesem Posten war er in London als praktischer Arzt mit dem
glänzendsten Erfolge tätig. Er starb 1675. Willis verfaßte bahn-
brechende Schriften über Anatomie und Physiologie des Nervensystems.
Ein besonderes Verdienst erwarb er sich durch die anatomische Fest-
stellung des Ursprungs des Nerv, facialis, acusticus und accessorius.
Er fand unabhängig von Mery die Kommunikationsöffnung beider
Schneckentreppen.
Von den Werken des Th. Willis kommen für die Otologie zwei
in Betracht:
„Cerebri anatome** (Lond. 1664 — 65)^) und „De anima bru-
torum" (Londini 1672, Amstelod. 1672») bis 1674, Genev. 1674). In dem
letzteren ^) behauptet er, das äußere Ohr sei bestimmt, die Schallteilchen zu
sammeln und dem Sensorium zuzuführen. Die Erhabenheiten, Windungen
und Nischen der Ohrmuschel wirken nach denselben akustischen Gesetzen
wie die Flüstergalerien. Der Schall gelangt zum Trommelfell, welches
den Zweck hat, ihn für die Aufnahme durch das eigentliche Gehörorgan
zu modifizieren, vorzubereiten. Doch ist es zum Hören nicht absolut
nötig, sondern nur vorteilhaft, indem der Schall infolge der abwech-
selnden Spannungen und Erschlaffungen des Trommelfells durch die
Funktion der inneren Ohrmuskeln und Gehörknöchelchen geordnet und
gesammelt werde. Willis suchte dies auch durch das Tierexperi-
ment zu beweisen*). Mittels der Gehörknöchelchen werde der Schall
sodann ausschließlich durch das Vorhoffenster in das Labyrinth geleitet.
184 Th. Willis.
wo er nach Reflexion und Verstärkung in den Bogengängen zur Schnecke
gelange, um daselbst vom Acusticus aufgenommen zu werden. Willis
ist der erste, der erkennt, daß der eigentliche Sitz des Gehörs,
das unmittelbare Sinnesorgan für das Gehör die Schnecke ist*).
Wird der Schall in beiden Ohren nicht ganz gleichzeitig zur Schnecke
fortgepflanzt, so entsteht Doppelhören.
Aus den Schriften Willis' ersehen wir, daß in den Hörtheorien
seiner Zeit sich bereits die Entbehrlichkeit der Annahme eines At?r in-
genitus bemerklich macht. Während in den älteren Hypothesen die ein-
geborene Luft das eigentliche Perzeptionsorgan bildet, nimmt in den
jüngeren die Lebensluft, der Nervengeist, eine gleichwertige Stellung
ein, bis endlich dem Endorgane des Hömerven die eigentliche Rolle der
Hörperzeption zugewiesen wird.
Erwähnung verdient noch das von Willis zuerst beobachtete Phä-
nomen, das nach ihm den Namen „Paracusis Willisii** erhielt. Es ist
dies das Besserhören mancher Schwerhöriger im Geräusche, so zum Bei-
spiel im Fahren oder bei starker Musik. Die betreffende Stelle findet
sich in seinem Werke: „De 'Anima Brutorum, Libr. I, cap. 14**). Er
berichtet dort von einer tauben Frau, die beim Trommelwirbel deutlich
hörte, weshalb ihr Gatte ihr durch einen Diener stets eine Trommel
nachfuhren ließ, um sich mit seiner Frau verständigen zu können. In
einem anderen Falle erzählt Willis von einem schwerhörigen Menschen,
der beim Glockengeläute besser hörte*). Willis erklärte diese auf den
ersten Blick paradoxe Erscheinung durch die Annahme eines erschlaflPlen
Trommelfells, das durch den Anprall des heftigen Geräusches zu seiner
normalen Spannung gebracht und dadurch in gewisser Beziehung wieder
leistungsfähig werde. Unsere heutige Anschauung von der Paracusis
Willisii geht dahin, daß dieses Besserhören bedingt sei durch die Er-
schütterung der infolge otosklerotischer Prozesse in ihren Gelenken starr
gewordenen Gehörknöchelchen, indem die durch die Erschütterung aus
*) Zwei ähnliche Fälle finden sich in den Transact Philosoph. Anglonim Ann.
1668, Nr. 35, p. 554. Ein angeblich von Geburt tauber lOjähriger Knabe hörte bei
Trommelwirbel sogar leise Stimmen. Ein anderer schwerhöriger Mensch hörte nur,
wenn ein rasselnder Wagen über die Straße fuhr. Später wurden ähnliche Fälle von
Holder, Bachmann, Fielitz beobachtet. Siehe Muncko in Gehlers physik.
Wörterbuch 4, 2, p. 1220. Vergl. ferner Borichius in Act. Hafniens. V, 5, Obs. 77.
Sauva<^es' Nosologia metbodica. Amstelodami 1768, I. T., p. 757 (im ersten Falle
wurde das Gehör durch den heftig wehenden Wind, im zweiten durch das Gerassel
eines Wagens gebessert). Ferner in der Anat. Wratisl. a. 1718, p. 541 ein Fall, bei
dem durch einen sehr heftigen Donnerschlag das Gehör wieder hergestellt worden
sein soll. Endlich wollte J. Riolan (Op. cum physicatum medica, Francof. 1611,
1». 298) Taubheit durch laute Geräusche (wie Tromjietenschmettem etc.) heilen (neque
dubium tubarum sono curari surditatem).
Baco von Veralam. 185
der Gleichgewichtslage gebrachten Knöchelchen geeigneter für die Fort-
leitung des Schalles werden.
') Die BeEchreibung des Hörnerven, den er als VII., and des Facialis, den er
als VIII. bezeichnet, findet aich auf p. 295— 298.
•) Diese Ausgabe wurde nla Quelle benutzt.
'I Cap. 14, p. 127— la?. De Sensu Äuditus.
■) Si haec pars deitruatur, Bensio adhuc aliquamdiu, rndi licet modo, peragt
poselt: quippe eiperimento olim in H'ane facto constabat, ijuod perforato
ntriuBqae auris tjmpano, auditio adhuc ad teiupue perstaret. quae tarnen poat tres
circiter menses penitus ceaaabat, scilicet postquam eeiiaurii ad erternas in.iuria» pates-
centia crosis ererteretar. 1. c, Cap. 14. p. 133.
") Porro Bebest alius isque non minus insignis Cochleae usus, nenpe ut epecies
audibiles non äftp«uic sed paulatioi ac velut in justa proportione et dimenio ner-
' Tonun eensibilium , hie loci insertorum , fibris ac finibns inprimantur. 1. c. p. ISS.
und . . . unde eequitur, qnod circa utriusque Cochleae proprium audituB aenBorium
collocari debeat. I. c. p. 186.
*) Enimvero aurditatis species quaedam occurrit, in qua. licet affecti anditus
«nni penitns carerc videantur , quamdiu tarnen ingens fvagor , uti bombardarum.
auapanarnm . aut tympani bellici, prope aures circumatrepit , adstantium coUoquia
iliMincta capiunt, et inlerrogatie apte resporident, cessante vero immani iato atrepitu.
ienuo Blatim obsardescunt 1. c. p. 134.
Einer der vielseitigsten, geistvollsten und schfipferischsten Männer,
deren Namen die Geschichte der Wissenschaften verzeichnet, ist der Be-
Ifrilader der induktiven Naturforschung Franc. Bacon von Verulam
(I56ö^l62tj), In dem ,Sylva Sylvarum" betitelten Teile seiner ,Operii
oainift' ') widmet er der Musik und dem Schalle eine ausführliche,
*uf eiperimenteller Grundlage fußende Besprechung. Allein so wertvoll
seine Versuche und die aus ihnen resultierenden Schlüsse für die Lehre
"^^ Akustik immerhin waren, berührten sie das Gebiet der Physiologie
"^ Ohres doch nur an der einen oder anderen Stelle in kursorischer
Weise_ Wahrscheinlich hat Bacon die genauere Bearbeitung dieses
"^*nstandes einer späteren Zeit vorbehalten, wie ein von ihm be-
goonenes Essay über Ton und Gehör niit Recht vermuten läßt. Leider
«er erwähnte Aufsatz, der sich in seinen posthumen, von Wilhelm
"&W-ley herausgegebenen Schriften*) findet, ein Torso geblieben, indem
'^ letzten drei Kapitel, darunter das für uns wahrscheinlich inter-
essanteste ,l>e organo auditus, ejusque dispositione et indispositione,
^^liis et impedimentis", vollkommen fehlen^).
Nichtsdestoweniger können wir es uns hier nicht versagen, eio
■itisches Streiflicht auf die Stellung des berühmten Philosophen zu
piorsphysiologischen Fragen zu werfen, zumal Bacon in den physio-
°Bischen Werken recht stiefmütterlich behandelt und seinen gehörsphysio-
Bischen Anschauungen überhaupt nicht die gebührende Beachtung ge-
^"^•»etikt wird.
I
J
180) Baco von Venilam.
Bekannt ist ihm die Trommelfellruptur durch heftige Geräusche,
wobei die Leute im selben Momente im Ohre das Zerreißen einer Membran
verspüren ^). Er selbst will einmal durch einen hohen heftigen Lauten-
ton eine „Ruptura** oder „Dislocatio" in den Ohren gemerkt haben, die
ihm ein viertelstündiges Olirenklingen verursachte. Seine Erklärung dieser
Erscheinung fußt auf der Ansicht, daß allzu heftige Sinneseindrücke dem
Sinne schaden, wenn sie auch sonst keine Läsion verursachen.
Zu welch verkehrten Hypothesen selbst ein so hervorragender Forscher
durch die Unkenntnis der Anatomie verleitet wurde, beweisen seine Vor-
stellungen von der Gehörsherabsetzung durch das Gähnen. Ein durch
die Mundaufsperrung stärker gespanntes Trommelfell soll den Ton mehr
reflektieren , als ins Ohr einlassen *). Ferner soll die Ausatmung (beim
Gähnen) als Bewegung nach außen die Stimme zurückdrängen *). Stechen
beim Gähnen führt er auf Spannung des Trommelfells durch krilftige
Inspiration zurück "'), Ein von ihm zur Hörverbesserung empfohlener
Hortrichter weist keinen originellen Typus auf®).
') Francisci Baconi Baron is de Venilamio opera quae extant omnia, in unum
corpus collecta, et sex voluminibus comjirehensa. Amstelod. 1685, Vol. IV. Sylva
Sylvaniin sive bist, naturalis et nova Atlantis. Cent II und III, p. 74 — 166.
^) 1. c. Vol. VI. Opuscula varia posthuma, philosophica, civilia et theologica
Franc. Baconi, nunc primum edita. Cura et Eide Guilielmi Rawley.
») 1. c. p. 131—168.
*) Ingens sonus, e proximo delatus multos reddidit surdos, qui eo ipso momento
disruptam quasi in auribus niembranam sentiebant. Mibi quoque, dum adstarem cui-
dam alte et acute lyra canenti, subito noxa illata est tanquam in äuribus ruptura
quadam ant dislocatione facta: et paulo post, tinnitus exstitit sonorus ita ut surdi-
tatem metuerem , sed post quadrantem borae evanuit. Hoc eflfectum verissime ad
sonuni referri potest. 1. c. Vol. IV, Cent. II. p. 92.
^) Oscitatio aurium sensum impedit, propter membranae in aure extensionem,
quae repellit ]iotius quam admittit sonum. 1. c. Cent. III, p. 155.
^) Ratio est quod omnis exspiratio sit inotus ad extra repellens potiua quam
attrahens vocem. 1. c. p. 156.
') Non praeteriit antiquorum diligentiam, cum periculo scilicet pungi oscitanti
aures. Causa est, quia oscitatio interiorem auris raembranulam tendit, attracto spiritu
et anima. Ista enim, ut et suspiiatio. P))iritum primo valide attnihit, deinde expellit.
1. c. Cent. VlI, p. 350.
^) 1. c. Cent. III, 1). 150.
Krwäbnt seien noch zum .Schlüsse zwei das Gehörorgan von Tieren berück-
sichtigende Werke, das ^Onomasticum zoicum", Lond. 1068, des Walther Charleton
(Gualtcrius Cliarletoniusi. in dem das (lehörorgan von Fischen zuerst genauer be-
schrieben wird, und eine Abhandlung des irischen Arztes Allen Müllen (Moulin)
j,De or«ran. audit. avium* (The )>hilüsophical transactions and collections abridgcd.
Vol. 11. Lond. 174'.0-
Frankreich.
In Frankreicli liabeii die Auatomeii in der Uebergangsperiode vom
16. zum 17. Jahrhundert im all^'omeinen nur geringe Leistungen auf-
^
Oum mc Pnixpu^ anict, P^ix/v /itajcmvcr apuä mc
Mufierajimt Oßa, etjifixue rubens Hyacinthus.
JOANNES RIOLANUS
Jean Riolan. 187
zuweisen, da die Aerzte jener Zeit es mit ihrer Würde unvereinbar
hielten, Kenntnisse zu erwerben, die für das verachtete chirurgische
Handwerk der Barbiere unumgänglich nötig waren. Erst in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts kommt die Anatomie des Gehörorgans durch
Duverney zu Ehren. Seine Vorläufer sind Jean Riolan der Jüngere,
Claude Perrault und Jean Mery.
Jean Riolan der Jüngere (1580 — 1657), der erbittertste Gegner
der Kreislauf lehre Harveys, galt zu seiner Zeit als Autorität auf ana-
tomischem Gebiete. Unter seinen zahlreichen Schriften enthalten nament-
lich die Hauptwerke, das „Encheiridium anatomicum et pathologicum'' *),
die ^Anthropographia ****), ferner die „Animadversiones**, die „Commen-
tarii in Galeni librum de ossibus" etc., eine Anzahl die Otologie betreffende
Bemerkungen. Abgesehen davon, daß seine meist polemischen Erörte-
rungen jeder Originalität entbehren, zeigen sie auch zahlreiche grobe
Fehler, die Morgagni in seinen „Epistolae anatomicae", bei aller Aner-
kennung der Bedeutung Riolans, einer scharfen Kritik unterzieht. Die
Prüfung der beiden erstzitierten Werke auf ihren gehöranatomischen
Inhalt ergibt folgendes.
Den äußeren Gehörgang findet Riolan bis zum siebenten
Lebensmonate knorpelig und bis zum dritten Lebensjahre und noch
länger basal mit einem Fenster versehen ^). Hier handelt es sich offen-
bar um die beim Kinde konstant in der vorderen Gehörgangswand vor-
kommende Ossifikationslücke. Die Ansicht Riolans, „daß der äußere
Gehörgang nach vollendeter Ossifikation untrennbar mit dem Trommel-
fellring verschmilzt* ^), ist insofern irrig, als der Gehörgang eigentlich
aus dem Ringe hervorgeht. Das Linsenknöchelchen, das er außer-
halb des Amboß- Steigbügelgelenkes liegend abbildet, hält er für unnütz
und vergleicht es mit einem Knochenschüppchen , wie es in der Hals-
schlagader neben dem Keilbeine vorkomme^). Die Muskeln des
inneren Ohres, von denen er bloß einen äußeren und inneren Hammer-
muskel erwähnt, kennt er bloß aus der Lektüre der „Recentiores Ana-
tomici** und beschreibt sie fehlerhaft*). Zur Freilegung der Gehör-
knöchelchen empfiehlt er die Abtragung der oberen Troramelhöhlenwand *).
Unklar ist seine Beschreibung zweier Ligamente, von denen das eine die
„Cauda" des Hammers fixieren, das andere dem oberen Winkel des
Stapes angeheftet sein soll ^).
Erstaunlich selbst für die damalige Zeit ist seine Behauptung, daß
die „Cavitates internae" des Ohres periostlos und deshalb unempfindlich
seien '). Den gröbsten Irrtum aber, der seine Kenntnis in der Anatomie
*) Paris 1648. Ich benützte die Ausgabe vom Jahre 1649 (Lugd. Bat).
**) ibid. 1618.
188 Claude Perrault.
des Ohi-es in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt, finden wir in der
Angabe, daß der Hörnerv nach dem Durchtritt durch die Schnecke von
der Trommelhöhle aus durch den Tubenkanal zum Oaumen herabsteige
und den Kehlkopf innerviere ^). Den M. levator palati moUis (von ihm
Peristaphylinus internus genannt) läßt er an einem beweglichen Knorpel
entspringen, weiß jedoch nicht, daß dieser der Ohrtrompete angehört').
Zum Schlüsse sei noch bemerkt, daß seine Ausführungen wegen des
Gebrauches der Ausdrücke ^rechts** und „links** vielfach unverständlich
werden und auch die beigegebenen aus anderen Werken entlehnten Ab-
bildungen an Deutlichkeit manches zu wünschen übrig lassen.
Noch fragmentarischer und dürftiger sind seine Angaben über das
Ohr in der früher erschienenen „ Anthropographia* ^^) , wo zum Teile
Stellen aus dem „Encheiridium" sich wortwörtlich wiederfinden.
Die Beobachtungen Riolans über Pathologie und Therapie der
Ohrerkrankungen werden wir im folgenden Abschnitte besprechen.
^) In hac Epiphysi Anriculari multa veniunt observanda. Meatas anditorins
totus est cartilaginosus, circa quintum aut sextum mensem, Osseam naturam acquirit
quam vis ad septimum usque mensern separari qneat, sed in basi hiulcoin» ao velati
fenestratum usque ad tertium annum et amplius perstat. p. 45.
') Sed ubi nieatus Auditorius obduruit, tarn arete Osseus circnlua aggintinatur,
ut postea sit inseparabilis. p. 45.
') Quartum alii adiiciunt, quod est squamula Ossis, qualis in carotide arteria
deprehenditur juxta Os sphenoides. Sed illud inane est ac inutile. p. 287.
*) Recentiores Anutomici Auris internae duos musculos constituunt» unom ex-
ternum in poro auditorio, qui membranain retrahit : Alterum intra Concham malleolo
affixum. p. 337.
») 1, c. Lib. VI, Cap. 12, p. 441.
') Sed Tendones vel potius ligamenta reperiuntur duo, unum, quod malleoli
caudam sistit, alterum quod stapedis angulo superiori alligatur. p. 442.
') 1. c. Lib. IV, Cap. 4, p. 289.
^) Nervus auditorius consideratione dignus, qui in Auris cavitatem inseritor
et per Canaliculum in Palatum delabitur, atque Laryngi intemo distribuitnr: Hinc
ille consensus Aurium cum Dentibus, Larynge, et Pulmonibus. 249. Nervus auditorius
traductus per cochleam, ubi pervenit ad concham jier foramen sive Canalieulum
ad dextrum latus Conchae adapertum, delabitur in palatum juxta apopbysim ptery-
goideam. p. 288.
») 1. c. Lib. V, Cap. 19, p. 342.
'«) 1. c. Lib. III, Cap. 5, p. 449; Lib. V. Cap. 13, p. 509 und Lib. VI, Cap. 48,
p. 626 sq.
Wertvolle Beiträge zur Anatomie des Gehörorgans lieferte Per-
rault. An ihn reiht sich J. Mery, ein Zeitgenosse Duverneys,
dessen Arbeiten trotz zahlreicher Irrtümer einen Fortschritt gegenüber
Perrault bedeuten.
Claude Perrault (1613—1688), einer der vielseitigsten Männer
seiner Zeit, wurde 1613 zu Paris geboren und erlangte ebenso wie seine
Claude Perrault. 189
drei Brüder einen ruhmvollen Namen in der Zeitgeschichte Frankreichs.
Anfangs studierte er Medizin, wurde aber durch die ihm von dem Minister
Colbert übertragene französische Üebersetzung des Vitruvius der Bau-
kunst zugeführt. Zu welcher Meisterschaft er es in dieser brachte, dafür
liefert der Bau des Louvre sprechendes Zeugnis.
Perrault war auch einer der vorzüglichsten Physiker seiner
Zeit. Er beschäftigte sich eingehend mit zoologischen, anatomischen
und physiologischen Studien. Als Anatom und Arzt gehörte er der
1665 von Colbert gestifteten «Academie Royale des Sciences*^ an,
welche ihren Mitgliedern die Pflege der Naturwissenschaften zur Haupt-
aufgabe machte. Perrault benützte die durch königliche Freigebigkeit
aus der Menagerie des königlichen Gartens zur Verfügung gestellten
seltensten Tiere zum Studium der vergleichenden Anatomie. Zahlreiche
Abhandlungen Perrault s finden sich in den „M^moires de l'Academie".
Er starb 75 Jahre alt an den Folgen einer Verletzung bei der Sektion
eines Kamels.
In der Geschichte der Ohranatomie nimmt er deshalb eine ehren-
volle Stelle ein, weil er noch sorgfältiger als Casserius die vergleichende
Anatomie heranzog, um über Norm und Abweichung, Zweck und Nutzen
der Teile des menschlichen Gehörorgans ins klare zu kommen.
Die das Gehörorgan betreffenden Untersuchungen beziehen sich
auf die Anatomie, Physiologie und Akustik und zum Teile auch auf
Pathologie und sind in seinen „Oeuvres diverses'* (Leiden 1721) ent-
halten. Ihre erste Publikation findet sich in seinen „Observations sur
Torgane d^ TOuie. Mdmoires de l'Ac. de Paris. Vol. I, p. 243. Essais
de Physique ou Recueil de plusieurs traitez touchant les choses naturelles**.
T. I, II, III. 1680. T. IV. 1688. Edit. J. B. Caignard. Paris.
Seine Schilderung des Gehörorgans zählt zu den besten dieser Zeit.
Stets wird zur Illustration die vergleichende Anatomie herangezogen,
wobei er vorzüglich das Gehörorgan von Vögeln benützt. Doch haften
trotz vieler Vorzüge seiner Ohranatomie manche Mängel und Irr-
tümer an.
Im II. Bande seiner „Essais de Physique**, betitelt „Du Bruit*,
behandelt Perrault ausführlich die damals geltenden Theorien über
den Schall, die Anatomie und Physiologie des Gehörorganes, wobei er
stets zur Erklärung der Funktion eine Parallele mit der Physiologie des
Gesichtssinnes zieht. Die 336 Seiten umfassende Abhandlung gibt Zeugnis
von der hohen Begabung, dem umfangreichen Wissen imd der Viel-
seitigkeit des Verfassers. Dem Texte sind mehrere Tafeln mit einer
größeren Anzahl von Abbildungen beigegeben, von denen die Mehrzahl
jedoch bei roher Ausführung primitiv und selbst schematisch unrichtig
erscheint. Als Beispiel hierfür diene die beistehende Abbildung des
190
Claude Femult.
ScbneckeDdurchscImittes (Fig. S) mit der Spirallamelle und dem in den
Modiolus (Noyau du liraa^on) eintretenden Hönierven.
Die bisweilen vorkommende Beweglichkeit der Ohrmuschel
spricht Perrault fälschlich der Funktion des Hautmuskels und nicht
den Ohrmuskeln zu. Er beschreibt und bildet den Annulus tympanicus
beim Neugeborenen ab, glaubt aber irrtümlich, daß dieser beim Erwach-
senen ohne Spuren seines früheren Zustandes mit dem Schläfebein ver-
wachse'). Auch leugnet er, daß bei Kindern das Trommelfell dem
Annulus tymp. anhafte; denn die Membran sei weiter vorn und nicht
vertikal inseriert. Zutreffend hingegen ist seine Bemerkimg, daß das
Trommelfell in allen Lebensaltem durch den Zug des Hammergriffs
gegen die Trommelhöhle geneigt erscheine. Bei Schildkröten fand er
das Trommelfell knorpelig. Das Cavum tympani sei sowohl beiu
Menschen als auch bei den Säugetieren von
emer zarten Membran ausgekleidet, welche
sich stellenweise leicht vom Knochen ab-
heben lasse; nur am Trommelfellring hafte
sie fester und besitze auch Blutgefäße. Die
Fortsatze des Hammers werden nicht er-
wähnt Das von Sylvius beschriebene Os
lenticulare findet man nach Perrault
selten Er hält es ftlr das abgebrochene
Ende des langen Amboßscbenkels *). Die
Sehne des Stapedius beschreibt er als
Ligament^). Von den inneren Ohr-
muskeln erwähnt er nur den Trommel-
fellspanner. Dieser ist nach ihm ein
Antagonist des Bandapparates der Gehörknöchelchen, die nach dem Auf-
hören der Aktion des Muskels die Membran entspannen*). Er beschreibt.
zum ersten Male den aufgeworfenen Rand der Fenestra rotunda (Cochleae),
welche bei allen Säugetieren durch eine sehr zarte, nach innen gewölbte^
Membran verschlossen sei (Sehneckenfenstermembran). Die Schilderuujf
des Labyrinthes erklärt er für sehr schwierig. Das Vestibuluni-
und die Bogengänge, von denen mehrere mangelhaft abgebildet sind.^
werden ohne nähere Beschreibung erwähnt. Die Lamina spirali^^
osst'ii, die vom Modiolus in den Scbneckenkanal hineinragt, sei sehic^
zart und flexibel, weshalb er sie als , Membrane Spirale" bezeichnet. Dieses
S]iiiiillanielle sei nur am Modiolus, nicht aber an der entgegen
gesftztrn AVand des Schneckenkanals befestigt. Sie teile awR'T"
di'ii S<'lineckenkanLil, jedoch unvollständig, in zwei Teile, so daß di -^
beick'Ti Abteilungen überall miteinander kommunizieret]. Perrftult h^»-'
sdinit die eigentliche Öpiralmembran nicht gekannt^).
Fig 8 Eeprod dea Schnecken
durehBchnittes aua den „Lssaia
de Plijaique etc ' Tom III des
Claude Perrault 1080 p 57
Claude Penault.
191
Im physiologischen Teile seiner Arbeit bespricht Perrault zunächst .
die Wirkung der äußeren Ohrmuskeln und hierauf die des Tensor
tyi33j)aai, welcher dem Trommelfell eine mittlere Spannung verleiht, die
befühigen, starke und schwache Geräusche, bobe und tiefe Töne in ge-
riiig'erer oder größerer Distanz aufzunehmen und fortzuleiten *). Das
Seki-et der Ceruminaidrtlsen soll zur Abschwächung des Schalles dienen.
W^us die Funktion der Schnecke anlangt, so spricht sich Perrault dahin
&US, daQ die in die Spirallamelle eintretenden Fasern sich mit der Knochen-
substanz der Spirallamelle mengen und eine Art Membran bilden, die
er für das eigentliche Organ des Hörens hält '). Trotz dieser Annahme
zweifelt Perrault nicht im mindesten an der Existenz des Aer implan-
tatus, dessen Sitz im Labyrinthe und nicht in der Paukenhöhle sei.
Nach seiner Erklärung werden die Erschütterungen des Trommelfells
auf die Luft der Trommelhöhle und von dieser auf die Membran des
runden Fensters übertragen. Von dort geht die Er,schütterung auf
die im Labyrinthe eingeschlossene Luft über, deren Vibrationen, durch
die merabranösen Gebilde im Labyrinthe gemildert, auf die Spiral-
membran fortgepflanzt, das eigentliche Organ des Hörens in Bewegung
setzen ").
Eigentümliche Ansichten entwickelt Perrault über die Aetiologie
^lözeluer Formen von Schwerhörigkeit. So glaubt er, daß Schwerhörig-
keit durch starke Schalleinwirkung deshalb entstehe, weil durch die
'•"Schotterung die Spirallamelle gebrochen werde, wie etwa ein Glas
■furch heftige Erschütterung. Farner meint er, daß die Südwinde die
'"'^werhörigkeit steigern, indem sie durch ihre Feuchtigkeit die un-
"^igänglich nötige Trockenheit der Spiralmembran vermindern. Da
«es« Trockenheit eine mittlere sein müsse, so sei es fenier erklärlich,
"*Ü im Alter, wo die Knochen trockener werden, durch allzu große
'*"ockenheit der Spiralmembran sich häufig Schwerhörigkeit entwickle").
') S. 192 f.: .DaDS les enfaaa Douveauz aet, ce rebord est ua as Beparä du
""^»»e. faisant comme on aoneau qui n'eet pas entiei-, parce que son cercte est inter-
'^Oipii a l'endroit oü ce rebord raanque dans les adultea, ausquels i^et anneaa se
'^Qtc reellement colW et reuni i Tos des temples qu'il n'y reste aucune marque qui
l"***»e faire croire qn'il ait autrefoia este separe.'
'I S. 203: .Maia on le trouve rarement. et Jl y a lieii de croire quaad on le
'^••ooiitre que c'edt le petit noeud du bout de In jumbe pur laquelle l'enclunie est
*«^elife i Tetrier (|ui a este rompu."
') S, 203: ,La teste est attacb^ü pur un ligament large ä Voa des temples."
'I S. 236 f.: ,11 faut Buppoaer que la membrane du Tambour eat ordinairement
"■^t^eUnnS pac le muscle, daos une tenaion mediocro. qui In rend capable d'eette
''**&« »ediocrenient ; c'est ä dire ny trup fortement par les viülente» agitations des
"rtjjtt proches et dee tun» aigna, ny trop fuiblement par lea bruits des eotpa eloignez
*^ QCi tous gravea; et que lea tensiona ou les relächemena extrt^mes aont reaervez
■poot lu bruits extrSmeE, savoir pour lea bruils forta et aigUB. et les grandea tensions
k
pour le» bruits foibles et pour lea tona graves, qutind od veut aroir ane gtmi
attention ä Tun ou ii l'uutre de ce» bruits.'
") S. 211: ,De ce noyftu il aort une lame osseuse et fort mince qui tournai
en ligne epimie comme le conduit , le partage tout äa long en deux, en eort« qi
n'eatant altacb^e qu'au noyau et non k Is partie oppoeit« du condutt, eile ne ft
point que le eonduit Boit double, et que la partie qui eet au dessus n'ait conuain
cation avec celte qui est dessous."
') S. 236: ,Et cela bb fait fort cammodemeDt i>Eir un seul muBcle auquel II
lignmena des osselets. et la membrane nmme du Tumbaur, eervent d'Antagouiftel
') S. 246 f. : ,11 y a sujet de cvoire que cee fibrea revoivent quelque choie i
la subetance osaeuae qu'elles peuetrent, en iorte que i^ette eubstaiice osgeuae se ma
lant avec la Bubstance neireuae des tibrei du nerf , il a'en compose une espece i
membrane que j'appelle la membrane Spirale, et que j'estime e»tre l'organe imnieüi
de l'ouie*. und S. 349: „Pour ce qui est de la Situation de cette membriine OMew
j'ai d^ja remarqu^ qu'elle n'est point uttacbee nj couchee 8ur le conduit, maia qu'd
tient seulement au uoyeau duquet «Do naist, et au tour duquel eile ae aoütJent ranm
nne fntiee ou comme une rotonde , qui n'appuye point sur lea epaulea , et qui (
■eulement attach^e au col. Et en eSet, cette aituation aemble fort favorable i',
disposition que cet organe doit a.?oir, qui est d'eatre facilement ebraale pari
etnotiona de l'air qui causent le bruit.'
') S. 259: „Enfin cette demiere Emotion, adoucie comme eile est par Viatt
poeition des membranes , et renduS vive et piqoante autant qu'il est necessalre pi
leur tenaion, enieut lii membrane epirule qui est l'organe immediat de l'ouie, doi
la delicatease est auffiaament conaefv^e et deSenduä des injures de l'air, quo; qu'dl
soit touchee immediatement par l'air : maia l'air qui la tuucbe immediatement «
ezempt des qualites nuisiblea qui se |)ourroient rencontrer dana l'air de dehon, Utai
enfenue fort eiactement, et foment^ par la chaleur de l'aleine des pouinona.*
*) S. 250 f.: ,0n peut enoore par cette disposition do la membrane «pinl
donner la raison de plusieurs Fbenouienes, toucbant la perte ou la diminution d
l'oDTe: car il y a quelque apparence que la perte de l'ouTe qui arrive pur un gnn
bruit, procede de ce que cette membrane estant mince comme eile est. et d'aa
subatance trea-caaaante dana quelques animaux , eile peut eatre ebriinlee avec oiafl
de violence par un grand bruit , pour en pouToir estre caasee ; de mesme qae I'oi
89ait qu'un grand bruit peut casser un verre. Ainsi lea venta du Midy diminoW
l'ouTe, parce que leur humidite diminuä la secberense qui doit eatre dana cM
membrane. Et comme cette Becliereaae doit eatre mediocre, il arrive aouvenl qn
l'ouie devient dure lorsque dans la vieillesse les oa sont beaucoup desaecliez.*
Jean Mary (1045—1722), Anatom und gleichzeitig Chirurg »0
Hötel-Dieu, weicht in vielen Beziehungen von Pcrrault ab. Ein eifeC
süchtiger Riviile Duverneys, veröfFentlichte Mery zugleich mit Lamf
„Esplication m^chanique de fonctions de Tütne sensitive" sein BuoJ
«Description exacte de l'oreille de l'honime avec explication m^chaaiqiv
flt physifjue des fonctions de l'iime sensitive' (Paris 1677, 1681, 1687)
im Jahre 1677, um Duverney, von dem er wußte, daß er an einen
ähnlichen Werke arbeite, zuvorzukommen. Wenn dieses Werk auch nicb
*) Als Quelle wurde benütct; Oeuvrea complctes de Jean Merv, pur ^
H, Petit. Paria 1888.
Jean Mcry. 193
im entferntesten an die epochemachende Schrift Duverneys hinan-
reielxt, so ist es doch nicht ohne Bedeutung, ja es enthält sogar neben
vielen Irrtümern manche ausgezeichnete .Beobachtung; doch darf bei der
BeixT-teilung des Autors der Umstand nicht außer acht gelassen werden,
daft Mery oft Gelegenheit hatte, Duverneys Vorträge zu hören, von
denen er manches anatomische Detail entlehnen konnte.
Ein Hauptverdienst Merys besteht darin, daß er die schon von
Cas serio angedeuteten In zisuren des äußeren Gehörgangs genauer
besclireibt. Er vergleicht den äußeren Ohrkanal wegen dieser Einschnitte
und seiner Struktur mit der Trachea ^). Der knorpelige Teil des Kanals
ist nach ihm nicht unmittelbar mit dem Knochen, sondern durch eine
Membran verbunden.
Eine anatomische Entdeckung Merys ist der Dom der Ohrleiste
(Spina s. processus acutus helicis) sowie das zuweilen gabelförmig
gespaltene Ende der Ohrleiste, der „Processus helicis**, welcher von dem
übrigen Ohrknorpel etwas absteht.
Was die Ohrmuschel anbelangt, so leugnet Mery, der selbst die
Ohrmuscheln bewegen konnte, daß diese Beweglichkeit durch eigene Ohr-
muskeln bedingt sei. Was man als solche beschrieben hatte, seien
Aponeurosen und Teile des Hautmuskels, des Frontalis und Occipitalis.
Die Trommelhöhle teilt er in zwei Teile, in „die untere, vordere,
ninde* und , obere, hintere, längliche".
Mery fand die Furche des Annulus tymp. bei Kindern, glaubte
aber irrtümlich, daß sie bei Erwachsenen verschwinde. Die Gehör-
höchelchen seien gelenkig verbunden, teils durch Ginglymus, teils durch
Arthrodie; auch erwähnt er zum ersten Male die Synovialkapseln der
Gehörknöchelchen. Er kennt zwei Hammerfortsätze, meint, daß das Os
knticulare selbständig sei und daß der Stapes das Foramen ovale nicht
exakt verschließen könne, weil sonst die Luft in den Vorhof nicht
einzudringen vermöge^). Hinsichtlich der inneren Ohrmuskeln, deren
^f vier annimmt, teilt er dem inneren Hammermuskel, wie manche
semer Vorgänger, zwei Sehnen zu. Die Natur der Chorda tympani, die
^f ftr eine muskulöse Sehne hält, verkennt Mery gänzlich.
Das innere Ohr beschreibt er verhältnismäßig gut. Nach Folius
ist er der erste, der die Bogengänge aus dem Knochen herausprä-
P^riert darstellt. Auch weiß er, daß zwei Bogengänge mit einer gemein-
schaftlichen Oeffnung in den Vorhof einmünden^).
Die Zahl der Schneckenwindungen wird ganz richtig mit zwei
^öd einer halben angegeben. Im Gegensatze zu Perrault, der nur die
^^öcheme Spirallamelle kennt, beschreibt Mery exakt die schon von
^^stachio entdeckte membranöse Spiralplatte, durch die der
^chneckenkanal in zwei Treppen geteilt wird*). Beide Treppen koni-
^olitzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 13
194 Jean Mery.
munizieren durch ein kleines Loch an der Spitze der Schnecke^). Er
ist in dem Irrtum befangen, daß der Acusticus der Schneckenbasis bloß
anliege, ohne mit seinen Fasern in den Kern der Schnecke (Modiolus)
einzudringen**). Dies ist umso befremdlicher, als Perrault vor ihm
den Nerveneintritt in die Spindel beschreibt und abbildet (S. 190),
Die Schilderung des Nervenverlaufes im Vorhof und in den Bogengängen
ist durchaus falsch. Nach ihm dringt ein kleiner Ast des Nerven durch
eine größere Oeffnung in den Vorhof, wo er sich in fünf kleine Aeste t^ilt,
die in die fünf Oeffhungen der Bogengänge eintreten und diese in ihrer
ganzen Länge durchlaufen ^).
Hinsichtlich der Funktion der Schnecke glaubt Mery, daß
die Spiralmembran der Schnecke nur die Eigentümlichkeit ihrer spiralen
Anordnung besitze, daß sie aber keineswegs als wichtiges Organ für das
Hören angesehen werden kann®). Wie seine Vorgänger hält er am
„A6r ingenitus" fest, der durch die mit dem Vorhof und der Schnecke
kommunizierenden Bogengänge ungehindert im ganzen Labyrinthe leicht
zirkulieren könne ^).
^) Car il n'est que cartilagineuz en dessous et membraneux en dessus et devise
par plusieurs intersections, dont la prämiere est toum^e en forme de vis de devant
en arriere. . . . Les autres intersections sont ä-peu-pres de la m^me figure que celles
de la trachee art^re. 1. c. p. 2.
') C'est par cette Ouvertüre (^ue l'air du tambour a communication avec celui
cjui est contcnu dans tout le labyrinthe ; ce qui ne pourrait arriver si le trou ovalaire
6tait bouche par une membrane comme Ton pretend; de plus, si ce trou ^tait toujours
ferme, Tair du labyrinthe ne pourrait que tres faiblement 6tre agitä, et ainsi 11 ne
rendrait qu'un son fort sourd, de möme que ferait un tambour, s'il n*avait point de
trou. 1. c. p. 7.
^) ^Places Tun au-dessus de Tautre s'uniasent ensemble par deux de leurs ex-
tremites, a la partie posterieure nioyenne de la röche, et ne fönt, etant unis, qu'u»
trou ouvert dans la partie posterieure de la conque etc. 1. c. p. 11.
*) „11 semble a la considerer par le dehors, qu'elle ne soit composee que d'un
seul canal de deux tours et demi, separes les uns des autres par une lame d'os qui
d'un cöU' est unie au moyau de la coquille et de Tautre aux parois de cette m§me
cavite; mais pur dedans, la coquille est formee de deux canaux, Tun est ant^rieur
et l'autre posterieur qui sont separes les uns de l'autre, en partie par une autre petita
lame d'os extremement mince, qui sort de noyau pyramidal qui est au milieu de \i^-
coquille et en partie, par une membrane qui etant d'un cöte attach^ & cette petita
lame osseuse w'attache de l'autre aux parois de la coquille.* 1. c. p. 9.
*) II a trouve aussi ([ue les deux rampes du lima^on qui fait partie de roreill ^
interne, avaient communication entre ellcs ä leur extremite la plus ^troite par u
petit trou rond, au travers duquel l'air agite, passant et repassant, frotte le bout (L ^^
la membrane qui separe ces deux rampes. 1. c. p. 13.
^) Le nuyau d<i la coquille n'est point perce. quoique la partie molle du ne^^-^
s'applique a sa base, et «ju'elle ne penetre point la coquille. 1. c. p. 10.
") Ce rameau se divise dans cette cavite en cinq petites branches, qui entrer:» •
par les cinq ouvertures dans les trois canaux circulaires qu'elles parcourent entier^^^
ment. 1. c. p. 12.
G. Lamy. 195
^) La membrane qui est dans la coquille n*e8t point la partie principale de
lor^ane de Foule, puisqa'elle n*a rien de pariiculier que sa figure spirale. 1. c. p. 10.
*) Ces trois canaox etant ouverts dans la conque, avec le canal ant^rieur de
la coquille, Tair roule facilement dans toutes les cavites du labyrinthe. 1. c. p. 12.
0. Lamy. Gleichzeitig mit dem anatomischen Werke Merys
erschien die physiologische Arbeit seines Zeitgenossen und Freundes
6. Lamy, betitelt ^Explication mechanique des functions de Tarne sensi-
siie QU Ton tndte de Porgane de Sens, des passions et du mouvemens
Tolontaire*, Paris 1677. In dieser, die Sinnesphysiologie behandelnden
Schrift, die sich gegen Perrault wendet, stützt sich Lamy vorzugsweise
auf die nicht immer richtigen Angaben Merys. Nach Lamy besteht
im Ohre eine Art Strömung (Zirkulation) der Luft, die durch den Gehör-
gani^ eintretend, auf dem Wege der Fenestra ovalis in den Vorhof,
von da in die Bogengänge und Schnecke gelange, von wo sie durch das
runde Fenster (Fen. Cochleae) in die Trommelhöhle zurückkehre und
durch die Tuba Eustachii entweiche.
Außer den Genannten wären noch einige französische Autoren von geringerer
Bedeutung anzufahren: Nicolaus Habicöt (f 1624). Anatom und Chirurg am
H6tel-Dieu, ein heftiger Gegner Rio! ans, hält sich im ganzen an Falloppio und
briii^ nichts wesentlich Neues. In seiner .Semaine ou pratique anatomique' ') liefert
er eine eingehende, aber unklare Abhandlung über das Gehörorgan. In dieser werden
Aofier Blutgefäßen am Trommelfelle vier Gehörknöchelchen und vier Bänder derselben
^f^Unt, von denen zwei dem Hammer und Steigbügel, zwei dem Amboß zugehören
wllen, die aber unseren heutigen anatomischen Kenntnissen nicht entsprechen.
Mehr leistete Theophile Gelee aus Dieppe, der die Synovialkapsel der
^hörioiOchelehen genauer beschrieb^). In seiner Anatomie') gibt er eine gute Be-
itreibung der Grehörknöchelchen und ihrer gelenkigen Verbindungen. Nach ihm
J"*d die Gehörknöchelchen beim Neugeborenen ebenso groß wie beim Erwachsenen,
^ ihrer Mitte jedoch mehr weich und fast knorpelig^).
Von den teils anatomischen^), teils physiologischen^) Abhandlungen des Jean
^^Ptiste Hamel ist nur die eine Tats.che erwähnenswert, daß er die Schnecke
^^ das eigentliche Apperzeptionsorgan hält.
Noch wären aus dieser Periode anzuführen GebertPuylon, der das Trommel-
'^U fQj. die trockenste Membran erklärte (Paris 1641), und Nicolas Papin, Onkel
^^ berühmten Isaac Papin, der über das Ohrenschmalz schrieb, die Ohrenschmalz-
'^'^n jedoch nur oberflächlich kannte').
') Semaine ou pratique anatomique par laquelle est enseigne par le9ons le
^yen de les assembler les parties du corps humain. Paris 1610, 1630, 1660.
^ 8. Lieutand, Zergliederungskunst Bd. I, p. 73.
*) L* Anatomie Fran^aise en forme d* Abrege , recueillie des meillcurs Auteurs
^^ ont ^ent sur cette science. Lyon 1635, Paris 1656.
*) Ils sont quelque peu plus mols et comme cartilagineux en leur miteau, qui
** came. que les enfants n'oient pas si bien. p. 36.
*) De corporum affectionibus . . . libri duo. Paris 1670.
•) De corpore animato 1. IV. Paris 1673.
*) Prolusio de aurium ceruminis usu invento (Sauniur 1648).
i
19() Gassendus. Mersenne.
Die Physiologie des Gehörsinnes fand in diesem Zeiträume im Gegen-
satze zu der weiter vorgeschrittenen physiologischen Optik nur geringe Förderung,
weil die damals neu gefundenen akustischen Gesetze nur in geringem Maße auf das
Gehörorgan angewendet wurden.
Von den in dieser Zeitperiode die Akustik fördernden Physikern seien erwähnt:
Petrus Gassendus (1592 — 1655), der die Schnelligkeit der Fortpflanzung des
Schalles zu bestimmen suchte und sie auf 1473 Fuß in der Sekunde festsetzte.
Mersenne (1588—1648), der in seiner .Harmonie* (Paris 1644) Theorien über
den Schall, Schnelligkeit der Fortpflanzung, Zahl der Schwingungen, Ursachen der
Verschiedenheit der Töne u.a. mitteilte. Mersenne, ein Schüler Galileis, wußte,
daß die Tonhöhe durch die Schwingungszahl bedingt sei und kannte bereits die
Obertöne (1618). Er war einer der ersten, der die therapeutische Anwendung von
Tönen empfahl.
Damit schließt die sterile Zeitperiode der Ohranatomie. Bald
genug jedoch tritt ein hervorragender französischer Forscher auf den
Plan, mit dem eine neue glänzende Aera der otologischen Wissenschaft
beginnt:
Duverney.
Guichard Joseph Duverney (1648 — 1730)^), dessen Name einen
Markstein in der Geschichte unseres Fachs bedeutet, wurde als Sohn eines
Arztes am 5. August 1648 zu Feurs en Forez, einer alten kleineu Stadt
am rechten Ufer der Loire, geboren. Er entstammte einer uralten adeligen
Familie, die am Ende des 13. Jahrhunderts das Schloß du Vemey zu
Saint-Galmier besaß. Schon mit 19 Jahren erwarb Duverney nach
fünfjährigem Studium zu Avignon den Doktortitel, worauf er sich
nach Paris begab. Dort fiel er bald durch seine glänzenden Talente auf
und erhielt die Stelle eines Demonstrators am Jardin du roi, wo er zugleich
mit seinem Schüler Pierre Dionis, dem Arzte Ludwigs XIV., wirkte
und vor einem vornehmen Publikum außer den Entdeckungen fremd-
ländischer Anatomen auch die Resultate seiner eigenen anatomischen
Arbeiten demonstrierte. Durch seine außerordentliche Gelehrsamkeit, die
geistreiche Behandlungsweise des sonst trockenen StofiFes, durch sein
hervorragendes Kednertalent , das noch eine Stütze im Zauber seiner
Persönlichkeit fand, erwarb er nicht nur eine weitreichende Berühmt-
heit, sondern erregte in hohem Grade das Interesse für die anatomi-
sche Wissenschaft in Kreisen, die diesem Fache bisher geringschätzend
j^ei^enüberstanden ^). In den höchsten Ständen wurde es Mode, seine
Vorlosun«fen zu besuchen, ja Bossuet bestimmte, daß Duverney auch
den Dtiuphin in der Anatomie unterrichte^) und kreierte somit die
Stelluiii^ eines Hofanatomen, die bis zur Revolutionszeit bestand und
zuletzt mit dem trefflichen Historiographen Portal besetzt war.
Bus Interesse, welches Duverney in den höchsten Kreisen erwarb,
kam der anatomischen Forschung an der Pariser Schule zu gute. Ge-
Duverney. 197
fordert durch königliche Freigebigkeit, hatte Duverney wie schon vor
ihm Perrault Gelegenheit, die seltensten Tiere, die für den könig-
lichen Garten angeschafiFt wurden, zu zergliedern und die vergleichende
Anatomie durch neue Entdeckungen zu bereichem.
Im Jahre 1674 wurde er zum Mitglied der 1665 von Colbert
gegründeten Academie royale des sciences ernannt, die vorwiegend die
Naturwissenschaften pflegte. Von 1679 an hielt er im Jardin royal als
Professor der Anatomie Vorlesungen. Wie trefflich er dieses Amt versah,
beweist die stattliche Schar berühmter Schüler in beredter Weise.
Duverney kann mit Recht als der Begründer der französischen
anatomischen Schule des 18. Jahrhunderts angesehen werden, aus der
Männer wie Dionis, Winslow, Senac, Petit u. a. hervorgingen.
Außer der Lehrtätigkeit galt sein erstaunlicher Fleiß den Arbeiten für die
Akademie, die sich auf die mannigfaltigsten anatomischen und physio-
logischen Themen bezogen und insbesondere die vergleichende Anatomie
förderten. Dem letztgenannten Zwecke diente auch seine von der
Akademie verfügte Entsendung nach der Bretagne und nach Bayonne,
wo er viele ergebnisreiche Zergliederungen von Fischen vornahm. Erst
im beginnenden Alter zog er sich, erschöpft durch die rastlose Arbeit,
für mehrere Jahre von der Akademie zurück, erschien aber 1728,
80 Jahre alt, neuerdings, um wieder an vergleichenden anatomischen
Arbeiten teilzunehmen. Zwei Jahre später (10. September 1730) starb
er, betrauert von den Fachgenossen aller Länder, mit deren bedeutendsten
Vertretern, wie Malpighi, Ruysch, Bidloo, Boerhaave, er in
wissenschaftlichem Verkehre stand.
Die Arbeiten Duverneys zeichnen sich durch Kürze, Reichtum
des Inhalts, musterhafte Genauigkeit und Schärfe des Urteils aus. Mit
besonderer Vorliebe widmete er sich der Erforschung des Gehör-
organs. Selbst auf seinen wissenschaftlichen Reisen stellte er genaue
Untersuchungen über das Gehör der Fische an und noch kurz vor seinem
Tode bereitete er mit Winslow eine neue Ausgabe seines Hauptwerkes
über das Gehörorgan vor. „Traite de Torgane de Tome** betitelt, er-
schien es im Jahre 1683 und übertraf alle Erwartungen. Es erlangte
eine große Verbreitung und wurde auch ins Deutsche (Berlin 1732),
Englische und Lateinische (Norimberg 1684, Lugd. Batav. 1732) übersetzt.
Wie der Titel*) besagt, behandelt das im Vergleich zu anderen und im
Verhältnisse zu seinem Inhalt erstaunlich kurz gefaßte Werk die Ana-
tomie, Physiologie, Pathologie und Therapie des Gehörorgans.
Seiner Bedeutung entsprechend wollen wir in folgendem eine kurze
Analyse desselben geben.
ai Die AB&tonie Dnrerneys.
Der erst« Teil des in drei Abschnitte zerfallenden Werkes be-
handelt die Anatomie des Ohres und enthält 16 Tafeln teils gnter,
teils mifilungeaer Abbüdangen. Hier ist die Ohranatomie in einer so
klares, abersichtlichen , geordneten Weise beschrieben, daß das Werk
noch heute ttlr das anatomische Studium mit Nutzen rerwendet werden
kaun. 1q Bezug auf die Darstellung ist es nur mit dem seinerzeit
e(»ocbaleD Meisterwerke Falloppios zu Terf^eichen, das allerdings eine
Kroßere FUUe neuer Tatsachen umfaßte.
Duvernejs Anatomie, obwohl nicht reich an eigenen, neuen Ent-
deckuu^en. ist ein Werk in modernem Geiste; es bBt zum ersten Male
die Forschungsergebnisse abgerundet und wohlgesichtet zosammen, es
verbreitet ein ganz neues Licht Über das schon frOher Bekannte und
verrät in jeder Zeile die Exaktheit der Forschung, indem es nur sichere
Tatsachen mitteilt, alles Unklare aber der Zukunft QberläBt.
Uuveruev teilt das GebSrorgan in ein äußeres, welches die
Ohniiuschel, den Gehörgang und das Trommelfell in sich begreift, und ein
inneres, zu dem er die Trommelhöhle, den Warzenteil, die Eustachische
RShre und das Labyrinth rechnet. Die Ohr-
muschel wird ausfOhrUch beschrieben, ohne
daß der Leser mit den zahlreichen Beneanungeu
ermüdet wttrde, welche die meisten Autoren
vor ihm aufzählen. Die Muskeln des Tragus
und Antitragus werden nicht erwähnt. Hin-
gegen ist hier zum ersten Male das Ligament
DpHnica des auric. posterior beschrieben und die Gefäße,
Arterien und Venen, sowie Nervenverzweigungen
der Ohrmuschel abgebildet'). Ebenso klar schil-
dert er den Gehörgang, ,le trou de l'oreitle*,
hinsichtlich seiner Länge. Richtung und Struk-
dir"), wiilii'i namontlich hervorzuheben ist, daß Duverney die Ceru-
III i iial il rOscn ^) nls kleine in die Cutis eingesenkte, gelbe DrUscheu
lin-irlncilit, ohne jedoch in Ermanglung mikroskopischer Untersuchung
nur ilirii t't'inere Struktur näher einzugeben. Ob er die in seinem Werke
Hligt'liildi'leu Inzisureu des äußeren Gehörgangs'l vor Mery (s. S. 193)
KukniJiit Imt, läßt sich nicht entscheiden. Bei der Beschreibung des
'l'iiiminclfells weist er darauf hin, daß die Furche des Annulus tjm-
|iHiii<'iiK Ulli vorderen, oberen Pole der Zirkumferenz des Knochenrahmens
fidtlL"). Duverney ist der erste, dor den vom Annulus tympanicus
Itdiviirgcgiingciieii Teil des knöchernen Gehörganges (pars tym-
liHiiicu) beschreibt und gesondert abbildet (Fig. 9). Die Kommunikation
b'iK 11.
Iiiiikrl III rutin UeliorBiinges
Ixiiiii K.i'iruchHenen. Pliotogr.
Ui>|»<nliiktiou 11118 Duver-
iiHVn .Truiti'^ de l'orf^ne
tUl'i.uui-. Tat". IV, Fig. 2.
Duvemey. 199
der Trommelhöhle mit den Zellen des Warzenfortsatzes wird durch
Beschreibunf; und Abbildung zum ersten Male sichergestellt. Auch der
Recessus epitympanicus ist ihm nicht entgangen; er schildert
ihn als eine Einsenkung (enfoncement) im oberen Trommelhöhlenraum,
in welchem die Köpfe der Gehörknöchelchen liegen (logez). Die Be-
schreibung der Ohrtrompete, die auch er doch als Aquädukt be-
zeichnet^^), entspricht der des Eustachio, doch ist sie hier zum ersten
Male im Zusammenhange mit der Ansicht der inneren Trommelhöhlen-
wand gut abgebildet. (Taf. 8 Fig. 2.) Er weiß, daß die Schleimhaut des
knorpeligen Teiles, welche die Fortsetzung der Nasenschleimhaut darstellt,
zahlreiche Drüsen enthält ^ ^), daß der Tubenwulst an der Bachenmündung
der Ohrtrompete von einer halbmondförmigen Verdickung der Knorpel-
platte gebildet wird und daß die Außenfläche der Tube von einem
Muskel bedeckt wird, der den Rachen erweitert.
Am Ende des Ganges (der Nische) des ovalen Fensters be-
schreibt er einen blättrigen Rand (feuillure), an dem sich die Basis des
Steigbügels ansetzt. Die Membran des runden Fensters sei in eine
ähnliche Furche eingefalzt ^ *) wie das Trommelfell. An der lateralen
Oelenkfläche des Hammers, die erst später durch Hei mholtz physio-
logisch gewürdigt wurde, beobachtete er zwei Erhabenheiten und eine
Höhlung zur Artikulation für den Amboß. Viel genauer als bei den
früheren Autoren ist die Lagerung des kurzen Amboßfortsatzes ^')
am Eingange des Antrum mastoideum und seine Befestigung mittels eines
Bandes dargestellt. Nach Duvemey besitzen die Gehörknöchelchen kein
Periost, noch deren Gelenksflächen einen Knorpelüberzug ^*). Hammer
und Amboß werden durch mehrere von außen in ihr Inneres eintretende
Gefäße versorgt. Von den inneren Ohrmuskeln sind Form und Lage
des Hammer- und Steigbügelmuskels richtig wiedergegeben. Hingegen
beschreibt er gleich mehreren seiner Vorgänger als Antagonisten des
Trommelfellspanners einen „äußeren Hammermuskel**, der nach unseren
heutigen Kenntnissen mit dem vorderen Hammerbande identisch ist. Die
Chorda wird als Ast der Portio dura (facialis) des fünften Nervenpaares
bezeichnet. Die Lageverhältnisse der einzelnen Teile in der Trommel-
höhle sind richtig wiedergegeben.
Ein großes Verdienst erwarb sichDuverney durch die sorgfältige
Beschreibung des knöchernen Labyrinths und man darf ihm mit
vollem Rechte nachsagen, daß er hier alles leistete, was mit den da-
maligen Präpariermethoden überhaupt zu erzielen war. Auch die dem
Werke beigefügten Abbildungen des Labyrinths sind bis auf einige Details
ziemlich gelungen. Der Vorbof ^•'') und seine Verbindungen mit den drei
halbzirkelförmigen Kanälen ^*^), die in einen oberen („le superieur"),
mittleren („le mitoyen**) und unteren („rinferieur) geschieden werden,
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• i':-;':! V>lires von dem
.1 kn»»ehernen (.Teliör-
Duverney. 20 1
gang aus einem membranösen Kanal hervorgehen. Von diesem getrennt
sei der Trommelfellring. Die Tuba Eustachii sei beinahe ganz mem-
branös; ihren knorpeligen Anteil hat Duverney beim fötalen Ohre
übersehen. Der obere Bogengang und ein Teil des unteren ragen so
weit an der Oberfläche der Pyramide hervor, daß sie ohne jede Prä-
paration wahrgenommen werden könnten. Das Trommelfell sei von einer
schleimigen Masse bedeckt, welche sich in eine Membran eindichte, die
mit der Zeit verschwinde^*). Auf der oberen Fläche der Pyramide sei
ferner im Verlaufe des Canalis facialis ein Loch (Hiatus canalis facialis ?)^
das am fötalen Knochen sehr weit, aber auch beim Erwachsenen sicht-
bar sei. Die Schuppe könne von der Pyi-amide leicht getrennt werden;
der Warzenfortsatz endlich erscheine ganz klein.
Rattel hebt in seiner Biographie hervor, daß Duverney^^)
nahe der Entdeckung des Labyrinthwassers gewesen, da er oft das Vesti-
bulum, Bogengänge und Schnecke mit zäher Flüssigkeit erfüllt gefunden
habe und verschiedener Flüssigkeiten und Feuchtigkeiten gedenkt, die
in den inneren Höhlen vorhanden waren und Ursache der Taubheit ge-
wesen wären. Wir können uns der Meinung Kattels nicht anschließen^
da Duverney diese Labyrinthflüssigkeit für pathologisch ansah und
müssen, da auch seine Beschreibung nicht unzweideutig ist, Cotugna
allein den Ruhm zuerkennen, umsomehr, als Duverney noch an dem
„a<?r ingenitus* (Fair implantd) festhält.
Diese kurze Skizze des ersten Abschnittes von Duverneys Werk
dürfte genügen, den hohen Wert seines anatomischen Teiles zu charakteri-
sieren. Die otologischen Arbeiten des folgenden Jahrhunderts liefern den
Beweis, welch wichtige und einflußreiche Stelle diesem Buche in dem
Entwicklungsgange der Otologie zukommt.
b) Die Horphysiologle Duverneys.
Auch die gehörphysiologischen Anschauungen Duverneys sind^
ebenso wie seine anatomischen Leistungen, von einer üb^raschenden Klar-
heit der Auffassung und der Darstellung. Wir werden sehen, daß die
von Helmholtz entwickelte Hörtheorie sich in großen Zügen bereits
bei Duverney angedeutet findet. Hierzu wurde er durch seine Ver-
bindung mit dem berühmten Physiker Mariotte befähigt, da er zur
Einsicht kam, daß die Beherrschung der Anatomie allein zur Entwicklung
einer Hörtheorie nicht ausreiche ^^).
In den ersten Kapiteln des zweiten Teiles seines Traktats handelt
er über den Nutzen der Ohrmuschel, des Gehörganges und der
äußeren Ohrmuskel. Der Gehörgaug sei schief, nicht bloß um das
Trommelfell vor den schädlichen Einflüssen der atmosphärischen Luft zu
Duveraey. 203
ohne Aktion der Binnenmuskel des Ohres auf die Gehörknöchelchen
überträgt.
Die Fortpflanzung der TrommelfeUschwingungen zum Labyrinthe
geschehe vorzugsweise durch Hammer, Amboß und Steigbügel, in ge-
ringerem Maße durch die Luft der Trommelhöhle zum runden Fenster und
zur Spiralmembran der Schnecke. Diese Theorie gilt auch jetzt als die
allein richtige gegenüber der von Pascal und einigen modernen Oto-
logen, die nur die Schallfortpflanzung durch die Luft der Trommelhöhle
gelten lassen wollen. Dem Steigbügelmuskel wird von Duverney
irrtümlich eine ähnliche Wirkung wie dem Tensor tympani zugeschrieben,
da nach ihm die Membran der Fenestra ovalis (vestibuli) in ebensolche
Spannungszustände wie das Trommelfell gebracht werde. Heute wissen
wir, daß der M. stapedius ein Antagonist des Tensor tympani ist. Der
Verbindungskanal zwischen Trommelhöhle und Warzenfortsatz diene dazu,
der Luft einen Weg zum Ausweichen zu bieten, wenn sie durch Span-
nung des Trommelfells komprimiert würde, während die Tuba Eustachii
neue Luft der Trommelhöhle zuführe, damit sie ihre Elastizität nicht ein-
büße. Von den Gehörknöchelchen aus wird der Schall vermittels des
ovalen Fensters zum Vorhof und der darin eingeschlossenen (»ein-
geborenen**) Luft und endlich zur Schnecke, sowie zu den halbzirkel-
förmigen Kanälen geleitet.
Die Annahme, daß manche Taube, deren Trommelfell nicht funktio-
niert, ein Saiteninstrument durch die Ohrtrompete zu hören vermögen,
erklärt er für unrichtig, und führt vielmehr diese Tatsache auf die Kopf-
knochenleitung zurück. Jene Menschen hören nach Duverney den
Ton nicht, oder nur sehr schwach, wenn sie das Instrument vor dem ge-
öffneten Munde halten, hingegen sehr stark, wenn sie es mit den Zähnen
fassen. Die Schwingungen würden eben durch die Zähne auf die Mandi-
bula, von dieser auf das Schläfebein, die Gehörknöchelchen und auf das
Labyrinth übertragen. Ein Normalhörender vernehme in diesem Falle
den Ton besser, wenn er sich das Ohr zuhalte. Auch gebe es gewisse
Schwerhörige, die besser hören, wenn man über ihrem Kopfe spreche,
woraus deutlich hervorgehe, daß der ganze Schädel, das Schläfebein und
alles andere nach und nach in Schwingungen versetzt werde.
Der wertvollste Teil der Duverney-Mariotteschen Hörtheorie
liegt in der Bedeutung, die dem Labyrinth für die distinkte Schallwahr-
nehmung resp. Tonperzeption zugewiesen wird. Auch heute noch dürfte
dieser Abschnitt von jedem mit Genuß und Interesse gelesen werden;
denn selten wohl wurde eine schwerwiegende Hypothese mit solcher
Klarheit und Einfachheit vorgetragen. Zudem beruhen alle Folgerungen
fast auf denselben Grundsätzen wie die Helmholtzsche Theorie.
Als unmittelbares Perzeptionsorgan gelten ihm die Schnecke und die
204 Duvemey.
Bogengänge, resp. in der Schnecke die Lamina spiralis. Diese faßt er
gleichsam als ein musikalisches Instrument auf, das dazu diene, die
Töne abzumessen und ihre Unterschiede bemerkbar zu machen. Sie sei
nicht bloß geeignet, die Schwingungen der Luft aufzunehmen, sondern
ihre Struktur lasse schließen, daß sie auch mit den verschiedenen
Schwingungsarten korrespondieren könne. Denn im Beginne der ersten
Windung verhältnismäßig breit, verschmälem sie sich gegen das Ende
zu immer mehr und mehr, und man könne annehmen, daß die breitesten
Teile, welche, gesondert von den anderen, allein erschüttert werden, lang-
samer schwingen und somit den tiefen Tönen entsprechen, während die
schmäleren Partien, wenn sie erschüttert werden, schneller schwingen
und somit den hohen Tönen entsprechen, d. h. diese leiten und perzi-
pieren'^^). Man sieht also auch hier wieder das Grundgesetz vom Mit-
tönen angewendet. Bekanntlich hat auch Helmholtz die Struktur der
Basalmembran in ganz ähnlicher Weise für seine Hörtheorie benützt.
Der große Unterschied besteht nur, abgesehen von der histologischen
Begründung, darin, daß gegenwärtig die Perzeption der hohen Töne in
die Basalwindung, die der tiefen Töne in die oberen Windungen verlegt
wird und daß Duverney nicht die Lamina spiralis resp. die Schnecke
allein zum unmittelbaren Gehörorgan macht, sondern die Bogengänge als
gleichberecttigt partizipieren läßt.
Die Gründe für die letztere Annahme sind folgende. Erstens hätten
Vögel und Fische keine Schnecke, sondern bloß drei Bogengänge und
einen geraden Gang, der an einem Ende geschlossen sei, am anderen mit
dem Vestibulum kommuniziere (wobei Duverney nicht beachtete, daß
eben dieser Gang [lagena] der Schnecke entspricht) ; zweitens gingen zwei
Zweige des Acusticus zu den halbzirkelförmigen Kanälen und drittens
sei auch ihr Bau ein solcher, daß man annehmen könne, es werde der
Schall durch sie entsprechend aufgenommen und differenziert.
Auch von den Bogengängen gelte dasselbe wie von der Lamina
spiralis bezüglich der Perzeptionsfähigkeit*^). Die von Stelle zu Stelle
verschieden weiten Bogengänge, da ja die Mündungen weit seien (Am-
])ullen), die Mitte aber eng, bedinge, daß die breiten Partien der Bogen-
gänge durch die tiefen, die schmäleren durch die hohen Töne in Schwingung
gebracht würden ^^0- Durch die Nervenendigungen werde die Perzeption
in der Schnecke und in den Kanälen dem Gehirn zugeleitet.
Wenn wir erwägen, daß Duverney noch ganz der mikroskopischen
Erlorscliuiig des Gehörorgans ermangelte, ja noch in vielen Vorurteilen
seiner Zeit, wie es das Festhalten am aer ingenitus beweist, befangen
\vju\ so müssen wir zu dem Schlüsse kommen, daß seine Hörtheorie, ab-
^eselieii von seiner irrtümlichen Auffassung über die Funktion des Bogen-
gangsjippjirates, sicherlich die genialste war, die zu seiner Zeit aufgestellt
Duverney. 205
werden konnte. Vom historischen Standpunkte bleibt es immerhin be-
achtenswert, daß Duverney gleich Helmholtz der Spiralmembran
der Schnecke die Hauptrolle in der Differenzierung tiefer und hoher
Töne zuschrieb.
Die Leistungen Duverneys, dem unter den Anatomen des 17. Jahr-
hunderts unstreitig der erste Rang zukommt, bewirkten einen neuen Auf-
schwung der Otologie in allen Ländern, der sich nicht nur in der ana-
tomisch-physiologischen Richtung, sondern auch in der Pathologie des
Gehörorgans bemerkbar machte.
c) Die Pathologie des Gehörorgans.
Im dritten Abschnitte seiner Abhandlung versucht Duverney die
Pathologie des Gehörorgans auf anatomischer Grundlage zu entwickeln.
Dieser Versuch ist insofern mißlungen, als Duverney nur über geringe
Kenntnisse der pathologischen Anatomie des Ohres verfügte und in der
Therapie noch zu sehr von den zu seiner Zeit herrschenden medizinischen
Doktrinen beeinflußt war. Immerhin finden wir in diesem Abschnitte
manche wertvolle Anregungen für eine anatomische Systematik der Ohr-
erkrankungen.
In der Einleitung teilt er die Krankheiten des Ohres in die der
Ohrmuschel, des äußeren Gehörganges, des Trommelfells, der Trommel-
höhle, des LaT)yrinths und des Hömerven ein; daran schließt sich die
Besprechung der subjektiven Geräusche, die ein gemeinschaftliches
Symptom aller Ohraffektionen bilden.
Als erstes Symptom wird der Ohrenschmerz ausführlich bespro-
chen. Er begleitet alle Formen der Entzündung der Ohrmuschel und
des äußeren Gehörgangs, sowie die Verletzungen des Ohres. Als weitere
Ursachen des Schmerzes erscheinen: abnorme Ceruminalabsonderung, die
Ausscheidung seröser, scharfer und salziger Sekrete aus den Drüsen
des Gehörgangs, welche zur Geschwürsbildung führen. Der heftige
Schmerz wird durch den Nervenreichtum der Cutis und deren innigen
Zusammenhang mit dem Periost des Gehörgangs erklärt. Fieber, Schlaf-
losigkeit und Delirien komplizieren öfter diese Entzündungsforra.
Die Behandlung des Ohrenschmerzes richtet sich nach der ihn be-
dingenden Ursache. Wind und Kälte sind zu meiden. Als lokale Mittel
werden empfohlen : das Auflegen von gewärmten, in Alkohol getauchten
Brots auf das Ohr, Injektionen von Dekokten von Melisse, Hyssop,
Kalomel, Origanum etc., gemischt mit Oel von bitteren Mandeln, Kamo-
mille, Anis etc. Auch Injektionen von Milch (am besten Frauenmilch),
gemischt mit Hühnereiweiß, und der Zusatz narkotischer Substanzen zu
Umschlägen erweisen sich als sehr nützlich. Ist der Schmerz durch eine
206 Duverney.
hitzige Ursache (^d'une cause chaude^) entstanden, so ist Aderlaß ab-
solut nötig.
Seine Besprechung der Geschwüre („niedres*) im Gehörgange zeugt
von geringer Erfahrung, hingegen spricht er sich bei den Würmern im
Ohre gegen die von Forest, Schenck und anderen vertretene Ansicht,
diese entstünden durch Zersetzung der Säfte im Ohre, dahin aus, daß
die Würmer aus den Eiern von Insekten sich entwickeln*^).
Die Geschwüre im Ohre entstehen nach Duverney durch den Aus-
fluß von scharf und salzig gewordener Lymphe aus den Drüsen, wo-
durch die Wiedervereinigung der Teile gehindert wird. Den Ohrenfluß
führt Duverney nicht wie viele seiner Vorgänger auf einen eitrigen
Ausfluß aus dem Gehirn zurück, sondern auf lokale Affektionen, z. B.
Erschlaffung der Schmalzdrüsen, dünnes Blut etc. Der Ansicht, daß die
Ohrenflüsse Gehirnprozessen entstammen, widerspreche die Tatsache, daß
das Poramen audit. intern, durch den Gehörnerven verstopft ist, daß die
ausfließende Masse erst durch das Labyrinth, die Schnecke, die Fenestrae
und das Trommelfell ihren Weg nehmen müßte und eher durch die Tuba
Eustachii als durch die Membrana typipani abfließen würde.
Zum Beweise teilt er eine Krankengeschichte mit Sektionsbericht
mit, wo sich trotz beträchtlichem eitrigen Ohrenflusse nichts Abnormales
im Gehirne und an der Schädelbasis vorfand. Femer sagt Duverney
von einigen bei Kindern beobachteten Fällen: „J'ay ouvert l'oreille de
plusieurs enfants dont la quaisse estoit pleine de boue, cependant je n\
ay jamais trouv^ n'y dans le cerveau, n'y dans l'os pierreux aucune mau-
vaise disposition."
Die Therapie der Geschwüre im Gehörgang ist die gleiche
wie bei allen Entzündungen der inneren Teile des Ohres. Auch hier
empfiehlt Duverney Einträufelungen von Säften und Dekokten ver-
schiedener Pflanzen und Oele, Einspritzungen von Dekokten der Aristo-
lochia, von Galläpfeln, Wein von Granada (De Vigo) u. a. Gegen Wür-
mer bewähren sich Einträufelungen von Oel oder Weingeist am besten.
Zu den Verstopfungen des Ohres rechnet Duverney 1. Fremd-
körper, 2. Ceruminalpfröpfe, 3. neugebildete Membranen im Gehörgange
(Schilderung eines Sektionsbefundes), 4. fungöse Exkreszenzen im äußeren
(jrehörgange , 5. Anschwellung der Drüsen des Gehörganges. Die Be-
handlung der Gehörgangsobstruktion lehnt sich an die der Vorgänger
(Fal>ricius Ilildanus) an.
Die Krankheiten des Trommelfells werden eingeteilt in Er-
^chlafluiig, vermehrte Spannung und Verdickung, über deren Ursachen
er nur unhaltbare Hypothesen aufstellt. Interessant hingegen ist, was
iJuverney über die Ruptur des Trommelfells sagt. Er erwähnt nämlich
einen Fall, bei dem durch heftiges Schneuzen eine Ruptur des
Duverney. 207
Trommelfells entstand und beruft sich auf eine analoge, von Tulpius
mitgeteilte Beobachtung (Obs. 15). Duverney glaubt aber irrtümlich,
daß die Ruptur durch Ablösung des Trommelfellrandes am oberen Pole
der Membran hervorgebracht wurde. •
Die Erkrankungen der Trommelhöhle und des Labyrinths
können nach Duverney nur als Karies des Knochens und als Entzün-
dungen der Membranen aufgefaßt werden ^'). Die durch Abszeß bedingte
Entzündung des Gehörgangs (irrtümlich anstatt der Trommelhöhle) führt
zur Fistelbildung hinter dem Ohre und ist von überreichem Ausfluß
begleitet. Duverney fand bei Eiterungen im Ohre die Trommelhöhle,
das Vestibulum und die Bogengänge von Eiter erfüllt. Er zweifelt
nicht, daß der Eiter sowie andere Sekrete in der Trommelhöhle Schwer-
Jiörigkeit bewirken, umsomehr, als die Ausscheidungen nicht leicht aus
der Trommelhöhle abfließen können, weil die Tubenmündung höher liegt
a^ls der Boden der Trommelhöhle. Aus der Darstellung Duverneys
ergibt sich, daß ihm die klinische Differenzierung der eitrigen Entzün-
dungen des äußeren Gehörgangs, des Mittelohrs und des Labyrinthes
nicht möglich war.
Die Behandlung der Schläfebeinkaries ist eine medikamentöse (Ein-
IcLgen von Scharpiewieken mit Kampfer, Euphorbiumpulver, Myrrha, Wein-
geist etc.). Gegen Entzündungen der Trommelhöhle und des Labyrinths
sind nach Duverney topische Mittel nutzlos und bloß die interne Medi-
kation anzuwenden.
Die Krankheiten des Hörnerven sind Verstopfung (Obstruktion) und
Kompression. Ursachen dieser Erkrankungen sind Apoplexie, seröse An-
sammlungen im Gehirne und Hirntumoren.
Sehr weitläufig behandelt Duverney am Schlüsse die subjek-
tiven Geräusche im Ohre. Er nennt sie ein Verderbnis (Depravation).
Duverney schildert das Ohrentönen nicht wie seine Vorgänger als
Krankheit, sondern als Symptom und führt es auf eine ähnliche Reiz-
^kung zurück, wie die Entstehung des subjektiven Funkensehens. Das
Obentönen begleitet die Erkrankungen des Gehörgangs, der Trommelhöhle
^d des Labyrinths. Die Entzündungen verursachen eine Erschütterung
(»Aranlement*) der Spiralmembran und der Bogengänge, teils durch
Spannung („tension"), teils durch Dämpfe, die sie ausscheiden und die
sich mit der Luft der Trommelhöhle mengen. Auch Erschütterungen des
Schädels können Ohrgeräusche bedingen. Als Beispiel objektiver Ohr-
geräusche erzählt er von einer Dame, die bei der geringsten An-
sirengung ein so heftiges, pulsierendes Geräusch im Ohre empfand, daß
sie die Empfindung hatte, als sei ihr eine Uhr am Kopfe angeheftet. Das
öeriusch konnte von jeder in ihrer Nähe befindlichen Person gehört werden.
Du?erney ftlhrt es auf die Erweiterung einer Arterie im Kopfe zurück.
208 Duverney.
Daß subjektive Geräusche nicht ausschließlich durch Erkrankungen
des Gehörorgans hervorgerufen werden, beweisen die Himaffektionen,
Delirien, Schwindel, Epilepsie, Ohnmacht, bei denen gleichzeitig oder als
Vorläufer Ohrgeräusche auftreten. Es ist nach Duverney gleichgültig
für das Zustandekommen subjektiver Geräusche, ob der Hörnerv im Ohre
oder im Gehirne gereizt („ebranl^e") werde. Seine Erklärung der ana-
tomischen Ursachen tiefer und hoher subjektiver Geräusche ist durchwegs
hypothetisch.
Die Behandlung der subjektiven Geräusche fällt mit der sie be-
dingenden Erkrankung zusammen.
0 Vergl. Postal, Histoire de Taiiatomie et de la Chirurgie. 1770. T. III.
p. 464.
') Fontanelle sagt in dem Nachrufe auf Duverney : Eloges des acad^miciens
de rAcademie royale des sciences, morts depuis 1722, Paris 1793^ tome II: Cette
^loquence n*etait pas seulement de la clart^, de la justesse, de Tordre, toutes les
perfcctions froides que demandent les sujets dogmatiques ; c'^tait un feu dans les
expressions, dans les toars et presque dans la prononciation, qui aurait presque saf&t
k un oratear. II n*eüt pas pu annoncer indifföremment la däcouverte d*un vaisseau,
ou un nouvel usage d*une partie, ses yeux en brillaient de joie, et toute sa personne
s^animait. Cette chaleur ou se communique aux auditeurs ou du moins les pr^erve
d*une langueur involontaire , qui aurait pu les gagner. On peut ajouter qu'il etait
jeune et d'une figure assez agr^able. Ces circonstances n*auront lieu, si Ton veut,
qu*ä Tegard d'un certain nombre de dames, qui furent elles m^mes curienses de
l'entendre.
^) Rattel, 1. c. T. 9. Les demonstrations d*anatomie r^ussirent si bien aupres
du jeune prince, qu*il offrit quelquefois de ne point aller ä la chasse, si on les
lui pouvait continuer aprds son diner.
*) Traite de Torgane de l'ouie, contenant la structure, les usages et les ma-
ladies de toutes les parties de l'oreille. Wir zitieren im folgenden nach der Aus-
gabe Leyden, Job. Langerak, 1731.
••) 1. c. p. 1—5; Fig. 1 u. 2, Tab. I.
«) 1. c. p. 7.
^j 1. c. p. 6. Cette peau qui est une continuation de celle qui est endevant
iht la con<iue, est parsemee d*une infinite de petites glandes d*une couleur jaunätre . . .
Tab. Iir, Fig. 2 u. 3.
^) Le cartilage, qui la forme est continu en luy möme, mais il est interrompu
et Hej>iin* en i)lusieur8 endroits comme par des coupures . . . 1. c. p. 5, Tab. III, Fig. 1.
") 1. c. p. 9.
"^) 1. c. p. 11.
") 1. ('. p. 18.
'') 1. c. p. 16.
' ') La plus courte des deux branches est posee ä Tentree du conduit, qui va
diins l'apopbyse mastoide et son extremit^ est cacbee et attachäe par un ligament
iliins une petite cavite (jui est a Tentr^e de ce conduit.
^*} 1. <'. p. 21. Ces osselcts sont degarnis de ces membranes qu*on nomme
le perioste.
'^j 1. 0. p. 26.
'«) 1. c. p. 27—30, Tab. X, Fig. 1 u. 9.
Duverney. 209
'') 1. c. p, 30-34. Tab. X, Fig. 1—6.
") 1. c. p. 32.
^*) La lame spirale separe en deux ce canal (Schnecke), estant attachee au
noyau par sa base et par son autre extremit^ ä la surface du canal opposee au
noyau, par le moyen d'une membrane fort delieO; beaucoup plus mince que la lame,
laquelle ne continue pas le ni§me plan que la lame. mais se rabat un peu en desaoua.
1. c. p. 31.
»*) 1. c. p. 33 u. 34.
«') 1. c. p. 35—40, Tab. XI, Fig. 1—8.
'*) La portion molle se partage en trois branches; la plus considerable
estant arrivee k la base du noyau, semble se terminer et se perdre en cet endroit,
cependant il est rray qu*en entrant dans le noyau par tous les petits trous obliques
dont nous avons parles. eile se partage en plusieurs filets, qui se distribuent ä tous
les pas de la lame spirale. . . . Les deux autres branches de la portion molle sont
destin^es pour le vestibule ; la plus considerable de ces deux dernieres s*engage ä Tentree
du tuyau de la portion dure et entre enfin obliquement dans un trou particulier
qui s'ouvre dans la voüte du vestibule. Cette brauche estant entree, forme comme une
houpe dont une partie s*avance dans la porte (Ampulle!) du canal demi circulaire
superieur, et dans celle de l'ant^rieur, qui est tout joignant, et les bouche en partie;
ensoite eile foumit un petit filet nerveux ä chacun de ces canaux qui se Joint ä
Tart^re qui y est distribu^e et l'accompagne par tout: Tautre partie de la houpe
s'alloDge vers le fond du vestibule, et produit un petit tilet qui entre dans la porte
commune. La deuxieme branche se divise en deux filets, dont Tun entre dans la
porte du canal inf^rieur et Tautre remonte vers la porte commune. 1. c. j). 37.
*^) Sappey, Trait^ d'anatomie, tome III.
«*) 1. c. p. 45-50.
") 1. c.
*•) Comme la matiere est importante et qu'elle m'a paru tres delicate, je n'ay
pas voulu me fier tout ä fait ä mes propres lumieres, et j'advoue que je dois h.
M. Mariotte une bonne partie de ce qu*on trouvera icy de plus curieux; cependant
je n'ose esperer que ce que je vais proposer soit bien re^u de tout le monde: mes
coi\jecture8 me paroissent assez vraisemblables. mais d*autres seront peut-estre d*un
autre goust. Quoy qu'il en soit, je croiray avoir bien reüssi, si je puis les obliger
par cet essay ä nous donner quelque chose de meilleur. De Torgane de Touie II, p. 56.
*T Cette lame n*est pas seulement capable de recevoir les tremblements de
Fair, mais sa structure doit faire penser qu*elle peut repondre ä tous leurs caractdres
diff^rens. 1. c. p. 79.
") 1. c. p. 79 u. 80.
'*) J'ai dit que la lame spirale ne recoit pas simplement les vibrations de Tair
et que toutes s^ parties ne sont pas capables indifferemment de re2)ondre aux m^mes
tons. J*en dis autant de ces canaux demi circulaires. ... De tout ce que je vien.s de
dire, on peut conclare que le lima^on et les canaux demi-circulaires sont les organes
eommuns et immddiats qui re^oivent non seulement les tremblements de Tair en
gen^ral, mais encore qui regoivent la vraie id^e, et les differens caracteres des tons,
Selon les divers endroits de ces parties qui sont ^branlöz. 1. c. p. 83 u. 85.
*®) Chacun de ces canaux a la figure de deux trompettes qui seroient em-
bouch^es l'une dans Fautre par leurs extremitez les plus etroites . . . or il est demonstre
par exp^rience que les plus grands cercles des pavillons des trompettes peuvent estre
^branlez, sans que les plus petits le soient sensiblement . . . on peut avancer la m^me
chose ä r^gard des canaux demi-circulaires . leurs parties les plus larges peuvent
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde I 14
210 Schelhammer.
eire ebranlees sans que les autres le soient: alors les vibrations de ces mgmes parties
seront lentes d*oü il s^ensuivra necessairement Tapparence d*un ton grave ; au contraire
qoand les parties les plus etroites de ces canaux seront ^branl^es sans que les autres
le soient, il s^ensuivra Tapparence d'un ton aigpi. 1. c. p. 83 ff.
'*) Ou si la chaleur de ces uiceres fait seulement eclorre les peüts oeufs que
mille insectes qui voltigent dans Tair y peuvent laisser. 1. c. p. 117.
'^) Pour ce qui est de la quaisse et du labyrinthe, comme ce sont des parties
osseuses rev§tues simplement d*une membrane, je ne comprens pas qu'elles puissent
avoir d*autres maladies que la Carie d'os et rinflammation des membranes. 1. c. p. 150.
Günther Christoph Schelhammer
(1649—1712).
ein Zeitgenosse Duverneys, wurde am IB. März 1649 zu Jena geboren,
lehrte als Professor nacheinander zu Jena, Helmstädt, Kiel und gehörte
zu den eifrigsten Vertretern der Chemiatrie in Deutschland. Als sein
Todesjahr wird 1712 angegeben.
Sein Werk, betitelt: „De auditu liber unus. Quo plerorumque om-
nium doctorum sententiae exarainantur, et auditus ratio nova methodo,
ex ipsius naturae legibus, explicatur** (Lugd. Bat. 1684), erschien ein Jahr
nach dem Duvernev sehen Traktat 0.
Dem Werke sind fünf schematische Tafeln beigegeben mit ungenauen
anatomischen Abbildungen und Zeichnungen, welche auf seine Schall-
theorie Bezug nehmen. Es steht, sowohl was Anatomie und Physiologie
betrifft, weit hinter dem Traktate Duvernev s zurück, weist aber neben
zahlreichen Irrtümern viel Wertvolles auf.
Wie der Titel sagt, enthält es auch einen historischen Ueberblick
und Rezensionen der Meinungen älterer Autoren. Schelhammer teilt
sein Werk in drei Abschnitte, einen anatomischen, einen physikalischen
(über den Schall) und einen physiologischen^).
Der schwächste Teil des Werkes ist der anatomische. Er ent-
hält wenig Neues, dagegen zahlreiche Fehler, sogar in Dingen, die von
anderen längst richtiger beschrieben wurden.
Schelhammer stellt die Existenz äußerer Ohrmuskeln und damit
die Bewegungsfähigkeit der Ohrmuschel gänzlich in Abrede^). Die Pars
tympanica wird eingehend beschrieben und ihre Beteiligung an der
Bildung des knöcheren Gehörganges hervorgehoben, ohne daß darauf hin-
gewiesen wird, daß sie aus dem Annulus tympanicus hervorgeht*). Für
(las Trommelfell schlägt er statt der Bezeichnung „Tympanum* das passen-
dere „Hymen" oder ,Meninx" vor, da die Membran im Ruhezustande
schlatV und eingezogen, mit der gespannten Haut einer Kriegstrommel
wenig Aehnlichkeit hat*'). Die Chorda tympani konnte er — an-
geblich wegen schlechten Leichenmaterials — nicht auffinden ^). Der Ham-
mer (jrscheine stets in einer anderen Gestalt und bleibe sich nur darin
Schelhammer. 211
gleich, daß er einen Kopf und einige Fortsätze besitze^). Ganz ver-
worren sind seine Angaben über die Binnenmuskeln des Ohres. Den
, äußeren* Muskel erklärt er für ein kräftiges, wenn auch schlaffes
Ligament®) (Lig. mallei anterius); ein Muskel verbinde sich «cum mallei
spinoso processu et longissimo" ^). In der Sehne des inneren Hammer-
muskels fand er beim Schwein bisweilen ein Sesamknöchelchen ^^). Im
Gegensatze zum Hammer variiert die Form des Amboßes nicht ^^). Das
Linsenknöchelchen nennt er schuppenform ig (squamosum), zuweilen
kugelig (globosum) ^*). Den Stapesmuskel hält er für ein Ligament
und sagt, daß für ihn das gelte, was er von der Chorda mit-
geteilt habe.
Was die Schnecke anbelangt, so kannte er ihre Scheidung in
zwei Treppen, leugnete jedoch ihre Kommunikation an der Schnecken-
kuppeP'). Die Bogengänge sah er mit vier bis sechs Ostien im Vesti-
bulum münden^*). Der Gesichtsnerv liege in einer Kinne des
Hömervs, doch bestehe zwischen beiden keinerlei Verbindung ^^). Ferner
kennt er die Teilung in Schnecken- und Vorhofsnerv und glaubt, daß
die membranöse Auskleidung der Labyrinthräume aus Fasern des Hör-
nervs bestehe ^ ^).
Der zweite Teil handelt über den Schall und bringt in über-
sichtlicher Weise eine Reihe von akustischen Gesetzen. Aehnlich wie
Duverney verließ sich auch Schelhammer nicht auf eigene Speku-
lationen wie die meisten Vorgänger, sondern stützte sich auf Kirch ers
»Phonurgia*, korrespondierte, wie er berichtet, mit Leibniz^^) und
stellte mit seinem Kollegen, dem Mathematiker Paul Heigel, inter-
essante Versuche über die Schnelligkeit der Fortpflanzung des Schalles
an ^®), die er ausführlich und anschaulich schildert.
Bevor Schelhammer die zu seiner Zeit bekannten akustischen
Gesetze bespricht, wendet er sich gegen die Theorie von der „ein-
gepflanzten Luft*, deren Bedeutung für den Hörakt er mit triftigen
Gründen bekämpft.
Wohl selten hat sich eine Theorie wie die vom ^aer ingenitus", die nur auf
rein hypothetischer Voraussetzung konstruiert wurde, durch viele Jahrhundert« er-
halten. Ihre wechselnden Phasen in Bezug auf Lokalität und Funktion dieses ,aer*
konnten wir von den Anföngen dieser Theorie bei den Griechen bis jetzt verfolgen.
Während ursprünglich die Luft im Hinterkopfe eingepflanzt gedacht wurde (Aristo-
teles)» ist sie im Mittelalter in eine der Höhlen des inneren Ohres (concavitates ossis
petrosi), von Carpi und auch noch von späteren Anatomen in die Trommelhöhle
und erst nach der Begründung der Obranatomie in Italien von den meisten Ana-
tomen in das Labyrinth verlegt worden.
Ebenso yenchieden gestalteten sich die Ansichten über die physiologische
Funktion der , eingeborenen Luft*. Während sie von den Griechen als das eigent-
liche Sinnesorgan angesehen wurde, hat sich in der Folgezeit ein immer stärker
hervortretender Gegensatz gegen diese Anschauung entwickelt, indem man wohl das
2 1 2 Schelhammer.
VuihundunHein der eingeborenen Luft im Labyrinthe unbestritten fortbestehen ließ,
die Hauptrolle clor .Hörperzeption jedoch dem Hömerir zuteilte.
Mit der Entwicklung der Ohranatomie wurde die Theorie von der «einge*
jiilanztrn Luft' immer komplizierter. Vesal, Falloppio, Colombo und die
ineiHton Schüler Yen als verhielten sich in diesem Punkt« so zurückhaltend, daß man
über ihre ADttichten im Unklaren bleibt. Piccoluomini vertrat die Hypothese,
daU wie im Auge die Kristallinse, die man als Sehorgan damals betrachtete, so im
Ohn», dem Organe der Luft» eine Art mit Luft gefüllter Blase vorhanden and am
Steigbügel befestigt sei. in deren Hülle die Verzweigungen des Acusticus endigen.
1)urcb Kn«chütterung dieser Blase vermittels der Gehörknöchelchen würde der Schall
d(Mn Ilörnerv zugeleitet.
l)io Ansicht Galens, der den Hörnerv als eigentliches Sinnesorgan ansah,
i\A d(^r Vergessenheit anheim und kam erst wieder zur Geltung, als man seinen
Vorlaut' im Labyrinthe ni\her kennen lernte. Casserius war der erste, der ihn
als .iuMtrumentum auditus* erklärte, den ,a€r ingenitus* aber wie alle späteren
KorMtOier bis Totugno bestehen ließ. Sehen wir doch mit einiger Verwunderung,
daÜ auch dor gründliche und vorgeschrittene Duverney die nur durch Autorit&ts
gluubon goschützto Hypothese ohne Widerspruch akzeptierte, obwohl schon Sennert^
l)u Laurent und Bauhin die Kxistenz des ,a@r ingenitus** bezweifelt hatten.
Kntuchicdcn und unzweideutig jedoch tritt erst Schelhammer gegen die
pliyHiologiNcbo Bedeutung des ,aer ingenitus* auf. Nach ihm könne dieser nicht
du» ciK«*iitlicbc .instrumentum auditus*' sein, weil der Schall die Luft durchlaufe
iMitt dan Modi um niemals das Sinnesorgan selbst bilde, wie ja auch im
AuH^ mrht die Lin$e oder der Glaskörper das Aufnahmsorgan sei. femer weil diese
LiiM ktMiirn 'IVil des organischen Körpers darstelle, was schon Du Laurent bewiesen
Itttttti (11 S. V,V^). Die innen? Luft ist nur das Medium, nicht Aufnahmsorgan. Das
AiiuitiloUn«'hc Do^ma müi^se daher fallen gelassen werden. Während aber Schel-
l..iiunn'i den „aer ingenitus* verwirft, erklärt er wohl den Hömerv als wesentlich
n.ilwriiili^,' /um Hören, ven|uickt aber mit dieser Ansicht die zu jener Zeit hcrr-
ni l»»:inlii Tlieorie von den , Spiritus jinimales*. ohne die eine Schallperzeption ausge-
Der dritte Abschnitt des Schelhammer sehen Werkes behandelt
heilie llörphysiologie. Das Trommelfell hat nach ihm bloß den Zweck,
dit; Schädlichkeiten von außen abzuhalten, übt dagegen auf die Schall-
fort|)tlanzung keinen Einfluß. Um durch die Luft in Schwingungen versetzt
zu werden, sei es zu wenig gespannt. Bloß heftige Schallein Wirkungen
könnten vielleicht geringe Schwingungen der Membran hervorrufen,
üebrigens seien diese für das Hören gar nicht nötig, wie Fälle von
Troninielfellruptur ohne jede Schädigung des Gehörs beweisen. Die
Versuche Willis an Hunden, wobei er nach Perforation des Trommelfells
erst nach drei Monaten einen Gehörs Verlust erzielen konnte, seien nicht
beweisend, weil bei diesen Experimenten leicht ein anderer Teil des
(jehörorganes mitverletzt worden sein dürfte. Wäre die Trommelfell-
verletzung allein die Ursache der Taubheit gewesen, so hätte das Tier
sofort taub werden müssen. Ebensowenig wie das Trommelfell kämen
auch die Gehörknöchelchen für die Schalleitung in Betracht; die
Luftschwingungen seien nicht so stark, daß sie den Hammer und mit
Schelhammer. 213
diesem die anderen Enöchelchen in Schwingung versetzen könnten ; auch
bilden diese keine ununterbrochene (quod non sint continua haec ossa),
sondern eine bloß lose aneinandergereihte (contigua) Kette. Aber auch
die Annahme des Casserio, daß die Gehörknöchelchen zur Fixation
und Stütze des Trommelfells dienten, sei unrichtig; die Trommelhöhlen-
luft erziele diesen Zweck viel besser. Ferner hätten die Gehörknöchel-
chen Bänder und Muskeln zur Veränderung ihrer Lage, seien also un-
geeignet, eine Stütze abzugeben. Endlich hätte der Hammer allein, der
ja durch ein festes Ligament an die Pyramide fixiert sei, zur Er-
füllung dieser Aufgabe genügen können. Schelhammer ist der
Ansicht, daß der Hammer mit den inneren Ohrmuskeln dazu dient, das
infolge Einströmens von Luft in die Tube nach außen gedrängte Trommel-
fell in seine ursprüngliche Lage zurückzubringen*). Das beim Schlucken,
Gähnen etc. im Ohr wahrnehmbare Geräusch, das Fabrizio zum ersten
Male beobachtet hat, erklärt er aus der Bewegung des Trommelfells nach
außen infolge der durch die Tube einströmenden Luft. Nur im Gehör-
organe selbst vermöge auch die kleinste Bewegung „ob vim sentiendi
maximam*^ einen Ton hervorzurufen -^).
Die Aktion der beiden Haramermuskel hielt er für teils willkürlich,
teils unwillkürlich, ähnlich wie die der Atemmuskeln. Der Steigbügel
dient nach seiner Ansicht bloß zum Verschluß des ovalen Fensters, der
Amboß lediglich zur Verbindung des Steigbügels mit dem Hammer. Zu
erklären, weshalb der Hammer vermittels des Amboßes mit dem Steig-
bügel in Verbindung stehen müsse, hält er für sehr schwer. Es sei
ferner nicht ausgeschlossen, daß die in die Trommelhöhle durch die Tube
einströmende Luft, die den Hammer nach außen drängt, bei heftigem
Impulse die Stapesplatte aus dem ovalen Fenster herausziehe, so daß
Luft ins Labyrinth eintreten könne.
Ueber die physiologische Bedeutung der Chorda tympanica
weiß der Autor nichts anzugeben. Bezüglich der Tube hält er das
Eindringen von Luft, das beim Gähnen, Schneuzen, Schlucken erfolge,
für die wichtigste Funktion. Beim Schlucken steige der Kehlkopf mit
der Epiglottis, die sich schließe, aufwärts; dadurch werde der Rachen-
raum verkleinert und die Luft in die Tube gestoßen. Schelhammer
widerspricht der Ansicht, daß die Tube zum Schutze des Trommelfells
gegen eine Ruptur diene; er leugnet sogar, daß das Trommelfell durch
eine heftige Schallein Wirkung rupturiert werden könnte.
Am Schlüsse seiner physiologischen Betrachtungen verweist Schel-
hammer auf das bekannte Experiment, bei welchem ein tönendes In-
strument, mit den Zähnen gefaßt, von manchen Schwerhörigen deutlicher
♦) 1. c. P. III, Cap. 6 u. 13, p. 269.
214 Schelhammer.
gehört wird und führt dies auf die Kopfknochenleitung und nicht auf
das Eindringen von Schallwellen in die Tube zurück. Eine schwingende
Gabel werde, wenn man sie bloß in den Mund steckt, nicht vernommen,
hingegen sehr deutlich, wenn man die Zähne mit ihr berührt.
Hört ein Tauber gut sobald er ein tönendes Instrument mit einem
zwischen den Zähnen gehaltenen Stocke berührt, so lasse sich daraus
schließen, daß der Fehler nicht im Nerv, sondern einzig und allein im
Trommelfell (?) liege, ein Versuch, der dem von Capivacci (S. 143)
ausgeführten analog ist*^).
*) Schelhammer spricht von dem Werke Duverneys, ohne daraus irgend-
welche Daten zu entnehmen.
') Praefatio, p. 6.
') Musculos nonnulli his partibus esse commemorant. Sed miror equidem,
gravissimos auctores auri humanae eos adscripsisse, cum nihil sit manifestius, quam
eam neque mobilem esse , ex instituto naturae. neque ad audiendum motu ullo in-
digere. 1. c. P. I, Cap. 1, p. 14.
*) Nobis etiam non in ossibus capitis insculptus est (nämlich der äußere Gehör-
gang), sed tota inferior ejus pars ex osse singulari, superiori parti adnato et veluti
adsuto constituitur, quod in quovis sceleto recte composito patet. Hoc ad os Mastoi-
deum in postica parte adhaeret, ä quo sutura manifesta sejungitur, inde sabtos
recurrens ulterius extenditur et styloidem processum etiam comprehendit. 1. c. P. I.
Cap. 2, p. 23.
*) 1. c. P. J, Cap. 2, p. 25.
*) Nos quoque ingenue fatemur, vix unquam licuisse nobis esse tarn felicibos.
ut qualis describitur, talem cerneremus, atque de eo saltem sumus securi, in plerisqne
animalium hanc chordam non reperiri. In homine an ideo id nobis obtigerit, qood
non statim post mortem dissecuerimus aurem, nescio : vix enim priusquam poit octi-
duum, aut ultra licuit, quoties fecimus, haec ossa effringere. 1. c. P. I, Cap. 2, p. SO-
') 1. c P. I, Cap 2 n. 4, p. 39.
«) 1. c. P. I, Cap. 2 n. 4, p. 41.
«) 1. c. P. 1, Cap. 2 n. 4, p. 43.
»'^) 1. c. P. I, Cap. 2 n. 4, p. 45.
'•) 1 c. P. I, Cap. 2 n. 5, p. 45.
>«) 1. c. P. I. Cap. 2 n. 7, p. 47.
'3) 1. c. P. I, Cap. 4 n. 4, p. 62.
»*) 1. c. P. I, Cap. 4 n. 5, p. 67.
•^) 1. c. P. 1, Cap'. 4 n. 9, p. 72.
^^} Menibranulaiii , qua istae cavernulae conteguntur, constare ex 6bris ner^
auditorii. 1. c. P. III, Cap. 5 n. IH, p. 245.
'•) 1. c. P. II, Cap. '2. De sono. p. P25.
'«) 1. c. ibid., !>. IL>T.
'^) Nerjue eniiii nfrvus ex se quicquani ad sonum percipiendum confert, ^*'
piorsus po.sset abesse, nisi apiritus ille aiiimalis ita vocatus, ad cognoscendas specic^
auditus exi)eteretiir. 1. c. V. II. Cap. 1 n. 7. p. ijO.
^") Kst eniin strepitus hie niliil aliud, quam auditio menyngis hujus, qui nun^
quam percipen-tur . nisi in ipsa aure es^et eoUoeata, in qua minimus etiam motu?*'
ob vini sentiendi maximam edit sonum. I. c. p. 2<)'J.
-*) Ut autem hoe obiter moneam, ei^regium in hoe latet arcanum. cognoscenda^
Riolan. 215
aurditatis causae. Si quis enim surdus baculum dentibus admovens sonum percipiat,
inde coUigere licet, vitium in nervis non esse, sed fortassis unice in menynge meatus
auditorii. 1. c. P. II f. Cap. 6, n. 7, p. 261.
b) Fatholog^ie und Therapie der Ohrerkrankungen im
17. Jahrhundert bis Duvemey.
Trotz der großen Errungenschaften auf allen Gebieten der Natur-
wissenschaften kann in der Pathologie und Therapie des Ohres im 17. Jahr-
hundert kein auffalliger Fortschritt verzeichnet werden. Das im vorher-
gehenden Jahrhundert sich so lebhaft äußernde Interesse für die ana-
tomische und die pathologisch- anatomische Forschung tritt in den Hinter-
grund und statt dessen entwickeln sich auf Grundlage physikalischer
und chemischer Errungenschaften dieser Periode eine Reihe rein spekula-
tiver Systeme in der Medizin, die sich trotz vielfachen Widerspruchs
bis in das 18. Jahrhundert hinein behaupten. Wir brauchen nur auf
die von De le Boe Sjlvius inaugurierte Chemiatrie und auf jene
Systeme hinzuweisen, welche sich auf Prinzipien der Mathematik und
Mechanik aufbauten (latrophysik) und auch die Therapie der Ohr-
erkrankungen beeinflußten.
Es würde uns zu weit führen, auf die in diesem Jahrhundert in
großer Anzahl erschienenen medizinischen Schriften, in denen auch die
Krankheiten des Gehörorgans kursorisch behandelt werden, näher ein-
zugehen, umsomehr, als es sich meist um Wiederholungen älterer oder
zeitgenössischer Schriftsteller handelt. Wir beschränken uns daher im
folgenden nur auf eine kurze Besprechung der wenig Neues bietenden
otiatrischen Mitteilungen jener Werke, deren Verfasser im 17. Jahrhundert
als medizinische Autoritäten galten.
Biolan der Jüngere, dessen wir bereits früher gedacht haben
(siehe S. 187), bespricht in seinem „Encheiridium anatomicum et patho-
logicum* ^) in knapper Form die Ohrerkrankungen. Dieser Teil seiner
Arbeit beansprucht jedoch kaum mehr Interesse als seine dürftige Ohr-
anatomie. Von „morbi auriculae" nennt er ohne nähere Beschreibung
Pusteln, Quetschung, Schwellung, Geschwürsbildung und Brand infolge
Erfrieren, von Erkrankungen des äußeren Gehör gang es Verstopfung
durch einen Tumor, Polypen, ausfließenden Eiter, Sordes oder Fremd-
körper, Entzündung, Abszeßbildung und Exulzeration. Die Krankheiten
der ,Cavitates internae**, welche er für periostlos hält, sind nach ihm
schmerzlos, außer wenn der Hörnerv oder dessen Abkömmling, das
Trommelfell, affiziert ist. Die Folgen der Entzündung sind Abszeßl)ildung
und Geschwür des Trommelfells, welche zu seiner Perforation führen.
Diese kann auch durch Fall oder heftigen Schall verursacht sein. Endlich
216 Riolan.
führt er noch als Erkrankung der Membrana tymp. Schlaffheit und ver*
mehrte Feuchtigkeit an. Alle Ton ihm aufgezählten Affektionen können
die Ursache von Schwerhörigkeit und Taubheit abgeben.
Subjektive Geräusche erklärt er unter anderem aus dem un*
unterbrochenen Zuflüsse von „Spiritus" zu den Ohren, femer aus dem
heftigen Schlagen von inneren oder äußeren Arterien des Ohres, was
starkes Tönen bedinge, besonders wenn man auf dem Ohr liege.
Weshalb Riolan hier besonders genannt zu werden verdient, ist
nicht seine zum großen Teile dem Fernelius entlehnte Beschreibung der
Pathologie des Ohres, sondern die historisch interessante Tatsache, daß
sich in seinem Werke die erste Andeutung zu zwei wichtigen otochirurgi-
schen Eingriffen findet. Es sind dies die Trommelfellperforation
und die Aufmeißelung des Warzenfortsatzes. Wenn Riolan sich
fragt, ob man nicht das Trommelfell bei angeborener Taubheit infolge
eines Bildungsfehlers durchreißen soll, indem er auf einen Fall hinweist^
wo sich einer mit einem Ohrlöffel unversehens sehr tief ins Ohr stieße
das Trommelfell zerriß, die Gehörknöchelchen zerbrach und hierdurch
sein Gehör verbesserte*), so war damit gewiß die erste Idee zur
künstlichen Perforation des Trommelfells gegeben. Bei den
geringen Kenntnissen der pathologisch- anatomischen Veränderungen im
Gehörorgane darf es nicht befremden, daß Riolan nicht in der
Lage war, eine Erklärung für die Hörverbesserung in dem zitierten
Falle zu finden. Jetzt wissen wir, daß ein solcher Eingriff bei Taub-
heit infolge von Ankylosierung des Hammer-Ambosses das Gehör ver-
bessern kann.
In einem anderen Falle stellt sich Riolan die Frage, ob man nicht
bei subjektiven Geräuschen den Warzenfortsatz aufmeißeln solle,
um ,den lärmenden Gasen einen Ausweg zu verschaffen* ^). Dieser
Indikation, die er in der naiven Anschauung seiner Zeit von dem Wesen
der Ohrgeräusche gestellt hat, verdankt er, daß ihm — wohl nicht
mit vollem Recht — geschichtlich die Priorität der operativen Eröffnung
des Warzenfortsatzes zugeschrieben wird. Es sollte aber noch geraume
Zeit vergehen, bis die Indikationen dieser wichtigen Operation auf patho-
logisch-anatomischer Grundlage sichergestellt wurden. Der Vorschlag
Riolans, den Hipterkopf bei Eiteransammlung anzubohren, ein Eingriff,
Ulis dem keine größere Gefahr erwachse, dürfte mit der Operation am
Warzenfortsatze in keinem Zusammenhange stehen, da er anstatt des
von ihm öfters gebrauchten ^niastoidis apophysis** hier ausdrücklich die
Üperationsstelle als „posticara capitis partem*' bezeichnet^).
') 1. ('. Lib. IV, Caj». 4. Consideratio medica. p. 288—291.
^j In naturali surditate a conformationis vitio non ab bis causis commemoratis
(ontracta: An tf^ntandum istud experimentiim quod inopinato et feliciter successit
Ri viere. 217
cuidam, qui intruso auriscalpio in Aurem profuDdissime, disrupit tympanum fregitque
Ossicula, et postea andivit. 1. c. p. 290.
') An in tinnitu perforanda mastoidis Apophyras, ut detur exitus spiritibu»
tumultuantibus ? ibidem.
*) Si dolor iniolerabilifl inflammatorius et pulsatorius partes posticas occupetr
fluxerit materia, et postea substiterit remanente dolore» tutum erit aperire terebra
posticam capitis partem in occipitio, ut detur exitus puri, cum nullum ex ea opera-
tione periculam majus impendeat. 1. c. p. 290 u. 291.
Lazare Riviere (Riverius), 1589 — 1655, Professor der praktischen
Medizin in Montpellier, steht mit seinem Werke „Praxeos medicae
libri XVII** *) noch mitten im arabischen mittelalterlichen Mystizismus,
wofür insbesondere das 3. Buch **) einen schlagenden Beweis liefert.
Zu Beginn des 1. Kapitels, in dem er über Taubheit und Schwer-
hörigkeit (De surditate et gravi auditu) spricht, streift Riverius mit
einigen Worten auch die Frage der Taubstummheit. Er behauptet
Yör allem, daß die Taubgebornen auch stumm sein müßten; doch bestehe
außerdem immer noch irgend ein Fehler im Sprechorgan, da sie sonst
irgend einen artikulierten Laut von sich gäben (aliquam vocem articu-
latam ex naturali instinctu ederent). Wenn man nämlich Tiere von
Geburt an von anderen Tieren derselben Spezies fernhält, so bringen
diese trotz ihrer Isolierung die ihrer Spezies entsprechenden Laute
(vocem sibi connaturalem) hervor, was bei taubgeborenen Menschen, die
die menschliche Stimme nicht hören konnten, nicht der Fall sei. Dieser
Fehler rühre von Feuchtigkeit (ab humiditate) her, die jene Nerven
befalle, die gleichzeitig zum Ohre und zum Kehlkopf (ad aures, linguam
et laryngem) zögen. Taubheit und Schwerhörigkeit entstehe entweder
durch Hirnerkrankungen oder durch lokale Ohraifektionen. Bei Hirn-
affektion wird als Ursache der Taubheit angeführt: temperies frigida
aut repletio, aut imbecillitas , und außerdem Läsionen im Bereiche des
Ursprungs des Hörnerven oder seines Verlaufes. Daß die Taubheit vom
Gehirn ausgehe, könne man daran erkennen, daß gleichzeitig auch andere
Sinnesorgane affiziert erscheinen. Taubheit infolge einer Ohraffektion
ki^nn verursacht werden durch Erkrankung des äußeren oder des inneren
Ohres. Bei Besprechung der Krankheiten des äußeren Ohres hebt
Riverius hervor, daß unvollkommene oder auch vollkommene Atresie
des äußeren Gehörganges nicht Taubheit, sondern nur Schwerhörigkeit
hervorrufe, da die Töne auch durch den Mund auf dem Wege der Tuba
Eustachii zu den Ohren gelangen könnten ^).
Anderseits wieder behauptet Riverius, ein Riß im Trommelfell
oder eine in diesem zurückgebliebene Narbe habe unheilbare Taubheit
*) Hagae-Comitis 1664.
♦*) L c. p. 185—209. Cap. 1—4.
218 De le Bo«* Sylvius.
zur Folge (Membrana tympani rupta, vel cicatrix in illa relicta incura-
bilem surditatem efficit). Im übrigen bekennt Riverius often, daß die
Ohrerkrankungen oft schwer zu diagnostizieren sind, und daß man die
Ursache oft erraten müsse *).
Die therapeutischen Angaben des Riverius enthalten nichts
Neues. Er empfiehlt mit klebenden Stoffen umwickelte Sonden zum
Ausziehen von Fremdkörpern, Niesmittel etc. Er will femer Flöhe
durch Hundehaare entfernen (ob sympathiam, quam habent pulices cum
canibus), ins Ohr geratene Blutegel durch Eingießen von Blut hervor-
locken. Er wendet eine Gruppe von Mitteln an, um Insekten und
Würmer hervorzulocken, wie mit Zucker versetzte Milch, das Mark eines
süßen Apfels, ein Stückchen Speck etc.
Gegen Schwerhörigkeit und Taubheit infolge •intemperies frigida**
rühmt er unter anderem Schwefelbäder und Dünste schwefelhaltiger Wässer,
da diese angeblich die Kraft besäßen, einerseits das Gehirn zu stärken
und auszutrocknen, anderseits den im Ohr stockenden Eiter zu zerteilen
und aufzulösen. Diese Methode empfiehlt ein gewisser Penotus, der
sie auf folgende Weise durchgeführt hat. Der Körper des Patienten
wird zuerst durch Purgativa gereinigt, hierauf wird aus großen Bade-
schwämmen eine Mütze geformt, die man dem Patienten so auf den Kopf
setzt, daß sie die Ohren ])edeckt und bis zu den Augenbrauen reicht.
Dann läßt man vermittels einer Röhre 2 Stunden hindurch und zwar
täglich zweimal warmes schwefelhaltiges Wasser auf die Mütze strömen,
bringt nach dieser Prozedur den Kranken sofort in ein Bett, damit er
türlitig in Schweiß komme und verordnet eine verdünnende Diät*).
Endlich sei noch mitgeteilt, daß Riverius von schweren Nachteilen
berichtet, die das Einführen von Opium ins Ohr nach sich zieht.
') Advi'rtendiuii tainon est. meatus exterioris obturationem, integram et abso-
liitaiii sunlitatcm nun posse efticore, sed tantum gravem auditam; quandoquidem
per OS etiam soni ad aures deferri possunt,
-) IIa» omnes caiisas per propria a'igmi dia^nostica sigillaiim distinguere diffi-
cilliinum est, arte tarnen et conjectiira in hunc modum elucidari possunt.
De le Boe Sylvius, dessen Leistungen auf experimentellem Gebiete
früher (S. 17i>) erwähnt wurden, der das Wesen der Krankheiten aus
chemischen Prinzipion zu erklären versuchte und das vielfach augefeindete
Sy<t«jin der Chemijitrie scliuf, hat in seinem umfangreichen medizinischen
Werke ^Optfni niedicii" ■ ■;) der Pathologie und Therapie der Ohr-
orkrankiniu'en einen kurzen Abschnitt gewidmet. Wir entnehmen ihm
F(dii"eiide<:
1 Willi aii< li von T. i n c k e zitiert. Hd. II. S. 4.*».
: Ain-tflo'l.iiiii l<»>:i). Tnixtv-s M^'dicao Lib. II. Cap. 8, p. 404, De praecipnis
.mditii- lae.-'ionilius.
Tafel XII
De le Boe Sylviu<>. Zacutus Lusitanus. 219
Sylvius unterscheidet eine angeborene und erworbene Taubheit.
Die Ursache der erworbenen Taubheit liege entweder im äußeren
Ohr, das durch „sordes" oder andere Dinge verstopft werden könne,
oder im inneren Ohr, wo bisweilen ein „Apostema** vorhanden sei,
oder im Trommelfell, das infolge eines heftigen Geräusches zerreiße,
ferner durch ein ins Ohr gestoßenes spitzes Instrument oder auch durch
ein Apostem arrodiert werden könne, endlich im Hörnerven, wenn er
austrockne oder durch einen Tumor oder Flüssigkeit komprimiert werde.
Er meint ferner, daß bei Apoplexie und ähnlichen soporösen AflFektionen
(in Apoplexia, Caro, aliisque similibus aflfectibus soporosis) Taubheit
durch erstarrte und unbewegliche Lebensgeister (a Spiritibus animalibus
torpidis ac immobilibus) erzeugt werde. Endlich bemerkt er, daß auch
bei Gehimverletzungen und -Erschütterungen Taubheit entstehe. Was
die Schwerhörigkeit anbelangt, so sei sie durch dieselben, jedoch in
leichterer Form auftretenden Schädlichkeiten bedingt, wie die Taubheit,
überdies noch durch Katarrhe, die sich auf das Ohr beschränken oder
auch den ganzen Kopf ergreifen. Eine besondere Schärfe des Gehörs
(auditus auctus) rechnet er ebenfalls zu den Erkrankungen des Gehör-
organes, weil die Menschen dann einen leichten, sehr oft unterbrochenen
Schlaf haben. Die Verschlechterung des Gehörs (auditus depravatio)
bestehe in Hörtäuschungen und subjektiven Geräuschen. Die Lokal-
behandlung der Ohrkrankheiten ist ebenso kompliziert wie die seiner
Vorgänger. Wenn der von seinen Zeitgenossen gefeierte Kliniker zum
Schlüsse seiner dürftigen Ausführungen das ätiologische Moment bei
Behandlung von Ohrkrankheiten besonders betont, indem er darauf hin-
weist, daß jede von philosophischen Grundsätzen ausgehende rationelle
Heilmethode auf genauer Auffindung aller Ursachen basieren müsse, so
ist es Sylvius doch nicht gelungen, diesem hohen Ziele nahe zu kommen,
geschweige denn es zu erreichen; fehlten hierzu ja noch alle Voraus-
setzungen, vor allem eine gründliche Kenntnis der Ohrerkrankungen selbst.
Abraham Zacuto (bekannt unter dem Namen Zacutus Lusitanus,
157.5 — 1642), ein jüdischer Arzt aus Portugal, der in Amsterdam praktizierte und
auch als mediko-bistorischer Schriftsteller Erwähnun«^ verdient, teilt in seinen Werken^)
einige Beobachtungen über Obrerkrankungen mit, von denen wir nur folgende er-
wähnen: Bei einem jungen Manne, der seit längerer Zeit an Taubheit litt, will er
bemerkt haben ; daß durch ein Geschwür, welches sich am Ohrläppchen entwickelt
hatte, das Gehör gebessert wurde. Auf diese Beobachtung hin empfahl Zacutus
bei veralteter Taubheit das Anlegen von Fontanellen am Ohrläppchen. Femer
erzählt er, daß ein Kurpfuscher (pseudomedicus) einem an Ohrenentzündung leidenden
*) De medicorum principum historia: libri sex Lugd. Bat. 1657. Lib. 1, Hist.
59—61, Obs. 44, p. 98 — 101. — Lincke, Bd. II, S. 45 zitiert ferner: Praxis medica
admiranda. Lib. I, Obs. 66 — 70. — Prax. histor. Lib. I, Cap. 14, Lib. HI, Cap. 7.
220 Daniel Sennert.
Patienten Opium ins Ohr steckte, wodurch dieser sich wohl einige Zeit erleichtert
fühlte, bald aber unter Schwindelanfällen, Bewußtlosigkeit und Konvulsionen starb.
Daniel Sennert. Dem sonst verdienstvollen Wittenberger üni-
versitätsprofessor Daniel Sennert (1572 — 1637), dem seine Zeitgenossen
den Titel eines deutschen Galen verliehen, hat die Otologie nur wenig
Förderung zu danken. Was er in seinen Arbeiten über das Gehörorgan
sagt, findet sich rait geringen Varianten fast in allen medizinischen
Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich mit dem Gehörorgan
befassen. Wir beschränken uns daher auf die Skizzierung einiger halb-
wegs origineller Ansichten über Physiologie und Pathologie des Ohres.
Eine kurze anatomische Beschreibung des Gehörorgans, die viel
zu wünschen übrig läßt, findet sich im Lib. VIU, Cap. 2, „De corpore
humano"*) und im Lib. I der „Institutionum medicinae"^ Cap. 12, „De
sensibus externis'' **). Aus eigenen Sektionen dürfte Sennert kaum
die Anatomie des Gehörorgans gekannt haben. Was er hier mitteilt, ist
ausführlicher und präziser in den Schriften der früheren und zeitgenössi-
schen Anatomen enthalten, denen er seine dürftigen Angaben zweifels-
ohne entlehnt hat.
Im Lib. VII. der Epitome naturalis scientiae, Cap. III., „De
auditu *****) bespricht Sennert die Physiologie des Hörens. Nach
einer kurzen, uninteressanten Auseinandersetzung über das Objekt des
Hörens, den Ton (sonus) und das Medium des Tones (a6r et aqua), kommt
er auf den „aer ingenitus" zu sprechen, und bemerkt hier, daß einige
neuere Forscher diesen in Abrede stellen, weil ein Sinnesorgan ein be-
lebter Teil sein müsse (cum sensionis Organum pars similaris animata
esse debeat), und als hauptsächlichstes Hörinstrument einen im inneren
Ohr ausgebreiteten Nerven ansehen (et principale auditus instrumentum
Nervum quendam in aure expausum esse sentiunt). Sicherlich, fügt
Sennert hierzu, sei die neuere Ansicht der älteren vorzuziehen (et certe
prior opinio liuic postponenda est).
Im Lib. II. der -Institutionum medicinae", Part. III., Sect. II„ Cap. 3)
endlich behandelt er die Pathologie des Ohres. In dem Abschnitte
^De causis laesi Auditus" werden als Ursachen der Schwerhörigkeit an-
(j^ec^eben: Mangel der Ohrmuschel, Verschluß des äußeren Gehörganges,
Erkrankungen des Trommelfells verschiedenster Art, Fehler in der Be-
s( biitl'enheit der Zusammensetzung des „aer implantatus", Flüssigkeit, die
vom (lehirn hera)>fiießt und die Gänge des Gehörorgans erfüllt.
In weitschweifiger Weise werden die Ohraffektionen zusammen-
?-^>'
) 1. c. p. 121.
'') l. c. p. 2.S8.
Danielis Senne rti Opera oninia, Parisiis 1641, p. 101.
Konr. Vikt. Schneider. 221
hängend in seiner ^Practicae medicinae lib. primus de capitis et sensuum
cum intemorum tum externorum motusque spontanei afFectionibus*,
Pars ni. , Sect. III., De aurium morbis ac symptomatibus , Cap. 1 — 9,
p. 330 — 344, dargestellt. Der Inhalt läßt kaum einen Foi-tschritt gegen-
über seinen Vorgängern erkennen ; die Öhrkrankheiten werden noch gani
im Geiste der mittelalterlichen Schriftsteller abgehandelt und zeigen
höchstens Originalität in der Anführung und Anpreisung mehr oder
minder obsoleter Mittel. Würmer des Ohres möge man mit Schwefel-
dampf töten und beim Räuchern des Ohres möge der Patient Bohnen
oder Erbsen kauen, um den Gehörgang zu erweitern und so das Ein-
strömen des Dampfes zu erleichtern.
Dauernde subjektive Geräusche entstehen nach Sennert aus der
UeberfüUung der kleinen ins Ohr gehenden Arterien mit warmem Spiritus
und einer dadurch hervorgerufenen Pulsation, welche der gleicht, die
man bei einem Aneurysma mit dem aufgelegten Finger empfindet. Die
Ursache der Taubheit liege entweder in den Lebensgeistern oder
im Hörnerv oder auch im Gehörorgan selbst. Werde im Gehirn kein
Lebensgeist produziert oder könne er nicht in den Hömerv einströmen,
so entstehe Taubheit und auch die anderen Sinne litten darunter.
Dieselbe Wirkung werde ferner hervorgerufen, wenn die Lebensgeister
eine qualitativ und quantitativ fehlerhafte Zusammensetzung hätten.
Bei Greisen habe die Taubheit ihre Ursache in dem Ueberfließen von
Schleim aus dem Gehirn durch den porus acusticus internus ins Ohr.
Entstehe aber die Schwerhörigkeit nach einem heftigen Schall, so sei
der Gehörnerv verletzt oder die Lebensgeister vertrieben worden.
In einem der Kinderheilkunde gewidmeten Traktat seines Werkes
(De infantum curatione tractatus) findet sich auch ein kurzer Hinweis
auf die bei Kindern häufig vorkommenden Ohrerkrankungen. (Cap. 12,
De Aurium dolore, inflammatione , humiditate, ulceribus et vermibus,
p. 707.) Daß er die Ohrenflüsse der Kinder auf ein bei diesen „maxime
humidum cerebrum*" zurückführt, beweist nur, wie wenig er sich von
den alten Galenschen Anschauungen emanzipieren konnte. Schließlich
wäre noch hervorzuheben, daß Sennert auf das leichte Entstehen einer
Labyrintherkrankung bei Ohrenflüssen dunkel hinweist, indem er sagt,
daß durch die Ohrenflüsse die Knochen des Ohres, vor allem die spon-
giösen und kavernösen Räume ergriflen und kariös werden, und daß,
falls nicht bald Heilung eintritt, unheilbare Taubheit die Folge ist*).
Konrad Viktor Schneider. Größere Förderung als von seinen
Zeitgenossen erfuhr die Otiatrie durch Konr ad Viktor Schneider
*) Insaper ex continuo humorum adfluxu et sordibus ulceris latius serpentisS
tandem aurinm ossa, et praecipue spongiosa et cavernosa illa, corrumpimtur et
cariosa eradnnty et nisi temporis progressu ulcus sanetur incurabilis surditas inde oritur.
222 Ifonr. Vikt. Schneider.
(1614 — 1680), dessen rationelle Therapie sich wesentlich von der seiner
Vorgänger unterscheidet. Seinem berühmten Werke: «Liber de Gatarrhis,
Vittebergae 1661**, dessen Klarheit, Gründlichkeit und alles umfassende
Gelehrsamkeit von Sprengel rühmend hervorgehoben wird, gebührt das
unbestrittene Verdienst, mit dem tief eingewurzelten Irrtum, daß Nasen-
schleim und Cerumen*) Exkremente des Gehirns seien, endgültig auf-
geräumt zu haben. Ausgerüstet mit allen damals bereits vorhandenen
anatomischen, physiologischen und pathologischen Hilfsmitteln erbringt
Schneider den wichtigen Nachweis, daß die alte Annahme der G ale-
nisten, die Katarrhe stiegen aus dem Gehirn**) herab, vollkommen
falsch war. Er zeigt, daß die Ohrenflüsse unmittelbar aus den Ohren
kommen, und verurteilt die von alters her gebräuchlichen Einspritzungen.
Aus der umfangreichen Arbeit, die sich infolge ihrer Weit-
schweifigkeit und geringen TJebersichtlichkeit nicht leicht liest, wollen
wir die Stellen, an denen er das Gehörorgan erwähnt, in Kürze be-
sprechen.
Das fünfte Kapitel des dritten Buches beginnt Schneider mit
einer Polemik gegen Mercatus und Argenterius, welche die „sordes
aurium" für ein Exkrement des Gehirns halten. Er bestreitet auch die
Möglichkeit der Annahme des Casserio, daß die sordes aurium aus dem
Gehirn den überschüssigen Salzgehalt aufnehmen. Einige Autoren wie
Ingrassia und Paracelsus hätten wohl behauptet, daß Ceruminalsekret
und Schleim (aurium sordes propria aurium excrementa) Ausscheidungen
des Gehörorgans wären, doch seien die Angaben dieser Autoren zu wenig
präzis gegenüber der entschiedenen, auf anatomischer und klinischer Be-
obachtung basierenden Angabe Schneiders, daß die normalen und
pathologischen Sekrete im Gehörorgan aus den Blutgefäßen geliefert
werden M.
Schneider bestreitet ferner die Möglichkeit, daß Transsudationen,
Eiter und andere Absonderungen (pus et sordes) durch das intakte
Trommelfell durchdringen könnten. Hingegen glaubt er irrtümlicherweise,
die post mortem so häufig vorgefundene seröse Flüssigkeit in der Trommel-
höhle sei als Produkt eines Mittelohrkatarrhs anzusehen. Wir wissen
jetzt, daß solche Transsudate zuweilen in den letzten Lebensstunden
erf'olt^en.
All seiner Ueberzeugung, wonach alles, was aus den Ohren fließe.
nicht vom Gehirn stammen könne, hält Schneider so fest, daß er bei
rlor Hcs])rcchung eines von Isaak Cattierius erwähnten Falles einer
Scliiidclbasisfraktnr mit Ausfluß einer großen Menge seröser Flüssigkeit
) Auriuii» sordes ex sani^uine per vasa aurium. Lib. III, Cap. 10, p, 387.
' M Matfriii C'atarrhorum non est excrementum Cerebri. Lib. III, Cap. 5. p. U»S.
Michael Ettmüller. 223
aus Nase und Ohren (Cerebrospinalflüssigkeit) die Behauptung aufstellt,
der reichliche seröse Ausfluß entstehe durch Ausscheidung der Blut-
gefäße ^).
Mit diesem Fall stellt er irrtümlich einen anderen von Senner t
zitierten in eine Parallele, bei dem es sich um eine starke seröse Ex-
sudation in der Trommelhöhle handelt.
Im zehnten Kapitel des vierten Buches bekämpft Schneider die
bis dahin gangbare Ansicht, daß man vom Gehörorgan aus auf das
Gehirn einwirken könne (ab auribus ad Cerebrum viam ferre) und ver-
wirft die bei Himerkrankungen , bei Mittelohrkatarrhen und Otalgien
empfohlenen Einträufelungen von Oelen, besonders des Ol. terebinthinae.
') Aurium partes sunt ossa temporum, tria illa ossicula, membranae intus
reconditae et membrana Tympanum cognominata , musculus ille minimus, nervus,
chorda. Hae ex nutritione tarn acre et tarn multum excrementum tarn indesinenter
ezigere non posse videntur. Sunt etiam perexiguae partes et admodum siccae.
*) Hie humor de sanguine venit, qui sanguinis missione refractus fuit. Minime
vero ille Ichor per corpus Cerebri defluxit.
Michael Ettmüller, Professor der Medizin in Leipzig (1G44— 1683),
ein eifriger Anhänger der Chemiatrie, beschäftigt sich in eingehender
Weise mit den Erkrankungen des Ohres. In seinen von seinen Schülern
veröifentlichten Schriften „Michaelis Ettmülleri opera omnia, Venetiis
1734** findet sich nahezu alles wiederholt, was seine Vorgänger bereits
weitläufig ausgeführt haben. Originelle Ideen vermissen wir in dem
Werke gänzlich.
Von Erkrankungen nennt er „Entzündung und Geschwür der
Ohren** *), „Gehörstörungen* ') und „Ohrschmerz*' '0. Er erwähnt einen
von Bartholinus überlieferten interessanten Fall, bei dem sich im
eitrigen Ohrenausflusse ein Zahn vorfand, ohne daß ein solcher, wie er
hervorhebt, im Oberkiefer fehlte*). Er stellt in Abrede, daß eine
Sekretion in der Trommelhöhle ohne gleichzeitige Hörstörung bestehen
könne ^). Er empfiehlt, Ohrenflüsse besonders bei Kindern nicht zu früh
zur Heilung zu bringen und bloß den äußeren Gehörgang rein zu halten,
was er merkwürdigerweise am besten durch menschlichen Urin erreichen
will ^). Eine Linderung des Ohrenschmerzes erwartet er durch Einblasen
von Tabakrauch mit einer Röhre, ebenso durch Anwendung des aus nicht
weniger als 21 Ingredienzien bestehenden „spiritus Otalgicus*" des Chi-
rurgen Paul Bar bette. Schwerhörigkeit und Taubheit werden seiner
Ansicht nach durch Erkrankungen der Ohrmuschel, des äußeren Gehör-
ganges, des Trommelfells und des Hörnerven bedingt. Er erwähnt als
eigene Beobachtung spastische Krämpfe der Muskeln der Gehörknöchel-
chen, durch die das Trommelfell übermäßig gespannt von den Luft-
schwingungen nicht aus seiner Ruhelage gebracht werden kann. Dieser
Ant. Nuck. M. G. Purmann. 225
3) ibid. Cap. 3, Art. 6, p. 1395—1399.
*) Mirabile Inflammationis Auris Ezemplum est, quocl Bartholinus cent. 3,
Epist. 17, p. 67 refert, in abscessu aurium erumpens pus et vehens simul secum
dentem, sine defectu dentis ullius in Maxillis. 1. c. p. 1102 (offenbar ein fremder Zahn).
') Caeterum quod dicat, Tympani hanc excretionem observatam fuisse citra
auditus laesionem, dubito, et suspendo hac in parte judiciani. ibid.
^) Sufficit, si modo mundus servetur Meatus auditorius, id quod optima mediante
urina humana assequimur. p. 1104.
') Journal de Scavans Ann. 1668. Acta Societ. Reg. Vol. I, p. 705.
Die Chirurgie der Ohraffektionen am Ende des 17. Jahrhunderts
weist kaum einen Fortschritt gegen Pare und Fabricius Hildanus
auf. Die chirurgischen Eingriflfe beschränken sich noch immer auf die
Extraktion von Fremdkörpern und Polypen.
Antonius Nuck (1650 — 1692), der sich durch seine Untersuchungen
über die Lymphgefäße und Drüsen des menschlichen Körpers besonders
verdient gemacht hat, gibt in seinen „Operationes et experimenta chi-
rurgica**, Lugd. Batavor. 1696, in einem kurzen Abriß ^de aürium
Chirurgia" (p. 50) einige nützliche Winke über Extraktion von Fremd-
körpern. Vor allem soll der Gehörgang mit dem Speculum auris
von Solingen erweitert werden. Am besten werden verschiedenartige
Haken zur Extraktion verwendet. Das von anderen Autoren empfohlene
Anbohren des Fremdkörpers mit einem Bohrer (Terebellum) behufs
Extraktion verwirft er, weil dabei das Trommelfell verletzt werden
kann. Zur Entfernung von Insekten aus dem Ohre bedient er sich
einer Sonde, die mit einem in Terpentinharz getränkten Schwämmchen
armiert ist.
Granulationen und Polypen im äußeren Gehörgange sind mit
Messer oder Schlinge abzutragen. Scharfe Aetzmittel sind wegen der
Gefahr einer Schädigung des Trommelfells zu vermeiden.
Bisweilen wird der Gehörgang durch eine einem ausgespannten
Segel ähnliche Membran verschlossen. Befindet sich diese in der Nähe
des Trommelfells, so unterlasse man jeden operativen EingriflF.
Schließlich empfiehlt er für hochgradige Schwerhörigkeit, gegen die
sich die medikamentöse Behandlung als wirkungslos erweist, ein mehr-
fach gewundenes, metallenes Höhrrohr (Tuba sonorifera seu acovistica),
welches er auch abbildet.
Matth. Qottfr. Purmann (1648—1721), dessen in deutscher Sprache
geschriebenes Werk*) zu Anfang des 18. Jahrhunderts erschien, berichtet
(p. 62) über Anheilung einer fast ganz abgehauenen Ohrmuschel, deren
Wundflächen zuerst „geritzet", dann mit einem Heftpulver (bestehend
*) Matth. Gottfr. Purmanni. Großer und neugewundener Lorbeerkranz.
Frankfurt und Leipzig 1722.
Politser, Geschichte der Ohreuheilkunde. I 15
Joh. Jak. Wepfer.
aus PuIt. rad. consol., Gummi arabic, Tragakant und Sarkokoll) bestreut
und mit Heftpflaster befestigt wurden.
Granulationen (Fleischf^ewäcbse) , die nach „übeler Heilung der
Aposthemen in den inneren Üb ren höhle n " entsteben, sind gut .auszu-
trocknen", weil sie sonst zur Atresie des Gehörgangs führen können.
Purmann wiederholt hier die Angaben Parös. Desgleichen werden
in Bezug auf den Ersatz verloren gegangener Obmiuschelteile die Vor-
schriften Tagliacozzis und Pares wiedergegeben.
In dem Kapitel ,Von den Gewächsen, so sich gemeiniglich in den
Ohren und am Halse finden lassen' (p. 251) schildert er neben zwei
anderen Fällen eine 1685 ausgeführte Polypenoperation bei einem 19jäh-
rigen Mädchen „sanguinischer Komplexiou", die sich ,rait selbigem
Leiden seit 4 Jahren gesebleppet* (Fig. 10). Die nach der Methode
des Fabricius Hildanus aus-
geführte .UnterknüpfuLg" wurde
„^Morgen nach einander' wieder-
holt, bis der Polyp „gleichsam
abstarb'. Als Purmann im Be-
griff war, die Wurzel des Ge-
wächses „Buszureuten', vergriff
sich sein „Geselle in der Arznei'
und ließ ihr einige Tropfen von
„Aqua fortis' (Scheidewasser)
ins Ohr fallen, worauf heftige
Schmerzen, Hitze und Konvul-
sionen eintraten. Nach sechs-
tägiger Behandlung schwaaden
die beunruhigenden Symptoraö
und Purmann fand, daß auch
die Wurzel des Polypen jetzt
ganz „ausgereutef war.
Als Beispiel der kompli-
zierten Therapie jener Zeit möge
das folgende zur Beseitigung des Ohrenflusses empfohlene „Trucken-
pulver' dienen. Rec. Lithargyr. Coct. ünc. ss. Tutiae ppt. Ceruss. lot, aa.
Drachm. V. Lap. Calaminar. ppt. Drachm. ij. Rad. Aristoloch. long.
Bryon. Serpentar. aa. Drachm. üj. Fol. Persicar. Theae ää. Drachm. ijss,
Flor, zinci Unc. ss. Croci metallor. Scrup. ij. M, F. ad subtilisst. pulv. S. &c.
Johann Jakob Wepfer, ein beryorragender Schweizer Arzt des
17. Jahrhunderts (1620 — h)9'^). der sich um die pathologische Anatomie
mehrerer Krankheiten (Apoplexie) große Verdienste erworben hat, berührt
in seinen „Observationes medicopracticae de affectibus capitis internis et
Fig. 10. Reproduktion der Abbildung eiaes
Ohrpoljpen aiia dem zitierten Werke M.
Joh. Jak. Wepfer. 227
externis**) auch otiatrisches Gebiet. Fa die beireffenden Kranken-
geschichten nur Unwesentliches enthalten, können wir auf deren Ana-
lyse verzichten. Subjektive Geräusche beobachtete er außer bei
Ohraffektionen auch bei Hemikranie (Obs. LV., p. 149), bei «obtusio
capitis*" (Obs. LXL, p. 186 u. 191), bei Schwindel (Vertigo gyrosa et
titubans, Öbs. LXX., p. 230)**), bei hysterischen Krämpfen (motus
convulsivi cum Clavo hysterico, Obs. CXVIIL, p. 549); Ohrensausen
bei Ohrerkrankungen versucht er aus irgend einem Hindernis (Cerumen,
Sekrete, Tubenverschluß etc.) der Luftströmung aus dem Ohre zu er-
klären, wie sich leicht beweisen lasse, wenn man beispielsweise das
normale Ohr mit dem Finger verschließe oder ein Trinkglas vorhalte,
so vernehme man deutlich ein Brausen, während jemand, der an sub-
jektiven Geräuschen leide, bei diesem Versuche kein neues Geräusch
(Obs. CLXXXVI., p. 882) wahrnimmt. Ebenso kompliziert wie irrationell
ist seine Therapie; so empfiehlt er gegen den „tinnitus aurium* starke
Geräusche, z. B. das Zusammenschlagen zweier Steine, wodurch das Ab-
fließen der das Sausen bedingenden serösen Flüssigkeit aus dem Ohre
erzielt werde (Obs. LH., p. 141).
Außer den im Texte angeführten Autoren sind noch folgende, unwesentliche
Details enthaltende Schriften des 17. Jahrhunderts zu erwähnen.
Nicol. Henelius, Otium Wratislaviense. Jenae 1658, Cap. 17. Aurium
nariumque resectio.
Histoire de TAcademie Royale des Sciences depuis son etablissement en
1666 jusqu'ä 1686. Tom. 1, annee 1684, p. 395. Sur l'O r g a n e de To u i e.
Paris 1733.
Hyac. Jordanus, Theorica medicinae S. Thomae etc. Physiologiae par-
ticula 4 anatomica articulata 10. De auribus. Neapoli 1643.
Francis cus Junius, De pictura Veterum. Lib. III, Cap. 9, § 12. Aures
mediocres optimae. Roterodami 1694.
Jos. Langius, Florilegium verbo Auditus et audire p. 71. Argen-
torati 1662.
Fortun. Licetus, De Aristot. libro de admirandis auditionibus etc.
Cap. 28, 29. 30, 31. ütini 1646.
Pietro Mengoli, Speculationi di Musica. Specul. 1, Descrizione dell*
orecchjo, e Specul. 3 et 4. deir udito. Bologna 1670.
Dan. Georg Morhofius, Dissertationes variae etc. Diss. XI. De paradoxis
gensaiim. Cap. 3. De paradoxis auditus. Hamburgi 1699.
Nicol. Nancelius, Analogia Microcosmi etc. Lib. III, Part. 2, Cap. 2. De
auditu et aaribns. Parisiis 1629.
HonoratuB Nicquetius, Physiognomia. Lugduni 1648. Lib. II, Cap. 11.
De AuribuB.
*) HerauBgegeben von den Enkeln Bernhard und Georg Michael Wepfer,
Scbaffhansen 1727.
♦*) Das Werk Wepfers ist in der älteren Literatur die beste Quelle für den
.Schwindel* als Symptom bei den verschiedenartigsten Erkrankungen.
*J2S Zur otologiscben Literatar des 17. Jahrhunderts.
Joh. Fried r. Ortlob, Hiätoria partium et. oeconom. homin. Diss. 29. De
Audi tu. Lipsiae 1697.
Emilio Parisano, Nobilium ezercitationum. Lib. XII. De subtilitate micro-
Cüsinica etc. Venetiis 1623. Lib. II. DeAuditusorgano.
Alessandro Pascoli, De Corpore humano. Tom. III, Sect. 1, Cap. 3. De
Auribus. Romae 1718.
Francesco Pietri. Problemi Accademici. Problema 50, quäl sia di maggior
. senso o potenza, rocchio o rorecchio. Napoli 1642.
Meissner. Diss. de auditu eiusque vitiis. Pragae 1690.
^ch rader. Diss. de audit. gravitate. Heimst. 1694.
Nyramanus, Diss. de gravi auditu et surditate. 1694.
The od. Grammaeus, De morb. oculor. et aurium. Venet. 1601.
Joann. Wolff, Diss. in Galeni libros de affectibus aurium. Helmstadii 1619.
In exercitationib. semioticis ad Claud. Galeni libros de locis affectis. Helmstadii 1620.
Monjotii, Diss. de bombis aurium. App. ad bist. febr. malign. Paris 1622.
Alsarius a Cruce, Consultatio pro nobili adolescentulo, oblivione, surdi-
tato et obauditione laborante. Rom 1629.
Zeidler, Diss. de aurium tinnitu. Lips. 1630.
Deusing, Diss. de surdis ab ortu. Groening. 1660.
Warenius, Diss. de catarrho et ex eo descendente otalgia etc.
Ho.ttook 1663.
Hrotbeck, Diss. de inflammatione aurium. Tubing. 1667.
Joann. Theod. Schenck, Diss. de tinnitu aurium. Jenae 1667.
Steudner, Diss. de auditus diminutione et abolitione. Lugd.
hatav. 1669.
8creta a Zavorziz, Diss. de hiesa auditione. Basil. 1671.
Hud. Guil. Crausius, Diss. de tinnitu aurium. Jenae 1681.
Woigelii, Diss. de auditu laeso. Basil. 1593.
Jakob Alting, Academicae dissertationes. Groningae 1671. p]ptad. 2, Diss. 6.
|)»» pori'orationr aurium, memorata psalm. 40, vers. 7.
KiJinciMcuH Haronius, De Corpore etc. Panormi 1664, Tit. 12. De
A II i'i IniM.
Joli. CliriHi. Beckmann, Historia Orbis terrarum etc. Francofurti 1865.
Cup. l», Sort. 2, Nnni. 8. De otomegalis, hoc est gentibus habentibus patulas et
iiiii^iiii^ II II rr H.
rolniN linrohorius, Keductorium morale utriusque Testamenti. Coloniae
{Wr* hil. II. Cap. 10. De Auribus.
CIhimIo (Juillcrmet de Beauregard (Berigardus 1578—1663), Circuli
l'iMMtti In Lil.. AriHtotrl. de Anima etc. Utini 1643. Circ. 15. De auditu.
liMMliiin MiMriola. Horarum subsecio. Coloniae 1618. Tom. II, Lib. 7, Cap. 4.
A II I MHii ••! iMuilurinii pracstantia.
riilllpp Monaunus. Recreatio mentis et oculi, probl. 30. Romae 1684.
I «I , lloj«i'i»ati(» Orulorum probl. 25, de Testaceis cur caveant auditu. Romae ICS-l.
'Hn llnnifarrio, I/arte deicenni. Vicenza 1616. Part. I, Fol. 238. De^-li
hl !• ' I* )l ).
lull I' I mir im- II s Hononnius, Chiron Achillis, hoc est Emblemata, qiio-
fiMM 1- I'mIIm^ ,,m,, |,.mi,mte, Folles linguarum aures contra maledicentiam aus-
M(Milllli'> Miiiintiiiio \{\{\\.
l''Miipnii r„i,„o (ir)<;8— 1631), Deir Ingegno umano. Venezia 1629. Lib. I.
Zur otologischen Literatur des 17. Jahrhunderts. 229
Ludovic. Cresolius, Vacationes autumnales. Lutetiae 1620. De actione
orator. Lib. II, Cap. 6. Deauribus. •
Honoratus Fabrus, De homine. Parisiis 1666. Lib. II, propos. 57. De
auditus 0 rgano.
Filippo Finella, Fisonomia. Napoli 1625. Cap. 10. DelT Orecchie.
Jo. Arnold. Fridericus, De aure. Jenae 1670. Responsio Jo. Guil. Eichron.
Georg Funcius, Satyr, medica, continuat. 10. De Auribus humanis
mobilibus. Responsio Dan-Pitz. Heidelbergae 1616.
Cornelio Ghirardelli, Cefalogia Fisonomica. Bologna 1670. De IT
O r e c c h i e.
Martin Hartman, Diss. sub Praes. Schenckio, de tinnitu aurium.
Jenae 1669.
Jo. Bapt. Cord. Ptolomaeus, Philosophia mentis et sensuum, physic.
particularis de corpore animato. Augustae Vindelicorum 1698. Diss. 12, p. 611.
De Audi tu.
Recueil desQuestionset Conferences du Bureau etc. Paris 1655. Tom. 4,
Num. 28, Fol. 231. Du tintement d'oreille.
Pierre Silvain Regis, Cours entier de Philosophie selon les principes de
Mr. Descart^s tom. 3, de la Physique, livr. 8, part. 2, ehap. 6, de Touie et des
causes physiques de ses fonctions et chap. 7 , de TO r g a n e i m m e d i a t de To u i e.
Amsterdam 1691.
Gasp. Schottus, Magia universalis Naturae et artis. Part. II, Lib. I, Synt. 1,
Cap. 1 et seqq., et Synt. 3, Cap. 1 et seqq., de organo auditus et aurium ana-
tomia. Herbipoli 1657.
Id., Physica curiosa. Lib. III, Part. III. Cap. 33, § 3. Mirabilia aurium et
auditus. Herbipoli 1657.
Philippe Verheyen (1648—1710), Anatomia corporis humani. Lovanii 1706.
Tom. I, Tract. 4, Cap. 15 de Auribus. Tom. II, Tract. 1, Cap. 28, de Cerumines et
aurium sordibus et Tract. 3, Cap. 9, de A u <l i t i o n e.
I d., Vera historia de horrendo sanguinis fluxu ex oculis , naribus , auribus
et ore, et miraculosa ejusdem sanatione. Loewen 1708.
Paolo Zacchias, Quaestiones medicolegales etc. Lugduni 1674. Lib. V,
sit. 3, quaestia 4, num. 22 usque ad 30, de Auribus.
Marcus Banzer, Dissertatio de auditione laesa. Witenberg 1640.
Camillo Baldo (1527 — 1634), In physiognomica Aristotelis commentarii.
Bologna 1621. Part. IV, Apostel. 85 et seqq., de Auribus, Fol. 465.
Guillaume de Baillou (Ballonius, 1538 — 1616), Opera omnia medica.
Venetiis 1735. Tom. III. Consiliorum medicinalinm . Lib. III, cons. 19, de Aure
Buppurata.
Thomas Browne (1605 — 1682): Opera, hoc est Errores populäres etc., ubi
ib. 5, deridet eos qui si aures suas tinnire sentiant, aliquem de se loqui autumnant.
Die Oüatrie in der neueren Zeit.
a) stand der Anatomie und Physiologie des Oehörorgans
im 18. Jahrhundert.
Dit^ um Eiuie des 17. Jahrhunderts durch Duverney vorgezeichnete
Hohaudhin^ dor Anatomie des Gehörorgans hat sich f&r die Forschung
auf diosom Gebiete als fruchtbringend erwiesen. Insbesondere nahm die
mirmalo deskriptive und die rergleichende Anatomie des Ohres einen neuen
AutVhwun>r und |;elangte in diesem Zeiträume durch die unvergäng-
lichen Arbeiten Valsalvas« Cotugnos, Scarpas, Comparettis und
r»H^obv>bmH zu Kr>rebmssen, die durch spätere Forschungen kaum mehr
Ubeiludt wuinien. Ihr Verdienst ist umso höher anzuschlagen, als die
^lOlioioM uuatouiisehen lX)tails des Gehörorgans durch die Anatomen des
U'i und IV. Jahrhunderts bereits erforscht waren und den neueren
t\iiM( hoin dio Aut'tindun^ äußerst schwer darstellbarer Gebilde des inneren
Ohio 5 i^*\»lun)4on war. Wir brauchen nur auf die Entdeckung der Vorhofs-
iiint s» hiirikunwussorleitung durch Cotugno und der membranösen Ge-
t.il.lo thiivh Si'urpa hinzuweisen, um die Bedeutung dieser Epoche für
,)i.. oiiiaiiuloniio zu charakterisieren. So erhob sich die Ohranatomie
•tiiM li dn« rr>(e Mitarbeit namhafter Forscher fast aller Länder auf ein
iMihiiiM Nivi'uu; nicht zum geringsten beweisen dies die zahlreichen oto-
Im^iiImmi lMNN(*rtationen aus dieser Zeit. Endlich fand auch die lange
H iiHM hl-t*»*»»»^!** Embryologie ausgedehnte und systematische Pflege.
Audi die Physiologie des Gehörorgans konnte zielbewußter an
(Im. l.öiiinK wichtiger Probleme schreiten, da ihr einerseits die Anatomie
iiihI dl»» niNch sich entwickelnde mikroskopische Technik, anderseits die
AiliiMlnti niunhafter Physiker auf dem Gebiete der Akustik zu statten
\)\r Flihrung in der anatomischen Erforschung des Gehörorgans
liliiiiiiuhin«*n in dieser Periode abermals die Italiener.
Talsalva.
Unter (Um Autoren der Uebergangsperiode vom 17. zum 18. Jahr-
InMMh'rt nimmt V^alsalva den ersten Rang ein. Seine Abhandlung über
dir Ainit'»nii(5 des Ohres, ein Gebiet, das er mit besonderer Vorliebe be-
ANTONIO MARIA VALSALVA
J
Valsalva. 231
handelte, wurde nach seinem Tode von seinem trefflichen Schüler Mor-
gagni kommentiert und erweitert; sie zählt trotz mancher Irrtümer zu
den besten ihrer Art.
Die verläßlichste Quelle für den Lebenslauf und die Leistungen
Valsalvas ist Morgagni, der die Ausgabe der Werke Valsalvas
mit einem biographischen Abriß seines Lehrers einleitete ^). Die Be-
geisterung, mit der Morgagni von seinem Meister spricht, läßt ermessen,
welche Bedeutung den Werken Valsalvas von seinen Zeitgenossen bei-
gelegt wurde.
Antonio Maria Valsalva, der Sprößling einer alten, edlen
Familie in der Romagna, wurde am 6. Februar 1666 zu Imola geboren.
Bereits früh zeigten sich Spuren seines anatomischen Talents; er fand
schon als Knabe Geschmack daran, Vögel und andere Tiere zu zergliedern.
Als Jüngling besuchte er die hohe Schule zu Bologna, wo er zuerst Philo-
sophie, Mathematik, Botanik trieb, um sich später den medizinischen
Studien zu widmen. Sein Lehrer in der Anatomie war der große Mal-
pighi. Valsalva erwarb bereits 1687 den Doktortitel. Doch befriedigte
ihn die damals noch immer scholastische, dem Geiste wahrer Natur-
wissenschaft widersprechende Studienart so wenig, daß er dem Rate
Malpighis folgend sich der objektiven Naturforschung zuwandte, wozu
ihm das Studium am Krankenbette, die Veranstaltung von pathologischen
Sektionen und von Vivisektionen an Tieren Gelegenheit bot. Mit welcher
Ausdauer Valsalva auch in späteren Jahren der anatomischen Forschung
oblag, dafür liefern die Worte Morgagnis Zeugnis, daß er in Ausdauer
und Kühnheit, in Eifer und Opfermut selbst Anatomen, wie Vesal oder
Ruysch, weit hinter sich gelassen habe. Denn diese vollbrachten Aehn-
liches nur in den Tagen stählerner Jugendkraft, während Valsalva noch
im späten Mannesalter, als er Ruhm und Verdienste reichlich erworben,
ungeachtet seines leidenden Zustandes, Tage und Nächte unter Kadavern
zubrachte *).
Die Anatomie umschließt jedoch nicht seine ganze Lebensarbeit, denn
nebst seiner Professur der Anatomie zu Bologna bekleidete er noch die
Stelle eines Ober- und Wundarztes am Hospitale S. Orsola. Durch eine
Reihe trefflicher medizinisch-chirurgischer Arbeiten, sowie durch Angabe
neuer chirurgischer Behandlungs- und Operationsmethoden und durch
glänzende Diagnosen, die er durch pathologisch-anatomische Unter-
suchungen kontrollierte, erwarb er sich auch einen im Auslande ver-
breiteten Ruf als gefeierter Lehrer, als Arzt und Operateur. Die Lon-
doner Akademie ernannte ihn gleichzeitig mit seinem Lehrer Malpighi,
dessen Nachfolger er 1697 wurde, zu ihrem Mitgliede. Er starb, 57 Jahre
alt, am 2. Februar 1723 an Apoplexie, einer Krankheit, deren ana-
tomische Ursachen er zuerst klar erkannte. Morgagni lieferte der
232 Valsalva.
Nachwelt nicht nur ein Porträt seines Lehrers als Gelehrten, sondern
auch eine Schilderung seiner Persönlichkeit^), die uns diesen würdigen
Altmeister unseres Faches auch menschlich näher bringt. Das Werk
Valsalvas über Anatomie und Physiologie des Ohres ist die Frucht
einer 16jährigen Arbeit, während welcher Valsalva mehr als tausend
Köpfe der Zergliederung unterzog*). Der wissenschaftliche Wert seiner
Ohranatomie, das Resultat eigenster Forschung, erhellt am deutlichsten
daraus, daß alle otologischen Werke bis zum 19. Jahrhundert in ihrem
anatomischen Teile auf den Arbeiten Valsalvas basieren, denen wir
noch heute unsere volle Anerkennung zollen müssen.
In der Präparationsmethode des Gehörorgans brachte er es zu einer
solchen Vollkommenheit, daß er die Bewunderung seiner Zeitgenossen
errang; eines seiner schönsten Präparate hinterließ er der Bologneser
Akademie der Wissenschaften, ein Stück von höchstem Werte: es war
das erste Präparat eines Gehörorgans im Zusammenhange, während man
bisher die einzelnen Teile gesondert präparierte*).
Der „Tractatus de aure humana*", in dem Valsalva seine
Forschungsergebnisse niederlegte, erschien in mehreren Auflagen, zuerst
in Bologna 1704, sodann von Morgagni herausgegeben zusammen mit
dessen anatomischen Briefen, die eine Kommentierung und Erweiterung
bUden (Venedig 1740), und enthält 10 Tafeln mit sehr guten Abbildungen.
Der Traktat Valsalvas steht dem Duverneyschen nicht nur würdig zur
Seite, sondern übertrifft ihn noch weitaus an Inhaltsreichtum, der in
seltener Weise mit Kürze und Prägnanz des Ausdrucks gepaart ist. Er
umfaßt die Anatomie und Physiologie, sowie auch Kapitel aus der Patho-
logie des Gehörorgans und enthält neben geklärter Darstellung des bisher
Bekannten viel Neues. In der Beschreibung der knöchernen Teile leistete
schon Duverney fast das Aeußerste für seine Zeit; doch überragt ihn
Valsalva weitaus in der Kenntnis der häutigen und muskulösen Partien,
was nicht zum geringsten in seiner Hörtheorie zur Geltung gelangt.
Das Buch ist in zwei Hauptabschnitte geteilt, deren jeder aus drei
Kapiteln besteht, in einen anatomischen (continens auris descriptionem)^)
und in einen physiologischen (continens auris partium usus) '). Schon
äußerlich hält also, wie man sieht, Valsalva zum ersten Male strenge
an der Dreiteilung des Ohres (äußeres, mittleres, inneres) in unserem
Sinne fest. Bei der Beschreibung des äußeren Ohres erwähnt er zum
ersten Male die kleinen Talgdrüsen (Glandulae Sebaceae) in der Haut
der Ohrmuschel und vergleicht sie mit analogen anderer Körperstellen,
z. B. der Xase**), ferner die präaurikulare Lymphdrüse, die er nach
ihrem Bau und der Beziehung zu ein- und austretenden Lymphgefäßen
von den Drüsenschläuchen der Parotis unterscheidet^).
Von den äußeren Ohrmuskeln beschreibt Valsalva außer den bereits
Valealva. 233
bekannten den Musculus Anterior, den Musculus Tragi, den
M. Antitragi sowie jene Bündel, die den M. transversus auriculae zu-
sammensetzen ^^). Bedenkt man die Kleinheit und meist schwache Ent-
wicklung dieser Muskeln, die allen vorangegangenen Anatomen entgangen
waren, so muß man die Sorgfalt des Meisters bewundern, die sich
in diesen Entdeckungen kundgibt. Noch sei der Spina helicis (von ihm
Acutus Processus Cartilaginis Auriculae genannt) ^^) und des vorderen
Ohrbandes gedacht, die er ebenfalls als Erster beschrieb^*).
In der nun folgenden exakten Schilderung des äußeren Gehör-
ganges^*), von dem er sich Wachsabdrücke herstellte, sind die Inzi-
suren und Ohrenschmalzdrüsen noch besser dargestellt als bei Duverney.
Beim Fötus und Neugeborenen findet er das innere Ende des äußeren
Gehörganges, dessen Wände bis zur nahezu vollständigen Berührung
einander genähert sind, und das Trommelfell mit einer dicken, weißlichen
Masse nach Art einer Pseudomembran bedeckt, die nach und nach ein-
trocknet und in kleinen Partikelchen mit dem Cerumen ausgestoßen
wird 1^).
Den Schluß des ersten Kapitels bildet die Anführung der Ar-
terien, Venen und Nerven des äußeren Ohres. Insbesondere erwähnt
er sehr ausführlich den Verlauf der Vena occipitalis^*) und spricht
die Vermutung aus, daß auch die Ohrmuschel und der Gehörgang
Lymphgefäße besitzen^*').
Ganz ausgezeichnet ist das zweite, dem mittleren Ohr gewidmete
Kapitel. Unter den neuen Forschungsergebnissen, die Valsalva hier
mitteilt, verdienen einige hervorgehoben zu werden. Das Trommelfell
besteht aus zwei Schichten, die namentlich beim Fötus leicht trennbar
sind, aus einer inneren, die er irrtümlicherweise von der Dura Mater ab-
leitet, und einer äußeren, die von der Gehörgangshaut stammt^').
Seine eingehenden Untersuchungen über das angebliche „foramen
Rivini" im Trommelfelle ergaben kein Resultat, und er ließ es dahin-
gestellt sein, ob eine in der Gegend des kleinen Hammerfortsatzes sondier-
bare Lücke ein Artefakt sei oder nicht ^^).
Die Trommelhöhle fand er in der Gegend der Schneckenspitze
am niedrigsten, dem ovalen Fenster gegenüber am höchsten ; ihre Länge
und Breite hielt er von gleicher Dimension. Die pneumatischen Räume
des Warzenfortsatzes erklärt er im Hinblick auf die Bulla ossea bei
Tieren als einen Bestandteil der Trommelhöhle^^).
Das Manubrium des Hammers stellt er sich aus drei Fortsätzen
zusammengesetzt vor, aus einem kleineren (unser Proc. longus), aus einem
größeren (unser heutiges Manubrium) und aus einem kleinsten (unser
Proc. brevis). Dementsprechend beschreibt er drei Muskeln. Sein «Mus-
culus Processus Majoris Mallei* ist identisch mit unserem Tensor tym-
234 Valsalva.
pani. Unklar ist jedoch die Beschreibung seiner beiden anderen
^ Hammermuskel'*, des „Musculus Processus Minoris*" und des „Musculus
Processus Minimi"*®). Die von früheren Anatomen beschriebene zwischen
den beiden Steigbügelschenkeln ausgespannte Membran erklärt er für eine
inkonstante Schleimhautfalte gleich denjenigen, die man
nicht selten in der Trommelhöhle vorfindet*^). Auffällig ist
seine irrige Ansicht, daß die Gehörknöchelchen kein Periost besäßen,
obwohl er an ihrer Oberfläche Blutgefäße nachweisen konnte**). Die von
ihm beschriebenen nicht konstanten Oeffhungen am Dach der Trommel-
höhle und über dem Warzenfortsatze , durch welche Schädelhöhle und
Trommelhöhle in Verbindung stehen, sind wahrscheinlich den später von
Hyrtl geschilderten Dehiszenzen des Tegmen tympani gleich-
zustellen. Valsalva war indes in dem Irrtum befangen, daß durch diese
Löcher „in quibusdam casibus praeternaturalibus** Flüssigkeit aus der
Schädelhöhle gegen das Ohr abfließe („Fluida a Granu cavitate in
Aurem**)*^).
Wahrhaft klassisch ist die Schilderung der Ohrtrompete, bei
deren Zergliederung wir seine Meisterhand bewundem. Sie wurde von
ihm nach Eustachio benannt und in ihrem knorpeligen, membranösen
und knöchernen Teil auf das Genaueste untersucht. Er entdeckte auch
den Dilatator tubae (IIL Fig. 14) **) und wußte, daß der Tensor tympani
zum Teile an der knorpeligen Partie der Trompete inseriert. Die nach
der Tubenbeschreibung eingeschalteten Abschnitte über die Muskulatur
des Pharynx und derUvula*^), wobei die Musculi salpingostaphylini,
glossostaphylini , pharyngostaphylini, stylopharyngei , hyopharyngei u. a.
eingehend beschrieben werden, finden, soweit einige dieser Muskel zum
Gehörorgane in Beziehung stehen, ihre Erledigung im physiologischen Teile.
Was die Gefäßversorgung der Trommelhöhle anbelangt, so be-
obachtete er, daß die Carotis durch einen Knochenkanal einen Zweig in
die Trommelhöhle entsendet und die Trommelhöhlenvene ihr Blut in die
Jugularis ergießt. Die Beteiligung des Gehörorgans an drei verschiedenen
Gefaßgebieten ist für ihn eine wichtige Stütze seiner Dreiteilung des
Ohres **^).
Bei der Beschreibung des inneren Ohres übersieht Valsalva
nicht die geringste Leistung seiner Vorgänger; viele Details sind genauer
und klarer dargestellt und durch gute Abbildungen erläutert. Er nimmt
zum ersten Male für das ganze innere Ohr den Namen Labyrinth in
Anspruch. Die knöchernen Bogengänge benennt er nach ihrer Länge
.,Canalis semicircularis major, minor, minimus'' und beschreibt ihre Am-
pullen und andere Details ziemlich richtig. Sie variieren in der Größe
bei verschiedenen Menschen, stehen aber bei ein und demselben Indivi-
duum stets in einem gewissen Längenverhältnisse zueinander und sind
Valsalva. 235
in beiden Ohren gleich groß und symmetrisch*^). Das Spiralblatt der
Schnecke läßt Valsalva aus einem dichteren, leicht zerreiblichen Teil
bestehen, der sich der Spindel zunächst befindet und eine Mittelstellung
zwischen Haut und Knorpel einnimmt, ferner aus einem weichen, dünnen
membrandsen Teile, den er „Zona^ nennt. Wenn Valsalva in der Be-
schreibung der Schnecke die „Scala vestibuli'* für die untere, die
„Scala tympani** fUr die obere ansieht, so erklärt sich dies aus dem
Umstände, daß er seine Lagebezeichnungen im Sinne der stark nach
unten geneigten Schneckenachse im Schädel auffaßte, während wir heute
das ^oben* und „unten" relativ auf die Schnecke beziehen*®). Irrtüm-
lich stellt er die Kommunikation zwischen beiden Treppen in Abrede*^),
hingegen ist die Annahme richtig, daß die Vorhofstreppe beträchtlich
länger ist als die Trommelhöhlentreppe.
Seine Vorstellung vom Nervenverlaufe im Labyrinthe ist ungefähr
folgende: Der Vestibularnerv teilt sich in fünf Zweige, die er durch
fünf Löcher in den Vorhof entsendet, wo sich diese Zweige, miteinander
vereinigt, in eine sehr dünne Membran ausspannen^®). Valsalva dürfte
somit Fragmente des ütriculus und der membranösen Ampullen („Mem-
brana Vestibuli**) als eine Ausbreitung des Hörnerven angesehen haben.
Von dieser „ Vorhofsmembran " gehen, wie er weiter ausführt, die ein-
zelnen nervösen „Membranen** der Bogengänge aus, welche die Gestalt
von schmalen Bändchen oder kurzen Gürteln haben und von ihm „Zonae
Sonorae* genannt werden. Diese häutigen Bändchen (unsere häutigen
Bogengänge), deren Röhrenform er nicht erkannt hat, hält er als Nerven-
abkömmlinge für das eigentliche Sinnesorgan (Proprium sensorium); sie
sind ebenso lang, aber viel schmäler als die knöchernen Bogengänge, am
breitesten noch die „Zona sonora" des gemeinsamen Bogenganges^^).
Der Schneckennerv geht nach seiner Anschauung durch sehr kleine,
der Zahl nach schwer bestimmbare Löcher in die Schnecke, wo er die
membranöse Scheidewand zusammensetzt, die Valsalva konform seiner
obigen Nomenklatur als „Zona Cochleae" bezeichnet^-). Ob eine Ver-
bindung der „Membrana Vestibuli" mit der „Zona Cochleae** besteht,
konnte er trotz häufiger Untersuchung nicht ermitteln. Vom häutigen
Labyrinthe hat Valsalva somit nur eine vage Vorstellung und die auf
Tab. VHL Fig. 8, 9, 10 abgebildete Ausbreitung des N. acusticus in den
Bogengängen und in der Schnecke kann wohl nur als schematische Dar-
stellung seiner irrtümlichen Vorstellung gelten. Er stellt femer eine
Periostauskleidung der Labyrinthräume in Abrede, da er außer den be-
schriebenen Membranen keine anderen aufzufinden vermochte ^^).
Wie aus dem Schlußabsatze des besprochenen Abschnittes hervor-
geht, war Valsalva der erste, der das Vorhandensein einer wässerigen
Flüssigkeit im Labyrinthe konstatierte. Er fand sie beim Fötus blutig
236 Valgalva.
tingiert (sanguinea tinctura), im späteren Alter wie klares Wasser Uut
aqua limpida videatur"). Ueber die Herkunft dieser Flüssigkeit ist er
jedoch im Unklaren; er möchte sie am ehesten als Ausscheidung der
von ihm entdeckten Membranen auffassen^*). Das Verdienst, die Be-
deutung der Labyrinthflüssigkeit in anatomischer und physiologischer Be-
ziehung richtig erfaßt zu haben, gebührt Co tugno, da Valsalva neben
der von ihm erwähnten Flüssigkeit auch noch die Anwesenheit von Luft
im Labyrinth als wesentlich für die Schallaufnahme hält.
Endlich sei noch bemerkt, daß er das Labyrinth bei Erwachsenen nicht
grüßer fand als bei Kindern und daß er die Vermutung aussprach, es dürften
neben Blutgefäßen auch Lymphbahnen im Labyrinth vorhanden sein^^).
Der zweite Teil des „Tractatus de aure humana* behandelt die
Physiologie des Gehörorgans resp. im Galenischen Sinne den
Nutzen der einzelnen Teile des Ohres. Mit vollstem Recht kann man
Valsalva das Zeugnis ausstellen, daß er hierbei mit größter Umsicht
vorging, alle vagen Theorien vermied und kaum jene Kühnheit für sich
in Anspruch nimmt, wie sie z. B. Duverney und Schelhammer zu
»'igen war. Valsalva war sich der beschränkten Kenntnisse seines
Ztatalters wohl bewußt und erwartete einen Fortschritt nur durch die
Mitarbeit der Physiker, die über der Beschäftigung mit dem Gesichts-
sinn die Lehre vom Schall zu sehr vernachlässigt hatten^**). Wie sehr
ür den Theorien, die von den Zeitgenossen über den Schall aufgestellt
waren, mißtraute, geht schon daraus hervor, daß er immer nur von
„iiiotus sonori" sprach, indem er unentschieden ließ, ob darunter Undula-
tioiu^n, Vibrationen, tremulierende oder anders geartete Bewegungen zu
vi'rstrhen seien •'^^).
Im vierten Kapitel des Werkes wird die Physiologie des äußeren
Ohres besprochen und der Nutzen des Baues der Ohrmuschel, des
(ielWirgangs, der Ohrschmalzdrüsen etc. erklärt. Von Interesse ist
Huine Bemerkung, daß die Inzisuren des Gehörganges zur Fortpflanzung
imhI Verstärkung des Schalles von Wichtigkeit seien und daß man deshalb
iiucli die Hörrohre mit derartigen Einschnitten konstruieren solle ^'*).
Iteichh altiger ist das folgende Kapitel, das sich mit dem mittleren
Olir beschäftigt. Wie Duverney, schreibt er dem Trommelfell
Inline wichtige Rolle bei der Schallaufnahme zu, von der Tatsache aus-
gidiund , daß auch bei Rupturen , die nach seiner Ansicht leicht heilen,
ilutt Gehör fortbestehen könne*).
*) Wenn Valsalva bei Hunden mit einem Speculum das Trommelfell durch-
0U und nach späterer Sektion nicht das geringste Zeichen einer Narbe gefunden
in will, 80 ist diese Angabe mit entsprechender Reserve aufzunehmen, da sehr
zweifeln ist, ob ihm bei dem gewundenen Gehörgang des Hundes und ohne jede
iktlon die experimentelle Ruptur auch gelungen ist.
Valsalva. 237
Die Flüssigkeit, die sich in der Trommelhöhle vorfindet, dient zur
Befeuchtung des Trommelfelles, damit es bei so vielen Bewegungen, die
es machen müsse, nicht austrockne.
Was die Schallfortpflanzung vom Trommelfell zum Labyrinth
anbelangt, so steht Valsalva auf dem richtigen Standpunkt, daß sie
durch die Kette der Gehörknöchelchen geschieht. Er betrachtet
diese als eine Reihe von Hebeln, die in demselben Moment, in dem das
Trommelfell in die Paukenhöhle getrieben werde, in Bewegung gesetzt
würden und durch die Fußplatte des Stapes den Schall zum Labyrinthe
fortpflanzen. Der Hammer sei ein zweiarmiger Hebel; der HaramergriflF
bilde den einen Arm, den anderen der Hammerkopf; das Hypomochlion
liege zwischen beiden. Von dem Tonus der „Muskel des kleineren und
kleinsten Fortsatzes** (der Bänder) hänge die Festigkeit des Hammers
ab. Ebenso stellt auch der Amboß einen Hebel vor, mit dem Körper
als einem Arme, dem großen Schenkel als zweitem Arme und dem Hypo-
mochlion an der Stelle, wo der kurze Amboßfortsatz fixiert ist. Der
Arm des einen Hebels (Hammerkopf) steht mit dem des anderen (Amboß-
körper) in fester V^erbindung, und in dem Momente, in dem der Hammer-
griff bewegt wird, wird auch der lange Amboßfortsatz und mit diesem
Stapes und Stapesplatte in Bewegung gesetzt ^^). Es entspricht dies
vollständig unserem heutigen Ideengang. Der Steig bügelmuskel
verhütet nach Valsalva bei allzu großer Erschütterung ein starkes
Eindrücken der Platte ins ovale Fenster ^^). Er ist ferner der Ansicht,
daß der Muskel bisweilen gleichzeitig mit der elastischen Kraft des
Trommelfells die Gehörknöchelchen in ihre Lage zurückbewegen könne.
Da der Muskel nur in schiefer Richtung die einwärtsgedrängte Stapes-
platte herauszieht, müsse er den ihm zunächst liegenden Teil derselben an
den Fensterrand andrängen, weshalb auch der entsprechende Teil des
Ringbandes, wie Valsalva beobachtet haben will, eine festere Struktur
besitzt.
Sehr ausführlich verbreitet sich Valsalva über die akustische
Funktion der Ohrtrompete, wobei er außer den gewöhnlichen An-
sichten von ihrem Nutzen (Entfernung von Eiter, Flüssigkeiten u. a. aus
der Trommelhöhle) folgende Theorie entwickelt. Es sei klar, daß das
Trommelfell sich umso leichter bewegen lasse, je weniger Luft dem An-
dringen der Membran Widerstand leiste und je rascher die Luft aus-
weiche. Der von ihm zuerst beschriebene Dilatator tubae erweitere
die Eustachische Röhre während des Höraktes, damit die Luft, wenn
das Trommelfell nach einwärts getrieben wird, aus der Trommelhöhle
entweichen könne, und zwar vollziehe sich die Eröffnung der Tube
durch automatische Muskelaktion in demselben Maße, als die Einwärts-
wölbung des Trommelfells erfolge ^^). Damit bei den Atenibewegungen
Valsalva. 239
deren Entfernung er das sogenannte Rivinische Loch (in der Gegend
des kurzen Hammerfortsatzes) sondieren konnte*^). Bei einer Trommel-
fellinspektion, die Valsalva als erster zur Untersuchung
des Trommelfells am Lebenden vornahm, beobachtete er, daß
das Trommelfell im oberen Abschnitte von Eiter triefe und merkte auch,
daß Eiter und Luft in der Gegend des Foramen Rivini entwich, sobald
der Patient bei geschlossenem Munde und zugehaltener Nase kräftig aus-
atmete (Valsalvascher Versuch)*®). Wie gewissenhaft und genau Val-
salva pathologische Sektionen vornahm, ergibt sich aus der interessanten
Beobachtung an dem Ohre eines Tauben, an dem er eine durch Ossi-
fikation des Ringbandes erzeugte Ankylose der Stapesplatte
entdeckte*^). Falsch gedeutet aber wurden von ihm zwei Sektionsbefunde,
durch die er eine stete Kommunikation der Schädel- mit der Trommel-
höhle beweisen wollte ^^). Von Interesse ist ferner ein Fall, bei dem
Valsalva nebst einem großen Trommeldefekt feststellen konnte, daß das
Amboßsteigbügelgelenk gelöst sei und von dem Trommelfellreste zum
Stapesköpfchen eine Membran hinziehe. Diese Membran faßte er irrtüm-
lich als regeneriertes Trommelfell auf, während es sich wahrscheinlich
um eine adhärente Narbe gehandelt hat. Bewundernswert bleibt es
immerhin, daß Valsalva diese feinen Details bei der noch primitiven
Untersuchungsmethode erkennen konnte^*).
Was die später in die Otiatrie unter dem Namen „Valsalva'scher
Versuch** eingebürgerte Methode anbelangt, so haben wir gesehen, daß
sich bereits bei den Arabern (Mesue), Latinobarbaren (Saliceto, Bruno,
Arnaldo de Villanova, Fabricius Hildanus u. a.*) Andeutungen
über ihre praktische Anwendung zur Entfernung von Fremdkörpern,
gegen Schwerhörigkeit u. s. w. fanden. Die Stelle, an der Valsalva
seinen Versuch beschreibt und empfiehlt, lautet:
Nam si quis in Tympano, aut in vicinia Ulcus, aut tale quid gerens, unde
icbor in Meatum Auditorium assidue distillet: si, inquam. iste, clauso Ore. et Naribus,
aerem intro comprimere conetur; inde sanies in Meatum Auditorium ita copiose
Bolet eodem actu protrudi; ut ad istiusmodi Ulceris detersionem nullum promptius,
ant utilius Aegris remedium commendare consueverim : quam mediocriter frequentem
talis conatus iterationem. 1. c. Cap. 5, 8, p. 68.
Valsalva war jedoch der irrigen Ansicht, daß der in der Trommelhöhle
angesammelte Eiter durch das sogenannte Foramen Rivini bei seinem
Versuche in den äußeren Gehörgang gepreßt werden könne.
*) Vergl. femer: Vesal, De corp. hum. fahr. Lib. I, Cap. 12. — Rolfink,
Dias. Anat. Lib. IV, Cap. 10 (der diesen Versuch empfahl, um eine Verrenkung der
Gehörknöchelchen einzurichten). — Pare, Lib. XVI, Cap. 23. — Diemerbroek,
Anal Lib. III, Cap. 18 u. a.
Valsalva. 241
«) 1. c. Cap. 1, 3, p. 10.
») I. c. Cap. 1, 5, p. 11.
'«) 1. c. Cap. 1, 6 u. 7, p. 11—13.
»') 1. c. Cap. 1, 4, p. 11.
'«) 1. c. Cap. 1. 8, p. 13.
•') 1. c. Cap. 1, 9, 12, p. 13—15.
'*) I. c. Cap. 1, 13, p. 15.
»*) 1. c. Cap. 1. 14, p. 16.
'«) 1. c. Cap. 1, 16 p. 17.
^^) £x duplici, diversaqae expansione membranacea, Tympani membrana com-
ponitur (quae Compositio in humano foetu patescit). ... 1. c. Cap. 2, 1, p. 18.
^») 1. c. Cap. 2, 2, p. 18—20.
»*) 1. c. Cap. 2. 3, p. 20.
20) 1. c. Cap. 2, 5—7. p. 21—23.
^^) Ita membranaceae expansiones, quae irregularlter, interdum solent protendi
per Tympani Cavitatem; ad Stapedem ipsum fortuito extenduntur, bujasque ali-
quando intermedium spatium; quod saepius quidem, ut indicabam, apertum est;
fortuito pariter; non certa, aut peculiariter notabili lege occludunt. 1. c. Cap. 2,
10, p. 25.
-*) 1. c. Cap. 2, 12, p. 25.
") 1. c. Cap. 2, 14, p. 27—28.
^*) 1. c. Cap. 2, 16—18, p. 30— 32. Musculum enim Tuba Eustachiana sortita
€8t a quo, ubi opus sit, eadem potest dilatarl . . . nam si Musculus iste leviter digitis
trahatur; tunc Nasi Interna Foramina, Tubaque Eustacbiana dilatantur. Ibid.
Cap. 2, 18.
") 1. c. Cap. 2, 19—21, p. 30—37.
") 1. c. Cap. 2, 22, p. 38.
2«) 1. c. Cap. 3, 4—7, p. 41—44.
'^) Scala tympani superiorem situm obtinuit; Scala autem Yestibuli inferiorem:
quod attendatur, velim; nam Recentiores Anatomici hanc Superiorem; illam vero
Scalam Inferiorem perperam vocant ; ex boc facile decepti, quod forte Labyrintbum
non in naturali sede; sed a reliqua Aure sejunctum consideraverint. 1. c. Cap. 3,
8, p. 45.
**) Ope cujusdam Septi in duos Canales ita dividitur; ut Canalis alter cum
ftitero nullo pacto communicet. 1. c. ibid.
'0) Iudicata ergo MoUis Nervi Pars (Vestibulamerv) in quinque surculos divi-
ditur, et ipsos per ea quinque Foramina intra Yestibulum mittit ; in quod statim ac
ingreisi sunt, laxati in tenuissimam quandam membranam solent uniri.
i)oae quidem membrana modo in Yestibuli medio suspenditur. 1. c. Cap. 3, 11, p. 47.
'*) Quinque Nervei Surculi in Yestibulo in Membranam dilatati, peculiari in-
<!essu membranaceo ulterius progrediuntur. Etenim a Membrana Yestibuli quaedam
aliae Membranae recedunt, quarum singulae diversum Canalium Semicircularium
Orificium ingrediuntur; ubi vero Membrana per unum Canalis Orificium ingressa,
Membranae per alterum ejusdem Canalis Orificium intranti, percurrendo occurrit;
onarn continuatam Membranam ambae componunt. Tales cum strictioris taeniolae
dye parvae zonae figuram habeant; sintque Motibus Sonoris excipiendis, tanquam
Proprium Sensorium, destinatae ; idcirco a me Zonae Sonorae nuncupantur. l. c. Cap. 3,
12, p. 47.
•^ Haec vero (Schneckennerv) Sinuositatem, versus Cochleae centrum excavatam,
manifesto quidem ingreditur . . . Yidique demum minima quaedam Foramina , in
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 16
244
Morga}(ni.
Die ,Epistolae' Morgagnis zeiclinen sich durcli eine -wiik-
haft klassische, anmutige Diktion aus. Sie wirken noch beute durch
die zaUreiclien , praktisch wichtigen Einstreuungen anregend und Le-
lehrend. Die Briefform bewahi-t das Werk vor jener die zeitgenössischea
Arbeiten charakterisierenden, doktrinären Schwerfälligkeit, die bei dem
überreichen Inhalt der Briefe Morgagnis unvermeidlich geworden wäre,
Giovanni Battista Morgagni, einer angesehenen Familie ent-
stammend, wurde am 25. Februar 1682 zu Forli geboren. Er erhielt
eine ausgezeichnete Erziehung und machte besonders in den Sprachen
und schönen Wissenschaften rasche Fortschritte. Als Schüler Mal-
pighia, Albertinis und Valsalvas widmete er sich mit besonderem
Eifer der Anatomie, betrieb aber gleichzeitig auch Medizin, Philosopliie
und Philologie, für welch letztere er ebenso wie für Geschichte unJ
Archäologie große Vorliebe besaß. Daneben fand er noch Zeit, sich
eingehend mit Mechanik, Geometrie. Astronomie und Botanik zu be^sen,
zeichnete sich durch grUndhche Kenntnis der klassischen Sprachen av>
und erlangte so den Ruf eines Polyhistors, wie ihn unter den Deutschen
nur Haller besaß. Schon im 19. Lebensjahre .stand Morgagni seinem
Lehrer Valsalva, mit dem ihn später innigste Freundschaft verband,
als Prosektor zur Seite. Bei Valsalvas Berufung nach Parma er-
hielt er dessen Stelle als Demonstrator der Anatomie zu Bologna. Als
solcher veröffentlichte er seine herühmte Schrift „Adversaria auatomicB*-
Nach Verzicht auf diese Stelle lietrieb er mehrere Jahre in Venedig und
Padua chemische, pharmazeutische und zoologische Studien und ließ sich
in seiner Vaterstadt als Praktiker nieder. Von hier wurde er 1712 auf
den Lehrstuhl der Anatomie zu Padua berufen, wo er (iO Jahre mit
dem größten Erfolge lehrte und nebst anderen hervorragenden Anatomen
auch Cotugno, Scarpa, Caldani u. a. zu seinen Schülern zählte. Sei»
Ruf als Anatom und Patholog drang durch ganz Euroj>a und aus alleu
Weltgegenden strömten Schüler nach Padua, um sich unter seiner Leitung
auszubilden. „Plures viatores (sagt Tissot in seiner Biographie Mor-
gagnis) anglos praesertim novi qui de Italia reduces, laeti et grati
memores narrabant quum humaniter illos exceperat et r[uantura ex llliu*
coUoquüs doctis, variis, jucundis profecerant. " Morgagni starb um
6. Dezember 1771,
Von seinen zahlreichen Werken kommen für die Otologie einige
der „Epistolae anatoraicae" und das berühmte „De sedihus et causis
niorborum" in Betracht. Außerdem gebührt ihm bei den Tafeln des
Valsalvaschen Traktats die Ehre der Mitarbeiterschaft. Keiner ff»i
daher so geeignet, den Traktat Valsalvas zu kommentieren wie Mor-
gagni, Von den 20 Briefen beziehen sich der HL, IV., V., \1., VIl.
Xll. und Xni. auf das Gehörorgan '). Bescheidenei-weise läßt Morgagni
J
Tafel XIV
Morgagni. 245
die viel umfangreicheren nEpistolae"^ als Kommentar zu Valsalvas
^Tractatus de aure humana'' erscheinen; in der Tat jedoch stellen sie
sich als selbständige Erweiterung der Forschungen Valsalvas dar.
Jeder dieser Briefe beginnt mit einer reichhaltigen historischen
Einleitung, welche die Untersuchungen aller nur irgend wichtigen Vor-
gänger berücksichtigt; darauf folgt die berichtigende Angabe der Yal-
salva sehen Lehren und zum Schlüsse die beistimmende oder abweichende
Meinung des Autors selbst. An der Spitze jedes Briefes wird auf die
entsprechenden Kapitel des „Tractatus de aure humana*^ verwiesen.
Inhalt der Briefe: Der III. Brief handelt über die Struktur der
Drüsen und speziell über die von Valsalva beschriebenen Ceruminal-
drüsen.
Der IV. Brief bespricht die Ohrmuschel und den äußeren Gehörgang.
Der V. Brief das Trommelfell und die Trommelhöhle.
Der VI. Brief die Gehörknöchelchen und deren Muskeln.
Der VII. Brief die fenestra ovalis und rotunda, die Tuba Eustachii,
die Gefäße und Nerven der Trommelhöhle.
Der XII. Brief das Labyrinth.
Der XIII. Brief: Den Nutzen der Teile des Gehörorgans, haupt-
sächlich aber pathologische und therapeutische Fragen.
Aus dem reichen und für die damalige Zeit erschöpfenden Inhalt
dieser sieben Episteln sei in Kürze folgendes angeführt:
Bemerkenswert ist im vierten Briefe, daß Morgagni die da-
mals noch angezweifelten äußeren Ohrmuskeln aufs genaueste be-
schreibt und für die bisweilen vorkommende Fähigkeit, die Ohrmuschel
zu bewegen, zwei Zeitgenossen, Muretus und Mery, anführt. Er fand
den vorderen Muskel aus zwei Bündeln bestehend, den Muse, helicis major
in sehr rudimentärer Form. Die nach Santorini genannten, aber von
Valsalva und Duverney, ja schon von Casserio angedeuteten In-
zisuren des knorpeligen Gehörgangs seien nicht durch Muskeln,
wie manche angeben, sondern durch Ligamente überbrückt*).
Im fünften Brief schreibt er im Gegensatz zu den anderen Au-
toren dem Trommelfell nur zwei Schichten zu, deren äußere von der
Haut des äußeren Gehörganges, deren innere von dem Periost der Pauken-
höhle abstamme. Die Pseudomembran beim Neugebornen (macerierte
Epidermislage) hält er für ein Produkt der Talgdrüsen im Gehörgange.
Mit Entschiedenheit spricht er sich auf Grund seiner experimentellen
Untersuchungen gegen die Annahme des foramen Rivini aus. Die Zellen
des Warzenfortsatzes fand er im Gegensatz zu Cassebohm bei Er-
wachsenen weiter als bei Kindern und von einer Membran ausgekleidet,
die sich ähnlich wie die Schleimhaut der Stirn und Kieferhöhlen verhält^).
Besonders reichhaltig ist der sechste Brief. Die Ceruminal-
Morgagni. 247
Hemisphaerica und Semiovalis genannt) und die knöcherne Leiste, die
beide scheidet. Er kennt den Anfangsteil des Aquaeductus vestibuli, den
«r als „Cavitas sulciformis^ auffaßt, doch ist ihm sein Verlauf im Knochen
und seine Endigung unbekannt ^). Die ritzförmige Furche an der inneren,
oberen Wand des Vestibulum, die zur Vorhofsöffiiung des Aquaeductus
vestibuli führt und von Morgagni eingehend geschildert wird, hat später
den Namen Sulcus Morgagni erhalten. In der Bezeichnung der Bogen-
gänge hält er sich an die von Valsalva auf Grund exakter Messungen
angenommene Einteilung nach ihrer Länge. Auf einem Bilde sämt-
liche Mündungen der Bogengänge darstellen zu wollen, erklärt er für
unmöglich. Die Schnecke kennt er in allen ihren feinen Einzelheiten
und gibt an, wie man die linke von der rechten unterscheiden könne;
doch bezweifelt er, daß die beiden Skalen an der Spitze kommunizieren ^.
Aus den Worten „etiam limbum, et sulcos duos non niulto secus quam
in Ovali Fenestra agnovi** geht seine Kenntnis vom Falze des Schnecken-
fensters hervor. Die Maculae cribrosae untersuchte er mit peinlichster
Genauigkeit und fand, daß sie sich aus feinen, netzartig gruppierten
Knochenfäden zusammensetzen, die eine große Menge kleiner Löcher
bilden.
Auch die Löchelchen, die den Verzweigungen des Acusticus
zum Durchtritte dienen, sind in diesem Briefe vielfach beschrieben, jedoch
noch nicht in der Klarheit und Uebersichtlichkeit wie bei Scarpa und
den späteren Anatomen. Die Periostauskleidung des knöchernen
Labyrinthes wird von ihm bestätigt, obwohl Valsalva sie negiert
hatte. Ebenso wendet er sich gegen die Valsalva sehen Zonae sonor ae
des Labyrinthes und nimmt an ihrer Stelle durchsichtige, runde, weiß-
liche und nervenähnliche Fäden in den Bogengängen und der Vorhofs-
treppe an, die, wie Scarpa später fand, unseren membranösen Bogen-
gängen entsprechen®). Ebenso wie Valsalva beobachtete auch er bei
seinen Sektionen die Labyrinthflüssigkeit, ohne jedoch ihre Bedeutung zu
ahnen, die erst sein großer Schüler Cotugno erfaßte.
Die Labyrinthmündung des Aquaeductus Cochleae kannte Morgagni
genau; da es ihm aber nicht gelang, den Gang zu verfolgen und das
Eindringen von Blutgei^ßen und Nerven in ihn nachzuweisen (»truncum,
aut sanguiferura aut nerveum, ullum**), so hielt er ihn für einen Blindgang.
Der dreizehnte Brief enthält unter anderem die otophysiologischen
Anschauungen Morgagnis, die sich in der großen Mehrzahl fast nur
in den Bahnen älterer Theorien bewegen. An einem Hunde, dem sein
Lehrer Valsalva beiderseits das Trommelfell durchbohrte, beobachtete
Morgagni, daß das Gehörorgan in den ersten 50 Tagen nach dem Ver-
suche normal funktionierte, daß aber später der Hund über die Richtung,
aus der man ihn anrief, nicht orientiert schien. Diese Erscheinung ver-
r
schwand nach einem Monate vollkoiiimen. Bei der Sektion fand man an
einem Ohre bloß einen kleinen Defekt des Hammergriffs, am anderen das
Trommelfell rot verfärbt, abgeflacht, an der Innenfläche Teilchen des
Hammergriffs anhaftend, dieser selbst beinahe ganz vom Hammerh&ts
abgebrochen.
Die Funktion des ,recessus bemisphaericus' besteht nact
Morgagni darin, daß er die Schallstrahlen, die an der Mündung der
Vorhofstreppe vorübergleiten, sammelt, verstärkt und auf dieselbe Weise,
wie sie die äußere Ohrmuschel in den Gehörgang wirft, hier in die^
nächste Mündung der Treppe leitet^). Die -Maculae", die er nicht kon-
stant auffand, seien zum Hören wohl nicht notwendig, doch dürften In-
dividuen, bei denen sie prägnanter ausgebildet sind, mit einem besseren
Gehör begabt sein. Ebenso hypothetisch ist seine Ansicht über die
.Membrana in vestibulo suspensa', die zur Aufnahme oder zur Ab-
dämpfung des Schalles diene (.ad hos [nämlich sonos] excipieudos, aiit,
si mavis, in eo transitn uonnihil infringendos moderandosque").
Schon diese Skizze der .Epistolae anatomicae' zeigt, welche Summe
von Anregung für weitere Forschungen das Werk Morgagnis enthält.
Wie befruchtend sein Beispiel auf die folgende Generation wirkte, be-
weisen die epochalen Arbeiten seiner Schüler Cotugno und Scarpa,
welche die Uhranatomie mit unv«rgänglicben Entdeckungen bereicherten.
-^ Von noch größerem Interesse für die Otologie sind die die Pathologie
des Gehörorgans betreti'enden Mitteilungen Morgagnis in seinem
klassischen Werke .De sedibus et causis morborum, per anatomen indii-
gatis." Venet. 1761. Nicht nur das Tatsächliche, was er hier vorbringt^
sondern die in seiner Forschung liegende Methodik, die Beziehungen des
Sektionsbefundes zum Krank heits verlauf und die klare Darstellung des
Gesehenen, werden für alle Zeiten ein Vorbild pathologisch-anatomi-
scher Forschung bleiben. Im folgenden beschränken wir uns auf ein
Resumi^ der wichtigsten, im genausten Werke enthaltenen otologischea
Befunde.
Von höchster Bedeutung für die wissenschaftliche Ohrenheilkunde
war bei Morgagni die Frage, in welcher Beziehung Gehirnabszeß und
Ohreiterung zueinander stehen, hing doch damit die bis in die Mitk
des 19. Jahrhunderts viel diskutierte Frage zusammen, ob Ohreiterungen'
behandelt werden sollen oder nicht. In dieser wichtigen Frage übern^
das Urteil Morgagnis das seiner Vorj^nger und vieler seiner NacH*
folger. Im vierzehnten Briefe deutet er den Kausalnexus jener Fällfl,
in denen man bei ijer Sektion K»ries des Schläfebeins und Hirnabsz«tl
vorfftnd, «•«—-* dnB d»s Ohrleiden die primäre Affektion vor-
% sekundär infolge kariösen Durchbruches d«
'ntstaaden sei. Hierdurch entfernte
Morgagni. 249
von den älteren Anschauungen Avicennas, Bonets*), Laubius'**) u. a..^
die den Ohrenfluß stets als Folge eines Hirnabszesses erklärten.
Die wörtliche Uebersetzung der betreffenden Stelle lautet: ,Man wird leicht
einsehen, daß die üeberschrifb der ersten Beobachtung im 19. Abschnitte (des
Sepulchretum Bonets), Eiterfluß aus den Ohren infolge eines Gehirn-
abszesses, sich von der Wahrheit entfernt, denn im Gegenteil war der Gehirn-
abszeß, für dessen frühere Existenz kein einziges Zeichen angegeben wird, eine
Folge der Unterdrückung des ichorösen Ohrenflusses.'' Am Ende des
zweiten Paragraphen des 14. Briefes sagt er: , Selbst dann also, wenn ich, wie vor-
hin erwähnt, nicht nur im Innern des Schädels eine Jauche von derselben Beschaffen-
heit wie die, welche aus dem Ohr abgeflossen war, angetroffen hätte, sondern sogar
einen durch Karies gebildeten Verbindungsweg zwischen der Schädelhöhle und dem
Ohr, würde ich dennoch nicht den Ausspruch getan haben, daß der Eiter aus dem
Gehirn in das Ohr abgeflossen sei, sondern ich würde vielmehr der Meinung sein, er
habe sich aus dem Ohr einen Weg in das Gehirn gebahnt. "^
Zur Illustration seiner nach unseren Begriffen modernen Anschauung
über die otitischen Hirnerkrankungen teilt er mehrere Sektionsbefunde
mit, die wir hier auszugsweise wiedergeben: Bei einer auf Variola fol-
genden Ohreiterung fand er einen kariösen Defekt an der hinteren
Pyramiden fläche zwischen dem Sinus lateralis und Sinus petrosus
superior, dem ex contiguo ein Kleinhirnabszeß entsprach (Ep.XIV,3).
In einem anderen letal endenden Falle, bei dem eine Fistel am Warzen-
fortsatze bestand, fand sich neben Eiterung in der Trommelhöhle,
Karies des Fazialkanales und der Bogengänge, eine spaltförmige kariöse
Lücke in der hinteren Wand des inneren Qehörganges, eine Eiter-
ansammlung zwischen Dura und hinterer Pyramidenfläche
(Ertraduralabszeß). (Ep. XIV, 5.)
Die mitgeteilten Krankengeschichten sind knapp, aber scharf und
sicher gezeichnet, die Sektionsbefunde lassen an Klarheit nichts zu
wünschen übrig.
Mangel des Stapes hat nach Morgagni notwendig Taubheit zur
Folge, weil, wie er meint, die weichen Labyrinthhäutchen („moUissimae
Labyrinthi membranulae*^) durch das offenstehende ovale Fenster den
äußeren Schädlichkeiten ausgesetzt seien. Bei Besprechung der Fremd-
körper bringt Morgagni ein kurzes Resum^ der bis zu seiner Zeit
geübten Beleuchtungsmethode des äußeren Oehörganges. Aus seinen
Ausführungen ergibt sich, daß die dem Fabrizio bekannte Technik der
Beleuchtung (siehe S. 115) schon von Aranzi für die Nasenuntersuchung
benützt wurde, der in seinem „lib. de Tumor, praetemat. c. 21" fol-
gendes sagt: „cum solis aestus, coelo praesertim calidiore, aegrotanti,
*) Sepulchretum 1. c.
♦♦) Ephem. nat. cur. Cent. VIT. Obs. 40, Cent. VIII. Obs. 21 etc.
niedico, niinistris niolestiani adferat; idcirco in lignea fenestra clausa
artefaotura foramen, ei muneri obeundo aptissiraum cogitavit; ut per id
se se insinuans solis radius ad patientis interna» nares recta perveniat.*
Ferner gebt aus den Mitteilungen Morgagnis liervor. daß die Ver-
wendung einer mit Wasser gefüllten Flasche als Sammellinse erst von
ihm empfohlen wurde. Der sonstige otologiscbe Test der 14. Epistel
enthält kritische Streiflichter der Befunde Bonets aus dem Sepulchretum,
dessen otologischen Inhalt wir schon früher besprochen haben (S. 175),
Von den anderen otiatriscben Beobachtungen, die sich als Nebenhefuode
zerstreut in den Episteln seines Werkes vorfinden, wäre folgendes mit-
zuteilen:
Bei einer 25jährigen Frau, die an einer ,febris maligna' starb umi
die im Beginne der Erkrankung schwerhörig wurde {.cum surditate in
principio"), fand er das Gehirn vollkommen intakt, die Trommelhöble
und die angrenzenden Hohlräume mit Eiter (saniosa materia) erfSllt.
(Ep. VI, 4.)
An einem Erhängten sah er das Trommelfell einer Seite und die
Gehörknöchelchen mit Ekchvmosen bedeckt (.sanguine tincta"), das andere
etwas injiziert (sed tarnen solito majorem ostendit rubedineni). (Ep. XIX, 8-)
Im 21. Briefe findet sich die Beschreibung eines Falles von met»-
statischer Mittelohrentzündung nach Pneumonie. (Ep. XXI, U.t
Aus der Krankengeschichte entnehmen wir: Eine Frau erkrankt»
ca. 8 — 10 Tage nach Abortus eines etwa dreimonatlichen Fötus »a
., interna thorucis inflaniniatione". Sie konnte nur auf der linken Seit« UefCen«
klagte über Fieber, Atembeschwerden und innerhche BrustschmerMn-
Es bestand Husten ohne charakteristische Expektoration. Dazu gesellt«
sich Taubheit und Schmerzen in den Ohren. Die Sektion des Geliör-
organes ergab ein schwärzlich gefärbtes, sehr schlappes Trommelfell
beiderseits, die Warzenfortsatzzellen mit Flüssigkeit gefüllt, in einer
Trommelhöhle eine eiterähnliche Masse. Parotis und Gehörgaug wnrcn
Im 51. Briefe beschreibt er die Obduktionsbefunde bei folgende»
Kraukheitstalleu : Ein SOjähriger Mann, der in die Tiefe gestUi-zt wsu
verlor die Sprache, erbrach zuerst, dann blieb bloß der Brechreiz lurDct.
Es traten Konvulsionen auf, Kötung des Gesichtes, pulsus turgÜo*
(strotzend), Blutung aus der Nase und dem linken Ohre, erschwert«
Respiration »nd 24 Stunden nach dem Sturze erfolgte der Tod. Bm
der Sektion fand f»»"- "■■"ttusion lits Schläfenmuskels und Zerreißung
der Atwte i Ijuerfinger oberhalb des Ohres ein?
bogen*- "eser Fissur ein Hämatom zwischen
S«" 'as Gehirn normal.
■galoppierenden Pferde und Ed
Morgagni. 251
mit dem Hinterhaupte so wuchtig auf einen Stein, daß man das Qeräusch
des brechenden Knochens vernahm. Anfänglich blieb er halbtot liegen,
kurz darauf versuchte er zu sprechen, konnte jedoch kaum verstanden
Virerden. Aus dem rechten Ohre, der Nase und dem Munde floß Blut,
dabei bestand heftiges Erbrechen. 12 Stunden nach dem Unfälle eine
Verlangsamung der Respiration, die bis 2 Stunden vor dem Exitus an-
hielt. Die Sektion ergab: Ausgedehnte Schädelbasisfraktur, die sich bis
zum Hinterhauptloche erstreckte und auf den Processus petrosus fort-
setzte. Die Schädelbasis zwischen Dura und Pia mater mit einer großen
Menge Blutes bedeckt.
Nun folgt die Deutung der vorliegenden Sektionsbefunde, erstens
warum das Blut trotz der Hinterhauptfraktur in der vorderen Partie
des Kopfes zwischen die Meningen ausgeströmt war, dann warum Blut
durch Mund, Nase und Ohren floß. Letzteres erklärt er aus dem Zer-
reißen von Gefäßen außerhalb der Schädelhöhle infolge der Gewalt-
einwirkung. Dies geschehe umso leichter, wenn die Fissur bis zum
Processus petrosus reicht wie im zweiten Falle, oder wenn das Blut durch
die V als alva sehen Kommunikationslöcher von der Schädel- in die
Trommelhöhle eintritt wie im ersterwähnten Falle. Das Blut kann auch
aus der Trommelhöhle durch die Tuben in die Choanen oder in den
Schlund gelangen. (Ep. LI, 50—52.)
Während Morgagni in den eben zitierten Fällen den Trommel-
fellbefund nicht erwähnt, wird ein solcher in einem Sektionsberichte des
52. Briefes genau geschildert. Eine Bäuerin war kopfüber die Treppe
hinabgestürzt und hatte sich eine so schwere Schädelverletzuug zugezogen,
daß sie auf der Stelle die Sprachfähigkeit, die Sensibilität und Beweg-
lichkeit der Extremitäten, vornehmlich der unteren, einbüßte. Blutung
aus der Nase und einem Ohre. Tod innerhalb einer Stunde. Der Ob-
duktionsbefund teilt mit : Querfraktur der Basis mit starker Gehirnblutung,
femer Bruch des äußeren knöchernen Gehörganges mit Trommelfellzer-
reißung an dem Ohre, aus dem die Blutung erfolgt war. Auch die Sinus
laterales waren eingerissen und das Kleinhirn verletzt. (Ep. LII, 25.)
Schließlich wird in Kürze der Ohrbefund eines gehirnlosen Mon-
strums erwähnt, dessen Geschwister taubstumm waren. Morgagni
fand beide inneren Gehörgänge durch eine feste Membran verschlossen,
durch die der Eintritt eines Nervenfilamentes in den inneren Gehörgang
verhindert wurde („ut ne quidem filamento nerveo uUus relinqueretur
transitous*). (Ep. XLVIII, 48.)
*) Im ganzen schrieb Morgagni zwanzig Epist. anat. Da die ersten zwei
sich nicht auf y als alva beziehen, so sind nur die weiteren achtzehn mit Yalsa Iva s
Traktat vereinigt.
') Ep. IV. Cap. 10.
•) Ep. V. Cap. 24.
') Ep. VI, Cap. 46. 48.
") Ep. VI. Cap. 23.
') Ep.XIl. Cap. 5, 60.
") Ep. Xll, Cap. 25.
") In quntuordetim, aut quindecim auiibus eiDguIoB fere consles riderem singtik
fila continentef tennia. longitucula, teretia, albida, et nervuloraoi, ut videbaatur,
quos taeciila sanKuifera comitentur, quam Bimülima. 1. c. Ep. XII, Cap. 55.
') Quidni igitur eodera pertineat ita pratpoHitum ejusdent Scalae oriGeia
HemiHpbaericain Cavum; ut ex üliusniodi eonit quos dam, orifi dum Scalae efiugient«,
poasit colligere, vividiores facere, nee aecuB atque Auriculae Concha in Aaditoriuai
Meatuin, in proiimum Scalae orificium compellere? ]. c. Ep. XIII, Cap. 4S.
Giovanni Domenico Santorini. Zu den zeitgenössischen Anatomen
dieser Periode zählt Giovanni Domenico Santorini (1681 — 1737), ein
Schüler Bellinis. Santorini gehörte dem Kreise der Gelehrten an, mit
denen Morgagni in freundschaftlichem Verkehre stand. Nach Ve^
öffentlichling seiner .Observationes anatomicae" ') ging Santorini an
die Bearbeitung eines die ganze Anatomie umfassenden Hauptwerkes,
dessen Vollendung jedoch sein frühzeitiger Tod verhinderte. Das Frag-
ment wurde von Mich, Girardi herausgegeben*). Besonders eingebeDd
beschäftigte sich Santorini mit den Muskeln des Ohres, in deren
Beschreibung er mit Valsalva und Albin wetteifert^). Sie finden
sich in dem zuerst genannten Werkchen , Observationes iinatomicae*.
über das Haller folgendes Urteil füllte: „Subtilissimus incisorum inlioc
exiguo iibro innumera nova inventa proposuit." Insbesondere bereicherte
er die Kenntnis der dem Ohrknorpel allein angehörenden, in seinem
Werke gut abgebildeten kleinen Muskeln*). So entdeckte er zuerst
den M. helicis major und M. helicis minor. Er war auch dererste,
der genauer als Mery und Diiverney die nach ihm genaimteo I*'
zisuren des äußeren Gehörgangs (Incisurae Santorini) beschrieb
und nachwies, daß bisweilen über den ersten größeren Einschnitt Muskel-
fasern hinwegziehen (Santorinischer Muskel)'). Die Tromnielholil^
beschreibt er weit besser als die früheren Anatomen ^).
') Obserrationea anatomicae. Yenet. 1724.
■') Septemdecim (abulae . . . Mich, Girardi. Parma 1775. Opera. Parma 1"S-
') Ob«, anat. De Äure exteriore. Cap. II. p. 37; Cap. I; femer Tab. SVU,.
posthum ed. Girardi. Parma 177,'i. Tab. I.
') Obs. anat. Tab. 1 und Tab. IIT. Fig. 3. Ortendit potiseimum pleros««'*
Aiirioulae muaculoa.
') Oba. anat p, 41.
^) Varia illiui figura esse solet, aliquandi> enim veluti in duplicem ab U**'
eiortus priacipiö dirimitur, atque ejusdem incisurae diducÜoni imponitur: interd«**'
in artuB Kimilitudinem coiiiponitur, et ejus cavum ad exteriorem convertitur. Ek <*
hnjus muMuli fibrarum directio. ut ex interioie parte ad eiteriora vergant. et Dtixi^*-^
Cotugno. 253
tendineo eztremo earumdem marginibus inserantur. Alteram quoque incisuram lacer-
tosis exterius fibris muniriy quamquam mihi aliquando non obscure vidisse visus
sum etc. 1. c. p. 18.
«) Tab. XVII; Tab. V.
Domenico Cotugno.
Die grundlegenden Arbeiten Valsalvas und Morgagnis wurden
von dem jungen Schüler des letzteren, Domenico Cotugno, in glän-
zender Weise fortgesetzt. Schon im Alter von 24 Jahren veröfiFentlichte er
seine berühmte Dissertation, die eine neue Epoche in der Physiologie
des Gehörsinns inaugurierte.
Dom. Cotugno (Cottunni, Cotunni, Cotugni, 1736 — 1822)
wurde zu Ruvo im Neapolitanischen am 3. Dezember 1736 geboren.
Trotz bitterster Armut widmete er sich anatomischen Studien und erregte
durch seine mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und seltenem Scharfsinn
ausgeführten Arbeiten solche Bewunderung, daß er schon im Alter von
30 Jahren auf den Lehrstuhl der Anatomie und Chirurgie in Neapel
berufen wurde, den er bis zu seinem am 6. Oktober 1822 erfolgten Tode
innehatte. Seine Studien über Ischias, den Sitz der Blattempusteln, über
den Liquor cerebrospinalis und andere erwarben ihm bedeutenden Ruf,
den größten Ruhm aber erlangte er mit seiner ersten Arbeit, einer kleinen,
bloß 80 Seiten umfassenden Schrift: „De aquaeductibus auris humanae
internae anatomica dissertatio.** Neap. 1760^). In diesem Meisterwerke
beschrieb er aufs genaueste das innere Ohr mit der Labyrinthflüssigkeit
und stellte die erste Hörtheorie auf, welche mit dieser rechnet und daher
den Ausgangspunkt der modernen Anschauungen bildet. Der aer innatus
der antiken Hörphysiologie mußte endlich dem realen humor aqueus
labyrinthi für immer Platz machen*). Wohl hatten mehrere Anatomen,
wie Duverney, Valsalva, Morgagni^), vor ihm hie und da die Laby-
rinthfeuchtigkeit beobachtet, doch keiner hatte den Mut, mit der Jahr-
hunderte alten Tradition des „aer ingenitus" zu brechen. Hier zeigt sich
am klarsten, wie grobe Irrtümer durch das schrittweise Vordringen der
Erkenntnis verdrängt werden. Cotugno war der erste, der nachwies,
daß die Flüssigkeit die Hohlräume des Labyrinths vollständig ausfülle.
Nur eines ist auch bei ihm noch mangelhaft: die Kenntnis des häutigen
Labyrinths. Dieser Schlußstein zur makroskopischen Erforschung wurde
erst von Scarpa gelegt.
Die Dissertation Cotugnos, schwunghaft und in der freudigen
Stimmung eines jugendfrohen Entdeckers geschrieben, verficht vornehmlich
vier Thesen: Die Existenz der beiden Aquädukte (Cochleae et vestibuli),
das stete Vorhandensein des Labyrinthwassers, die Bedeutung
der Aquädukte für die Ableitung der Labyrinthflüssigkeit, endlich
eine gehörphysiologische Hypothese. Von diesen Thesen vermochten sich
w -^ m
254
Cotugno.
nur die beiden ersten auf reale anatomische Anschauung gegründeten
dauernd zu erhalten, während die Hörtheorie längst als baltlos der Ver-
gessenheit anheimfiel. Auch von seinen Ansichten über die physiologische
Bedeutung der beiden Wasserleitungen haben sich in der Folge nur
wenige behauptet.
Das Gehörorgan schien damals so vollständig durchforscht zu sein,
daß Cotugno in der Vorrede zu seiner Dissertation sich geradezu ent-
schuldigt, Neues vorzubringen *).
Fig. 11. Photogr. Reproduktion aus Cotugnos ,De aqiiaeductibus auria humanae ist.*
Taf. I [, den geSSneten Saccus endolymphaticus an der binteren Pymmt den wand zeigend,
f. Nervi paria septimi portio dura. g. Ejuadem BCptimi paria portio mollie. hh. Ori-
ficium canalis communiä nervorum paria septimi, k. Janua arcuata orificii iDferioria
Cochleae aquaeductuB. pp. Angulua superior oseis petroai a quo teutorium reeectum
est. rr. Lataa posterius ossis petiosi iu quo deainit vestibuli aquaeductus. s. Cavitas
luembranea aqnoedactUE Testibnii aperta. tt. Rimn. in qna desinit ossea |iarsaquae-
ductUB vestibuli, et ad cujus directionem prima cavitütis incitio facta est, Tab. 1,
Fig. 1, mm, Fig. 2, i. uu. Latera dissecta eavilatis membi-aneae revolula, ixii. Venulae
lympbaticae mercurio plenae, a cavitate aquiieductua membramu procedeutes et in
lateralem einum derivatae.
Während früher die Bezeichnung „aquaeductus" in der Ohranatomie
oft eine sinnwidrige Anwendung fand (wurden doch der Fazialkanal und
auch die Tube so genannt), wählte sie Cotugno niit Absicht, da er die
richtige Anschauung vertrat, daß die beiden Kanäle Labyrinthwasser
leiten*). Morgagni kannte wohl die in der nach ihm genannt«n Ca-
vitas sulciformis gelegene Anfangsüffnung des A([uaed. vestibuH, hielt
ihn aber für einen hlindendigenden Kanal. Auch Cassebohm kannte die
Vorhofsüffnung. Aber erst Cotugno verfolgte den Kanal bis zu jener
Spalte, die sich an der hinteren Felsenbeinfläche zwischen Sinus sigraoid.
und meat. aud. intern, befindet"), und bestimmte seine Weite und Länge.
Er behauptet ferner, daß das äußere Blatt der Dura mater den Vorhofs-
aquädukt auskleide und in das Periost des Labyrinthes sich fortsetze.
Hinter der Spalte an der hinteren Felsenbeinwand entdeckte er einen
von den beiden Blättern der Dura eingeschlossenen, sehr
verschieden gestalteten Hohlraum (Intraduralsaek des Aquaed.
vestib."), den er ,cavitas aquaeductus membranacea" nannte und als Fort-
setzung der Vorhof Wasserleitung auffaßte"). Es gelang ihm auch, die
Kommunikation dieses Sackes mit dem Aquaeductus des Vorhofes nach-
zuweisen. Ferner behauptet er, Venen und Lymphgefäße durch Injektion
(mit Quecksilber) nachgewiesen zu haben, die die Flüssigkeit aus dem Sub-
duralraura wieder ableiten"!. Cotugaos Untersuchungen erstreckten sich
auch auf das Gehörorgan des Fötus und des Neugeborenen und er gibt eine
genaue Anweisung der Präparationsmethode, durch die er sein Ziel erreichte.
Mit demselben bewunderungswürdigen Eifer gelang es ihm, den
aquaeductus Cochleae aufzufinden, dessen Schneckenmündung in der
Scala tyrapani neben der Fenestra rotunda bereits von Duverney ab-
gebildet wurde*). Valsalva konnte die kleine Oeffnung in der Scala
tymp. nicht auffinden'"), hingegen wurde sie von Cassebohm und
Morgagni") genau lokalisiert und beschrieben.
Cotugno verfolgte den Kanal von seinem Beginn in der Scala
tymp. (von ihm .orificium superius' genannt) bis zur trichterförmigen
Ausmiindung am „orificium inferius* "). Nach seinen konstanten Be-
funden besitzt das runde Fenster an jener Stelle, die der Apertura interna
der Schnecken Wasserleitung zunächst Hegt, eine kleine knöcherne Zunge
(ligula ossea), gewissermaßen als Verzäunung fsepiraentum). Die an das
runde Fenster prallende Labyrinthfillssigkeit trifft nicht auf die Fenster-
membran, sondern auf jenen Knochen, der sie mit voller Kraft ,in proii-
mum aquaeductus orificium" schleudert. Die äußere Mündung der
Schneckenwasserleitung bildet einen dreikantigen Raum, der einen .biatus'
besitzt, wodurch ein „semicanalis* entsteht*). Aus diesem jedoch wird
*) Orificium aatem inferius in quamdam triangularis areae speciem deeinit:
cniai unum latus in eo est margine oriBcii, qiii sah canali obeervatur n
mnni, duo reUqua antrorsum ad ee invicem uccedunt. FostremH Uiiae
in aogulum non canveniunt, sed hiatum relinquunt inter se. quo t
continetur . . . 1. c. Cap. 75, p. 65.
256
ColugTio.
beim fortschreitenden Wachstum ein ringsum geschlossener Kanal, der an
der unteren Fläche der Pyramide ausläuft. Jener Hand der äuSeren
Apertur, ,f|ui ad cavum calvariae pertinet", hat stets Bogenform, wes-
halb gleichsam eine ,janua" (Türe) zu stände kommt, durch die sich
Labvrinthflüssigkeit .intra cranÜ cavitatem' ergießt. Die harte Hirnhaut
kleidet den aquaeductus Cochleae aus und setzt sich in das Scbnecken-
periost fort. Die Ursache, warum der Aquädukt den Anatomen bisher
entgangen war. erklärt er aus dem Umstand, daß ein Bündel (nervus
glossopbarjngeus) des achten Hirnnerven (nervus vagus) die äußere
Oeffnung des aquaeduct. cochl. zum Durchtritt benutzt. Daß durch die
Schneckenwasserleitung Blutgefäße ziehen, wie Morgagni und Casse-
bobni behauptet haben, wird von ihm in Abrede gestellt; Untersuchungen
an Schädeln Erstickter führten ihn vielmehr zur Annahme, daß die
Schneckenvene durch ein mit dem Aquädukt paralleles, nahes Knochen-
kanälchen verlaufe,
Cotugno entdeckte die Schneckenwasserleitung zuerst beim Pferd,
später fand er sie aber auch im menschlichen Gehörorgan'*).
Von grundlegender Bedeutung ist seine Schilderung der Labyrinth-
flüssigkeit. Ihre Menge sei so groß, daß sie die LabyrinthhShle voll-
ständig ausfülle. Wer mit Aufmerksamkeit frische menscbliche oder
tierische Gehörorgane untersuche, werde finden, daß keine Luft im
Labyrinth vorhanden sei, da durch den Steigbügel der iCutritt derselben
unmöglich gemacht ist. Der Irrtum aller früheren Anatomen erkläre
sich lediglich aus dem Umstand, daß sie ihre Forschungen nur an alten,
nicht an frischen Gehörorganen anstellten. Die Quelle der Labyrinth-
äUssigkeit seien Exhalatiouen der Gefäße. Am besten könne man sich
von der Existenz des Labyrinthwassers überzeugen, wenn man in frischen
Ohren behutsam den Steigbügel entfernt oder das Felsenbein durch einen
Schlag zerschmettert'*). Der Nutzen der Flüssigkeit bestehe in dem
Schutze der Nerven, die durch den unmittelbaren Kontakt mit den
schwingenden festen Teilen geschädigt würden: .Humor onim intermedlus
leniter undans ob acceptum ab ossibus inipulsum concutit nervös, sed molli,
nee aspero contactu."
Die auf die physiologische Bedeutung der beiden Aquädukte basiei-te
Hörtheorie Cotugnos erwarb sich durch ihren bestechenden Scharfsinn
nicht bloß den Beifall der Zeitgenossen, sondern blieb lange noch herr-
schend, obwohl Scarpa ihre Unhaltbarkeit nachwies. Sie beruht näm-
lich auf der von den meisten zeitgenössischen Anatomen geteilten irr-
tümlichen Annahme einer nervigen Scheidewand des Vorhofes'*'')
und mußte durch deu exakten Nachweis des häutigen Labyrinthes zu Falle
kommen.
Cotugnos Theorie baut sich folgenderniaßt-n auf"'): Durch die
DOMENICO COTUGNO
Cotugno. 257
Schallwellen wird das Trommelfell erschüttert, nach innen getrieben und
Hammer, Amboß und Steigbügel in Bewegung gesetzt, wodurch die Stapes-
platte in das Vorhoffenster gedrückt wird. Da gleichzeitig auch die Chorda
erschüttert wird und mit ihr die Hammer- und Steigbügelmuskel ver-
sorgenden Zweige, so werden diese Muskeln zur Kontraktion angeregt
und die ganze Bewegung noch verstärkt. Durch das Eindringen der
Basalplatte des Steigbügels muß das Labyrinthwasser und zugleich die
nervige Scheidewand des Vorhofs in Schwingungen geraten. Die nervige
Scheidewand wird hierbei nach hinten konkav, nach vorne konvex. Da-
durch kommt das Labyrinthwasser aus seiner Lage und macht einen
doppelten Umlauf. Der eine, größere, beginnt in dem vorderen Ab-
schnitte des Vestibulums und setzt sich durch den (horizontalen) äußeren
Bogengang zur hinteren Vorhofshöhle fort, worauf er auf dem Wege
des gemeinschaftlichen und oberen Bogengangs zum vorderen Abschnitt
des Vorhofs zurückkehrt. Der zweite kleinere Umlauf nimmt seinen
Weg von dem hinteren Teile des Vorhofs durch den gemeinschaftlichen
und hinteren Gang nach eben diesem Teile des Vestibulums. Ebenso
setzt sich der Druck der Flüssigkeit durch die Vorhofstreppe fort, um
durch den Vieussenschen Becher in die Paukentreppe zu gelangen. Bei
diesen Flüssigkeitsschwingungen wird sowohl die Lamina spiralis der
Treppe als auch die nervige Vorhofsscheidewand erschüttert, welch letztere
eine bald nach vorn gewölbte, bald wieder flache Gestalt annimmt. So-
mit werden die vom tönenden Körper ausgehenden Schallschwingungen
im selben Rhythmus den in der Scheidewand und Lamina spiralis aus-
gebreiteten Nervenendigungen vermittelst der Labyrinthflüssigkeit mit-
geteilt und so dem Sensorium zugeführt. Damit die Chorden jedoch nicht,
wie sonst beim Mitschwingen, weiter schwingen, sind sie „moUes** und
fortwährend von Flüssigkeit gepreßt; sie stehen nach einer Schwingung
stille und geraten nicht früher in Bewegung, als bis sie einen neuen
Lnpuls vom Stapes erhalten*).
Der Zweck der Wasserleitungen besteht darin, die von der Be-
wegung der Stapesplatte gegen den Vorhof gedrängte Flüssigkeit durch
die Aquädukte abzuleiten. Nach Aufhören des Druckes kehrt die Flüssig-
keit wieder in die Labyrinthhöhle zurück.
*) Sunt igitur nervi acustici quasi chordae in singulo tremore sonori corporia
semel oscillantes, totque cum audimus impressiones cerebro numeratim impertientes,
quot numero sunt Bonori corporis vibrationes. Sed quae chorda semel percussa
oscillat semel. Gerte quae tensa nimium, et siccissima chorda est, semel pulsata,
valide, dintiusque tremit; sed vitare natura hanc multiplicem oscillationem in chordis
nostris acusticis visa est, neque enim tensas nimium, neque aridas, sed molles, et
fluido continuo pressas easdem efibrmavit. Ita enim fit, ut, cum a stapede im-
pelluntar, nunqaam acceptum continuent tremorem. sed semel motae, quiescant, ncc
iterum moveantur, nisi nova accedat stapedis impulsio. 1. c. Cap. 91. p. 78.
Politzer, Geschichte der Ohreuheilkunde I. 17
258 Ck)tugno.
■ 1 »■ II ■ ■■■■■■■■ ■■-! ^k- — ■ — ■ I I - —■— —■ - »■! I -. I . ■ ,. ■■- .1 ■ ■ » I.. -I — , ..
Die Schallwahrnehmung findet hauptsächlich in der Vorhofs-
scheidewand statt, die Tonempfindung speziell in der Schnecke ^^).
Cotugnos Ausführungen über die physiologische Bedeutung der Schnecke
sind deshalb von ganz besonderem historischen Interesse, weil er ganz
richtig die längsten Chorden in die Spitze, die kürzesten in die Basis
der Schnecke verlegt, eine Annahme, die mit der Helmholtzschen Hör-
theorie vollkommen im Einklang steht "^j.
Das Gesagte würde genügen, um das Interesse zu erklären, das
Cotugnos Schrift erregte. Aber auch sonst bietet diese Dissertation
viel Neues und Anregendes. So z. B. die Maßangaben der einzelnen
Teile des Gehörorgans^®), die kurze, aber vortreffliche Beschreibung
der Schnecke ^^), in der er über den Tractus spiralis foraminulentus und
das Helicotrema*®) mit einer Klarheit handelt, die man bis auf Scarpa
bei allen Autoren, selbst bei dem scharf charakterisierenden Cassebohm
vermißt ^^).
Cotugnos Arbeiten enthalten eine große Summe von exakten
anatomischen Ergebnissen, die teils unter seinem, teils unter fremdem
Namen Gemeingut geworden sind. Die auf seine anatomischen Ent-
deckungen aufgebauten Theoreme aber sind trotz ihres geistreichen
Aufbaus verschollen. Immerhin jedoch enthalten sie mehr als einen Kern
von Wahrheit, so daß der Historiker nicht ohne weiteres über sie hinweg-
gehen kann.
Die Angaben Cotugnos über die technische Darstellung der von ihm ent-
deckten Vorhofswasserleitung waren so mangelhaft, daß es den späteren Anatomen
nicht gelang, die Entdeckung zu bestätigen. Hatte doch der durch eine hervor-
ragende Präparationstechnik berühmte Hyrtl die Existenz des Aquaed. vestibuli in
Abrede gestellt und ihn als gefäßführenden Kanal erklärt. Selbst nach der bildlichen
Darstellung des Intraduralsackes durch van den Broeck (Atlas 1852) und nach
der Schilderung Böttchers**), der an mikroskopischen Schnitten das Verhalten der
Vorhofs Wasserleitung darlegte, war man vom Vorhandensein derselben nicht über-
zeugt. Bezüglich dessen sei erwähnt, daß, als Kölliker 1876 in Wien weilte und
Zuckerkandl ihm mitteilte, daß es ihm gelungen sei, an der hinteren Felsenbein-
fläche den Intraduralsack der Cotugnoschen Wasserleitung aufzufinden ***), Kölliker
erst dadurch von deren Existenz überzeugt wurde, als Zuckerkandl in seiner
Gegenwart die Präparation des Sackes ausführte. Um dieselbe Zeit gelang es auch
Weber-Liell den Intraduralsack aufzufinden.
*) Apparet aeque necessitas Cochleae, in qua series chordarum parallelarum
tensarumque cymbalo similis abscondetur. cujus in zona Cochleae sedes est, quae fila
nervosa a spirali lamina accepta, et parallela continet longitudinis variae. Harum
ego chordarum minimam in zonae originepono, prope orificium scalae
tympani, ubi arctissima zona est, maximam vero versus zonae hamu-
lum. I. e. Cap. 91, p. 79.
**) Böttcher, Arch. f. Ohrenheilkunde Bd. 8.
***) E. Zuckerkandl, Mon. f. Ohrenh. Jahrg. 10, 1876.
Cotugno. 259
^) Erschien auch Neapoli 1761. Viennae 1774.
') De aquaeductibus. Cap. 29, p. 22 f.
'} Hoc est primum icapddoSov, quod in medium afferre videbor, in tanta quidem
Anatomicorum omnium, quod sciam, consensione, ezistimantium madescere quidem,
non ad amussim impleri hoc humore labjrinthum, et aSrem a tjmpano venientem
simnl continere. Qui vero attente, non in humanum modo labyrinthum, sed et eorum
quoque animalium, quibus humano respondens labyrinthus datus est, rem ipsam in-
quisiverint, mecnm absque dubio manifeste videbunt, nihil a€ris in labyrintho in aure
recenti, ac vivo propterea homine inveniri, sed omne spatium lympha repleri. 1. c.
*) Mirum proinde, vel rerum gnarissimis, videri poterit, valuisse me aliquid
de hoc organo proferre, quod tantorum Anatomicorum attentionem praeterierit
Aquaeductus enim auris intemae exponere aggressus sum, quales adhuc inauditi.
Sed et de aure post Fallopium inaudita protulit Eustachius, nova post hunc Gas-
serius, novaque Folins, meliora Du Vemeyus, illustriora Valsalva et Cassebohmius,
ac pleraque longe, post tot tantosque viros, definita, Morgagnus. Nempe, quia
naturam nunquam sine fructu consulimus, nee post mille saecula praecludetur inqui-
rentibus occasio nova detegendi. Praef.
') Quae faciunt ut credam, me non eese nominis hujus proprietate abusum,
cum canalibns aptavi, qui aquaeduetuum, et fomiam et officium, omni ex parte sibi
vindicant. 1. c Cap. 1, p. 2.
*) Canalis ab hoc procedit orificio, qui introrsum sursumque tendit per medium
06 petrosum, superseandens canalem communem. Lineae spatium hoc decursu per-
curiit; atque mutata inde directione, eztrorsum deorsumque curvatur, inque illa
terminatur rima, quam in posteriori intemo latere, prope foveam sigmoideam, os
petrosum habet. 1. c. Cap. 59, p. 49.
^ Durae matris . . . lamina ezterior. quae immediato contactu ossibus applicatur,
per rimam, in qua canalis osseus aquaeductus vestibuli finem habet, intra aquae-
ductum reflectitur. I. c. Cap. 60, p. 50. Constat ex dictis aquaeductus vestibuli
duas esse partes, unam ab orificio ad rimam, quae ossea pars dici potest, alteram
a rima ortam, et intra duram matrem excavatam, quam cavitatem aquaeductus mem-
braneam licet appellare. 1. c. Cap. 64, p. 54.
') ). c. Cap. 65, p. 55.
•) Traite de l'organe de rouie. Tab. X, Fig. 8.
'^) De aure humana. Cap. 3, p. 15.
*') Cassebohm, De aure humana, Tract. V, 199, Morgagni, Ep. XII, 60.
") De aquaeductib. Cap. 75, p. 63 f.
") 1. c. Cap. 81, p. 69.
'^) Quoties enim auris recentissima, et integra, nee dimoto stapede ad obser-
vandum assumitur, dum leviter stapes de fenestra ovalis subducitur, totum vestibulum
aqua plenissimum observatur. Imo si in ipsa calvariae basi, aliquis canalium semi-
circularium uno iciu frangatur, lumen aqua plenissimum ostendet; quod et in Cochlea
ditcissa manifesiissimum est. I. c Cap. 29, p. 23.
^^) illa haec omnia (sc. nervi) cum in vestibulum pervenere uno excepto, quod
saepe canalem eztemnm penetiare conspexi, ab ipso a pyramide, adsitisque forami-
nibus ezito, velnti a centro in membranam simul expanduntur, quae versus fundum
vestibuli contendit Haec ita distenditur, ut integrum septum in vestibulo faciat,
toto ambito circumligatnm, quo cavitas haec bipartitur, in cavitatem anteriorem,
atque posteriorem ... Membranam nervosam istam septum nervosum vesti-
buli appello. 1. c. Cap. 26, p. 20.
») 1. c. Cap. 87—91, p. 70-78.
") Septo igitur sonum pei'cipiiuus, cocblba tonos diseemiinua. 1. c. Cap. 92, p. 79.
") Beispielaweiae des Vestibulums; Aiis veatibuli major, qui parallelus eit
horizonti, duaa saepe lineaa aequat, nainor qui perpendicuUrta l'i, profnnditas ejua i
media, sive distantia ab oval! fenestra ad vestibuH fuDdum, liaeam I','] adaequut,
quamquam sliquando perpendiculari ftii aequalis sit. 1. c. Cap, 8, p. 8.
") 1. c. Cap. U— 22. p.8-17.
">) Facile est intelligere, inter liamulum laminae, cum reliquo xottae hamulo.
et secundi gjri pavirnentum . circa cujita centnini hamuli diriguntur, diftantiam 1
relinqni- Hiatu propc triangulari in infundiliuli tubo patentem. 1. c. Cap. 18. p. 14.
") In dem kleinen 30. Kapitel faßt er die Hauptirrtümer der Vergangenheit I
zuiammen: Quot ergo foramina, per quae nerri in vestibulum intrant? Non duo ut
fortasae putavit Du Verneyu»; non quin(iue ut Valaalva sed innumera. Quid zooae
EOnorae a Valsalva propositae? Äliquid iu quo lionus dormitavit Homeruf. Quid
aSr ille ingenitua Aristoteli dictos, et toti prope antiquitati acceptus, cul tantum .
Anatomici, et Phjsid videntur tribuisse? Patet, i.
Antonio Scarpa
(1747—1832).
Den Höhepunkt erreichte die otologtsehe Forschung des 18, Jahr-
hunderts iu den Werken Scarpas, die durch ihre mustergültige Exakt-
heit, ihren reichen Inhalt und durch die Klarheit und Anschaulichkeit
der Darstellung die uneingeschränkte Bewunderung der Zeitgenossen er-
regten. Die anatomische Erforsoliung des membrauösen Labyrinthes hat
Scarpa den Ruhm eines der größten Anatomen aller Zeiten eingetragen.
Nicht nur die Sorgfalt der Beoljachtnng ist es. die Scarpas Arbeiten
so weit über seine Zeit erhebt, sondern die Schärfe der Auffassung,
welche sich in der überaus klaren Äusdrucksweise kundgibt und seiner
Beschreibung den Stempel der Wahrheit aufdrückt. Den Wert der
Arbeiten Scarpas erhöhen die naturgetreuen, von ihm selbst gezeich-
neten Abbildungen, die von der KUnstlerband Anderlonis in Kupfer-
stich ausgeführt dem Werke beigegeben sind.
Während durch Folios, Duvernejs, Valsalvas und Morgagnis
Arbeiten die Kenntnis des knöchernen Labyrinths der Vollkommenheit
nahe gebracht wurde, herrschten Vjis Scarpa Über das hüutige Laby-
rinth nur falsche und irrige Vorstellungen, welche wohl der fehlerhaften
Methodik der Präparation beigemessen werden dürfen. Schon Cotugno
erkannte , daß an mazerierten Gehörorganen nicht alles aufgefunden
werden kann und verdankte dem Umstände, daß er frische Objekte wählte,
seine Entdeckung des Labyrinthwassers und der Aquädukte, doch gelang
es ihm nicht, die Details des häutigen Labyrinthes zu erforschen. Erst
Scarpa war es vorbehalten, die Zonae sonorae des Valsalva, die nervige
Vorhofsscheidewand Cotugnos und andere irrtümliche Angaben zu be-
seitigen und die Anatomie des häutigen Labyrinthes endgültig festzu-
stellen.
Scarpa. 261
Antonio Scarpa, aus Motta in der Mark Treviso, wurde am
13. Juni 1747 geboren. Er erhielt eine ausgezeichnete Jugenderziehung
und fand schon frühzeitig durch seinen Oheim, einen hervorragenden
Mathematiker, reiche Anregung zum Studium. Lust und Vorliebe für
Medizin drängten ihn, die Universität Padua zu besuchen, wo damals
neben anderen Celebritäten noch Morgagni wirkte. Dieser wendete
dem jungen Scarpa seine Gunst zu und fesselte ihn als Vorleser und
Sekretär an sich. Durch den Verkehr mit dem großen Manne, durch
die Erledigung seiner reichen Korrespondenz mit den hervorragendsten
Gelehrten Europas, durch die gemeinsame Lektüre wissenschaftlicher,
namentlich klassischer Meisterwerke fand der empfängliche Geist Scarpas
eine Anregung, die ihn weit über das Niveau des fachlichen Forschers
hob. Nach zwei aufs beste ausgenützten Jahren verließ er Padua, um
in Bologna vorwiegend klinische und chirurgische Ausbildung zu erlangen.
Dort legte er unter der Leitung Rivieris den Grund zu seinen später so
berühmten chirurgischen Kenntnissen und empfing, nach weiteren zwei
Jahren zurückgekehrt, den Doktorhut aus den Händen Morgagnis, der
bald hierauf in den Armen seines Lieblings verschied. Schon im folgen-
den Jahre (1772) wurde Scarpa Professor der Anatomie und erster
Chirurg am Hospitale zu Modena. Während seines dortigen achtjährigen
Aufenthalts schrieb er zwei anatomische Werke, die namentlich die
Sinnesorgane und das Gangliensystem behandeln; auch verdankte ihm
die medizinische Schule Modenas die Errichtung eines anatomischen Hör-
saals und einer chirurgischen Klinik. Von Hercules HL, dem Nachfolger
des gütigen Herzogs Franz von Modena, beleidigt, verließ er Modena und
begab sich nach Frankreich, Holland und England, wo er mit den her-
vorragendsten Zeitgenossen wie Vicq-d'Azyr, Baron Wenzel, Bram-
billa, Pott, Hunt er u. a. in Berührung trat und jene reichen Er-
fahrungen und Kenntnisse sammelte, die später seinen europäischen Ruf
als Anatom, Chirurg und Ophthalmolog begründeten. Dem freundschaft-
lichen Einfluß Brambillas verdankte er im Jahre 1783 seine Ernennung
zum Professor der Anatomie und Chirurgie zu Pavia, wo Joseph U. eine
neue Lehrkanzel für Anatomie und eine chirurgische Klinik gegründet
hatte. Ende 1783 war Scarpa mit Volta nach Wien gereist, wo beide
dem Kaiser vorgestellt wurden. Er begab sich dann nach den bedeu-
tendsten Universitäten Deutschlands, überall die wissenschaftlichen Insti-
tute besuchend. Zurückgekehrt, beendigte er den zweiten Band seiner
^Annotationes anatomicae", welcher über das Geruchsorgan wertvolle
Studien enthält.
Sein für die Otologie bemerkenswertestes Werk „Disquisitiones ana-
tomicae de auditu et olfactu" erschien im Jahre 1789, in zweiter Auf-
lage 1795. Der damalige Kriegszustand Italiens entriß ihn eine Zeit-
262 Scarpa.
lanR seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und als im Jahre 1796 die
Transpadanische Republik gegründet wurde und Scarpa dieser den ver-
langten Eid der Treue verweigerte, wmr er genötigt, sich von der öfiFent-
liohon Lehrtätigkeit zurückzuziehen. Er benützte nun die unfreiwillige
Muße, um sich ganz in seine während der Kriegsjahre gesammelten
chirurgischen Studien zu vertiefen, als deren Resultate die allseitig mit
Beifall aufgenommenen Schriften über die Aneurysmen, den Klumpfuß
und Augenkrankheiten erschienen. Erst 1805, als Napoleon nach Pavia
kam und sich die Professoren der Universität vorstellen ließ, wurde
Scarpa rehabilitiert; denn als man dem Kaiser die Ursache seiner
Absetzung mitteilte, sagte dieser: «Eidesterweigenmg und politische An-
sichten haben mit der Wissenschaft nichts; zc res. Scarpa ist eine
Zierde der Universität und meiner Staaten, irl: wSL iaüS er seinen Platz
wieder einnehme/ Napoleon zeichnete ihr. luvo. iurch Ernennung zu
seinem Chirurgen und durch VeHeihimfr dtr Kbrisolegion aus.
Die weitere Wirksamkeit des Meistms^ war vornehmlich der Chirurgie
und pathologischen Anatomie gewiäinÄ Swiae Schriften übertrefiFen an
Originalität der Beobachtung alle w: -a«i»»r iSeit erschienenen Fachwerke.
Zum größten Leidwesen verHaP ^-r '^>tl di^ Lehrkanzel, bekümmert
durch den Tod seines LieWinpsoWiw^ Jacopi. Trotzdem setzte er
seine wissenschaftlichen Stadw -^««^ W^ Mußestunden verbrachte er
mit der Lektüre modemer ^p^ -^ ^«^ Klassiker des Altertums, denen
er jenen klaren, prftgniwt^ Sii verdankt, der noch heute den Leser
seiner Schriften erfrem
Scarpa, Acr ^^ ^^ '»'^ ^^"^ Alter dauernder Gesundheit er-
freute, erlag einer rb^^»»**^** VAjknon der Harnblase 1832 (31. Oktober).
Von den H^^vi^ *^ "****" '^"^^'^ ^^ Betracht kommenden Werken
wollen wir 7UT?Sr»^* -^ t*r*ikt»t üb^r den Bau des runden Fensters und
seiner Membr«^ t,*^^aiü u In der Vorrede, welche das Programm
und das R^ttt^ ^** S^Uiirt euth<, hebt der Verfasser hervor, daß
h* her dir •«"•**?**- Wtoanö^u dem Schneckenfenster jene Aufmerksam-
V t ^^*^'» ^'**'* ""^ ■'^^" ^" Aubetracht seiner Wichtigkeit für das
„ /^ 1^ ._,^,->^^ i^«^ HoiAktev< zukomme*). Das Werk zerfallt in fünf
r>\ **** '^ Uis£v>nsv'hott Inhalts: die zwei folgenden behandeln
• ^^w^Ä^^i >^c->K^ Büu. Struktur, Lage und Zweck des runden
5^^; i* A-v ^ V** ;**^^'*" jf^Wu hCk-hst mangelhafte Beschreibungen und
rfüt^"** \x>i« SviJtiuvkt^ttVusUT'^. insofeme sie keine Rücksicht auf
^^^j^^uixxv i« Uctt wrschiedeuen Altersstufen nahmen. Scarpa
%;V >jho l «V st%''^ tV«.<t^rs während der fötalen Entwicklung
^ '^. t>*i Aticv« Msuii^ti? U^ es dem Trommelfell fast parallel,
Scarpa. 263
im vierten, wo die Schnecke schon verknöchert ist, tritt das Fenster
noch weiter nach vorne, während es im fünften wieder zurücktritt, sich
mehr nach hinten neigt und zugleich wegen der Entwicklung des
TrommelfeUringes sich mehr vom Trommelfell entfernt. Die Distanz
des Schneckenfensters vom Trommelfell werde in den späteren Monaten
noch bedeutender, betrage im siebenten bloß P/i Linien, im achten
schon 2, im neunten endlich 3 Linien. Ebenso bestimmte Scarpa bei
Erwachsenen und Greisen*^) die Abstufungen der Stellung des Fensters.
Seine Gestalt, welche die früheren Anatomen als rund oder oval an-
gegeben hatten, definierte er als dreieckig und wußte, daß es eigentlich
den Eingang in einen Kanal abschließe, der ebenfalls mit einer dreieckigen
Mündung in die Schnecke übergehe'). Zwar hatten schon Casserio,
Duverney, Cassebohm, Haller diesen Kanal angedeutet, Scarpa
jedoch verfolgte ihn zuerst genauer und beschrieb den Falz (Sulcus),
den man nach ihm am besten sieht, wenn man schief in den Kanal
hineinblickt *).
Mit besonderer Sorgfalt beschreibt er in den folgenden Abschnitten
die Membran der Fenestra rotunda in Bezug auf Struktur, Ursprung und
Lage, wobei die Aehnlichkeit mit dem Trommelfell hervorgehoben wird,
weshalb Scarpa die Bezeichnung ^tympanum secundarium'' vorschlägt^).
Die Membran sei zart, dünn, setze sich aus dem Periost der Paukenhöhle
und dem des Labyrinths zusammen. Der Raum, der sie gegen die Schnecke
abschließt, kommuniziere nicht, wie manche Anatomen glauben, mit dem
Vorhof, und sie sei im Falze des Fensters so eingespannt, daß sie gegen
die Trommelhöhle zu konkav, gegen die Schneckentreppe aber konvex
erscheine.
Das nächstfolgende (dritte) Kapitel ergeht sich über die physio-
logische Bedeutung des Schneckenfensters. Im Gegensatze zu
der von anderen vertretenen Anschauung, daß nur die Gehörknöchelchen
oder nur die Luft der Paukenhöhle den Schall zum Labyi'inth leite, war
Scarpa der Ansicht, die Fortpflanzung des Schalles geschehe auf beiden
Wegen ^®). Die Ansicht, daß nur das runde Fenster der Schalleitung
diene (Schelhammer, Vieussens), weist er energisch zurück. Umso
entschiedener verficht er seinen Standpunkt, daß die Luft der Trommel-
höhle in Schwingungen gerate, die durch den resonanzfördemden Bau
des Tympanums verstärkt würden und die Membrana tympani secundaria
in Erschütterung versetze. Für die Notwendigkeit des Schneckenfensters
zum Hören spreche das stete Vorkommen bei den verschiedensten Tieren
sowie pathologische Befunde und physikalische Erwägungen. Der Bau
des Schneckenfensters entspreche völlig dem Gehörgang mit dem Trommel-
fell, der Paukenhöhle gleiche der kleine Raum, der sich hinter der
Membran des Fensters befinde und den Anfang der Paukentreppe
•Jti I Scarpa.
h\\{U\ welch letztere bemerkenswerterweise stets weiter als die Vorhofs-
trt'ppe sei ^M.
Das vierte und fünfte Kapitel handelt eingehend über das Gehör-
organ der Vögel und sucht in diesen vergleichend-anatomischen For-
schungsergebnissen Stützen für die oben erwähnten Hörtheorien beizu-
bringen. Die beiden Tafeln mit ihren zahlreichen Figuren übertreffen
an Exaktheit und Schönheit beinahe alle vorhergegangenen otologischen
Werke.
Scarpas Jugendwerk ^De structura fenestrae ronmdae*. das erste
in seiner Art, machte großes Aufsehen, obwohl es von manchen Wider-
sachern für ein Plagiat der Galvanischen Forschongen gehalten wurde,
die sich besonders auf das Gehörorgan der Vögel bezogen. Indes er-
kannten bald italienische und fremde Anatomen, namentlich Haller,
seine volle Bedeutung.
Die kleine Schrift war aber nur der besebeidene Vorläufer der
..Disquisitiones anatomicae de auditu et olfactu*^, dif Scarpa den Ruhm
der Entdeckung des häutigen Labyrinths sichern.
Dieses im Jahre 1789 erschienene Werk ' - biid« «nen Grenzstein
in der otologischen Forschung, indem es An vnmiifcr/iiif fische Methode
insoferne zum Abschluß brachte. «K di»- m^HW Xnpihen Scarpas
noch heute Geltung haben. Erst durri: di» -»n^Hunirwa Praparations-
methoden unseres Jahrhunderts ^rnrd« ^^ iJ^-^ptoniÄ^c der Unter-
suchungen Scarpas einige nenf P^^^ K^^nüau Zwar bediente sich
auch Scarpa des Mikro^koT.*-^-. ---3"*>- ^<^' Jurv^ys Z^uen fast alle
hervorragenden. namentlicL di. ^ w^-- ^'^^i^^^ verwendeten, doch
entbehrte das Instnimerr ^^.-^^ -^ .u.. ^. .ak.mm.ua.ir. aie es zur
i VI- I. T> ^k.^»).».t«k > i^- .^*iic^«;4i M«euiviite in den Sinnesorganen
wissenschafthoher He/^^?^'-»^*"^- ^ ,,..., , . . ^ ,
erst j^*eujnot T!>«o^T M'
haupt ir. der V<»dir' -^ » i. . .- u- . • i
i »- V ..i*^«Ju -wsuicate seiner behoninatonne der
_^... ..V u iiAb 'besonderer Vorliebe betrieb. Die
*- .. ^ Av-uA ieOitte. ue unter anderen (.Teotfro\%
>cevs<r • • _V'^-., üöireuter, Monro und Hunter
^^*'^*^ ^^ ^^ ^^ ^ A:ispv»rn. diese zu erweitem und zu
*^ ^^. ^ ^,.^'i**K»*^^- '!ucuri»hiiusuphische Auffassung ganz im
^■^^ ^!*^ V- H» -•^^»■* ^^^ *^' '^*" Autüiidung des häutigen Laby-
|\^^^ --< ^ •u^iNwvdut»*: itT uiedereti Tierklassen ausgehend.
'^^^^ . wc. **u >* axiü^itti B<.*stäuidteile des menschlichen Gehör-
'^^'^^ Vv!sv» x^^'**^*^*' ^ '* lusiiitatvn. die zur Entdeckung des häutigen
x,.>, "N'A.^^ ^'"'^
Scarpft.
265
Das Werk zerfällt in drei Abteilungen, die erste ist dem Gehör-
organ der Tiere (Insekten, Würmer, Knorpelfische, ScLuppenfische, Am-
phibien, Reptilien und Vögd) gewidmet, die zweite dem Gehörorgan des
Menschen. Letztere, die uns nüher beschäftigt, basiert auf der vorher-
gehenden Abteilung.
Das erste Kapitel (der II. Abt.) gibt eine Uebersicht Hber den Bau
des knöchernen Labyrinths nach dem Stand der damaligen Forschung,
ohne daß Scarpa auf die von ihm neu entdeckten Details besonderes
Gewicht gelegt hätte.
Fig. 12. Photoyi-. Ri'iiioilLiki;,)!! aui Scarpa.< Werk. Taf. VI. Fig. 5. Die häutigen
Bogenröhren , ilit gemeinst hultlicher Öcliliiuch, das runde Säckchen des Vorhofs,
a. Die obere häutigo Itogenröhre. b. Die hintere häutige Bogenröhre. c. Die
ftoBere häutige BogenrShre. d. Daa Bläschen der oberen h£,utigen BogenrQhre.
e. Das Bläschen der äußeren häutigen BogenrChre. f. Dm BläBchen der
hinteren häutigen Bogenröhre. gg. Dfr gemei nach aftü che Schlauch der häutigen
Bogenrilhren. h. Der gemeinschaftliche Kanal der oberen und hinteren Röhre.
i. Das andere Ende der äuüeren häutigen BogeorChre. k. Das runde Säckchen
des Vorbofs geOflhet. I. Der Hdmerv, wie er üich an die Bläachen des oberen
und &ufleren häutigen Bogengangs verteilt, m. Der Hörnerv, wie er «ich auf dem
Schlauche der blutigen Bogengänge verbreitet, n. Ein Bündel des Hörnerven Rlr
das Bläschen des hinteren hautigen Bogengangs, o. Die Breisubstsm» dea Hör-
nerven , welche den Grund dea ephUrischen Säokchens Qberitieht. p. Die Vertiefung
des runden Fensters, q. Die Paukentreppe. r. Die Vorhofatreppe. s. Die Scbnecke.
Zu diesen gehört die klare, kurze Beschreibung der beiden Recessus
des inneren Gehörgangs, ferner der Fovea hemisphaerica und F.
hemielliptica an der Innenwand des Veatibulum, der Bogengänge,
der Lamina spiralis, des Tractus spiralis foraminulentus etc.
Scarpa wußte zuerst, daß die beiden Gruben des Vorhofs, deren Zweck
keiner der vorausgehenden Anatomen kannte, zur Aufnahme von Bestand-
teilen des häutigen Labyrinths diene, femer wußte er, weshalb der Ein-
gang der Bogengänge ampullenfÖrmig gestaltet sei, daß das obere Blatt
der Lamina spiralis gekerbt und gefurcht, das untere dagegen glatt sei.
Mit besonderer Klarheit schildert er die knöcherne Region, die den Ver-
266
Scarpa.
zweigungen des Höinerven zum Verlauf dient. Er teilte die Nervenlöcher
in zwei Hauptklassen, solche, die zum Vorhof und den Bogengiingen, und
solche, die zur Schnecke führen. Die ersteren finden sich an drei verschie-
denen Stellen, im Becessus superior, im Recessus inferior und zwischen
beiden, nahe an der Spina falciformis. Scarpa verfolgte ihren Verlauf
mit peinlichster Genauigkeit bis zur Äusmtlndung, heuannte die ,macula
cribrosa" die „foramina propria vestibuli" und vervollständigte die von
Cotugno begonnene Beschreibung des Tractus foraminulentus hinsicht-
lich seiner Struktur und des Verlaufs seiner Kanälchen in der Lamina
spiralis und Schneckenspindel. Wir werden auf diese Verhältnisse bei
Scarpas Schilderung der Nervenverzweigungen noch zurückkommen'^).
Den wichtigsten Teil der Entdeckungen Scarpas enthält das zweite
Kapitel, welches das häutige Labyrinth behandelt. Was Scarpa hier
vorbringt, ist durchwegs neu uud erfuhr später nur unwesentliche Er-
gänzung. Damit waren die auf mangelhafter Untersuchung basierten
.Zonae sonorae" Valsalvas und die „nervige Vorhofsscheidewand " Co-
tugnos für immer abgetan,
Scarpa zeigte, daß das hUutige Labyrinth beim Menschen und
den höheren Tierklassen der Konfiguration des knöchernen entspricht
und im wesentlichen aus zwei, in den Vorhofsgruben befindlichen Säck-
chen besteht, von deren hinterem (Sacculus ellipticus, jetzt Iltriculus)
die drei häutigen Bogengänge ausgehen. Das elliptische Säckchen be-
schrieb er als die gemeinschaftliche Höhle der Bogengänge; am runden
Säckchen (Sacculus) unterschied er zwei Hälften, von denen die eine
in der runden Vorhofsgrube liegt, während die andere hinausragt und
von der gemeinschaftlichen Höhle der Bogengänge in einem eigenen
Grübchen aufgenommen wird.
Die beiden Säckchen hielt ei' für völlig voneinander getrennt, der
Ductus cochlearis sowie der Canalis reuniens waren ihm jedoch unbekannt.
Die häutigen Bogeuröhren seien vermittelst eines sehr zarten Zellsto^
an die knöchernen Röhren befestigt*). Um diese Teile und ihren Zu-
sammenhang, die er mit Vergrößerungsgläsern untersuchte, noch sicht-
barer darzustellen, bediente er sich der Injektion '*).
Scarpa kannte nicht blob das Lahyrinthwasscr im Sinne Cotugnos,
d. h. die Perilymphe, sondern auch die Endolymphe, die eben erst nach
Auffindung des häutigen Apparats entdeckt werden konnte. Durch die
wässerige Flüssigkeit erscheinen die Bläschen und häutigen Bogengänge
durchsichtig, .so daß sie einer mangelhaften Untersuchung leicht entgehen
konnten'"). Außerdem fand er bereits den Ohrsand, den er mit den
*) Bekanntlich achrieb aich Rüdinger die Entdeckiuig zu. daß die heutigen
Bogeog&nge wandstandig an den knSchemen befestigt seien.
Scarpa. 267
Ohrsteinchen der Fische und Amphibien identifizierte ; jedoch modifizierte
er später sein Urteil, indem er den länglichen weißen Fleck am Grunde
des Sacculus als Ausbreitung des Oehömerven auffaßte.
Mit großer Genauigkeit beschrieb Scarpa auch die Schnecke, in
deren Schilderung er Cotugno übertriflft; vorzüglich sind insbesondere
die Maßangaben der Schnecke und die Beschreibung der Kanäle in der
Spindel. Irrtümlich ist dagegen die Annahme, daß das Spiralblatt bereits
unter der Hälfte der zweiten Windung in das Rostrum laminae spiralis
übergehe.
Was die häutigen Teile der Schnecke anbelangt, so faßte er
die Lamina spiral. membranacea als Duplikatur des Periosts des Spiral-
gangs auf und ließ sie aus zwei Substanzen bestehen, wovon die eine
eine Mittelkonsistenz zwischen Knorpel und Haut, die man lederartig nennen
könnte, besitze, die andere aber ganz häutig, fast schleimig sei. Diese sei
am Rande durchsichtig und im Aeußeren einem mit wässeriger Flüssigkeit
gefüllten Röhrchen nicht unähnlich'''). Der Rand, mit dem das häutige
Spiralblatt mit dem knöchernen zusammenhänge, habe viele kleine Kanäle,
die sich in jene fortsetzen, die aus der Spindel in die Paukentreppe ein-
treten und zwischen den zwei Platten des knöchernen Spiralblattes ver-
laufen. Noch klarer als Vieussens und Cotugno stellte Scarpa die
Verbindung der beiden Treppen dar, die Cassebohm so kompliziert
geschildert hatte. Selbstverständlich fand er auch in der Schnecke das
Labyrinth wasser, welches das Spiralblatt wie zwei Wasserströme ein-
schließe.
Das dritte Kapitel handelt speziell über den Gehörnerven, von
seinem Ursprung aus markigen Streifen des vierten Ventrikels bis zu
den feinsten Verzweigungen seiner beiden Aeste, des Vorhofs- und
Schneckennerven. Den Verlauf des letzteren gibt Scarpa folgender-
maßen an. Die Grübchen der Macula cribrosa und alle die einzelnen
größeren und kleineren Löcher haben auf ihrem Grunde wiederum viele
andere Löcher, die zu ebenso vielen knöchernen Kanälen führen, unter
denen die von dem ersten Umgang des löcherigen Spiralgangs abstam-
menden zur ersten, die vom zweiten Umgang ausgehenden aber zur
zweiten Schneckenwindung gelangen. Der durch die Achse der Spindel
ziehende Zentralkanal gelangt bis zur äußersten Spitze der Spindel und
zum Trichter der Schnecke. Ebenso verhält es sich mit der Verteilung
des Schneckennerven. Durch die Löcher der ersten Windung des Spiral-
zuges dringen die größeren Nervenfäden in die Kanälchen der Spindel
bis zur Spiralplatte der ersten Schneckenwindung, treten dann divergierend
zwischen die Blätter der Spiralplatte, anastomosieren untereinander, lösen
*) Dies würde unserem heutigen Ductus cochlearis entsprechen.
268 Scarpa.
sich pinselartig auf und gehen zu dem weichen Teile der Platte, um mit
sehr feinen und weißen Streifen zu endigen. Durch die feineren Löcher
der zweiten Windung des Spiralzugs treten andere Fäden des Gehör-
nerven in die Spindel ein, gehen bis zur zweiten Windung des Spiral-
gangs in seiner Substanz fort, biegen dann um, dringen in den Spiral-
gang und endigen auf dieselbe Weise in der Spiralplatte. Durch den
Zentralkanal ziehe ein stärkerer Strang bis zur dritten Windung, und
verliert sich in der letzten Halbwindung der Spiralplatte.
Ebenso ausführlich und sorgfaltig verfolgte Scarpa die drei
Zweige des Vorhofsnerven bis zu der früher angenommenen Nerven-
pulpa der Ampullen. Die Verbreitung des mittleren Bündels des Vor-
hofsnerven im Sacculus hemisphaericus verglich er mit der Ausbreitung
des Sehnerven, denn auch dieser letztere begebe sich durch kleine Locher
in die häutige Kugel des Auges und werde hier ebenfalls zu einem
Schleim (Nervenpulpa), der sich allenthalben an dem Grunde und an
den inneren Wänden des Auges anhefte.
Auf Grund dieser anatomischen Entdeckungen folgt im vierten
Kapitel eine Theorie des Hörens, die sich im Gegensatz zu Cotugnos
Hypothese, durch Schlichtheit des Aufbaus der modernen einigermaßen
nähert.
Nach Scarpa ist die Basis des Steigbügels im Vorhofe so an-
gebracht, daß sie gleichsam im Mittelpunkte liegt, und gegen die gemein-
schaftliche Höhle der Bogengänge, gegen das sphärische Säckchen des
Vorhofs und gegen die Mündung der Vorhofstreppe gerichtet ist. Die
Schallschwingungen, die somit vermittelst des Steigbügels in den Vorhof
gelangen und dem Labyrinthwasser mitgeteilt werden, treffen in erster
Reihe den gemeinschaftlichen Schlauch der Bogengänge und das sphärische
Säckchen. Von hier pflanzen sich die Schallwellen auf die Perilymphe
der Bogengänge und auf die Endolymphe des Säckchens und der häutigen
Bogengänge fort, und eiTegen so die in ihnen ausgebreitete Nerven-
pulpa. Aus der Anordnung der Anfangs- und Endmündungen der Bogen-
gänge zieht Scarpa den Schluß, daß die Pulpa der Ampullen und der
gemeinschaftlichen Höhle stärker von den Schallschwingungen getroffen
werde, als die übrigen Nerven des Vorhofs. Die Erschütterung der
Flüssigkeit in den Bogenröhren, den Ampullen und den Säckchen wieder-
hole sich, so oft der Steigbügel das Labyrinthwasser erschüttert.
Das Spiralblatt der Schnecke wird — da die eine Treppe in den
Vorhof mündet, die andere vom runden Fenster ihren Anfang nimmt,
beide mit Labyrinthflüssigkeit gefüllt sind und an der Spitze der Schnecke
miteinander kommunizieren — von den Schallschwingungen der Steig-
bügelplatte und zugleich von denen, welche die Membran des runden
Fensters treffen, auf seinen beiden Seiten erschüttert und nebst den pinsel-
Scarpa. 269
förmig auf ihm verbreiteten Nerven in Schwingung versetzt. Der Um-
stand^ daß die Nervenpulpa in besonderen Kanälen und häutigen Säckchen,
die in dem Wasser des Labyrinths schwimmen, enthalten ist, bewirkt,
daß sie selbst stärkere Erschütterungen ohne Störung verträgt.
Vom vergleichend-anatomischen Standpunkt ist noch ein Zusatz der
Theorie Scarpas von großem Interesse, der sich auf die verschiedenartige
Endigung des Vorhof- und Schneckennerven bezieht : Bei allen Tierklassen
von den Schuppenfischen bis zum Menschen sehen wir den Gehörnerven
in zwei Teile geteilt, nämlich den pulpös endigenden und den verästelten.
Dem letzteren ist immer noch eine Vorrichtung zugegeben, wodurch er
stärker als der pulpös endende in Bewegung versetzt werden kann. Bei
den Tieren, denen die Schnecke und das runde Fenster fehlt, wird nämlich
der ästige Teil des Gehörnerven durch Steinchen von kreideartiger Sub-
stanz unterstützt, damit die Schwingungen dieser Körper die Nervenfäden
lebhafter in Erschütterung versetzen, als es das Wasser des Vorhofs
vermöchte.
Vorstehende Ausführungen ergänzen die in Scarpas Erstlingswerke
,De membrana tympani secundaria" enthaltenen Anschauungen. Be-
merkenswert und auffallend ist namentlich der Umstand, daß Scarpa
die Wasserleitungen Cotugnos unerwähnt und in seiner Theorie gänzlich
unberücksichtigt läßt, ein Vorgang, der nach unseren jetzigen An-
schauungen, soweit sie den Hörakt betreffen, ganz berechtigt war.
'} De structura fenestrae rotundae auris et de tympanos secundario anatomicae
observationes, Mutinae 1772. Anatomicarum annotatianum Über primus de nervorum
gangliis et plexibus, Mutinae 1779. Pic. reg. et Mediol 1792.
^) Videtur enim natura hujusce particulae praesidio alteram, quasi dicerem
intimiorem aurem, minoremque internae, majorique auri adjunxisse, ut sonori tre-
mores adaugerentur , et facilius ad möllern nervi acustici substantiam pervenirent.
Praefatio, 12, 13.
') Kap. 2 u. 3 bilden die Ausführung zu den Schlußsätzen des 1. Kapitels:
Et sane nobis tria statuenda occurrerunt : I. Germanam fenestrae rotundae structuram
nondum ezpositatn fuisse, quam idcirco damus. U. Occludenti ejusdem membranae
Tympani minoris, aut Secundarii nomen ob suam conformationem convenire. III. De-
mum Tympanum hoc Secundarium auditui perfectiori inservire, ut eo potissimum
osa fuisse natura videatur, quotiescumque alia defecerint instrumenta.
*) 1. c. Cap. 2, § 4. Non enim difficile fuerat vetustioribus circa structuram
fenestrae ita hallucinari, ut apertam semper et patulam eamdem fecerint. Hujusmodi
sese offert explorantibus aures longo temporis spatio exsiccatas, in quibus quidquid
membranacei est penitus absumptum fuerat, ac labefactatum.
*) Cap. 2, § 6—8.
•) Cap. 2, § 8. Quoniam vero osseum Cochleae tuber aetate crassescit, inde
saepissime fit, ut foramen fenestrae rotundae in senibus angustetur, et posterius in
tantum vergat, atque aversum fit membranae tympani, ut canaliculuiii spectet, intra
quod stapedis musculus sese occultat.
^ Cap. 2, § 12. Verum sedula adhibita administratione cuilibet. Anatom iae
270
äcAipa,
cultori facile erit couspicere feneatram li&nc, eicuti exteriiu. interiuB quotjue figuram
tri iiDgul Urem eihibere, . . .
*) Cftp. 2, § 12. Qaam enini feneatiam rotundam voeant, non ea foramen est,
ut ajebant, ted conicus quidam casaUa, ... i; 18. Neque haec tantummoda in oraea
feneetrae parte anlmadvcrtmiua, seil in eulcum quemdam mcidiinui. . . . Suicus hie
nianifestisBimus ei fit, qui per feneatram oblique inira canaleiii inspiciat.
') Tantam esse membranae hoic cum tympano affinitatem, ut tympani minorif,
seu secundarii nomine possit insigniri. Dieee llezeichnung liaben auch achon vor ibm
Sehaarfichraid und andere gebraucht (Tab. Anat. Splanc p. 160). Cap. 2, § 19.
'") Cap. 3. § 23. Igitur bina in aure tympana iunt externos eonoa ad laby-
rinthum, et ab binc ad proximam audituti tedem deferentia. Alterum anterius com-
poeitius, omnibusque notum, posterius alterum simpliciua, et a nobis nunc in lucem
constitutum. Illud externaa auris undulationeB per audituriiim meatum ab auricula,
advenientes excipit, deinde tremens eae aeri proiimam caiitatem occupanti, et per
oaBiciilorura machinamentum commanicat aqnoe vestibulum obsidenti, cui aemicircu-
l&rium canalium, et scalae augustioris oatia respondent. Hoc vero tremores aSria
interioria a primarü cavo tamquam ab auricula collectos ope canaliculi meatus
auditorii vicibua fongentis suacipit. . , .
"I Cap. 3. !; 21. Imtno quemadmodum retro membranam pritnarÜ cavittitena
aperujt, ita retro aecundarium t^mpanum Bpatiolum poauit, intra quod ejus oscilla'
tiones sese difunderent.
") Diequiaitioaes anatomicae de auditu et olfactu. Ticini et Mediolani 17S9.
Fol. c. tab. aeo. 11. ed. 1792, IT95. FranzöEiach: Becherches aoatomiquea et pbysio-
logiques sur l'organe de l'oule; par J. Tourdea. Sedillot. rec. period. de la aoc.
de sante de Paris, Vol. IV. Deutaeh: von Ch. E. Th. Schreger, Anton Scarpas
anatomische Unten achangen des GehSn nud GernctiB. A. d. Latein. Mit Snpfeni.
Nürnberg 1800.
") Den Verlauf der Kanälchen in der Schneckenspindel schildert Scarpa naoh
Schregera deutscher Debei*setzung folgender Art: Sect. 11. Cap. 1, § 15, p. 75, .An-
fangs gehen sie fast perpendikulär, wie diea jene in der Faukentreppe befindlichen,
inwendig hohlen Fuden, welche eben der äußeren Schale der Spindel daa rauhe Aue-
eehen verleihen, deutlich zeigen; sobald aber diese Kanälchen an die Wurzel des
knöchernen Spiralbtatts kommen, verändern sie ihre Richtung, gehen von der Spindel
ab und schlagen eich zwiechen die zwei Platten des Spiral blattes. Daselbst trennen
sie sieb mehr als einmal nieder in andere noch kleinere ß^hrchen, werden äatig
und öffnen sich mit äußerst engen Mündungen auf daa feinste an dem freien Rande
des knSchemen Spiralblattee. . , , Da« letzte Halbgewind des Spiralblattes nimmt
hingegen nur ein einziges, doch veih)iltniama,ßig sehr weites Rflhrchen auf. Dieses
weitere Röhrchen geht von demjenigen größeren Loche, das «ich in dem Mittelpunkt
der tirundflEche der Spindel vorfindet , durch die Achse der Spindel lum Häkchen
(hamulus) und zum äußersten Ende des Spiralblattee.*
'*) Zu diesem Zwecke wählte ich drei- und viermonatliche FrQchte. wo da«
Labyrinth schon gehörig ausgebildet und die Bearbeitung der knöchernen Teile weder
allzuBchwer. noch mahsam ist, ii\ich außerdem die häutigen Bogengänge und ihre
gemeinachaftliche Höhle bei der Untersuchung den Vorteil verschaffen, daß aie des
zarten Altern ungeachtet doch weit dickere und festere Häute haben, als im Er-
wachsenen. Hier Ölfuete ich das Labyrinth von der Seite des eirunden*') Fensters,
nahm ein Vergvöflerungsglaa vor das Auge, und spritzte blau gefürbtes Wasser ver-
*J Oyalen.
Comparetti. 271
mittelst der Anerschen Spritze durch das Bläschen des hinteren Bogengangs ein.
Jetzt sah ich za meinem Vergnügen das ganze gemeinschaftliche fiett im Yorhofe
mit den drei Bläschen der Bogengänge sich sogleich erhehen, und durchaus hlau
unterlaufen aufschwellen." 1. c. p. 82.
») 1. c. Cap. 2, § 8, p. 82.
Andrea Comparetti, ein Zeitgenosse und Landsmann Scarpas,
wurde im Jahre 1746 zu Vicinale in Friaul geboren; er studierte zu
Padua Medizin, wo der berühmte Morgagni sein Lehrer war. Nachdem
er den Doktorgrad erreicht hatte, praktizierte er in Venedig und erhielt
nach dem Tode Bianchinis eine Berufung an die Universität Padua,
wo er als Professor der praktischen Medizin wirkte. Er starb am 22. De-
zember 1801.
Von den zahlreichen Schriften, die Comparetti teils den Natur-
wissenschaften, teils der Anatomie und praktischen Medizin widmete,
interessieren uns hauptsächlich seine «Observationes anatomicae de aure
interna comparata*" (Patavii 1789)*), ein Werk, welches Chladni für
eine der vorzüglichsten Arbeiten über das Gehörorgan des Menschen
und der Tiere erklärte. Da Scarpas Arbeit über den gleichen Gegen-
stand aus demselben Jahre datiert, scheint die Feststellung nicht un-
wichtig, daß Comparetti die „Disquis. de audit. ac olfac.*' von Scarpa
bereits kannte, wie aus dem Schlüsse des Vorwortes hervorgeht. Dies
schmälert indes keineswegs das Verdienst Comparettis, vielmehr liefert
sein umfangreiches Werk beredtes Zeugnis von dem emsigen Fleiße, der
unermüdlichen Ausdauer und der bewunderungswürdigen Beobachtungs-
gabe des Autors.
Die Untersuchungen Comparettis beziehen sich auf alle Teile des
Gehörorgans ohne Ausnahme, indem er dessen Topographie, Morpho-
logie, Dimension und andere physikalische Qualitäten beim Menschen und
bei den verschiedenen Spezies aller Tierklassen eingehend untersucht,
untereinander vergleicht und zum Schlüsse Betrachtungen über die Physio-
logie und Pathologie des Ohres anstellt.
Die ersten sechzig Beobachtungen umfassen das menschliche Gehör-
organ, die übrigen acht sind der vergleichenden Anatomie gewidmet.
Da Comparetti aber aus dieser großen Zahl von Beobachtungen kein
umfassendes Gesamtbild liefert, sondern jede Sektion einzeln wohl sorg-
fältig aber zu weitschweifig und ohne Selbstkritik beschreibt, so fehlt
seiner Arbeit die Präzision und Uebersichtlichkeit, die Scarpas Meister-
werk so auszeichnet. So verweilt er oft bei unwichtigen Details über-
mäßig lange und ermüdet den Leser durch Mitteilung zahlreicher
inkonstanter Messungen der einzelnen Abschnitte des Gehörorgans,
♦) Nicht im Jahre 1789, wie auf dem Titel angegeben, Bondern erst 1791 er-
schienen.
272 Comparetti. Antonio Galdani.
während wichtige Daten flüchtig behandelt werden. Die dem Text bei-
gegebenen Abbildungen sind roh und unkünstlerisch und vermögen die
Beschreibungen nicht genügend zu illustrieren. Diese Schattenseite der
immerhin wertvollen Abhandlung mag auch der Grund sein, daß wir sie
trotz der großen Gelehrsamkeit, die Comparetti in ihr entwickelt, bei
den zeitgenössischen und späteren Autoren wenig erwähnt finden.
Die wichtigsten Punkte über die Physiologie und Pathologie des
Gehörorgaiies, denen er am Schlüsse des Werkes unter dem Titel „Con-
siderationes*" einige Seiten widmet, mögen hier kurz erwähnt werden.
Comparetti bemerkt wohl ganz richtig, daß bei obliterierter Tube Luft-
verdünnung in der Trommelhöhle entsteht, ist aber nicht im klaren
darüber, warum dann Schwerhörigkeit eintrete, da, wie er meint, ver-
dünnte Luft den Schall besser leite ; er übersieht hierbei vollkommen, daß
infolge des üeberwiegens des äußeren Luftdruckes Trommelfell und Ge-
hörknöchelchenkette nach innen gedrängt werden und infolge der ein-
seitigen Belastung einen Teil ihrer Schwingbarkeit einbüßen^). An einer
anderen Stelle*) pflichtet er der irrtümlichen Ansicht Hallers bei, daß
wegen der Schrägstellung des runden Fensters die Luftschalleitung durch
die Trommelhöhle nicht in Betracht kommen könne.
Comparettis Hörtheorie klingt phantastisch und entbehrt jeder
realen Begründung. Versteigt er sich doch zu der Hypothese, daß die
Zahlen 2, 3 und 5, welche bei den Tönen eine große Rolle spielen, sich
bei dem Aufbau des Labyrinthes wiederholen : 2 Treppen, 3 Bogengänge,
5 Mündungen '), und daß die Bogengänge in den Verhältnissen der Oktav,
Terz und Quint angelegt sein sollen.
Die Bemerkungen Comparettis über die Pathologie des Ohres
enthalten nur unwesentliches Detail. Er bespricht ausführlich die ver-
schiedenen Arten der subjektiven Geräusche und die wechselnden Ur-
sachen ihres Entstehens (Syrigmus a plethora, a debilitate, ab oxyecoia etc.) *).
Seine Ansichten von dem Wesen der Gehörerkrankungen sind noch in
manchem L-rtum befangen und überragen das Niveau seiner Zeit-
genossen nicht.
*) 1. c. p. 334. Si tuba obstructa et aere interno rarefacto in eodem spatio,
auditus gravitas et surditas; annon ab aeris interioris resistentia id fiat? etc.
2) 1. c. p. 334.
») 1. c. p. 341.
*) 1. c. p. 349.
Leopoldo Marc Antonio Caldani (1725—1813), ebenfalls ein
Schüler Morgagnis, wurde 1755 als Professor der Anatomie und
Medizin an die Universität Bologna berufen. Nach dem Tode Morgagnis
folgte er diesem auf dem Lehrstuhl der Anatomie zu Padua, den er
durch 40 Jahre in Ehren bekleidete.
Antonio Galdani. Floriano Caldani. 273
Seine auch in andere Sprachen übersetzten „Institutiones physio-
logicae*' zeigen Caldani auf der Höhe seiner Zeit, da er die neuen
anatomischen Entdeckungen Cotugnos und die gehörphysiologischen
Ansichten Hallers ganz und voll akzeptiert, wodurch sein Werk sich
rühmlich von den einschlägigen zeitgenössischen Arbeiten unterscheidet.
Wir greifen aus diesem Werke nur das Bemerkenswerteste heraus.
Galdanis anatomische Beschreibung des Trommelfells basiert
noch auf der Annahme, dieses und das eigentliche Häutchen werde
durch die Beinhaut des äußeren Gehörganges und der Trommelhöhle
gebildet. Er sieht die Auskleidung der letzteren für eine von der harten
Hirnhaut stammende Periostlage an. Von den Binnenmuskeln des Ohres
hält er ganz richtig nur den M. tensor tymp. und M. stapedius für sicher-
gestellt, i
Hingegen ist seine Ansicht, daß der Tensor tymp. das Trommelfell
je nach Bedarf willkürlich spannt und erschlafft, ebenso irrig, wie die,
daß der Muse, stapedius die Stapesplatte in das ovale Fenster hineindrücke.
In der Schilderung des Baues der Schnecke lehnt er sich an seine
Vorgänger an. Die nj^mbranöse Spiralplatte hält er für eine Ver-
längerung der das Schneckeninnere auskleidenden Beinhaut (Endost).
Die beiden Treppen koqimunizieren an der Spitze der Schnecke. Er
akzeptiert die neue Entdeckung Cotugnos, der die Labyrinthhöhle mit
Flüssigkeit erfüllt fand, und gibt, um sich von der Richtigkeit dieser
Tatsache zu überzeugen, folgenden Versuch an. Man feile an der
Schneckenspitze so viel vom Knochen ab, bis eine kleine Oeffnung ent-
stehe. Uebt man auf das Stapesköpfchen einen leichten Druck aus, so
sieht man die Flüssigkeit in der Schneckenöffnung emporsteigen. Die
Entdeckungen Scarpas sind ihm noch nicht bekannt, da er von einer
Haut im Vestibulum spricht, die dieses auskleide und, wie es scheint,
auch im Vestibulum schwebe.
Als perzipierendes Organ für den Schall betrachtet er die Schnecke,
weil sich in dieser Nervenfäden von verschiedener Dicke ausbreiten, die
cm der Basis länger, an der Spitze kürzer und möglicherweise auch ver-
schieden gespannt sind. Die Schnecke könne daher — falls die bis dahin
nur hypothetisch angenommenen Nervenfäden existieren — mit einer
Geige verglichen' werden, deren Saiten mit den harmonischen Tönen
gespannt werden.
Floriano Caldani, ein Neffe des vorigen, der nach dem Tode seines
Onkels dessen „Icones anatomicae*", Venet. 1813, herausgab, beschäftigt
sich in seinem „Osservazioni suUa membrana del tympano e nuove ricerche
sulla elettricitä animale", Padua 1799, betiteltem Werke eingehender mit
dem Baue des Trommelfells. Er ist der erste, der sich zur Erkenntnis
der feineren Struktur der Membran eines verbesserten Mikroskops bedient.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. T. 18
274
Floriano Caldani.
Auf die einschlägigen Arbeiten seines Ontels zurllckgreifend, schil-
dert er das Trommelfell aus vier Schichten zusammengesetzt. Es sind
dies die äußere £piJermislage, die Cutisschichte des äußeren Oehörgangs,
das Periost der Membran (subst. propria) und eine kurze Zellschichte,
die diese Lamellen verbindet ')■
Die eigentliche Haut des Trommelfells besteht aus zwei sich kreu-
zenden Lagen, von denen die eine zirkulär, konzentrisch geschichtet;
ist, während die andere in radiärer Anordnung von der Mitte der
Membran gegen die Peripherie gerichtet ist'). Das Geschilderte wird
durch eine Abbildung (Taf. I, Fig. 1) veranschaulicht. Der Jüngers
Caldani ist demniich der erste, der die radiäre und zirkuläre Faser-
schichte des Trommelfells erkannt hat.
• An der Oberfläche der Innenseite frischer Trommelfelle fand er
kleine punktförmige Körperchen, die er irrtümlich für Di'üschen hielt, di©
aber zweifellos nichts anderes sind als die von Q erlach heschriebenea
Papillen auf der Schleimhautschichte des Trommelfells.
Im zweiten Teile seiner Abhandlung teilt Caldani die Resultate
seiner vergleichend-anatomischen Arbeiten über das Gehörorgan der Vögel
mit und weist auf die Tatsache hin. daß das runde Fenster bei den
Vögeln größer sei als das ovale und auch großer als das runde Fenster
beim Menschen und hei den Vierfüßern. Er tritt der Ansicht entgegen,
daß die schräge Stellung der Membran des runden Fensters zum Trommel-
felle einen Einfluß auf die Schallfortpflanzung durch die Trommelhöhle
habe, da die Schallwellen sich durch die das Cavum tymp. erfüllende
Luft nach allen Richtungen ausbreiten '■').
Caldani hat auch die Mombran des runden Fensters untersucht
und gefunden, daß sie aus zwei sich kreuzenden Faserschichten bestehe, '
doch ist die Anordnung dieser Schichten ganz verschieden von den zwei
Faserschichten des Trommelfells.
Zum Schlüsse sei hier noch aiit'eine AbhatidluD([ L. Galvtinis ,De volatilium
aure'*) hingewiesen, die das Gehörorgan der Vügel zum Gegenstände hnt. BNondeis
hervorzubeben ist die durch vortreffliche Abbildungen illuatriei-te Beachreihung dea
memhranösen Labyrinths der Vögel, die sich würdig der Entdeckung des
membranösen Labyrinths beim Menselien durch Scarpa anreiht. Ob Scarpa, wie
manche behaupten, bei der Publikation seiner Entdeckung die Arbeit GaWaDis
bekannt war, läßt sich nicht entscheiden. Dagegen spricht die anerkannte Gewissen-
haftigkeit Scarpae, mit der er die Leistungen anderer zitiert.
') S. 3: ,Ova perö comunemente s'insegna che quattro «ono le laminette com-
ponenti la niembrana del timpano. cioi la cuticola, e la cute del meata uditorioi
il periostio del timpano, ed una brerissinut cellulare che unisce queste lunine
Ticende vo Imen te. *
*) Opere edite e non edite de Profcaaore Luigi Galvani, raccolte e publicate
per cura Dell Accademia della scienza dell' instituto di Bologna 1841.
Vieussens. 275
') S. 5: .essa ä composta come di due strati di fibre, che 8*incrocicchiano le
nne perpendicolarmente alle altre, com'^ facile rawisare nella Fig. 1 della Tay. I.
Uno degli strati 6 di circolari concentriche, Taltro di radiale, che dal punto di mezzo
della membrana si portano alla circonferenza : comprendono esse fra di loro degli
spazi piccolissimi e sempre decrescenti in grandezza, accostandosi verso il centro.*
*) S. 33: «che non possa esser percossa la membrana di questa fenestra, stante
ch' essa e posta un poco posteriormente ; ma quando mi si voglia concedere che dalle
oscillazioni della membrana de! timpano viene posta in tremori Taria tutta che
riempie la cavita del timpano stesso."
Frankreich.
Nach dem Tode Duverneys am Ausgang des 17. Jahrhunderts
findet die Ohranatomie in Frankreich kaum einen Bearbeiter, der den
Vergleich mit Cotugno oder Scarpa bestehen könnte. Dionis, ein
Schüler Duverneys, gibt in seiner „L' Anatomie de THomme etc.**,
Paris 1705, einen kurzen Abriß über den Bau des Gehörorgans, der
sich ganz an den Traktat Duverneys anlehnt und nur die eine von
diesem abweichende Bemerkung enthält, daß die beiden Skalen der
Schnecke an der Spitze kommunizieren, was Duverney bestritten hat.
Von den französischen Anatomen, die sich durch Entdeckungen auf
anderen Gebieten der Anatomie großen Ruhm erwarben, aber auch das
Gehörorgan in den Kreis ihrer Untersuchungen zogen, ist in erster
Linie Raymond Vieussens zu nennen, dem sich Forscher von minderer
Bedeutung wie Le Cat, Senac, Geoffroy, Lieutaud, Vicq d'Azyru. a.
anschließen.
Raymond Vieussens. Abgesehen von den sonstigen Verdiensten
dieses Autors um die Wissenschaft, fesselt seine literarische Fehde mit
Morgagni über den Wert und die Bedeutung der Valsalvaschen Ent-
deckungen das historische Interesse.
Raymond Vieussens, einer der hervorragendsten Anatomen
Prankreichs, der sich besonders durch seine wertvollen Beiträge zur
Lehre des Nerven- und Gefäßsystems einen rühmlichen Namen er-
worben hat, wurde 1641 in einem Dorfe der Rouergue (im südlichen
Prankreich) geboren. Er war Arzt am Hospitale St. Eloy zu Montpellier,
später Leibarzt der Prinzessin von Montpensier zu Paris, nach deren
Tode er in seine frühere Stellung nach Montpellier zurückkehrte. Er
starb 1715.
In der Otologie wurde Vieussens besonders wegen seiner Epistola
ad Societ. reg. Lond. missa de organo auditus (Philos. transact. 1699,
Vol. XXI, p. 370) vielfach genannt, die in dem erst 1714 zu Toulouse
erschienenen Werke ^Trait^ nouveau de la structure de l'oreille** Er-
gänzung fand.
Dieses Werk ist zum Teile eine Streitschrift gegen Valsalva, in der
276 VieuBseng.
er die Priorität mehrerer Entdeckungen dieses Forschers bestritt, indem
er darauf verwies, daß dieselben in dem genannten Brief an die Londoner
Akademie enthalten wären. Diese Behauptung hat sich, wie Morgagni
schlagend nachwies, als unrichtig erwiesen, da die Entdeckungen Valsalvas
Yor denen Vieussens^ bereits bekannt waren. Auch sonst reicht das
Buch Vieussens' nicht an das Valsalvas hinan, da es zahlreiche Irr-
tümer enthält und auch die richtigen Angaben hinter so dunklen Be-
schreibungen verbirgt, daß es selbst den Zeitgenossen nur mit Mühe
lesbar war. Auch die beigefügten Abbildungen ^) entbehren nahezu jedes
wissenschaftlichen Wertes.
Vieussens unterschied wie die älteren Anatomen ein äußeres und
ein inneres Ohr. Zum ersteren rechnet er nur die Ohrmuschel, den
äußeren Grehörgang und das Trommelfell, zum inneren Ohr das ganze
Mittelohr und das Labyrinth mit dem Hörnerven.
Die Konfiguration der Ohrmuschel mit ihren Muskeln, von denen
er sich die Entdeckung der Muse, tragi und antitragi vor Valsalva
zuschreibt, sowie die Struktur der die Ohrmuschel bedeckenden Haut,
ihre GefiLße und Nerven werden ohne Vorbringung neuer Details aus-
führlich geschildert und der Nutzen der Ohrmuschel weitläufig erörtert.
Das Trommelfell ist nach Vieussens nur eine Fortsetzung der
Auskleidung des äußeren Gehörgangs ^) , es ist aus zwei Lamellen zu-
sammengesetzt. Seine Verletzung schädigt das Gehör nicht nur infolge
der äußeren Schädlichkeiten, denen die Trommelhöhle ausgesetzt ist,
sondern auch wogen der nun verminderten Spannung der Luftsäule in
der Trommelhöhle. .
Die Besohrt>ibuug der Trommelhöhle (tambour) ist so kompliziert
und verworrtMU d«ß os unmögHch ist, sich aus ihr ein Bild der betreflfenden
aniitoniisohon VorhiiUuisso m konstruieren. Die Fenestra ovalis nennt er
^ Porto du hHbvriutho*,
nio Auskloiduug dor Trommelhöhle, die er als „membrane
intonio du tiunUnir* iiu Uogonsutz zur «membrane externe du tambour*
(nuuubrrtuu txuipttuO bo»oiohnot, wird von einem aus der Carotis stam-
luondou UofUttuot^ duivh<\»ijt»u. Am Felsenbein zeigt sie kleine Erhaben-
hoitou O*^*'*^'^^^ ^l»*' ^^^^'^ Ulut* und nervösen Lymphgefäßen (lymphatiques
norvt*\i\^ l^v^toh^u. Piosolbo .\uskloidung überzieht auch die Gehör-
kuxVbolohou
NVu> lo\vKtlVvt\i{ Vioussous soiuo Schlüsse zieht, ergibt sich daraus,
%\^\\ \M sluu^K inoUviM<\ m\\ Gohöi*\>i>?ane ausgeführte Versuche zu beweisen
tk\w\\U ^'^^' *'*^'' \*\^lo Koustor übor/iohonde Auskleidung der Trommelhöhle
^\ %\\ \\\\\\\\, \U\^ d\o dur\*h dou Tubenkanal einströmende Luft mit
t«iU'UhMko\t d\o Toron dieser Membran durchdringt und sich
(U hU***^ AUlo^luugon dos Labyrinthes ausbreitet^).
Vienssens. 277
Die ausführliche Beschreibung der Gehörknöchelchen enthält
keine neuen Details.
Von den Muskeln der Trommelhöhle gilt ihm nur der M. tensor
tymp. und der M. stapedius für wirklich muskulös, die anderen von den
früheren Anatomen angeführten Muskeln hingegen hält er für Ligamente.
Den Tensor tymp., der nach ihm zwei Ursprünge (t^tes), einen Bauch
und zwei Sehnen besitzt, nennt er monogastrisch. Er hat die Aufgabe,
das Trommelfell und die Kette der Gehörknöchelchen anzuspannen.
Der Muse, stapedius (petit muscle) bewirkt eine Bewegung der
Stapesplatte nach außen und eine Relaxation des Trommelfells. Die beiden
Binnenmuskeln und das Trommelfell halten die Gehörknöchelchen im
Gleichgewicht. Wie dies geschieht, wird in unklarer Weise des breiten
auseinandergesetzt.
Die Ohrtrompete (Aqueduc) ist kurz und schlecht beschrieben
und durch eine rohe und unrichtige Abbildung (PL 3) illustriert
Die Anatomie des Labyrinths leitet eine Schilderung der Bogen-
gänge ein. Ihr Durchmesser ist oval, die Mitte enger als die Enden.
Sie sind sehr hart und werden von einer nervösen Membran ausgekleidet.
Interessant ist die Tatsache, daß Vieussens die Priorität für diese
von Valsalva irrtümlich angenommenen „Zonae sonorae** in Anspruch
nimmt.
Das rundliche Vestibulum (conque) hat drei Linien im Durch-
messer, und besitzt außer den fünf Mündungen der Bogengänge, der
Kommunikationsöflfnung der Schnecke und den beiden Labyrinthfenstern
noch zwei Oeffnungen für den Eintritt der Nervenzweige des Acusticus.
Unter diesen Oeffnungen befindet sich eine scharf vorspringende Knochen-
leiste (avance osseuse un peu raboteuse et pointue, que nous appelons
Teminence osseuse de la conque). Die Wände des Vestibulum sind
gleich den Bogengängen von der nervösen Membran des Hörnerven aus-
gekleidet.
Die Schnecke (coquille), die von Valsalva so klar und anschau-
lich dargestellt ist, wird von Vieussens so verworren geschildert, daß
es unmöglich ist, sich das Bild ihres Baues zu konstruieren, das
Vieussens vorgeschwebt haben mochte. Soviel sich aus dem unklai-en
Texte entnehmen läßt, benennt er den Raum zwischen der Membran des
runden Fensters und dem Beginn der Spirallamelle „Carrefour du laby-
rinthe**. Die Schnecke teilt er ein in die Grube (la fosse), welche am
Durchtritt des größten Astes des Schneckennerven vom inneren Gehör-
gange aus sich befindet und in den halbovalen Spiralgang (le conduit
spirale-demiovale). Nach einer langen geradezu unentwirrbaren Schil-
derung der einzelnen Schneckenwindungen, die er mit besonderen Namen
belegt, kommt er zu der nicht klareren Beschreibung des von ihm ent-
iln Um nipI •.»•uirii N'jiiufii tühren»!«?!: Trioht»rrs Sovphus Vieussen^ii».
N,ii li'lnii ili-i lIcMiii-iv au iler Spitzr hei-vorrn::. niiEiut er die F»rm
IHM-, klriiii-ii iiiinKirhnhlten Kürperi an. der ni-rCihrTL-T* erscheint und -iie
rniiii rAv.v. kli'inrri Trichters hat*-. K'joipLizir.'^r.- :.?: r.och seine ScLil-
xlr.iuuj^ ilri Sihiujcke durch die Eintelizir l^: '»^ii.iungen in ei^e
viikI»-!»-. iiiittlt're und hint»rre blinie £.ir-.-.iL-: ::it--.- äTeugle). Dar^auh
.,rhi:fl)t r-r, tIaU auch die ::i der nuTi^ir^n i.: : .i.ji:.f:rri Kavität bedni-
lii i:r- ir'iuf Luft sich iiniLer 'im ::e JLm.si ör: fr>T^n spiral-nerT%en
Tn^tz seines Festhaicecs rin iiir ..-•süHfii Luft" im Labvrinthr h-eJ^t
rr *\n\rh als wichtiff herv^T. iaJ Le Li: vr'iniib'hle. Bogeng'änzr und
Schneiko eine ansehnli'.'he ilicir^ ''•:il riiisficirli f'jthalte, dir dazu
difiie, das T rocken. werd^in i*ic ii*iiiL:cLiilti"Z^iT^l^iz. GcMl-ie zu verhinderi:.
Was Vieussen-* 'i:er i »t r;:i:tDcc £t: i'^^i^.zii-Zi Teile des Laby-
rinthes (p. SS — 90» un-l l:»ir Li Hc-rsiTr-i-rer. ^ .rhrizjri^ die durch die
Verstopfung oder Ftir-ilysf itr e:::zfl::rr. Lfcr\Tii::iihr!f;:"Lr.:r:r entstehen,
ist rein hypothetisch. u:i.: -:r:ü»thn ;eirr ay.f«T..nii«i.'nfr LfjrrLziung.
M ,Leä plaaeh-es. ;n *:ri aa cc-sil're äe «ii *--.n ^ r.-.i T.iii- r : :r ce saurait
reconoitre la na:urf.* Fortal His:. dr ".aiiatoTr.T- «^t. .. -. i. \\L
^) p. 17. Ea *> di'.atant elies formen- '^-tr- ;^.rr lir;-..-r-.a.i yzi fait la
cloison de l>xtr^mite \iu conduit de loim . p- .-.1. -fn.- u .:x«*.;i^- IVireille
externe d'avec rinierne.
') p. 29. 11 est tres-vraiseniblalil-
exterieur. du moina le plus fin «lui y'-
assez ais^ment les pores de cett^ t"-*
et s*insinuö ilans les endroit? 1*?- t -
il peut sortir, auivant toiü». b:^^-'^^ •
Sorte qu'il y a une cnniTi.--T.-^-
labyrinthe.
en un petit rorvi *■ "
rapport par .t -^ ~-
lerons. !a :: -7'
jours i i^-
^ • ■ >i ■ V • • i • i.^r^ üVrr die Sinne*"),
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cer^' c^"-"** ^ . . , : »j. .--:>.:. i;^e:: Beschreibung
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Le Cat. J. P. Palfyn. 279
Wie in den meisten Abhandlungen jener Epoche wird auch hier
ein großer Abschnitt der Theorie des Schalles eingeräumt. Die ana-
tomische Schilderung des Oehörorgans und seiner Funktion ist mit
einigen Abweichungen dem Claude Perrault entnommen, besitzt jedoch
nicht die diesem Autor eigentümliche Klarheit der Darstellung. Dem
Hammer schreibt Le Cat die Eigenschaft zu, das Trommelfell bei
starker Schalleinwirkung zu entspannen, bei schwacher Vibration hin-
gegen anzuspannen. Das innere Ohr (organe immediat) teilt er in das
Labyrinth, zu welchem er das Vestibulum und die Bogengänge zählt,
und in die Schnecke. Auch Le Cat ist noch von der Existenz des a6r
implantatus überzeugt und glaubt, daß dieser entweder durch die Porosi-
täten der Membranen der Labyrinthfenster oder durch Ausscheidung der
Flüssigkeit entstehe, welche vom Periost des Labyrinths geliefert werde.
Er erklärt die Hörsensation durch das Zusammentreffen der Vibrationen
dieser Luft in der Mitte eines jeden Kanals ^). Le Cat hebt indes hervor,
daß dem Vestibulum und den Bogengängen mehr die Perzeption der Ge-
räusche (organe general des bruits), der Schnecke hingegen eine höhere
physiologische Funktion zukäme (un usage plus recherch^). Er stützt seine
Ansicht auf die ungleiche Spannung der Spiralraembran von der Basal-
windung der Schnecke bis zur Spitze, durch die sie befähigt wird, die
verschiedensten Impulsionen der sie umgebenden Luft (de Tair interieur
qui Tenvironne) zur Perzeption zu bringen*).
Den Schluß der Abhandlung bilden einige unwesentliche Bemer-
kungen über Taubheit und Taubstummheit und die Beschreibung eines
von Le Cat konstruierten und abgebildeten Hörrohrs, bestehend aus einem
weiten Trichter und einem in den Oehörgang einzufügenden Schallfänger.
^) S. 59: „On con9oit que Tair etant pousse dans le vestibule, et dans les
«mbouchures de ces canaux, les vibrations d'air qui ont enfiU chaque embouchure,
doivent se rencontrer au milieu de chaque canal, et lä il se doit faire une collision
toute propre k exciter un fr^misaement, ou des vibrations dans ces canauz, et dans
la membrane nerveuse qui les tapisse; c'est cette impression qui produit la Sensation
de rOuie.*^
^) S. 61 : ,C*est pourquoi je regarde le Lima^on comme le sanctuaire de TOuie,
comme Torgane particulier de rharmonie, ou des Sensations les plus distinctes, et les
plus d^licates en ce genre."
Den französischen Autoren des 18. Jahrhunderts, die sich minder ein-
gehend mit der Anatomie und Physiologie des Gehörorgans beschäftigten,
wären noch anzureihen:
Jean P. Palfyn (1650—1730), ein Schüler Boerhaves, seit 1708
Professor der Anatomie und Chirurgie in Gent, liefert in seinem Werke*)
eine Schilderung des Gehörorgans, der wir folgendes entnehmen.
♦) Chirurgische Anatomie von J. Palfyn. Deutsche üebersetzung 1785.
280 J- P. Palfyn. J. B. Senac.
Die Drüsen der Haut der Ohrmuschel sind bezüglich ihres Baues
von denen der übrigen Haut verschieden. Die Ceruminaldrüsen sind
kleine, eirunde Follikel. Von den drei Schichten des Trommelfells
hält er irrtümlich die mittlere (subst. propria) als die blutgefäßreichste.
Bei der Schilderung der Ohrtrompete wird die jüngst gemachte Er-
findung des Katheterismus durch den Versailler Postmeister Guyot und
ein von Palfyn selbst konstruierter Ohrkatheter nicht näher beschrieben.
Die Schilderung der zwei Flächen des Hammer-Amboßgelenks stimmt
mit der von Helmholtz vollständig überein. Unser heutiges Ligam.
mallei ext. hält er wie die meisten seiner Zeitgenossen für einen
Muskel. Durch die Aktion der Binnenmuskeln des Ohres wird die
Luft abwechselnd verdichtet und verdünnt, so daß in der Trommelhöhle
wie in der Lunge ein Ein- und Ausatmen vor sich geht. Er vertritt
noch die Existenz der „inneren Luft^ im Labyrinthe, die in den Kanälen
der Schnecke und in den Bogengängen zirkuliert. Der Hörnerv
breitet sich als eine sehr dünne Membran im Labyrinthe aus; Der
Stapes trägt nichts zum Gehör bei, er dient nur dazu, die Stärke der
erschütternden Luft zu mäßigen, indem er den Durchgang für die Luft
mehr oder weniger öfl&iet. Palfyn steht in dieser Frage somit noch
auf dem Standpunkte Merys.
Jean Baptiste S^nac, geb. 1693 zu Lombez in der Oascogne^
Leibarzt König Ludwigs XV. und Mitglied der Akademie der Wissen-
schafken in Paris, einer der berühmtesten Aerzte des 18. Jahrhunderts,
veröffentlichte unter dem Titel: ,,L'anatomie d'Heister avec des essais de
physique, sur Tusage des parties du corps humain, et sur le Mechanisme
de leurs mouvemens,** Paris 1724, ein Werk, in welchem die Anatomie
und Physiologie des Gehörorgans zum großen Teile Auszüge aus den
Werken Heisters enthält.
Von den spärlichen selbständigen Ansichten des Autors wollen wir
folgendes erwähnen: Das Trommelfell besteht aus drei Schichten,
deren mittlere er gleich Palfyn irrtümlich für sehr gefäßreich hält,,
während die äußere und innere bloß eine Fortsetzung der Epidermis sei.
Die Zellen des Warzen fortsatzes seien mit einer Membran aus-
gekleidet, die allen jenen Organen zukomme, welche die Aufgabe hätten^
eine gewisse Materie zu filtrieren^). Die halbzirkelförmigen Kanäle
fand er mit einer Membran überzogen, die einen bandartigen Streifen zu
bilden scheint, der den Hohlraum des Bogengangs in zwei Teile teilt
und vielleicht identisch ist mit den von Valsalva als „zonae sonorae*
bezeichneten Gebilden.
Gestützt auf die falsche Annahme, daß die Vögel keine Schnecke
besitzen und doch gut hören, schreibt er den Bogengängen eine größere
T* j[»erz0ption zu als der Schnecke. Diese Ansicht
J. B. Sänac. J. Lieutaud. 281
wird, wie wir sehen werden, von den meisten der zeitgenössischen fran-
zösischen Autoren vertreten.
Der Umstand, daß die Bogengänge an den Enden breiter sind als
in der Mitte, bewirkt, daß die Schallwellen in der Mitte der Bogen-
gänge zusammentreffen und dadurch verstärkt würden. Dieselbe Ver-
stärkung erfahren die Schallwellen auch an der Schneckenspitze, da hier
die in die Scala vestibuli upd tympani eingedrungenen Schallwellen zu-
sammentreffen. Sowohl Bogengänge als Schnecke seien schon durch ihre
Gestalt geeignet, die Schallwellen zu verstärken, da ja gekrümmte 'Röhren
physikalisch diese Eigenschaft besitzen.
Dagegen stellt Sdnac die Wichtigkeit der Spirallamelle für die
Schallperzeption in Abrede.
Seiner Ansicht nach dringt beim Sprechen der Schall in die Ohr-
trompete, man sei somit im stände, durch diese allein zu hören. Diese
Annahme entspricht der auch jetzt geltenden. Bei Verschluß der Ohr-
trompete trete Schwerhörigkeit ein, welche durch Ansammlung von
Materie zu stände komme.
') Ces cellules sont revStues d'une membrane qui paroit couvrir une des organes
qui filtrent quelque matidre. 1. c. Seconde edition 1735, p. 742.
Joseph Lieutaud, geb. 1703 zu Aix in der Provence, der Ent-
decker des nach ihm benannten „Trigonum Lieutaudii**, hat sich, neben
seiner praktischen Tätigkeit vielfach mit anatomischen Studien beschäftigt,
die ihm den Ruf eines hervorragenden Anatomen seiner Zeit §ichem.
Er gilt als der Begründer der pathologischen Anatomie in Frankreich.
Sein Werk „Essais anatomiques, contenant Phistoire exacte de toutes
les parties qui composent le Corps de l'Homme; avec la maniere de les
däcouvrir et les d^montrer, orn^s de Figures**, Paris 1776, enthält ein
Kapitel „Les Oreilles" (Pars II, Artikel II, pag. 540), das ausschließlich
die Sektionstechnik des Schläfebeines behandelt.
Bei der Präparation des äußeren Ohres empfiehlt er, durch Zug an
der Ohrmuschel nach unten bezw. vorn sich von der Insertion des
Muskels zu überzeugen^).
Die Präparation der Gehörknöchelchen könne man nur an frischen
Präparaten vornehmen, da die Gelenke im mazerierten gelöst seien.
Das runde Fenster bringt er durch Ausfeilen einer Oeffnung an
der Fossa jugularis zur Ansicht^). Für die Präparation der Schnecke
gibt er eine genaue Direktive. Man führe eine Sonde vom inneren Ge-
hörgang aus in den Anfangsteil des Aquäductus (Ganal. facialis) und eine
andere in das „trou anonyme" (= Hiatus canal. facial.). Die beiden
Sonden bilden miteinander einen Winkel, in dem die Schnecke zu suchen
ist. Man eröffnet die Schnecke mit der Feile und braucht nicht zu
282 J- Lieutaud. E. L. Geoffroy.
fürchten, sie unabsichtlich zu verletzen, da man die knöcherne Schnecken-
kapsel an ihrer Härte sogleich erkenne.
Er verwirft die bisher übliche Eröffnung des Vestibulum von der
Trommelhöhle, vom inneren Oehörgang oder von der Schnecke aus, weil
dadurch immer wichtige Teile des Labyrinthes zerstört werden. Vorteil-
hafter sei es, das Vestibulum von oben und hinten zu eröffnen, indem
man in einer Höhe, die durch die oben erwähnten zwei Sonden markiert
wird, einen horizontalen Sägeschnitt führt, der knapp vor dem oberem
Bogengang in einen vertikalen umbiegt nnd dadurch das Vestibulum von
den Bogengäpgen trennt.
Die abgetrennten Bogengänge können nach Einführung dünner
Sonden leicht herauspräpariert werden.
Die Freilegung des Hammermuskels (Tensor tympani) ist leicht,
nur müsse man ihn sorgßUtig von den membranösen Strängen sondern,
die den Nervus petrosus superf. major begleiten.
Dagegen sei der Steigbügelmuskel wegen Vorlagerung des Fazial-
kanals sehr schwer zu präparieren. Die beste Methode, den Muskel im
Zusammenhang mit dem Steigbügel zur Ansicht zu bringen, ist die voll-
ständige Trennung der Pyramide von der Schuppe. Die Stelle, welche
zur Führung des Sägeschnittes gewählt werden müsse, zeige der zwischen
Felsenbein und Schuppe eingeschobene Ganalis caroticus an.
^) On 8*as8urera de leur inserbion, an tirant Toreille, en bas, et en devant.
1. c. p. 540.
'1 La fendtre ronde comme nous Tavons d^yk remarqud, n'<^tant point toamee
du cötä du conduit auditif, ne s^auroit ^tre vue par d^hors ; de sorte qu'on est oblige
de Bcier toute la partie de Tos qui la cache, ou de faire une Ouvertüre du cöb^ de
a fosse jugulaire, si Ton vent bien jager de sa Situation et de sa forme. 1. c. p. 541.
Etienne Louis Geoffroy (1725—1810), praktischer Arzt in Paris,
beschäftigte sich in seinen Mußestunden eingehend mit vergleichender
Anatomie, wobei er namentlich das Oehörorgan der Reptilien und Fische,
vergleichend mit dem Gehörorgan des Menschen, in den Bereich seiner
Untersuchungen zog. In seiner Abhandlung*) enthält der Abschnitt über
das menschliche Gehörorgan nichts Neues. Von Interesse ist hingegen
seine trotz Cotugno noch auf die „innere Luft** basierende Hörtheorie,
die er durch seine vergleichend-anatomische Methode zu stützen suchte.
„Man kann die Scheidewand, welche sich zwischen den beiden
Treppen der Schnecke befindet, wie eine Zusammensetzung von Saiten
betrachten, welche nach und nach von dem Eingange bis zur Spitze
dieses Teils unvermerkt abnehmen. Diese kleinen Saiten fangen von
*) Diesertations sur l'organe de Touie de rhomme, de reptiles et des poissons.
Amsterdam et Paris 1778.
E. L. Geoffroy. 283
dem Kern der Schnecke an und befestigen sich an der anderen Wand.
Vermöge ihrer Stellung können sie zu gleicher Zeit von beiden Seiten
geschlagen werden, sowohl durch die Luft der oberen Treppe, welche in
den Vorhof geht, als auch durch die der unteren, welche durch das
runde Fenster mit der Trommelhöhle vereinigt ist. Diese so von beiden
Seiten auf den kleinen Saiten bewegte Luft setzt diejenigen in Bewegung,
welche sich mit den Schallstrahlen in Verbindung befinden, ungefähr so,
wie der Schall eines Instruments die Saiten eines anderen erzittern und
bewegen kann, wenn sie auf den nämlichen Ton gestimmt sind. Da
aber die ganze Haut der mittleren Scheidewand der Schnecke mit Nerven-
fasern durchwirkt ist, so kann kein Platz dieser Scheidewand bewegt
werden, ohne daß nicht ein Ast des Gehörnerven da sein sollte, der es
empfände. Und auf diese Art wird die Empfindung des Schalles durch
die Wirkung des Nerven bis zum Gehirn gebracht.*
Wir finden auch hier wieder eine an die Helmholtzsche an-
klingende Hörtheorie.
Eine Stütze dieser Hypothese sieht Geoffroy in dem Umstände,
daß das Gehörorgan das einzige Sinnesorgan ist, das seine Wahrneh-
mung genau (mathematisch) abmessen kann, indem das Ohr die Töne,
halben Töne und ihre verschiedenen Modifikationen mit ziemlicher Ge-
nauigkeit abzuschätzen vermag, während das Auge die Farben wohl
unterscheiden, aber nicht die bestimmten Grade in ihren Nuancen fest-
stellen kann. Ohne Zweifel, meint Geoffroy, würde auch das Auge,
wenn die Retina wie der Hörnerv in kleine Fasern von verschiedener
Länge abgeteilt wäre, sehr gut das Licht messen können, wie es das
Ohr mit den Tönen tut.
Trotz dieser Hypothese ist für ihn nicht die Schnecke das eigent-
lich perzipierende Organ, weil er ihr Analogon bei den Fischen, Vögeln
und Amphibien irrtümlich vermißte, während Vorhof und Bogengänge
vorhanden sind. Die Schnecke soll nach Geoffroy den Eindruck des
Schalles bloß am deutlichsten empfinden. Bemerkenswert ist seine Auf-
fassung von der Funktion der Ohrtrompete. Da viele Tiere (Am-
phibien), bei denen ein äußeres Ohr fehlt, eine Ohrtrompete besitzen,
scheint sie ihm bei diesen Tieren zur Schalleitung zu dienen, eine Funktion,
die sie auch bei den Quadrupeden haben dürfte, da, wie Geoffroy
voraussetzt, die Natur mit den bei den verschiedenen Tieren überein-
stimmenden Organteilen den gleichen Zweck verfolge.
Der französische Arzt M. Estöve bekennt sich in seinem vor der
Arbeit Geoffroys erschienenen Werkchen „Trait^ de Pouie**) als
Gegner der Hypothese von den Nervensaiten, und zwar aus verschiedenen
*) Avignon 1751, p. 22.
ti|i4 j K. 1*. (J«H)ffroy. F. Vicq d*Azyr. Buffon.
((lOitiioit, uU (Irron wichtigster der anzusehen ist, daß bisher noch
konti'^two^N dor ISiniUelisinus der Nervenchorden in der Schnecke eine
oi'NvioMoiio luiutoniische Tatsache sei. Im übrigen weist er auf die
Shuktur dor Norven hin, die sich für Schwingungen wohl kaum eignen
dUrllon, und dio auf fester Unterlage so nahe aneinander liegen, daß es
kuuiu ixluublich erscheine, sie könnten einzeln in Vibration geraten.
Nuch Moinor Anschauung sind es alle Teile des inneren Ohres, die in
ihrt^r HosMuntheit mit Hilfe der eingeborenen Luft die Gehörempfindungen
dufuohmoUv iVergK v» Stein, Die Lehre von den Funktionen der ein-
«ohuMi Teilo d*^ OhrUbyrinths. Deutsche üebers. von v. Krzywicki.
F«lix Vicq d^Atjr 0748—1794), Mitglied der Akademie der
NYi<sMnu<\*UÄlVtt in IVis. hervorragender Forscher auf dem Gebiete des
/outiAUuM^^\^w\\^U>iUi^ hoschaftigt sich in seinen vergleichend-anatomischen
und |»\\^i%HK^<iÄ*U^u WVrken*) mit dem Gehörorgan und kommt am
S\)Uuvxv vu^^ Wlrvtf^Mdeu Abschnittes zu folgenden zum großen Teile
\ W^x Wx^hÄmWu'***»!! der Gehörknöchelchen ist, obschon viel-
Ww^* ^►w^l äKvnnUh uotwt»ndig, so doch sehr nützlich für die Wahr-
H,vtk^»* .'>>^ A>sx !Ss*UäIU^s da sie sich bei allen hörenden Tieren finden; es
^v^ *i<- :^V^\ ^^>' ^^"i ^'*'^^ Vögeln und Reptilien, ein einziges Knöchelchen.
^ tW V^IU#irkol förmigen Kanäle müssen einen notwendigen
V, ' -. ^ v^ NnVnv^whuv dwrsteUen, da sie sich bei allen darauf untersuchten
V V'">;v\\vu k»un dio Schnecke, die sich beim Menschen und
. . \ .^".K,^\\\ liudot , ktMiieu unbedingt notwendigen Teil des Gehör-
... 'vmxUm, du dio Vögol auch ohne Schnecke sehr gut hören.
VurtV^^^ \l o rioio do). In seinem großen naturhistorischen Werke**)
v^ ;.».^v UmU^^u \\\ doni Abschnitt über die Sinne auch der Physiologie
i. \^^hmo^>\hm^ oui Kupiiol, das, obwohl es im allgemeinen nur die
\s, *, Uu »» do» AodMi<»MtU»4iMrlion Autoren widerspiegelt, doch auch manche
,\\» \y\\ \M\d\»MOh luloioM^anto Bemerkungen enthält.
Mulh'H M'itidt dio damals gangbare Ansicht, daß die Schnecke
^wsA »w^ss doioh monibrunösor Teil als das mittelbare Perzeptionsorgan
\\\s \\vs\ .i\b>ill iuuui«ohon soi, wiUirend die Bogengänge als gekrümmte
\\x»l\uM d«^"U dionoh mdlon, don ScIuiU gegen die Schnecke hinzuleiten ^).
|iui l'iötuho doi AlttM'stuubhoit sucht er in Veränderungen der
UUMliHi'h riibiioiKi» ICmo Vordichtung oder ein Starrwerden der häutigen
*\ Pv»»nM««» »U» \\\\\ \V\t\\, Tomo IV, 1805.
*'l llUtiMu» NtthHi^llo. ^)t'urial «^t partioiiliere. avec la Description du Cabinet
Buffon. Perolle. 285
Spiralmembran bedinge Taubheit, weil damit der sensible Teil» des Organs,
der allein im stände sei, die Schallempfindung zu vermittelni ausgeschaltet
werde. Diese Taubheit sei unheilbar und wohl zu unterscheiden von einer
anderen ebenfalls im Alter vorkommenden Art von Taubheit, die ihre
Ursache in der Ansammlung von „matiäre ^paisse*" im Oehörgang habe
und durch einfaches Ausspritzen des Ohres geheilt werden könne. Zur
Differentialdiagnose lege man dem zu untersuchenden eine kleine Taschen-
uhr in den Mund; werde der Schlag gehört, so handle es sich um die
heilbare Form der Taubheit, werde das Ticken nicht perzipiert, so liege
eine Nerventaubheit vor^).
Hervorzuheben wäre noch aus diesem Abschnitte die von Buffon
an mehreren Individuen gemachte Beobachtung der Täuschung über
die Schallrichtung bei Ungleichheit des Hörvermögens beider Ohren.
Das Symptom soll nach Buffon nur bei angeborener einseitiger Taub-
heit, nicht aber bei erworbener Taubheit eines Ohres vorkommen. Diese
Ansicht ist eine irrige, da wir wissen, daß das als ^Paracusis loci* be-
zeichnete Symptom auch bei später erworbener unilateraler Schwerhörig-
keit häufig beobachtet wird.
') Les canaux semi-circulaire paroissent §tre plus necessaires, ce sont des espöces
de tuyauz courbez dans Tos pierreux, qui sembleut servir ä. diriger et conduire le
parties sonores jusqu^ä, la partie membraneuse du lima^on sur laquelle se fait Taction
da 8on et la production de la Sensation. 1. c. p. 344.
^) Pour reconnaltre si la lame spirale est en eifet insensible, ou bien si c'est
la partie ext^rieure du canal auditif qui est bouchee, il ne faut pour cela que prendre
une petite montre ä rep^tition, la mettre dans la bouche du sourd et la faire sonner,
8*il entend ce son, la surdite sera certainement caus^e par un embarras ext^rieure
auquel il est toüjours possible de rem^dier en partie. 1. c. p. 345.
Etienne Perolle (1760—1838). Wertvoller in physiologischer Be-
ziehung sind die Ergebnisse, zu denen dieser Forscher experimentell über
die Schalleitung durch die Kopfknochen und durch die Ohr-
trompete gelangt ist. Bezüglich der ersteren*) stellte er fest, daß eine
Taschenuhr nicht nur von den Zähnen aus, sondern von den verschieden-
sten Stellen des Kopfes, jedoch in wechselnder Intensität, perzipiert wird.
Am besten wird der Schall durch die Zähne, vor allem durch die Eck-
zähne dem Gehörorgane zugeleitet, minder intensiv von dem vorderen
seitlichen Winkel des Scheitelbeins, am wenigsten vom Knorpel der Nase.
So richtig das Tatsächliche dieser Versuche ist, so falsch ist seine Folge-
rung, daß an der Perzeption des durch Kopfknochen fortgeleiteten Schalles
der Fazialnerv beteiligt sei.
*) Recherches et experiences relatives k Torgan de TOuYe et ä la propagation
des sons. Extrait des memoires de la Sociötö Royale de M^decine. Paris 1779.
286 Perolle. Cuvier.
In einer zweiten Arbeit*) sucht er den Nachweis zu liefern, daß
die Ohrtrompete nicht der Schallfortpflanzung zum Mittelohr dienen könne,
eine Ansicht, die von späteren Physiologen vielfach bestätigt, von anderen
wieder bestritten wurde. Er fand nämlich, daß bei verstopften Ohren
und weit geöffnetem Munde das Ticken einer Uhr auch dann nicht per-
zipiert wurde, wenn die Uhr tief in den Mund eingeführt ward, voraus-
gesetzt, daß sie keinen festen Teil des Mundes berührte. Heute wissen
wir, daß man zwar das Uhrticken durch die Tuben nicht hören kann,
wohl aber manche Stimmgabeltöne und auch die Flüstersprache.
Die Paracusis Willisii erklärt Perolle durch die bei heftigen Ge-
räuschen stattfindenden Schwingungen des menschlichen Körpers, durch
die alle Körperteile beweglicher und schalleitungsfähiger werden, eine
Ansicht, die der jetzt geltenden nahe kommt.
Seine Dissertation über den Sprachunterricht bei Taubstummen**)
ist den früheren Arbeiten Ponces und seiner Schüler entlehnt.
Cuvier (Baron Georg Leopold Christian Friedrich Dagobert, 1769
bis 1832). Der Naturforscher Cuvier, dessen vergleichend anatomische
Arbeiten die Anatomie und Physiologie des Gehörorgans nicht unberück-
sichtigt ließen, verdient durch seine vielfachen Anregungen, die ihm die
vergleichende otologische Forschung verdankt, an dieser Stelle genannt
zu werden***). Als Zoolog unterwarf er hauptsächlich das Gehörorgan
verschiedener Tierarten einer eingehenden Untersuchung. Besonderes
Interesse beanspruchen seine Forschungsergebnisse über das ovale und
runde Fenster der verschiedenen Tierspezies, deren Form und Größen-
verhältnisse er einer eingehenden Beobachtung unterzog. Für den wich-
tigsten Bestandteil des Gehörorgans erklärte er die Nervenfaser, die,
in Flüssigkeit schwimmend, sich leicht in Bewegung versetzen läßt und
die Tonempfindung vermittelt. Die übrigen Teile des Hörapparates
dienen einerseits zur Schallmodifikation, anderseits zur Schallverstärkung.
Die Ohrmuscheln sind insbesondere bei den schwachen und bei
den Nachttieren, die alle über ein feines Gehör verfügen, gut ausgebildet.
Die Größe des Trommelfells und seine Neigung zum äußeren Gehör-
gang steht nach seinen Erfahrungen im geraden Verhältnisse zur Hör-
schärfe. Auch die Größe und Lage der beiden Labyrinthfenster übt
nach ihm einen wichtigen Einfluß auf die Schalhvahrnehmung.
*) Diss. anatomico-acoustique contenant des experiences qui tendent ä prouver
que les rayons sonores n'entrent pas par le trompe d'Eustache" etc. Ibid. 1788.
**) Diss. anatomico-acoustique sur l'art d'apprendre ä parier aux sourds et
muets par naissance. Paris 1782.
***) Le<jons d'anatomie comparee. 5 Vol. Gesammelt von Dumeril, Paris
1800 — 1805, auch deutsch von Fischer, Froriep u. Meckel. Braunschweig u.
Leipzig 1800—1810.
Bichat. 287
Bichat (Marie FraiKjois Xavier). Der berühmte Anatom (1771 — 1802),
dem als Begründer der Gewebelehre auch ein Anteil an dem Umschwung
gebührt, den die moderne Medizin genommen hat, steht mit seiner auf
realer Forschung basierenden allgemeinen und pathologischen
Anatomie an der Schwelle des 19. Jahrhunderts. Eine eingehende, auf
selbständige Untersuchung begründete Bearbeitung der Anatomie des
Gehörorganes findet sich in seiner „Anatomie descriptive T. II 1801",
einem Werke, dessen Bedeutung schon daraus erhellt, daß es noch bei-
nahe ein halbes Jahrhundert nach dem Tode seines dreißigjährigen Ver-
fassers in neuer Auflage erschien*).
Aus seiner Beschreibung heben wir folgendes hervor: Er weiß, daß
die innere Schichte des Trommelfells von der Trommelhöhlen Schleim-
haut gebildet wird. Das Trommelfell hält er im normalen Zustande für
vollkommen durchsichtig, doch für nur scheinbar gefaßlos. Erst im ent-
zündeten Zustande kommt es zu einer starken Gefäßentwicklung, wodurch
die Membran ein rotes Aussehen gewinnt. Bichat hält noch an der
alten Ansicht fest, daß das Trommelfell bei schwachem Schall gespannt,
bei starkem Schall erschlafft werde.
Treffend ist seine Beschreibung des membranösen Teiles der Ohr-
trompete im Gegensatze zu der oberflächlichen Darstellung früherer
Anatomen. Nach Bichat bildet der membranöse Teil fast die Hälfte
der äußeren Tubenwand, an welcher der Peristaphylinus externus inseriert,
während der Peristaphylinus internus sich am knorpeligen Teile der Ohr-
trompete befestigt. Daß der Tubenkanal, wie er auseinandersetzt, von
einer Fortsetzung der Pharyngealschleimhaut ausgekleidet werde, war schon
den Anatomen vor ihm bekannt. Die miteinander kommunizierenden
Zellen des Warzenfortsatzes sind stets von ungleicher Größe; selten
wird der ganze Fortsatz bloß von einer Zelle eingenommen. Das Periost
der Gehörknöchelchen ist nach ihm sehr dünn und mit der Schleim-
haut verschmolzen. Mit Unrecht behauptet Bichat, daß die von den
Anatomen beschriebenen Ligamente nichts anderes seien als Schleim-
hautfalten. Die Membran, welche die Trommelhöhle auskleidet und die
früher allgemein für Periost gehalten wurde, wird von Bichat richtig
als Schleimhaut (Membrane mouqueuse du tympan) bezeichnet, ohne
daß er hervorhebt, daß die tieferen Schichten der Schleimhaut die Rolle
des Periosts vertreten. Die Gehörknöchelchen sind [in Duplikaturen
dieser Schleimhaut eingeschlossen. Hier ist sie auch wegen ihrei Fein-
heit schwer darstellbar; bei Neugeborenen ist sie wegen stärkeren Ge-
fdßreichtums und Schwellung leichter abzupräparieren, noch leichter bei
Entzündung der Troramelhöhlenschleimhaut. Von minderem Werte ist
♦) Nouvelle edit. 1846.
288 Bichat.
Bichats Beschreibung des Labyrinths. Nach ihm wird die Vorhofs-
höhle von einer Membran ausgekleidet, die dem ganzen Labyrinth ge-
meinsam und mit mehreren OefiFnungen zum Zwecke der Kommunikation
mit den benachbarten Teilen versehen ist. Diese Membran gleicht weder
der Trommelschleimhaut noch dem Periost. Bichat unterscheidet einen
oberen vertikalen Bogengang, der quer die Pyramide durchschneidet,
einen hinteren vertikalen, der mit seinem Bogen in der Längsachse des
Felsenbeins, und einen horizontalen, der in der Horizontalebene liegt.
Der von den Bogengängen eingeschlossene Raum hat die Gestalt einer
Pyramide, deren Basis nach außen, deren Spitze nach innen und hinten
gerichtet ist. Beim Embryo ist dieser Raum von einem Fortsatze der
harten Hirnhaut, beim Erwachsenen durch diploetischen Knochen aus-
gefüllt. Den gemeinsamen Gang der beiden vertikalen Bogengänge hat
Bichat in zwei Fällen vollständig obliteriert gefunden. Die Achse der
Schneckenspindel liegt nach Bichat nahezu horizontal und durch-
schneidet die Längsachse der Pyramide in schräger Richtung. Die Be-
schreibung der beiden Aquädukte läßt schließen, daß Bichat sich ihre
Kenntnis durch eigene Präparation angeeignet hat.
De la Rue» Abregt de la vue et de Touie et Tesp^ce d'analogie, qui se
trouve a certains ^gards entre ces deux organes. M^m. Tacad. de Caen 1754, 4»
Cap. 2, P. 14—15. Tab. I et II.
David Cornel de Courcelles, Icones musculorum capitis, utpote faciei,
aurium, oculorum, linguae, phar3nigis, e. 8. p. Lugd. Batav. 1748. 6, P. 39, Tab. I,
II, IV et V.
Vauquelin in Systöme des connaiss. chim. T. IX, F. 370.
Mastiani, Observations sur plusieurs pi^ces ea bois de grandeur quadruple,
par rapport naturel, pour demontrer Torgan de Touie. In Mem. de Paris 1743,
P. 85. Edit. in 8 Hist, P. 117.
Godofridus du Bois, Diss. philosopb. inaug. Lugd. Batav. 1724, 4.
De Mairan, Discours sur la propagation du son dans les differens tons, qui
le modifient. In M^m. de TAcad. Roy. des sciences. 1737.
E. Bonnet de Condillac, Traite de sensations. Paris 1754. T. II, 4.
Nathanael Beltz, Dissertation sur le son et sur Touie, qui a ramport^
le prix propos^ par Tacademie roy. de sciences et belles lettres De Prusse, p. 1762.
Lambert, Sur quelques instruments acoustiques. In Mem. de TAcad.
de Berlin 17G3. Uebersetzt von Hutb, Berlin 1796.
Niederlande. England.
Trotz der im 18. Jahrhundert so regen wissenschaftlichen Tätig-
keit auf allen Gebieten der Naturwissenschaft in beiden Ländern wurde
die Ohranatomie i^ rinirerem Maße gefördert als die Anatomie
anderer i ^ Ausbeute in der Otologie bleibt
wei ^®A zurück. Selbst Forscher
KuyBch.
289
vi^
^33cA
|34A
A
V-.
•
4 r
Fi*r. 13. V'erzweigung des aus der
Art. carotis ext. stammenden Aest-
chons A im äußeren Gehörgang.
I^ im Trommelfell. Photogr. Repro-
duktion aus dem Werke R u v s c h s.
Taf. IX, Fig. 9.
wie Ruysch und Boerhaave streifen die Ohranatomie und Physiologie
nur oberflächlich und liefern kaum nennenswerte selbständige Ent-
deckungen. Wir beschränken uns im folgenden auf eine Skizzierung der
Forschungsergebnisse der bekannteren Autoren dieser Periode.
Fredrik Rnysch, im Jahre 1638 zu Haag geboren, studierte in
Leiden Medizin und wurde daselbst im Jahre 1664 zum Doktor promo-
viert. In rascher Aufeinanderfolge wurde
er in Amsterdam zum Prosektor der Ana-
tomie, zum „Doctor van t'geregte** (Me-
dicus forensis) und endlich zum Profes-
sor der Botanik am Athenaeum illustre
ernannt. Alle diese Fächer lehrte er in
ausgezeichneter Weise bis zu seinem
Tode 1731.
Ruysch war der erste, der unserer
heutigen Anschauung gemäß annahm, daß
das Trommelfell aus drei Schichten
bestehe und zwar beschreibt er eine äußere Lamelle, welche die Fort-
setzung des Integumentes des äußeren Gehörganges bildet, eine innere,
die er von der Trommelhöhlenschleim-
haut herleitet, und eine mittlere, in
der sich zahlreiche Gefäße der Ca-
rotis externa verzweigen ^). Diese
letzte Annahme widerspricht unseren
heutigen Anschauungen, da wir wis-
sen, daß gerade die innere und die
äußere Lamelle zahlreiche Blutgefäße
besitzen, während das Stratum pro-
prium des Trommelfells vorliiiltnis-
mäßig arm an Blutgefiißen ist.
Kuvschs MoistiTscbaft in der
anatomischen Injektirinstechnik zeigt
sich auch in seinen Abbildungen des
Gehörorgans. In der in Fig. 13 re-
produzierten Abbildung eines aus der
Carot. externa stammenden Aestchens
gehört A der oberen Gehörgangs wand,
B dem Hammergriff und der ('utis-
schichte des Trommelfells an.
In einer zweiten Ab])ildung (Fig. 14) sehen wir die gelungene In-
jektion der Gefäße der die Gehörknöchelchen überaiehenden Schleimhaut
und des Periosts, womit die Streitfrage über das Vorhandensein oder
Politzer, Ge-^chiolitf «bv Olirenhiülkuud«?. I. 1^^
Fijr. 14. (Jehrnknöclielolienkette mit den
injizierten JSclileinihautgetVißen , stark
vergrößert. l*liotogr. Reproduktion aus
dem Werke Ru3'sclis. Tat'. IX, Fi^'. 1.
Fehlen einus die Knöclielchen Überziehenden Periosts endgültig entschie-
den wui'd«*!.
Riiysch stellt die Existenz eines Foranien Rivini in Abrede, da
es ihm nie gelang, nach Injektion von Quecksilber durch die Ohr-
trompete in die Trommelhöhle, das Metall im äußeren Gehörgang nach-
zuweisen*).
Der Steigbügelmuskel wird von ihm noch völlig verkamit und
für ein Ligament angesehen, welches die Aufgabe haben soll, den Steig-
bügel an seiner Stelle zu fixieren*). Die Membran, die beim Embryo die
äußere Flache des Trommelfells bedeckt, hält Ruysch fllr einen Ab-
kömmling der Epidermis*); sie soll, so lange der äußere Gehörgang
noch nicht ausgebildet ist, das Trommelfell vor schädlichen Einwirkungen,
besonders vor der des Fruchtwassers, schützen.
') In res]], ad Epiat. proU VIII, p. 10. Fig. ö u. !0 auf Tab. IX, Thesauri
anatomici decem (Ämst. ITOl — 1T16|. Vascula auteni aanguiDea non per extimam
disaeminari, aed pront bactenua offendere mihi licuit, per mediam, ita ut conjiciendnni
sit, haec vosculo petiiliari proepicer« provinciue , et raro si unquam communicftre
cum vasia capaam perreptantibus.
') Epiat. probl. VJU, Tnb. iX, Fig, 1.
') Theeaur, anat, VItl u. VI.
'I TheBanr. anat. IV, Nr. 20 . 2. Dictum OEsicalum loco fiuo eontinetur pe-
culiavi ligamento, id quod hie luoulenter apparet,
'I Thoaaur. anat. III. Nr. 76.
H. Boerhaave (Boerhaaven), von seinem Schüler Haller der „Magnus
ille medicorum universae Europae praeceptor* genannt, wurde 1668 in
einem Dorfe nahe bei Leiden (Voorhout) geboren. Nachdem er zuerst
Theologie und Philosophie studiert hatte,' wandte er sich dem medizini-
schen Studium zu und erwarb im Jahre 1093 in Hardenwyk das Doktor-
diplom. Schon im Jahre 1701 erhielt er von der Universität Leiden eine
Berufung als Lektor der theoretischen Medizin; später erlangte er auch
noch den Lehrstuhl der ßotanik und Chemie.
Boerhaaves Ruf als ausgezeichneter Lehrer verbreitete sich bald
in der ganzen zivilisierten Welt und aus allen Ländern strömten wiß-
begierige Schüler herbei, um sich unter seiner Leitung auszubilden. Er
starb am 23. September 1738.
Boerhaave war sicherlich der berühmteste Arzt seines Jahr-
hunderts, wiewohl die gesamte Medizin ihm keine epochemachende»
Entdeckungen verdankt. Die Grundlage seines weitverbreiteten Rufes
muß vielmehr in seinem Wirken als hervorragender Lehrer und Arzt,
nicht als Forscher gesucht werden. Danach sind auch seine Leistun-
gen auf otiatrischem Gebiete zu beurteilen. In dem Werke „Inatitu-
tiones medicae in usus annuae csercitationis domesticos di»
Boerhaave. 291
gestae**), das als Grundlage zu Boerhaaves Vorlesungen diente, be-
handelt er auch in kompendiöser Form die Anatomie und Physiologie
des Gehörorgans. Zu diesen Institutionen ließ Haller nach den Vor-
lesungen Boerhaaves eine Texterklärung drucken, die überdies Von
Haller noch kommentiert wurde**). Sie enthalten zum großeti Teile
schon Bekanntes ; der über das Ohr handelnde Abschnitt sollte zu nichts
anderem als zum Lehrbehelfe für seine Schüler dienen, welcher Zweck
auch leidlich gut erreicht worden sein mag.
Nach einigen wenig interessanten Mitteilungen über das Wesen des
Schalles leitet Boerhaave die Anatomie des Gehörorgans mit der Be-
sprechung der Ohrmuschel ein. Aus einem Wachsabdruck, den er sich
von der Ohrmuschel eines Menschen mit gutem Gehör verfertigt hatte,
glaubte er nachweisen zu können, daß die Schallstrahlen entweder sofort'
oder nach mehrmaliger Reflexion in den Gehörgang gelangen***).
Dem Tensor tympani schreibt er folgende Funktionen zu: er kann
das Trommelfell spannen, erschlaffen, wieder konvex machen, festheften
und in verschiedenen Spannungsverhältnissen festhalten. Dadurch ver-
mag er indirekt den Rauminhalt der Trommelhöhle zu variieren, Luft
einzufuhren, auszutreiben, zu komprimieren, je nachdem die Tube
gleichzeitig geöffnet oder geschlossen ist. Er vermag aber auch das
Trommelfell den aufzunehmenden Schallstrahlen harmonisch anzupassen
(Akkommodationsapparat). Boerhaave schrieb somit dem Trommelfell
nicht bloß die Funktion zu, durch die Schallwellen in Schwingung ver-
setzt zu werden, sondern er glaubte auch, daß es durch die Wirkung
der Muskeln der Gehörknöchelchen einen den verschiedenen Tönen ent-
sprechenden Grad der Spannung annehme.
Den Folianischen Fortsatz des Hammers erklärt er für ein
eigenes bewegliches Knöchelchen, welches mit dem Hammer artikuliere
und erst mit der Zeit mit diesem verwachse, so wie der Processus stylr*
formis mit dem Schläfebein zu verwachsen pflege. Hall er bekämpft
diese Ansichten seines Lehrers, die mit seinen Autopsien an Embryonen
nicht im Einklänge sind.
Die Warzenzellen vermehren, wie Boerhaave annimmt, die Re-
sonanz des Tones. Die Luft in der Trommelhöhle werde durch die Wärme
verdünnt und spanne das Trommelfell gegen den äußeren Gehörgang (?);
das Gehör würde hierdurch verringert werden, fände nicht inzwischen
*) Leidae 1708. Von mir wurde die Ausgabe: Viennae 1775 benätzt, p. 220 — 231.
Cap. 547 — 565, De auditu.
**) Praelectiones academicae in proprias institutiones rei medicae ed. et notas
ftddidit. Haller, Göttingen 1740—1744. 7 Bde. Vol. 4, p. 290—421.
♦**) TreviranuB, Magendie, Esser u. a. konnten die Richtigkeit dieses
Experimentes nicht bestätigen.
2\}2 Boerhaave. Winslow.
oino Lüftung der Trommelhöhle mittels der Tube statt. Vom runden
Fenster glaubt Boerhaave, es befinde sich in der Mitte des ellipti-
!ichon Raumes der Trommelhöhe gegenüber der Mitte des Trommelfells,
oine Ansicht, die Hall er entschieden bestreitet
In der Deutung der physiologischen Vorgange beim Hören sind
ihm vielfache Irrtümer unterlaufen. Bezüglich der Funktion des Laby-
rinths jedoch ist er der modernen Auffassung ziemlich nahe ge-
kommen, wie sich aus folgender Stelle der Praelectiones *) entnehmen
läßt: Atqui habemus adeo chordarum infinitum numerum, quae cum
infinitis sonis possint in unisonum tremere: Longissimae enim
gravissimos sonos, deinde mediae mediocres, brevissimae peracutos ex-
priment: et inter infinitum fere numerum, si una noluerit contremiscere,
alia tamen reperietur, quae harmonice tremat. Aus dieser Stelle geht
mit genügender Deutlichkeit hervor, daß Boerhaave eine der heutigen
völlig identische Anschauung über die Perzeption des Schalles hatte und
daß er ebenso, wie wir heute, die Fähickeit rr.u^ü^chiede in der Ton-
höhe wahrzunehmen, mit der verschiedener. I^icnct h:r vr?,%r.ien begründete.
Angedeutet finden wir diese Theorie si-hoi N.» V.nerr^v S. 204).
Sie geriet wieder in Vercp«i»i^*^:^> ••'*^''! ^ -r^it er<n ron Helm-
holtz aufs neue in die GehörsnlMx^xix« .i.-.»;t rlliirt.
J, B. Winslow, einer *^^ s...^i.xu.t.xitii Aiiacomen des 18. Jahr-
hunderts, wurde am 2. Ann ^^•'^^'i' • 'u.astu auf Füneu geboren. Er
bekleidet« lange Zeit dv P^^^-^^- -* -^^^i^»"n><hen Lehrkanzel zu Paris,
wo er sich durch seil, z^-*^-^-^-- ^=^ ^Virk.u ^s Lehrereinen europäischen
Kuf erwarb. Ihn. ---^--^ .^,.>. .lUa die topographische Ana-
tomie grofto Vö".^-— - '• — * ^;" '• 'M^ril 1760.
Die Fo?**i-'»-T>ov^ '^''^ HriNiows sind in seinem Hauptwerke
.Exposition .--■ ^^* " * -^^^^^"••^; ^t^ ^'orps humain^ nicdergele^rt,
das si«^h -iK ^ ' *•' '' ^--^*"»^^' ^i» 1^. Jahrhundert einer großen
BolioMbev . ^ '**''"^''' Auflagen erlebte**).
^^ ,-,.,■■ ^- ^** '" '-'^'^f^'» K«n^^t> seines Werkes zuerst die
t^,,,,^,....: ■ • ^ '■; urlioKwxuns^**) und bespricht erst im vierten
. ... M .Ma.uiU'ile des Ohrest).
. .U...K ie.x oiolo^'isehon Teiles ergibt, daß Winslow als
....,iu: l>u>evnevs sieh im großen und ganzen den An-
^•utiimteii Lehrers anschließt.
... Uu.k.lu Jos äußeren Ohres be.schreibt Winslow bloß
\... m-, xx.r.lo du' latoiuisoho Auspibe: .Expositio anatomica ßtructurae
. » ■IUI. buiiuN'Uuii i'i l.ipsiao 17o8* benützt.
^' "^ *'''^ »'»t^'vmio SIN 0 partes ojiseaeorgani auditus. T. I, p. 105— 121.
\u. . H, ^.MUMv. Vmis externa. Auris intenia. T. IV, F. 2, p. 181—201.
Winslow. Albinus. 293
einen hinteren Ohrmuskel und erklärt die von anderen Schrift-
stellern geschilderten Muskeln als Artefakte^). Vom knöchernen Oe-
hörgang wird hervorgehoben, daß er in seiner Mitte enger sei als
außen'). Die äußere Lamelle des Trommelfells ist nach ihm eine
Fortsetzung der Epidermis des äußeren Oehörganges. Der ganze üeber-
zug könne wie der Finger eines Handschuhes vom Trommelfell abgezogen
werden'). Die Gehörknöchelchen beschreibt er sehr genau und gibt
Merkmale an, durch die man die des rechten Ohres von denen des linken
unterscheiden könne. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Duverney spricht
er den Gehörknöchelchen ein Periost zu, das er oft seinen Schülern
demonstrieren konnte^). Er gibt ferner an, daß es ihm scheine, als ob
der Hammergriff in einer feinen membranösen Duplikatur eingeschlossen
sei, durch die er an das Trommelfell angeheftet werde und die gleich-
zeitig die Stelle des Periosts des HammergrifiFs vertrete^). Der kleine
Fortsatz des Amboß es werde durch ein kleines, aber starkes Ligament
an den Rand der Apertur der Zellen des Warzenfortsatzes angeheftet*).
Die Chorda tympani wird von ihm als Abkömmling des dritten Trige-
minusastes gedeutet'). Die Ohrtrompete, an der er eine innere knorpe-
lige und eine äußere membranöse Platte unterscheidet, ist für die da-
malige Zeit gut beschrieben^). Die Bogengänge bezeichnet er nach
ihrer Richtung (verticalis superior, verticalis posterior, horizontalis). Bei
der Schnecke hebt er den Unterschied der rechten von der linken her-
vor und spricht von einer Kommunikation beider Schneckengänge im
Apex^). Im übrigen schließt er sich bei der Beschreibung des inneren
Ohres der von Duverney gegebenen an, ohne neue Details hinzuzu-
fügen.
») 1. c. T. IV, § 374, p. 187.
») 1. c. T. I, § 395, p. IOC.
') 1. c. T. IV, § 394, p. 194.
*) 1. c. T. IV, § 396, p. 194.
^) Manubrium hoc membranaceae subtili admodum duplicationi includi yidetur,
qua mediante Membranae Tympani annectitur, quaeque eidem etiam Periostii loco
est. 1. c. T. IV, § 395, p. 194.
«) 1. c. T. IV, § 398, p. 195.
') 1. c. T. IV, §§ 411 u. 412, p. 200.
») 1. c. T. IV. §§ 390 u. 391, p. 193.
») 1. c. T. I, § 440, p. 118.
Bernhard Siegfried Albinus (1697 — 1770), Professor der Anatomie
und Chirurgie in Leiden, Sohn des berühmten deutschen Arztes Bernhard
Albinus, erwarb sich einen glänzenden Ruf als Forscher auf deskriptiv-
anatomischem Gebiete.
In den .,Academicarum annotationum libri VIIP, die mit Kupfer-
294 Albinns.
Stichen von der Künstlerhand Jan Wandelaers ausgestattet sind, er-
Märt Albinus, daß es er für überflüssig halte, nach den vorzüglichen
Werken eines Duverney und Valsalva ein neues Werk mit Tafeln des
Gehörorganes herauszugeben, weist jedoch darauf hin, daß die früheren
Arbeiten eine genaue Topographie (^partium situm, seriemque continua-
tam*^) vermissen lassen, ein Mangel, dem seine nach kindlichen Gehör-
organen hergestellten Tafeln abhelfen sollen.
Die Muskeln des Ohres läßt diese Arbeit unberücksichtigt, weil sie
in seiner „Historia musculorum corporis humani^ eingehend behandelt
wurden. Ihre ausführliche Schilderung im Texte hält er für unnütz
(„quod non ita facile intelligerer). Bloß der Abbildung des Labyrinthes
ist eine eingehendere „explicatio* beigegeben. Im übrigen begnügt
er sich mit einigen erläuternden Worten. Der Wert des Werkes be-
ruht auf den. wahrscheinlich nach der großen Präparatensammlung des
Albinus gezeichneten vorzüglichen Tafeln, welche die Teile des Gehör-
organes stets wie im Präparate im gegenseitigen Zusammenhange zeigen.
Hervorzuheben sind die Abbildung des Vorhofs mit dem „sinus semi-
ovalis*^ und ^sinus hemisphaericus^, sowie des von Morgagni beschrie-
benen „sinus sulciformis''. Albinus zeigt femer in einer gelungenen
Abbildung (Taf. II, Fig. 6) den Ursprung der knöchernen und mem-
branösen Spiralplatte im Yestibulum, wie sich die membranöse Spiral-
lamelle an den Rand des runden Fensters anheftet, wie die Spirallamelle
in ihrem Beginne das runde Fenster vom Vorhof und der Vorhoftreppe
trennt und fortlaufend die Schnecke in zwei Treppen teilt, wie das runde
Fenster in seiner ganzen Ausdehnung bloß zur Scala tympani gehört und
andere Details, die von den früheren Anatomen wohl beschrieben, aber
nicht bildlich dargestellt worden waren. So findet sich auch z. B. an
der Abbildung der inneren Troramelhöhlenwand der „recessus epitympani-
cus* oder, wie Albin sagt, „Tympani pars a squamosa efiFecta'' treu
wiedergegeben.
Die Behauptung Albinus', er könne nur einen hinteren Ohr-
muskel auffinden und die knorpelige Tube werde von dem „musculus
circumflexus palati** zusammengedrückt, hat sich längst als irrtümlich er-
wiesen.
Sein jüngerer Bruder und Nachfolger im Lehramte, Friedrich
Bernhard Albinus (1715 — 1778), veröffentlichte ein „Libellum de
natura hominis"*), in dem er das Ziel verfolgte, aus den physiologischen
Leistungen die Struktur und Beschaff'enheit der Körpergewebe zu er-
klären.
Das Cerumen stellt er sich als das eingedickte Sekret von Talg-
*) Lugduni Batav. 1775.
Albinus. Elliott. 295
drflsen vor. Der Zusammenhang der Chorda mit dem dritten Ast des
Trigeminus ist ihm bereits bekannt Den Hömerv läßt er „per innumera
foramina'^ in die Labyrinthräume eintreten und „in expansiones moUissi-
mas** endigen, welche infolge ihrer Weichheit und Feinheit dem Tast-
und Gesichtssinne entgehen. Im übrigen sind seine Angaben über das
Gehörorgan wertlos.
Im physiologischen Teile akzeptiert er bereits die Ansichten Co-
tunnis, wenn er sagt: „Eorumque (nämlich der Gehörknöchelchen) ope
tremor transit in fluidum labyrinthi, agitatque expansiones nervosas.^
John Elliott (1747—1787). Unter vielen, meist hypothetischen
und wertlosen Betrachtungen über die Funktion des Gehörorgans finden
sich in der Arbeit Elliotts^) manche interessante Mitteilungen, die in
historischer Beziehung nicht übergangen werden können.
Aus den 18 Beobachtungen über gehörphvsiologische Fragen sind
die folgenden Ansichten Elliotts erwähnenswert. Die Annahme, daß
das ganze Trommelfell durch jeden Ton besonders in Schwingung ge-
setzt wird, erklärt er ganz richtig für unhaltbar, da ja mehrere Töne
die Membran zugleich treffen und durch sie fortgeleitet werden. Hin-
gegen neigt er der hypothetischen Ansicht zu, daß die Lage der Töne
gegeneinander und ihre Richtung durch das Gefühl des Trommelfells
erkannt wird. Eine Andeutung über das sogen, subjektive Hörfeld
ist in der Angabe Elliotts enthalten, daß Manche die Schallempfin-
dung in das Kleinhirn oder in die Stime verlegen-).
Zu den mannigfaltigen Erklärungen vom Besserhören bei geöffnetem
Munde fügt Elliott die neue, daß beim Oeffnen des Mundes der äußere
Gehdi^ng erweitert werde.
Elliott machte, angeblich geleitet durch die Kenntnis der Farben-
mischung, zum ersten Male die interessante Beobachtung, daß Klänge
außer durch ihre verschiedene Höhe und Tiefe und ihre verschiedene
Intensität sich noch durch ihre Klangfarbe (niode of sound) unterschei-
den •). Durch fortgesetzte aufmerksame Prüfung konnte sein musikalisches
Ohr die Klänge in einzelne einfache Töne von verschiedener Höhe und
Intensität zerlegen. Nach ihm hängt also die Klangfarbe von der Art der
Mischung der einzelnen Töne ab. Diese Erklärung der Klangfarbe fand
bekanntlich später durch die Helmhol tzschen Resonatoren auf physi-
kalisch-experimentellem Wege ihre Bestätigung.
') Philosophical Observation^ on the sense? of vision and hearin)?: to whioh
are added, a treatife, on barmonic soundä. and an essay on ooinbustion and animal
heat. London 1780. — In deutscher Sprache: J. Klliots li.y biologische Heol^acb-
tnngen Aber die Sinne, besonders über das Gesicht und Goh7r etc. Leipzig: 1785.
*) These phenomena seem to indicate that the nerves w:-.:;h sene eiiher the
tjmpaninn or barrel for the sense of teelin^, are so iiispo:2ed ir. :::e sensory or brain,
that if the organ be affected in one point. the Sensation shaV. bo tolt. not in the
296 Sleigh.
pari affected, but as in the fore pari of the head. If in another pari, it shall be
feit as in the back part of the head; and perhaps there are other points of that
Organ correspond with the whole furface of the head respectively. 1. c. p. 33.
') About ten years ago, I observed that a flute, an hautboy, a trumpet, and
other instruments , though they were made to yield soonds which were in uniform
with each other, and equally loud, yet had a difference which every one could ob<
serve , and which I then called the m o d e of sound. . . . Whether the cause of thia
curious phenomenon had been discovered, I could not leam; but by meditating on
the subject, and making several experiments, I found that these sounds were not
simple, but composed of others, of which these were only the result or aggregate»
even as the colours of bodies are various Compounds of the several original colours.
1. c. p. 43.
Die vergleichend anatomische Arbeit des Engländers Alex. Monro*) (1733 — 1771)
enthält keine nennenswerten neuen Details. Seine Beschreibung des mittleren und
inneren Ohres nach Korro8ionsprä.paraten ist ziemlich gut, doch bei weitem nicht sa
detailliert, wie die erschöpfende Darstellung Bezolds in seiner Eorrosionsanatomie.
Seine Abbildung des Korrosionsabgusses der Schnecke steht nach v. Stein**) an
Schönheit der der Bezoldschen Präparate in nichts nach.
Hier wäre noch die Arbeit des englischen Arztes Jos. Fenn Sleigh***) zu
erwähnen, die sich vorzüglich mit der Funktion des Trommelfells befaßt, deren Wert
jedoch wegen der gänzlich mangelnden experimentellen Begründungen nicht hoch
anzuschlagen ist. Nach ihm hat das Trommelfell vorzugsweise den Zweck, das
Mittelohr vor Einwirkung schädlicher, in der Luft befindlicher Agentien zu schützen.
Aus den bloßen Ueberlegungen , daß wir im stände sind, den kürzesten Schall zu
perzipieren, dem sich das Trommelfell nicht zu akkommodieren vermag (?), daß manche
mit perforiertem Trommelfell, sogar bei Verlust der Gehörknöchelchen, die Hör-
föhigkeit behalten, und aus anderen ähnlichen Gründen spricht Sleigh dem Trommel-
fell die Fähigkeit ab, sich entsprechend den hohen und tiefen Tönen akkommodieren
zu können. Er glaubt vielmehr, daß die Membran bei starken Tönen relaxiert, bei
schwachen gespannt wird, eine Ansicht, die bekanntlich unserer heutigen Auffassung
widerspricht, da wir wissen, daß Töne von verschiedenartigster Höhe gleichzeitig
vom Trommelfell aufgenommen und fortgeleitet werden.
Sleigh ist auch ein Gegner der Theorie von der Mitschwingung der Chorden
in der Schnecke und glaubt, daß der Ton in den verschiedenen Hohlräumen des
Ohres auf dieselbe Weise abgestimmt wird wie in den ,tubis stentorophonicis*.
Archibald Adams, Part of letter, conceming a monstrous calf and some-
things observable in the anatomy of a human ear. Philosoph. Transact. 1706.
P. Demeherenc de la Consilliere. De auditu. Ultrajecti 1710.
Jacob Douglas, Descriptio comparata musculorum corp. hum. et quadru-
pedis. Lugd. Batav. 1788, P. 49.
Laur. Metz, Diss. de auris bumanae fabrica. Lugd. Batav. 1765.
*j Three treatises on the brain, the eye and the ear. Edinb. 1797. Illustrated
by tables. Observations on the organ of Hearing in man and other animals. p. 177.
**) 1. c.
***) Tentamen physico-medicum inaugurale de auditu. Edinburgi 1753. The-
saurus Medicus Edinburgensis novus sive Dissertationum in Academia Edinensi, ad
rem medicam pertinentium, ab anno 1759 ad annum 1785 delectus, ab illustri Socie-
tate Regia Medica Edinensi Habitus. T. II, p. 37— 50, Edinburgi et Londini 1785.
Cassebohm. 297
Haygarth, in Medical observations and inquiries. Vol. IV, Edit. 2, 1772,
P. 198—205 (Ueber das Ohrenschmalz).
J. B. Yermolen, Diss. de aure et auditu. Traj. ad Rhen. 1782.
Edmund Somers, Diss. physico-medica de sonis et auditu. Edinburgi 1783.
Deutschland.
In dieser Periode treten — wesentlich beeinflußt durch die Leistun-
gen der Italiener — zum ersten Male deutsche Gelehrte als Förderer
der Ohranatomie auf. Unter den zahlreichen Bearbeitern dieses Spezial-
gebietes ragen besonders Cassebohm, Brendel, Zinn und Meckel
hervor. Auch in der Ohrphysiologie wurde ein bedeutender Port-
schritt angebahnt, wozu die akustischen Arbeiten der zeitgenössischen
deutschen Physiker wesentlich beitrugen. In den Schluß dieses Zeit-
raumes fallt die Tätigkeit Sömmerrings, dessen anerkennenswerte
Leistungen jedoch bereits dem Anfang des 19. Jahrhunderts angehören.
Der weitere Umkreis der Forschung und die größere Exaktheit der
Untersuchungen brachte bereits eine intensive Arbeitsteilung mit sich,
die sich in den vielen Spezialschriften ausdrückt, die an Zahl die
das Gehörorgan behandelnden Werke früherer Zeit übertreffen.
Unter den deutschen Anatomen, die sich um die Bereicherung der
Ohranatomie besonders verdient gemacht haben, ist in erster Reihe
Cassebohm zu nennen, der den großen Italienern des 17. u. 18. Jahr-
hunderts an die Seite gestellt werden kann.
Johann Friedrich Cassebohm, geboren zu Halle, ein Schüler des
berühmten Winslow, bekleidete die Professur in seiner Vaterstadt, dann
in Frankfurt a. d. Oder, endlich in Berlin, wo er am 3. Februar 1743
starb. Obwohl sich Cassebohm um den Fortschritt der Anatomie
im allgemeinen verdient gemacht hatte, wurde er doch erst durch seine
anatomischen Arbeiten über das Gehörorgan bekannt. In seinen Resultaten
der embryologischen Forschung des Gehörorgans läßt er alle Vorgänger,
auch Valsalva und Morgagni, weit hinter sich zurück, ja wir müssen
sagen, daß bis Huschke und v. Baer, Cassebohm in der Entwicklungs-
geschichte des Ohres allein mustergültig war.
Seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnete er mit der „Disputatio
anatomica inauguralis de aure interna. Francof. eis Viadrum 1730*. Das
Gesamtergebnis aber legte er in seinen sechs Traktaten über das Gehör-
organ nieder. „Tractatus quatuor anatomici de aure humana, Halae
Magdeb. 1734 ; Tractatus quintus anatomicus de aure humana cui accedit
tractatus sextus de aure monstri humani, Halae Magd. 1735*. Da die
Dissertation durch das Hauptwerk ergänzt und überholt ist, genügt es,
auf dieses letztere näher einzugehen.
Die dem Werke beigegebenen, von dem Studenten Petsche gezeich-
298 Caaeeböhm.
neten Tafeln, gehören zu den besten ihrer Zeit und wertlen nur von
Scarpas Abbildungen Übertroffen M-
Cassebohms Traktate enthalten eine Fülle von Verbesserungen
und Neuheiten, nicht zum mindesten bei der Darstellung des inneren
Ohres lind suchen in ihrer mit Kürze des Ausdrucks gepaarten Klarheit
der Beschreibung ihresgleichen. Ein Beweis hierfür liegt darin, daß der
kritische Morgagni mit Vorliebe und fast immer lobend seinen treff-
lichen Zeitgenossen zitiert. Der Inhalt des Werkes entspricht voUkommen
dem in der Vorrede ausgesprochenen Programm: ,Ma]ui enim, quanta
potui brevitate et perspicuitate meas obser\'ationes in libellum redigere
quam ex alienis volumen magnum consarcinare".
Der erste Traktat behandelt das Schläfebein, der zweite das
äußere Ohr, der dritte und vierte die Trommelhöhle, die als inneres
Ohr bezeichnet wird, der fünfte das Labyrinth, während der sechste
der Beschreibung eines monströsen sechsmonatlichen Fötus gewidmet ist,
einer Doppelbildung, bei welcher zwei Gehörorgane zu einem ver-
schmolzen waren. Die Mißbildungen betrafen hauptsächlich die Trommel-
höhle, in der sieben zum großen Teile verbildete Gekörknöchelehen vor-
handen waren, während das Labyrinth hinsichtlich Lage, Größe und
Gestalt einen ziemlich normalen Typus aufwies.
Es würde zu weit führen, die Detailarbeit Cassebohms aus-
führlich wiederzugeben; wir müssen uns vielmehr darauf beschränken,
nur das Wesentliche aus seinen Arbeiten hervorzuheben.
Seine Beschreibung des Schläfebeins zeichnet sich durch Prä-
zision und Gründlichkeit au.s. Was Vorgänger und Zeitgenossen bloß
angedeutet hatten, das finden wir hier klar und ausführlich behandelt
und vorzüghch abgebildet, wie die Fissura tympanosquamosa, die
Furche tllr den Nervus petrosus superfic. major, die sogen. Fis-
sura Glaseri, die er beim Neugeborenen sehr klein fand, die Promi-
nenzen des oberen und hinteren Boj^fenganges auf der oberen und hinteren
Pyramidenfläche, die kleinen Löcher an der oberen Wand des Canal.
carot. und in der Fossa jugularis u. s, w. An der Pyramide unterscheidet
er vier Flächen und zwar zwei innere und zwei äußere; die inneren,
resp, äußeren teilt er wieder in eine obere und untere Flache. Vom
Foramen stylomastoideum und dem Griffelfortsatz sagt er, sie
lägen beim Neugeborenen mehr an der äußeren oberen Fläche (unserer
äußeren) der Pyramide, rückten aber mit dem Wachstums des Pazial-
kanales gegen die äußere untere (unsere untere) Fläche. Die Angaben
Duverneys und Schelhammers, daß der Griffelfortsatz in irgend einer
Beziehung zur Bildung des Süßeren Gehörganges stehe, hält er für irr-
tümlich, indem er darauf hinweist, daß ei-sterer beim Fötuä lange vor
der Er* flehörganges Torhauden sei. Von beson-
Cassebohm. 299
derer Exaktheit ist seine Darstellung der Bildung des knöchernen
Teiles des äußeren Gehörganges aUs dem Trommelfellringe, zu
welchem Zwecke zahlreiche fötale und kindliche Gehörorgane der ein-
gehendsten Zergliederung unterzogen wurden. Die bereits von Riolan
angedeutete Ossififeationslücke in der Mitte der vorderen Wand des
knöchernen äußeren Gehörganges (S. 187) wird von Gassebohm zum
ersten Male genauer beschrieben und abgebildet (Taf. I, Fig. 2r), wo-
bei er darauf hinweist, daß Duverney sie gekannt zu haben scheine, da
er diese Lücke, wenn auch nicht beschrieben, so doch abgebildet habe
(S. 198, Fig. 9) 2).
Das Trommelfell läßt er gleich seinem Lehrer Winslow aus
vier Häuten bestehen ^). Schon damals war der Streit über das Foramen
Rivini entbrannt. Cassebohm leugnete sein Vorkommen, da er in
vielen Präparaten vergeblich darnach gefahndet hatte *). In der Trommel-
höhle beschreibt er ausführlich den Falz des Schneckenfen&ters,
femer die Höhle der Eminentia pyramidalis und ihre Kommuni-
kation mit dem Fallopischen Kanal. Er fand diesen beim Er-
wachsenen länger und breiter als beim Kinde*). Treffend ist seine Be-
schreibung der Gehörknöchelchen, denen er fünf Bänder zuschreibt.
Am Hammer unterscheidet er den Kopf, den Hals und drei Fortsätze.
Die Gelenkfläche des Amboßes ist von einer Furche umgeben, ebenso
fand er am Halse des Hammers eine breite schiefe Furche. Die Furche
des Amboßes an der Spitze seines kurzen Fortsatzes beim Kinde®) ist
von ihm zuerst erwähnt. Neu ist ferner seine Beschreibung der aponeuro-
tischen Scheide des Trommelfellspanners und des Steigbügelmuskels,
die Konkavität an der Innenseite der Stapesschenkel und die durch
mikroskopische Untersuchung festgestellte Gefäßmembran („periostium
internum") im Innern des Hammers und Amboßes. Vom Warzenfort-
satz behauptete Cassebohm, daß er beim Fötus keine Zellen besitze.
Die jetzt bekannte anatomische Tatsache, daß normalerweise nicht selten
diploetische Warzenfortsätze vorkommen, in denen sich nur das Antrum
mastoideum als lufthaltiger Baum vorfindet, dürfte ihn zu der Annahme
veranlaßt haben, daß die pneumatischen Zeilen mit den Jahren wieder
verschwinden und schließlich nur in der Mitte allein übrig bleiben')
(vergl. Taf. II, Fig. 4). Diese Ansicht findet sich jedoch nur in seiner
Diss. de aure int., aber nicht mehr in seinen Traktaten über das mensch-
liche Ohr«).
Im knöchernen Labyrinth waren ihm vor Cotugno die beiden
für die Vorhofsäckchen bestimmten Recessus bekannt. Die fünf Mün-
dungen der drei Bogengänge im Vorhof sind topographisch richtig
beschrieben und auch abgebildet. Die fünf Bogengänge selbst benennt
er nach ihrer Lage und Richtung als „superior**, „inferior** und „medius"
300 Cassebohm.
oder »extemus". Er zeigt fem er, daß in der Länge der Bogengänge
bei Neugeborenen und bei Erwachsenen gleichen Alters große Ab-
weichungen bestehen.
Hervorzuheben sind des weiteren seine nahezu richtigen Messungen
der einzelnen Teile des Gehörorgans; so bestimmte er z. B. den Schnecken«
kanal beim Kinde auf zwölf Linien.
Wenn auch bereits fi-ühere Autoren, wie Willis, Vieussens,
Bartolo und Winslow, von einer Kommunikation beider Schnecken-
gänge gesprochen hatten, so war Cassebohm doch unstreitig der erste,
der die Kommunikation im Becher ausfuhrlich beschrieben hat; doch
leidet, wie Scarpa hervorhebt, seine Beschreibung an ungewöhnlicher
Dunkelheit^). Die Abbildung des Spindelkanals stimmt bis auf geringe
Abweichungen mit der späteren Scarpas^^). Mit größter Gtnauigkeit
beschrieb Cassebohm den inneren Gehörgang und den sichelförmigen
Grat, der den Gang in die beiden Recessus für den Hörnerv und den
N. facialis scheidet ^^). In dem imteren Recessus fand er im Gegensatze
zu Valsalva außer fünf größeren noch eine Reihe kleinerer Oeffnungen.
Auch die Eingänge zu den beiden Wasserleitungen waren ihm nicht ganz
jfremd^*). Labyrinthwasser fand er gleich Valsalva, Vieussens und
Morgagni als zufälligen Befund (in quibusdam auribus), ohne eine
richtige Deutung hierfür geben zu können. Er glaubt, daß die Flüssig-
keit aus der Schädelhöhle durch die Löcher des inneren Gehörganges
in das Labyrinth gelange oder daß sie von den membranösen Gebilden
des Labyrinthes sezerniert werde. Zu genaueren Untersuchungen hier-
über, die er in Aussicht stellte, sollte es nicht mehr kommen: „Plura
de hoc humore alio tempore Deo volente afferam**.
Was das häutige Labyrinth anlangt, so leugnete er die „Zonae"
Valsalvas; statt dieser beschreibt er Fäden (Filamenta), die beim
Herausziehen aus den halbzirkelförmigen Kanälen wegen ihrer Befestigung
im Vorhofe einigen Widerstand leisteten. Es waren dies offenbar Frag-
mente der wandständigen membranösen Bogengänge.
Desgleichen verfolgte er die Verbreitung der Gefäße und Nerven-
verzweigungen in der Trommelhöhle und im Labyrinthe und sprach
sich mit Entschiedenheit gegen die von Morgagni unterstützte Annahme
der Valsal vaschen Löcher (Dehiszenzen am Tegmen. tymp.) aus, die
von der Trommelhöhle in den Schädelraum führen sollten.
Besonders wertvoll in dem Traktate Cassebohras ist die Beschrei-
bung der Veränderungen der einzelnen Teile des Gehörorgans in den
verschiedenen Altersstufen, besonders beim Fötus, beim Neugeborenen
und im Greisenalter. Aus seiner Embryologie wäre folgendes hervor-
zuheben. Im Gegensatz zu Ruysch hält er den annulus tymp. für eine
pars propria des Schläfenbeins^^). Die Gehörknöchelchen, die er beim
Cassebohni. 301
Fötus teilweise hohl fand, beobachtete er im dritten Monat und kannte
ihren ungleichmäßigen Entwicklungsprozeß; zuerst verknöchern Amboß
imd Steigbügel, später erst der Hammer. Bewunderungswürdig ist die
Sorgfalt, mit der Cassebohm den Entwicklungs- und Verknöcherungs-
prozeß der Trommelhöhle, der beiden Fenster, des Kanals für den Tensor
tympani, des Fallopischen Kanals u. s. w. verfolgte, wenn auch manches
durch spätere Untersuchungen berichtigt wurde.
Auch die Entwicklung des knöchernen Labyrinths fand an ihm einen
aufmerksamen Beobachter. Im dritten Fötalmonat seien die Wände des
Vorhofs knorpelig, im vierten knöchern, doch noch nicht so stark und
so gewölbt wie in der späteren Zeit; den Beginn der Ossifikation ver-
legte er in den Umfang des Schneckenfensters. Im vierten Monat fand
er die Schnecke mit Ausnahme der Lamina spiralis ganz verknöchert;
diese ossifiziere im fünften Monat. Die Bogengänge seien erst im
fünften und sechsten Monat vollkommen ausgebildet. Diese Angaben
stimmen mit den Untersuchungsergebnissen der späteren Forscher nicht
überein.
Vom äußeren Ohr beobachtete er bei einem einmonatlichen Embryo
noch kaum die Anlage. Hinsichtlich der Alterserscheinungen bemerkte
er eine Verkleinerung der Trommelhöhle und Abnahme der Zartheit und
Elastizität des Trommelfells.
Raummangel verbietet uns, der Reichhaltigkeit der Forschungs-
ergebnisse Cassebohms gerecht zu werden, doch läßt sich schon aus
dem Wenigen, was wir hervorgehoben, der Umfang und die Tiefe seiner
Leistungen erschließen. Seine Arbeiten, die für die gesamte Otologie
von nicht gewöhnlicher Bedeutung sind, sichern ihm in der Geschichte
der Ohrenheilkunde für immer den Rang eines hervorragenden Forschers.
Cassebohm hat auch in seiner „Anweisung zur anatomischen Be-
trachtung und Zergliederung des menschlichen Körpers" (Neue Ausgabe
von Baidinger 1769) eine spezielles Kapitel der Sektionstechnik des
Oehörorgans gewidmet*).
^) In pingendis omnibus sex tabulis singularem adhibuit diligentiam Dominus
Joannes Zaccbarias Petsche Brunsvicensis Medicinae Studiosus, qui per quinque annos
in praeparationibus anatomicis mihi sedulus adstitit. Tract. V.
*) Idem paries (nilmlich anterior) in medio foramen habet, in infante aliquod
annorum magnum ; in juvene autem et adulto disparens, quia coaluit. Riolanus hi^jus
foraminis meminit ; silent vero recentiores : Duverney tarnen illud adumbrasse videtur.
Tract. III, § 674, p. 28.
«) Tract. III, § 78, p. 32.
*) Licet in multis cadaveribus ad illud detegendum omnem impenderim operam.
^) Canalis hie plerumque in adulto longior et latior est quam in infante.
Tract. III, § 97, p. 39.
*) Cap. 27. Von der Präparation des Ohres, p. 358—363.
302 Cassebohm. Pyl.
*) In infantis incude, in apice cruris brevis impressionem panram cum sulco
super ea animadverti cuins in adulto aliquod remanet vestigium. Tract« lY, § 129, p. 54.
^) Dis. de aure int. § 23, p. 24.
») Tract. III, § 92, p. 37.
^) Scarpa sagte in seinen Disq. anat. de auditu et olfactu Sect. II, Cap. 2
et 12 : Gleich im Anfange mnß ich gesteben, daß die bisher über diesen Gegenstand
bekannt gemachten Beschreibungen immer so dunkel sind, daß ich mich nie durch
die mancherlei Schwierigkeiten durcharbeiten und den Sinn des Schriftstellers ganz
enträtseln konnte. Deutsche Ausgabe 1800, p. 85. Deshalb fand ich auch keine
einzige Abbildung auch in den sonst gerühmten Cassebohmschen Tafeln der Be-
schreibung des Verfassers genau entsprechend, keine, die, worauf es am ersten an-
kommt, mit der Wahrheit übereinstimmt. 1. c. p. 87.
'0) Tab. V, Fig. 9.
^^) In partis petrosaö superficie interna et inferiore canalis auditorius internus
incipit, qui inde ad vestibulum et cochleam progreditur ibique terminatur. Hie
terminus vocatur fundus, quem eminentia quaedam in duos alios partitur, quorum
unus fundus superior, sive minor vocatur; alter fundus inferior sive major audit.
Tract. V, § 209.
'«) Tract. V, §§ 199 u. 216, Tab. IV, Pig. 8 u. 12, Tab. V, Fig. 8.
^') Coelo existente sereno foetuum annulos oculo examinavi, atque in foetus
trium mensium annulo in superficie annuli extemas fibras longitudinales cum inter-
jectis sulcis longitudinalibus vidi. Tract. III, § 63.
Theodor Pyl. Dem Traktate Cassebohms ist eine Arbeit an-
zureihen, deren Autor insofern als Vorgänger Cotugnos angesehen
werden muß, als er der erste war, der eine Hörtheorie auf die
Annahme eines flüssigen Mediums im Labyrinthe auf-
baute. In dieser kurzen Schrift, betitelt „Diss. med. de auditu in
genere et de illo qui fit per os in specie*. Gryphiswald. 1742 (Praeses
Theod. Pyl rcsp. Ch. Lud. Willich), heißt es nämlich*): „Facili negotio
itaque inducimur, ut credamus, in toto Labyrintho contineri liqui-
dum sive fluidum elasticum subtile, aSreum forsitan, quod, qua
ratione in hoc cavum eiusve contenta perveniat, ab iis demum edo-
cemur qui illud a fluido ex vasculis minimis secreto separari statuunt,
eiusve phenomini explicationem ex Physicis de vapore petunt et fluido.
... § 27. Nunc superius vidimus, aSrem tremulum externum ferire
tympani membranam, quae, ut motum Impressum communicet malleo,
necesse est; hie ob articulationem suam mobilem cum reliquis ossi-
culis, motum impressum illis communicat; et ad ultimum eorum in
ordine extendit: hoc, cum varie moveri possit, ut tremulos duos motus
in labyrintho haerenti subtili elastico fluido communicet, neces-
sario ex modo sequitur." Hier wird somit zum ersten Male klar aus-
gesprochen, daß das Labyrinth „in toto* von Flüssigkeit erfüllt ist.
Dies schmälert jedoch keineswegs das Verdienst Cotugnos, der
♦) p. 20 u. 21, § 26.
Pyl. Brendel. 303
19 Jahre später, ohne Pyls Dissertation zu kennen, zu demselben Er-
gebnisse gelangte.
Wie langsam damals wissenschaftliche Entdeckungen sich selbst in
den Ländern ihrer Entstehung verbreiteten, erhellt daraus, daß der Deutsche
Ch. L. Hoff mann in der „Diss. inaug. physiol. de auditu** (Praes.
S. Paul Hilscher), Jena 1746, somit vier Jahre nach der Publikation
Pyls, eine Hörtheorie auf Grundlage der bekannten physikalischen Ge-
setze und mit der Annahme der Labyrinthluft entwickelte, da-
bei jedoch von einer Labyrinthfeuchtigkeit spricht, die stets vorhanden
sein müsse, um die Vertrocknung der Nerven durch die Körperwärme
zu verhüt,en (Diss. de auditu, p. 38: „Cum labyrinthus semper obser-
vatur madefactus ...").
Ueber das Labyrinth hatten in diesem Zeitraum mit besonderem
Erfolge Brendel, Zinn und Meckel gearbeitet. Die beiden ersten
wählten sich die Schnecke als Forschungsobjekt.
Gottfried Brendel (1712—1758), Sohn des Wittenberger Ana-
tomen Adam Brendel, wurde Professor zu Göttingen, später Hallers
Nachfolger in der Chirurgie und erwarb sich abgesehen von seinen oto-
logischen Arbeiten auch auf dem Gebiete der gerichtlichen Medizin be-
sondere Verdienste.
In seiner Schrift ^Progr. de auditu in apice Cochleae** , Götting.
1747, beschrieb er eingehend das Spiralblatt, die Spindel und den
Spindelkanal der Schnecke, sowie den Verlauf des Nerven in der
Schnecke. Seiner Ansicht nach tritt ein Zweig des Schneckennerven,
der durch den Spindelkanal zieht, aus kleinen Löchern am blinden Ende
desselben in den Vieussensschen Becher, um sich in dessen Spitze
auszubreiten^).
An der Spindel unterschied Brendel eine äußere härtere und glattere
Rinde und einen inneren weicheren Teil, der den Zentralkanal umschließt.
Ein sprechendes Zeugnis für die Gründlichkeit seiner Untersuchungen
bildet die Auffindung der Kommunikationsstelle beider Treppen in einer
kleinen Oeffnung des Bechers*). Eigentümlicherweise verlegt er den Ort
des Hörens in die Schneckenspitze, weil er die Beobachtung gemacht
haben wollte, daß der Hörnerv nach Passierung des Spindelkanals sich
an der Schneckenspitze in Fasern auflöst; hier sollen nun nach seiner
irrigen Auffassung die Schallwellen wie in einem Brennpunkte zur Ver-
einigung gelangen (Senac).
*) Unde non omnino videtur alienum, canalem illum (sc. modioli) non quidem
continno tubo in cavum ascendere conoidis, sed per exilissimos quosdam angiportus
foraminulis memoratis exeuntes, habere aliquid commercii et immissi in illum nervi
subtilissimos surculos, per has angustias in cavum conoidis pervenire ibique ezpli-
cari . . . eemel illum canalis ductum studiose acutiseimoque et subtilissimo culteoll
304 Zinn.
secutus, finem Uli coecum esse comperi, at fundum quendam perexignis foraminulis
pertusum.
') Nam lämella spiralis, ubi basin conoidis prope attigit, hiatu quodam ef&cit,
ut binae scalarum cavitates in hoc conoidis cavum confluant.
J. 0. Zinn. Ebenso gediegen ist die Schrift eines anderen Göt-
tinger Professors J. G. Zinn (1727 — 1759), der gleichfalls die Schnecke
zum Untersuchungsobjekt wählte. Zinn, ein Lieblingsschttler Hallers,
lehrte Anatomie zu Göttingen. Er starb im Alter von 32 Jahren an der
Schwindsucht. Sechs Jahre vor seinem Tode veröffentlichte er die auch
otologisch bemerkenswerte Arbeit: „Observationes quaedam botanicae, et
anatomicae de vasis subtilioribus oculi et Cochleae auris intemae*^ (Göt-
tingen 1753). In dieser Arbeit beschreibt er ausführlich das Spiralblatt
der Schnecke auf Grund von mikroskopischen Untersuchungen.
Er fand es aus zwei Teilen bestehend, aus einer der Spindel zu-
gewendeten rauhen und gefurchten und einer glatten, aus queren Fasern
zusammengesetzten Partie, welch letztere der Lamina membranacea zur
Befestigung dient ^). Die Lamina spiral. membranacea stellt er sich als
Duplikatur des Schneckenperiosts vor*). Aehnlich wie Brendel schildert
Zinn die Kommunikation beider Treppen im Scyphus').
Mit großer Genauigkeit verfolgte er den Schneckennerven und be-
schrieb zuerst, schon vor Cotugno, dessen Eintritt in Form eines spiral-
förmigen Zuges*) in die Schnecke, sowie die Ausbreitung der Fasern auf
dem Spiralblatt nach dem Verlassen der Spindel. Obwohl Zinn eine
ziemlich richtige Vorstellung des Hömervenverlaufs in der Schnecke hatte,
opponierte er doch der zu dieser Zeit durch Boerhaave (siehe diesen)
vertretenen Hypothese von den Schwingungen der Nervenfasern der häu-
tigen Spiralmembran. Er meint nämlich, mit dem, was wir über Struktur
und Funktion der Nerven wissen, könne unmöglich Boerhaave an-
nehmen, daß die Nervenfasern zwischen den beiden Lamellen der mem-
branösen Spirale so disponiert seien, daß sie, an dem knöchernen Teil
fixiert, jede einzeln in Schwingung gerieten. Nach der Annahme Zinns
sollen vielmehr die knöchernen Streifen (striae) im stände sein, isoliert
zu schwingen und dann diese Schwingung auf die entsprechende Nerven-
faser zu übertragen^).
Zinn war es auch, der zuerst Genaueres über die Gefäße der
Schnecke, namentlich des Bechers, mitteilte. Desgleichen erwähnt er eine
Arterie und einen Xervenzweig, die den M. stapedius versorgt, ferner
eine Arterie, die durch einen Verbindungskanal zwischen Canalis Fallop.
und dem Warzenfoiisatz verläuft.
0 Ipsa autem lamina ossea ex duplici substantia composita mihi esse videtur.
Pars nempe interior, quae ex modiolo enata in cavitatem gyri producitur, asperior
semper est, in scala vesüboli mnltis granulie hirta et foveolis inaequalis, in scala
Meckel. 305
tympani auteni notatur multis lineis extantibus ex ipso modiolo in illam porrcctia.
Altera pars in ipso gyro suapen^a, structura multum a priori diver^a videtur et
fasciam refert. quae nullis neque granulis neque lincolis extantibus hirta, levior et
eolidior obscr^atur. quae tarnen fasciola, si microscopio inspiciatur, lineata et ex
striis transversis p]ane parallelis sensim brevioribus composita apparet, cuius orae
liberac subtilissime serratae pars membranea laminae spiralis adnectitur. I. c. p. 31.
^) Pars altera hujus laminae spiralis membranea est, ipsi ])erio8tio concfaae
continua, ut inde statim pateat, laminae spiralis partem membraneam diiplici lamella
esse compositam. 1. c. p. 8*2.
') Dum autem hamulus ille liiatum transcendit, iiiter ilhmi et parietem in-
temam foramen relinquitur, per quod scala tympani in cavitatem scyphi hiat, quae
tamen scala ibi non plane terminatur. äed inter partem membraneam et parietem
intcrnam pergit, usque dum angustissima facta, lamina membranea sub acutissimo
angulo ad parietem intemam accedente, tiniatur. »Scala autem vestibuli int^r hamulnm
laminae spiralis osseae et ipsum fornicem Cochleae per hiatum ad scypbum Vieussenii
pertingit. 1. c. p. 38.
*) hl sinu autem Cochleae semper observo lincam eminentem Spiral i via, eadem
cum scalis directione, versus apicem nuclei porrectam. et in vallecula inter gyros
lineae eminentis intcrposita s])irali plurima tbraminnla duplici serie posita, scalas
Cochleae respicientia quorum a;j^men tandem claudit caualiculud ille, qui per medium
nucleum (.Schneckenspindel) ascendit. 1. c. p. 30.
•') Cum autcin striae oss«»ae transversae parallelae, ex quibus lamina ossea
componitur, sil)i invicem potius agglutinatae et contiguae. quam, uti librae partis
membranaceae sibi continuatae videuntur, singula stria tremere et unice suum nervulum
percutere poterit. reliquis striis et nervulis vel maxime vicinis. plane quietis et in-
concussis. aut si contremiscant nonnullae, harmonicae tantum, et octava ad octavam,
consbnabunt. 1. c. ]». '\G.
Philipp Friedrich Theodor Meckel (17r)6— 180:^), ein Mitglied
der berQlmiten deutschen Gelehrtonfamilie, hat in seiner Dissertation ,De
labyrinthi auris contentis'" *) eine anatomisch-physiologische Arheit über
das Ohrhibyrinth geliefert, <lie bei allen Fachgenossen ungeteilten Bei-
fall errang. Wenn auch Meckel in seinen Schilderungen der Vorhofs-
und Schneckenwasserleitung, denen er treffliche Abbildungen beigab, den
Spuren des grotk'n Totugno folgte, so setzt dies den Wert seiner
Arbeit doch nicht herab; denn die klassische Art und Weise, wie er
diese Frage behandelte und neue Iknveismittel zu Cotugnos Ent-
deckung li(»ferte, charakterisiert ihn als erstklassigen Anatomen, zu-
mal, wie wir gesehen haben, Scarpa sich über die Aquädukte nicht
äußerte, andere sogar so weit gingen, ihre Existenz in Abrede zu
stellen. Erwähnenswert ist, daß Meckel zum ersten Male die Wände
der W^asserleitungen aus der Knochenmasse in ähnlicher Weise heraus-
präpariert und abgebildet hat, wie es später durch den Prager Ana-
tomen II g geschah. Um den Nachweis zu erbringen, daß sich wirklich
keine Luft im Labyrinth befinde, eröffnete er an jungen Katzen das
*) Ar^entorati 1777.
Politzor, <i«'>('hi<"hi»> il»'r Ohrenheilkunde. 1. -'^
306 Meckel. Walther.
innere Ohr vom äußeren Gehörgange und der Trommelhöhle aus vorsichtig
unter Wasser, wobei sich zeigte, daß keine einzige Luftblase aufstieg.
Als er nämlich mit der Spitze des Skalpells in das runde Fenster ein-
stieß, sah er „limpida, paulo rubicunda aquula** hervorquellen und, als
er hierauf den Stapes bewegte, kam eine weitere Menge dieser Flüssig-
keit aus der gesetzten Wunde. Vollkommenes Gelingen dieser opera-
tiven Methode verlangt, wie er betont, exakte Blutstillung und Reinigung
der Trommelhöhle von Schleim. Ferner injizierte er Quecksilber in ein
Labyrinth, um zu zeigen, daß nirgends ein Ausweg vorhanden sei;
tatsächlich drang nirgends auch das kleinste Quecksilbertröpfchen durch,
woraus er schloß, daß keine Kommunikation der Trommelhöhlenluft mit
dem Labyrinthe bestehe. Nach Willis sind dies die ersten Experimente
an lebenden Tieren. Im Gegensatze zu Cotunni vergleicht Meckel das
Labyrinthwasser nicht mit jenen Flüssigkeiten, die in den übrigen Körper-
höhlen abgeschieden werden, da es nicht wie diese dazu dient, die Reibung
herabzusetzen.
In den Dissertationsschriften aus damaliger Zeit finden sich
kurzgefaßte Ueberblicke über den Stand der Ohranatomie; doch haben
die meisten nur geringen wissenschaftlichen Wert. Eine selbständige
Leistung war in den wenigsten enthalten. Wir werden deshalb nur die
wichtigsten einer kurzen Besprechung unterziehen und verweisen im
übrigen auf das nachfolgende Literaturverzeichnis.
Aug. Fr. Walther. Die 1725 erschienene Dissertation des Leip-
ziger Professors der Anatomie Augustin Friedrich Walther (1688
bis 1746) über den Bau des Trommelfells (Dissertatio anatomica de mem-
brana tympani) umfaßt nahezu sämtliche, die Otologen jener Zeit inter-
essierenden Fragen über die Struktur und die Funktion des Trommel-
fells, die insoferne auch die übrige Ohranatomie berühren, als sie in
mehr oder minder näherer Beziehung zum Trommelfelle stehen.
Das Trommelfell besteht nach ihm aus zwei Häuten, deren innere
vom Trommelhöhlenperiost, die äußere vom Perichondrium und der Haut
des äußeren Gehörganges gebildet wird. Lage und Form des Trommel-
fells, seine Verbindung mit dem Hammer, dieser selbst und die übrigen
Gebilde der Trommelhöhle werden übersichtlich geschildert. Er verteidigt
gegen Heister die knöcherne Beschaffenheit des langen Hammerfort-
satzes, der um ein Achtel kleiner als der Hammer sei, wendet sich gegen
die Annahme eines dritten Hammerfortsatzes, an dem der Tensor tympani
sicli ansetzen solle, und bestreitet gegen Duverney das Vorhandensein
dreier Hanimerinuskel.
An der äußeren Flüche des Trommelfells unterscheidet er zwei
Punkte, die durch den kurzen Fortsatz und das Hammergriffende
(Umbo) markiert worden. Die Linie, an die sich das Manubrium an-
Walther. 307
setzt, teilt das Trommelfell in eine vordere größere und eine hintere
kleinere Partie. Die Membran, welche die Stapesplatte umgibt (Ligament.
orbicul. stapedis), hält er zur Uebertragung der Schallwellen für vorzüg-
lich geeignet^).
Zu den bisher bekannten besonderen Merkmalen des kindlichen
Schläfebeins fügt er einige neue, wie den Mangel der Gelenksgrube
(Fossa glenoidalis) für das Unterkieferköpfchen, das Fehlen des (knöcher-
nen) Griffelfortsatzes *).
Das Trommelfell ist beim Neugeborenen dicker als beim Er-
wachsenen, der Hammergriff steht mehr vertikal und mit dem langen
Amboßfortsatz beinahe parallel. Die beiden Fenster weisen seiner
Ansicht nach in den verschiedenen Lebensaltern keine Unterschiede auf.
Seinen Ausführungen über die Entwicklung des Ohres beim Fötus
entnehmen wir, daß im dritten Monate die Pyramide ein „tuberculum
osseum** darstelle, im vierten der Annulus tympanicus vsich vom übrigen
Knorpel bereits unterscheiden lasse und am Ende des vierten Monats die
Gehörknöchelchen schon vorhjinden seien ^).
Den Schluß der Dissertationsschrift bildet die durch zahlreiche Ex-
perimente an Kindern, Erwachsenen und Säugetieren unterstützte Beweis-
führung, daß das Foramen Rivini nicht existiere.
Eine andere Arbeit desselben Autors ^Teneriorum musculorum ana-
tome** enthält Unwesentliches über die äußeren und inneren Ohrmuskel.
^) Inde eiiim iiccidit, ut membrana, quae basin stapedis circumdat, et ovale
foramen claudit, jam magis depressa , paululum intendatur, ac sonuni melius, et
promptius, debitaqiie proportione, et impetu modico, ad vestibulum, scilicet, a latere
istius basis per foraminis ovalis reliquum. et ita patentem ambitum transmittat. Est
enim iraprimis in homine omnis stapedis basis foramine jam dicto minor, nee in-
tegrum exacte claudit, sicut explorando stapedem , et ipsum intrudendo in vesti-
bulum saepissime coj^novimus, etiamsi permulti contradicant; binc si sonus duriora
ligna, et muros, omnesque commissuras arctissimas penetrat, cur is per pelliculam
non ita crassam, rimamque exilem, et a stapedis depressi margine transire et ferri
ad vestibulum non poterit? p. 848.
^) Eo tempore aetatis primo, neque maxillaris ossis temporum processus. qui
meatui vicinus est, acquisivit sinum, qui inferioris maxillae condyluni recipiat, neque
mammillaris processus, neque, qui a stylo nomen babet, protenduntur; neque in-
tegrum illud 09, quoad partem cerebri sustinet, ampliatur, et excavatur, et plurimis
modis a i)erfectione deficit, p. 351.
*) Hoc enim mense durissimus processus, qui petrosus dicitur, primum tuber-
cnlum osseum repraesentat. nee annulus, post quem nostra membrana sita est, citius
quam quarto mense sua duritie ab annexa cartilagine distipguitur; cuius mensis
initio etiam processus Zygomaticus osseus apparet, tenuemque repraesentat filum.
Hocce finito. ossicula dignoscuntur. p. 353.
Herm. Fried. Teichmeyer, der die Existenz des Foramen Rivini
im Trommelfell annimmt und es an die Stelle verlegt, wo der Hammer-
308 Teichmeyer.
griflf in den Hammerhals übergeht, gibt in seiner Dissertationsschrift
^Sistens vindicias quorundam inventorum meorum anatomi-
corum a nonnullis celebratissimis anatomicis in dubium voca-
torum" , Jenae 1727, eine Zusammenstellung der Anatomen, die sich
um die Entdeckung und Beschreibung der Gehörknöchelchen Verdienste
erworben haben, und bringt eine Tabelle mit neun verschiedenen -Ab-
bildungen der Gehörknöchelchen. Teichraeyer teilt die Gehörknöchel-
chen in zwei Gruppen ein, in drei Ossicula majora (Malleus, Incus,
Stapes) und in vier Ossicula minora (Oss. ovale, semilunare, lenticulare,
trianguläre)^).
Das Ossiculum ovale, von Teichmeyer selbst so benannt*), von
Pranziscus Sylvius aufgefunden und als Ossic. quartum oder rotundum
bezeichnet, sei in die Sehne des Steigbügelmuskels als Sesamknöchelchen
eingefügt. Von Folius und Vesling werde dieses Knöchelchen
Osseus globus, von Casserio Os. globosum genannt. Von Marchetti
ist sein Vorkommen beim Menschen in Abrede gestellt worden, auch
Schelhammer habe es nicht gekannt.
5)er Ruhm der Auffindung des von Teichmeyer als das Ossi-
culum semilunare bezeichneten ^) Linsenknöchelchen gebühre dem
Franziscus Sylvius, der es mit Unrecht Ossiculum orbiculare nenne,
während ihm Lindanus den Namen Ossiculum cochleare, Fontanus
den Namen Ossiculum squamosum beilege. Auch dieses fünfte Gehör-
knöchelchen erwähnt Schelhammer nicht.
Die Entdeckung eines sechsten Knöchelchen, des Ossiculum lenti-
culare, vindiziert Teich mey er sich selbst*), gibt jedoch zu, es nicht
im menschlichen Schädel, sondern im Schädel des Kalbes gefunden zu
haben. Es befinde sich am großen Amboßfortsatze und zwar an der
Stelle, die der Lage des vorher erwähnten Ossiculum semilunare ent-
gegengesetzt sei. Heister und Nicolai hätten das regelmäßige Vor-
kommen dieses Gehörknöchelchens beim Menschen geleugnet und es als
akzessorisches (peculiare) bezeichnet.
Endlich berichtet Teichmeyer über ein siebentes Knöchelchen,
das er auch entdeckt haben will und Ossiculum trianguläre be-
nennt. Dieses liege in der an den Sinus stoßenden Wand des Pro-
cessus mastoideus (in pariete sinuositatis mastoidei cssis) und sei ein
Hypomochlion,. auf das sich der kurze Amboßscbenkel stütze 0. Bezüglich
der von Teichmeyer beschriebenen „ossicula minora'* ist zu bemerken,
daß es sich mit Ausnahme des Ossiculum semilunare, welches jetzt Ossi-
culum lenticulare, Linsenknöchelchen, genannt wird, nur um akzes-
sorische Befunde, von untergeordneter Bedeutung handelt.
*^ " • ''^fncula auditus a me iure meritoque majora vocantur,
"*'**'e8 naUum amplius est d^Vium. Quae vevo a
Schmidt. 309
me vel primum observata atque inventa, vel ab oblivione vindicata sunt, et respectu
priorum, quae majoia dicuntur, minora salutantur, magnas inter eruditos excitarunt
controveraias et lites.
*) üt appareat paulo luculentins, quod ossiculum qnartum, ovale a me vocatum»
aliis Anatomicis jam dudum innotnerit, operae pretium est, eorum hie proponere verba.
') Quintum ossiculum, praesenti seculo magis notum, quam quartum, commu-
nissime salutatur orbiculare, a me vero semilunare, propter figuram quam possidet,
vocatur. Hocce ossiculum a nemine unquam Anatomicorum , praeter me, vel obser-
vatum, vel descriptum.
*) Hocce ossiculum, propter figuram ita dictum, reperitur in pariete sinuosi-
tatis mastoidei ossis . estque nihil aliud , quam hypomochlion , vel basis, cui insistit
crus incudis rectum.
Joh. And. Schmidt. Trotz des unwiderlegbar durch Ruysch er-
brachten Nach.weises, daß die Gehörknöchelchen ein Periost besitzen, blieb
dies doch noch lange ein strittiger Punkt. Da frühere Forscher wie Du-
verney und Schelhammer ein Periost der Knöchelchen geleugnet hatten,
so stellte J. A. Schmidt in seiner Arbeit ^De periostio ossicu-
lorum auditus eiusque vasculis" 1719 sich die Aufgabe, die Be-
weisgründe, welche diese Anatomen für und wider die Annahme eines
Periosts anführten, auf ihre Stichhältigkeit zu prüfen und insbesondere
die Momente anzugeben, die für ein Periost sprechen. Da der mikro-
skopische Nachweis des Periosts damals noch nicht erbracht werden
konnte, suchte Schmidt auf folgende Weise das Vorhandensein des
Periosts festzustellen. Er injizierte in die Carotis interna einer Leiche
eine Flüssigkeit, worauf er zahlreiche zarte Gefäßverzweigungen auf der
Oberfläche der Gehörknöchelchen sah, aus denen er den Schluß zog, daß
diese Gefäße sich nur in einer Membran ausbreiten könnten, die eben
das Periost der Gehörknöchelchen vorstelle ^).
') Quid vero eorum praesentia aliter indicat, quam omnia haec ossa peculiari
membranae involui. p. 11.
Die Abhandlnng des Chr. Ern. Wünsch „De auris humani pro-
prietatibus et vitiis quibusdam. Lipsiae 1777** enthält u. a. eine inter-
essante Zusammenstellung von Maßangaben des Verfassers und der hervor-
ragendsten Autoren (Muschenbro eck, Duverney, Valsalva, Cotugno,
Cassebohm) unter dem Titel: „Machinularum auditus mensura**.
Joh. Heinr. Hofmeisters Dissertation „De organo auditus et
eins vitiis. Lugd. Batav. 1741" enthält einen kurzgefaßten Ueberblick
über die Anatomie des Gehörorgans, an die sich eine anatomische Ein-
teilung der Ohrenkrankheiten anschließt.
Von größerer Bedeutung ist das 1795 in deutscher Sprache er-
schienene kompilatorische Werk Wild b er gs, „Versuch einer anatomisch-
physiologisch-pathologischen Abhandlung über die Gehörwerkzeuge des
Menschen. Mit Kupfern. Jena". Es bringt die Resultate und Ent-
310 Wildber^.
deckungen, die in Spezialschriften oder in den damals schwer zugäng-
lichen Werken der ausländischen Autoren enthalten sind, in ein ge-
ordnetes übersichtliches Ganze. — Nach Wild her g ist das ganze Laby-
rinth ohne irgendwelchen Unterschied Sitz des Gehörs. Die mannig-
faltigen Krümmungen vergrößern in dem an sich kleinen Raum die per-
zipierende Oberfläche. Der Nutzen der Bogengänge besteht darin, daß
sie mit dem unmittelbaren Gehörwerkzeuge in Verbindung stehen und
die Oberfläche vergrößern, wodurch die Erschütterung, die sich beim
Schalle der Pyramide mitteilt, von ihnen aufgenommen und zu den Am-
pullen und dem gemeinschaftlichen Sacke des Vorhofs geleitet wird.
Den damaligen Anschauungen*) entsprechend, daß die dem Gehirne
eigentümliche Kraft, die Lebenskraft (vis vitalis), die Nervenflüssigkeit
ununterbrochen in alle Nerven enthaltenden Teile fortbewege, nahm Wild-
berg an, daß sich die Nervenflüssigkeit auch durch alle Nerven des
Labyrinthes ergieße und zur Erhaltung einer bestimmten Beschaffen-
heit des Labyrinthwassers diene. Sobald nun eine Bewegung des Laby-
rinthwassers durch den Schall hervorgerufen werde, bewirkt dies einen
Eindruck auf die im Labyrinthe ihrer Scheide entblößten Nerven, in-
dem der gleichförmigen, ununterbrochenen Bewegung der Nervenflüssig-
keit ein Widerstand entgegengesetzt werde. Die auf diese Weise gehinderte
Tätigkeit der „Lebenskraft" teile sich der Seele mit und so entstehe in
ihr eine Vorstellung des Widerstandes, d. h. einer Empfindung des
Schalles. Diese Anschauung Wildbergs über die Theorie des Hörens
ist der interessanteste Teil seiner Arbeit.
Weniger Selbständigkeit beansprucht der anatomische Teil. Die
beigegebenen Kupfer tafeln sind teils nach Wildbergs und seines Bruders
Präparaten verfertigt, teils Cassebohms und S c a r p a s Traktaten ent-
lehnt. In der Schnecken Wasserleitung bildete er einen Venenkanal der
Schnecke (Canalis venosus Cochleae) ab, unterschied ihn aber von dem
eigentlichen Aquädukt, den er auch in der pyramidenförmigen Knochen-
vertiefung (Aditus ad aquaed. Cochleae) münden ließ. Er erwähnt ein
seltenes Emissarium, das durch den hinteren Anteil der Glaserschen
Spalte hindurchzieht, dann ein anderes, das aus dem Sinus transversus
in die Venen der Schläfe übergeht. Ferner fand er, daß in der Haut
des äußeren Gehörganges das Retc Malpighii sich nicht deutlich erkennen
lasse u. s. w. Der Ansicht einiger Anatomen, daß das runde Fenster bei
alten Menschen enger sei als bei jungen, tritt er entgegen, indem er darauf
hinweist, daß er bei seinen Sektionen von älteren Menschen den Durch-
*) Isenflamm, Versuch einiger praktischen Anmerkungen über die Nerven.
Erlangen 1774.
Arnold, De motu fluidt nervei per fibras nervorum u. a.
Haller. 311
messer stets ebenso groß gefunden habe wie bei Köpfen jüngerer Indi-
viduen, und daß er sogar mehrmals den Durchmesser bei verschiedenen
Köpfen jüngerer Subjekte verschieden groß gesehen habe. Wild b er g
scheidet die Zellen des mittleren Ohres in Cellulae tympanicae, die sich
schon beim Fötus im hinteren Teile der Trommelhöhle nach oben zu be-
finden, also zu einer Zeit, in der der Warzenfortsatz noch nicht aus-
gebildet ist, und in Cellulae mastoideae. Die Auskleidung der Trommel-
höhle hält er für eine Fortsetzung der zarten Schleimhaut der Eustachi-
schen Röhre, die sämtliche in der Trommelhöhle befindlichen Gebilde
überkleidet. An der äußeren Fläche des Trommelfelles will er kleine
ceruminöse Drüsen gesehen haben*). Wildberg erklärt es für falsch,
daß die Chorda im stände sei eine Gehörsempfindung zu vermitteln.
Die Physiologie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert findet in
dem genialen Albrecht von Haller ihren würdigsten Vertreter.
Albrecht von Haller^ zu Bern am 16. Oktober 1708 geboren, be-
zog, kaum 15 Jahre alt, die Tübinger Universität. Da ihm jedoch die
Art und Weise des dortigen medizinischen Unterrichtes, besonders in
der Anatomie, nicht zusagte, suchte er im Jahre 1725 die Universität
Leiden auf, an der damals Albinus und Boerhaave wirkten. Nach
Erlangung des Doktorgrades 1727 unternahm er Studien halber Reisen
nach London und Paris. Hier hatte er Gelegenheit, die Anatomen Winslow
und Douglas kennen zu lernen, mit denen er in nähere Beziehung trat.
Von Paris begab er sich nach Basel, wo er sich vor allem der dichteri-
schen Tätigkeit und botanischen Studien widmete. In seine Vaterstadt
1729 zurückgekehrt, ließ er sich daselbst als Arzt nieder, erhielt mit
vieler Mühe eine Anstellung als städtischer Bibliothekar und die Er-
laubnis, eine anatomische Unterrichtsanstalt einzurichten. Auf den Wunsch
seiner Freunde veröffentlichte er im Jahre 1732 seine schweizerischen
Gedichte, die ihn mit einem Schlage zum berühmtesten Dichter seiner
Zeit machten. Der Ruf, den Hall er bald als Anatom und Botaniker
genoß, führte 173G zu seiner Berufung an die neugegründete LTniversität
Göttingen, wo er als Professor der Anatomie, Chirurgie und Botanik
durch nahezu 18 .Fahre seinen wissenschaftlichen Forschungen mit un-
ermüdlichem Eifer oblag. Im Jahre 1753 zog er sich vom Lehramt nach
Bern zurück und verbrachte die meiste Zeit mit fruchtbringender wissen-
schaftlicher Arbeit, ohne die abermalige Berufung nach Göttingen, Berlin
und Halle trotz der glänzendsten Angebote anzunehmen. Sein Tod fällt
auf den 12. Dezember 1777.
Es dürfte sich in diesem Zeiträume kaum ein anderes Werk finden,
in dem die anatomischen und physiologischen Leistungen auf otologi-
*) 1. c. p. ir>f;.
3 1 2 Haller.
schem Gebiete in so tibersichtlicher und verständnisvoller Weise darge-
stellt sind, wie in Hallers ^Elementa Physiologiae corporis
humani***). Obwohl er selbst nicht viel zur weiteren Ausbildung der
Anatomie und Physiologie des Gehörorganes beigetragen hat, gebührt
ihm doch das große Verdienst, ausgerüstet mit einer umfassenden
Literaturkenntnis und Gelehrsamkeit, eine für seine Zeit in jeder Be-
ziehung mustergültige Anatomie und Physiologie des Ohres geschaflPen
zu haben.
Was Hallers eigene Untersuchungen anbelangt, so haben wir
nicht viel als wichtig daraus hervorzuheben. Aus dem ersten Ab-
schnitte, der sich „Fabrica organi" betitelt und die Anatomie des
Ohres behandelt, erwähnen wir folgendes: H aller fand, daß sich die
Ceruminaldrüsen bis in den vorderen Teil des knöchernen Gehörganges
erstrecken, wo die Haut fest und unmittelbar dem Knochen anliegt^).
Vom Trommelfell, das er noch fälschlich aus vier Lamellen zusammen-
gesetzt glaubt, bemerkt er ganz richtig, daß es beim Fötus und Neu-
geborenen nahezu horizontal gestellt ist^). Daß Hall er sich gegen ein
Foramen Rivini ausspricht*), ist an anderer Stelle eingehend dargelegt
worden. Die Spitze des Hammergriffs beschreibt er nach außen und
vorne umgebogen und schaufeiförmig plattgedrückt*). Er berichtet ferner
von einem fast dreieckigen Steigbügel mit langen und geraden Schen-
keln, ferner von einem runden unförmigen Stapes mit stark ge-
krümmten Schenkeln*). Der knorpelige Teil der Tube setzt sich nach
Hallers Ansicht aus drei um sich selbst gewundenen Knorpelplatten
zusammen^).
Im zweiten Abschnitte seiner Arbeit behandelt Hall er die Lehre
vom Schalle, „Soni theoria physica**. Sowohl dieser als auch der dritte
Abschnitt, „Auditus", welcher der Physiologie des Gehörorgans gewidmet
ist, ist nichts anderes als eine fleißige Kompilation aller interessanten
und bemerkenswerten Ansichten seiner Vorgänger und Zeitgenossen und
als solche kein zu unterschätzendes Hilfswerk für den, der es unter-
nimmt, eine Geschichte der Ohrenheilkunde zu schreiben. Sagt doch
Ha 11 er selbst, daß er sich angesammelter Schätze bediente: „Etiam hie
repeto, non semel a me iteratam confessionem. Utor divitiis collectitiis,
neque in Lac theoria proprium habeo inventum" (Sect. II, J; 1, p. 249).
Nichtsdestoweniger kann man dem physiologischen Teile einige Selb-
ständigkeit nicht absprechen, und so manche Bemerkung Ha Hers be-
weist deutlich, daß er die Physiologie des Hörens richtig erfaßt hat.
Bei der Besprechung der Funktion der Eustachischen Röhre
erwähnt er, daß er während des Gähnens gar nichts zu hören vermöge"),
♦) LRn. — ^^^^ 1766.
Haller. . 313
eine Beobachtung, die schon vor ihm Aristoteles®) und Du Laurent
gemacht hatten. An derselben Stelle hebt Haller auch ganz richtig
hervor, daß auf dem Wege der Ohrtrompete äußere Luft in die Trommel-
höhle gelange, einerseits um die in der Trommelhöhle enthaltene Luft
aufzufrischen, damit sie nicht nach Verlust ihrer Spannung unbrauchbar
werde, anderseits um die äußere und die Trommelhöhlenluft stets in gleicher
Spannung zu erhalten. Schon früher hat Senac, wie Haller bemerkt,
die Behauptung aufgestellt, daß die Tube zur Lüftung der Trommel-
höhle diene, damit die Luft daselbst nicht allzu dünn oder dicht sei^).
Haller ist der erste, der scharf zwischen einer Luftleitung, die durch
die Gehörknöchelchen oder auch durch die Ohrtrompete geht, und einer
Knochenleitung durch die Schädelknochen unterscheidet.
Das größte Interesse beansprucht jedoch eine Stelle ^^), aus der,
wie auch FleischP^) dargetan hat, unzweideutig hervorgeht, daß
Hallers Darstellung der Hörtheorie der jetzt allgemein gültigen
Helmhol tzschen Auffassung sehr njihe steht, und daß überhaupt zu
Hall er s Zeiten eine Hörtheorie im He Im hol tzschen Sinne allgemein
verbreitet war. Klar und deutlich führt dort Haller mit Hinweis auf
Aussprüche von Boerhaave^^) Ferra ult ^•'^) und anderen Autoren
die Schallperzeption auf das Mitschwingen transversal zur Schnecken-
achse gespannter Chorden zurück und begründet die Fähigkeit, Unter-
schiede in der Tonhöhe wahrzunehmen, damit, daß die angeblich längsten
Chorden an der Schneckenbasis mit den tiefsten Tönen, die angeblich
kürzesten, an der Spitze der Schnecke mit den höchsten Tönen mit-
schwingen. Also bis auf den Irrtum von der Abnahme der Chorden-
länge gegen das Helikotrema zu, eine der Helmholtz sehen Lehre ent-
sprechende Auffassung. Heute nehmen wir eben an, daß die mit den
tiefsten Tönen mitschwingenden Chorden an die Spitze, die mit den
höchsten Tönen mitschwingenden Chorden an die Basis der Schnecke zu
verlegen seien.
M Vol. V, Lib. XV, Sect. T, § 9, p. 198.
-) S 11. P. 200.
3) S 12, p. 204.
*) § 15, p. 209.
^) § 17, p. 212-213.
«) § 24, p. 228.
') Sect. in, § 5, p. 287.
•*) De gener. LV, c. 2. Isagog. c. 54.
») Mt-m. de l'Acad. 1724, p. 254.
*") Cum enim ea lamina verum sit triangulum, tantum convolutum, rectangulum,.
cujus angulus ad verticem Cochleae peracutus fit, continuo viderunt viri ingeniosi,
habere sc machinulam, in qua chordae innumerabilea contiDeantur. . . . Nempe chordas
longissimas, ad biisin positas. cum ßonis gravissimis, brevissimas , quac sunt ad ver-
i3l4 Zur Literatur des 18. Jahrhunderts.
ticem, cum aeutissimis sonis harmonice contremiscere et per eos tremores animae eos
sonos distincte repraesentare u. s. w. Sect. in, § 7, p. 293 ff.
*^) Gesammelte Abhandlungen von Ernst Fleischl von Marxow, herausgeg.
von Dr. Otto Fleischl von Marxow.
^2) Praelect. T. IV, p. 563.
*«) Du bruit p. 246 seq.; p. 212 u. 247.
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strata. Gotting. 1764.
Pathologie und Therapie des Gehörorgans im 18. Jahrhundert.
Die Erkenntnis der Wichtigkeit der pathologischen Anatomie
für die Begründung einer rationellen Pathologie untL Therapie ließ im
18. Jahrhundert trotz der klassischen Arbeiten Morgagnis nur ge-
ringen Fortschritt erkennen. Spuren der pathologischen Anatomie des
Gehörorgans lassen sich, wie die bisherige Darstellung ergibt, nicht
weit nach rückwärts verfolgen. Meist handelte es sich um zufällige
Befunde, die nur selten mit einer Krankengeschichte in Zusammenhang
gebracht wurden, oder um die im Geiste des Zeitalters liegende Sucht,
Raritäten oder ganz außergewöhnliche Abnormitäten — Lusus naturae
— zu beschreiben. Von einem tiefer dringenden Nutzen für die Ohren-
heilkunde konnte umsoweniger die Rede sein, als die pathologische
Anatomie als Spezialfach nicht anerkannt wurde.
Trotz der trefflichen Vorarbeiten von Bonet und Morgagni
dauerte das geringe Interesse für die pathologische Anatomie des Ohres
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fort, bis Toynbee mit seinen
bahnbrechenden Arbeiten eine neue Aera der Otiatrie inaugurierte.
Wenn wir von den pathologisch-anatomischen Befunden im Gehör-
organe absehen, die in Bonets „Sepulchretum", in den Traktaten von
Duverney und Valsalva und in Morgagnis .,De sedibus et causis
lorboruni*' enthalten sind, so weist die folgende Periode nur Einzel-
u nbichtungen auf, von denen wohl manche besonderes Interesse dar-
316 Pathologische Anatomie des Gehörorgans am Ende des 18. Jahrhunderts.
bieten, die Mehrzahl jedoch keine neuen Gesichtspunkte für die patho-
logisch-anatomische Forschung enthält. Es seien daher im folgenden,
nur im Interesse des historischen Zusammenhanges, die nennenswerten
pathologisch-anatomischen Befunde im Ohre in Kürze skizziert.
Auch in den Memoiren der medizinischen Gesellschaften finden sich verstreute
Notizen über Sektionen Schwerhöriger, so enthalten z. B. die Veröffentlichungen der
medizinischen Gesellschaft von London Sektionsbefunde von Sims, Hougthon,
Zenker und Roslet*).
XJebersicht des Standes der pathologischen Anatomie des
Gehörorgans bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Besondere Beachtung fanden die Mißbildungen des äußeren Ohres,
wie dies aus der reichen Literatur über mangelhafte Bildung der Ohrmuschel,
Fehlen einzelner Teile des Ohres oder Abnormitäten des Situs hervorgeht. So
fand Prochaska bei einer Cyklopenbildung vollständiges Fehlen des äußeren
Ohres, des Gehörgangs und der Trommelhöhle. Es waren in diesem Falle
nur die Bogengänge und die Schnecke erhalten '). Einen ähnlichen Fall beschreibt
Curtius*). Defekt der Ohrmuscheln beobachteten Bartholin'), Fritelli**)
und Oberteuffer*), Dystopie der Ohrmuscheln Sebenezius®), Colomb") und
Lycosthenes^). Außerdem wären noch zu erwähnen die Arbeiten von Schenk a
Grafenberg«), Haller »0), Lachmund "), Stark »2), Wedemeier ^'), Wolf »*) und
Löffler^*).
üeber Verlust der Ohrmuschel durch ülzeration berichten Wepfer**),
Conradi*^). Hensl^r**), über skirrhöse Entartungen der Ohrmuschel Ch.
Fr. Fischer'®), über Atherome und Lipome des äußeren Ohres das Commercium
litterarium Noricum 1732, p. 10.
Der pathologische Befund von Obliteration des äußeren Gehörganges
kehrt in der Literatur sehr oft wieder, Man wußte, daß die Verwachsung angeboren
oder erworben sein könne, daß sie sich bloß auf einen Teil oder auf den ganzen
Gehörgang erstrecke, endlich auch, daß verschiedene Krankheiten zum Verschlusse
des Ganges führen *°). Auch wurden Membranbildungen vor dem Trommelfelle,
zu denen die sogen. Duplizität des Trommelfells gehört, beschrieben^'), femer öfters
Anomalien in der Länge, Weite und Richtung des Meatus auditorius externus*^),
Duplizität desselben ^^), endlich steinartige Konkremente^*),
Die pathologischen Befunde am Trommelfell weisen keine große Mannig-
faltigkeit auf. Ueber die von Valsalva, Morgagni, Vieussens und zahlreichen
anderen Autoren beobachtete Destruktion des Trommelfells wurde an anderer
Stelle schon berichtet. Häufig fand man Kalkablagerungen, die damals als
Ossifikation gedeutet wurden ^^). Die Mitteilungen über vermehrte Spannung oder
Erschlaffung der Membrana tympani^^) erscheinen weder anatomisch noch
klinisch begründet.
üeber die pathologische Anatomie der Trommelhöhle liegen eingehendere
Studien vor. Morgagni fand, wie wir gesehen haben, bei seinen Sektionen Eiter-
niassen , 1^1 ut. seröse Er«'üsse. ferner auch zahlreiche Membranen in der Trommel-
*) William R. Wilde, Prakt. Bem. über Ohrenheilk. u. die Nat. u. Beb. d.
Krankh. d. Ohr. Aus d. Engl. Göttingen 1855.
Pathologische Anatomie des Gehörorgans am Ende des 18. Jahrhunderts. 317
höhle vor. Aehnliche Befunde finden sich im Traktat Valsalvas erwähnt. Auch
andere Autoren'-'") berichten über derartige Befunde, Duverney sah Schleim, Otto'")
eine gelatinöse Masse bei Syphilis u. s. w. Lieutauds Sammelwerk ,Historia anat.
medica, Paris 1767 ** enthält unter anderem fünf kurze kasuistische Mitteilungen über
Trommelhöhlenerkrankungen nach fremden Autoren.
Besonderes Interesse wurde den Anomalien der Gehörknöchelchen zuge-
wendet^®). So findet man in der Literatur Mangel einzelner Knöchelchen ^*). über-
zählige^*) oder abnorme Kleinheit*-) oder Größe") derselben, besonders des
Stapes, erwähnt. Karies der Gehörknöchelchen, deren Verwachsung (Ankylose)
untereinander oder mit den Wänden der Trommelhöhle sind des öfteren beschrieben'*).
Ueber Trennung der Gehörknöchelchen durch Auseinanderweichen der Schläfenbein-
teile berichtet Blumenbach^*^).
Beobachtungen über pathologi-sche Veränderungen der Muskeln der Gehör-
knöchelchen liegen von Mo rgagni '®) vor, der Atrophie und Vertrocknung derselben
feststellte, ferner von Vieussens'^^), der sie ,korrurai)iert* fand.
Ueber völlige Ossifikation der Steigbügelmembran berichtet Mor-
gagni"), über Verschluß des runden Fensters durch Hyperostose Cassebohm '•),
über knöcherne Obstruktion des runden Fensters bei Greisen Cotugno*^) und
Scarpa (1. c).
Von pathologischen Prozessen in der Ohrtrompete wurde die Verwachsung
der pharyngealen Mündung schon von Tulpius erwähnt; auch bei anderen Schrift-
stellern finden wir Mitteilungen darüber'*'). Verstopfung durch Schleim beob-
achtete Wathen**) bei der Sektion eines tauben 35 jährigen Mannes. Katarrh der
Tubenschleimhaut, der von der Entzündung des Nasen- und Rachenrauraes seinen
Ausgang nahm, erwähnte Schneider (S. 222).
Die Varianten des Warzenfortsatzes in Bezug auf Gestalt und Größe
kannten die meisten Anatomen dieser Periode, Mangel der Zellen fiel Murray*')
bei einer Sektion auf (wahrscheinlich ein diploetischer Warzenfortsatz). Morgagni**)
fand Membranen in den pneumatischen Zellen, Arnemann*^) kreide-
artige Konkremente bei Syphilis.
Selir dürftig waren die Kenntnisse von pathologischen Veränderungen im Laby-
rinthe. Röderer^*^) sah in einem Falle von Taubstummheit statt des Labyrinthes
eine Höhl«.', die keine weitereu Details erkennen ließ. Mundini"*^) fand bei einem
verstorbenen taubstummen Knaben eine Mißbildung der Schnecke. Kine Windung
derselben fehlte vollständig und die Ausbreitung des Acusticus war mangelhaft.
Außerdi'm war der Aquaeductus vestibuli abnorm weit und mündete in einen
großen Durasack.
Nacli der Entdeckung der Labyrinthüüssigkeit schrieb man der übermäßigen
Ansammlung ^'^j oder dem Mangel*®) derselben die Ursache von Taubheit zu. So be-
schrieben Haighton und Gl ine einen Fall, wo bei einem von Geburt Taubstummen
das ganze Labyrinth mit einer käseartigen Masse erfüllt war ^^).
Haller fand bei einem Kinde nach schwerer Geburt die Labyrinthflüssigkeit
blutig tingiert^*).
Auch die Kenntnisse von der pathologischen Anatomie des Hörnerven und
.-meiner Ausbreitung im Labyrinthe waren sehr gering und beschränkten sich fast aus-
schließlich auf Bildungsanomalien. Einige Beobachtungen rühren von Bon et*')
und Valsal va ''^^j her. Im oben erwähnten Falle von Haighton war der Hörnerv
nur halb so stark als gewöhnlich, der Gesichtsnerv aber ganz normal. Saudifort
beschrieb ausführlich einen knorpelharten Tumor, der den Hör nerv kom-
primierte und Taubheit verursacht hatte. Die gegen die Schädelbasis gerichtete
320 Öystematiker des 18. Jahrhunderts.
Schwünge der Chirurgie auf anderen Gebieten das Interesse an den
0 hr en erkrankungen abschw äch en .
Erst gegen die Mitte und am Ende des Jahrhunderts werden in
kurzer Reihenfolge drei in die Praxis tief eingreifende operative Methoden,
der Catheterisnius tubae, die Perforation des Trommelfells und die Er-
öffnung des Warzenfortsatzes, bekannt, von denen jedoch nur die erste
rasch Aufnahme fand, während die beiden anderen infolge mißbräuch-
licher Anwendung der Vergessenheit anheimfielen, um erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zu voller, ihrem Werte entsprechender Gel-
tung zu gelangen.
Von den Systematikern des 18. Jahrhunderts kommen für unser
Tach nur wenige in Betracht, so der Begründer des mechanisch-dynami-
schen Systems Friedrich Hoffmann aus Halle und die Vertreter der
älteren Wiener Schule, Gerhard van Swieten aus Leiden und Anton
de Haßn aus dem Haag. Welch geringer Einfluß der Anatomie und
Physiologie von den größten Aerzten der damaligen Zeit auf den Fort-
schritt der praktischen Medizin beigemessen wurde, beweist ein von
Sprengel citierter, auf das Gehörorgan bezüglicher Ausspinich*) des
Systematikers Georg Ernst Stahl, der als einer der bedeutendsten
Vertreter dieser Richtung gilt.
Friedrich H. Hoffmann. Unter den Systematikern des 18. Jahrhunderts war
es vornehmlich Friedrich H. Hoff mann (1660 — 1742), der in seiner Pathologie
auch die Ohrenheilkunde berücksichtijyte M. Seine Theorien, die uns heute absonder-
lich erscheinen, haben bei den Zeitgenossen großen Heifall gefunden. Seinem be-
kannten Systeme entsprechend führte er auch die Affektionen des Gehörorgans auf
Abnormitäten des Tonus, auf zu heftige oder zu träge Bewegung, auf übermäßige An-
spannung oder Atonie zurück, welche sich hier speziell als Schmerz, Entzündung.
Ohrentönen resp. Schwerhörigkeit, Taubheit äußert. Der Heilschatz, den er zur Be-
hebung der krampfhaften Anspannung oder zur Beseitigung der Ab-^pannung ver-
mittels lebhafteren Zuströraens des Nervenäthers empfiehlt, umfaßt die meisten der
von den Vorgängern verwendeten Mittel, nur daß ihre Wirkungsiirt in neuem Lichte
erscheint. Im allgemeinen ist er der Ansicht, daß die Ohraffektionen, die teils idio-
pathischer, teils sympathischer Natur sind, nur im Beginne heilbar seien, später aber
höchstens gebessert werden könnten.
Schwerhörigktnt und Taubheit könne durch Bildungsfehler verursacht sein
oder durch Verletzung und Erschütterung des Organs, durch Verhärtung des Trom-
melfells, Verstopfung des Tubenkanals, ^Sj^asmus" und Trockenheit des Ohres, Er-
sclilaftuii'^' der akustischen Teile «'tc.
'"'} „Per l^au der mäandrischen Gänge im Ohre, des Amholit^s. Hammers, Steig-
bügels und (welche herrliche Erfindung!) des runden Knöchelclitus , würde, wenn er
nicht bekannt wäre, die physische Kenntnis des Körpers selir mangelhaft machen.
Aber d e r M e d i z i n nützt d i e s e K e n n t n i s gerade > o v i e 1 . als die Kunde
von dem vor zehn Jahren gefallenen Schnee." Propempt. inaug., quis
bonus theoreticus, malus practicus, ad Rhetii diss. de morbis hal»itualibus, Hai. 1798.
Zit. bei Spr^ i * '^i^rm. einer pragm. Gesch. der Arzneik. Bil. V, ].. 1"».
Systematiker de« 18. Jahrhunderts. 321
Ohren tönen entstehe, wenn von den Gefäßen zu viel Feuchtigkeit abgesondert
werde, die sich in Dämpfe umwandle und so eine tremulierende Bewegung im Gehör«
nerven errege.
Bemerkenswert ist, daß Hoffmann den häufigen Zusammenhang der Gehört-
affektionen mit Störungen des Nervensystems besonders hervorhebt. Seine Eur-
methode verfolgt den Zweck, die Materia peccans zu temperieren, zu korrigieren
und durch die Auswurfsgänge fortzuleiten, die Spannung der Fasern zu beseitigen,
das Einströmen des Nervensaftes zu begünstigen und auf diese Weise wieder den
alten, normalen Tonus herzustellen.
Die Therapie war teils allgemein: Venäsektion, Laxantia, Fußbäder, Blasen-
pflaster, Diaphoretika, interne Beizmittel (Bals. vit. Hoffm., Spir. Minderer! etc.), Kau-
und Niesemittel (Verstopfung der Tuben), teils lokal. Dämpfe (Tabakrauch), Einträufe-
lungen (Skorpionenöl , Kellerasselöl . Kantharidenöl), Pflaster (Mastix, Galbanum, Sa-
fran, MuskatÖl, Bibergeil, Opium etc.). Räucherungen mit aromatischen und harzigen
Stoffen. Bei Reizzuständen (Otalgie) empfahl er Salpeteremulsionen, Liquor anodynus,
Opium etc.
^) Medicina consultatoria. Halae 1721 — 1739, T. XI, p. 269. Medicina rational,
systematica. Halae 1726, T. I, p. 29 u. 289. Med. rat. syst. Halae 1732-— 1787,
T. IV, P. IV, Cap. VI, p. 149—174; P. II, Sect. II, Cap. 10, p. 489—500.
Bei Gerhard vanSwieten (1700—1772)*) finden wir die Erkrankungen des
Gehörorgans nicht mehr als ein abgeschlossenes Gebiet behandelt. Nur hie und
da kommt er bei Besprechung anderer Erkrankungen auch auf eine Ohraffektion zu
sprechen. So führt er als Symptom der „angina inflammatoria* heftigen Schmerz
im inneren Ohre und in der Tube an. Wenn sich nämlich die Schleimhaut des
weichen Gaumens und des Zäpfchens entzünde, pflanze sich diese Entzündung leicht
auf die Schleimhaut der Tube und der Trommelhöhle fort. Da femer die Hammer-
muskeln, welche das Trommelfell nach innen ziehen und den Trommelhöhlenraum
verkleinem ; sich an den Tuben inserieren und diese zu gleicher Zeit erweitem,
damit die in der Trommelhöhle komprimierte Luft auf diesem Wege nach außen
gelangen könne, so lasse sich leicht einsehen, wamm eine Krepitation im Ohre ver-
nommen werde, sobald jene entzündeten Teile durch den Schluckakt in Bewegung
versetzt werden. Wenn nun die angeschwollene Tubenschleimhaut das Lumen der
Tube verschließt, kann die Lufb nicht heraus und vollständige Taubheit ist häufig
die Folge'). Nach Aufhören der Entzündung stellt sich das Gehör wieder ein.
van Swieten erwähnt ferner Verwachsung und Ulzeration der Tuben bei Lues.
Obwohl C I e 1 a n d den Katheterismus durch die Nase bereits propagiert hatte,
empfiehlt van Swieten noch die von Guyot erfundene Methode, die Einführung
einer Röhrensonde vom Munde aus, und zwar in dem Momente, wenn der Patient
kräftig exspiriert.
*) Ubi ergo velum pendulum palatinum et uvula, harum tubarum aperturis
adeo vicina, infiammantur, facile patet ratio, quare et malum ad has partes pertingat,
et dolor acutus in aure intema et toto tractu tubae Eustachianae percipiatur. Cum
autem et musculi mallei, quorum ope membrana tympani introrsum trahitur, et
cavum tympani minuit, his tubis inserantur, illasque eodem tempore dilatent, ut
compressus in cavo tympani a@r libere hac via exire possit, patet, quare crepitatio
*) Commentaria in Herm. Boerhaave aphorismos de cognoscendis et curandis
morbis. Lugd. Bat. 1745, T. II, p. 666.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 21
322 Je&n Louis Petit.
in aore interna percipiatur, dum deglutitionis actione moventur partes illae inflam-
matae. übi autem membrana interna harum tubarum inflammata sie tomet, ut
cavitas obturetur, vel vicinus tubarum orificiis tumor illa sie compresaerit, ut Über
a^ri transitus denegetur, surditas saepe perfecta oritur. 1. c. p. 667.
Noch weniger Interesse bieten für uns die Arbeiten des Wiener Klinikers
Anton de Ha3n (1704 — 1776). Die in seinen von Maximilian Stoll heraus-
gegebenen „Opuscula quaedam inedita'*) enthaltenen Krankheitsgeschichten über
Ohrerkrankungen sind gänzlich wertlos, da die Schilderung der Symptome ober-
flächlich ist, über eine objektive Untersuchung des Gehörorganes nichts berichtet
wird und Obduktionsbefunde vollkommen fehlen.
Wichtiger für den Fortschritt innerhalb unseres Faches sind Ver-
treter der Chirurgie, so vor allem Jean Louis Petit, Lorenz
Heister und der Däne Georg Heuermann. Vorher noch einiges über
den Chirurgen Stephan Biancaard, dessen Wirken wohl dem 17. Jahr-
hundert angehört, der sich aber mit seinem aus dem 18. Jahrhundert
datierenden Werke hier anreibt.
Stephan Biancaard (1650—1702) aus Amsterdam trat mit seinen , Opera
medica, theoretica, practica et chirurgica' Traj. ad Rhen. 1714 in die Fußstapfen
seiner Yor^Uiger. Neue Erfahrungen über Operationen am Ohre enthält sein Werk
nicht. Zu erwähnen wäre vielleicht bloß, daß er bei Angina und anderen Er-
krankungen, welche die Respiration erschweren, beobachtete, daß die Exspirationslnft
mit einer solchen Gewalt in die Tube gepreßt werde, daß hierdurch das Trommelfell
leicht zerreiße. Biancaard fand femer oft die Trommelhöhle, den Vorhof, die
Bogengänge und die Schnecke „sordibus spissis et incrassatis" angefüllt, was nach
seiner Ansicht vielleicht ,ab abscessu* der diese Hohlräume auskleidenden Mem-
branen herrührt. Da die ^materia peccans* keinen Ausweg hat, sei Taubheit die Folge.
^) Quodque etiam in etemutatione observatur, ubi eentimus aerem, per meatum
subito redeuntem, membrana tjmpani extrorsum expellere et tensiouem efficere non
sine dolore: quod et in Angina aliisque respirandi difficultatibus facile fit, in quibus
fundus palati et nasi intumescunt, vel per inflammationem per alias: quando enim
aSr ex pulmonibus propulsus libere non egrediatur, tanto impetu fertur in meatum
ab aure ad palatum tendentem, ut membrana tympani facile rumpatur. 1. c. p. 274.
Jean Louis Petit (1674 — 1750) zählt zu den bedeutendsten fran-
zösischen Chirurgen des 18. Jahrhunderts, dessen Ruhm von seinen
besonders als Feldärzte sehr geschätzten Schülern durch ganz Europa
getragen wurde. Seine Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie und
Chirurgrie zeichnen sich durch Gründlichkeit und scharfe klinische Beob-
achtung aus.
In seinem dreibändigen posthumen, mit zahlreichen Tafeln aus-
*) Acceduut Historiae morborum a Stollio in Collegio clinico Haenii annis
1770—1772 consignatae. Vindobonae 1795, P. IL S. I: Hiatoria morbi XXVU.
Surditas. XXXV. Otalgie. XLY. Otalgie. S. II: Historia morbi VII. Auditus gravis.
Jean Louis Petit. 323
gestatteten Werke „Traitä des maladies chirurgicales et des Operations
qui leur conviennent**, Paris 1774, werden in dem IV. Kapitel: ^Des
tumeurs**, die entzündlichen. Erkrankungen des Warzenfortsatzes
eingehend erörtert.
Dieser Abschnitt des Werkes nimmt unser Interesse besonders des*
halb in Anspruch, weil hier zuerst die chirurgische Behandlung der
kariös-nekrotischen Prozesse im Warzenfortsatze nach durchaus rationellen
Prinzipien besprochen wird.
Gestützt auf reiche Erfahrung spricht sich Petit am Eingang des
Abschnittes dahin aus, daß Abszesse im Warzenfortsatze, die zu ihrer
Reifung lange Zeit brauchen, viel langsamer heilen, als rasch reifende.
Man dürfe jedoch die spontane Reifung nicht abwarten, sondern müsse
den Abszeß eröffnen, sobald Fluktuation fühlbar werde. Wenn auch vor
der Operation nicht immer Karies nachweisbar sei, so finde man doch
öfters beim Freilegen des Warzenfortsatzes den Knochen vom Periost ent-
blößt. Die Karies zeigt hier nach der Dauer des Abszesses verschiedene
Stadien. Sie kann auf die DiploS allein beschränkt sein oder schon auf
die mediale Lamelle des Warzenfortsatzes („seconde table") übergegriffen
haben ^),
Die Konstatierung der Fluktuation ist oft sehr schwierig. Täu-
schuijgen in dieser Richtung können nur durch große Uebung vermieden
werden. Petit illustriert dies durch einen Fall seiner Praxis, bei dem
von den Aerzten die Eröffnung des Abszesses beschlossen, dann aber
verschoben wurde, weil die früher nachweisbare Fluktuation wieder ver-
schwunden war. Petit riet trotzdem zur Eröffnung, ließ aber vorher
den Valsal vaschen Versuch ausführen, wodurch der Abszeß über dem
Warzenfortsatze sofort zu seiner früheren Größe anschwoll. Bei der
Eröffnung fand sich fast doppelt soviel Eiter in der Abszeßhöhle, als
nach der Größe der Geschwulst zu erwarten war.
Dieser Fall ist auch insoferne von Interesse, als vor der Bildung
des Periostalabszesses der Eiter das dünne Tegmen der mittleren Schädel-
grube („table interne**) durchbrochen und zu einer Eiteransammlung
zwischen Dura und Tegmen (Extraduralabszeß) geführt hat. Auf letztere
führt Petit die monatelang bestehenden Kopfschmerzen zurück.
Bei der Eröffnung des Abszesses ging Petit in der Weise vor,
daß er mit einer myrthenblattförmigen Pinzette die Knochenränder der
kleinen Fistel in der Corticalis stückweise abbrach, bis diese Oeffhung
dem Knochendefekt im Tegmen gleich war. Hierauf legte er wie nack
der Trepanation einen regelrechten Verband an. Nach Abstoßung des
kariösen Knochens erfolgte in einem Monate vollständige Heilung').
Die Epikrise dieser Krankengeschichte zeigt, daß Petit nicht nur
ein glänzender Chirurg, sondern auch ein scharfer Beobachter und aus-
324 J^&Q Louis Petit.
gezeiclineter Patbolog war. Solche Eiterungen führen, wie er richtig
bemerkt^ zum Tode entweder durch Zerstörung lebenswichtiger Or^^ane
oder durch Pyämie, deren Symptome er ausgezeichnet schildert^).
Dringt der Eiter durch Zerstörung des Knochens bis an die Dura,
so bestehen dumpfe Kopfschmerzen, die an Heftigkeit zunehmen« ^weim
sich der Eiter nach dem Durchbruch der Tabula externa unter das Periost
des Warzenfortsatzes ergießt. Petit hält das Periost für viel empfind-
licher als die Dura.
Treten Entzündungserscheinungen auf. die auf Eiteransammlrmg im
Warzenfortsatze schließen lassen, so dürfe man den Durchbruch der
.Tabula externa ** nicht abwarten, sondern müsse sogleich zur Erofirmzi^
des Warzenfortsatzes mittels Exfoliativtrepaus schreiten. Die Eröffnung sei
selbst dann gerechtfertigt, wenn man keinen Eiter finde, denn in diesem
Falle kürze man die Krankheit wenigstens um soviel ab. als der Eiter
zum Durchbruch der Tabula externa brauche*).
In der Epikrise bespricht er ferner das oben erwähnte Symptom,
daß die Fluktuation oft nur zeitweilig tastbar sei, zeitweilig wieder ver-
schwinde. Er führt diese Erscheinung darauf zurück, daß der Eiter
durch den Verband oder das Liegen auf der kranken Körperseite gegen
die Schädelbasis gedrängt werde ^). Als diagnostisches Hilfsmittel ver-
wendet er in solchen Fällen, wie gesagt, den Yalsalvaschen Versuch.
Einer eingehenden Erörterung unterzieht er auch die Frage, wes-
halb nach Eröffnung des Warzenfortsatzes oft schon nach kurzer Zeit
die Exfoliation des erkrankten Knochens erfolge, während die Äbstoßung
eines kariösen Knochens an anderen Körperteilen sehr lange dauere, ja
bei spongiösem Knochen erst dann vor sich gehe, wenn man alles Kariöse
bis zum Gesunden, sei es durch Medikamente, sei es durch Glüheisen,
Feile. Trepan oder üammer und Meißel entfernt habe. l)ie rasche Ex-
foliation des nekrotischen Knochens bei Karies des Warzenfortsatzes
habe ihren Grund darin, daß schon während der Abszeßbildung die
Demarkation eingeleitet wird.
Bemerkenswert sind die Beobachtungen Petits über eine Erkran-
kung, die wir. heute als Peritonsillarabszeß bezeichnen. Wenn der hintere
Teil der Tonsille, der unmittelbar an die Münduup: der Ohrtrompete
stößt, vereitert, so erkennt man dies an dem Schwinden der Entzündungs-
fcyniptom«; und an dem Erscheinen von Eiter im Sputum und im Nasen-
Dekret. Hierbei wird nicht selten das Ohr in Mitleidenschaft gezogen,
entweder weil der Pjiter in die Tube eindringt, oder weil die Tube durch
die Eit«*rung zerstört wird, oder endlich weil der Abszeß auf den äußeren
Gehörjj^an;/ übergreift*'!. Nach dem Durchbruch des Abszesses erlangt der
Kranke dah Gehör wieder, was JVtit durch die Krankengeschichte eines
<:a. J 2jährigen Knaben erhärtet. Bemerkenswert ist Petits Ansicht, daß
Heister. 325
die Ohreitening nie primär im Cavum tympani entsteht, sondern von der
Tube oder vom äußeren Gehörgang ausgeht "^j.
^) Si on ne trouve point Tos cari^, il est au moins denue de son perioste : i'il
y a carie , eile pen^tre ordinairment jusqu'au diplo^ , quelquefois m^me jusqae k la
second table, p. 155, — *) Car on trouva la table externe percee par un trou qui
n'avoit qu'une ligne de diam^tre pendant qne le diplo^ et la table interne etoient
uses de Tetendue d*une pi^ce de douze sols. p. 157. — ') Les d^pöts qui suppurent
ne causent la mort que par les douleurs qn'ils causent, ou parce qu'ils dötruissent
de parties n^cessaires ä la vie, ou enfin parce que le pus qu'il renferment, ^tant
abondant, et n*^iant pas ^vacue assez tot, rentra dans la masse du sang et cause des
frissons, de fi^vres on de d^pöts dans quelques visceres. p. 158. — ^) On y ddcouvrira
Tos et on appliquera le tröpan exfoliatif jusqu'a ce qu'on ait d^truit la premiere
table et qu'on soit parvenu au diploe. S'il y a de la mati^re formte eile s*evacueray
et s'il n\y a pas point, on aura beaucoup fait d'enlever la table externe ; on gagnera
tout le tems que le pus auroit ^t^ ä. la percer. p. 159. — *) Ce qui vient de ce que
la tumeur a ete press^e, soit par le bandage et les compresses, soit parce que le
malade se couche du cöte de sa tumeur, et que la compression dans Tun ou dans
l'autre cas a fait rentrer la matiere sous le eräne. p. 161. — *) Veut-on encore s^assurer
mieux de ce fait, c'est que, lorsqu'on cesse de la sentir, on n'a qu*ä faire souffler
le malade en lui serrant les marines, dans Tinstant la tumeur se remplit de pus, et
la fluetuation reparoit. — ^ Ils affectent Toreille, soit parce que le pus y entre par
le canal d*£ustache, soit parce que le canal mdme se trouve detruit, soit enfin parce
que le canal ext^rieur de l'oreille se trouve compris dans Tabc^. p. 139.
Lorenz Heister (1683—1758), der nach Fabricius Hildanus
der Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland genannt
wird, gibt in seinem Hauptwerke „Institittiones chirurgicae, Leyden 1739** *)
eine zusammenfassende Darstellung der otochirurgischen Erfahrungen
seiner Vorgänger, die sich nur auf die Technik der mehr oder minder
groben operativen EingriflFe am äußeren Ohre beschränkt. Von den zu
dieser Zeit noch wenig bekannten Operationen am Warzenfortsatze und
am Trommelfelle ist in dem Werke Heisters keine Rede.
In sechs Kapiteln (LXII.— LXVII.) des fünften Buches**) behandelt
er die «Operationes, an den Ohren". Wenn eine widernatürliche Haut
im vordersten Teile des Ohrganges vorhanden sei, empfiehlt er Kreuz-
schnitt und Einlegen einer Wieke. „Ist dergleichen Haut tief im Ohr-
gang, und also nahe bei dem Trommelhäutlein,'* so warnt er, nicht zu tief
zu schneiden, um das Trommelfell nicht zu verletzen, „welches sonderlich
bey jungen Kindern leicht geschehen kann, weil der Ohrgang sehr kurtz
ist." Im nächsten Kapitel bespricht er die Methoden, „Ins Ohr gefallene
Sachen heraus zu nehmen** nach alt bewährten Mustern. Kompilatorischer
Natur und ohne eigene Gedanken sind auch die Kapitel, die ^Von den
*) Erschien zuerst unter dem Titel »Chirurgie**, Nürnberg 1718. Wir benützten
die zweite Ausgabe vom Jahre 1724.
**) p. 533—539.
326 Henermaon.
Gewächsen im Ohn^ang'', « Von Brennung des Ohrs gegen Zahnschmerizen*
und von ^ Löchlein in die Ohren zu stechen^ handeln. ^Von den Instm-
menten zum schwachen Gehör dienlich*, wie z. B. die Hörrohre Ton
Nuck und Dekker, halt er nicht vieL Sie sollen nach seiner eigenen
Erfahrung und der anderer ^gar wenig Effekt prästieren *".
Heister bringt bei einer 43jährigen Frau die Schwerhörigkeit mit
dem Aufhören der Menstruation im Klimakterium in Verbindung^.
Daß damals die Ansicht, Taubheit könne infolge der ünterdrQckung der
Menses (a mensium suppressione) entstehen, allgemein verbreitet war,
beweist ein von Ebersbach'*'*) mitgeteilter Fall von einem ITjährigen
Mädchen, das bei dem Aussetzen der Menstruation beinahe nichts hörte,
bei deren Rückkehr aber wieder in den Besitz ihres Gehörs kam.
Im Anschlüsse an seine Bemerkangen über Ohrerkranknngen erwähnt Heister
ein von ihm noch nicht versuchtes Instrument, das von einem gevrissen Rensner
gegen Schwerhörigkeit, subjektive Geräusche und Ohrenschmerzen warm empfohlen
wurde***). Es bestand ans einem vergoldeten Silberröhrchen von einer Spanne JJkage,
das täglich zwei- bis dreimal in den Gehörgang angesetzt wurde, ,um die LnflFb oder
Wind, welche in selbem enthalten, und das Klingen verursachen soll, herauszusaugen*.
MerkwfirdigerweiBe hat sich diese Methode der Luftverdünnung im äußeren Gehör-
gange, die schon früher einigemal propagiert wurde, trotz ihres sicherlich vorzüg-
lichen therapeutischen Wertes, nie recht in die Therapie der Ohrerkrankungen ein-
bürgern können. Erst in den letzten Dezennien ist sie zur vollen Geltung gelangt.
Der dänische Chirurg Heuermann f) will die Schwerhörigkeit
alter Leute von einer Verwachsung des Hammermuskels mit seiner
Enochenrinne herleiten: „weil bei ihnen die Rinne in der wenig ver-
tieften Höligkeit, wodurch das eine Mäußlein des Hammers gehet, ge-
meiniglich verwachset, und den Muscul zu seiner Würckung ungeschickt
machet *". Eine anatomische Begründung dieses Befundes vermissen wir in
dem Werke. Um Medikamente in die Ohrtrompete einzutreiben, bedient
sich Heuermann einer hohlen Sonde, ^die fast wie die Sonde ,en femme'
beschaffen, allein nur nach vorne mit einer Oeffnung und kleinen Biegung
♦) Med. u. Chir. Wahrnehmg. 2. Bd. n. 381.
*♦) Annal. Wratisl. 1725.
♦**) Ueber Luft Verdünnung im äußeren Gehörgange findet sieb in den Ephe-
meriden der Act. nat. curios. Acad. Caesareo-Leopold vom Jahre 1717 unter Observat. VI
folgende Mitteilung von Christ. G. Reusner: Instrumentum acusticum novum in
tinnitu aurium et otalgia proficuum. Est tubulus quidam argenteu« deauratus spithamae
longitudine, iste tubulus bis vel ter de die applicatur auri dolenti et sugendo aßr
extrahitur, vel si mavis . . . novum appello instrumentum quoniam nemo autorum
(quantum ego scio) huius mentionem fecit. (Vergl. die im Mittelalter von Simeon
angegebene Saugmethode bei Schwerhörigkeit, S. 61.)
t) GeorgHeuermanns Abhandlungen der vornehmsten chirurgischen Opera-
tionen am menschlichen Körper. 3. Bd. Kopenhagen und Leipzig 1757. Cap. 48.
»Von den Ohrenkrankheiten, wobei zu Zeiten ein Wundarzt erfordert wird."
Die Perforation des Processus mastoideus. 327
versehen'^ ist. Diesen Katheter führte er durch den Mund hinter dem
weichen Gaumen ein, drehte ihn dann ein wenig zur Seite und konnte
so angeblich leicht die Mündung der Tube erreichen. TTm die ent-
sprechende Uebung in dieser Operation zu erlangen, müsse man sie vorher
an Kadavern üben. Er berichtet femer von einer Fistel hinter dem
Ohre, «die weder durch die Speichelkur noch reinigende Einspritzungen
oder das akkurateste Verbinden** geheilt werden konnte. In die Fistel
eingespritzte Flüssigkeit floß teils durch die Tube zum Munde, teils
durch den äußeren Gehörgang aus dem Ohre heraus. Heuermann hält
diese Art von „ Ohrengeschwüren " für die „allerschlechtesten" ; bei ihnen
lasse sich keine vollkommene Heilung nach innen erwarten, da der
Warzenfortsatz zu locker und schwammig sei, und der Eiter sich deshalb
zu leicht dort aufhalten könne. Als einzige Therapie empfiehlt er Er-
weiterung der Fistel, um den Ausfluß des Eiters zu befördern, ferner
kleine Einbohrungen mit dem Perforativtrepan, damit aus den Gefäßen
der Warzenfortsatzzellen und ihrer Membranen eine Verwachsung der
äußeren Oeffnung umso eher stattfinden könne.
Im Anschlüsse an die hier mitgeteilten Ergebnisse chirurgischer
Eingriffe am Warzenfortsatze soll im folgenden in einer übersichtlichen
Skizze die Geschichte dieser Operation mit ihren wechselnden Phasen
geschildert werden.
Die Perforation des Processus mastoideus.
Im letzten Dezennium des 18. Jahrhunders erregte eine Operation,
die jetzt nur unter bestimmten Indikationen ausgeführt wird, allgemeines
Interesse. Verleitet durch einseitige Berücksichtigung einzelner mit gün-
stigem Erfolge operierter Fälle glaubte man ein Heilmittel gefunden zu
haben, das auch bei nichteitrigen Prozessen jede Art von Taubheit
zu beseitigen vermöchte. Es handelte sich um die Durchbohrung
des Warzenfortsatzes, in der Absicht, die Kommunikation der
Trommelhöhle mit der äußeren Luft herzustellen. Sie wurde von dem
preußischen Regimentschirurgen J asser unternommen, der die schon
100 Jahre früher empfohlene, dann aber in Vergessenheit geratene
Operation als ein völlig neues Heilverfahren hinstellte.
Die Geschichte der Operation reicht bekanntlich bis auf Riolan
den Jüngeren zurück, der, wie wir bereits früher (S. 216) erwähnten, in
seinem „Encheiridium**, und anderweitig^) in Fällen von Taubheit und
Ohrensausen, die durch Verstopfung der Tuben bedingt sind, die Durch-
bohrung des Warzenfortsatzes und Einspritzung durch denselben vor-
schlug. Riolan sagte im Opusc. anat.: Ideoque defectu hujus canali-
culi, tubae scilicet, pervii ad evacuationem flatuum quid ni conferret.
stjlo tenuissimo perhisa apophysis mastoideae cavernosa substantia. quae
communicationem habet cum concba Ip, 818)*),
Dies blieb zunächst nur ein Vorschlag, den allerdings bald auch
Rolfinck*) unterstützte.
Anders sind die Fälle zu beurteilen, bei denen wegen Karies
und Pistelbildung operative Eingriffe am Warzenforts atze vor-
genommen wurden''). Die ersten Chirurgen, die rationell vorgingen,
waren J. L. Petit und Heuermann, ersterer fllhrte die Trepanation bei
fluktuierendem Periostal abszeß aus, letzterer bei Pistelbildung hinter dem
Ohre. — Aehnliche auf Karies bezügliche Fälle teilten noch Morand*),
Martin, Bourienne und Bertrand") mit. Aber keiner kam auf die
Idee, die bei Karies so wirksame Operation auch zur Behebung der Taub-
heit auszufuhren. Diesen unglücklichen Gedanken faßte zuerst der schon
erwähnte Jasser, der, veranlaßt durch einen glücklich operierten Fall
von Karies des Warzen fortsatzes (1776)''), die Frage aufwarf : .Könnte
durch diese Operation nicht manche, bis jetzt für unheilbar
gehaltene Taubheit geheilt werden?" ^J Dieser Satz gab durch
seine unklare, allgemein gehaltene Formulierung des Begriffs „Taubheit"
den Anlaß, die Trepanation des Warzenfortsatzes bei allen möglichen
Formen der Taubheit ohne Indikationsstellung zu versuchen. Der Vor-
schlag Jassers fand bald nach seinem Bekanntwerden Bestätigung im
günstigen Sinne. J. G. B. FieUtz'*) berichtete Über 5 glückliche Fälle,
ohne aber die Äetiologie, Symptomatologie und selbst die Operation
genauer zu beschreiben. Weitere günstige Berichte folgten von A. F.
Löffler*), die zeigten, daß schon die bloße Perforation ohne Einspritzung
durch die hergestellte Passage für die Troramelhöhlenluft manche Taub-
heit heilen könne. Weniger ermutigend mußte eine Krankengeschichte
A. .1. Hagströms ^'') wirken, der die Operation bei luetischer Taubheit ohne
jeden Erfolg vollzog. Hagström selbst fühlte sieb durch die schlechte Er-
fahrung, die er gemacht hatte, dazu gedrängt, Indikationen aufzustellen, was
seine Vorgänger unterlassen hatten. Auch beschrieb er genau die Operations-
•) Nach einet Milteilung von Hai 1er (Bibl. med. proct. I, 11. Bas. 1777, p. 39)
könnt« es zwar Bcheinen, als ob Alois Mundelia diese Operation bereits 153S
empfahlen hätte, da Haller berichtet, diiß Mundella bei SchwerhSriglieib zu einer
Perforation desSchädela riete. Doch ist dJ«Ke Stelle Mundellas nicht richtig auagele^
woideD. Bei ihm heißt es nämlich: ,ut forata media aarie faniculo aliqao ita trajeota
longo temimre eervetur.* (Epistolue medic. divers, aotorum, Lugd. 165G. In epistolia
Aloisii Hundellae, p. 357.) Hieraas geht deutlich hervor, daU Mundeita nicht die
Abilicht haben konnte, eine Schnur durch doa durchbohrte Mittelohr zu Btccken,
sondern daß mit .media auria" zweifeUoa der mittlere Teil der OhrmuBchel gemeint
ist, eine Intei-pretalion, die noch dadurch gestützt wird, daß Mundella an derselben
Stelle außer dem Durchateckea einer Schnur durch die Mitte des Ohrea das An-
legen einer Fontanelle hinter dem Ohre empfiehlt.
Die Perforation des Processus mastoidens. 329
technik. Einen sehr ungünstigen Fall teilte Proet^^) mit, und bald
schien die große Begeisterung einer völligen Verwerfung zu weichen, als
der sensationelle Todesfall des dänischen Leibarztes Johann Gust.
V. Berger ^*), der sich der Operation behufs Behebung eines langwierigen
Ohrenleidens unterzogen hatte, bekannt wurde. Berg er litt seit Jahren
an heftigem Schwindel, Kopfschmerz und Sausen in beiden Ohren, wobei
das Gehör allmählich abnahm. Er ließ sich von Kölpin und Callisen
operieren und starb unter meningitischen Erscheinungen nach 12 Tagen,
Aber auch dieses Ereignis, das allerdings auf die mangelnde Asepsis
zurückzuführen ist, damals aber der Operation als solcher zugeschrieben
wurde, schien noch nicht als abschreckendes Beispiel zu wirken, da noch
nachher von manchen die Operation gegen Taubheit angepriesen wurde.
Der Nutzen aber, der der Wissenschaft hieraus erwuchs, war der,
daß man einerseits dazu gedrängt wurde, die Anatomie des Warzen-
fortsatzes genauer zu studieren, und daß man andererseits darauf be-
dacht war, durch schärfere Indikationsstellung die für die Operation
geeigneten Fälle auszuwählen.
Die Anatomie des Warzenforisatzes wurde um diese Zeit vornehm-
lich von Murray ^^), Arnemann ^^) und Hagström gefördert. Ihr
Verdienst bestand darin, daß sie nicht bloß die Zellen des Warzenfort-
satzes, sondern die Kommunikation der Zellen untereinander und mit der
Trommelhöhle und die vielfachen Varietäten der pneumatischen Warzen-
fortsätze genauer beschrieben. Nähere Angaben über das häufige Vor-
kommen zellenloser, diploStischer Warzenfortsätze im normalen Zustande
(von Zuckerkandl in 20 ^^'o) vermissen wir in diesen Arbeiten. Nur
Murrav erwähnt einen Fall, in dem sämtliche Warzenzellen fehlten und
das Gehör dennoch in keiner Weise gestört war.
Während J. Arne mann in weitgehendster Weise bei jeder ^gänz-
lichen Taubheit überhaupt, oder einer Harthörigkeit, die immer zunimmt
und wogegen alle anderen Mittel vergebens gebraucht sind", die Operation
anwenden wollte, ja sogar bei «lange anhaltenden Ohrenschmerzen und
Brausen in den Ohren" oder .,wenn die Eustachische Trompete durch
Schleim oder andere stockende Feuchtigkeiten verstopft ist", die Trepa-
nation des Warzenfortsatzes empfahl, beschränkten andere Autoren, wie
Herhold t^^) und Callisen ^*^), ihre Anwendung auf ein kleineres Gebiet.
Herholdt, durch einen ungünstig verlaufenen Fall gewarnt, schied mehrere
Formen von Taubheit, wie die durch Akustikusaffektionen bedingten aus,
wobei er sich diagnostisch besonders auf die Prüfung der Schallperzeption
durch die Zähne stützte, und ferner die ätiologischen Momente und
gewisse Symptome wie Schwindel, Kopfschmerz, Blindheit und andere
Cerebralerscheinungen berücksichtigte. Kontraindiziert war die Trepa-
nation des Proc. mast. außerdem bei Taubheit infolge von Erkrankungen
330 ^i^ Perforation des Processus mastoideus.
des äußeren Gehörgangs und endlich bei Schwerhörigkeit, die durch dia-
gnostizierbare Affektionen des Trommelfells, der Trommelhöhle, des
Kachens, der Tubenöffnungen veranlaßt wird. Als Hauptindikation der
Jasserschen Operation stellt Herholdt in erster Reihe die Karies des
Warzenfortsatzes auf.
Ebenso vorsichtig bestimmt H. Callisen die Indikation der Operation ;
er kommt in Erwägung der anatomischen und praktischen Schwierig-
keiten zum Schlüsse, daß sie lediglich bei Karies und Eiteransamm-
lungen im Warzenfortsatze und in der Trommelhöhle, vielleicht
auch bei Verstopfungen der Tube behufs Zufuhr der Luft von außen von
Nutzen sein kann. Diese Bemerkungen stehen im Gegensatz zu Hag-
ströms Abhandlung^'), der, obwohl er einen selbstoperierten, un-
günstig verlaufenen Fall mitteilt, die Operation auch bei Affektionen der
Trommelhöhle anriet, sie sogar den Injektionen durch die Eustachische
Röhre vorzieht.
Ausführliche Schilderungen der Jasserschen Operation finden sich
femer bei Bernstein und Weber ^®), durch einige eigene Beobachtungen
vervollständigt.
Unter dem Einfluß der französischen Otiatrie, namentlich durch die
weitere Ausbildung des Katheterismus tubae und der Luftdousche, deren
Geschichte wir hier folgen lassen, wurde die Eröffnung des Warzenfort-
satzes später ausschließlich bei Karies unternommen.
') Opusc. anat. Lond. 1649, p. 218 ; Anthropologia Lib. IV, cap. 5. — *) Diss.
anat., Jenae 1656, Lib. II, cap. 15, p. 279. — ') Vergl. die Beobachtung Valsalvas
S. 240. Daß manchmal durch Warzenfortsatzkaries bedingte Kopfschmerzen und
Hörstörungen durch spontane Ausstoßung nekrotischer Knochenstücke heilen können,
wußten bereits Duverney (1. c. p. 188), Cassebohm (1. c. Tract. IV). — *) Verm.
Chirurg. Schriften. Aus d. Franz. Leipzig 1774, p. 4 sq. — ^) Journal de medecine
et Chirurgie T. XXX, T. XLI, T. XLII. — «) Krankengesch., zit. bei Lincke II, 82.
oder in Hagströms Abhdlg., Lincke, Sammig. IV, p. 20, vide Lincke Sammig. IV,
p. 195 (wo die Krankengesch. von Jasser, Fielitz und Löffler enthalten sind). —
') Schmuckers Verm. chirurg. Sehr. Berlin 1782, III, p. 113—125. — ') Richters
chir. Bibl. VIII, S. 324, IX, S. 855, Göttingen 1785—1790. — ») Richters chir.
Bibl. X, S. 613. — *°) Neue Abhandlungen der Königl. Schwed. Akad. 1789, Bd. X,
184—194, vide Lincke Bd. IV, S. 20 ff. — »') Todes Arzneikundige Annalen XII.
— ^*) Quellen zu Bergers Krankengeschichte; Todes Arzneikundige Annalen XII,
S. 52, Kopenh. 1792; Salzburg, med. chir. Ztg. 1791, II, 8.366. — Conferenceraad
von Bergers eiste Sygdom of Hr. Institsraad Kölpin . . . Copenhag. 1792. — *') Neue
Abb. der K. Schwed. Acad. d. Wissensch. Bd. X, 1789, S. 197, in Linckes S. IV,
p. 33. — ^*) Bemerkungen über die Durchbohrung des Proc. mast. in gewissen Fällen
der Taubheit. Göttingen 1792. — ^^) J. C. Todes Arzneikundige Annalen XII,
S. 18 — 51, vd. Lincke S. IV, p. 44 ß. — '^') Commentatio de fatis atque cautelis
injectionis cavitatis tympani per j>rocessum mastoideum ossis temporum Act. reg.
societ. med. Hafnicns III. Hauniae 1792. p. 435 — 456, Lincke S. IV, p. 59 ff. —
'^) Andr. Job. H. über die Durchbohrung des Warzenfortsatzes etc. in Linckes
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete. 331
S. IV, p. 20 flP. aus Königl. Schwed. Acad. d. Wiss. 1789. — *^ Gesch. einer durch
Perforation des Warzenfortsatzes hewerkstelligten Entleerung einer Eiterablagerung etc.
Lincke S. IV, p. 96 flP.
Der Katheterismns der Eastachischen Ohrtrompete.
Der Katheterismus der Ohrtrompete, die erste reelle Bereicherung
der Otiatrie, wurde im Jahre 1724 von dem Postmeister Guyot in Ver-
sailles zur allgemeinen Kenntnis gebracht. Er hatte gegen sein Oehör-
leiden bei Aerzten vergeblich Hilfe gesucht und wurde, wie Sabatier
berichtet, durch seine Not getrieben ^) der Erfinder eines Heilverfahrens,
das bei den reichen anatomischen Erfahrungen seines Zeitalters schon
längst aus theoretischen Erwägungen hätte abgeleitet werden müssen.
Guyot teilte seine Methode der Pariser Akademie mit*), fand hier
jedoch wenig Glauben, da man der Ansicht war, daß lediglich die
Schlundmündung der Trompete, nicht aber sie selbst instrumentell zu-
gänglich sei. Er bediente sich einer zinnernen, knieförmig gebogenen
Röhre, die er durch den Mund hinter dem Gaumensegel nach oben
schob und in die Tubenmündung einführte. Das äußere Ende der Röhre
war mit einem für die Injektion dienenden Apparat verbunden, der aus
einer Doppelpumpe mit einem gemeinschaftlichen Reservoir bestand, die
durch zwei entgegengesetzte Kurbeln in Bewegung gesetzt wurde. Ein
mit dem Reservoir zusammenhängender Lederschlauch stand mit dem
äußeren Katheterende in Verbindung.
Die Schwierigkeit der Prozedur hätte die ganze Frage des Ka-
theterismus wieder von der Tagesordnung verschwinden lassen, hätte
nicht nach Guyot, wahrscheinlich unabhängig von ihm, der englische
Militärarzt Archibald Cleland empfohlen, den Katheter durch die
Nase einzuführen. Cleland^) veröflfentlichte sein Verfahren im Jahre
1741, ohne Guyot zu nennen. Nach Cleland ist in allen Fällen von
Schwerhörigkeit, die von einer Verstopfung der Ohrtrompete herrühren,
das Ausspülen mit lauem Wasser angezeigt. Zu diesem Zwecke führe
man eine dünne, biegsame silberne Röhre durch die Nase in die,
in der Nähe der hinteren Nasenöflfnung (Choane) und des Gaumenbogens
befindliche Tubenmündung ein. An dem vorderen Ende überziehe man
sie vorher mit einer Harnröhre vom Schafe, während das hintere Ende
mit einem elfenbeinernen Ansätze zur Aufnahme einer Spritze versehen
sein müsse, um laues Wasser oder Luft in die Eustachische Röhre
eintreiben zu können. Presse man nun Luft forciert in die Trommelhöhle
ein, so werde der Tubenkanal hinlänglich erweitert und die verstopfende
„Materie" entleert.
Clelands Abhandlung entging der Aufmerksamkeit seiner Zeit-
genossen beinahe gänzlich, was in Anbetracht der mangelhaften Kom-
332
Der Eatheteriamiia der Enatacbüclieii Ohrtrompete,
munikatioHsmittel jener Zeit Eicht befremden kann. Wie er selbst
Guyots nicht gedacht, so schrieben Antoine Petit und Jonathan
Watheu sich die Erfindung des Katheterisnins durch die Nase zu, ohne
Cleland zu nennen,
Petit, der in seiner Ausgabe der Palfynschen Anatomie Guyots
Verfahren kritisiert, behauptet als erster den Katheterismus tubae durch
die Nase empfohlen zu haben *).
Wathen zitiert wohl Guyot und Petit, nicht aber Cleland; er
gibt vielmehr an, sein Lehrer J. Douglas, der in seinen anatomischen
Vorlesungen die Möglichkeit der Ausführung des Katheterismus durch
die Nase demonstrierte, habe ihn auf den Gedanken gebracht, dieses
Verfahren am Lebenden zu versuchen''). Die Methode Guyots hält
Wathen ftir unausfllbrbar*). Nachdem er sich an Leichen hinläng-
lich eingeübt, erzielte er eine wesentliche Hör Verbesserung durch Ein-
spritzungen in den TubenkanaL Wathen beschreibt sein Verfahren
folgendermaßen'): „Die Röhre von Silber hat ungefähr die Länge und
Dicke einer gewöhnlichen Sonde und ist an ihrem Ende ein wenig ge-
bogen. Man füllt eine elfenbeinerne Spritze mit einer Flüssigkeit, z. B.
einer Mischung von warmem Wasser und etwas Rosenhonig, fügt die
Spritze an das äußere Ende der Röhre und führt sie zwischen Nasen-
flügel und Nasenscbeidewfind so ein, daB die KrUntniung anfangs nach
Der Katheterismus der Eustachischen Ohrtrompete. 333
oben, in der Tiefe jedoch etwas nach unten gekehrt ist, bis sie in die
Nähe der Mündung der Eustachischen Röhre konoimt. Hierauf schiebt
man die Röhre, die Konvexität gegen die Nasenscheidewand hin ge*
richtet, in die Eustachische Röhre vor, Ist dies geschehen, spritzt
man die Flüssigkeit durch sie in die Tube ein, wodurch Unreinlichkeiten
verdünnt und ausgespült werden und die injizierte Flüssigkeit durch Mund
oder Nase oder durch beide ausfließt.*
Bevor wir die Fortschritte schildern, die Cleland- Wathens Ver-
fahren namentlich durch französische Otologen machte, müssen wir noch
einer in der Zeit zwischen Clelands und Wathens Publikation er-
' schienenen Dissertationsschrift Jul. Bussons gedenken, deren Titel
lautet: Quaestio medico-chirurgica : An absque membranae Tympani
apertura topica injici in concham possunt? (Paris 1748). In dieser Schrift
findet sich der beachtenswerte Vorschlag, bei eitrigen Prozessen in der
Trommelhöhle Dämpfe in die Eustachische Röhre zu bringen. Das
Mittel, wodurch dies gelingen soll, bestehe darin, daß man erweichende
Dämpfe einatmen, Mund und Nase verschließen und dann starke Ver-
suche zum Ausatmen anstellen lasse (Valsalva scher Versuch), wo-
durch die Dämpfe in die Tube gelangen, ein Verfahren, das heute in
England zum Einbringen von Salmiakdämpfen mehrfach Verwendung
findet.
Obzwar die Methode des Katheterismus durch die Nase bald
die allein herrschende wurde und der größte Teil der Aerzte den Ka-
theterismus durch den Mund als unausführbar verwarf, bemühten sich
anfangs doch manche, die Methode Guyots auszubilden. Zu diesen
zählt besonders van Swieten, Gisbert ten Haaf®) u. a.
Die beste Ausbildung erfuhr die Cleland sehe Methode zunächst
in Frankreich, wo Sabatier^) einen geeigneteren Katheter konstruierte
und dadurch die Applikation wesentlich erleichterte. Er war aus Silber
gefertigt, besaß eine Krümmung von 130 ®, war 4" lang, V dick. An
seinem Ende befand sich ein Schraubengang zum Aufschrauben einer
Spritze. Um die Lage des in die Nase eingeführten Instruments sofort
zu erkennen, trug der Katheter am hinteren Ende eine kleine Platte,
die mit der Biegung des Rohres korrespondierte.
In Deutschland erschien 1786 eine Uebersetzung der Abhandlung
Wathens unter dem Titel: „Wiederherstellung des Gehörs durch
eine leichte chirurgische Operation" (Altenburg 1786). Obwohl
der Verfasser, gestützt auf mehrere höchst instruktive Fälle, den Ka-
theterismus eindringlichst empfahl, kam das Verfahren doch nur sehr
langsam in Aufnahme, da der größte Teil der Aerzte infolge anatomi-
scher Unkenntnis und abgeschreckt durch die Abneigung der Patienten,
es vorzog, bei dem alten Schlendrian zu bleiben, d, h. bei therapeutischen
334 I^ KaUirtgriiMM der Fnrfariiifhen Oiumuficte.
Maßnahmen« die sich ledij^ch auf rohe Empirie, nicht aber auf ratioiielle
anatomisch-physiologische Grundlagen sifitzten. So kam es. daB man za
einer Zeit, als der Katbeterismos langst bekannt war. noch immer wahl-
los zu den eingreifendsten Operationen, zur TrommelfellpeifbratioD oder
zur Durchbohrung des Warzenfortsatzes griff. Selbst in En^and empfahl
Sims, der manche interessante Beobachtung fiber die durcb Erkran-
kungen der Ohrtrompete Terursachten Hörstorungen machte, alles eher als
den Katheterismus. Die wichtigsten Heilmittel waren ihm Gurgelwisser,
Blasenpflaster, Schröpfen, Purgiermittel, Fontanellen oder der einfache
Valsal Tasche Versuch. In seiner Abhandlung .Obsenraticms oa deaf-
ness from Affections of the Eustachian tube*^^) sagt er über den Ea-
theterismus: «Durch den Mund scheinen die Einspritzungen beinahe gar
nicht möglich zu sein, durch die Nase hingegen sind sie bisweilen ge-
glQckt. Die zu den Einspritzungen Terwendete Flüssigkeit kann in die
Luftröhre fallen und einen heftigen Husten erregen, oder, was Ton
größerer Wichtigkeit ist, es kann selbst der geschickteste Wundarzt nie
gewiß sein, ob er die Spitze der Spritze wirklich in die Oeffnung der
Eustachischen Röhre eingebracht hat."" Viele andere bedeutende
Männer hielten die AusflQhrung des Tubenkatheterismus f&r undurch-
führbar oder für unsicher in der Ausführung, so der berühmte Chirurg
Benjamin Bell aus Edinburg^^) und der Franzose PortaP-).
Solche absprechende urteile sonst trefflicher Autoren können umso
weniger befremden, wenn man erwägt, daß der Katheterismus der Ohr-
trompete infolge der unvollkommenen Instrumente jener Zeit nur den ge-
schicktesten Händen zugänglich war. Es bedurfte erst der Erkenntnis,
daß der Tubenkanal die Haupteingangspforte für therapeutische Agenzien
in das Mifctelohr bilde, um der Ohrtherapie einen wissenschaftlichen Hinter-
grund zu verleihen. Diese Erkenntnis war das Verdienst der französischen
Otologen aus dem Anfange des 19. Jahrhunderts, eines Saissy, Itard,
Deleau. Der letztgenannte namentlich bahnte durch die Einführung der
elastischen Katheter und der Luftdusche die weitere Vervollkommnung
dieses wichtigen therapeutischen Eingriffes an. — In Deutschland hat sich
später W. Kr am er um die Ausbildung der Technik des Katheterismus
verdient gemacht.
') Dictionnaire des sciences medicales 1819. 38. p. 102. — -) Histoire de
rAcademic Royale des sciences 1724. p. 87. Les Anatomistes ne croyoient point que
cette Trorape put §tre seringuee par la bouche; cependant M. Guyot Mattre de la
Poste ä Versailles a trouve pour cet usage un Instrument que l'Academie a juge
tres inpenieux. La piece principale en est un Tuyau recourbe , que Ton insinuS au
fond de la bouche, derriere et au dessus du Palais, a dessein de Tappliquer au
Pavillon do la Trompe qu'on veut-injecter. On en lave au moins Tembouchure ce
qui peut ötrc utile en certains cas! — ') Phil. Transact. Vol. 41, P. 2, for the yearg
1740, 1741, erschienen 1744. The following Instruments are made to open the
Der Eatheterismus der Eustachischen Ohrtrompete. 335
Eustachian Tube: If, upon Trial, it should be found to be obstructed, tbe Passage
is to be lubricated by throwing a little warm water into it by a Syringe to a
flexible silver Tube, which is introduced tbrough the Nose into the oval opening of
the Duct at the posterior opening of the Nares, towards the Arch of the Palate. The
Pipes of the Syringe are made small, of Silver, to admit of bending them, as occttsion
ofFers; and for the most part remsemble small Catheters: they are mounted with a
Sheep's Ureter ; the other End of which is fixed to an Ivory Pipe ; which is fitted to
a Syringe, whereby warm Water may be injected: or they will admit to blow into
the Eustachian Tube, and so force the Air into the Barrel of the Ear, and dilate
the Tube eufficientely for the Discharge of the excrementitious Matter that may be
logded there; the Probes which are of the same Sbape with the Pipes, have small
Notches near the Points, which take in some of the hardened and glutinous Matter,
that is contained in those Tubes, which is distingueshed by the fetid Smell, when the
Probes are withdrawn. There is another Kind of Deafness, which proceeds from a
violent Clap of Thunder, Noise of Cannon, or the like. In this case, it is probable, that
the Position of the Membrana Tympani is altered, being forced inwards upon the
small Bonos, and so becomes concave outwardly. In this case no Vibration of Sounds
will be communicated to the Drum, until the Membrane has recovered the normal
Position. The Means, proposed to remedy this Disorder, are first (if the Person heard
very well before ; and it be not too long after the Accident has happened) to oblige
the Patient to stop bis Mouth and Nose, and force the Air tbrough the Eustachian
Tube into the Barrel of the Ear, by several strong Impulses. But if, by any Accident,
the Excrement is hardened in the Tube, or the Orifice of it, which opens into the
Barrel of the Ear, should be stopped up, so as that no Air can be forced that Way,
the second method proposed, is to introduce into the meatus auditoriua extemus an
Ivory Tube, as near to the Drum can be done, and so exactly fitted, that no Air
can go in or out, between the Skin of the external Meatus and the Tube. When it
is thus fixed, I take the further small End in my Mouth, and by degrees, draw out
what Air is contained; and I believe it will act like a Sucker upon the Membrane,
and draw it back to its natural State; and then the Person will hear as before.
(Phil. Trans. Vol. 41, Pt. 2, p. 848 flP.) — *) Anatomie chirurgicale, Paris 1753, Tome II,
p. 472. — *) A Method proposed to restore the Hearing, when injured from an Ob-
struction of the Tuba Eustachiana, Phil. Trans, read (May 1755) for the year 1755,
Vol. 49, Lond. 1756. — ') Convinced of this Monsieur Petit proposed, and that
leamed and skilful Mr. John Douglas first demonstrated the possibility of passing
the probe etc., tbrough the nose into the Eustachian tube : and this he has constanUy
shown to those who have attended bis public lectures; and to him I freely acknow-
ledge myself indebted for tbe hint, by which I was incited to make trial on the
living of an Operation of so much importance to mankind. — *) The pipe is made
of silver, about the size and length of a common probe, and a little bent a the
end: this being fixed to an ivory syringe, füll of liquor (a little mel rosarum in
wami water) must be introduced between the ala and septum of the nose, with its
convexity towards the Upper part of the aperture of the nares; and thus continued
baekwards, and a little downwards, tili it comes near the elliptic orifice; then ita
convexity is turned toward the septum, by which the inflected extremity enters the
tuba Kustachiana with ease; the liquor is then impelled throngh it into the tube^
by which the sordes, if any, being diluted, is washed out, and regurgitates tbrough
the nose, or mouth, or both with the injection. — *) Verhandelingen van het Cataafsch
Tenootschap der proef enden vindelyke Wysbeg eerte te Rotterdam. Deel V, p. 216, 1780.
— ®) Diction. des sciences mödicales. T. 88, p. 106. — '•) Memoirs of the Medical
336 l^ic kfinttliche Perforation des Trommelfells.
8ociety of London 1787, VoL I, p. 94—117. — ") A SystÄm of Surgery, 7* ed.
Edinb. 1801, Vol. V, p. 105 u. 106. — ") Preci« de Chirurgie pratique. Pari« 175S,
VoL IL p. 481.
Die kfinstliehe Perforatioii des Trommelfells.
Um die Wende des 18. Jahrhunderts wurde die praktische Ohren-
heilkunde durch ein Verfahren bereichert, das ursprQnglich ganz rationell
ersonnen, infolge planloser, mißbräuchlicher Anwendung bald wieder in
Mißkredit kam. Wir meinen die zuerst Ton Astley Cooper in größerem
Maßstabe ausgeführte Durchbohrung des Trommelfells.
BeTor wir auf die Geschichte dieser Operation eingehen, müssen
wir auf mehrere Vorlauf er Coopers, yor allem auf den bereits ge-
nannten Riolan den Jüngeren hinweisen.
Zunächst sei auf die Experimente Terwiesen, die Valsalva in Nach-
prüfung der Versuche des Th. Willis an Hunden anstellte, um zu er-
forschen, ob sie infolge der Perforation des Trommelfells das Gehör ver-
lören. Solche auch Ton anderen Anatomen und Physiologen wiederholte
Experimente brachten Cheselden (1688 — 1793) 0, den Vater der eng-
lischen Chirurgie, auf den Gedanken, hierüber auch am Menschen zu
experimentieren. Die sich einmal bietende Gelegenheit, die Operation an
einem zum Tode Verurteilten vorzunehmen, konnte jedoch aus äußeren
Gründen nicht ausgeführt werden. Cheselden vermochte daher, nur auf
theoretische Argumente gestützt, den Rat zu erteilen, die Perforation in
Fällen zu machen, wo die Schallfortpflanzung durch eine Affektion des
Trommelfells behindert ist.
Den Einschnitt in das Trommelfell bei Eiterungsprozessen
der Trommelhöhle riet schon Julius Busson im Jahre 1748 2) an*). Im
Jahre 1760 soll bereits ein in Frankreich herumziehender Kurpfuscher,
namens Eli, wie in Hallers (junior) Briefen^) zu lesen ist, die Operation
mit Erfolg an tauben Menschen vorgenommen haben. In England war
es der Edinburger Professor Peter Degravers (1788), der in roher
Weise die Operation versuchte, indem er in einem Falle von Schwer-
hörigkeit zweimal das Trommelfell einschnitt und wieder zuheilen ließ.
Portal*) warf die Frage auf, ob es nicht vorteilhaft sei, bei
starker, unheilbarer Verdickung des Tromraelfells eine Oeffnung in das-
selbe zu machen, im Gegensatze zu Sabatier, der vorschlägt, bei Er-
schlaffung dieser Membran das gleiche zu tun. Der Italiener Monteggio*)
J)rannte mit Höllenstein ein Loch ins Trommelfell, welches jedoch nach
*) DicHclbe Indikation, nämlich bei eitrigen Mittelohrerkrankungen die Para-
centx^se auszuführen, stellten auch ypäter Alard (Essai sur le catarrhe de l'oreiJle,
I. «'id. 1803. — II. cd. 1807. Paris) und Yearsley.
Die künstliche Perforation des Trommelfells. 337
wenigen Tagen zuheilte, ohne daß eine Besserung der Schwerhörigkeit
eintrat.
In Deutschland war es der berühmte Göttinger Okulist E. Himly^),
der auf Grund von Experimenten an Hunden und gestützt auf Versuche
am Trommelfelle von Leichen, schon 1797 — 99 die Operation bei Ver-
schließung der Tuba empfahl, wenn der Tubenverschluß durch andere
Mittel nicht behoben werden könne.
Astley Cooper'), der in den Phil. Trans, der Jahre 1800, 1801 von
Erfolgen berichtete, die er mittels der Trommelfelldurchbohrung erzielt
hatte, begründete sein Verfahren durch die Annahme, es könnte hiedurch
eine Art von Substitution für die undurchgängige, verstopfte Eustachische
Röhre geschaflfen werden. Da die Perforation an sich das GehörvermögQn
nicht beeinträchtige, so werde sie in allen Fällen, wo die Wegsamkeit
der Ohrtrompete aufgehoben sei, von Nutzen sein. In der Tat konnte er
von einer völligen Restitution des Gehörs in drei Fällen berichten, in
denen die Perforation vorgenommen worden war. Sehr bald jedoch
schwand seine Siegesgewißheit; denn nachdem er das Verfahren bei-
läufig 50mal versucht hatte, mußte er infolge ungünstiger Erfahrungen den
optimistischen Erwartungen des Publikums und der Aerzte oflfen ent-
gegentreten und erklären, daß die Operation nutzlos sei, da es kein
Mittel gebe, die künstliche Oeflfnung offen zu erhalten, und nach der
Verwachsung der Lücke die Schwerhörigkeit meist noch hochgradiger
sei als vor der Operation.
Trotz der Resignation ihres Erfinders wurde die Operation ijoch
lange übt und alle Mühe daran gesetzt, das Instrumentarium zu ver-
bessern*). In Frankreich waren es vornehmlich Trucy®), Ribes, Du-
bois, Celliez^), Alard, Parois und Maunoir^®), die die Perforation
meist mit ungünstigem Erfolge ausführten. Auch die Resultate Itards
und Deleaus, die auf die schon fast vergessene Operation die Auf-
merksamkeit lenkten, waren nichts weniger als ermunternd. Itard hat
die Paracentese bloß zweimal mit günstigem Erfolg ausgeführt, einmal
bei Verschluß der Tube, das andere Mal bei einem Taubstummen,
bei dem die Trommelhöhle mit Schleim erfüllt war, den er durch
wiederholte Einspritzungen entfernte. In England wendeten u. a. Saun-
ders und Yearsley die Operation an, letzterer nur in Fällen von eitriger
Otitis. Saunders hält die Operation auch bei Empyem der Trommel-
höhle indiziert. Bei den vielen Operationen konnte er nur von einem
glücklichen Fall Mitteilung machen, in dem es sich um Tubenverschluß
*) Verbesserungen des Perforationsinstmments nahmen vor: Himly, Saissy,
Asbury, Lang, Rust, Celliez, Paröisse, Fuchs, Travers, Itard,
Maunoir, Arnemann, Richerand, Delean, Graefe, Fabrizi, Linoke.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 22
infolge eines syphilitischen RacheiigesehwUres handelte. In den Niederlandea
handhabten der Utrechter Nieuwenhuis ") und die beiden Brüsselei»
Aerzte Andrt? und Neubur^**) das Verfahren und berichteten ins-
besondere bei Taubstummen über glänzende Erfolge. Hendriksz '"), Vor-
stand der Taubstummenanstalt in Grfiningen, sah sich sogar veranlaßt, nach
Brüssel zu gehen, um sich von den Resultaten zu überzeugen, teilte aber
durchaus nicht den Enthusiasmus der beiden Genannten, In Deutschland
wurde die Perforation bei den verschiedenartigsten Fällen mit vorwiegend
ungünstigem Ausgange ausgeführt. Wir verweisen auf die einschlägigen
Schriften von Himly, Neuß'*), Michaelis^»), Hunold^«), Rust"),
Trosiener '*), Lang, de Graefe, J. S. Beck'"), Kaverz*"),
Nasse*') etc.
Fftbrizi-Lincke *') erklären die Operation auch zu lediglich dia-^
gnostischen Zwecken zulässig, eine Ansicht, der eine gewisse Berechtigung
nicht abgesprochen werden kann. In dem Maße, als die Technik de4:
Katheterismus Fortschritte machte, wurde die Trommelfellperforation ia-
ihren Indikationen eingeschränkt.
Die Indikationen, wie sie anfangs gestellt wurden, waren in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle vollkommen verfehlt ; die verschiedensten Arten von HörstBrungen,
Taubheit, Taubstummheit, Verdickung des Trommelfells und vor allem Tubenver-
scbluS galten als Anlaß, die Trommelt'ellparacentese durchzuführen. Nur wenig«
(wie Alard, BusBon und Yeareley) wollten die Operation auf eitrige Mittelohr-
erkrankungen beachrünkeü.
Was die Technik der Operation anlangt, so machten Astle; Cooper u. a. die
einfache Perforation im unteren Abaohnitte des Trommelfells mittel» Troikart {det
nicht Ober l'/t Linien vordringen sollte, um Verletzungen au vermeiden). Hirn!; d. lu
nahmen mit einem Hohl- oder Locheisen ein Stückchen der Membran heraus (Trepa-
nationsmethode). Richerand empfahl die Kauterisation (Aetzmittel). Behufi Ver>
meidung der Wiedcrverwachaung legte man Darmsaiten oder Metallröhrchen ein.
Im Jahre 1843 tauchten wieder Mitteilungen Über die einst so häufig
ausgeführte Operation auf. Hubert-Valleroux erklärt sich in diesem
Jahre als ihr entschiedenster Gegner, indem er auf zwei Todesfälle hin-
weist, die angeblich nach der Paracentese eingetreten -sein sollen. Einig»
Zeit später wurden auch von einem englischen Arzte zwei tödlich ver-
laufene Operationen mi^eteilt. Die Berichte Valleroux' und des eng-
lischen Arztes sind jedoch so ungenau, daß ihren Angaben wenig Wert.
beigemessen werden kann.
Obwohl von den verschiedensten Seiten über Mißerfolge berichtet
worden war, sehen wir auch hier das traurige Schauspiel in der Otologie
sich wiederholen, daß nutzlose und aufgegebene Methoden nach Ablauf
einer Reihe von Jahren wieder als neu auftauchen, daß die Menge, ohne
Kenntnis der früheren Mißerfolge, durch angeblich glänzende Resultstd
verblBSl wird, bis sic> bermaligen Enttäuschungen wieder die
Die künstliche Perforation des Trommelfells. 339
Wertlosigkeit der Methode herausstellt. Wir meinen die bis über die
Mitte des 19. Jahrhunderts reichenden fruchtlosen Versuche Deleaus,
Bonnafonts, Philippeaux' und Joseph Qrubers, die Operation
wieder in die Praxis einzuführen.
*) Anatomy of human body. Lond. 1756, p. 306; übers, von Wolf, Götting.
1790, p. 296. — ') Qnaestio an absque membranae tympani apertura topica in
concbam injici possint. Parisiis 1748. — ') Epist. ad Hall, script. 1760, Vol. IV,
p. 320. — *) Precia de Chirurgie pratique. Paris 1768, Vol. II. p. 480. — *) Instit
chir. Ticinenses 1798, T. VII. — «) Com. societ. Götting. 1809, Vol. XVI. — ^ Ob-
servations on the Effects which take place from the Destruction, of the Membrana
Tympani of the Ear. Phil. Trans. 1800, P. I, p. 151. — Further Obs. on the Effects
which take Place from the Destruction of the Membr. Tymp. of the Ear, with an
Account of an Operation for the Removal of a particular Species of Deafness.
Ibid. 1801, Vol. XIX, p. 485—450. — Dictionary of practical surgery. Lond. 1825. —
*) Consid^rations sur la Perforation de la membr. du tymp. Paris 1802. — •) Obser-
vations sur une maladie de Torgane de Touie guerie radicalement par la Perforation
de la membran du tympan. Im Journal de med. chir. pharm, etc. par Corvisart,
Leroux et Reyer. T. IX, p. 106. — ^**) Ibid. — ") Diss. med. inaug. sist. momenta
quaedam de surditate per puncturam membr. tymp. curanda. Traj. ad. Rh. 1807. —
^') Memoires et observations sur la perfor. de la membr. du tymp. Bruxelles 1827.
— **) Diss. de perfor. membr. tymp. Groening. 1825. — ") Diss. de perf. membr.
tymp. Goett. 1802. Gott Anz. 1802, p. 2085. — *') Michaelis und Himly, Weitere
Untersuchungen u. Verb. Über den Paukenfellstich (Bibl. f. Ophth. T. I). — *«) Ueber
die Durchl. d. Trommelf. Rudolst. 1810. — ") Salzb. med.-chir. Ztg. 1813, Bd. III.
— '*) üeber d. Taubh. u. ihre Heilung mitt. der Durchstech, d. Trommelf. Ber-
lin 1806. — '*) Diss. de tymp. perf. in surditatis cura cautius rariusque adhibenda.
Erlang. 1806. Salzb. med.-chir. Ztg. 1807, II, p. 218, — ") Diss. de perf. tymp.
Argentorati 1807. — -*) Bem. über A. Coopers Durchb. des Trommelf. Hufelands
Journ. der prakt, Heilkunde. Berlin 1807. — *') Ueber die am Ohre vorkommenden
Operationen. Leipz. 1842, p. 115.
Dissertationen über Pathologie und Therapie des Gehörorgans
im 18. Jahrhundert.
Es würde zu weit führen, hier auf die zahlreichen die Pathologie
des Ohres behandelnden Schriften und Dissertationen dieser Periode näher
einzugehen. Wir beschränken uns deshalb auf die Inhaltsangabe einiger
Publikationen, die ein anschauliches Bild der Ansichten zeitgenössischer
Aerzte über die Erkrankungen des Ohres liefern.
Martin Naboth. De audita difficiii, Halle 1703. In den ersten Kapiteln
dieser Dissertationsscbrift . die ein Jahr vor YalsaWas Tractatus de aure humana
erschien, beschäftigt sich der Antor eingehend mit den Ursachen der Schwerhörigkeit.
Er führt als Grund von HörstOningen an: Veränderte Form der Ohrmuschel, voll*
kommener Mangel derselben, Zeruminalpfropf im äußeren Gehörgange; Yerengening
desselben durch Tumoren der Parotis; Ezcreszenzen, die vom Trommelfelle aus-
gehen, Fremdkörper im äußeren GehÖrgange, femer Spannung, Schlaffheit, Ver-
härtungf. Verdickung, Perforation und Abschürfung des Trommelfelle. Wie irr-
tflmltch die KrunkheiUs^mptone damals gedeutet wurden, beweist die Annahme
Nalioths, daß infolge übermäßiger Sekretion seröaer Fiüasijjkeit durch die Zeturaina,!-
drflaen das Trommelfell erschlaffe '). Als Beweis hierfür werden FBlIe angeführt, bei
denen nach einem heftigen Schlag auf den Kopf eine reichiiehe Ausscheidung seröser
Flüssigkeit aus dem Ohre eintrat, ein Symptom, welches annehmen \ä&t, daB es sich
in den zitierten Fällen um Auetritt von ZerebroapinalHüasigkeit durch den liuSeren
Gehörgang nach vorangegangener Baaigfraktur des Schädels gehandelt haben dürfte.
Was die Therapie der Ohrevkrankungen anlangt, so steht Naboth noch gani im
Banne des IT, Jahrhunderts.
*} § ^I: quam Inxitatem infenint glandulae aarium ceramen separantes, «i
loco ceruminis humorem limjjidioreni eumque aatis copioae aecernunt, noa minus
miaeri damnum eiperiuntur.
Job. Aug, Bivinus, Von größeren] Interesse ist die Dissertations-
schrift „De auditus vitiis'' (Lipsiae 1717) von Job. Aug, Bivinus
hauptsächlich deshalb, weil Rivinus im KoroUarium deu Nachweis zu
erbringen sucht, daß das normale Trommelfell am vorderen oberen Pole
eine OefFnung besitzt, eine Behauptung, die keineswegs neu war, hier
aber wieder von neuem als These aufgestellt wurde und noch lange
nachher ein Streitobjekt der Anatomen bildete. Des historischen In-
teresses halber soll die zusammenfassende Darstellung des langen Streites
über das Foramen Rivini später ihren Platz finden.
Was den sonstigen Inhalt dieser Dissertationaschrift anlangt, so gilt im großen
und ganxen von ihr dasselbe wie von derNabotha, wie flherhaupt alle Diasertations-
schriften öher das Gehörorgan in diesem Zeiträume nnr eine Kompilation desaen
darstellen, was in vergangener Zeit von älteren Autoren Ober die Krankheiten des
Ohres mitgeteilt wurde. Dessen ungeachtet wollen wir einigeii herausgreifen , dem
vielleicht hiHtorischea Interesse innewohnt. Rivinus weiß bereits, daß Ansammlung
von Schleim in der Trommelhöhle die l'raache von Schwerhörigkeit sein kann, und
Ewar, wie er meint, aus demselben Grunde, aus dem bei Schnupfen, wo Schleim die
Naaenh5hle erfüllt, der Geruchsinn verloren geht'). Das S.vmptom der Parakuais
WilJisii versucht Rivinus dadurch zu erklären, daß ein schlaffes Trommelfell dm'ch
eine heftige Erschütterung der Luft «tilrker gespannt wird, wodurch ein leiserer
Ton wahrgenommen werden kann'). Das Ohrenklingen führt er auf eine kon-
vulsivische Bewegung der Muskeln der OehOrknQchelchen und des Trommelfells zurück.
') § XXIX. Profecto in aubjectis pituitosis necesaum est pecire uuscultandi
facultatem, si tota cavitaa repleatur muco viscido, quemadmodum ohservamus ol-
factum extingui , si talis pituita narea obstruiit. — °) § XLl. Quorum ratio procul
dubio fuit. quod via lasior tympani membrana validiore afria motu et soni vehemen-
tioris impulsu itliquantum et eo usque tendebatur, quo lenioris aoni vibratiouem
«uacipere |Kituerit,
Der Streit über da.s Foramen Rivinf.
Vom Ende des 17. bis tief hinein ins 18. Jahrhundert war die Frage, ob das
Trommelfell überall geschlosaen sei oder im normalen Zustande eine Oeffuung heütie.
Foramen Rivini. 341
Gegenstand einer scharfen Kontroverse. Veranlassung hierzu gab eine 1689 gemachte
vermeintliche Entdeckung des Quir. Rivinus, die er 1691 dem holländischen Anatomen
Anton Nuck brieflich mitteilte. Rivinus glaubte nämlich im Trommelfell des
Schafes und Kalbes nahe dem Kopf des Hammers einen Hiatus mit fibrösem Sphinkter
aufgefunden zu haben, der in der Dissertation seines Sohnes Job. Aug. Rivinus
ausführlich beschrieben ist.
QuirinusRivinus forderte N n c k auf, den erwähnten Hiatus auch beim Men-
schen aufzusuchen und bekannt zu machen, weil man in Deutschland den EntdeckungCA
größere Anerkennung zolle, die von ausländischen Forschern publiziert würden.
Schon vor Rivinus hatten Colle, Marchetti und Valsalva ähnliche
Befunde konstatiert, doch verschieden gedeutet. Diese, sowie die von Schelf
hammcr, Yesling, Riolan, Cheselden u. a. gemachte Beobachtung, daß
es Individuen gebe, die im stände sind Tabakrauch durch das Ohr zu pressen, trugen
dazu bei, eine normale Oeffnung im Trommelfelle anzunehmen. Der erste, der das
Foramen schon vor Rivinus beim Menschen gefunden und als solches erkannt haben
soll, war Job. Munniks. (De re anatom. Utrecht 1697, p. 195.)
Die Anhänger des Foramen Rivini differieren aber nicht unwesentlich in ihren
Angaben. Munniks hielt es für eine Art Duplikatur, Rivinus beschrieb einen
Spalt, Valsalva wollte das Foramen stets offen, Rivinus der Jüngere stets ge-
schlossen gefunden haben, Cheselden und andere Autoren nahmen an, es sei durch
eine Klappe verschließbar.
Auch über die Lage des Foramen gehen die Ansichten der Autoren weit aus-
einander. So sucht es Rivinus ,prop6 mallei capnt", Munniks «sub chorda',
Cheselden „ubi circulus osseus est", Teichmeyer „ubi manubrium mallei desinit
et cervix incipit".
Zu den eifrigsten Verteidigern gehörten unter den Deutschen 0. P. Schott
(Diss. de aure humana, Straßburg 1719), J. A. Kulm (De auditu, Danzig 1724, Exer-
citatio physica de auditu, Sedani 1724—1728), Teichmeyer 1. c, Hofmann u. a.,
unter den Engländern Drake und Cheselden, unter den Franzosen Maloet.
Winslow und Valsalva drücken sich skeptisch aus und insbesondere Valsalva
hält es für nicht ausgeschlossen, daß es sich um ein Artefakt handle, womit er. dem
wahren Sachverhalte nahe kam.
Widerspruch gegen die Annahme des Foramen erhoben zunächst Schneider,
der die Erscheinung des Tabakblasens aus dem Ohre ganz richtig auf das nicht
seltene Vorkommen pathologischer Perforationen im Trommelfelle zurückführte.
Schließlich erklärten auch die größten Anatomen der damaligen Zeit, Morgagni,
Ruysch, Gasscbohm, Heister, Walther und schließlich Haller das Forameii
für einen pathologischen Befund. Morgagni bezweifelt auf Grund eigener Unter-
suchungen die Existenz des Foramen. Seine Versuche, die Oeffnung im normalen
Trommelfelle durch hohen Quecksilberdruck vom äußeren Gehörgang oder von der
Trommelhöhle aus nachzuweisen, ergaben stets ein negatives Resultat. Durch
ähnliche Versuche kam Walther (l. c.) zu demselben negativen Ergebnisse. Erst
H a 1 1 e r brachte durch seine gewichtige Stimme den Streit für einige Zeit zum Ver-
stummen, doch gab er zu, daß eine unvollkommene Bildung des Trommelfells (Collo-
boma) eine Spalte bedingen könne.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entbrannte der Streit abermals, als Boch-
dalek die Existenz eines Rivinischen Loches in der Nähe des kurzen Hammer-
fortsatzes verfocht. Doch gelang es Schmiegelow (Z. f. 0. Bd. 21) durch mikro-
skopische Serienschnitte nachzuweisen, daß im normalen Trommelfelle weder ein
Rivinisches Loch, noch ein mit Epithel ausgekleideter Kanal bestehe.
342 Hofmeister. Gniditach.
Joh. Heinr. Hofmeister befaQt sieb im ersten Teile Betner DiasertatioBMehrift \
,De organo auditus et eius vitiis" {Lugduni Bntavorum 1741) mit iler Ana-
tomie uDd Physiologie dea Gebörorgana (De atructura organi auditus et eius usa),
wobei ihm die ei nach lägigen Arbeiten Valsalraa, Duverneys und Cassebohms
als Vorlage dienen. Er hält noch an der alten Hypothese vom ,Ai.-r Jnnatus' fest.
Was den zweiten Teil seiner Arbeit. ,De morbis auditum adficientibua', be-
triSt, so wollen wir daraus bloß berv^orheben, daS ihm die Ankylose der GebSr-
knöchelchen sla Drsanhe von Taubheit bureita bebannt war. Kbenso wuBte er
auch, daß große Tumoren dci Gaumens und der Uvula, sowie große Polypen der
MaBenhBhle das Gehör beeinfluasen kiännen, und bezog dies richtig darauf, daß diese
GeBchwOlste den Zugang lur Ohrtrompete verlegen und den Kiotritt von Luft in
Trommelhohle verhindern. Hofmeister nimmt nun an. daß die hier eingeacblossena
Luft sich infolge der Wärme ausdehoe. eine Auffassung, die unserer heutigen ent-
gegengesetzt ist. Ferner ist er noch in dem Glauben , daB in der Trommelhöhle
normalerweise fortwährend Flüssigkeit sezecniert werde. Die Tatsache , daß bei
Zahnschmerzen oft der Scbnierz in daa innere Ohr tokalieiert wird, erklärt er
der Anastomose des V. mit dem Vll. Hirunerveii in der Chorda tympaui. Von In-
teresse ist die von ihm vertretene Ansicht über die Entstehung einer Labyrinth-
eiterung, die er darauf zurückführt. daS der in der Trommelhöhle atch stauende Eiter
nach Arrodierung des ovalen und runden Fensters über die beiden Treppen in d
Schnecke') gelange.
Zum Schlüsse wollen wir noch erwähnen, daß Hofmeister eigene von ih
ersonnene Instrumente in Vorschlag bringt und zwar das eine zur Exstirpation vi
Polypen dea Ohres') und ein anderes (eine gekrümmte Pinzette) zur Entfernung vi
Fremdkörpern aus dem äußeren Gebörgange ').
In der kurzen Bchrift .Casum aegroti auditu difficili ex coüuv
serosa laborantia sponte saaato' (Argentorati ITSB) erörtert der VerfoBsor
Georg Daniel Wibel im Anschlüsse an eine uninteressante Krankengeschichte
einige anatomisch -physiologische und patbologjsch-therapeutieche Details des Gehör-
organs und zitiert hierbei ausführlich Valealva, Davernej, Schelhami
Willis. Ha 11 er u. n., ohne aua Eigenem Beobachtungen hinzuzufügen.
Bei Besprechung der Therapie erwähnt er zum ersten Male als Heilagens die
Elektrizität, welche, wie zahlreiche von ihm erzielte Erfolge beweisen, bei der
Heilung von Schwerhörigkeit und Ohrensausen eine große Bolle spiele (b. Actia
Suecicis 175*2. Vol. XIH, p. 305; Vol. XV, p. 141; Vol. XXVIl, p. 207. Pbilowph.
Transact. L. 697. Comm. Bonon. Tom. 111. p. 460). Demgegenüber behauptet LinnäuB
in den ,Consectariis electricomedicis Upsaliae 1754', daß die Elektcitität bei durch
Katarrh des Mittelohrs bedingter Schwerhörigkeit unwirksam sei.
') § LXl. Fun in tympano stagnanti, i:oasampta vel ovalie vel rotunda fenestrM
membrana, facilis datur per sculas ad cochleam via. — ') § LXXII. — ') § LXXV.
Auf etwas hOberem Niveau steht die Dissertation ,De morbis membrs
tympani" (Lipsiae 1780) dea Peter Gniditsch. aus der wir als erwähnenswert
hervorheben, daß der Autor für die Unbeweglichkeit des Trommelfell» zwei Uab-
Stande verantwortlich macht: I, Fremdköriier. die längere Zeit im äußeren OebSr-
gange verweilt haben, und 2. Verschlufl der Ohrtrompete. Da hiebe! der Ein- und
Austritt von Luft verhindert sei, so verbleibe das Trommelfell, fortwährend in der-
selben Stellung, wodurch die Gehörknöchelchen filiert werden '). Bei Retraktion des
Trommelfells empfiehlt Gniditach, wohl nicht als erster, vom Patienten ttogtu-
filbrende kräftige Respi ratio nsbewegungen bei Verschluß von Mund und Naae (VaJ-
Trampel, 848
salva^scher Versuch) und ferner das Ansaugen von Luft aus dem äußeren Gehörganga
mittels eines Rohres') (s. Simeon, Reusner).
*) § IX. — ') § X. Ad membranam autem, quae ad interiorem cavitatem
recessit, in suam planitiem restituendam, proficit interdum exspiratio violentius acta,
quam dum aeger intendit, oportet eum ceteras vias per quas a6r egredi solet» claudere;
id quod praestatur immisso in aeris meatum tubo, cuius alterum ostium ad mem-
branam adplicatur, alterum ore firmiter continetur aeris attrahendi et exsugiendi causa.
Erwähnung verdient hier femer Wildberg, der im dritten Bande seines oben
besprochenen Werkes die Pathologie des Ohres behandelt und sich außer durch die
Ueberlieferung der Leistungen seiner Vorgänger nur durch die Aufstellung einer
schärfer charakterisierten Einteilung der Ohraffektionen verdient machte. FQr die
Hyperästhesie, Hypästhesie schlägt er die Benennungen Oxycoia und Dysecoia vor,
während Parakusis die Gehörstäuschungen bezeichnen soll.
Trampels umfassende populäre Abhandlung*), an der Wende des Jahr-
hunderts publiziert, ist noch ganz vom alten Geiste durchweht. Sie enthielt kaum
etwas Neues, obwohl ihr ein praktischer Wert für ihre Zeit nicht abgesprochen
werden kann. Das Verdienst ihres Verfassers liegt lediglich darin, daß er gegen die
unvernünftige planlose Empirie auftrat, die vorschnelle Anwendung der Durchbohrung
des Warzenfortsatzes widerriet, resp. lediglich auf die Karies beschränkte und daß
er einige allerdings höchst verfehlte Versuche machte, die Diagnostik zu erweitem.
Trampel meinte, aus dem Verhalten des Kranken auf den Sitz des Leidens
schließen zu können. Bei denen, die durch Hörrohre deutlicher hören, liege die
Ursache der Schwerhörigkeit entweder im Trommelfell allein oder in den Hammer-
muskeln oder in beiden zugleich. Helfe das Hörrohr nichts und höre der Kranke
nur bei geöffnetem Munde, dann liege die Ursache im Trommelfell und allen mit
ihm in Verbindung stehenden Werkzeugen. Zur Behandlung nervöser Taubheit
empfahl er eine Art von Luftdusche durch den Gehörgang, da er sich vorstellte, daß
das Trommelfell und die mit ihm in Konnex stehenden Teile durch abwechselnde
An- und Abspannung an Tonus gewännen.
Besonders ausführlich verbreitet sich Trampel über die Folgen, welche die
übermäßige Ansammlung des Ohrschmalzes mit sich bringt. Zur Beseitigung be-
diente er sich der Einspritzung von wässeriger Kochsalzlösung.
In gleichem Geiste wie die Schriften der genannten Autoren sind auch die
mit großem Fleiße und oft mit scharfsinniger Kritik zusammengestellten, das ganze
Gebiet der Otiatrie umfassenden Abhandlungen gehalten, deren Literatur wir im
Anschluß an diesen Abschnitt folgen lassen. In keiner findet sich eine auch nur
geringfügige Erweiterung des Wissensgebietes.
Nicht unbeträchtlich ist auch die Zahl der Schriften, die nur einzelne
Kapitel der Ohrenheilkunde zum Gegenstand ihrer Darstellung haben. Unter
diesen ragen die Arbeiten von Adolf Murray ^), Joh. Fr. Cartheuser') und
Joh. Gottl. Leiden fr ost') hervor. Murray beschrieb einen Fall von Kariei
des Felsenbeins und Warzenfortsatzes mit Sektionsbericht« Die beiden anderen
Autoren bemühten sich, die Ursachen der subjektiven Gehörsempfindungen zu er-
gründen. Nach Cartheuser wird das Ohrenbrausen durch Bewegung der Trommel-
höhlenluft bei verstopfter Tuba Eostach., das pfeifende Ohrpochen durch erhöhte
*) Wie erhält man sein Grehör gut und was fängt man damit an, wenn es
fehlerhaft geworden ist? Hannover 1800, 1808, 1821, 1822. Als zweite Ausgabe
mit Zusätzen von Chr. J. Menke, HannoTer 1824 u. 1882. Mit 2 Abb. Wien 1832.
Paliation der dem Ohre naheliegenden GefUBe, sowie der Trommel feil arte rien beding
Die Pulsatioa der Arterienzweige in der Schnecke und den Bogengängen soll da«
Ohrklingen veranlftsten. Leidenfrost gab eine andere Erklärung. Nach ihm be-i
ruht das Ohrenpfeifen auf einem Fehler der Ohrtrompete, das Ohrenklingen auf
Nervenreiz oder nbnorraer Puleation der Arterien des Gehörorgans; das Obrenbrausen
werde am häufigat^n durch GleiehgewichtsstSrungen der GehCrgangs und Tromniel-
höhlenluft, Venenpulaation oder bisweilen durch Atrophie des Kinnbackengelenta
hervorgerufen.
*) AbscessuB anris intern, observatio. Tp^al. 1796. Anatomische Bemerkungen
Aber die Durchbohrung der Apophjeis mastoidea als Heilmittel gegen verBchiedeu«
Arten von Taubheit, In der E. Schwed. Akad. d, Wissenschaft, neuen AbhandluogeB
aus der Naturlehre. 1789. — ') Dies. d. eusurratione et tinnitu anrium. Francof. ad
Viadr. 1770. — ') Dias, de tinnitu aurium. Duiab. 1787. Dias, de susurru aurium,
Duisb. 1785.
Leschevin und Lentiii. Von größerem Werte sind die Abhaud*!
lungen Leschevins und Lentins, obwohl sie auch an dem großen
Fehler laborieren, daB die mangelnde diagnostische Kenntnis durch theo-
retische Erörterungen verdeckt wird. Am besten sind noch die Krank-
heiten des äußeren Gehürgangs dargestellt.
Leschevin (1732 — 1788), der eine anatomische Einteilung der
OhrafFektionen gibt, empfahl in seiner von der französischen Äkademia
der Chirurgie im Jahre 1763 preisgekrönten Abhandlung') zur Beseitignng
der häutigen Atresie an der äußeren Mündung des Gehörgangs kreuzweise
Durchschneidung mit einer Lanzette und Offenhalten mittels einer Wieke,
Sein Troikart zur Operation des häutigen Verschlusses des Gehörgaogt)
wurde noch von Velpeau empfohlen und verwendet*). Tieferliegende
Verscbließungen, die sich durch Taubheit und Stummheit (!) manifestieren,
sollen aufgeschnitten und durch eingebrachte Körper offen gehalten
werden. In anderen Fällen wandte er Aetzungen mit Höllenstein, Ein-
lagen Ton Darmsaiten etc. an; zur Entfernung der Polypen verwendete
er die Ligatur, das Messer, das GlUheisen und Aetzmittel.
Leschevin sieht als Ursache der Parakusis Willisii die Er-
schlaffung des Trommelfells infolge einer Lähmung des Hammernmskels an,
sei es durch Zerreißung der Sehne bei heftiger Erschütterung des Trommel-
fells, wie z. B. beim Niesen mit verschlossenem Mund und Nase, sei es
durch Zerstörung dieses Muskels infolge Trommelhöhleneiterung, Ein
Beweis für diese Annahme fehlt.
Charakteristisch fUr diese Zeit ist seine Behauptung, d&B Zer- .
reiBungen des Trommelfells unheilbar seien und unheilbare Taubheit be-
wirkten. Daß er zum ersten Male ein künstliches Trommelfell in Vor-
schlag gebracht hat, wie Meyer**) behauptet, läßt sich aus seiner Arbeit
•) Bonnafont. Traitö des malad, d, I'oreille. Paris IB60. p. 150.
*•) Wilb. Meyer in Schwartiea Handbuch d. Ohrenbeilk. JI. Bd.
Leschevin. Lentin. 345
nicht entnehmen. Leschevin meint nur, daß das Trommelfell, falls es
bloß zur Abhaltung der äußeren Schädlichkeiten dienen würde, durch
eine künstliche Membran ersetzt werden könnte. Da aber das Trommel-
fell auch anderen wichtigen Zwecken diene, so wären diese Bemühungen
fruchtlos.
Die subjektiven Geräusche bei Tubenverschluß erklärt Leschevin
aus der Verdünnung der Trommelhöhlenluft, nimmt jedoch merkwürdiger-
weise an, daß hierdurch das Trommelfell in den Gefaörgang hinein-
getrieben werde. Die Behauptung Meyers, Leschevin hätte das Ein-
sinken des Trommelfells bei Tubenverschluß schon gekannt, ist somit
unrichtig. Er wußte, daß venerische Geschwüre des Rachens und der
Nasenhöhle durch die Tube die Trommelhöhle infizieren können. Die
damals schon längst bekannten Einspritzungen durch den Tubenkanal
machte er mit einem gekrümmten anatomischen Tubulus bloß an Leichen.
Die größte Schwierigkeit bei Trommelhöhlenerkrankungen besteht nach
ihm darin, eine bestimmte Diagnose aufzustellen und überhaupt zu er-
kennen, ob die Trommelhöhle affiziert sei. Interessant ist, daß Lesche-r
vin die Vermutung ausspricht, bei Ausfall der tiefen Töne sei die Basis
der Spiralplatte, bei Ausfall der hohen Töne die Spitze erkrankt. Wenn
wir auch heute gerade das Umgekehrte annehmen, so hatte doch Lesche-
vin als erster die Idee, diesen Ausfall der Töne verschiedener Höhe für
die Diagnose von Labyrintherkrankungen zu verwerten. Uebrigens hielt
sie Leschevin für eine Hypothese, die durch keine auch noch so genaue
Beobachtung bewiesen werden könne.
Akute Ohrenkrankheiten konnten noch symptomatisch durch all-
gemeine oder lokale antiphlogistische Prozeduren behandelt werden. Der
Mangel rationeller Diagnostik verriet sich aber sofort, wenn es sich um
chronische Ohrafi'ektionen handelte. Recht deutlich zeigt sich dies in
der preisgekrönten Abhandlung^) Lentins, der sich sogar zu Hypothesen
über die krankhaften Veränderungen der Aquula Cotunni und deren
Heilung verstieg. Gurlt zählt Lentin zu den ersten Förderern der
wissenschaftlichen Ohrenheilkunde in Deutschland, weil er in richtiger
Einsicht eine enge Anlehnung an die Errungenschaften der Anatomie und
Physiologie inaugurierte. Doch verdient Lentin dieses Lob in keiner
Weise. Seine Theorien galten ihm als Grundlage für die Verwendung
der schon von Fonseca (Consult 58, Tom. II) und Laz. Rivieri (Prax.
med. Lib. III, c.) empfohlenen Merkurialsalbe. — Als ein Euriosum unter
den von Lentin aufgestellten Hypothesen sei seine Erklärung der Para-
kusis Willi sii erwähnt, nach der die Ampullen durch die Erschütterung
mit der knöchernen Labyrinthwand in Berührung kommen und den vom.
Knochen zugeleiteten Schall besser aufnehmen.
In der Benützung der Methoden und Operationen Wathens, Cle-
346 ^ur Literatur de& 18. Jahrhunderts.
lands, Jaspers u. a. zeigt Lentin sich sehr zaghaft; zur Reinigung
der verstopften Tube verwendete er eine silberne Sonde, die in eine
kleine, mehrfach durchlöcherte Platte auslief. Sie wurde mit einem
Stück Schwamm oder magerem Kalbfleisch armiert und an die Mün-
dung der Tube gebracht. Indem er das Schwammstückchen mit Seifen-
tinktur, Spiefiglanzwein oder Quecksilberauflösung durchtränkte, konnte
er die Tubenöffhung reizen und von angesammeltem Schleim befreien.
Er benützte ferner den Ohrkatheter zum Eintreiben von erwärmter Luft,
was immerhin hervorgehoben zu werden verdient, weil seine Vorgänger
und unmittelbaren Nachfolger, Gleland ausgenommen, ausschließlich
Flüssigkeiten zu ihren Injektionen verwendeten.
Schließlich sei mitgeteilt, daß Lentin durch folgende Experimente
den Verschluß der Tube festzustellen suchte. Er füllte den äußeren Qehör-
gang mit lauwarmem Wasser, ohne daß etwas überlief. War eine Per-
foration im Trommelfell vorhanden, so sickerte das Wasser nach einiger
Zeit durch. War ein Loch im Trommelfell und die Tube nicht ver-
stopft, so sah er Luftblasen aufsteigen, wenn der Patient bei Verschluß
von Mund und Nase kräftig ausatmete. War das Trommelfell unverletzte
und die Tube durchgängig, so lief durch die in die Trommelhöhle ein-
gepreßte Luft ebensoviel von dem eingefüllten Wasser aus dem Gehör-
gange über, als das Trommelfell nach außen getrieben wurde. War aber
die Tube verschlossen, so blieb das eingefüllte Wasser unbeweglich stehen.
') Memoire sur la theorie des maladies d. Toreille, et sur les moyens, que la
Chirurgie peut employer pour leur curation Memoires sur les sujets proposes pour
les prix de TAcademie Royale de Chirurgie. Nouv. edit. Tome IV, p. 67 sqq. (1776).
— ') Tentamen vitiis auditus medendi etc. Gott. Com. XI. 1793, übers, v. Nicens.
Mich. Alberti, Diss. de causis vitiorum auditus. Halae 1752. — Arne-
mann. Magazin für die Wundarzneiwissenschaft. Bd. II, St. 3. Bd. III, St. 1,
S. 143 — 150. — Andrieu, Avis sur les causes de l'aveuglement , de la surdit6 etc.
Paris 1780. — J. Baumer, Diss. Prodromus methodi, surdos a nativitatc reddendi
audientes. Erfurt 1749. — Benjamin Bell, A System of Surgery. 2. edit. Edinb.
1787. Vol. IV, Chap. 31, p. 343— 865. — R. A. de Bergen, Diss. de morbis auris
extemae. Frcf. ad Viadr. 1754. — Derselbe, Disp. de morbis auris internae. Ibid.
1754. — Böhm, Art. Hörröhrchen. In der deutschen Enzyklopädie oder Allg. Real-
wörterbuch aller Künste und Wissensch. Bd. XV. Frankf. a. M. 1790. — Borsieri,
Institutiones medicinae practicae. 8. Tom. III, p. 318. Lips. 1787. — A. E. Buechner,
Diss. sistens novae methodi surdos reddendi audientes physicas et medicas rationes.
Halae 1757. — Derselbe, Diss. de auditus difficultate, circa febrium acutarum
decrementum. Halae 1767. — Heinr. Callisen, Svstera der neuen Wundarznei-
kunst. A. d. Latein, v. Kühn. 4. Aufl. Kopenh. 1823. Tl. I, § 365—375, S. 175—180;
§ 1209, S. 807. Tl. II, § 266, S. 208; § 359-375, S. 271-281; § 551-553, S. 411-413
und §1053—1059, S. 767-768. — Chopart und Desaul t, Anleitung zur Kenntnis
aller chirurgischen Krankheiten und der dabei erforderlichen Operationen. A. d.
Franz. Pesth 1797. Bd. I, S. 157—176. — Joh. Gottl. Dennewitz. Diss. de
Zur Literatur des 18. Jahrhunderte. 347
mdiciis aurium in morbis. Halae 1754. — Desmonceaux, Trait^ des maladies
des yeux et des oreilles. Paris 1786. — Dionis, Gours d'operations de Chirurgie.
4. edit. revue par G. de la Faye. Paris 1740, 8^ p. 638—685. — Joh. H. Ferber,
Diss. sistens aegrum ulcere auris laborantem Erford. 1719. — Jakob Finckenau,
Diss. de tinnitu aurium. Regiomont. 1706. — Fischer, Diss. de dysoecoia seu
auditu difficili. Erford. 1720. — Peter Frank, De curandis hominum morbis epi-
tomc. Mannheim 1792. 8^ Tom. II, § 156—162. — Fr. W. Fritze, Diss. inaug.
med. sistens praecipuos aurium morbos. Francof . ad Viadr. 1789. — Karl Fried r.
Giebelhausen. De dignoscendis auditus vitiis. Halae 1799. — Joh. de Gorter,
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N e n t e r , Fundamenta Medicinae theoretico-practica, tom. 2, praxis specialis, tab. 23,
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der Wundarzneikunst. A. d. Ital. Leipzig 1790. Tl. I, S. 240. Tl. II, S. 546—551.
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Consulti Medici. Tom. 1. Consult. 36, p. 191. Impedimento di udito contumace con
dolore e debolezza nella Spina e neir osso sacro. Roma 1753. — Jean J. Perret,
Des instruments ä. percer les oreilles. Paris 1772. — Ch. Fr. Pistorius, Diss. de
causis vitiorum auditus. Halae 1752. — ZachariasPlatner, Institutiones chirurgiae
rationalis. Edit II. Lipsiae 1758. § 596, p. 329. — Portal, Lehrbegriff der prakt.
Wundarzneikunst. A. d. Franz. Leipzig 1793. Bd. II, S. 160—191. — S. Th. Quel-
malz, Programma de haemorrhagia auris sinistrae. Lips. 1750. — Derselbe, Pro-
gramma de obturatione meatus auditorius inprimis a polypo. Lips. 1752. — Konr.
Quensel, Abscessos auris intemae observ. Upsaliae 1796. — Sa.batier, Lehrbuch
für praktische Wundftrzte. A. d. Frans, von W. H. L. Borges. Wien 1800. Bd. III,
5. 404—411. — SaiiT»ff6a. MoM ^dioa. Amstelod. 1768. 4. Tom. L p. 182,
751—768. Tom. II - J. H. Sehe del, Diss. de tinnitu
auriom. Duisb* ' «nrdo andiente. Ultraject. 1694.
— Schmid, hiL Wilh. F. Schröter,
348 I^i^ Ohrenheilkunde bei den Chinesen und Japanern.
De auditu difficili. Halae 1741. — J. H. Schultze, Diss, de auribus manantibus et
ulceratis. Halae 1743. — Joh. Chr. Spillbiller, Diss. de otalgia. Jenae 1749. —
Trnka de Erzowitz, Historia cophoseos et baryecoiae. Vindob. 1778. — Jo. Christ.
Tschudius, Diss. de aurium medicina. Argentorat. 1710. — Derselbe, Otoiatria
8. aurium medicinae. Pars altera inauguralem morborum auris theoriam et prazim
continens. Basil. 1715. — J. B. Verduc, Trait^ des Operations de Chirurgie. Amstelod.
1739. 8*». Tom. I, Chap. XIII, Art. 1—8, p. 134—157. — Rud. Aug, Vogel, Aca-
demicae praelectiones de cognosc. et curand. praecipuis corp. hum. affectibus. GOt-
tingen 1772. 8^ § 170, p. 125, § 424, p. 326, § 583, p. 483, § 625, p. 519. — Sam.
Gottl. Vogel, Handbuch der praktischen Arzneiwissensohaft. Stendal 1795. Tl. IV,
Cap. 4, S. 95— 105. — Mich. Georg Volckamer, Diss. de otalgia. Altdorf 1733. — ■
Derselbe, Diss. de organo auditus eiusque vitiis. Lugd. Batav. 1741. — G. Ad.
Wedel, Diss. de auditus vitiis. Jenae 1705. — Jo. Ad. Wedel, Diss. de auditus
vitiis. Jenae 1720. — Wesener, Diss, de susuitu aurium. Duisburg 1785. — Winkler,
Prodrom, de latione audiendi per dentes. Lips. 1760. — Wepfer, Diss. de vitiis
tympani. Traj. ad. Rf. 1715.
Anhang.
Die Ohrenheilkunde bei den Chinesen und Japanern.
China.
Der Versuch, eine Geschichte der Ohrenheilkunde der Chinesen zu schreiben,
stößt schon deshalb auf nicht geringe, man könnte sagen, fast unüberwindliche
Schwierigkeiten, weil uns nur spärliche Quellen (vor allem keine chinesisch ge-
schriebenen) zur Verfügung stehen. So ist uns weder das noch erhaltene älteste
medizinische Werk Nuj-kim (Neiszin, Heidsin) zugänglich, das dem chinesischen
Kaiser Huang-Ti (2637 v. Chr. ?) zugeschrieben wird, wahrscheinlich aber Jahrtausende
später entstanden sein dürfte, noch die pharmakologische Arbeit des Kaisers Chin-
nong (2699 v. Chr.?), noch sind es die unter der Dzuwidynastie (610 n. Chr.) er-
schienenen medizinischen Lehrbücher.
Die bloß auf Ueberlieferung beruhende Anatomie des menschlichen Körpers
ist verworren und unrichtig , da die Chinesen eine unüberwindliche Scheu vor der
Leicheneröflfnung hatten. Allgemein war die Annahme verbreitet, daß das Ohr zum
Blutgefäßsystem , den Brust- und Baucheingeweiden , vor allem dem Urogenital-
system in näherer Beziehung stehe, eine Annahme, die sich nur dadurch erklären
läßt, daß die Chinesen nicht einmal von den grobanatomischen Organen und ihren
Funktionen richtige Vorstellungen besaßen. Aus dem Wust der Mitteilungen jener
europäischen Autoren, die über China und seine Medizin schrieben, lassen sich
nur spärliche Stellen herausfinden, die für den Otologen von Interesse wären.
Einige absonderliche Notizen finden sich zerstreut in dem von Cleyer (1862) ver-
öffentlichten Traktat*), dem wir folgendes entnehmen. Wenn bei lebensgefährlichen
Erkrankungen in Ohren, Augen, Mund und Nase eine schwarze Färbung (?) ge-
funden wird, 80 entrinnt dem Tode keiner von zehn. Ferner: ^Ist das untere
Augenlid bläulich gefärbt und werden es auch Ohren und Nase, so zeigt dies den
*) Andr. Cleyer, Specimen medicinae Sinicae, sive opuscula medica ad
mentem Sinensium, Francof. 1682 in dem Abschnitte „Ex examine colorum apparentium
de morbis vitae et mortis indiciis Carmen**, p. 46.
Die Ohrenheilkunde bei den Chineeen.
349
Tod an,* und an anderer Stelle: .Ae^oU aures, ocnli, nares, os ei sint nigra et
nigredo linguam inficiat, omnino moritur' (p. 56), oder eine Stelle in dem oben
zitierten Kodex Xuj-kim, wo eine Beziehung der fünf Bauptorgtine (Leber, Hera,
Mili, Lunge, Niere) mit den fünf Elementen (Wind, Wirme, Feuchtigkeit, Trockenheit,
Kälte) hergestellt wird, in der es heißt, daß die Nieren Qber die
Ohren herrachen (renes dominantnr auribas, Clejar, 1. C. p. 87) <^ ^
und dafi die Ohren die Fenster der Nieren sind (fenestrae annt aure«,
I. c. p. 87). Ebenso dunkel ist folgende Stelle in der Beschreibung der
Zirkulation des Blutea und ,Spiritunm devehentium humidum radicale
et calorem primigenium*: ,Ramua hujus a pericardio Bunum pergit,
ad colli juncturani cum bumeria et inde ad aurium poatcriorem
partem et genuB et caput. At alter ramua ex loco aurium posteriori
jam dicto tntrat ipeam aurem et prodit ad partem anrium an-
teriorem etc.* oder .Felli« via dimiuuti caloris initium ducit ab
ocnlis Bursum ad caput ascendens, inde desoendens poit aures ad
guttur et bumeros". (Nach den latein. Uebersetzungen Cleyere aus
dem Chinesischen, 1. c. p. 97.) Diese Ansicht von einer Beziehung der
Galle zum Ohre*), wie sie im letzten Satze ausgeaprochen wird, ist
auch im Altertum bei den indogennnniscben VOlkerrasaen zu finden und
hat sich im ganzen Mittelalter bis in den Beginn der Neuzeit erhalten.
Die Behandlung der Ohraffektionen erhebt sich nicht Aber die
bei den Naturvölkern Qblicbe (S. 10). In den .Medicamenta sim-
plicia, quae a Chinensibus ad usum Medicinae adhibentur* (Cleyer,
I. c.) wird das Mittel .M-äm" oder ,Muon kirn cii* znr Scbärfung
des Oehörs empfohlen. Dasselbe gilt von der Pflanze Kiu-tbe^oil
(saxifraga sarmentosa) , deren Saft nach Hitteilnng des Misaionärs
Abbä Hui als Eiuträufelung angewendet wird.
Einen interesBanten ethnographischen Beitrag zur Geschichte
der Ohrenheilkunde in China liefert H. Sloane in den .Philo-
Bophic.ll Transactions, Vol. XX, p. 389— 392", indem er an der Hand
einer beigegebenen Tafel eine Keihe von in China gebrauchten In-
strumenten beschreibt.
Sloane bemerkt einleitend, daß diese Instrumente teils zur
Kntfernung einer .Substance* (Cerumen?) aus dem Ohre, teils zum
Kitzeln und Kratzen, einem bei den Chinesen sehr beliebten Ver-
gnügen, dienen ').
Die abgebildeten Instrumente sind: Eine Perle an einer
Schweinsborste befestigt; eine kleine Schlinge aus gewundenem Silber-
drabt, ein abgeplatteter Silberdraht, alle an zierlichen Handgriffen
aus Schildkrot befestigt. Femer Pinsel aus Seh weinsbo raten oder
Eiderdunen, endlich die beiden abgebildeten scharfen Häkchen ans
Silber (Fig. 16), an Griffen aus Schildkrot befestigt, von denen
Sloane sagt, daß sie den in Europa gebrauchten Ohrhäkchen sehr
nahe kBmen '). Auf der beigegebenen Tafel befindet sich auch die
Abbildung eines Chinesen, der sich mit einem solchen Instrument im
Ohre kitzelt und dessen Wohlbehagen sieb in seiner Hiene aus-
drückt (Fig. n).
*) Vielleicht ist diese Relation dadurch entstanden, daß a»
wobi Galleu- und Cemminalsekret einen bitteren Qeschmack bentM
350 ^i^ Ohrenheilkunde bei den Japanern.
Sloane fügt hinzu, daß diese Gewohnheit sehr schädlich sei und die Disposition
zu Ulzerationen und Exsudationen gebe.
') Those contrived for the taking anj Substance out of the Ears, or for the
skratching or tickling them, which the Chinese do account one of the greatest
pleasures. 1. c. p. 391. — ') Very much resembling our common European Ear-pickers^
being of Silver set in Tortois-Shell. ibid.
Japan.
Viel besser unterrichtet sind wir über die Ohrenheilkunde bei den Japanern, was
wir vor allem dem Professor der Ohrenheilkunde an der Universität in Fuküoka
(Japan), Dr. Ino Kubo, verdanken, der eingehende Studien Über die alte Ohren-
heilkunde in Japan unternommen hat. Nachstehende Mitteilungen stützen sich
vornehmlich auf Knbos einschlägige Arbeit, die er mir in liebenswürdigster Weise
zur Verfügung stellte. Sie beziehen sich auf einen Zeitraum, der bis an das Ende ded
17. Jahrhunderts hineinreicht. Die älteste japanische Medizin, somit auch die Otiatrie,
war unleugbar von den chinesischen medizinischen Lehren abhängig. Europäischer
Einfluß machte sich erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts geltend.
Mangels jeder anatomischen Zergliederung menschlicher Leichen war die
Kenntnis vom Bau des Gehörorganes recht dürftig. Die Japaner unterschieden ein
, äußeres Ohr", ein , Ohrloch* (äußerer Gehörgang) und einen , Ohrgrund", worunter
sie die im Schädel verborgenen Partien des Gehörorgans verstanden. Am äußeren
Ohre, das sie am besten kannten, wendeten sie dem Tragus (Eomimi = Oehrchen),
der als Austrittastelle des Gesichtsnerven angesehen wurde, und dem Ohrläppchen
(Mimitabu), das ebenso wie der Tragus eine große Rolle in der Phrenologie spielte,
ihr besonderes Interesse zu. Später lernten sie auch das Trommelfell (Jji-shogen)
kennen, das sie als eine dünne, einem Bambushäutchen ähnliche, bloß beim Hören
gespannte, sonst aber erschlaffte Membran beschrieben.
Als ätiologische Momente der Ohrenkrankheiten galten den alten Japanern
die Affektionen des Urogenitaltraktes (an dessen Zusammenhang mit dem
Ohre sie glaubten, ,Jinkyo"theorie), ferner allgemeine Erschöpfungszustände, hervor-
gerufen durch Exzesse in venere, alle akuten fieberhaften Erkrankungen, und Er-
kältungen, bei denen die Kälte den Gefäßen entlang ins Ohr eindringen soll. (Ohren-
sausen entsteht dadurch, daß diese eingedrungene Kälte mit dem „Lebenssafte" in
Kampf gerät.) Itasaka*) hielt auch noch Blutstauung im Kopfe für ein ursäch-
liches Moment und betrachtete als Ursache mancher Otorrhöen bei Säuglingen das
Zurückbleiben schmutzigen Bade wassers im Ohre**). Sö-ke-tei erwähnte in seinem
um das Jahr 1700 n. Chr. erschienenen Lehrbuche „Jji sho-gen" auch die habituelle
Obstipation in der Aetiologie der Ohrerkrankungen.
Als Hauptsymptom der Ohrenleiden galt die Schwerhörigkeit oder Taubheit,
die man mit dem Namen „Mimi-shii* oder „Tsumbo" (wörtlich Gehörlosigkeit) be-
zeichnete. Dazu gesellten sich als weitere Symptome: Ohrenschmerzen, Ohren-
sausen, Sekretausfluß, Fieber, Kopfschmerzen, Schweiß, Polypenbildung, Funkenseben,
Schwindel etc.
Das Symptomenbild des Schwindels war schon frühzeitig (Kushi-moto in seinem
Buche Okugi-shu 1534) genau beschrieben worden und man unterschied zwei Arten:
1. ,Fu-gen* (Luftschwindel), bei welchem ein Gefühl der Schwere im Kopfe und
*) Eine Kinderheilkunde vom Jahre 1700.
**} Vergl. Pins, Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 26.
Die Obrenheüknnde bei den Japanern.
351
Schwindele rscheinungen , wie bei Schiff- und Wagentahrten und 2. .KikyoBen' (Er-
schOpfungaach winde!), bei dem BewnßteeinBVMlust eintrat.
Seiaen*) untemchied zwiscben klarer und eitriger Sekretion. Eh scheint
jedoch, daß man damals die wirklichen Mittelohreiteruogen mit der FurunkaIo«e
des Gehörgange und mit der ObrenBuhmalzRekretton zusanimenwarf. Allerdings hatt«
man sclion im Jabre 1300 nach
Chr. die <lbrenscbnm!z8ekretion,
so lange sie keine Gehörestflning
hervorrief, als einen physiologi-
Bcben Vorgang erklfirt.
Die pathologische Eiter-
sekretion wurde als .Grund-
eiier* beieiehnet, indem mnn an-
nahm, daß der Riter vom Ohr-
grunde komme. Auch der blutige
Eiter war bereits bekannt, üeber-
haupt wurde die Farbe (weifi, rot
und gelb) und der Geruch des
Sekrete genau beobachtet. Irlbon^o
waren Fälle von Mnatoiditis mit
Fiatelbildung hinter dem Ohre,
Hpeziell bei Säuglingen, beschrie-
ben. Der berühmte Manasse
Doaan hatte ferner in «einem
Buche ,Ten-sho*ki' (erschienen in
Jedo 15831 das Retentionsfieber
bei eitrigen Utitiden genau ge-
schildert**).
Gut beobachtet waren die
verschiedenenAbartendeaOhren-
BauaeuB. das man mit dem
Rauschen fließenden Wassers, mit
dem Zirpen der Zikaden oder mit
Glocke ni^chiagen verglich. Auch
kannte man die Polypenbildung
im Ohre und nannte die Polypen
.Ohrenpihe* I.Mimitake')***)
oder lOhrenhKmorthoid* (,Ji-
Obgleich in der alten Zeit die einzelnen Symptome vielfach als Krank-
heiten sui generix betrachtet wurden, so begann man schon damals verschiedene
Krankheitebilder aul' Grund ihres Sjmptomenkomplexes mehr oder weniger scharf
*) ,Man-an-po* (1315 o. Chr. erschienen).
♦•) Der betreffende Passus lautet: Ein l^ähriger Page litt an Ohrenaehmak-
und eitrigem Aasfluß. Wenn der Eiter auszufließen aufhörte, so stieg das Fieber
gegen Abend und der Patient bekam heftige Kopfschmerzen und Schweißsekretion.
"**) In .Eammei-ikoku'.
I) Zur Entfernang von Naaeupolypen wurden SchtiurschÜDgea verwendet
(.Kato-oka'}.
Fig. 17,
352 D'8 Ohrenheilkunde bei den Japaneru.
KU fioadern; »o z. B. brachte Tamba JaBaori") mit Berufung auf einen attenfl
cbinesisclien Arit nanieiiB ,Kato' die Taubheit (besser gesagt die Ohrerkninkungenjl
in 6 verschiedene Kategorien und unterschied: I. ,Fu-ro' (KrklltungsUubheit) mit!
heftigen Schmei-zen, 2. ,Ro-ro" (ErachOpfangsfaubheit) mit gelbem Eitersekret uncll
hochgradiger Erachöpfung, 3. ,Kan-ro* (trockene Taubheit) mit Ohrenschmalzpropfan,.
4. ,Kyoro' (leere Taubheit) mit OhreuBausen (,Shu-fibu'), 5. ,Te-ro' (eitrige Taubheit)"
mit Eiteraekretion. Diese verschiedenen Kategorien lassen aich annähernd mit var-'
schjedenen beute gut charakterisierten Krankheitabildern in eine Pamüele brbgeo.
So darf man vermuten, daß ,Pu-ro" die Otitia media acuta bezeichnet, ,Ro-ro' di*
Otitia media tuberoulosa, ,Kan-ro' Ceniminalpfropfen . .Kyo-ro' vielleicht die Oto*'
Sklerose oder auch verschiedene primftre Erkrankungen des schal Iperzijiieren den,
Apparates, und ,Te-ro' die chronischen eitrigen Mittelohrentzündungen, möglicher-
weiae auch die Otitis externa circumscripta.
Die Furunkulose des Ohres wurde damals mit den Eiterungen des Mittelohre»
zusammengeworfen; doch wußten die alten japanischen Aerzte, daß manche mittels^
Tamponade behandelten Ohreiterungen dann eine günstige Prognose geben , wenM^
ein jWeiöer Wurm* (der Kiterpfropf des Gebörgangsfurunkel») abgebe. Das Krank-,
heitsbild der chronischen poIypBsen Mittel oh reite rung acbeint damals bereits bekannfej
gewesen eu sein, wie sich aus der Schilderung einea Symptomenkomplexes im Buchfr
,Sen-kin-po' (1315 n. Chr.) ergibt. Ea handelt sich dort am hohes Fieber, heftiga
Schmerzen, blutig-eitrigen Ausfluß, Schwerhörigkeit und Polypenbildung.
Als jirognostisch günstig betrachtete man die Cerumi na! an Sammlungen^
Fremdkörper, HörBtörungen bei wahrscheinlich hysteriscber Ohrerkrankung und Ge»,
hörgangsforunkulose, als prognostisch ungünstig die durch KSriiergif'te (Luea?) hervoiv,
gerufenen Ohraffektionen.
Die große Menge der therapeutischen Methoden beruhte auf bloSer Empiria,'
Daneben existierte eine Art kaus&ler Behandlung, die aus der oben erwähntea
.Jinkyo'theorie hen-urgegangen war. Man beklLmpfte nämlich die Erkrank ongcüöl
des Urogenitaltmktes , durch die man sieh die Börstörungen hervorgerufen dachte.
Außerdem wurden zahlreiche innere Mittel angewendet, wie Abführmittel, Eisend
Präparate, Magneaiumnitrat , verschiedene Pflanze ndcogoen wie Zwiebel, Pfingstrose^
Datteln, Glycyrrhiza glahra (Linne), Ingwer (Zingiber officinale). DioBCorea japonic»
(Tbumb.), Acorus calamus. Aralia quinquefoüa, Rhabarber, BambuBblätter etc., ferner
t^chafnieren und Kar[)fenhirn.
Bei eitrigen Erkrankungen dea Ohres wurde das Sekret mit dem weiche*
japanischen Papier abgetupft und sodann das kranke Ohr entweder mit Tamponft
oder mit Instillationen oder endlich durch Einblasen verschiedener Pulver und durelt
Anwendung von Dampfen (Vaporieation) behandelt. Zur Tamponbebandlung wurdeä
kleine, nach Art von Suppositorien geformte Einlagen verwendet, die aus eineü
teigigen Masse verfertigt waren. Sie bestanden gewöhnlich auä Wachs, Kieferharay
WildachweiuBpeck, Hanföl, Krotonöt und Essig**). Diesem Teige wurden verschiedeD«
gepulverte Substanzen beigemischt, z, B. Mandelkerne. Pfirsichkeme, Kochsalz, Magnet
eisen, Brassica cernua Thumb., Acorus calamus, Huarasche, Rbua etc. Die bo be>:
reiteten Suppoaitorien wurden dann mit Watte umwickelt und in den Gehörgan^
eingeführt. War die Masse zu hart geworden, so wurde sie vor dem Gebraucbfr"^
erwärmt. Außer den beschriebenen Suppoeitorien wurden auch einfache Wfttts^^
•) ,1-Bhein-po' (erschienen 982 n. Chr.),
•*) „Senlanpo' : Hier wird eine Teigmaase angegeben, die aus gleichen TeileiiJ
Acorus calamus und Brassica cernua oder au; Brassica cernua mit Milch besteht.
Die Ohrenheilkunde bei den Japanern. 358
tampons verwendet, die entweder in drei Jahre altem Essig oder in öligen Lösungen
verschiedener Medikamente getränkt waren. Diese Methode ähnelt sehr der auch
heute noch bei der Furunkulose geübten.
Zu Instillationen wurden verschiedene flüssige Substanzen verwendet, so z. B.
Lösungen von Moschus in Hanföl, der Preßsaft von Radix acori gravinei mit Moschus-
zusatz, reines Hanföl und warmer Essig. Bei eitrigen Erkrankungen wurden auch
vielfach Pulvereinblasungen nach dem Abtupfen des Sekretes gemacht, eine Methode,
die man etwa mit der heut« Üblichen Trockenbehandlung der Mittelohreiterungen
vergleichen darf. Von derartigen Pulvern sind zu erwähnen: Alaunpulver, eine
Mischung von Schwefel und Alaun (,Ewa-ta-ho*), Enochenasche (besonders von Fischen),
eine Mischung von Steinsalz, Alaun und Blütenstaub. Diese Pulver wurden mit dem
Munde durch ein Bambusröhrchen eingeblasen.
Umschläge scheint man damals nicht gekannt zu haben. Dagegen hat man
die Behandlung des Ohres mit Wasserdämpfen vielfach geübt und merkwürdiger-
weise wurde dem kochenden Wasser Karpfenhirn zugesetzt. In dem Buche »Sen-
kin-ho** wird auch eine besondere Behandlung mit Schlammkuchen angegeben, die
etwa der heutigen Fangotherapie vergleichbar ist. Man bereitete aus einem
Schlammteig eine kleine Scheibe mit einem Loch in der Mitte. Diese Scheibe wurde
in feuchtem Zustande auf das kranke Ohr gelegt und über dem Loche 100 Stück
Moxen abgebrannt. Sobald die Schlammscheibe trocken war, wurde sie durch eine
frische ersetzt.
Ueber Kältebehandlung findet sich in der alten japanischen Literatur keine
Angabe. In fast allen alten Handbüchern wird eine spezifische Methode für die
Beseitigung von verhärteten Ceruminalpfröpfen erwähnt. Es wurde nämlich zu
deren Erweichung der Preßsaft von Regenwürmem oder eine mittels eines besonderen
Verfahrens aus Regenwürmem extrahierte Flüssigkeit in das Ohr eingeträufelt
Im ^Sen-kin-ho'' wird eine interessante Magnettherapie mitgeteilt, die ebenso
wie die heutige Metallotherapie bei hysterischer Taubheit nur suggestiv gewirkt zu
haben scheint Ueber eine sogenannte magnetische Durchleitungsmethode („Tsu-ji-ho")
berichtet auch der berühmte Manasse Dosan*).
Vor der Einführung der p]lektrizität in die Therapie kam der Moxen-
behandlung eine sehr große praktische Bedeutung zu. Sie wurde in Japan vor-
züglich bei funktionellen Ohrerkrankungen angewendet und hat, wie es scheint, in
vielen Fällen gute Erfolge erzielt. Die Moxen waren kleine Kegel oder Zylinder
aus leicht brennbaren Pflanzenfasern, die auf der Haut abgebrannt wurden. Als
Wirkung dachte man sich eine Ableitung von den tiefer gelegenen Organen nach
der (Oberfläche. Mit großer Sorgfalt berücksichtigte man bei der Indikationsstellung
für die Moxenbehandlung den Ort der Applikation der Moxe. der für die ver-
schiedenen Formen der subjektiven Geräusche und der Schwerhörigkeit ein ver-
schiedener war**).
Zur Entfernung in das Ohr eingedrungener Insekten, wie Mücken, Ameisen,
Schnecken, wurden verschiedene Mittel angewendet, die den Zweck hatten, die In-
sekten herauszutreiben oder anzulocken. Die beliebtesten derartigen Medikamente
waren neben warmem Wasser, der Preßsaft verschiedener Pflanzen, wie Allium odorum
(^Mira"), Ingwer, Lactuca Thumbergiana maxima („Migana"), Zwiebelsaft, femer
*) Manasse Dosan: „Kei te-ki-shu" 1573.
**) Larrey (Recuil de mem. de Chir. 1821) will durch Anwendung japanischer
Moxen in der Umgebung des Ohres bei rheumatischen Fazialislähmungen gute Er-
folge erzielt haben.
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 28
354 1^16 Ohrenheilkunde bei den Japanern.
//
warmer Essig, Hanföl, Quecksilber, Menschenham, Eselsmilch, Kuhmilch, das £
aus Hahnenkämmen etc. . . .
Zum Anlocken der in den Qehörgang eingedrungenen Tiere wendete n
allerhand sonderbare Methoden an, wie z. B. das Vorhalten eines Lichtes vor
Ohr, das Aneinanderschlagen von Messerklingen oder die Einführung verschiede
Riechstoffe (Sesamium indicum L.). Zur Entfernung unbelebter Fremdkörper übte n
einen Kunstgriff, den schon die Araber kannten und auch heute noch in inanc]
Fällen benützt wird (L.). Es ist dies das Ankleben des Fremdkörpers mittels ei
Klebestoffes und das nachträgliche vorsichtige Extrahieren, nachdem der Klebes
trocken geworden ist. Auch wurden mitunter die Fremdkörper mittels eines Baml
rohres herausgeblasen, ein Verfahren, das sich etwa der heute geübten Ausspritzui
methode vergleichen läßt.
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Das 19. Jahrhundert eröffnet der medizinischen Wissenschaft eine
neue Aera, die sie der induktiven Forschungsmethode verdankt, die
auf allen Gebieten der Naturwissenschaft zum Durchbruch gelangt. Zu-
nächst sind es die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Anschluß
an die Fortschritte der technischen Untersuchungsmethoden eine rapide
Entwicklung erkennen lassen. Dank der verbesserten mikroskopischen
Technik wird die Anatomie den Anregungen Bichats folgend durch die
Histologie bereichert. Die Zellenlehre, die Embryologie und vergleichende
Anatomie nehmen einen ungeahnten Aufschwung. Die Lehre von den
Lebens Vorgängen, die biologische Forschung, wird von hervorragenden
Forschern durch das Experiment begründet. Magendie, Flourens,
Ch. Bell, Marshall Hall, den Brüdern Weber und vor allem Johannes
Müller gebührt der Ruhm, die Physiologie auf experimenteller Grund-
lage neu aufgebaut zu haben.
Die Medizin im engeren Sinne erhebt sich erst im vierten Dezennium
des Jahrhunderts auf ein streng naturwissenschaftliches Niveau , nach-
dem durch die pathologisch-anatomischen Leistungen Cruveilhiers,
Rokitanskys und Virchows das Fundament für die, durch Corvisart,
Laännec und vor allem durch Skoda inaugurierte physikalische Dia-
gnostik geschaffen worden war.
Die Otiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt be-
dauerlicherweise nicht gleichen Fortschritt mit den übrigen Disziplinen
der Medizin. Wohl eröffnen auch hier die anatomischen und physiologi-
schen Leistungen Soemmerrings, Breschets, Huschkes, Flourens'
und Johannes Müllers neue Perspektiven, allein mangels einer grund-
legenden pathologischen Anatomie verharrt die Otiatrie noch lange auf
dem Standpunkte der empirischen Symptomatologie. Man würde aber
zu weit gehen, wollte man jeden Fortschritt in der Otiatrie in dieser
Periode in Abrede stellen. In erster Linie ist es Frankreich, wo sich
die Ohrenheilkunde zuerst zum Spezialfach entwickelte, welches durch
den verdienstvollen Itard, durch Saissy, Deleau u. a. Autoren
vertreten wird. Die französischen Ohrenärzte pflegen die
klinische Beobachtung, bilden den Katheterismus und die Luftdusche
weiter aus und bereichern durch die Auskultation die Untersuchungs-
356 Soemmerring.
methoden. Die Engländer widmen sich vorzugsweise der klinische!
Symptomatologie und Praxis. In Deutschland verwertet wohl Krame
die neuen physikalischen Untersuchungsmethoden für das Spezialgebiel
aber er haftet in Ermanglung pathologisch-anatomischer Studien an de
empirischen Symptomatologie, ohne bis zu einer rationellen Begründunj
der Pathologie und Therapie vorzudringen. Diese große Lücke auszu
füllen, die Otiatrie auf Grundlage der pathologischen Anatomie zu einec
den übrigen Spezialfachern der Medizin ebenbürtigen Wissenszweige aus
zu bilden, war erst den Forschern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert
vorbehalten.
Stand der Ohranatomie in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts.
Durch Cotugnos und Scarpas epochale Leistungen waren de
Ohranatomie neue Wege gewiesen worden. Man erkannte, daß eil
weiterer Fortschritt auf diesem Gebiete nur durch eingehende For
schungen in der vergleichenden Anatomie, Embryologie un<
Histologie des Gehörorgans zu erzielen sei. In der Tat sehei
wir gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert
zahlreiche Forscher bemüht, diese bisher vernachlässigten Gebiete zi
bearbeiten und namentlich die embryologischen und vergleichend-anato
mischen Kenntnisse über das Gehörorgan wesentlich zu erweitern. Ein'
festere Grundlage erhielt dieses Forschungsgebiet durch die Arbeitei
Soemmerrings, der es verstand, die bisherigen Leistungen in der Ohr
anatomie mit einer Reihe eigener Befunde zu einer übersichtlichen
klaren und formvollendeten bildlichen Darstellung der Anatomie des Ge
hörorgans auszugestalten.
Samuel Thomas Soemmerring, eine der interessantesten Gestalte]
am Eingange des 19. Jahrhunderts, wurde am 25. Januar 1755 zu Thori
in Westpreußen als der Sohn eines Arztes geboren. Nach 4 \2 jährigen
Hochschulstudium zu Göttingen wurde er im Jahre 1778 auf Grum
seiner Dissertation : De basi encephali et originibus nervorum cranii
egredentium libri V, welche die Aufmerksamkeit der Fachkreise auf dei
jungen Gelehrten lenkte, zum Doktor promoviert. Durch Vermittlung
seines Landsmannes Georg Forster, den er auf seiner 1779 unter
!l nommenen wissenschaftlichen Reise durch Norddeutschland, Holhmd unc
England in London traf, erhielt er eine Lehranitsstelle für Anatomie unc
Chirurgie am Carolineum in Kassel, von wo er nach fünfjähri<^er Lehr-
tiitij^^keit als Professor der Anatomie und Physiologie an die Mtiinzer Hoch-
schule berufen wurde. Hier war er mit einigen Unterbrechungen 12 Jahn
TiBWXMB^J
A
hindurch tätig. Nach seiDer Enttassung im Jahre 1797 unterbrach er
seine akademische Laufbahn, um in Frankfurt als vielgesuchter praktischer
Arzt zu wirken. Erst nach dem Tode seiner Frau folgte er einem Rufe
nach München (1804), wo er Mitglied der Akademie der Wissenschaften
wurde. Hier beschäftigte er sich viel mit physikalischen Studien und
erfand den elektrischen Telegraphen, dessen allerdings primitiven Apparat
er am 27. August 1809 der Akademie demonstrierte. Historisch ist dem-
nach Soemmerring als der Erfinder des elektrischen Telegraphen anzu-
sehen. Im Jahre 1820 verließ er München und suchte Frankfurt wieder
auf, wo er den Rest seines Lebens in ununterbrochener wissenschaft-
licher Tätigkeit verbrachte. Zwei Jahre nach seinem 50jährigen Doktor-
jnbiläum, das unter anderem durch Stiftung eines Soemmerringschen
Preises für die besten Leistungen in der Physiologie gefeiert wurde, starb
er am 2. März 1830.
Zu den hervorragendsten Werken Soemmerrings zählt der unter
dem Titel .Icones orgnni auditus humani' 1806 in Frankfurt erschienene
Atlas zur Anatomie des Gehörorgans*), mit vortrefflichen, auch noch beute
mustergültigen Abbildungen. Den Anstoß zu diesem Werke gab ihm die
Aufforderung seines Freundes, des Hofrates Lichtenberg zu Göttingen,
für dessen Vorlesungen über die Naturlehre die menschlichen Hörwerkzeuge
vergrößert nachzubilden. Von dem Grundsatze ausgehend, daß man bei
anatomischen Abbildungen nicht genug genau und gründlich sein könne,
um sie möglichst der Natur nahezu bringen, stellte Soemmerring die
eingehendsten Untersuchungen Ober den Bau des Gehörorgans an und
wählte nach Vergleichung der eigenen Präparate mit den vorzüglichsten
Abbildungen anderer Autoren wie Valsalva, Duverney, Brendel,
Cassebohm, Albinus, Cotunni. Meckel, Monro, Comparetti,
Searpa, Wildberg diejenige Form für seine Abbildungen, die ihm
für das Studium der Ohranatomie und den Lehrzweck als die geeignetste
erschien. Nicht zum geringsten unterstützten ihn bei seinen schwierigen
Arbeiten das reichhaltige anatomische Theater in Mainz und die Beihilfe
des von ihm geschulten vortrefflichen Künstlers, des Professors Christian
Kneck, der die Modelle und Abbildungen unter der unausgesetzten Auf-
sicht und Leitung Soemmerrings verfertigte. Als endlich nach ISjährigem
rastlosen Fleiß die Abbildungen bei Varrentrapp und Weaner in
Frankfurt a. M. 1806 erschienen, fand das Meisterwerk die ungeteilte
Bewunderung aller Fachkreise.
Siimtliche Abbildungen, für die Soemmerring ausschlieQlich das
•) Da» Werk erschien auch deutsch: Abbildungen des meDschiiehen Hör-
organea. Frankfurt a. M. 1806. — Ferner gab J. F. Schröter nacb dem Vorbilde
Soemmerri ngt» .Da» meEacbliche Obr nach Abbildungen des Herrn Geheimen Rates
Soemmerring. mebr vergrößert dargestellt und beschrieben' (Weimar tSIl) heraus.
358 fluschke.
linke Ohr benützte, sind auf 5 Tafeln in anatomischer Keihenfolge vc
teilt. Die erste Tafel enthält die Abbildung des äußeren Ohr<
der Muskeln und des Zusammenhanges des äußeren Ohres mit dem G
hörgang, den Gehörknöchelchen und dem Labyrinthe. Auf der zweit'
Tafel findet sich die Darstellung der in der Trommelhöhle enth]
tenen Gebilde, sowohl in ihrer natürlichen Verbindung als auch einzc
außerhalb derselben. Auf Figur 21 dieser Tafel erscheint das Lig
mentum incudis posterius gut abgebildet. Ferner ist hier zum erst
Male das obere Hammerband beschrieben (Fig. 20 a und b und S. 1-
Auf der dritten Tafel folgen dann vorzügliche Abbildungen des Lab
rinthes. Die vierte Tafel liefert die minder wesentlichen Teile, c
Arterien des Gehörorgans, die Hautnerven des äußeren Ohres, Pro!
durchschnitte der Schnecke etc. Fig. 4 dieser Tafel zeigt bereits ein
wertvollen Abguß des äußeren Gehörgangs und seiner spiraligen For
wie sie später in ausführlicher Weise von Hyrtl und Bezold beschrieb
wurde. Hervorzuheben ist auch noch Fig. 3, welche die Krümmung c
äußeren Gehörgangs im horizontalen Durchschnitt in einer Kichtigk
demonstriert, wie man es auch in den Werken jüngeren Datums ni<
besser findet. Hier sieht man ferner bereits die später von Troelts
hervorgehobene Tatsache, daß sich die Ceruminal- und Balgdrüsen c
Gehörgangs vom Knorpelteile gegen die hintere obere Wand des knöch<
nen Gehörgangs in Form eines dreieckigen Zwickels fortsetzen. Endli
ist in Fig. 14 der später von Rosenthal beschriebene Schraubenkai
der Spindel (Can. spir. s. ganglionaris) in seiner unteren Hälfte di
gestellt. Die fünfte Tafel zeigt die festen knöchernen Hauptteile i
Gehörorgans so, wie sie sich nach vollkommener Ausbildung des Schäd
am Erwachsenen hinsichtlich ihrer Lage und Größe zum ganzen Schä<
verhalten.
In Soeininerrings ^De corporis humani fabrica" *) vermissen wir eine
sauimenfassende Behandlung der Ohranatomie. Das Werk enthält in den verscl
denen Abschnitten nur eine kurze Beschreibung einzelner Teile des Gehörorgans.
( finden wir im ersten Bande die „Organa auditus ossea", im zweiten die „Lijjranie
■ ossiculorum auditus", im dritten die Muskeln des Ohres, im vierten den Hörnerv i
im fünften die Gefäße des Gehörorgans beschrieben. Interessant ist sein Verfah
zur anatomischen Darstellung der Verzweigung des Schneckennerven in der Schnee
! I Nach roher Präparation der Knochen und des Nerven wird das Präparat in verdün
I Salpetersäure gelegt, wodurch die Knochcnsubstanz erweicht und abgelöst wird i
der Nervenverlauf im Modiolus und in der Lamina spiralis klar zu Tage tritt.
ist dies unseres Wissens der erste Fall einer chemischen Vorbehandlung des Gel:
Organs bt*huf> anatomischer Untersuchung.
Emil Huschke. Einen würdigen Naclifolger in der Erforschu
des Gehcirorgans fand Soenimerring in dem Jenaer Professor En
*•) Traj. ad. Moen. 1794.
Tafel XIX
EMIL HUSCHKE
Hmchke, 8o9
Huschke (1797 — 1858). Wir verdaDken ihm nicht nur die Entdeckung
der nach ihm benannten Zona dentata in der Schnecke und anderer
anatomischer Details, sondern auch eine vorzügliche, durchwegs origi-
nelle Beschreibung des menschlichen Gehörorgans* Wir lernen in
Huschke einen feinen, selbständigen Beobachter kennen, dessen Neu-
bearbeitung des Soemmerringschen Handbuches als eine ganz mo-
derne Arbeit bezeichnet werden kann*). Diesem Werke entnehmen wir
die folgenden uns interessierenden Daten : Der Winkel, den das Trommel-
fell mit der Axe des Qehörgangs bildet, beträgt 55 ^ Die Fasern der
Substantia propria des Trommelfells sind weder elastischer noch mus-
kulöser Natur (E. Home und J. Fr. Meckel), sondern sehnig. Die
konzentrischen (zirkulären) Fasern sind an der Peripherie am zahl-
reichsten, die radiären überschreiten den Hammergriff^ sich imter spitzem
Winkel kreuzend. Außerdem gibt es noch schräge Fasern. Nicht nur
die Epidermis, sondern auch die übrigen Schichten der Haut gehen in
die äußere Lamelle des Trommelfells über, die frei von Drüsen ist; die
iimere Schichte ist von einem Plattenepithel überzogen und enthält Blut-
gefäßnetze und Neryenschlingen.
Am vorderen, spitzeren, etwas nach abwärts geneigten Ende des
ovalen Fensters fand er eine kleine Furche, die gegen den Zwischen-
raum der ersten und zweiten Schneckenwindung und dem Halbkanal
des Trommelfellspanners gerichtet ist; ein Befund, den er durch die von
ihm angenommene Entstehung des Fensters als fontanellenartiger Rest
der Intervertebralspalte des vorderen und hinteren Felsenbeinteiles zu
deuten versucht. Der obere und hintere Band des ovalen Fensters ist am
breitesten. Da sich die Steigbügelplatte bei der Eontraktion des Stapes-
muskels auf den hinteren und unteren Rand des Fensters stützt, wird
die Stapesplatte oben und vom am stärksten nach außen gezogen. Die
innere, dem Vorhof zugewandte Fläche der Stapesplatte ist leicht ge-
wölbt.
Die Ohrtrompete fand Huschke doppelt gekrümmt. Von oben
betrachtet, bildet sie ein flaches S. Die Konkavität des knorpeligen
Teiles richtet sich nach innen und hinten, während die der knöchernen
Tube sich nach außen, vorn und unten kehrt. Gleichzeitig erscheint die
Tube dadurch um ihre Achse gedreht, daß die untere Fläche des knOehemen
Teiles beim üebergange in den knorpeligen zur vorderen äußeren and die
obere zur hinteren inneren wird. Diese Formverhältnisse lassen sich nur
durch Korrosion der Tube mit Wachs oder leichtflüssigem Metall, nicht aber
am Mazerationspräparate feststellen. Die Oberfläche der Tube ist an der
*) S. Th. Soemmerring, Lehre von den Eingeveiden und SinnMonranen des
menschlichen KOrpen. umgearbeitet ond beendigt von E. Huibl
360 Huschke.
Mündung von Flimmer epithel überzogen, im knöchernen Teile von Pflaster-
epithel.
Huschke leugnet das von Pappenheim beschriebene elastische
Kapselbändchen zwischen Amboß und Linsenbein und hält letzteres bloß
für einen Portsatz des Amboßes. Die drei Hammerbänder, die richtig
beschrieben werden, bewirken, daß der Hammer weder nach vorwärts,
noch mit seinem Kopf nach abwärts, sondern bloß an seinem Griflfe
gleichmäßig gegen die innere Trommelhöhlenwand gezogen werden kann.
Der Muse, tensor tympani spannt einerseits durch Zug am
Manubrium das Trommelfell an, andererseits drückt er den Hammerkopf
auf den Amboß und somit den Steigbügel in das ovale Fenster, wodurch
eine Spannung der Vorhofsteile eintritt. Durch die Kontraktion
des M. stapedius wird nicht nur die Stapesplatte nach außen bewegt,
sondern auch gleichzeitig der absteigende Amboßschenkel nach rückwärts
gezogen ; wodurch der Amboßkörper und mit ihm der Hammer ebenfalls
nach außen rücken und das Trommelfell erschlafft wird*).
Die muskulöse Beschaffenheit des sogenannten M. laxator tym-
pani major (vorderes Hammerband) stellt er in Frage, für noch proble-
matischer hält er den kleinen Trbmmelfellerschlafifer. Er hat an seiner
Stelle bloß Bindegewebsfasern und gegen den Hammergriff absteigende
Blutgefäße gefunden, nie aber quergestreifte Muskelfasern.
An den Bogengängen, die er in einen oberen, einen hinteren
und einen äußeren teilt, beschreibt Huschke eine dreifache Krümmung,
eine Randkrümmung und eine doppelte Flächenkrümmung. Sie wenden
sich teils mit einer Fläche beider Schenkel nach derselben Seite hin
(C-formige Flächenkrümmung), teils mit jedem Schenkel nach entgegen-
gesetzter Richtung (spiral- oder S-förmige Schenkelkrümmung), wo-
durch eine nach zwei entgegengesetzten Richtungen spirale oder viel-
mehr windschiefe Stellung der beiden Schenkel gegeneinander entsteht.
Außerdem wird jeder Bogengang für sich in ausführlichster Weise be-
schrieben und die Maße nach gelungenen Korrosionspräparaten mitgeteilt.
Auch die beiden Aquädukte werden nicht übergangen.
An der Schnecke beschreibt Huschke unter anderem ein Neben-
spiralblatt (Lamina spiralis accessoria) als sehr schmale Leiste,
'^') Schon Bonnafont beschrieb im Jahre 1834 im Journal de Montpellier
(8. Schmidts Jahrbücher Bd. 8, S. 276) den Trommelfellspanner und den Steigbügel-
miiskel als Antagonisten. Der Musculus stapedius zieht den Steigbügel nach
hinten und etwas nach außen. Dabei werden Amboß und Hammer mitbewegt und
zwar der Kopf des Hammers nach vorn, der Griff nach hinten und außen. Es ent-
spricht dies vollständig unserer heutigen Anschauung über die Mechanik der Binnen-
muskeln des Ohres. Huschke scheint aber von Bonnafonts Mitteilung keine
Kenntnis gehabt zu haben.
Huschke. 361
die in der ersten Hälfte von der äußeren Wand der ersten Windung
dem knöchernen Spiralblatt entgegenkommt. Genaue Messungen der
Höhe und Breite beider Schneckentreppen vervollständigen die deskriptive
Anatomie der Schnecke.
Nach Huschke ist das ganze knöcherne Labyrinth an seiner
inneren Oberfläche von einem zarten Häutchen überzogen, das aus zwei
Lagen besteht, einem äußeren periost- und einem inneren serosaähnlichen
Blatte, welch letzteres, von einem Pflasterepithel bedeckt, die Labyrinth-
flüssigkeit absondert. Die häutigen Bogengänge schweben frei in der
Röhre des knöchernen und werden an diese bloß durch zarte Fäden aus-
gespannt und festgehalten. Er weiß, daß die Vorhofsäckchen und Bogen-
gänge (Ampullen?) bloß zum Teil aus Nervensubstanz bestehen und
meint, daß sie als ektodermatiöche Bildungen anzusehen sind, keineswegs
aber als seröse Häute, für die man sie früher gehalten hat. Die an der
Eintrittsstelle der Nerven gegenüber den Siebflecken befindlichen Oto-
lithen hält er für eine Metamorphosierung der Oberhaut an dieser
Stelle, Sehr ausführlich ergeht er sich in der Beschreibung der Ohr-
kristalle. Am weichen Spiralblatt der Schnecke unterschied
Huschke eine knorpelige und eine häutige Zone. Die der Vorhofstreppe
zugewendete Fläche der knorpeligen Zone besitzt in der Nähe ihres
äußeren Kandes eine hakenförmig nach außen gekrümmte Spiralleiste
(Crista spiralis acustica). An einem feinen Durchschnitt des knorpeligen
Spiralblattes sieht man demnach am äußeren Rande zwei Lippen und
zwischen beiden eine tiefe Furche (Sulcus s. Semicanalis spiralis), die
der Vorhofstreppe angehört. Von der Paukenlippe (Labium tympanicum)
geht die häutige Zone ab. Die nicht so weit vorspringende Vorhofs-
lippe, die frei in der Vorhofstreppe endigt, zeigt parallel nebeneinander-
stehende Zähne oder Warzen (Huschke sehen Zähne), die mit ihren
stumpfen Enden vorragen und von Treviranus irrtümlich für die als
Papillen endenden Nerven angesehen wurden. Huschke ist der An-
sicht, daß in der Vorhofslippe die eigentliche Tätigkeit der Schnecke
und des Spiralblattes ihren Hauptsitz hat.
Die häutige Spiralmembran zerfällt nach Huschke in einen
inneren, glatten, ungefalteten und einen ' äußeren , gefalteten oder ge-
faserten Teil. An der äußeren Grenze des ungefalteten Teils läuft
ein Streifen (Vas spirale) der Länge nach fort vom Anfang des Spiral-
blatts bis zum Trichter, weiter nach außen parallel mit ihm eine oder
mehrere Reihen gelblicher, unregelmäßiger Körperchen (C ortisches
Organ?)*). Der gefaserte Teil besteht aus durchsichtigen, von innen nach
*) Corti und Reisner weisen darauf hin, daß die Arbeiten H
Vorstufe ihrer späteren Entdeckungen anzusehen sind.
362 Ev. Home.
außen ziemlich parallel nebeneinander nach der Schneckenwand ver-
laufenden Fasern, die Huschke an die Fasern eines Zahnschli£& er-
innerten. Das membranöse Spiralblatt hat nach Huschke drei Lagen,
von denen die zwei oberflächlichen Fortsetzungen des Epithels, die
mittlere fibröse eine Fortsetzung des Periosts der Schneckenwindung ist.
Die Membrana tympani secundaria setzt sich aus drei
Schichten zusammen, von denen die äußere eine Fortsetzung der Trommel-
höhlenschleimhaut, die innere eine Fortsetzung der Trommelhöhlentreppen-
bekleidung und die mittlere fibrösen Charakters ist, eine Schilderung, die
mit der früheren von Ribes und und unserer heutigen Auffassung voll-
kommen übereinstimmt.
Huschke lokalisiert die Endolymphe bloß in die beiden Vor-
hofsäckchen und in die Bogengänge mit ihren Ampullen. Die Endo-
lymphe enthält nach seinen Untersuchungen mehr feste Bestandteile als
die Perilymphe. Merkwürdigerweise fand Huschke im Schneckenwasser
einzelne Kristalle, Würfel mit vierflächiger Zuspitzung.
Den Schluß der treiflichen Schilderung der Ohranatomie bildet die
Beschreibung der Blutversorgung des Labyrinths. Huschkes ent-
wicklungsgeschichtliche und vergleichend-anatomische Arbeiten werden
später berücksichtigt werden.
Besonderes Interesse erwecken jene Arbeiten dieses Zeitraums,
die nur einzelne Abschnitte des Gehörorgans und dessen feinere
Strukturverhältnisse betreffen. Aus der großen Anzahl der Spezial-
schriften sollen im folgenden nur die wichtigeren erwähnt werden.
Ein spezielles Studium wurde der Erforschung des Trommelfells ge-
widmet. Wir verweisen auf die Arbeiten von Home, Shrapnell, Cor-
nelius, Pappenheini u. a., die die Kenntnis von dem Baue dieser Mem-
bran wesentlich erweiterten.
Everard Home (17(33 — 1832), entdeckte bei der Zergliederung von
Elefantenschädeln an der Innenseite des Trommelfells eine schon mit
freiem Auge sichtbare Anordnung radiärer Fasern. Denselben Befund
ergilb die Untersuchung am menschlichen Trommelfelle mit Hilfe einer
23faclion Vergrößerung. Von der fast gleichzeitigen Entdeckung der
radiären und zirkulären Faserschichte des Trommelfells durch Leop.
C a 1 d ii n i ( p. 274) hatte Home offenbar keine Kenntnis. Home hielt
irrtümlich die radiären Fasern für einen Muskel des Trommelfells M. Der
mikroskopische Befund dürfte wohl kaum überzeugend gewesen sein, sonst
hätte Home nicht die folgende Hy])othese zur Stütze seiner Ansicht
herangezogen. An einem gelungenen Injektionspräparate Dr. Bailles
fand Home, daß die Verlaufsrichtung der Blutgefäße am Trommelfelle
mit der der Iris übereinstimmt. Daraus schließt er, daß das Trommel-
fell gleich der Iris eincMi Muskel (Kadiärfasern) besitzen müsse -). Seine
Shrapnell. 363
genaue Beschreibung der Anordnung der radiären Faserschichte und der
Blutgefäße am Trommelfelle ist nicht neu, da wir sie in gleicher Ausführ-
lichkeit schon beim jüngeren Caldani (1. c.) und bei Ruysch (1. c.) finden.
Home verrät überhaupt eine erstaunliche Unkenntnis der Leistungen
seiner Vorgänger. So führte er -^ ohne Cotugno zu erwähnen — zum
Beweise, daß das Labyrinth mit Flüssigkeit gefüllt sei, in Gemeinschaft
mit einem Mr. Clift einen Versuch aus, den schon lange vor ihm Meckel
angegeben hatte, und es ist als verwunderlich zu bezeichnen, wenn er am
Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Ansicht, daß eine Kommunikation
zwischen Labyrinth und äußerer Luft bestehe, längst als irrtümlich ab-
getan war, sich noch zu folgender Aeußerung veranlaßt sieht: „These
cavities (das Labyrinth) are fiUed with a watery liquor, and have no
communication {as the tympanum has) with the exfernal air".
^) When viewed in a microscope magnifying 23 tiines, the muscular fibres are
beautifuUy conspicuous, and appear uniformly the same throughout the wholc snrface,
there being no central tendons, as in the diaphragm; the muscular fibres appear
only to form the internal layer of the membrane, and are most distinctly seen when
viewed on that side. Lecture on the structure and uses of the membrana tympani
of the ear. Philosophical Transact., London 1800, Part. J, p. 5. — ^) This corre-
spondence, in the number and distribution of bloodvessels , between the membrana
tympani and the iris, is a strong circumstance in confii*mation of that membrane
)»eing endowed with muscular action. I.e. p. ß.
Henry John Shrapnell. Fast gleichzeitig mit der Arbeit Home s
erschien in den ^Philosophical Transactions** eine wertvollere Unter-
suchung des Trommelfells von Henry Jones Shrapnell*). Er ver-
gleicht die Form des Trommelfells, wie sie sich nach sorgfältiger Ent-
fernung der Knochenrinne präsentiert, mit der Gestalt eines Hufeisens.
Drei Viertel des Urafanges bilden ein richtiges Oval, von dem das letzte
Viertel gleichsam abgeschnitten ist. Am Umrisse der Membran unter-
scheidet er einen vorderen oberen Winkel in gleicher Höhe mit der Basis
des Jochbeinfortsatzes und einen hinteren mehr nach auswärts geneigten
Winkel unter dem Niveau des vorderen. Shrapnell war der erste, der
auf die Verschiedenheit in der Struktur der Membrana tympani hinwies.
Er unterschied einen zur Schallfortpflanzung geeigneten Teil von ge-
s[)annter Elastizität, der aus elastischen, strahlenartig angeordneten
Fasern, die sich einerseits in der Knochenrinne, andererseits in der Mitte
des Hammerstieles befestigen, besteht (Membrana tensa), und einen zur
Schallfortpflanzung ungeeigneten Teil von schlaffer Elastizität, der den
über dem kurzen Hammerfortsatze befindlichen Riv in i sehen Ausschnitt
'^) Ueber die Form und Struktur der Membrana tympani in Frorieps Notizen.
Bd. 34, 1832, S. 18, übers, aus The London Medical Gazette Vol. X, 1832: On the
form and structure of the membrana tympani of the ear. Phil. Trans. 1800.
• I
364 Shrapnell.
ausfüllt (Membrana flaccida, auch Membrana Shrapnelli genannt). Shrap-
nell beobachtete, daß beim Einblasen yon Luft in die Trommelhöhle
durch die Eustachische Röhre die Membrana flaccida sich ausbaucht,
während die Membrana tensa des Trommelfells verhältnismäßig unver-
ändert bleibt. Die einzelnen Details der Membrana tensa werden in ein-
gehendster Weise mitgeteilt.
Aus der eigentümlichen Konstruktion folgert Shrapnell, daß die
Fasern der Membrana tensa, deren muskulöse Beschaffenheit er in Ab-
rede stellt, krummlinige Formen in jeder Richtung darbieten, die nach
seiner Ansicht gerade am besten geeignet zu sein scheinen, eine Mannig-
faltigkeit feiner Bewegungen je nach der Schwingungskraft der Töne
hervorzubringen. Die Arterien des Trommelfells stammen vom
Ramus stylomastoideus der Arteria facialis und verlaufen von der Peri-
pherie und längs des Hammerstieles konvergierend gegen die Mitte der
Membran.
Die Membrana flaccida unterscheidet sich von der M. tensa
außer durch ihren schlaffen Zustand auch noch dadurch, daß sie nicht
in einer Enochenrinne befestigt ist, und daß die Fasern und Blutgefäße
in ihr unregelmäßig verteilt sind, daß sie selbst eine veränderliche Gestalt
besitzt, daß ihre innere Oberfläche durch Schleim schlüpfrig erhalten
wird, endlich dadurch, daß die Fläche der Membrana flaccida eben ist,
während die der Membrana tensa mehr nach auswärts in der Richtung
der oberen Wandung des äußeren Gehörganges geneigt ist.
Shrapnell spricht den Gedanken aus, daß die große Ausdehnungs-
fähigkeit der Membrana flaccida die gespannteren Fasern der M. tensa
vor den Wirkungen plötzlicher und lauter Töne, des Hustens und
Schneuzens schütze. Er hält sie auch für die zweckmäßigste Stelle zur
Punktion des Trommelfells, weil dieser Teil am leichtesten gesehen werde
und weil die perforierte Stelle die Funktion der schall-
leitenden Membrana tensa nicht störe.
Von geringem Weite ist die ebenfalls im Beginne des 19. Jahrhunderts er-
schieneno Arbeit Brugnones") über das Trommelfell, in der er abweichend von
Caldani, Cuvier u. a. die äußere und mittlere Schichte der Membran der Aus-
kleidung des äußeren Gehörgangs, die innere der Ohrtrompete und der Trommel-
höhle zuschreibt.
Vest und Wittmann regton die seit Haller schon erloschene Streitfrage
über das Foramen Rivini neuerdings an"'), indem sie behaupteten, daß im. mensch-
lichen Trommelfelle eine uvale, von zwei Fältchen begrenzte üeffnung (Kanal) vor-
komme, die ^chräg durch ilie Trommelhaut verlaufe und durch den Tensor oder
*) Mein, de Tacad. de Turin puur les ann. X et XL Observations anatomiques
sur roriirine de hi uu-mbrane du tvuii an et eelle de la caisse 1805 — 08.
■) ^Ueber die Witt mann sehe Trommelfellklappe" in den ^Mediz. Jahrb.
Oest. 1819^ Bd. V, p. 12:>— 13.S.
F. Cornelius.
365
Laiator t;mpani geüffiiet oder geschlosseti werden kSune. Sie aei jedoch btoB von
oben zu sehen und fehle in vielpn Fallen. Anbänger fand diese Anschauung nament-
lich in Berre»*), der die Oeffnung bei 100 Köpfen 6— 7raat gefunden hiiben will,
und in Ve^ita Sohn**). — Fleischmann*") will das Foraiuen Rivini nur be^
gewissen Tieren (Maulwurf, Vespertilio murinus etc.) gefunden haben.
Friedrich Cornelius. Einen wertvollen Beitrag zum Baue des
Trommelfells lieferte der ru.ssisclie Arzt Fr. Cornelius (1799—1848).
Unter den zahlreichen, meist uninteressanten Inauguraldissertationen dieser
Periode verdient seine unter dem Titel ,De membranae tympani usu",
Dorpat 1825, erschienene Arbeit deshalb Beachtung, weil sich in ihr
zum ersten Male die Beschreibung und Abbildung der „inneren Trommel-
fellfalte" und der durch sie gebildeten .hinteren Trommelfelltasche" findet.
V. Tröltsch, dem diese Dissertation gewiS nicht bekannt war, hat
9
Fig. 18. Innere TrommelfellfalU.
Reproduktion aus der Disser-
tationaschrift des Fr. Cornelius,
1
Fig. 19. Innere Trommelfellfalte
nach Wegnahme des ÄmboBes.
vom Hammer abgetrennt und
zurückgeschlagen. Aue derselben
DissertationsschrifL
35 Jahre später diese Tasche als neu beschrieben. Sie wird nach ihm
„Tröltschsche Tasche" benannt.
Gelegentlich einer zur Lösung der Frage Über die Existenz des
Foranien Rivini unternommenen anatomischen Untersuchung fand Cor-
nelius an der Innenseite des Trommelfelles eine Falte (Fig. 18), die er
nach Form und Begrenzung genau schildert: ,membranulani triangulärem,
quae a tergo antrorsum ad malleum protensa huic est affixa". Wird
unter diese Falte eine Borste nach oben eingeschoben, so sieht man sie
an der äußeren Fläche des Trommelfells in der Foveola des Trommel-
fells (jetzt Membrana flaccida) durchschimmern. Hierdurch wird die
Kommunikation des Prussaksehen Raumes mit der hinteren Trommel-
felltasche erwiesen.
*l Grundriß der Phyaiologia,
**) lieber die Natur des äDballstrahlea nebat einem Anhange über die Trammel*
fellklappe. Wien 1833.
"•) üeber die Muskeln des inneren Ohres. Berliner mediz. Zentralztg. 1836.
366 Th. Buchanan.
Cornelius hält die beschriebene Palte für eine Duplikatur des
Trommelhöhlenperiosts, das auf die innere Trommelfellfläche übergeht ^).
Er erläutert diese Verhältnisse an sehr guten Abbildungen (Fig. 18
und Fig. 19), die noch durch einen vollkommen richtigen Frontaldurch-
schnitt ergänzt werden.
An der Außenfläche des Trommelfells beschreibt Cornelius die
später auch von Prussak*) erwähnten und nach ihm benannten Streifen,
welche sich vom kurzen Hammerfortsatze zu der winkelig vorspringenden
Grenze des Rivinischen Ausschnittes hinziehen und die Grenze zwischen
Membrana tensa und flaccida des Trommelfells bilden. Nach Ablösung
der Membrana flaccida entdeckte er in dem zwischen dieser und dem
Hammerhals befindlichen Räume (jetzt Prussakscher Raum) eine kleine
dreieckige Falte ausgespannt ^). Das Trommelfell ließ er aus vier Schichten
bestehen, wie dies schon Winslow, Haller, Cassebohm vorher, später
auch Autenrieth annahmen. Die beiden innersten Schichten sollten
eine Duplikatur des Trommelhöhlen- und Gehörgangsperiosts darstellen,
während die äußerste der Haut des Gehörgangs, die innerste der Schleim-
haut der Trommelhöhle angehören. Das Foramen Rivini weist Cor-
nelius auf Grund zahlreicher Untersuchungen zurück.
^) Membrana haec valvuliformis nihil aliud est, nisi plica |>erio8tei cavum
tympani obducentis in longum deducta, quae a periosteo, antequam in tympani
laminam internam abit, demittitur, quod ipse perspicue vidi. 1. c. p. 29. — *) Ut
mtemam tympani faciem eo loco diligentius investigarem, ubi externe plicae reperi-
untur supra memoratae, a malleo membranam illam dissolvi, quam replicans intra
illam atque tympanum aliam conspexi membranulam i)ariter triangulärem, proxime
tympano, in extrerao inter annulum tympanicum malleumque recessu. 1. c. p. 28.
Thomas Buchanan (1782 — 1853). Zu den Werken, die anatomisch-
physiolofjisch mehrere Abschnitte des Gehörgangs behandeln, zählt die
Arbeit des Praktikers und Surgeon am Dispensary für Augen- und
Ohrenkrankheiten, Thomas Buchanan, betitelt: ^ Physiological illu-
strations of the organ of hearing etc." (London 1828). In dieser werden
insbesondere die Ohrmuschel, der äußere Gehörgang und dessen
Drüsen einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.
Nach Buchanan verläuft der Gehörgang, dessen Länge I^Ja bis
1^2 Zoll beträgt, zuerst nach vorne oben, dann nach hinten und innen
und zuletzt nach unten, vorn und innen, verengert sich allmählich bis
etwa eine Linie vor dem Trommelfell, in dessen Nähe er sich wieder
erweitert.
Die untere längere Wand l)ildet iim inneren Ende eine ovale Ver-
tiefunc^, die von Buch an im als .Depressionalkurve" (ausgehöhlte Ver-
tiefun«^) bezeichnet wird (unser jetziger Sinus nieat, aud. ext.). Auf die
') A. f. 0. Bd. III.
Th. Buchanan. 867
Resultate seiner eingehenden Messungen der Dimensionen des äußeren Ge-
hörgangs und des Trommelfells kann hier nicht näher eingegangen werden.
So bizarr auch die Ansichten Buch an ans über den Bau des Trommelfells
und über die Scballübertragung durch dasselbe sein mögen, so sind sie historisch
insofern interessant, als sie in dieser Periode den Stand der Ohranatomie und
Physiologie in England illustrieren. Die konische Form (Trichterform) des Trommel-
fells, die bei jugendlichen Individuen noch nicht vorhanden sei, entsteht nach
Buchanan dadurch, daß die Gehörknöchelchen und auch der Hammergriff, mit dem
das Trommelfell verbunden ist, verhältnismäßig rascher wachsen als die Trommel-
höhle (?) ; befördert wird ferner die Konkavität durch die große Menge der ein-
fallenden Schallwellen, die das Trommelfell nach innen drängen, durch das Wachs-
tum des Sulcus tympanicus und durch die Wirkung des Trommelfellspanners und
des Steigbügelmuskels (?). Der wichtigste Vorteil der Schräglage des Trommelfells,
dessen Radiärfasern nach Home er für muskulös hält, sei der, daß dadurch die von
ihm reflektierten Schallwellen in die ausgeschweifte Grube des äußeren Gehörgangs
gelangen und dort von dem sich bis dorthin erstreckenden röhrenförmigen üeberzuge
des Ohrenschmalzes absorbiert werden, wodurch angeblich die Entstehung eines
Widerhalls im Ohre verhindert werde. Buchanans Angabe, daß die Ohrschmalz-
drüsen eine Linie innerhalb der Oeffnung des Gehörganges anfangen und sich bis
auf eine oder eine halbe Linie vor dem Trommelfell erstrecken, ist längst als un-
richtig erwiesen worden. Auf die Pathologie und Therapie Buchanans werden wir
später noch zu sprechen kommen.
Wesentlich abweichende Angaben über den Bau des äußeren Gehörgangs und
des Trommelfells finden sich bei den zeitgenössischen Forschern. So behauptete
Krause'*'); daß die häutigen Lamellen des Trommelfells nach oben zu auseinander-
weichen, weshalb die Membran an dieser Stelle schlaffer sei als deren untere Hälfte.
Pappenheim**) nimmt fünf Schichten am Trommelfell an: Epidermis,
Beinhaut des äußeren Gehörgangs, eigentliche Haut des Trommelfells, Beinhaut der
Trommelhöhle und Schleimhaut. Die konzentrischen Fasern hören in einiger Ent-
fernung vom Hammergriffe auf.
Lincke***) zerlegte durch Mazeration das Trommelfell in ein inneres und
ein äußeres zartes Blatt, von denen das eine nach seiner Ansicht vom Trommel-
höhlen-, das andere vom Gehörgangsperiost seinen Ursprung [herleitet. Die am
Hammergriff dichter zusammentretenden und sUlrker entwickelten radiären Fasern
verleihen dem Trommelfelle an dieser Stelle besondere Festigkeit.
Schließlich sei noch die Dissertation des Schweizer Arztes Alexius Theodor
Aeplif) erwähnt, die eingehend die Gefäße und Nerven des Trommelfells behandelt,
vorzugsweise aber auf den Arbeiten von Caldani, Home und Shrapnell fußt.
Außer den genannten Publikationen findet sich in fast allen anatomischen,
physiologischen und otiatrischen Werken dieses Zeitraumes manches Bemerkenswerte
über die Anatomie des äußeren Gehörgangs und des Trommelfells, so bei Auten-
rieth und Magendie (s. später), femer bei J. F. MeckeP). Rosenthal'), Tram-
pel-^). Berres^), Lauth«^), Bock«), HempeH), Rudolphi«), E. H. Weber«),
Seiler»»), Tod»»), Lenhossek»*), Jung") u.a.
^) Handb. d. menschl. Anatomie. Hannover 1836.
**) Frorieps Notizen 1838.
***) Handb. d. Ohrenheilk. Bd. I, 1837.
t) De membrana tympani. Gynopedii 1887.
368" Blumenbach. Anth. Carlisle.
>) Handb. d. men8chl. Anatomie Bd. IV. Halle 1815—1820. — *) Handb. d.
Chirurg. Anatomie. Berlin 1817. — ') Wie erhält man sein Gehör gut etc. Han-
nover 1822. — *) Anthropotomie oder Lehre vom Baue des menschlichen Körpers.
Wien 1835. Bd. I. — ^) Neues Handb. d. prakt. Anatomie. Stuttgart und Leipzig
1835, 1836, Bd. I. — «) Handb. d. prakt. Anat. Meißen 1819—22. — ') Anfangs-
gründe d, Anat. d. menschL Körpers. Göttingen 1801 — 33. — *) Grundriß der Physio-
logie Bd. II. Berlin 1821—28. — •) Meckels Archiv 1827, p. 233. — >*») Im Med.
Realwörterbuch von J. F. Pierer, Altenburg 1816—29, Bd. V. — ^*) Anatomj and
physiology of the organ of hearing. London 1832. — *-) Physiologia medicinalis.
Pest 1816 — 18, Vol. IV. — ") Vom äußeren Ohre und seinen Muskeln beim Menschen.
Verhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Basel 1849.
Die Ohrenschmalzdrüsen beschrieben am Anfange dieses Jahrhunderts
R. Wagner*), Krause-), Henle'), Kohlrausch, Valentin, Pappenheim u.a.
und stellten durch mikroskopische Untersuchung ihre tubulöse Beschaffenheit fest.
Ueber die Chemie des Ohrenschmalzes stellten Foucroy, Vanquelin
und Berzelius^) gründliche Untersuchungen an. Ferner schrieben über diesen
Gegenstand Th. Schreyßr^) und C. Fromherz').*)
1) Icones physiologicae. Leipzig 1839, Tab. XVI. — ») In Müllers Archiv 1889.
— ^) AUgem. Anatomie S. 915. — *) Lehrbuch der Tierchemie. Dresden 1831. —
*) Allg. Enzykl. d. Wissensch. u. Künste. Leipzig 1832, Sekt. III, Bd. III, p. 332—333.
— «) Lehrb. d. med. Chemie, 2 Bde. Freiburg 1834, Bd. II, p. 226.
Um die Erweiterung der anatomischen Kenntnisse vom Bau der
Trommelhöhle, der Gehörknöchelchen, ihrer Muskeln und
Bänder machten sich in diesem Zeiträume zahlreiche Forscher Terdient
Blumenbach wies zuerst nach, daß das Linsenbein nicht ein
eigenes Knöchelchen, sondern eine Apophyse des langen Amboßschenkels
sei, eine Ansicht, der später auch ShrapnelP) beitrat. Blumenbach
fand ferner an der hinteren Fläche des Sta])esköpfchens zwei Grübchen,
die dem Ansätze der Sehne des M. stapedius dienen.
Saunders*) gab genauere Maßangaben der Trommelhöhle. Nach
ihm ist ihr Tiefendurchmesser in der Cxegend des ovalen Fensters am
größten, der Schneckenspitze gegenüber am kleinsten.
Anthony Carlisle gibt in seiner Arbeit ^) eine eingehende Schil-
derung der anatomischen Verhältnisse des Stapes beim Menschen, der
eine vergleichende Anatomie dos Stapes bei den verschiedenen Säuge-
tieren und der Columella bei Vögeln und Amphibien angefügt ist. Dem
Texte ist eine mit vorzüglichen Abbildungen ausgestattete Tafel, ent-
haltend die bildliche Darstellung des Stapes und seiner Homologen in
der Tiorreihe beigegeben.
Weniger glücklich ist Carlisle in seinen [>liysiologischen Reflexionen.
So iiinimt er irrtümlich an, daß der Musculus stapedius bei seiner Aktion
•j Nach Scliwartze (A. f. U. VIT) fandt-n Wedel und Hu y gart, daß
C'erumcn am bostfn im Wasser löslich sei, was später aiicli von Petrequin be-
btätii^t wurtlc.
Pappenheim. 369
die Stapesplatte nach einwärts drückt, daß der Stapes wohl einer-
seits in Gemeinschaft mit den anderen Gehörknöchelchen den Schall
zum Labyrinth zuleite, andererseits aber hauptsächlich berufen sei, bei
Zusammenziehung des Musculus stapedius den Druck im Labyrinth zu
erhöhen und die Membran des runden Fensters anzuspannen. Diese An-
sicht drückt gerade das Gegenteil von dem aus, was jetzt experimentell
erwiesen ist. Carlisle glaubt ferner, die Schalleitung vom Trommel-
fell zum Labyrinthe finde vorzugsweise durch die Luft der Trommelhöhle
zur Membran des runden Fensters statt, und die Kette der Gehörknöchel-
chen spiele hierbei keine Rolle, eine Ansicht, die in neuerer Zeit wieder
von Secchi und Zimmermann in den Vordergrund der Diskussion
gestellt wurde.
Erwähnenswert ist, daß Carlisle anstatt des noch bis in die neueste
Zeit gebräuchlichen Terminus Fenestra rotunda bereits die erst in jüngster
Zeit eingeführte Bezeichnung ^Fenestra Cochleae" gebraucht.
Um diese Zeit wurde der Streit über die Struktur der von den älteren Ana-
tomen als Muse, laxator tymp. major et minor bezeichneten, nun histologisch als
Ligamente erkannten Gebilde entschieden.
Tiedemann^) und Hagenbach ^) zweifelten an der muskulösen Beschaffen-
heit des M. laxator tympani major (vorderes Hammerband), geleugnet wurde
er von Lieutaud"), Bonnafont^), Joh. Müller®), Breschet'), Arnold*®),
Lincke und Huschke. Krause^*) wollte noch in ihm quergestreifte Muskelfasern
gesehen haben, und Treviranus glaubte, ihn beim Fuchs als kräftigen Muskel ge-
funden zu haben; doch hat letzterer, wie Huschke nachwies, anstatt des vorderen
Hammerbandes den Tensor tympani untersucht. Was den sog. M. lax. tymp. minor
anlangt, so hatten schon ältere Beobachter wie Valsalva, Vieussens, Morgagni,
Cassebohm, P. F. Meckel, Haller seine muskulöse Natur in Abrede gestellt,
welcher Anschauung auch spätere Forscher wie Treviranus. Hagenbach, Joh.
Müller, Bonnafont. Krause, Huschke u. a. folgten.
Die Lehre von den Bändern der Gehörknöchelchen be-
reicherten, wie früher erwähnt, Soemmerring, Pappenheim, Berres,
Lincke u. a.
Pappenheim spricht von einem elastischen Kapselbändchen^-)
zwischen Linsenbein und Amboß. Die Hammeramboßkapsel wird durch
einen Ring elastischer Fasern verstärkt. Eine Palte der oberen Kapsel-
haut begibt sich in das Gelenk in Form eines keilförmigen Meniskus
hinein, ein Befund, der später von Rüdinger bestätigt wurde (vgl. die
Abbildung im Lehrb. d. Verf., 4. Aufl., S. 25).
Berres^ ^) findet an der Hammeramboßkapsel ein äußeres und ein
inneres Seitenband.
Lincke beschreibt ein Amboßband (Lig. processus longi incudis),
welches von dem oberen Teile der hinteren Wand der Trommelhöhle in
schräger Richtung nach vorne und außen zum absteigenden Schenkel
Politzer, Oeschichte der OhrenheiUiunde. I. 24
i
stand der EenutniBse über die Ohrtrompete.
herabgehen soll, gibt Aber zu, daß es sich um eine inkonstante Sdile:
hautfalte handeln bann.
Außer den bereits genannten aeien aocb einige Forscher erwähnt, die teil
SpeziaUchriften, teils in allgemeinen anatomischen Werken die Kenntuis von
Struktur der Trommelhöhle fördei-ten. Zu ihnen zahlen insbesondere Treviranui
Hildebrandt und E: Weber"). Bonnafont"). Cloquet"), Chevalier") «
Die vergleichende Anatomie der Trommelhöhle bearbeiteten Magendic
Hagenbach") und Hjrtl "). Eine zusammenfagiende Darstellung der anatomisc
EenntniBse der Knorpel, Muskel und Nerven des äuSeren Obres gab HannOTe:
') Lond. med. Gaz., Jone 1838 u. Frorieps Notizen Bd. 38, 1833- — »> '
anatomy of the human ear, 3. ed. London 1829. — ') A. Carlisle, Fbilosophicol Tr
actions of tbe rojal society of London 1805, p. 198 — 210. The physiologie of
itapes, one of the bonea of the organ of hearing; dednced from a compariitive v
of ita Btructure. and uses, in different animalg. — ') Ztschr. f. Physiol. I, 239.
') Diaquisit. anat. etc. Baa. 1833, p. 20. — °) Zergliederungsk. II. p. 309. — ') ;
sc. med. de Montpell. 1884, T. II, p. 93. — ■) Areh. f. Anat. u. Phys. I. 1836, S.
— ') Heusinger, ZtBcbr. f. org. Physik III, 8. 588.— '") Physiol. g 673. — ■■) Syno
nerv, syst gangl. in capite in Epist. gratul. ad Stieglitz , p. 8. ^ ") Gewebelt
des Ohrs, S. 39. — ") I. c. — '*) Biologie od.' Phil, von d. leb. Natur Bd. VI, S. J
1822, Das Gehör. — ") Lehrb. d. Anat., 3. Aufl. — ") Nouvelle esposition
mouvemeots de la chatne des osselels de l'oule. Journal des scienceR med.
Montp. 1834. — ") Traite d'anatomie deseriptive. Broxelles 1834. — ") On
ligamenta of the human ossicula auditua. Medice. -Chirurg. Trans. Vol. XITl, Ij
— ") Sar \en organei, qui tendent ou reläcbent la membrane du tympan et la chi
des osselets de l'ou'ie dans I'horame et lea animaui mammifere». Paria, Joum. de PI
eip^rim. et patbol. T. I, 1821, p. 341 iF. und Meckela Archiv Bd. VIII , S. 137
1828. — '") Die Paukenhöhle der Säugetiere. Ein Beitrag zur vergleichenden i
tomie des GebSrorj^anä. Leipzig 1835. — Disquisitiones iinat. circa musculos a
intemae hominis et mammalium adjectia animadveraionibus nonnullis de Ran
auriculari sive otito. Bas. 1833. — ^'| Vergleichend- anatoiniache Unterauchun
flber das innere Gehörorgan des Menschen und der Säugetiere. Prag 1845. — '*]
c:irtila>;., musc, nerv, auris eit. e(c. Hauniae 1830.
Die Eustachische Ohrtrompete war in der ersten Hälfte
19. Jahrhunderts Gegenstand eingehender anatomischer ForschunR, ■
dies die zahlreichen Spezi al Schriften beweisen, auf die wir später zurü
kommen werden. Wohl war der gröbere Bau der Ohrtrompete du
die Anatonieu des 18. Jahrhunderts io seinen Hauptzügen festgest*
allein die komplizierten topographischen Verhältnisse des Tubenkam
seine Verbindung mit der Schädelbasis, seine Beziehungen zur Räch
niuskulatur und sein histolojfischer Bau wiesen noch zahlreiche Lücl
auf, die teils in dieser Zeitpenode, teils aber erst in der zweiten Hä
di's 19. Jahrhunderts ausgefüllt wurden.
Besonders wichtig für die Funktion der Eustachischen Ohrtrc
pete und des Mittelohrs war die genaue Erforschung der Gaiinii
muskulatur und ihres Verhaltens znr Ohrtrompete, auf de
Bedeutung bereits Valsalva i,S. 2^7) hingewiesen hat.
Tourtual. 371
Vor allem war es Tourtual, der in seinen „Neuen Unter-
suchungen über den Bau des menschlichen Schlund- und
Kehlkopfes mit vergleichend anatomischen Bemerkungen,
Leipzig 1846"*) eine klassische Beschreibung des Muskelapparates
der knorpeligen Tube lieferte. Diese vorzügliche Monographie, noch
jetzt von aktuellem Werte, zeichnet sich durch sorgfältige Beobachtung
und Feststellung neuer Tatsachen im Baue der Ohrtrompete aus. Sie
bildet die Grundlage für die einschlägige anatomische Forschung der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihre Bedeutung für die praktische
Ohrenheilkunde wird von v. Tröltsch besonders hervorgehoben.
Der erste Abschnitt der Monographie Tourtuals enthält eine
detaillierte Beschreibung der ungeöffneten, hinteren Wand des
menschlichen Schlundkopfes. Außer dem M. salpingopha-
ryngeus werden hier einige Muskelbündel erwähnt, die als Fortsetzung
des Gaumenhebers an der hinteren Fläche des Tubenknorpels in der
Nähe des knöchernen Teiles entspringen, sich unter der Tubenmün-
dung nach aufwärts umbiegen, an der Seitenwand des Pharynx wieder
aufsteigen und nahe ihrem Ursprünge an derselben Fläche des Tuben-
knorpels sich befestigen, so daß sie die Tube wie ein Ringmuskel umfassen.
Der nächste Abschnitt: Das Verhältnis des Schlundes zu
den Planis semicircularibus beim Menschen und bei den Tieren, bietet
für uns weniger Interesse als die Schilderung des Nasenteiles des
Schlundkopfes.' Die ßosenmüllersche Grube beschreibt Tourtual
viel genauer, als sie Rosenmüller**) beschrieben hatte. Er erwähnt
hier statt einer Grube drei Vertiefungen. Vom Gaumenheber (Levator veli
palatini) meint er, daß er unter der häutigen Partie der Tube verläuft,
durch Bindegewebe mit ihr zusammenhängt, und daß auch einige seiner
Fasern von dieser Membran entspringen, worauf schon Huschke hin-
gewiesen hat***). Sie vertreten gleichsam die Stelle von Längsbündeln,
da sie überall an häutige Teile angeheftet sind. Ferner beschreibt Tour-
tual eingehend Lage und Verlauf der Plica salpingopalatina
(Tourtual) und salpingopharyngea. Hier erwähnt er auch die vom
oberen Ende des Tubenwulstes ausgehende halbmondförmige Schleimhaut-
falte (von Hof mann später Plica salpingonasalis genannt). Trefflich ist
die Beschreibung des knorpeligen Teiles der Ohrtrompete und
ihres Verhältnisses zur Gaumenmuskulatur. Tourtual war der erste,
der den Ursprung des Gaumenspanners (Tensor veli palatini) und
*) Das in meinem Besitze befindliche Exemplar dieser seltenen Monographie
verdanke ich der Gattin meines verewigten Freundes v. Tröltsch, die es mir
durch Vermittlung des Herrn Prof. Wagenhäuser zukommen ließ.
**) Chirurgisch-anatomische Abbildungen 1805.
***) Diese Annahme wurde spater von v. Tröltsch, Moos u. a. bestritten.
372 Tourtual.
seine Beziehung zur Ohrtrompete genau beschrieb. Aus der Art seiner
Insertion an dem häutigen Tubenteile erklärt er, wie dieser Muskel
die Ohrtrompete sowohl an ihrer Mündung, wie im Verlaufe ihres
häutigen Teiles bis zum knöchernen hin erweitern kann, indem er sich
von seiner aponeurotischen Befestigung am hinteren Rande der horizon-
talen Gaumenbeinplatte um den Hamulus pterygoideus kontrahiert, da^
durch die häutige Trompetenwand nach abwärts zieht und sie von der
obenliegenden Knorpelrinne entfernt. An der Schleimhaut der häutigen
Tube beobachtete Tourtual zarte Längsfalten, die bei Dilatation des
Kanals verstreichen.
Der Gaumenheber (Levator veli palatini) entspringt nach Tour-
tual an der äußeren Felsenbeinfläche und dem der knöchernen Tube
nahegelegenen Teile des Tubenknorpels und empfängt absteigend noch
einige Muskelbündel vom häutigen Teile. Dieser Muskel muß, wie
Tourtual ausführt, außer seiner Funktion, den weichen Gaumen zu heben,
noch eine Verengerung der Tube durch Verkürzung des Vertikaldurch-
messers in der Richtung von unten nach oben bewirken, teils durch sein
Anschwellen bei der Kontraktion, vor allem aber dadurch, daß er die
obere Schleimhautplatte des Gaumensegels nach außen und oben in die
Tube hineinzieht, wodurch der Boden der Rachenmündung beträchtlich
gehoben wird. In dieser Wirkung müsse er besonders durch seine vom
häutigen Boden entspringenden Bündel unterstützt werden und es sei
auch wahrscheinlich, daß sich bei ihrer Kontraktion in dem Boden Quer-
falten bilden, von denen die unter der Tubenmündung entstehende wulstige
Falte die stärkste sei.
Außer diesen Muskeln beschrieb er noch folgende Muskelpartien an der knorpe-
ligen Ohrtrompete: einen M, salpingostaphylinus, Trompetenmuskel, der zur
Verengerung der Tubenmündung dient und einen M. angularis tubae, Winkelmuskel
der Trompete, der die Tubenmündung im Querdurchmesser verengen und ihre hintere
wulstige Prominenz abflachen soll. Durch gleichzeitige Kontraktion des Gaumen-
hebers und des zuletzt genannten Muskels erfolgt, wie Tourtual ausführt, eine
Verengerung der Tubenmündung in beiden Durchmessern zugleich. Endlich nennt
Tourtual noch als Teil des oberen Schlundkopfschnürers den M. salpingo-
p h a r y n g e u s.
Aus seiner Besprechung der Tubenmuskelinnervation sei der
von ihm als Nervus tubae bezeichnete Ast hervorgehoben, der den
Musculus angularis tubae, den Salpingopalatinus und die an der häutigen
Tube entspringenden Levatorbündel versorgt. Dieser Nerv entstammt
nach Tourtual vom Plexus tympanicus der Trommelhöhle und bezieht
Fasern vom Ganf]flion oticum oder dem dritten Trigeminusaste, von dem
aus sie durch den Nervus petrosus superficialis minor in den Plexus tym-
panicus gelangen. Die Schleimhaut wird von Kami pharyngei aus dem
Tourtual. 373
Ganglion sphenopalatinum innerviert. Schleimdrüsen sah Tourimal
in der Schleimhaut der Knorpelwand, am zahlreichsten in der Nähe der
Tubenniündung.
Eine Erweiterung der Tube erfolgt nach Tourtual schon durch die nach-
lassende Eontraktion der die Tube verengenden Muskeln (Gaumenheber, Trompeten-
gaumenmuskel , Winkelmuskel). Sie geht über diese Grenze hinaus , wenn die
Antagonisten der Verengerer in Aktion treten. Für solche hält Tourtual außer
dem Ganmenspanner auch den Gaumenschnürer , der nach seiner Ansicht wie
jener den senkrechten Durchmesser des ostium pharyngeum tubae vergrößern kann.
Die Verschließung der Tube schätzt nach Tourtual bei heftigen Exspirations-
bewegungen (Husten oder Nießen) das Trommelfell vor dem gewaltsamen Andrang
der Luft aus den Lungen, beim Erbrechen verhütet sie das Eindringen der er-
brochenen Flüssigkeit in die Trommelhöhle. Außerdem aber hat sie wahrscheinlich
einen noch wichtigeren akustischen Zweck. Nach He nie und Job. Müller wird
durch die Kommunikation der Trommelhöhle mit dem Nasenrachenraum, auch wenn
die Luftschwingungen bloß durch den äußeren Gehörgang zum Trommelfell gelangen,
die Resonanz im Ohre dadurch vermehrt, daß gleichzeitig die Luft des Nasenrachen-
raums in Vibration geöetzt wird. Daraus folgert nun Tourtual, daß bei größerer
Weite der knorpeligen Tube diese Mitresonanz und somit die Gehörsempfindung ver-
stärkt, beim Engersein hingegen geschwächt wird. Die Verstärkung der Hörempfin-
dung beim GeflTnen des Mundes erklärt er dadurch, daß bei Senkung des Unterkiefers
die Konstriktoren des Isthmus faucium in Aktion treten , das Gaumensegel stärker
herabziehen und dadurch die Rachenmündung so erweitem, daß die Schallwellen
durch den Tubenkanal in die Trommelhöhle und zum Labyrinth gelangen.
Auf eine eingehende Besprechung der folgenden Kapitel , die den Gaumen-
vorhanj?, die vorderen Gaumenheber, ein neuentdecktes Muskelpaar an den hinteren
Nasenöffnungen, den Mundhöhlen- und Kehlkopfteil des Schlundkopfes behandeln,
können wir verzichten. AusTourtuals Lehre vom Schling akte wäre bloß mit-
zuteilen, daß er während der Bewegung des Bissens vom Vestibulum oris in den
Schlund ein leichtes Brausen vernahm, das sich vom Rachen zur Trommelhöhle
hinzog. Er erklärt dies durch die Zusammenziehung des Gaumenhebers und die
dadurch hervorgerufene Bewegung der unteren häutigen Tubenwand. Viel inten-
siver und anhaltender werde dieses Geräusch während des Gähnens ver-
nommen, wobei der Gaumen noch stärket und auf längere Zeit gehoben werde. Die
letzten Abschnitte: üeber einige Knorpel des Kehlkopfes, das elastische Gewebe
im Kehlkopfe und in der Zunge, einige Muskeln des Kehlkopfes kommen für uns
nicht in Betracht.
Welcher Umschwung der Arbeit Tourtuals in physiologischer Beziehung
beizumessen ist, ergibt sich aus dem Ausspruch Theiles^) in seiner kurz vorher
erschienenen Neubearbeitung der Soemmerringschen Muskellehre, daß ihm die
eigentliche Wirkung des mit beiden Enden an zwei unbeweglichen Teilen befestigten
Tensor veli palatini noch gänzlich unbekannt sei.
Eine interessante Beobachtung über die Aktion der Gaumen-Tuben-
muskulatur am Lebenden liegt von Bidder vor**). Er konnte nämlich bei
einem Patienten mit defekter Nase und Wange, bei dem es möglich war, den ganzen
oberen Rachenraum direkt zu übersehen, feststellen, daß der Levator veli pala-
*) ,Vom Bau des menschlichen Körpers" 1841, Bd. 3 der 2. Aufl.
**) Neue Beobachtungen über Bewegung des weichen Gaumens etc. Dorpat 1838.
374 Breschet.
tini ein Verengerer der Tube sei. £r beobachtete, daß, so oft sich das Gaumen-
segel hob, an der Seitenwand des Pharynx, hinter der Rachenöffhung der Tube sich
ein vorspringender Wulst zeigte, der der Länge nach von oben nach unten verlief.
Diesen Wulst identifizierte er mit dem bei der Eontraktion stärker hervortretenden
Gaumenheber.
Köllner ^) beschrieb an der Bachenmündung der Tube eine quer verlauf ende
geschmeidige Falte, die sich gegen das Innere des Mundes wie ein Kläppchen
öffnen sollte. Er stellte ferner die Behauptung auf, daß die Ohrtrompete zur Ab-
leitung der Überflüssigen Schallstrahlen diene, weshalb man auch nach heftigen
Schalleindrücken ein Kitzeln im Bachen verspüre.
Die von Saunders und Kram er ausgeführten Messungen über Länge und
Weite der Ohrtrompete wurden vorzugsweise für praktische Zwecke unternommen.
Von den Arbeiten über Histologie der Ohrtrompete wäre aus dieser
Periode nur die Krauses zu erwähnen. Nach ihm besteht der die Knochenfurche
überragende, an der Schlundwand liegende Teil der Tube aus gelbem elastischen,
der an die Furche selbst geheftete Teil aus weißem Knorpel, das obere Ende aus
Faserknorpel. Diese Angaben, sowie diejenigen Pappenheims, die nach L. Mayer*)
vollkommen unverständlich sind, erfuhren erst durch die eingehenden Untersuchungen
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gründliche Korrektur.
Während Bichat (I. c.) die Auskleidung des Mittelohrs richtig als Schleim-
haut erklärt hatte, ist Stadler der Ansicht, daß die die Tube auskleidende Haut
eine serös-schleimige Membran sei, die in der Trommelhöhle den Charakter einer
serösen Membran annimmt.
Von den Spezialarbeiten über die TubaEustachii aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts wären noch zu erwähnen: Joh. Köllner^),
Joh. D. Herholdt^), Cäsare Bressa^), Aug. H. Westrumb*), P. F.
A. Lieboldt'^).
') Ueber den Zweck d. Eust. Tromn. in Reils Arch. f. d. Phys. Bd. II u. IV,
1797. — 2) Eine Anmerk. über d. Physiol. d. Gehörs in Reils Arch. f. d. Ph. Bd. III,
1799. — ') Ueber d. Hauptnutzen d. Eust. Röhre. Pavia 1808 in Reils Arch. Bd. VIII.
— *) Ueber die Bedeutg. d. Eust. Tromj). in M eckeis Arch. 1828. — ^) Commen-
tatio de usu tubae Eustachianae ex anatonie tiim humana quam comparata et phae*
nomenis pathologiis comparatis. Göttingen 1828.
Die Anatomie des Labyrinths weist nach den bahnbrechenden
Vorarbeiten Scarpas und So emm er rings in dieser Periode bedeutende
Fortschritte auf. In erster Reihe ist
Guilbert Breschet (1784—1845), der Nachfolger Cruveilhiers
auf dem Lehrstuhle der Anatomie in Paris, zu nennen, dem die Morpho-
logie des häutigen Labyrinths größere Förderung verdankt. Sein Werk
„Ktudes anatomiques et physiologiques sur Torgane de Touie et sur
Taudition, daiis Thomme et les animaux vertebres"* M geht in seiner
exakten Darstellung der Form- und Lageverhältnisse des elliptischen
und runden Säckchens (Utriculus und Sacculus) über die Detailschilderung
■•) JStudien über die Anatomie des Canalis Eustachii. München 1860, ]). 42.
Tafel XX
GILBERT BRESCHET
Breschet. 375
Scarpas hinaus. Ihm gebührt auch das Verdienst, eine einheitliche
sinngemäße Nomenklatur für die einzelnen Labyrinthgebilde eingeführt
zu haben.
Es würde zu weit führen, hier auf das voluminöse, mit vortreflF-
lichen Kupfertafeln ausgestattete Werk Breschets näher einzugehen.
Im folgenden sollen nur die wichtigsten Details berührt werden. In
seiner noch jetzt unübertroflFenen Schilderung der beiden Vorhofsäckchen
spricht sich Breschet für eine Kommunikation beider Säckchen aus,
doch konnte er trotz genauester Untersuchung den anatomischen Zu-
sammenhang nicht nachweisen. Seine Beschreibung der häutigen Bogen-
gänge weicht von der Scarpas (S. 166) insofern ab, als dieser die
membranösen Bogengänge ganz richtig als wandständig an den knöchernen
Bogengang angibt, während Breschet annimmt, daß die häutigen
Bogengänge einen freien Raum zwischen sich und den knöchernen
Wänden ließen und nur hie und da durch zarte Bindegewebsfasern locker
angeheftet seien.
Besondere Sorgfalt widmete Breschet der Untersuchung der
Labyrinthflüssigkeit. Er unterschied schärfer als bisher die Flüssig-
keit des knöchernen Labyrinths, die Perilymphe von der des häutigen,
der Endolymphe; eine Differenzierung, die übrigens schon Ducrotay
de Blainville zum erstenmal durchgeführt hat, der die Endolymphe
nicht eben glücklich Glasfeuchtigkeit (Vitrina auditiva) nannte^). Die
Perilymphe fand Breschet immer von sehr heller, wäßriger Beschaffen-
heit und eiweißhaltig; ähnliche Zusammensetzung wies auch die Endo-
lymphe auf.
Was die beiden Aquädukte anlangt, so sah sie Breschet beim
Fötus und Neugeborenen größer als beim Erwachsenen. Erwähnenswert
ist, daß er, wie später auch J. Müller, Huschke, Hyrtl u. a. annahm,
daß es sich bei den häutigen Teilen der Aquädukte nicht um offene
Röhren handle, wie Cotugno nachgewiesen hatte, sondern um solide
Fortsetzungen des Schnecken- und Vorhofsperiosts mit oder ohne Gefäße,
eine Ansicht, die man bekanntlich spä:ter wieder fallen ließ. Huschke
suchte die Annahme Breschets dadurch zu erklären, daß er die Be-
hauptung aufstellte, die Aquädukte seien Reste einer fötalen Verbindung
des Arachnoidalraumes mit dem knöchernen Labyrinthe*).
Die Anatomie der Schnecke wurde von Breschet ebenfalls
einer gründlichen Bearbeitung unterzogen. An der Spiralplatte unter-
schied er drei Zonen, eine innere knöcherne, eine mittlere halbknöcheme
oder halbhäutige und eine äußere häutige Zone. Die letzte besteht
nach ihm aus drei Blättern, von denen die beiden externen aus
*) Beiträge zur Pbysiol. 1824, p. 35.
376 Breschet.
der die Treppe bekleidenden Membran gebildet werden, während das
mittlere sich aus den Verschlingungen der neurilematischen Scheiden
des Nervengeflechts zusammensetzt. Die letzten Enden des Schnecken-
nerven liegen in der mittleren Zone. Der Terminus Helicotrema für
die Eommunikationsöffnung beider Treppen an der Spitze der Schnecke
wurde von Breschet in die Nomenklatur eingeführt.
Ein großes Verdienst erwarb er sich durch die Schilderung der
Gefäßverzweigung im Labyrinthe, insbesondere durch die genaue
Darstellung der Arterien des Spiralblattes*). Die Zweige der
Schneckenarterie, deren Soemmerring vierzehn abbildete, läßt Breschet
sich auf der ersten Zone des Spiralblattes in mehrere Aeste teilen, die
unregelmäßig angeordnet sind und miteinander anastomosieren. Aus
diesen Anastomosen gehen auf dem mittleren Teil der Spiralplatte zahl-
reiche kleinere Arterien hervor, die fast parallel verlaufen und am
äußeren Rande dieser Zone unendlich kleine Gefäßbogen bilden, von
denen eine dritte Ordnung noch zahlreicherer Aestchen für die dritte
Zone entspringt. Diese letzteren (Kapillargefäße) verbreiten sich strahlen-
förmig und gehen in einen venösen Sinus über, der am äußeren Um-
fang zwischen den beiden Blättern der Spiralplatte liegt. Die Venen
folgen teilweise ganz den Arterien, teils münden sie direkt in den venösen
an der Basis der Schnecke gelegenen Sinus*).
Breschet gehörte auch zu den ersten, die sich der Erforschung
der Otolithen widmeten. Schon Casserio (S. 120) beschrieb sie bei
Esox lucius. Während aber ihr Vorkommen bei Säugetieren und Vögeln
von den späteren Autoren bestritten wurde, ist ihr Vorkommen beim
Menschen von Blainville^), Huschke^) und Flourens*^) anatomisch
nachgewiesen worden.
Schon Scarpa (siehe S. 26()) und Comparetti^) beobachteten weiße Flecke
im Sacculus, die sie mit den Ohrstein chen der Fische und Amphibien identifizierten.
Genauer äußerte sich Blainville, ein Schüler Cuviers, über ihrie kreideähnliche
Beschaifenheit. Huschke^) fand, daß diese mehligen oder kreideartigen Massen sich
eigentlich aus Tausenden von Kristallen zusammensetzen, die er Ohrkristalle nannte,
eine Beobachtung, die durch Carus. R. Wagner, Krieger, Krause, Valentin,
\V harten Jones und andere bestätigt und ergänzt wurde. Huschke war der
Ansicht, daß die Otolithen auch zur Schärfe des Gehörs dadurch beitrügen, indem
das Vibrieren der Kristalle auf die Nervenfasern übertragen werde. Je tiefer das
Tier in der Tierreihe stehe, desto größer seien die Ohrkristalle, der Mensch habe
darum die kleinsten. Aber erst Breschet erhob den Befund Huschkes, der von
feinen säulchenförmigen sechsseitigen Kriställchen (Ohrkristalle) sprach, zur Gewißheit.
Von Breschet rührt auch die Bezeichnung Otolithen (Gehörsteine) für die großen
schmelzartigen Ohrsteine der Fische her und die Bezeichnung Otoconia (Ohrstaub)
"^i Diese Beschreibung Breschets stimmt vollkommen mit Fig. 3, Taf. II in
Eichler.s Arbeit (1. c).
Steifensand. 377
für die feinpulverigen Massen bei den höheren Tieren. Er fand die „Otoconie*
in Form einer kleineren glänzenden Wolke im Innern des gemeinschaftlichen Säck-
chens in der Flüssigkeit schwimmend, unter und etwas hinter der Stelle, wo die
beiden vorderen Ampullen hervortreten. Die einzelnen Eriställchen sollen auf einer,
durch die Nervenenden fixierten Platte liegen, welche die Kristalle zusammenhält.
Breschet erwähnt auch chemischer Untersuchungen B arm eis. denen zufolge die
Otolithen aus organischer Substanz, kohlensaurem Kalk und kohlensaurer Magnesia
bestünden.
Von anderen Forschem, die vortreffliche Arbeiten über das Labyrinth
lieferten, wären noch zu nennen Krimer*), Brugnone**) und Ribes***). Krimer
untersuchte die Labyrinthflüssigkeit bei Säugetieren und Menschen und fand darin
Eiweiß, eine flüchtige Säure, an Kali oder Natron im Ueberschusse gebundene Kohlen-
säure und Wasser.
Die Dissertationsschrift Ed. Kriegers®) enthält außer einer historischen üeber-
sieht aller Arbeiten über Otolithen eigene Untersuchungen über die chemische Zu-
sammensetzung der Gehörsteine. Nach ihm sind die Kristalle durch eine organische
Masse verbunden, die von Zellen herrührt, in welche die genannten Kristalle einge-
schlossen sind.
Steifensand. Einisn weiteren Fortschritt machte die Anatomie des
häutigen Labyrinthes durch Steifensands (1804 — 1849) ausgezeichnete
Untersuchungen der Ampullen des Gehörorgans an Fischen, Reptilien,
Vögeln, Säugetieren und Menschen f). Scarpa und E. H. Weber hatten
schon auf eine vorspringende Leiste an der Innenseite der Ampullen
aufmerksam gemacht. Doch erst Steifensand zeigte, daß dieser bei
den verschiedenen Tierklassen variierende Vorsprung auf eine eigenartige
Einstülpung resp. Verdickung der Tunica propria der Ampullenwand
zurückzuführen sei.
Was die Struktur der Ampullen betrifft, so unterscheidet Steifensand
im allgemeinen, ohne Berücksichtigung der speziellen Modifikationen bei den
verschiedenen Tierklassen, ah jeder Ampnlle eine stark gewölbte und eine dieser ent-
gegengesetzte mehr konkave Oberfläche. P^rstere kehrt sich gegen den Bogen der
halbzirkelförmigen Kanäle, letztere nimmt den für die Ampulle bestimmten Ast
des Hörnerven auf. An der Eintrittsstelle des Nerven bemerkt man eine querver-
laufende Vertiefung (sulcus transversus), welcher im Innern der Ampulle eine Scheide-
wand (septum transversum) entspricht, die durch eine Faltung der Ampullenhaut
gebildet zu sein scheint. — Beim Menschen nähert sich die Form der Ampulle
mehr einem regelmäßigen Oval, da die Querfurche an der Stelle, wo sich im Innern
das Septum befindet, kaum bemerkbar ist. Der Nerv tritt, -nachdem er ungefähr
ein Dritteil der Zirkumferenz der Ampulle gabelförmig umfaßt hat, durch deren
*) Chem. Untersuchungen des Labyrinthwassers. Leipzig 1820.
'*'*) Observations anat. phjs. sur le labyrinthe de Toreille: M^m* de Tacad. de
Turin 1805—06.
**''') Expose sommaire des nouvelles recherches du docteur F. Ribes sur quelques
parties de Toreille interne. Joum. de phjsiol. ezperim. et pathol. de Hagendie I. II.
1822 u. Meckels Arch. Bd. VIII, 1823.
1) Untersuchungen über die Ampullen des Gehörorganes. Müllers Arch. 1835.
378 II«.
Wand hindurch, sich in feine Fäden auflösend und das gleich einem halbmond-
förmigen Wulste in die Höhle hineinragende Septum durchdringend. Die beiden
Enden dieses halbmondförmigen Septum verlieren sich allmählich in die Wandung
der Ampulle. Diese Einrichtung findet sich in gleicher Weise bei allen drei
Ampullen.
Auch die anatomische Erforschung der Schneckenstruktur, die
erst durch die klassische Arbeit Cortis um die Mitte des 19. Jahrhunderts
in die richtige Bahn gelenkt worden ist, wurde schon in dieser Periode
von zahlreichen Bearbeitern in AngriflF genommen. In erster Reihe ist hier
die vortreflfliche Beschreibung der Schnecke des Prager Anatomen Ilg zu
nennen, dessen kurzgefaßte Arbeit*) eine Menge neuer Details enthält.
*) Presentees ä Tacademie royale des sciences. 27. Aout 1832. — ') De Torgani-
sation des animaux au princip. d*Anat. comparee. Paris 1822, T. I. — *) Vgl. Os-
wald Eichler, Anat. Unters. Über die Wege des Blutstromes im menschl. Ohr-
labyrinth. Leipzig 1892. — *) 1. c. — ^) Beiträge z. Phjs. u. Naturgesch. Bd. I.
Weimar 1824. — •) Recherches sur les conditions fundamentales de Taudition et les
diverses causes de la surdite. Paris 1825. — ') 1. c. Obs. 43 u. 50. — *) Tausende
von Kristallen im Gehörorgane der Vögel. Frorieps Notizen 1832. Isis 1838
H. 7 u. 1834 H. 1. Ueber Kalkkristalle im Ohr etc. In d. Isis 1833; Berichtigung
die Kalkkrist im Labyr. betreffend. Isis 1834. — ») De Otolithis. Berol. 1840.
Johann Georg Ilg (1791—1836), seit 1810 Professor der Anatomie
in Prag, ein vortrefflicher Lehrer, zählt zu den Anatomen, die die tech-
nische Kunst der Anatomie in seltener Weise beherrschen. Verschiedene
anatomische Sammlungen in Oesterreich, so die Josephinische Akademie
und das anatomische Museum der Universität Wien, das vaterländische
Museum in Prag, verdanken ihm wertvolle Präparate, vor allem Präparate
des menschlichen Gehörorgans, die bis ins feinste Detail vollendet aus-
geführt sind**). Hyrtl fällt über Ilg folgendes Urteil: „Ich kann nicht
sagen, wie groß meine Ueberraschung war, als ich seine feineren osteo-
logischen Präparate und die Darstellung des menschlichen Gehörorgans
zum erstenmal sah. So hat noch keines Anatomen Hand gearbeitet, und
stolz kann derjenige sein, der nur die Hälfte nachzubilden verniao^, was
llgs Meisterhand in unerreichbarer Vollendung Schönes und Bewunderungs-
würdiges geschaffen*****).
Die Veranlassung zu llgs Arbeit über die Schnecke war dadurch
rregeben, daß er bei keinem der neueren Anatomen auffinden konnte.
*j Kini«,'0 anat. Beobachtunj]^en . enthaltend eine Herichtij^ung der seitherigen
Lehre vom Bau der Schnecke des menschlichen Gehörorganes etc. Prag 1821.
'■''•) Die OhrpiäparaUi der Josephs-Akademie kamen auf Veranlassung* Hofrat
Toi dt s später an das Museum des Wiener anatomischen Institutes.
'■ •' ) J. J. Hyrtl, (Tcsehichte der Anatomie an der Karl-Ferdinands-Universität
in rnig. Prag IHÜ. p. 44.
Rosenthal. 379
^wie die Spindel in der Schnecke zuletzt eigentlich endige, und wie
weit sie sich aus der zweiten Windung der Schnecke bis zur Decke der
Schneckenspitze erstrecke*. Aus seiner Schrift entnehmen wir folgendes:
Die Länge des Schneckenkanals bestimmte er mit 13 Linien Wiener Maß. Von
den 2V2 Spiralgängen ist der erste der größte und schließt in der Mitte, innerhalb
seiner Windung, einen gegen andei^halb Linien im Durchmesser betragenden Raum
ein, durch dessen Mitte die Achse der Schnecke läuft. Die dritte Windung endigt in
eine nach aufwärts gegen den Scheitel gerichtete, flach zugedrückte, rundliche, am
Ende blind verschlossene Spitze, welche die erhabenste Stelle der Schnecke selbst
ist. Die Spindel der Schnecke besitzt in der dritten Windung nicht mehr die Ge-
stalt einer Walze, sondern besteht bloß aus einem dünnen, gewundenen Knochen-
blättchen, das aus dem Ende der walzenförmigen Spindel in der zweiten Windung
hervortritt, von da bis zur Decke der Schneckenspitze hingeht und dort sich an-
heftet. Die Spiralgänge der Schnecke winden sich nicht um einen besonderen
knöchernen Kern oder Spindel, sondern die innere ausgehöhlte Wand des Kanals der
Schnecke bildet die Spindel, um die der Kanal herumläuft, und die nach der Er-
öffnung dieses Kanals in der ersten und zweiten Windung der Schnecke in Gestalt
einer Walze sichtbar wird. Der freie Rand dieses Knochenblättchens (Spindel), den
er längs der Achse der Schnecke von der Gegend des Endes des knöchernen Spiral-
blattes bis zur Decke der Schneckenspitze hin bildet, ist glatt und abgerundet und
gewöhnlich der Länge nach etwas ausgehöhlt, bisweilen aber bildet er ein kleines
Säulchen, das in gerader Richtung zu der Schneckenspitze hinläuft. Das knöcherne
Spiralblatt endigt mit seinem Haken, in den es zuletzt ausläuft, nicht schon in der
Hälfte des zweiten Schneckengewindes, sondern erstreckt sich bis in die dritte Win-
dung, so daß sich die Spitze seines Hakens bis auf ein Drittel einer Linie der Decke
der Schneckenspitze nähert. Das zellige Knochengewebe im Innern der Spindel
hängt mit der an der Wurzel des Spiral blattes zwischen den beiden Lamellen be-
findlichen zelligen Knochensubstanz zusammen. Ilg bestreitet den von Scarpa,
Soemmerring, J. F. Meckel, Wildberg, Hildebrandt angenommenen Scy-
phus Vieussenii aus folgenden Gründen: 1. weil sich die Spindel mit ihrer Spitze
mitten in der Schneckenachse bis zur Decke der Schneckenspitze erstreckt und sich
dort anheftet, 2 weil sich der Schneckenkanal bei seinem Ende in der dritten Windung
nicht zu einer rundlichen, größeren Höhle erweitert, sondern gleichförmig, wie in
seinem früheren Verlaufe enger wird und zuletzt in eine flach gedrückte, rundliche,
blind verschlossene Spitze ausläuft.
Friedr. Christ. Rosenthal. Eine neue wichtige Entdeckung im
Baue der Schneckenspindel verdanken wir dem Greifswalder Anatomen
Friedr. Christ. Rosenthal (1780 bis 1829)*). Rosenthal fand bei
seinen zahlreichen, sorgfältigen Zergliederungen der Schnecke, daß
Scarpas Darstellung der Spindel den wirklichen anatomischen Verh'ält-
nissen nicht vollkommen entspricht. Scarpa hat nämlich den Canalis
spiralis modioli übersehen, den Rosenthal als erster beschreibt**).
*) Ueber den Bau der Spindel im menschlichen Ohr. In Meckels Archiv,
Bd. Vin, 1823.
**) Eine Abbildung des unteren Abschnittes dieses Eanales findet sich bereits
bei Soemmerring (siehe S. 368).
380 Aug. Alb. Meckel.
Scarpa unterschied an der Spindel eine innere festere und eine äußere
mürbere Substanz, bemerkte jedoch nicht, daß diese äußere röhrige Schale
mehr der Lamina spiralis als der Spindel angehöre und durch einen
geräumigen Kanal von der dichteren Masse getrennt sei.
Rosenthal führt dies folgendermaßen aus: „Dieser Zwisefaenraum
bildet einen Kanal, der mit der Paukentreppe sich um die Spindel bis
zum Becberchen herumwindet, und 50 folgt dieser Kanal (Canalis spiralis
modioli) in seinem Verlauf ganz der durchlöcherten Spiralfurche (Tractus
spiralis foraminulentus), die sich auf dem Grunde des gemeinschaftlichen
Nervenkanals befindet. Es gelangen daher alle durch die Löcher dieser
Furche eindringenden Nervenfädchen zu jenem Kanal und verteilen sich
dann mit dünnen Fädchen auf dem Spiralblatt. Die für die erste Windung
bestimmten Fädchen steigen dicht an der inneren röhrigen Lamelle herauf,
die für die zweite Windung werden durch diesen Kanal zur röhrigen
Substanz der ihr angehörenden Spirallamelle geleitet und so fort.** Dieser
Kanial enthält bekanntlich das Ganglion spirale.
Einer der ersten, die durch Korrosion der Hohlräume des Labyrinths einei
mazerierten Schläfebeines sich eine Vorstellung von dem Baue dieses kompliziertesten
Teiles des Gehörorganes zu verschaffen suchten, war Aug. Älbr. Heckel (1790 bis
1829)*). Um ein treues Bild des knöchernen Labyrinths zu erhalten, ließ er ganze
Felsenbeine mit gefärbtem Wachse sieden und ätzte die Knochensubstanz mit Ter-
dünnter Salzsäure weg. Dadurch stellte er sich Ausgüsse her, die ergaben, daß die
Schnecke und der Vorhof mit seinen Vertiefungen und ebenso die Aquädukte stet«
die gleiche Bildung zeigten. Hingegen waren die Bogengänge in allen Präparaten
menschlicher Labyrinthe verschieden. Sie variierten nicht nur in Hinsicht der ab-
soluten und relativen Größe, sondern auch bezüglich der Krümmung und des ovalen
Querdurchschnittes.
Eine andere Methode der Herstellung von Korrosionspräparaten empfahl
E. Weber. In einer Sitzung der Leipziger medizinischen Gesellschaft**) demon-
strierte er den Abguß eines Labyrinthes, den er auf folgende Weise herstellte.
Zuerst wurde das Präparat unter der Luftpumpe ausgepumpt, sodann noch unter der
Pumpe in Terpentinöl getaucht, dann in geschmolzenes Wachs, dem ein Anteil As-
l)halt zugesetzt war. Hierauf folgte die Säurebehandlung in gewöhnlicher Weise.
Um die Anatomie der Nerven des Ohres machte sich in diesem
Zeitabschnitte eine Reihe von Forschern in hohem Maße verdient. Unter
den Deutschen ragen die Leistungen von L. Jacobson^) und Friedr.
Arnold^), Aug. Carl Bock^) und Joh. Müller ^ hervor, unter
den französischen Forschern in erster Reihe die von Breschet *'^).
Daneben wären noch ehrenvoll zu nennen: Joh. Friedr. Lobstein'').
*) Ht-merkungen über die Höhle des knöchernon Labyrinthes (mit Abbildungen).
Meckel 8 Arch. f. Anat. u. Phys. 1827. p. 854.
**) 9. Sitzuiij^f der medizin. Gesellöchiift zu Leipzig', 2.5. Sept. 1839.
F. Arnold. 381
Leonhard Hirzel'), Schlemm*), Krause^), J. G. Varrentrapp ^®),
Aßmann^^), Mayer ^*), Eug. Delmas^^), Bennet i*) u. a.
Ludwig Levin Jacobson (1783—1843) gebührt nicht völlig die
Auszeichnung, die ihm durch die Benennung des Nervus tympanicus
als Nervus Jacobsonii zu teil wurde, denn J. Gerold ^^), C. S. An-
dersch^*^) und Ehrenritter ^'') hatten bereits vor ihm eine allerdings
nicht vollständige Kenntnis von dem Verlauf dieses Nervenastes. Nach
Jacobson wurde er von Varrentrapp, Lauth und Arnold dargestellt,
welch letzterer den Verlauf dieses Nerven am genauesten beschrieb und
für ihn die Bezeichnung „nervus tympanicus" vorschlug.
Friedrich Arnold, geboren am 8. Januar 1803 in Edenkoben in
der Rheinpfalz, erhielt 1825 zu Heidelberg den Doktorgrad und 1834 die
außerordentliche Professur. 1835 folgte Arnold einem Rufe als ordent-
licher Professor an der anatomischen Anstalt der Universität Zürich, von
wo er 1840 an die Universität Freiburg i. Br. berufen wurde. Seit dem
Jahre 1845 bekleidete er den Lehrstuhl der Anatomie und Physiologie
an der Universität Tübingen bis er im Jahr 1852 einem Ruf nach
Heidelberg Folge leistete, wo er seine Lehrtätigkeit beschloß. Er starb
im Jahre 1890.
Arnold wählte als Thema für seine Inauguraldissertation die Er-
forschung des Kopfteils des Gangliensystems beim Kalbe und Menschen
und verfolgte dabei die Absicht, die abweichenden Angaben der Ana-
tomen über die Art und die Häufigkeit der Verbindungen jenes Systems
mit den Hirnnerven nachzuprüfen. Seine Untersuchungen führten zur
Entdeckung eines neuen Ganglions, das bisher in der Reihe der zu
den Sinnesorganen gehörigen Ganglien fehlte, und das er wegen seiner
mannigfachen Beziehungen zum Gehörorgan Ohrknoten (Ganglion
oticuni s. auriculare) nannte. Die 1826 erschienene Inaugural-
dissertation fand jedoch in den nächsten 2 Jahren von Seiten der zeit-
genössischen Anatomen und Physiologen nur wenig Beachtung, einerseits
weil die Entdeckung bezweifelt wurde, anderseits weil, wie Arnold
selbst hervorhebt, es immer angenehmer und nützlicher ist seine Zeit
auf eigene neue Untersuchungen als auf die Ueberprüfung anderer zu
verwenden.
Im Jahre 1828 lenkte Arnold durch eine anatomisch-physiolo-
<?ische Abhandlung „Ueber den Ohrknoten** die Aufmerksamkeit der
Fachkreise neuerdings auf seine Entdeckung, indem er die Existenz des
Ohrknotens als anatomische Tatsache feststellte, zugleich aber den miß-
glückten Versuch machte, den entdeckten Ohrknoten physiologisch zu
deuten und über seine Beziehung zum Gehörorgan theoretisch zu ent-
wickeln. Unstreitig gebührt Arnold das große Verdienst, die Wissen-
schaft durch eine Entdeckung bereichert zu haben, die ftii- die Physio-
882 F. Arnold.
logie im allgemeinen von großer Bedeutung wurde. Aus seiner Be-
schreibung sei folgendes hervorgehoben:
^Es findet sich der Ohrknoten beim Menschen an der inneren Seite des dritten
Astes vom dreigeteilten Nerven sogleich unterhalb des eiförmigen Loches, da, wo an
der äußeren die tiefen Schlaf enmoskelnerven , der Kiefermnskel- und der Backen-
nerve abtreten, etwas oberhalb des Abgangs des oberflächlichen Schläfennerven, wo
die kleine Portion jenes Nerven mit diesem Teil der größeren sich verändert und
eine geringe Anschwellung bildet. Nach innen wird der Knoten von dem knorpe-
ligen Teil der Eustachischen Röhre, dem Ursprung des Gaumenspanners und Hebers
bedeckt, nach hinten grenzt er an die mittlere Pulsader der harten Himhaat, mi^
mit seiner äußeren Fläche liegt derselbe ganz genau an der inneren von jenem Aste
des fünften Nervenpaares. . . . Der Knoten hat eine eiförmige Gestalt, ist von einer
Spitze zur anderen, nämlich von außen nach innen, platt gedrückt, von vom nach
hinten aber etwas länglich. Seine verschiedenen Dimensionen bieten daher einige
Verschiedenheiten voneinander dar, denn in letzterer Richtung mißt unser Knoten
im Durchschnitt 2 — 27« L. , von oben nach unten aber 17« — 2 L. und von außen
nach innen nur V* höchstens V« I^-*
Arnold beschrieb die Verbindungsäste des Ganglion oticum mit
dem Nervus crotaphitico-buccinatorius, die Verbindung mit dem Fazialis
und Acust. vermittels des Nervus tympanicus, die Verbindung mit dem
Sympathicus und wußte, daß dem Ganglion ein Nervenfaden für den
Trommelfellspanner entspringt, der vor ihm für einen Zweig des
inneren Flügelnerven gehalten wurde. Für die motorische Wurzel des
Ganglions hält er einen Teil der kurzen Wurzeln, die er bis zur motori-
schen Wurzel des Inframaxillarnerven zurückverfolgen zu können glaubte;
als sensible Wurzel erklärt er die Anastomose mit dem Nervus f^lossopha-
ryngeus, als sympathische Wurzel endlich deutet er einige Fäden, die
das Ganglion mit dem Nervenj^lexus der A. meningea media verbinden.
Auch rührt von Arnold die erste Beschreibung und Benennung des
Nervus petrosus superficialis minor und Nervus petrosus pro-
fundus minor her. Ferner ist es Arnolds Verdienst, die Verbinduni^
des Acusticus und Fazialis völlig klargestellt zu haben. Zwar hatten
bereits vor ihm Job. KöUner^^) und J. Swan^^) eine Verbindung
zwischen beiden Nerven erwähnt, doch erkannte und beschrieb erst
Arnold den von der kleineren Wurzel des Fazialis ausgehenden Ast
und seinen Zusammenhang mit dem Sympathicus.
Nacli Arnold bestolit zwischen Fazialis und Acusticus eine zweifache Ver-
bindung, eine innere (obere) und eine äußere (untere). Die innere, die zum N. inte:-
niedius gehört, besteht aus einem oder mehreren Fildchen, die im inneren Gehör-
gang vom Fazialis abg(;hen und sich mit dem N. vestibuli vereinigen. Die außen.'
Anastomose besteht in einem sehr feinun Faden zwischen dem (j. geniculatuni und
dem N. vestibuli, der au der Vereinigungsstclle eine kleine graurötlicbe Anschwel-
lung zeigt.
TajeL XXI
'!^^^^^^IP^^^B^^I
FRIEDR. ARNOLD
.\
Guarini. 383
Ferner zeigte Arnold, daß die Chorda tympani teils aus dem Fa-
zialis, teils aus dem Nervus petrosus superficialis hervorgeht, und entdeckte
den Ramus auricularis nervi vagi, sowie dessen zwei Verbindungsäste mit
dem Fazialis.
Auch an verschiedenen Tieren stellte Arnold Nachforschungen über das Vor-
kommen und anatomische Verhalten des Ohrknotens an und fand ihn bei den Säuge-
tieren im allgemeinen gut ausgebildet, hingegen vermißte er ihn bei den Vögeln und
Amphibien.
Während Arnold im anatomischen Teil seiner Abhandlung sich strenge an
die von ihm aufgefundenen Tatsachen hält, geht er im zweiten Abschnitte, in dem er
eine physiologische Deutung des Ohrknotens versucht, entschieden zu weit. Wie er
ohne weiteres Iris imd Trommelfell als analoge Gebilde auffaßt, so sucht er den
Ohrknoten in eine Parallele mit dem Ganglion ciliare zu bringen. Durch das ana-
tomische Verhalten des Ohrknotens beim Menschen, und die angenommene Analogie
mit dem Augenknoten, sowie durch seine vergleichend-anatomischen Untersuchungen
hält er sich zu der Annahme berechtigt, daß der Ohrknoten für die automatischen
Bewegungen des Trommelfells das Zentralorgan abgebe. Wie beim Auge durch Ein-
wirkung eines Lichtreizes infolge unmittelbarer Affektion der mit der Retina sich
ausbreitenden Ciliarnerven und des Ganglion ciliare ohne Vermittlung des Gehirns
den verschiedenen Lichtgraden entsprechende Bewegungen der Iris ausgelöst werden,
ebenso erfolgt nach Ansicht Arnolds durch die Einwirkung starker Schall strahlen
und die reflektorische Erregung des Ohrknotens eine Rückwirkung auf das Trommel-
fell und demgemäß der Stärke des Schalles adäquate Veränderungen in demselben.
Ueber die Existenz des Ganglion oticum Amoldi beim Menschen entspann sich
unter den Anatomen eine lang dauernde Kontroverse. Während die einen (Schlemm)
das Vorhandensein eines Ganglion oticum beim Menschen gänzlich in Abrede stellten,
bestätigten andere (Krause) die Angaben Arnolds vollinhaltlich.
Dem Italiener Guarini^") verdanken wir eingehende Untersuchungen
über die anatomisch-physiologische Bedeutung der Chorda tympani.
Durch Sektionen gewann er die Ueberzeugung , daß die Chorda ihre
Fasern nicht vom Nervus petrosus superficialis beziehe, wie Arnold an-
genommen hatte, sondern vom Nervus facialis und daß sie ein motorischer
Nerv sei, der seine Fasern an den Musculus lingualis abgibt. Diese
Ansicht von der Funktion der Chorda suchte er durch folgendes Tier-
experiment zu bekräftigen.
Nach Betäubung des Versuchsobjektes durch einen Schlag auf den Kopf präpa-
rierte er Zunge und Unterkiefer in der Mittellinie, wartete bis die Muskelkrämpfe auf-
gehört hatten und stach dann die eine Nadel einer kleinen galvanischen Batterie in
den Vorderteil der Zunge, während er gleichzeitig die andere mit verschiedenen
Nervenstämmen in Berührung brachte. Bei Reizung des N. bjpoglossus erzielte er
Zungenbewegungen, aber nicht bei galvanischer Reizung des N. acusticus oder N.
glossopharyngeus. Bei Galvanisation des N. facialis bewegte sich die Zunge auf-
wärts, rückwärts und abwärts und beschrieb zugleich eine Art wurmförmige Be-
wegung. Die Bewegung aufwärts und rückwärts erfolgte durch Kontraktionen des
M. styloglossus, dessen oberer Teil Aeste vom N. facialis auf dem Wege der Chorda
tympani empfängt. Guarini kam also zu dem Resultate, daß die Chorda neben
384 Ansichten Über Verbreitung und Endigung des Hömerven.
dem N. bypoglossus gewissen Zungenbewegungen vorstehe. Erwähnt sei noch, daß
Guarini die Ansicht Cloquets, Hirzels, Boyles u. a., daß der N. petrosu
superficialis nach seinem Eintritt in den Canalis facialis diesem adhäriere und sedier
die Chorda bilde, bestritt. Nach Guarini endet der N. petros. superf. vielmehr
im Ganglion geniculatum.
G. Valentin beschrieb eine gangliöse Anschwellung in der Jakob-
son*schen Anastomose des Menschen (Müllers Ajrch. Jahrg. 1840). Der Ramus
tympanicus des unteren Felsenknötchens des N. glossopharyngeus schwillt 1 — Vjt***
nach seinem Abgang vom Ganglion petrosum etwas an. Von diesem Knötchen, das
allmählich dünner wird und im Anfangsteile der Trommelhöhle oder in der Trommel-
höhle selbst vollständig verschwindet, gehen zahlreiche Aestchen zur Scheide d«
Ramus tympanicus ab. Die Anschwellung, die zahlreiche Ganglienzellen enthSlt,
nennt er „Gangliolum tympanicum s. Intumescentia gangliosa R. tympania ambientii
(Paukenknötchen) * .
Ueber den Ursprung des Nervus aeusticus liegen aus dieser
Periode zahlreiche Arbeiten vor, von denen besonders die Publikationen
von Prochaska, Wenzel, Gall, ßudolphi, Bock, Hildebrandt-
Weber, Berres, Joh. Müller u. a. hervorzuheben sind. Fischer
hat das Verhältnis des Hörnerven zu den queren Markstreifen am Boden
des vierten Ventrikels näher untersucht und zum ersten Male die Ver-
mutung ausgesprochen, daß diese Streifen in keinem Zusammenhang
mit dem Gehörnerven stünden. Zu diesen Untersuchungen veranlaßte ihn
der Sektionsbefund eines Mädchens, bei dem sich nach einem Sturz auf
das Hinterhaupt ein fibrinöser Belag der queren Markstreifen am Boden
des vierten Ventrikels vorfand, ohne daß in vivo das Gehör irgendwie
gelitten hätte *^ ^).
Die Ansichten der verschiedenen anatomischen Forscher über die
Verbreitung und Endigung des Schneckennerven gingen vor
der Entdeckung Cortis sehr auseinander. Es gab wohl kaum einen
Anatomen von Ruf, der nicht seine eigene Vorstellung vom nervösen
Endapparate in der Schnecke gehabt hätte.
Nach Scarpa (S. 267) endigen die Fasern des Nerven, nachdem sie zwischen
den beiden Platten des knöchernen Spiralblattes durchgegangen sind, pinselförmig
mit deutliehen Fäden, nach Soemm erring hat jedes Ende des aufgelösten Nenren
ein vogel federartiges Aussehen.
Dreschet kam auf Grund mikroskopischer Untersuchungen zu dem Ergeb-
nisse , daß die Nerven als zylindrische Bündel zunächst die Spindelkanäle durch-
laufen, sich dann nichtwinklig umbiegen und in das knöcherne Spiralblatt eintreten.
wo sie sieh abplatten und verästeln. Nachdem sie hierauf im mittleren Teile der
Spinilplatte ein förmliches Nervennetz gebildet haben, werden sie von ihren neurile-
matischen Scheiden verhis.sen, die. nach außen fortlaufend, sich vielfach durchkreuzen
und durch Versclimelzung die faserige Schichte der häutigen Zone formieren.
Nach Treviranus bilden die Phidigungen des Nerven auf dem Spiralblatte
Papillen.
Nach C. Krau^fe treten die Nervenfasern, nachdem sie beide Knochenlamellen
des Spiralblattes verlassen haben, in den von ilim Zonula nervea bezeichneten
Ansichten über Endigung des Vorhofsnerven. 385
Abschnitt des Spiralblattes, wo sie sich in Fibrillen teilen, die sich ihrerseits in sehr
feinen Endschlingen vereinigen, sich aber nicht in den äußeren durchsichtigeren,
bloß aus Bindegewebsfasern bestehenden Teil der häutigen Zone (Zonula pectinata)
fortsetzen. Nach seiner Beschreibung ist das ganze Spiralblatt von Ganglienkugeln
bedeckt.
Pappenheim glaubt, daß der Stamm des Schneckennerven ganz von einer
breiten rötlichgrauen Schicht bedeckt sei, die nur aus Ganglienzellen bestehe; der
N. modioli enthalte Ganglien und der N. vestibuli habe hinten und außen eine röt-
liche gangliöse Schicht.
Hannover fand ein Epithel in der Schnecke vor. Er bestritt die An-
sicht Breschets, daß das Neurilem direkt in die membranöse Zone übergehe.
Todd und Bowman unterschieden an der Spiralplatte eine „lamina denticulata*
und eine ,Zona membranacea", welch letztere sie wieder in zwei Abschnitte teilten,
in eine „inner clear belt* (Zylinderkörperchen mit einem dickeren Ende), in eine
„pectinate portion* und eine „other clear belt*. Die verdickte Periostalpartie an
der äußeren Schneckenwand bezeichneten sie als „Zona muscularis laminae spiralis**,
die einen „Musculus cochlearis*" einschließt. Kölliker fand jedoch hier keine
glatten Muskelfasern und nannte diese Partie wegen ihrer bindegewebigen Natur
„Ligamentum siDirale" ''). Ebenso verschieden waren die Angaben Wharton
Jones '^), Hildebrandt-Webers^*), Mandls'*) und Arnolds über die Nerven-
endigungen in der Schnecke. Am meisten kam noch Huschkes Beschreibung der
Wirklichkeit nahe.
Reichert'®) äußert sich über Huschkes (siehe S. 361) Untersuchungen über
die Nervenendigungen des Acusticus in der Schnecke ungefähr folgendermaßen: „Auch
das Cortische Organ ist Husch ke nicht unbekannt geblieben; er hat aber dasselbe
gleichfalls nur beim SäugetierfÖtus wahrgenommen. Er beobachtete, daß an jener,
der späteren Vorhofstreppe zugewendeten Wand des plattgedrückten Schneckenkanals
eine feine Leiste sich erhebe und als spiraler Längsstreifen an der Windung hin-
ziehe. Husch ke ist der Ansicht, die auch von späteren Anatomen vertreten wird,
daß in derselben die Schneckennerven sich verästeln und enden, und gibt ihr des-
halb den Namen .Nervenwarze' (Papilla spiralis); er hält es ferner für wahrschein-
lich, daß sie sich bei Erwachsenen zur Crista spiralis acustica (Spiralleiste) um-
wandeln. Daß Huschke in Wirklichkeit die Gegend des häutigen Schneckenkanals
vor sich hatte, geht aus seiner Schilderung der mikroskopischen Beschaffenheit seiner
sog. ,Spiralnervenwarze* hervor. Huschke spricht hier von einer aus perlartig
aneinander gereihten Kügelchen zusammengesetzten Spiralen Linie. In der Tat ge-
währen namentlich die oberhalb der äußeren Cor tischen Fasern gelegenen größeren
Kpithelzellen (C ortischen Zellen) bei reiferen Fötus ein solches mikroskopisches
Bild. Ebenso erwähnt Huschke eine Lage von Kegeln, die den erwähnten Kügel-
chen ansitzen, das Aussehen von Zellen des Zylinderepithels haben und die wohl nur
auf die Fasern des Cor tischen Organs bezogen werden können.* Hinzuzufügen
wäre noch, daß nach Huschke die Fasern, sich fortwährend veriLstelnd, in die
Gegend der Spiralleiste gelangen, wo sie als Schlingen endigen ^^).
Die Endigungen des Vorhofsnerven hat vor allem Breschet
ausführlich beschrieben.
Nach ihm verteilen sich die drei Bündel des N. vestibnlaris in der Weise, daß
ihre Nervenfäden nach ihrem Eindringen in die Vorhofss&ckchen von einer Scheide
umgeben werden, welche die Fasern bis zu ihrer Entfaltung umgibt imd bewirkt,
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. L 25
888 HyrtL
menschlichen Gehörorgans. Med. Jahrb. d. k. k. Gsterr. Staates. XVIII. 1889. —
Henle, Allgemeine Anatomie. Leipzig 1841. — Yerga, üeber die Chorda tjmpaaL
Car. Panizza Gazzetta medica. 1842. — Mtlnter, BeitrBge zur Kenntnis de« bftntigen
Labyrinths mit Bftcksicht auf die wiohtigaten Erkrankungen des Gehörorgans. Bd. L
1848. Ref. in Gannstatts Berichten. Bd. IIL — Mneg, Betraehtnngeii über die
Membran und Flüssigkeit des Labyrinths in Beziehung zor Tanhheii. 1B48. — Y ug;
Von dem äußeren Ohr und seinen Muskeln beim Menschen. Bericht fiber die Yei^
handl. der naturforsch. Gesellsch. in Basel 1849. — Gzermak, Yeritatelangea der
PrimitiyfiEwem des N. acusticus. Zeitschr. f. wies. ZooL Bd. II. 1850. — Bends, De
anastomosi Jacobsonii et Ganglio AmoldL Hafniae 1888.
Die vergleichende Anatomie des OehOrorgana hat« wie die
zahlreichen einschll^geii Spezialarbeiten dieser Periode zeigen, seil
Comparetti und Oalvani bedeutend an Umfang gewonnen* Es würde
uns zu weit führen, auf die Geschichte der vergleichenden Anatomie des
Ohres näher einzugehen. Es soll daher im folgenden dieser Abschnitt
nur in seinen Hauptzügen dargestellt werden*).
Der Arbeiten Monros und Cuviers wurde böreitis XSrwBlminig
getan. Hier nennen wir noch: Schelver^), Dumeril*), Jörg*),
Ev. Home*-^, Blair«), Carus»), Geoffroy Saint-Hilaire**-»^
Pohl"), Bojanus*«), E. H. Weber^O, Jan van der Hoeren *•"*•),
Anders Retzius'^, Ducrotay de Blainville'^), F. Blumenbaoh'^
G. R. Treviranus"-"), Huschke"""), Otto»^, Windischmann*^
Breschet»*), Hagenbach»»), Mayer"), Steifensand»*), J.MlÜler»*),
Hyrtl »'-*«), E. Hallmann *^, Bischoff*»), A Ecker *•), Ibsen*»),
A. Hannover*^), Stannius»*), Rathke»»), Owen»*), F. Platner»^,
W. Stricker^«) u. a.
Zunächst sei hier eines der glänzendsten Repräsentanten der Ter-
gleichenden Anatomie des Gehörorgans gedacht:
Joseph Hyrtl. Zu den hervorragendsten Anatomen des 19. Jahr-
hunderts, die ihr besonderes Augenmerk der Anatomie des GeIi5rorgaD8
zuwendeten, zählt vor allem Joseph Hyrtl. Am 27. Dezember 1811
zu Eisenstadt in Ungarn geboren, absolvierte er seine mediadnischen
Studien in Wien, wo er bereits 1833 in der Anatomie eine Prosektur-
stelle erhielt. Im Jahre 1837 wurde er zum Professor der Ajiatomie
an der Universität Prag ernannt, und 1845 auf den Lehrstuhl der Ana-
tomie an der Wiener Universität berufen. Hier erwarb er sich den Ruf
eines glänzenden Lehrers und entwickelte eine an Ergebnissen überaus
reiche wissenschaftliche Tätigkeit. Eine zunehmende Augenschwäche
nötigte ihn 1874 auf sein Lehramt zu verzichten und sich auf seinen
*) Eine ausführliche historische Darstellung der vergleichenden Ohranatomie
enthält das klassische Werk Gustaf Retzius: «Das Gehörorgan der Wirbeltiere*.
Stockholm 1881 u. 1884.
JOSEPH HYRTL
Hyrtl. 889
Landsitz nach Perchtoldsdorf bei Wien zurückzuziehen, wo er aber bis zu
seinem 1894 erfolgten Tode wissenschaftlichen Arbeiten oblag.
Die umfassende Tätigkeit, die Hyrtl, ein Meister in der anatomi-
schen Technik, namentlich der Gefäßinjektion und Korrosion, auf ana-
tomischem Gebiete entfaltete, kam nicht zum geringsten Maße der
Anatomie des Gehörorgans zu gute. Vor aUem verdankt ihm die ver-
gleichende Anatomie des Ohres bedeutende Förderung.
Während die vergleichende Morphologie der Gehörorgane der drei
unteren Klassen der Vertebraten schon vor Hyrtl der Gegenstand ge-
nauer und ergebnisreicher Untersuchungen war, besaß die Literatur der
vergleichenden Anatomie der Säugetiere nur einige Fragmente
über den Bau des inneren Ohres. In der Arbeit ., Vergleichend-anatomi-
sche Untersuchungen über das innere Gehörorgan des Menschen und der
Säugetiere" ^^) unternahm es nun Hyrtl, diese Lücke auszufüllen. Er
gibt hier eine klassische Schilderung der Varietäten der Trommelhöhle,
der Gehörknöchelchen und des Labyrinthes aller Säugetiergenera, wel-
cher er die Resultate seiner Messungen des Trommelfells, des Trommel-
fellringes, der Gehörknöchelchen, der Bogengänge, der Schnecke, des
runden und ovalen Fensters bei den verschiedenen Säugetieren beifügt.
Alle aufgefundenen Typen sind auf neun wertvollen Kupfertafeln erläutert,
die Hyrtl nach den von seiner Meisterhand verfertigten Präparaten seines
Privatmuseums abbilden ließ*).
In (lieser Arbeit gelangt Hyrtl auf Grund genauer Untersuchungen zu dem
Ergebnis, daß weder beim Menschen noch bei irgend einem Säugetier ein Foramen
Rivini existiert. Nur bei Membranen, die mit dem Schläfenbein längere Zeit maze-
riert und getrocknet worden waren, sah er manchmal hinter dem Griff des Hammers
und knapp an ihm eine Oeflfnung. die das Trommelfell direkt durchbohrt, und durch
Abreißen der infolge des Mazerierens aufgequollenen Membran vom Hammergriff
während des Trocknens entstanden ist.
Nach Hyrtls sorgfältigen vergleichend-anatomischen Untersuch ungren*') zeigt
die durch das Steigbtigelloch beim Menschen verlaufende Arterie zwei Varietäten:
Die eine ist die A. meningea media accessoria der Maxillaris interna, die den
Hoden der Trommelhöhle durchbohrt und über das Promontorium durch die Mem-
brana übturatoria des Steigbügels und durch ein Loch des Tegmen tympani zur
Dura zieht. Die zweite ist die A. stylomastoidea oder ein Ast derselben, die bis-
weilen nicht durch das Foramen stylomastoideum in den Canalis facialis» sondern
durch eine eigene Oeffnung in die Trommelhöhle eindringt, mit der unteren Trommel-
fellarterie anastomosiert und die Jakobsonsche Nervenfurche am Promontorium
benützend, durch den Steigbügel zum Fazialkanal gelangt. In einer anderen ver-
gleichend-anatomischen Arbeit**) hebt Hyrtl hervor, daß er nicht im stände war.
*) Diese in ihrer Art einzigen Präparate wurden nach Hyrtls Tode für das
Müttermuseum in Philadelphia erworben und ich hatte bei meinem Aufenthalt in
Amerika im Jahre 1893 die Freude, diese Sammlung, die in einem eigenen Saale
ausgestellt ist und die Bewunderung aller Fachmänner erregt, zu besichtigen.
390 Hyrtl.
durch feine Injektion der Aquädukte G^fUße in ihnen nachzuweisen. Um blofie
Kanäle für feine Gefäße zu sein, dazu wären sie bei mehreren Tieren (Kalb, Del-
phin) zu groß.
In den medizinischen Jahrbüchern (1841)^^) beschrieb Hyrtl einen neuen
Ohrmuskel, dem er den Namen M. styloauricularis gab. Er setzt sich einerseiti
am Processus styloideus; anderseits an der unteren Fläche des knorpeligen ftofieren
Gehörganges an. Er vermag nach Hyrtl die Ohrmuschel nach unten eu ziehen und
den Gehörgang zu erweitem. An Stelle des Muskels tritt zuweilen ein bindegewebi-
ger Strang.
In einer kleinen Arbeit*^) macht Hyrtl auf einen häufig vor-
kommenden, praktisch nicht unwichtigen Befund aufmerksam. Bei Unter-
suchung von 34 geöffneten Schädeln und 62 isolierten Schläfenbeinen
fand er nämlich, daß das Tegmen tympani oft im höchsten Grade
verdünnt und durchscheinend ist und daß es auch einzelne oder ^uppiert«
Löcher von der Kleinheit eines Nadelstiches bis zu Hirse- und Hanf-
korngröße zeigt, die man leicht mit Knochenkaries verwechseln kann.
Der häufigste Sitz dieser Lücken im Tegmen tympani ist über und etwas
hinter dem Hammer-Amboßgelenke oder auch am hinteren Abschnitte der
oberen Trommelhöhienwand, nahe an der Sutura petrosquamosa. Seltener
kommen sie in der Nähe des Hiatus canalis Failopiae vor, oder außerhalb
von ihm oder mit ihm zusammenfließend, oder längs der oberen Wand
der knöchernen Ohrtrompete. Dehiszenzen der Cellulae mastoideae
beobachtete er im Sulcus petrosus superior hinter seiner Kreuzung mit
der Prominenz des oberen Bogenganges, entsprechend der EinmOndungs-
stelle dieser Furche in den Sulcus sigmoideus des Warzenteils*). Er fand
sie ferner im Sinus sigmoideus, am seltensten aber außen in der Rinde
des Warzenfortsatzes und zwar an der inneren Wand der äußeren Lefze
der Incisura mastoidea in unmittelbarer Nähe seiner Spitze. Das ätio-
logische Moment dieser Dehiszenzen ist keineswegs in Knochenatrophie
oder AItersnietamori)hose zu suchen, zumal sie an Schädeln jüngerer
Individuen vorkommen, an sehr alten Schädeln mit Knochenschwund öfters
fehlen, hinwiederum an auffallend dicken und starken Schädeln vorhanden
sind, und Hyrtl ist geneigt, anzunehmen, daß in manchen Fällen bei
dem in der Gravidität gesteigerten Bedarf an Kalksalzen diese düimen
Knocheiifliicheu leicht durchlirochen werden. In anderen Fällen spielt
vielloitlit dabei die üble Gewohnheit dos kräftigen Schneuzens eine Rolle.
Zu Guiisteu der letzteren Ansicht spricht der Umstand, daß es mei^
jiut^eblllhtf Trommelhöhlen sind, in denen Dehiszenzen beobachtet werden.
In piitholo^ischer Beziehung ist ihr A'orkomnien deshalb bedeutungsvoll,
'•') Sie ist nicht zu vcrwuchsfln mit einem Loche für eine Vena diploötica, da?
immer krci.srund ist, währen«! eine j«pontane I)ehi>zenz eine Oeffniinj,' „cum marffine
rrcnato" he<linijt.
Hyrtl. 391
weil einerseits Eiteransammlungen in der Trommelhöhle die obere Wand
leicht durchsetzen oder sich auf die beiden Sinus fortpflanzen können,
während anderseits inti'akranielle Abszesse sich in die Trommelhöhle
und durch das zerstörte Trommelfell nach außen ergießen können, ohne
daß man dabei Caries des Tegmen tympani voraussetzen müßtei Femer ist
durch geringfügige Traumen die Möglichkeit zum iSruche der äußeren
Platte des Warzenfortsatzes und infolgedessen zu emphysematösen Ge-
schwülsten hinter dem Ohre gegeben. (Vergl. die neueren Befunde bei
Dehiszenz des Tegmen tymp. in Politzer, Lehrbuch der Ohrenheil-
kunde, 4. Aufl. S. 19.)
In seiner Arbeit über Korrosionsanatomie ^^) hat Hyrtl die Kor-:
rosion, die bis dahin nur geringe Anwendung in d^r anatomischen
Technik gefunden hatte, auch für die Anatomie des Gehörorgans wissen-
schaftlich verwertet. Nach einer eingehenden Auseinandersetzung der Kor-
rosionsmethoden, wie sie am Gehörorgan zur Anwendung gelangen, be-
richtet er über seine Befunde bei Injektion des äußeren Gehörgangs, der
Trommelhöhle, der Ceilulae mastoideae und der Tuba Eustachii. Hier
wurde für die topographische Anatomie dieser Teile des Gehörorgans das
richtige Verständnis angebahnt. So erbrachte Hyrtl durch die Aus-
güsse der Trommelhöhle den Nachweis, daß über der Sehne des Tensor
tympani genügend Raum vorhanden sei zur Handhabung eines feinen
Tenotoms zur Trennung der genannten Sehne, was Hyrtl übrigens
schon früher in seinem Handbuche für topographische Anatomie für
möglich erklärt hatte. — Hyrtl s Methode der Korrosion wurde später
durch die wertvollen Arbeiten über die Korrosionsanatomie des Ohres
von Bezold und Sieben mann wesentlich erweitert.
In den , Beiträgen zur pathologischen Anatomie des Gehörorgans"'^)
beschreibt Hyrtl den Befund in den Gehörorganen einiger Taubsturamen. Der erste
Fall betrifft ein fünfjähriges Mädchen, das sich für intensiv hohe und tiefe Töne
empfänglich zeigte und an Hydrocephalus starb. Außer einigen unwesentlichen
Anomalien im Schallleitungsapparate fanden sich Defekt des Steigbügelmuskels und
der Kminentia ijyramidalis , es bestanden bloß zwei Bogengänge und die Schnecke
fehlte gänzlich. Der zweite Fall betrifft einen siebenjährigen, taubstummen Knaben,
bei dem sieh folgende Veränderungen vorfanden: Das Trommelfell war pergamentartig
verdickt und trocken. Nebst Atrophien verschiedener Teile der Trommelhöhle ließ
sich auch hier der Mangel der Eminentia pyramidalis und des Steigbügelmuskels nach-
weisen. Von den Bogengängen war bloß der hintere vorhanden. Die Spiralplatte
der Schnecke lief bloß lV«nial um die Spindel hemm. Die Hömerven schienen
beiderseits atrophisch. An dem Schädel eines anderen Taubstummen fand Hyrtl
in der Hauptsache folgende Veränderungen. Die Scfaneckenwindongep waren nur
)>is gegen die zweite Windimg gebildet, die übrigen »floflsen in eine gemeinschaftliche
Kuppel zusammen, in welche die rudimentäre Spindel zur Hälfte hineinragte. Die
Lamina spiralis fehlte vollkommen und somit auch jede Trennung der
ganges in die beiden Treppen. Die vierte Beobachtung von Abweichv
302 Zur Literatur des 19. Jahrhunderts.
Gehörorgane machte Hyrtl an einem Fötus, der sich durch Mang^el des Obres soirie
andere Mißbildungen auszeichnete. Hier fehlt« die ganze laterale Wand der Trommel-
höhle» welche nur eine seichte Vertiefung des Felsenteils bildete. Außer Rudimenten
der Gehörknöchelchen fand sich nichts in der Trommelhöhle. Die Schnecke hatte
bloß IV« Windungen, war aber übrigens normal gebildet.
In der zweiten Abteilung dieser Abhandlung beschreibt Hyrtl die unToll*
kommen entwickelten Gehörorgane einiger Anencephalen und Hemicepfaalen. An einem
sechsmonatlichen Anencephalus, bei welchem Hyrtl keinen karotischen Kanal Torfand,
waren die drei Bogengänge verkrüppelt, keine Spur einer Schnecken windnng oder
einer Lamina spiralis. Ebenda beschreibt Hyrtl einen Cyklopenschädel, an dem er
Mangel der Trommelhöhle und der rechtseitigen Ohrtrompete nachip^es.
^) Versuch einer Naturgeschichte d. Sinneswerkz. bei d. Insekt, u. Wurm.
Götting. 1798. — ") Memoires d'anatomie comparee 1800. — ') Ueher das Gehörorg.
d. Mensch, u. d. Säuget, im schwang, u. nichtschwang. Zust. Leipz. 1808L — *) Ueber
einige Eigentümlichk. d. Gehörorg. d. Walfisch. Phil. Trans. 1811 in Meckels
Arch. Bd. III. 1817. — *) On the milk tush and organ of hearin^ of the Dogong.
Philosophical Transactions. Part. II, p. 144. 1820. — *) On the difference of stmctare
between the human mcmbrana tympani and that of the elephant, 1797. Philosopfaicil
Transactions Part. I, p. 23. 1823. — ') Lectures on compar. anatomy. Vol III, p. 262.
Vol. IV, Tab. C. London 1823. Phil, trans. part. I, p. 23. — *) A description of
the hcaring in the elephant etc. Phil, trans. Vol XXX, p. 885. — •) 1. c. — *") Mail
sur les glandes odorantes des Musaraignes. M^m. du Museum. T. I, p. 305, p1. \\
Fig. 1 et 3, 1815. — '*) Philosophie anat. Paris 1818. — ^-) Sur la nature, la for-
mation et Ics usages des pierres qu'on trouve dans les cellulcs auditives des Poissom-
Memoire du Museum. T. XI, p. 241, 1824. — *') Observations sur les pretendu
osselets de Tome trouve par Ernest Henry Weber, professeur d^anatomie com-
paree a Leipsick. Lu a la Societo d'Histoire naturelle de Paris, seance dn 5 mais.
Annales des Sciences naturelles. T. I , p. 43Ü — 440, 1824. — ") Composition de la
tete osseuse. chez Thomme et les animaux. trouvoe semblable en nombre, connexioDi
et iipplicjition usuelle de sea parties. Ref. Okena Isis. p. 796, 1824. — **} Die.
sistens expositiunem generalem anatomioam organi auditus per classes animaliois.
Accedunt quinque tabulae lithograj^h. Vindob. 1818. — ^®) Anatome testudinis En-
ropeae, Vilnae 1819—1821. - '^) Vergleichende Anatomie d. Gehörwerkzeuge. Meckel?
Arch. Bd. V, p. 823 — 337. Leipz. 1819. De aure et auditu hominis et animalium.
Pars L De aure animalium aquatilium. Cum tab. aeneis X. Lips. 1820. — **) Re-
sponsum ad quacstionem ab online niedicorum propositam: Quaeritur brevis et dis-
tincta oxpositio fabricae et funetionis organi auditus in homine recentioruni eüam
anatomicorum observationibus, et anatome comparata ita illustrata, ut ex hisce
j»ateat. qnaenam s?it liuius or«^'ani pars ad audiendum maxime necessaria , et qua in
re illud praestantius in homine, quam in brutis sit eimsendum? Quod praemium
reportavit. Jn Annal. Academiat' Rheno-Tiajectinae. Traj. ad Rhen. c. tab. aen.
1820-18*21. — ^®) Disp. anat. i>liys. de orjrauo aud. in hom. Traj. ad Rh. 1822.—
-") Bitrai; tili A<lev-or'h Nert\vstemata Anatomie hos Myxinc glutinosa. Kongl. Vrt.
Akadcniiens Ilandlinfrur für ar 1>*22. Ytterli<;arc Bidrag tili anatomien of Mvxine
^'liit. Stockholm 1824. — -') 1. c --) Ilandb. d. vergl. Anat. Gott. 1805. 'l8-24
1827. — "''i Ttibcr d. inm/reii B:m der 8clin(Mke d. Ohrs d. Vögel. Tab. IX. Tiede-
inanii8 u. Treviranu^' Unters, l^il. 1, 1^25. — "') T'eber das Gehirn u. d. Sinne»-
wcrkz«'u«^'»' des virginisclien H<*uteltiore8. Tat'. X. Eingesendet im Mai 1825. Tiede
manns u. Trcvi ranus' rntersu(liuno:».'n. Hd. III, 8. 45. (Tohörsinn S. 55, 1829. —
"') Ui'ber die Verbreitiiii!,' des Antlitznerven im Lalnrinth des Ohres der VöiT^'i
Zur Literatur des 19. Jahrhunderts. 393
Tiedemanns u. Treviranus' Untersuchungen. Bd. V, S. 94, Fig. 1 u. 2, 1834. —
''^) lieber Webers Gehörknöchelchen d. Fische. Okens Isis, S. 889, XVIII, 1825.
Bemerkungen zur Anatomie der Sinnesorgane u. der Kinnladen. Okens Isis, Bd. XVIII,
S. 1101, Taf. XI, 1825. — "-') lieber die Kiemenbögen u. Kiemengefäße beim be-
brüteten Hühnchen. Okens Isis, Bd. XX, S. 401—403. 1827. — '*) lieber d. Kiemen-
bögen am Vogelembryo, Taf. II. Okens Isis, S. 160—164, 1828. — *») üeber die
Gehörzähne, einen eigentümlichen Apparat in der Schnecke des Vogelohrs. Müllers
Archiv, S. 335, Taf. VII, 1835. — ^") De animalium quorundam per hyemen dormien-
tium vasis cephalicis et aure interna. Nova act. phys. med. XIII, 1826. — '*) De
penitiori auris in amphibiis structura. Bonn 1831. — '*} 1. c. und Rapport fait ä
TAcademie des Sciences, par M. Dumeril, sur trois Memoires d'Anatomie, relatifs
ä Vorgane de TouTe dans les poissons par M. le Dr. Bresche t. Annales des Sciences
naturelles. T. XXVII, 1832, p. 309. Recherches anatomiques et physiologiques sur
Vorgan de I'audition chez les oiseaux. Paris 1836. Apercu descriptif de Torgane
auditif du Marsouin [Delphimes phocaena L.]. Annales de sciences naturelles. T. IX,
Zoologie p. 227, 1838. Recherches anatomiques et physiologiques sur Torgane de
Touie des poissons. Avec 17 Planches gravöez. Paris 1838. — *') 1. c und die
Paukenhöhle der Säugetiere. Leipz. 1835. lieber ein besonderes, mit dem Hammer
der Säugetiere in Verbindung stehendes Knöchelchen. Müllers Archiv 1841. —
^*) Beitr. z. Anatomie des Delphins Bd. V (Gehörorgan) S. 124, 1834. Tiedemanns
u. Treviranus' Untersuch, etc. Ueber den eigentümlichen Bau des Gehörorgans
bei den Cyclostomen. Fortsetzung der vergleichenden Anatomie der Myxinoiden,
1838. Beobachtungen über die Schwimmblase der Fische mit Bezug auf einige neue
Fischgattungen. Müllers Archiv S. 307, 1842. — ^"^j 1. c. — '^) Vergl. Anat. der
Myxinoiden, der Cyclostomen mit durchbohrt. Gaumen. Berlin 1835. Müllers Arch.
1836. — ^') Neue Beobachtungen aus dem Gebiete der menschlichen und vergleichen-
den Anatomie über mehrere am Menschen vorkommende Analogien derjenigen Arterie,
welche Otto bei mehreren Winterschläfern durch den Steigbügel verlaufend ent-
deckte. Medizinische Jahrbücher des k. k. öst. Staates, Wien 1835, Bd. XIX oder
neueste Folge Bd. X, S. 457, Tab. II. Fig. 3, 5. — **) Medizinische Jahrbücher d.
k. k. öst. Staates. Wien 1836, Bd. XX oder neuest« Folge Bd. XI, S. 421—453.
Taf. II. — ^*) Bemerkungen über einige Gesichtsmuskeln und einen neuen Muskel
des Ohres. Mediz. Jahrb. d. k, k. öst. Staates, Bd. XXI, 1840. — *") Kin neuer Ohr-
muskel. Mediz. Jahrb. d. k. k. öst. Staates, Bd. XXX, 1841. — *») Vorläufige Mit-
teilungen über das knöcherne Labyrinth der Säugetiere. Mediz. Jahrb. d. k. k. öst.
Staates, 1843. — *^) Vergleichend-anatomische Untersuchungen über das innere Ge-
hörorgan des Menschen und der Säugetiere. Prag 1845. — **') Zur vergleichenden
Anatomie der Trommelhöhle. Wien 1848. — **) Lepidosiren paradoxa, Monogr. in
d. Abh. d. k. böhm. Ges. d. Wiss. Prag 1845. — **) üeber spontane Dehiszenz des
Tegmen tympani u. d. Cellulae mastoideae. Wien 1858. Im XXX. Bd. d. Sitzungs-
berichte d. kais. Akad. Nr. 16. — *•) Die Korrosionsanatomie u. ihre Ergebnisse.
Wien 1873. — *') Die vergleichende Anatomie des Schläfenbeins. Hannover 1837.
— '^) Lepidosiren paradoxa, anatom. unters, u. beschrieb. Leipz. 1840. — *') Ueber
Flimnierbewegung im Gehörorgan von Petromyzon marinus. Müllers Arch. f. Anat.
u. Pliys. 1844. — *®) Atlas anatomicus auris intemae. EsjÖbenhavn 1846. — •*) Lehrb.
d. vergl. ^ Anat. der Wirbelt. 1846. — *') Mikroskopiske ündersögelser af Nerve-
systemet. Kjöbenhavn 1842. — *') Ueber die Entwicklung der Schildkröten. Braun-
schweig 1848. Bem. über den inneren Bau der Pricke. Danzig 1826. — '*) On the
Communications between the Cavity of the Tympanum and the Palate in the Croko-
dilia. Phil. Tr. 1850. Description of the Lepidosiren annecteus, The Trans, of the
Linnean Society of London. Vol. XVIII, 1841. — "1 Bemerkaogen ober das Quadrat*
bein und die Paukenhöhle der Vögel. Dread. u. Leipz. 1839. — "«) Evolutionis auria
per animatium aeriem brevis hiBtoria. Berl. 1839.
Eint;n migeuhnten AiitscLwung nahm in diesem Zeiträume die Ent-
wicklungsgeschichte des Gehörorgans. Nach den klassischen Vor-
arbeiten Cassi'bohms, der sein Augenmerk auf die Entwicklung
des knöchernen Abschnittes des Gehörorgans richtete, waren es Scarps,
Meckel und Bichat, Hie ihr Interesse der Entwicklungsgeschichte
der äußeren Teile des Gehörorgans zuwendeten. Erst v. Baer war es
. vorbehalten, die Grundlagen für die Entwicklungsgeschichte des inneren
Ohres zu schaffen. Zunächst wollen wir auf die Hauptarbeiten dieser
Periode, die Arbeiten J. Fr. Meckels uud Carl Ernst v, Baers, näher
eingeben und auf die ebenfalls wertvollen Publikationen von Danz*).
Autbenrieth*), Huschke'), Burdach*), v. Baer^^^), Rathke"),
Valentin'"!, Reichert^'), SeydeP-), Günther '*""). Hagenbach i*),
Dietrich'"), Hyrtl'') hinweisen. Ferner schrieben über Obrentwicklung
nach V. Stein noch Leukart und Frey (1847), Erichson (1849) und
Dufour (1850). '
J. Fr. Heckel, der Jüngere, teilt in seiner Geschichte des Fötus*)
folgendes über die Entwicklung Aes Gehörorgans mit:
Der UuQere Teil des Gehörorgans wird zuerst ungefölir in der Mitte des
zweiten Embryonalmonats sicbtViar. Kr erscbeint als eine iängüche Erhabenheit, in
deren Mitte ein Längseinschnitt verlltuft. Altmähtich differeneiert sich diese erste
Anlage nSibrend des dritten Monats Eum äuQeren Obre. Am spütcaten erscheint das
Ohrläppchen aU eigener Voraprung. Im dritten Monat entwickelt eich der Knorpel
im äußeren Ohre. Der !m6cheme Gehörgang fängt sich einige Zeit nach der Gebort
durch Vergrößerung des Pauken fellringes zu bilden an und zwar so, daQ seine äußere
Oeffnung am frühesten verknöchert.
Die Paukenhöhle ist beim Fötus klein und eng. mit einer dicken, gallert-
ähnlichen Feuchtigkeit angefülit. Die Tuba Eustachü ist relativ kura und weit.
Trommelfell ring und Faukenfell sind in den ersten Monaten relativ groß (bie sunt
fünften Monat größer als die Ohrmuschel) und Hegen der äußeren Oberfläche ireit
näher als später, so daß die oberen Teile beinahe freiliegen (Amphibienähalicfakeit).
Die Richtung beider ist ziemlich borizantal.
Die Gebörknöchelehen zeichnen sieb durch außerordentliohe FrOhzeitig-
keit der Entstehung und Ausbildung aus. Sie sind schon im Anfang des dritten
Monats sichtbar und relativ groß, wenn auch noch knorpelig. Die VerknOcberang
beginnt sohon vor dem Ende des dritten Monata.
Es verknöchern: Stapea und Amboß früher als Hammer (nach Cassebohm),
Hammer und Amboß vor dem Stapes (nach Meekel). Die Stapesseben kel scheinen
in frühen Perioden nicht voneinander getrennt zu sein. Die am auffallendsten ver-
schiedenen Perioden durchläuft der Hammer, nnd kaum läßt sieh mit ihm ein an-
derer Knuchen in dieser Hinsicht vergleichen.
■) I. '
!d. IV 11
Sta
isla'
. Stei
Seine vorzDglichste EntwicUungsveracbiedenlieit besteht in einem, von dem
vorderen Umfange Beinea Eopfea auegebenden , im Verliältni.i zu a^inen übrigen
Teilen ziemlich dicken und Ungen, länglich keyelförmigen, geraden knorpeligen Fort-
eatize, der aua der Pauken häble, «wischen dem Felsenbein und dem Trommelfell ringe
hervortritt, sich dicht an die innere FlUobe des Unterkiefers legt, und bis «u dem
vorderen Ende desselben verläuft, wo er sieh bisweilen, vielleicht immer, mit dem ilet
vorderen Seite unter einem «pitien Winkel vereinigt. Diener Knorpel verknöchert,
ungeachtet er anfänglich bei weitem den gröBten Teil der Masse der Gebörkn Scheichen
ausmacht, nie, sondern verschwindet schon im achten Monat. Der vordere Fortsatz
des Hammers entspricht ibm zwar einigermaBen durch seine Stellung, allein man findet
beim Embryo in der Tat beide deutUck voneinander getrennt und den erw&hnten
Knorpel über dem vorderen Hammerfortsats liegend, so daB dieser nur einen unbedeu-
tenden Teil des Knorpels ausmacht und sich früh von ibm trennt. Dieser Knorpel
ist insofern merkwürdig, als sich bei den Fischen, Amphibien und YOgetn ein vOllig
ähnlicher, vom hinteren UnterkieferatOck in das vordere dringender, findet. Er sitzt
auf einem kleinen, an der inneren Fläche des hinteren UnterkieferstQckes befindlichen
Knochen, und man darf daher diesen wohl nicht ohne Grund für ein Rudiment des
Hammers bei diesen Tieren halten.
Das häutige Lahyrinth ist lang« vor dem knöchernen vorhanden und be-
steht aus härteren, festeren Häuten als in späteren Lebensperioden. Es besteht aus
zwei Häuten, einer inneren und einer dufteren. Die Schnecke ist bereits im dritten
Monat ebenso gebildet wie in späteren Lebensperiodeu,
Das knöcherne Labyrinth entsteht unabhängig von der Knochensubstanz
des Felsenbeins, welch' letztere sich frülier als die des Labyrinthe, und zwar von
eigenen Knocbenkernen aus bildet. Es ist anfangs völlig von der umgebenden
Kuochenmasse des Fel^ienbeina getrennt und mit einer ganz glatten Oberfläche ver.
sehen, wenn gleich beide dicht aneinander liegen. Gleichzeitig mit seiner Entstehung
verschwindet die iluUere Membran des häutigen Labyrinths. Vielleicht entsteht der
Knochen aus dieser Membran, teils durch Umbildung, teils durch Sekretion. Die
knöcherne Schnecke entsteht größtenteils vom knöchernen Labyrinth aus*).
Carl Ernst t. Baer (1792—1876), einer der Welseitigsten Forscher
auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, der Kntdecker des eigentlichen
Säugetiereies, hat das große Verdienst, zuerst die Beziehungen des Ge-
hörorgans zum Gehirne richtig erkannt zu haben. Nach ihm ist das
Ohr eine »Hervorstülpung der Nervenröhre bis in die Fleischsehicht und
zwar bis in die Knochenlage derselben. Dieser Hervorstülpung wächst
dann eine Einstülpung der Hautschicht entgegen".
lieber die Entwicklung des Gehörorgans des Hühnchens im Ei
beobachtete v. Baer folgendes*):
In de'r zweiten Hälfte des zweiten Tage« tritt das Ohr aus dem verlängerten
Marke hervor, als ein mit Nervenmark ausgekleideter hohler Zylinder, der die Rücken-
plfttte an dieser Stelle etwas vortreibt. Diese Vortreibung endigt mit einer außen
*) Husehke nahm an. daß das Labyrinth sich gesondert entwickelt und an<
derseits äußeres und mittleres Ohr zusammengehören . so daß es also blofi zwei
Teile gebe, von denen der innere aus den Rücken platten, der äußere aus den Bauch-
platten des Embryo henorgelie.
I
896 g V. Baer.
etwas konkaven Fläcbe; jedenfalls steht der ▼ordere Rand der Anftreilraiig ■klt
mehr vor als der hintere. Die Anskleidang von Nervenmark ist der Gehfirncrr.
Am dritten Tage schien sich das Ohr, aafier daß es mit der ümgebnn^ nach vone
gerückt war, nicht verändert sa haben. Am vierten Tag war der innere Teil aoek
mehr verdeckt als am dritten. Im Boden der RachenhAhle erkannte Baer eine ticii
gegen das Ohr gerichtete Qrube, die er fBr den Anfang der Ohrtrompete hielt
Fünfter Tag: das Ohr wird durch einen runden erhabenen Saam beaeichnei. NMh
innen scheint das Ohr dnrch die Tube schon eine Oeffiinng sn haben. Die loflsn
Oeffnung bildet sich gewöhnlich erst am sechsten Tage» eo daß sie eredieint^ wem
die Kiemenspalten geschlossen sind. 8ie liegt, über der Mandspalte, gebOrt dai
Rückenplatten an und ist nidbt ea verwechseln mit der ersten Kiemenepalte, die is
der Dauchplatte liegt Die Aosmündiingen der Tnben rücken einander niber; die
Tubenröhren seihst liegen der Keilbeinanlage nor an, nicht in decaelben.. Aebfeer \m
zehnter Tag: dcJr Äußere GehOrgang ist weit und tief, die Tobe niobt gaas so weit
wie im früheren Zustande, aber nocb nicht vom Keilbeine umlaBt.- Spaltet wn
diese Rühre, so gelangt man sum inneren Ohre, das mehrere Teile seigt* die Baer
jedoch nicht bestimmen konnte, da er ihrer Entwicklang nicht atofcnaweiae gefolgt
war. Unter anderem sah er eine weißliche Blase, noch von weicher IfeMo nngdMi
(Vorfaof ?). Die Bogengänge sind am Ende dieser Periode vom Scbftdel an«, amdi n
finden. Elfter bis dreisehnter Tag: das Trommelfell ist deutlich und liegt aebr
Die Tube liegt in einer. Furche des Keilbeins, noch immer nicht von. neiner
umschlossen. Vierzehnter bis sechtehnter Tag: Am Anfange dieses Zeitrannwi vo^
knOchert schon das innere Ohr.
In dem zweiten Teile seiner Arbeit fügt Baer noch einigea dieser DanteUoif
hinzu: Das Ohr ist eine am Ende des zweiten Tages hervortretende Anartlllpnng an
dem hinteren Teile des Gehirnes, und zwar scheint die Anlage an der Ocenae ni-
sehen Hinter- und Naohhim hervorzukommen. Man sieht einen bellcm Kxeft, v»
geben von einem dunkleren Ringe. Wie sich die heransgestülpte Blase in das Lsbj-
rinth umformt, war ihm nicht näher bekacnt; hingegen wußte er, daß der Hünierr
sich ebenso durch eine Abscbnürung bildet wie der Sehnerv. Aus der RacbenhOhk
wächst dem Ohre eine von Schleimhaut umkleidete Ausstülpung entgegen and büdel
die Ohrtrompete und Trommelhöhle. Diese Ausstülpung beginnt, sobald sich die
erste Kiemenspalte geschlossen hat , an derselben Stelle. Von der Verwachsnng der
ersten Kiemenspalte bleibt einige Zeit eine Qaerfurche an der inneren Flftehe. Du
obere Ende dieser Querfurche zieht sich allmählich in die Länge ans, während de
übrige Teil sieb ausglättet, und ist nun die Ohrtrompete. Das Äußere Obr
bildet sich durch eine Entwicklung der äußeren Haut, die als wulstiger Rand be-
ginnt. Da aber die Ohrblase nicht ganz bis an die äußere Fläche reicht, bildet die
Haut ihr entgegen eine Einstülpung = äußerer Gehörgang. Die Stelle ist der
Raum zwischen erstem und zweitem Eiemenbogen; doch war vorher diese ehemalige
erste Kiemenspalte vollständig geschlossen.
Ueber die Entwicklung des Gehörorgans bei den Säugetieren wetA
Baer nur wenig zu berichten. Das innere Ohr tritt als kleines Rohr aus dem his-
teren Teile des Hirnes und drängt ein wenig blasig endend gegen die Gegend über
der zweiten Kiemenspalte. Die Tube kommt aus der Rachenhöhle entgegen. Audi
das äußere Ohr hat dieselbe Entwicklung wie im Vogel, nur daß der Gehörgaojr
an seinem Rand enger und länger wird und die Muschel hervortreibt.
Eine zusammenfassende Uebersicht der Leistungen auf dem Ge-
biete der Embryologie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
Tafel XXI It
CARL ERNST v. BAER
Günther. 397
hunderts finden wir in dem Werkchen Günthers^*), in welchem er
auch seine eigenen Ansichten über die Entwicklung des Gehörorgans
mitteilt.
Nach ihm haben Labyrinth und Trommelhöhle verschiedenen Ursprung, indem
ersteres aus dem Emmertschen Blüschen, letzteres aber aus dem Eiemenapparat
hervorgeht.
V. Baer, Rathke und Reichert betrachten das Ohrbläschen als Hervor-
stülpung der Hirnblase, Husch ke und Valentin als Einstülpung der äußeren Haut.
Günther verfolgte (bei Schweins-, Schaf-, Kaninchenerabryonen) die Entwicklung
des Emmertschen Bläschens bis zu seiner Verengerung der Kommunikation mit der
Hirnblase. Die Oeffnung ändere sich in einen kurzen verhältnismäßig weiten Gang
um, der sich mit Gehimmasse (Acusticus) anfüllt, während der Grund des Bläschens
hohl und hell bleibt, um in die verschiedenen Faltungen überzugehen. Beim
Hühnchen bemerke man schon nach 27} Tagen eine dunklere Linie, durch welche
das Bläschen in eine vordere (Hörhof, Bogengänge) und hintere Hälfte (Schnecke)
geteilt wird.
Die halbzirkelförmigen Kanäle ließ Valentin durch Ausstülpung aus
der Vorhofsblase hervorgehen, indem sich eine anfangs kleine mützenförmige Aus-
bauchung verlängert, bogenförmig umbeugt und sich an einer bestimmten Stelle
wieder in den Vorhof einsenkt. Nach Günther bilden sich von dem rundlich-läng-
lichen Vorhofe aus drei verhältnismäßig breite, hohle Gänge, die anfangs eng, später
weiter werdend, nach außen hin bogenförmig verlaufen. Die Bogengänge ent-
wickeln sich dadurch, daß sich die beiden Platten der ausgestülpten Falten einander
nähern und in der Mitte verwachsen, während um diese Verwachsung herum von dem
Vorhofe abgewendet, also im äußeren Teile, ein bogenförmiger Raum übrig bleibt,
welcher der halbzirkelförmige Kanal selbst ist.
Die Bildung des Vorhofs und der Ampullen beschreibt Günther noch sehr
mangelhaft.
Die Bildung der Schnecke sollte nach Valentin aus dem Vestibulum dadurch
zu stände kommen, daß sich das innere Ende der Höhlung verlängert und, indem es
im Kreise eine Wendung macht, zu einer rundlichen Höhle wird. Diese Höhle
(Schneckenblase) wird von innen nach außen wie ausgegraben, und zwar zuerst in
der Richtung von dem Vestibulum gegen die Mitte der Schädelbasis und dann weiter
fort spiralig bis zum obersten Ende der Perpendikularachse. Hierdurch entstehe
1. von außen die der Schneckenschale ähnliche Gestalt, 2. im Innern ein tief ein-
gefurchter Halbkanal (Modiolus).
Günther weicht von dieser Darstellung bedeutend ab. Die Schnecke oder
vielmehr die Grundlage für den Modiolus entsteht nach ihm durch eine Abschnürung
des Ohrbläschens in zwei Teile, nachdem es sich nach vorwärts verlängert hat,
wobei sich zugleich der Nerv nach der Trennung des Bläschens etwas spaltet Bald
nach diesem Vorgang trennt sich die das Schneckensäckchen bildende Haut in zwei
Schichten, und indem zwischen beiden einiger Raum gewonnen wird, steckt nun-
mehr ein kleines, längliches, plattgedrücktes Säckchen locker in einem ähnlichen
größeren. Das innere (Fortsetzung der Ohrblase und des Nerven) wird Modiolus, das
äußere Schneckengehäuse. Zur Bildung des letzteren senkt sich in einer geringen
Entfernung vom Rande zunächst dem Vorhofe die äußere Haut zweimal so weit ein,
daß sie das innere Säckchen berührt. Durch diese beiden Einsenkungen wird nun
das Schneckenrohr dargestellt. Im weiteren Verlauf der Darstellung schildert Günther
sodann die Bildung des Schneckenrohrs, des Modiolus, der Spiralplatte, die Zeit der
398 F. G. Seydel.
Verknorpelung und Verknöcherung des Labyrinths, zum Teil gestützt auf Meckel
(Handb. d. menschl. Anatomie IV) und Soemmerring (De corp. huzn. fabrica. 1794).
Um die Entwicklungsgeschichte des äußeren Ohres machte sich i^nz besonden
Fr. Gust. Seydel in seiner Spezialschrift **) verdient.
Kr hat an acht Föten verschiedener Länge die Entwicklung des äußeren Ohres
beobachtet Au einem vierwöchentlichen fehlte das äußere Ohr noch ganz, bei einem
sechs- bis siebenwöchentlichen fanden sich zwei Wülste, von denen der vordere dem
Tragus» der hintere dem Helix und Antitragus entspricht. Ein 2Vio''' langer FStoi
hat schon ein ziemlich ausgebildetes äußeres Ohr. Bezüglich der neueren ForscfauDgen
über die Entwicklung des äußeren Ohres sei auf die grundlegende Arbeit des ver-
dienstvollen Züricher Otologen Dr. Fritz Rohr er verwiesen.
Um einen Einblick in die Entwicklung des Mittelohrs zu erlangeo.
mußten zunächst die Metamorphosen der Eiemenbogen studiert werden,
[lathke (Isis 1825) war der erste, der im Jahre 1825 an Schweins-
embryonen scheinbar in der Gegend des Halses regelmäßige, schief.
fast (luerlaufende Spalten entdeckte, und wegen ihrer Aehnlichkeit mit
ihm Kiemen als Kiemenspalten bezeichnete. Diese Entdeckung wurde
weiterhin von Baer, Burdach, Joh. Müller, Huschke und Reichert
verfolgt. So gelang es, die Bildung der Tuba Eust. und der Pauken-
höhle (wie es schon Carus in seiner Zootomie 1818 vermutet hatte!
aus der ersten Kiemenspalte nachzuweisen (Baer, Rathke.
Valentin, Huschke, Reichert, Günther). Für die Entstehung der
(lehörknöchelchen aus den Kiemenbogen traten, nachdem Meckel
durch die Beobachtung des knorpeligen Fortsatzes vom Hammer zum
Unterkiefer die Aufmerksamkeit der Anatomen erweckt hatte ^ Kathke.
Huschke, Burdach, Valentin, Reichert ein. Ebenso wurde die
Umwandlung des äußeren Teiles der ersten Kiemenspalte in den äußeren
(tehörtrang konstatiert und das Trommelfell für die umgewandelte
Masse, wekho die frühere Kiemenspalte verschließt, erklärt.
•I VTiundrii) der Zergliederungsk. de? neugeborenen Kindes in den verschie-i.
Zoit. d. i>ohwanLror>ch. mit Anm. v. Soemmerring, Bd. I u. II. Frankf. u. Leipz.
1792. IT;*:^. — -I ^Supplementa ad historiam embryonis humani. Tübing. 1797. —
• Boitr. z. Piiysi..!. u. Naturgosoh. Bd. I. Weimar 1S24. Verbind^, d. Amboßes in
Ohr mit d. Grirteltorts. Okens Isis 1S38. Siehe ferner Meckels Arch. 183*2, p. A\'.
Ockeiis Ni> 1^27, 1S2^ u. ISol. — *» Die Physiol. als Krfahrungswissenscb. Bd. IT.
Leii»/. 1S2>. De iVt-tu humano. Lips. l'^2^. — i De ovi mammaliuni ei bomiri*
Lrene-i Kpist. ete. Leip::. 1S27. — -• Ueb^r die Kiemen u. Kiemen g-etaße in d^n
Kmnr\öiien ufv Wiri-eltiert:-. Meckt'ls Av'.h. 1S27. — "i Ueber die Kiemenspalics
if-r :^;;Ui:ot!'. it-TVi-rvonm. ilid. 1^2^. ^ Uebt-r Kniwicklungsgesch. d. Tiere. Bd.'
K 'i-.:j?'t l-.j: l^J^. 1' i. '.!. 1^;'7. — Anat.-pl-.y-«. l'nier.-uchungen über den Kirnrn-
.';.•.:■..• •:. ■'.. Z ii.L:t!i:".:n d-r Wiri't^ltiore. Kiga u. I>orpat 1S32. Entwick^Ja^ :
N;;::-r. K-jü-L-j-'r-'-rj ]S:'.0. — ' ■ Haiuib. d. Kr.twicklimi:<j'.->ch. d. Mensch, m:: Te:-
^'.'. :■':.. II.. k<:ol.: ».Im- K:.:'.Y:.k!u!v_: «i. ^:;Vi_:e:. ii. Vöu'. Ik-rlin 1S>3. — '"• EV €r^-
■•:y ;■:;..•.: ..:\u:i> -i ..: :i- '(•rri!.-:.:^"; •.:-. n-rol. 1^:'6. In Müllers Arvb. l?oT.
■ '.. Viszeral: ojeii <;• r Wirbelt, in: .,'.\j. u. ''.'Ten Metamorphosen bei d, Sr^rrt:.
T -
1
I
Autenrieth. 399
u. Vög. in Müllers Arch. 1837. — ") De genesi auris extemae in hominibus. Lipe.
1837. — ^^) De cavitatis tympani et partium adbaerentium genesi in hominibus.
Dresd. 1838. — **) Beobachtungen über die Entwicklung des Gehörorgans bei Men-
schen u. höheren Saugetieren. Leipz. 1842. — ") Müllers Arch. 1841, p. 46. —
»«) ibid. p. 68. — ^') Jahrb. d. öst. Staates. Wien 1836, p. 449 u. 1. c.
Stand der Physiologie des Gehörorgans in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.
In diesem Zeiträume tritt die Physiologie des Gehörorganes in
das Stadium der experimentellen Forschung. Wohl finden wir schon im
18. Jahrhundert vereinzelte physiologische Versuche am Gehörorgane
verzeichnet; doch macht sich erst jetzt das Bestreben geltend, auf dem
Wege des methodischen Experiments die Funktion der einzelnen Teile
des Gehörorgans zu bestimmen. Nicht zum geringsten wird die experi-
mentalphysiologische Richtung durch die technische Vervollkommnung
der Untersuchungsmethoden und durch den Aufschwung begünstigt, den
die Physik und vor allem die Akustik durch die Arbeiten Savarts,
Chladnis, Laplaces und CoUadons nahm.
Unter den Physiologen dieser Periode ragen besonders Auten-
rieth, Magendie, Joh. Müller, Ernst Heinrich Weber und
Flourens hervor, deren Leistungen als grundlegend für die moderne
Gehörsphysiologie anerkannt werden müssen.
Joh. Heinr. Ferd. v. Autenrieth (1772—1835), ein Schüler
Cuviers, Scarpas und Peter Franks, ordentlicher Professor an der
Tübinger Universität, eröfifnet zu Anfang des Jahrhunderts die Reihe
jener Forscher, die sich der exakten naturwissenschaftlichen Richtung
zuwandten. Sein Werk „Handbuch der empirischen menschlichen Physio-
logie"*), das, wie Gurlt rühmend hervorhebt, bereits gegen die damals
herrschende phantastische Naturphilosophie die Rechte der echten Empirie
und der auf das Experiment begründeten Forschung mit Glück verteidigte,
galt bis Johannes Müller als das hervorragendste Handbuch über
Physiologie.
Im Vereine mit dem Dichter und Arzt JustinusKerner**)
unternahm Autenrieth experimentelle Untersuchungen an Tieren, um
über die Funktion der einzelnen Teile des Gehörorgans Aufschluß
zu erhalten***).
■'■} Zum Gebrauche seiner Vorlesungen herausgegeben von Dr. Joh. Heinr.
Ferd. Autenrieth. Tübingen 1802. III. Teil, p. 221-^258.
**) Vergl. dessen Dissertation: De functione singularum partium auris. 1808.
***) Beobachtungen über die Funktionen einzelner Teile des Gehörs. Arch. f.
Physiol. V. Reil u. Autenrieth, 1809, Bd. IX.
400 Autenrieth.
Das Trommelfell faßten beide als einen Komplex von Saiten auf,
die vom Zentrum gegen die Peripherie laufen. Je nach der Länge und
Spannung der Saiten gerät nun bei einem bestimmten Tone ein größerer
oder kleinerer Teil des Trommelfells in Mitschwingung. Die Verschieden-
heit der Saiten wird teils aus der Art der Hammerinsertion , teils aus
der elliptischen Form des Trommelfells erklärt. Muncke*) bestreitet
diese Hypothese. Bonnafont (siehe später) versuchte zu zeigen, daS
bei tiefen Tönen der größere vordere Trommelfellabschnitt, bei hohen
der kleinere hintere gespannt wird.
Die Trommelhöhle dient nach Autenrieth als Resonanzkasten
für die Trommelfellschwingungen. Die Funktion der Ohrtrompete
soll darin bestehen, der Luft beim starken Schall einen Ausweg aus der
Trommelhöhle zu verschaffen, da sonst «durch Gegenstoß an das Trommel-
fell der Schall verwirrt *" werden würde. Hieraus will Autenrieth die
Schwerhörigkeit bei Tubenverschluß erklären.
Nach den Untersuchungen Autenrieths und Kerners ist die
Eustachische Röhre in der Ruhe geschlossen, indem die Schleimhaut-
flachen von beiden Seiten mittels einer wässerigen Flüssifjrkeit gleichsam
aneinander kleben. Beim Gähnen und Niesen gelangt die Luft von der
Rachenhöhle in die Trommelhöhle, wobei die Luft in dieser erneuert wird.
Die Ansicht Cesare Bressas**), daß die Eustachische Röhre dazo
diene, dem Sprechenden die eigene Stimme hörbar zu machen, wird schon
dadurch widerlegt, daß Personen, die bei krankhaftem Verschluß der
Eustachischen Röhre die Stimme anderer nicht verstehen, ihre eigene
ganz gut hören. Bressa übersah hierbei, daß die Vibrationen der
eigenen Stimme vom Rachen den Kopfknochen mitgeteilt werden.
Nach weitläufigen theoretischen Spekulationen gelangt Autenrieth
zur Hyj)otheso, daß die Funktion der Bogengänge darin bestehe, dit»
Schallrichtung wahrzunehmen. Diese Annahme, welche die Fähigkeit, die
Schallrichtunt^ zu bestimmen, durch die anatomische Anordnung der
Bo<^engiinge nach den drei Richtungen im Räume zu deuten versucht,
wurde von den Physiologen nach dem Bekanntwerden der Experimente
Flourons' für irrtümlich erklärt. Erst in neuester Zeit hat W. Prever***>
diese Fra<fe wieder autgerollt, ohne jedoch die Zustimmung der Fach-
kreise zu finden.
Im Aii.srhlu:r:-t' Uli d'w Vt'r-iici:e Autenrieths und Kerners sollen hier die
iini (Vnst: Zeit ül'or densfU'on (ici:eii?t;nul aniie-tellten Untersuchungen des Insjenieur?
und r:u:«'s>iu-s der I'iiy-ik zu Motlvna J. B. Venturi ihren Platz finden. Seiner
K.i.stnor.s Ar- h. t". d. tre-. Nuturl. ]V\. VIT. 11. 1.
KfiN Arohiv. Ihn u. l^oS. Hd. VIll.
I l'io AViiiirneliniunj,^ der Schall lirhtunt^ mittel'« der Bogengänge. Pflügvr*
A:\i:iv 1'. d. „'es. Piiv>i.:.ioL'ie. IS**?. IUI. XL.
Autenrieth. 401
Abhandlung entnehmen wir folgende Daten*): Sind beide Augen und ein Ohr ge-
schlossen und wird der Kopf nicht bewegt, 80 scheint der Ton stets aus der Richtung
zu kommen, nach der das offene Ohr gewendet ist. Diese Richtung, die senkrecht
auf der äußeren Fläche des Ohres steht, nennt Venturi die Gehörachse. Dreht
man jedoch den Kopf, so wird der Ton mehr oder weniger stark vernommen, je
nachdem die Gehörachse des offenen Ohres mehr oder weniger von der Richtung
der tönenden Schwingungen entfernt ist. Sind beide Ohren offen, so erkennt man
sofort die wahre Richtung des Tones. Stopft man nun das linke Ohr mit dem Finger
allmählich zu, so scheint es, als ob der Ton von der rechten Seite käme, und um-
gekehrt von der linken, wenn man das rechte Ohr zuhält. Eine Erklärung der bei
diesen Versuchen festgestellten Resultate versuchte Venturi nicht zu geben ♦♦).
Bezüglich der Funktion der Sclinecke ist Autenrieth der An-
sicht, daß sie bestimmt sei, den „Lauf* des Schalles und mit diesem
gleichzeitig die Höhe des Tones wahrzunehmen. Auch ist er ein An-
hänger der schon von Boerhaave, Haller u. a. vertretenen Ansicht
vom Mitschwingen der Nervenfaden in der Schnecke je nach der Tonhöhe
der Schallquelle. Autenrieth ist sich der Schwäche dieser Hypothesen
wohl bewußt, wenn er sagt: „So lange man nicht schwerhörende Per-
sonen in Hinsicht auf ihr besseres oder schlechteres Wahrnehmen von
Stärke, Richtung und Laut eines Schalles genau beobachtet und dann
mit Sorgfalt nach ihrem Tode die einzelnen Teile ihres Labyrinthes unter-
sucht hat, wo oft der Vorhof und die Kanäle unentwickelt erscheinen,
während es die Schnecke nicht ist, und umgekehi-t etc., so lange wird
man vom Gehörsinn nichts Bestimmtes wissen.** Auf Autenrieths
Leistungen in der Nosologie des Gehörorgans werden wir noch zurück-
kommen.
Nach den Untersuchungen Autenrieths und Kerners per-
zipieren die Gebilde des Vorhofs die Stärke und die Höhe des Tones.
Die Bogengänge haben hauptsächlich die Bestimmung, die Schall-
schwingungen, die durch die Kopfknochen dem Gehörorgane zugeleitet
werden, wahrzunehmen und die Schallrichtung zur Empfindung zu bringen.
Als Beweis hierfür wird ein Experiment am Maulwurf angeführt, dem
ein Faden an den Schwanz gebunden und der in einem mit Erde ge-
füllten Gefäß eingegraben wurde. Bei jedem Geräusch bewegte sich das
Tier in einer dem Geräusche genau entgegengesetzten Richtung. Ge-
stützt wurde diese Hypothese durch die Tatsache, daß beim Maulwurf
die halbzirkelförmigen Kanäle besonders stark ausgebildet sind. Die
Schnecke endlich vermittelt nach Autenrieth und Kerner die Klang-
farbe des Tones.
*) Betrachtungen üher die Erkenntnis der Entfernung, die wir
durch das Werkzeug des Gehörs erhalten, von J. B. Venturi. Reils Archiv.
1802. Bd. V, p. 383.
**) Vergl. A. Politzer, üeber Paracusis loci. A. f 0. Bd. 11.
Politzer, Geschichte der Ohrenheükiuide. I. 26
Mogendie.
In ähnlicher Webe nie Autenrieth und Kerner vereiichte der Eng-l&nder
T. W, Chevalier die einzelneD Qualitäten des Tones in die verechie denen Teile dei
Lahyrinthea «u lok&liBieTen. In seiner Hürtbeorie untenchjed er drei Qualitäten dei
Ton«, die Intenaität, die TonhBbe und die Eliuigfarlie , und meinte, daB daa Ohr
imstande Bei, eine meohaniBche Scheidung dieser drei Eigenacharten zu bewirken und
sie den entsprechenden Teilen des HSrorgana im Labyrinthe zuauteiicn. ohne jedoch
ihre physische Einheit zu beeinüusBen. Den Teil, der im »lande ist. die Intensität tu
perzipieren, nennt et .Biameter', den, der die Tonhöhe unterscheidet, .Tonometer*
und endlich jenen, der für die Klangfarbe empfönglich ist, .Poiometer". Auf bypo-
thetiecher Grundlai^e vermeint er nun den ,Üiameter' in der Schnecke, den , Tono-
meter' in den Ampullen und den .Foiometer' in einem Teil des Vorhol'es, wo et
Marks uhatanz entdeckt hat, gefunden zu haben*).
FrauQois Magendie (1783 — 1855), Professor der Physiologie und
allgemeinen Pathologie am College de France in Paris, gilt als der
Schöpfer der modernen experimentellen Richtung in der Physiologie.
Seine Leistungen haben wesentlich dazu beigetragen, die bis dahin
herrschenden naturphilosophischen Methoden der Katurforschung zu
verdrängen. Von diesem Umschwünge blieb die Gehöraphjsiologie nicht
unberührt, indem auch hier ,daB Spiel der Einbildungskraft', wie
Magendie sich ausdruckt, durch die nüchterne Methode des Experi-
ments ersetzt wurde. Der Nutzen der neuen Porschungsmethode war zu-
nächst der, daß die vagen, bloß durch die Autorität eines berühmten
Schriftstellers gestützten Theoreme ül>er die Vorgänge beim Hören Yoll-
ständig ausgemerzt wurden und daß man sich vorurteilsfrei der experi-
mentellen Nachprüfung der physiologischen Vorgänge zuwandte. Von
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, heben sich Hagendies klare und
lichtvolle Ausführungen wohltuend von den vielfach dunklen und hypo-
thetischen Angaben der älteren Physiologen ab.
Durch Versuche stellte Magendie fest, daß die Haut des äufieren
Gehörgangs sich durch große Empfindlichkeit auszeichnet, die gegen
das Ende dieses Ganges zuniranot, wo Fremdkörper und Entzündungen
die heftigsten Schmerzen verursachen. Geringere Sensibilität zeigt die
Tromraelhöhlenschleimhaut, Experimentelle Berührungen, Vet^
letzung und Durchschneidung desHörnerTen bei Tieren, den er durch
Entfernung der seithchen Partien der Schädelbasis freilegte, erregten aber
keinen Schmerz**).
Den Nutzen des äußeren Ohres sieht er in der großen Elastizität
des Ohrknorpels, die noch durch Muskeln vermehrt werde, weshalb er
leicht durch die ihm von der Luft mitgeteilten Vibrationen in Schwingung
geraten könne.
*) Medico Chirurgical Tranaact. 3d, XIII. — Vergl. Frotieps Notiien. Jahrg, 188ft
•*) Magendie. Joum. de phyaiol. eiperim. T. IV, p. 170; T. V, p, 38.
Magendie. 403
Der äußere Gehörgang leitet nach Magendie den Schall einer-
seits durch die in ihm enthaltene Luft, andererseits durch seine Wan-
dung zum Trommelfelle. Magendie hält die Annahme für irrtümlich,
wonach das kleine Trommelfell mit der großen Menge von Tönen, die
unser Ohr treffen, sich in gleiche Stimmung setze, hingegen nach den
Savartschen Versuchen fiir sehr wahrscheinlich, daß es sich für schwache
Töne erschlaffe, für starke spanne.
Das Trommelfell überträgt nach seiner Auffassung einen Teil des
Schalles auf die Luft der Trommelhöhle, einen anderen auf die Gehör-
knöchelchenkette. Die Fortleitung des Schalles zum inneren Ohr ge-
schieht daher sowohl durch die Kette der Gehörknöchelchen, als auch
durch die Trommelhöhlenluft, welche den Schall den Knochenwänden der
Trommelhöhle, hauptsächlich aber der Membran der Fenestra rotunda
mitteilt.
Die Eustachische Röhre dient nach Magendies Beschreibung
zur Erneuerung der Trommelhöhlenluft, die Warzenzellen zur Verstärkung
des in die Trommelhöhle gelangenden Schalles, was Yornehmlich durch
die Blätterform der einzelnen Zellen bewirkt wird.
Bezüglich der Hörperzeption durch die Schnecke spricht sich
Magendie gegen das Mitschwingen der Schneckenchorden aus.
Die Funktion des Hörnerven hängt nach Magendie von der des
Nerv, trigeminus ab. Erkrankt dieser Nerv oder wird er durchschnitten,
so werde das Gehör geschwächt oder vernichtet (?). Er beobachtete,
daß hohe Töne das Ohr schmerzhaft affizieren. Ein tiefer Ton werde
bei langer Einwirkung manchmal noch gehört, wenn der tönende Körper
nicht mehr schwinge (Nachempfindung). Die Schallrichtung, welche
nach Magendie zum Teile auch durch das Auge ermittelt werde,
könne mit einem Ohre nicht beurteilt werden. Ueber die Entfernung
des Schalles sind wir nur dann im klaren, wenn wir über die Natur
des schallenden Körpers unterrichtet sind. Irrtümlich sei die Annahme,
daß ein sehr starker Schall von einem nahen, ein schwacher von einem
entfernten Körper herrühre. Schlechteres Hören mit zunehmendem Alter
ist nach Magendie teils durch eine Verminderung der Labyrinth-
flüssigkeit, teils durch eine progressive Abnahme der Sensibilität des
Hörnerven bedingt.
Schließlich sei hier folgender für die Hörphysiologie wichtige Ver-
such Magendies hervorgehoben. Nach Durchschneidung der Klein-
hirnschenkel, des verlängerten Markes oder nach Verletzung be-
stimmter Teile des Kleinhirns konnte er unkoordinierte Bewegungen det
Extremitäten, ferner auch ein ganz bestimmtes Schielen beobachten*
*) M^moires sur les fonctions de quelques parties dn Systeme nerveux. Jor
d. Physiol. 1825. T. IV.
4()4 Johannes Müller.
Die Ergebnisse dieser Versuche wurden später von Flourens als Kon-
trollversuclie bei seinen Experimentalarbeiten an den Bogengänj2^en heran-
i:^zogen.
Johannes Müller. Die Physiologie des Gehöror^^ans hat durch
den genialen Johannes Müller, den Begründer der modei-nen Physio-
logie, bahnbrechende Förderung erfahren. Vor allem sind es seine Unter-
suchungen über die Schalleitung in der Trommelhöhle, die für unsere
jetzigen Anschauungen grundlegend wirkten. Johannes Müller.
1801 zu Koblenz geboren, erhielt 1822 den Doktorgrad, habilitierte
sich zwei Jahre später in Bonn als Privatdozent und wurde 1830 zam
ordentlichen Professor ernannt. Kaum 32 Jahre alt, erhielt er den
ehrenvollen Ruf als ordentlicher Professor der Anatomie und Physiologie
an die Berliner Universität, wo sich Männer um ihn scharten, die spater
als Physiologen hohen Ruf erlangten. Wir erwähnen nur die Namen
Brücke, Du Bois-Reymond, v. Helmholtz, Ludwig u.a., die sich
mit Stolz Schüler Johannes Müllers nannten. Sein Tod erfolfj^ plötz-
lich am 28. April 1858.
Der Hörphysiologie widmet Johannes Müller im II, Bande
seines ^Handbuchs der Physiologie des Menschen, Koblenz
1837", eine eingehende Darstellung. Nachdem er die physikahscIieD
Bedingungen des Hörens, die Wellenbewegung im allgemeinen, dÜB stehen-
den und fortschreitenden Wellen tönender Körper und die Wellenbew^ung
bei der Schalleitung besprochen, schildert er in Kürze die Morphologie
des Gehörorgans der Fische, der nackten und beschuppten Amphibien.
der Vögel und Säugetiere, und wendet sich hierauf den akustischen Eigen-
schaften der Gehörwerkzeuge zu. Durch eine Reihe geistreicher Ve^
suche, die er zur Begründung seiner Theorie über die Schalleitung,
mittels sinnig erdachter Apparate ausführte, weist er treflFend nad
daß Schallwellen, die von Luft auf Wasser übergehen, am wenigsten ti,
Intensität verlieren, wenn sie durch Vermittlung einer gespannten Mcm-I
bran übertragen werden. Dieses physikalische Gesetz gilt auch daiit|
wenn die Membran, welche die Schallwellen auf die Flüssigkeit über-
trägt, mit dem größten Teil ihrer Fläche mit einem festen Körpri
(Stapesplatte) verbunden ist, der die Flüssigkeit (Labyrinthwasser) W
rührt. Aus diesen Versuchen konnte Müller ableiten, daß sowohl i|
Staposphitte, jiIs auch die Membran des runden Fensters sehr gute Leiir
für die Uebertni^un^ der Schallwellen auf das Labyrinthwasser siu:
Weiter fand Müller, daß diese Leitung noch um ein Bedeutendes vei-stäii
werde, wenn die Scliallzuleitung durch eine Membran (Trommelfell) Tf
mittelt wird, die von beiden Seiten von Luft umgeben ist. |
Wird, wie Müller im sich selbst beobachtete, das Trommehi
durch Verdichtung oder Verdünnung der Luft in der Trommelhöhle ü'-rj
r
i
I
Tafel XXIV
JOHANNES MÜLLER
Jobannes Müller. 405
die Grenze des Normalen gespannt, so erleidet das Gehör eine merkliche
Abdämpfung. Die wenig glückliche Formulierung des Satzes: „Eine
kleine, stark gespannte Membran leitet den Schall schwächer, als im
schlaffen Zustand **, bedarf des erklärenden Zusatzes, daß hier nicht eine
absolut schlaflFe Membran, sondern bloß eine Spannung geringeren Grades
gemeint ist. Irrtümlich ist die Ansicht Müllers, daß aus dem Verlust
der Fähigkeit zum Hören tieferer Töne bei vorhandenem Gehör für
hohe Töne auf eine erhöhte Spannung des Trommelfells zu schließen
sei, nachdem wir wissen, daß diese Höranomalie auch bei Adhäsiv-
prozessen im Mittelohr bei Rigidität und Fixierung der Gehörknöchel-
chen und bei isolierter Stapesankylose beobachtet wird. Müller nimmt
femer an, daß bei sehr starkem Schall durch den reflektorisch sich
kontrahierenden Tensor tympani das Trommelfell gespannt und das Ge-
hör merklich gedämpft wird. Dem Trommel fellspanner schrieb
Müller eine willkürliche Kontraktion zu und bezog das knackende Ge-
räusch, das er selbst in beiden Ohren hervorrufen konnte, auf die Aktion
dieses Muskels*). Was die Wirkung des Steigbügelmuskels anlangt,
so war Müller der Meinung, daß durch die Kontraktion dieses Muskels
das Ligamentum annulare stapedis gespannt werde, indem* die Stapesplatte
durch den Zug des Muskels am hinteren Abschnitte um so viel tiefer in
das ovale Fenster hineinrücke, als der vordere Abschnitt sich nach außen
zu schiebe.
Die schon früher des öfteren ventilierte Frage, ob die Schallwellen
durch Vermittlung der Gehörknöchelchen auf das ovale Fenster oder
durch die Trommelhöhlenluft auf das runde Fenster übertragen werden,
entschied Müller dahin, daß ein ausschließliches Anerkennen einer Art
von Leitung unstatthaft sei, da beide Teile nach physikalischen Gesetzen
leitungsfähig seien. Doch lieferten seine Versuche den Nachweis, daß
die Schalleitung durch die Gehörknöchelchen ungleich intensiver und von
größerer physiologischer Bedeutung ist, als die Luftleitung zur Membran
des runden Fensters.
Die Eustachische Ohrtrompete ist nach Müller dazu bestimmt,
die Luft der Trommelhöhle zu erneuern und mit der äußeren Luft ins
Gleichgewicht zu setzen. Dadurch werde eine durch einseitige Ver-
dichtung oder Verdünnung der Luft entstehende abnorme Spannung des
Trommelfells und die hieraus entstehende Hörstörung verhindert. Nebst-
dem dient die Tube dem Sekretabflusse aus der Trommelhöhle. Ob
durch den Tubenkanal, wie Müller meint, die Resonanz der Töne
hintangehalten wird, muß dahingestellt bleiben.
*) Von Luschka und mir wurde der Nachweis erbracht, daß dieses Geräusch
durch eine Bewegung im Tubenkanale erzeugt wird (Tubenknacken).
406 Johannes Müller.
Den äußeren Oehörgang hält Müller für die SchaUeitung
in dreifacher Hinsicht wichtig, erstens weil er die aus der Luft ein-
fallenden Schallwellen unmittelbar auf das Trommelfell leite, zweitens,
weil seine Wände die der Ohrmuschel selbst mitgeteilten Wellen auf dem
nächsten Wege dem Trommelfell übermitteln, und endlich, -weil die im
Gehörgang enthaltene Luft der Resonanz fähig ist.
Die Ohrmuschel ist teils Reflektor, teils Kondensator und Leiter
der Schallwellen. Als Reflektor kommt vorzüglich die Concha in Be-
tracht, indem sie die Schallwellen der Luft gegen den Tragus wirft, von
wo sie in den Gehörgang gelangen.
Müller hebt hervor, daß jeder begrenzte feste Körper (Kopf-
knochen, in der Nähe des Gehörorgans liegende Knorpel, Membranen)
und jede begrenzte Luftmasse in der Nähe des Labyrinthes ein Resonator
si'i. Von dieser Resonanz der Lufthöhlen hängt zum Teil das starke
Hören ab, wenn man sich durch eine Röhre in den Mund oder die Nase
sprechen lasse. Müller ist der Ansicht, daß man bei vollkommen ver^
stopften Gehörgängen die eigene Stimme deshalb schwächer höre, weU
die Resonanz der Luft im äußeren Gehörgange aufgehoben sei.
lieber den Unterschied der Schalleitung durch die Trommel-
höhle und durch die Kopfknochen spricht sich Müller ungefähr
folgendermaßen aus:
Die Trommelhöhlenleituug teilt dem Labyrinth einseitige Stöße durch
die beiden Fenster mit, von wo aus dann die Wellen sich im Labyrfntbwasser
verbreiten. Die Kopfknoehenleitung führt dem Labyrinthe von jeder Seite
aus Schallwellen zu. Bei fest verstopften Ohren leitet das Ohr die Luftwellen
immer noch stärker als die Kopfknoohen. Müller übersah hierbei, daß man auch
bei Ausschaltung der Luftleitung durch den äußeren Gehörgang, durch die Tuba
Kust. hören kann. Die begrenzten und beweglichen Gehörknöchelchen ^rken viel
stärker auf da.s Labyrinth als die unbeweglichen (nicht isolierten) Kopfknochen.
I)i«' Leitung durch die Gehörknöchelchen ist auch dann vorhanden, wenn die Luftwellen
zuiMst den Kopfknochen zugeführt werden . in welchem Falle die Schallwellen auch
tlein Trommelfell und den Gehörknöchehtlien mittelbar zugeleitet werden und der
'l'rommelhölilenapi»arat re.»<onniert (cranio-tympanale Leitung). Er stützt diese Ansicht
auf folgenden Versuch: Setzt man eine tönende Stimmgabel bei verstopften Ohren
auf den Scheitel, so wird der Ton viel schwächer perzipiert, als beim Ansetzen der Gabel
auf die JSchläfe. Je näher die mit den KoplT^nochen in Berührung stehende Gabel dem
<Ieliör^'ange gebracht wird, desto >tärker wird der Ton empfunden. Der Ton der Gabel
wird auch umso stärker empfunden, je näher sie dem Labyrinthe und dem Gehörg^angeauf
den Schädel angesetzt wird. Die Bedeutung des Labyrinth wasser.s versucht Müller
folgendermaßen zu erklären: „Der let/tc Endzweck des (iehürorgans ist vollkommene
Mitteilung der StoIJwellen an die Nervenfasern. Da diese, wie alle Nerven, weich
unil von Wasser durclidiuugen sind, so würde schon die Mitteilung der Stoßwellen
vt>n fest (Ml Teilen an diese weichen Nerven zum Teil eine Reduktion der Schwingungen
ih'< Wassers sein. AuIhm' der Weichheit der Nerven ilurch Wasser sind auch alle
Zwisrln^iiiiiiiine zwischen den Nervenfa>ern mit GewebsHüssigkeit ausgefüllt. Geschieht
Johannes Maller. 407
die Mitteilung der Stoß wellen vom Labyrinthwasser aus auf die Fasern des Hör-
ner\'en, so ist das Medium der nächsten Mitteilung gleichartig mit dem, welches die
Interstitien der Nerven selbst einnimmt. In diesem Fall mag die Schwingung der
Teilchen in dem Nerven selbst viel gleichartiger sein, als wenn bloß die Oberflächen
des Nerven feste Teile berührten. Im letzteren Falle würden die Teilchen des Nerven,
welche die festen Teile berühren, eine andere Eontiguität haben als diejenigen
Teilchen des Nerven, welche mehr im Innern des Nerven und von der Berührungs-
fläche mit festen Teilen entfernt liegen.
Die Wasserleitungen spielen nach Müller in der Physiologie des Gehörs
gar keine Rolle. Sie enthalten weder häutige Kanäle noch Flüssigkeit oder Venen-
stämme und sind bloß Verbindungen der Beinhaut und Dura mater mit der inneren
Beinhaut des Labyrinths.
Seine Ansicht, daß die Vorhofssäckchen sensible Aufnahms-
organe der Schallwellen und die Bogengänge Kondensatoren des
Schalles seien, modifizierte Müller nach dem Bekanntwerden der
Flourens'schen Versuche dahin, daß die AmpuUamerven die eigentüm-
liche spezifische Energie besitzen, auf jeden Reiz mit einer Drehbewegung
zu antworten. Er versuchte experimentell nachzuweisen, daß die Oto-
lithen als feste Körper die in der Flüssigkeit erregten oder fortge-
leiteten Schallwellen durch Resonanz verstärken, eine Ansicht, die später
widerlegt wurde.
Was die Funktion der Schnecke anlangt, so kommt Müller zur
Schlußfolgerung, daß „die Spiralplatte der Schnecke als eine die Nerven-
fasern tragende Platte betrachtet werden müsse, auf der alle Schnecken-
nervenfasern fast gleichzeitig die Stoß welle empfangen und gleichzeitig
in das Maximum der Verdichtung und dann wieder in das Maximum der
Verdünnung eintreten/
Bezugnehmend auf die Arbeiten E. H. Webers*) führt Müller
aus, daß die Verbindung der Spiralplatte mit den Wänden des Labyrinths,
die Schnecke vorzüglich für Schallperzeption durch die Kopfknochen
befähige.
Aus dem letzten Kapitel der Hörphysiologie Johannes Müllers,
in welchem er das Unterscheiden und die Harmonie der Töne, die Nach-
empfindung und die Schärfe des Gehörs bespricht, ist seine Ansicht
über die Paracusis Willisii hervorzuheben. Er führt sie auf eine Er-
schlaflung (Torpor) des Hömerven zurück, der zur Schärfung seiner
Tätigkeit durch Erschütterung erregt werden müsse. Diese irrige Ansicht
wird noch jetzt von manchen Otologen vertreten.
Die subjektiven Töne erklärt Müller als einen Reizzustand des
Hörnerven bei Himkranken, Nervenschwacheir und bei solchen, deren
Hömerv selbst krank ist. Von den rein subjektiven Tönen
er diejenigen, wo der Schall im Gehörorgane selbst e
*) Annotationes anatomicae et physiologieaer
408 Savart.
solche erwähnt er aneurjsmatische Ausdehnung der Gefäße, das Knacken
bei Kontraktion der Binnenmuskeln des Ohres, das Rauschen bei Zu-
sammenziehung der oberen Gaumenmuskeln und beim Gähnen* — Schliefi-
lich zitiert Müller die von He nie beobachtete individuelle Eigentümlich-
keit, daß bei leisem Hinüberfahren des Fingers über die Wange ein
Rauschen im Ohre entsteht. Müller führt dieses Symptom auf eine
Reflexwirkung vom Facialis auf das Gehirn und den Acusticus oder auf
die Muskeln der Gehörknöchelchen zurtlck.
Die Annahme, daß die Ohrmuschel in schwingende Bewegung gerät and
den Schall in den Gehörgang fortpflanzt, wurde von manchen Physiologen wie
Savart*) und Lincke**) verteidigt, von anderen wie Henle***) bestritten. Die
Deutung der zur Beweisführung angewendeten Stimmgabelversuche ist insofern eine
irrige, als die Reflexion der Schallwellen von der Ohrmuschel in den GehOi^gasg
nicht durch die Vibration des Knorpels, sondern durch die Konfiguration der vorderen
Fläche der Muschel bewirkt wird. Esserf) fand durch Ausfüllen einzelner Ver-
tiefungen der Ohrmuschel mit weichem Wachs, daß es vornehmlich die Concfaa
ist, die den größeren Teil der Schallwellen in den Gehörgang reflektiere. Nach
Lincke (I.e.) kommt dem Tragus und Antitragus bei der Reflexion von der Concha
eine wichtige Bedeutung zu.
Savart (1791—1841). Der französische Physiker Savartf-}-) versuchte nach
dem Prinzipe der C hl adni sehen Figuren die Trommelfellschwingungen za erklären.
Er fand am anatomischen Präparate, daß der auf das Trommelfell gestreute feine
Sand bei Einwirkung von Tönen erst dann in Bewegung gerate, wenn nach Eröffnung
der Trommelhöhle der Trommelfellspanner erschlafft wurde. Savart bewies hier-
durch, daß durch die stärkere Spannung des Trommelfells die Intensität der
Schwingungen abnimmt und daß das Ohr durch den Trommelfellspanner vor der
schädlichen Wirkung heftiger Töne geschützt wird. Er unternahm es, den Einfloß
der Spannung des Trommelfells auf die Schwingungsfahigkeit dieser Membran und
die Funktion des runden Fensters experimentell zu erforschen tv-j-) und fand, daß
die Größe, Dicke, Elastizität und der Spannungsgrad einer Membran die Perzeptions-
grenze tiefer und hoher Töne wesentlich beeinflusse. Eine große Membran überträgt
leicht tiefe Töne, nicht aber hohe; umgekehrt kann eine kleine Membran nur
hohe Töne übertragen. Savarts Versuch, diese Resultate auf das Trommelfell zu
überleiten, muß als mißglückt angesehen werden. Auch der Einfluß de« äußeren
Gehörgangs auf die Verstärkung des Schalles wurde von Savart experimentell
untersucht. An einem Ende eines trichterförmigen Rohres wurde eine gespannte
Membran befestigt. Der auf diese gostrt'ute Sand geriet kaum in Bewegung, wenn
der tönende Körper sich gegenüber drr freien Fläche der Membran befand, hingegen
waren lebhafte Schwingungen zu konstatieren, wenn die Tonquelle vor die trichter-
") Annales d. Chini. et de physiol. T. 26.
**) 1. c. Bd. I. p. 487.
^■^*) Encyklop. Würterb. d. med. \Vi^s. Bd. 14. Berlin 1^36.
y) Kastner's Arch. t'.' d. ge.s. Naturlehre. Bd. 1*2.
V7) Recherches sur les usagrs de la nicmbrane du tympan et de l'oreille externe.
Joum. (1. Physiol. T. IX. 1><24.
YVVi In V. Steins ,Die Lehren von d»'n Funkt, d. einz. Teile des Labyr.** sind
diestf Versuche ausführlich ^'Csohildert. p. Ol— 68.
Flourens. 409
förmige Oeffnung gehalten wurde. Savarts Lehre von der Funktion des Trommel-
fells wurde außer von Magendie noch von vielen anderen Forschern, wie Rudolph!,
Joh. Müller, Tourtual, Steifensand und Henle akzeptiert. Ablehnend gegen
seine Theorien verhielten sich Autenrieth und Eerner, Itard und Bonnafont.
Itard"") versuchte die Vibrationen des Trommelfells dadurch nachzuweisen,
daß er eine Schweinsborste auf die Mitte des Trommelfells aufsetzte und nun tiefe
und hohe Töne auf das Ohr einwirken ließ. Die Borste zeigte nicht die geringste
Bewegung, obwohl die Versuchsperson alle Töne genau perzipierte. Dieses Ergebnis
erscheint uns jetzt nicht befremdlich, da wir wissen, daß die Trommelfellvibrationen
nur mit Hilfe mikroskopischer Vorrichtungen zur Anschauung gebracht werden können.
Die alte Streitfrage, ob die Schalleitung zum Labyrinth durch die Ge*
hörknöchelchen oder durch die Luft der Trommelhöhle zum Schneckenfenster ge-
schehe, blieb noch bis über diese Periode hinaus auf der Tagesordnung. . Während
Magendie, Savart, Itard, Home, Henle, Esser undMuncke die Schalleitung
durch die Enöchelchen für das Essentielle erklärten, war Treviranus der Ansicht,
die Gehörknöchelchen seien zur Schalleitung nicht geeignet. Die Mehrheit der Physio-
logen neigte jedoch zu der Auffassung, daß sowohl die Gehörknöchelchen, als auch
die Luft den Schall vom Trommelfell zum Labyrinthe leiten.
Daß der Streit über die Wirkung der Binnenmuskeln des Ohres endgültig
dahin entschieden wurde, daß Tensor tymp. und M. stapedius Antagonisten sind,
wurde schon früher erwähnt; desgleichen, daß die Eontraktion beider Muskeln sich
reflektorisch vollzieht und daß die Möglichkeit einer willkürlichen Bewegung dieser
Muskeln zugegeben wurde.
Flourens (1794 — 18G7), Professor der vergleichenden Anatomie
in Paris, der Begründer der modernen Physiologie des Bogengangapparates,
trat mit seinen neuen experimentellen Untersuchungen über die Funktionen
des inneren Ohres 1824 vor die Oeffentlichkeit**). Trotz der günstigen
Beurteilung durch Cuvier fanden die Arbeiten Flourens' nicht die
gebührende Berücksichtigung. Erst nach späteren Publikationen Flourens'
1842***) und 1861t) wurde die fundamentale Kenntnis von der Funktion
der Bogengänge für immer sichergestellt.
Von seinen Versuchen zitieren wir folgende:
Zerstörung beider Trommelfelle bei Tauben schwächt das Gehör des Tieres
nicht merklich, hingegen wird das Gehör bedeutend herabgesetzt durch Extraktion
der Columella (Stapes) aus dem Vorhofsfenster, wobei die Labyrinthflüssigkeit ab>
fließt. Zerstörung des Nervus vestibularis und der Lagena (Schnecke) bewirkt totale
Taubheit»).
*) Die Krankheiten des Ohres und des Gehörs. Deutsch. Weimar 1822. Vor-
rede S. i).
**) Memoires presentes ä TAcademie royale des sciences. 27. Decembre 1824.
***) Recherches experimentales sur les propriet^ et les fonctions du Systeme
nerveux etc. 1842.
t) Nouvelles experiences sur Tindependance respective des fonctions cerebrales.
Comptes rcndus. T. LH, 1861.
Yergl. ferner L. W. Sterns vollständige Literaturangabe über die nicht akusti-
schen Funktionen des inneren Ohres. (A. f. 0. Bd. 39.)
410 Flourens.
Verletzung der häutigen Bogengänge bewirkt eine schmerzhafte Empfind-
lichkeit gegen Töne und ist von jähen, heftigen Eopfbewegungen begleitet*).
Diese wiederholen sich sogleich, wenn man den häutigen Bogengang mit einer Nadel
berührt. Nach Durchschneidung der horizontalen Kanäle dreht sich das Tier um
die vertikale Achse, nach Durchschneidung der hinteren, vertikalen Überkugelt e^
sich nach rückwärts, nach Durchschneidung der vorderen Vertikalkanäle nach vor-
wärts. Bei den Vögeln, die mehr fliegen als gehen, zeigen sich die Phänomene
mehr im Fliegen, bei den anderen beim Gehen. In der Ruhe schwinden sie,
um bei Bewegungen sofort wieder aufzutreten. Durchschneidung zweier vertikaler
Kanäle (recht« und links) ruft vertikale Kopfbewegungen hervor, Durchschneidung
der horizontalen und vertikalen Kanäle bewirkt horizontale und vertikale Kopf-
bewegungen. Durchschneid ung eines Kanals einer Seite verursacht viel schwächere
Störungen.
Bei diesen Versuchen wurde eine Verletzung des Kleinhirns yermieden.
Nicht ganz konform waren die Ergebnisse bei den Versuchen an jungen
Kaninchen. Bei Durchschneidung des horizontalen Bogengangs traten langdaaend«
horizontale Kopfbewegungen und heftige Bewegung der Bulbi und Lider anf. Nack
Durchschneidung der (hinteren) Vertikalbogengänge erfolgten Kopfbewegnngen toi
unten nach oben und Ueberstürzen nach rückwärts ; Verletzung des vorderen Bogen-
gangs bewirkte Ueberstürzen nach vorwärts*).
Aus diesen Versuchen schließt Flourens, daß die Tätigkeit der Bogenginge
resp. der Bogengangsnerven in der Hemmung der Bewegungen bestehe (Fonv
moderatrices).
Chevreuil"^*) war es, der zuerst Flourens aufmerksam machte, daß et nih
bei den Bewegungsstörungen, die nach Verletzung der Bogengänge auftreten, nieht
um Reiz-, sondern um Ausfallserscheinungen handle. Diese Deutung der PlUUaonuM
durch den Ausfall der von den Bogengängen ausgehenden Impulse (Hemmungs- odv
Lähmungstheorie) wurde von Flourens akzeptiert.
Aus der Beobachtung, daß nach der Durchschneidung Aon Längsfasem da
Pons, der Fasern dos Processus cerebelli ad corp. quadrig. und von Fasern, die wm
Kleinhirn zum verlängerten Mark verlaufen, ähnliche Bewegungen des Tieres auf-
treten wie nach Durchschneidung der Bogengänge, schloß Flourens, daß dioe
Kadern mit den Nerven des Bogengangapparates in Verbindung stehen.
Das wichtigste Krgebnis der Experimente Flourens' ist die Erkenntnis, dal
der Vorhofa- und Bogenganji^appiirat keine Hürperzeptionsorgane sind . und daB die
Toneuipfindung nur durch die Schnecke vermittelt wird.
Die zaiilreicben Na(hi>rüfungen und Ergänzungen der Flourensschen Ver
-^uche fallen bereit^ in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
*) La destrn«:tioii de ia membrane du tynipan , ainsi que des osselets, Tetrier
«^Kceptr. n'ajiporte qu'une l»''<,'ere jjerturbation dan.s l'ouie; mais apres Tablation J"'
]'»'*trier, cette fonction e&t beaucoiij) plus sen>iblement diminuee. et eile disparait
\n'u de teiiips apre<. ^Une reniarque particulieie , et que je ne dois pa.s oniettrt.
r\'>i que lii destruction <W> jtaroi- du vestiliule. de ia membrane des fenetres ronde
et uval«*. Iiii'ii (iu'ell«' ii'al)oli.->e jias siii-Je-cliamj» Taudition. tlnit toujours au boiit
) Die Aiisiclit. dal) es sicli lii.*r um rrine ("Jl eich. i,'(mv ich tsstörung-en bandelt,
und dal» «lie noiT.'iiLriinLM^ (ileicliirewij'litsorLrane seien, wurd»* zuerst von Goltz au?-
L'''>]>ri)clK'n.
''' ) Kx};ei'ien<i.'s .-iir Ics c. a.-r. do rnreillf. daiis les oiseaiix et les ni am mit eres.
.'onrii. des :^;iv.ints l^:;*.!. ]».*.♦- 11.
Tafel XXV
Purkinje. 411
d'un temps plus ou moins long par la d^truire. L'^trier est de toutes ces parties
Celle dont la perte eniralne le plus tard la parte de Tandition/ — ') La section
des canaux liorizontaux est suivie d*un mouvement horizontal, et la section des canaux
verticaux , d'un mouvement vertical de la töte. p. 480. La section du canal hori-
sLontal est suivie d*un toumoiement de Tanimal surlui-mSme; celle du canal vertical
posterieur, d'un mouvement de culbute en arriere; et celle du canal vertical anterieur,
d'un mouvement de culbute en avant. Les mouvements singuliers que d^termine la
section des canaux semi-circulaires se reproduisent donc dans les mammiferes comme
dans les oiseaux.
Anschließend sollen hier einige experimentelle Arbeiten über den
Drehschwindel kurz besprochen werden. Zunächst die interessanten,
mit den einfachsten Mitteln ausgeführten Versuche Purkinjes*).
Daß Scheinbewegungen nach plötzlicher Aenderung der Kopfhaltung (Augen-
schwindel) auftreten, wurde schon vom älteren D a r w i n in seiner Zootom ie erwähnt.
Purkinje beobachtete als der erste, an sich selbst und an Wahnsinnigen, die im
Drehstuhl gedreht wurden, daß während des Drehens und beim Aufhören der
Drehung eine unwillkürliche, konvulsivische, äußerst schnelle Bewegung beider Augen
auftritt. Er vertrat die Ansicht, daß diese , bewußtlose, subjektive Bewegung, aufs
Objekt übertragen, der Grrund der Scheinbewegung sei." Purkinje konstatierte
femer, daß die Richtung der Scheinbewegung bestimmte Abänderungen erfährt,
wenn beim Drehen des Körpers die Lage des Kopfes verändert wird. Als Ursache
des Drehschwindels betrachtet er eine Zerrung des Gehirns während der Drehung.
Auch der galvanische Schwindel, wie er bei Durchleiten eines galvanischen Stromes
durch beide Ohren entsteht, war Purkinje bekannt. Er verglich diese Beobach-
tungen mit den Versuchen Flourens' über die Bedeutung des Kleinhirns und sprach
die Ansicht aus, daß bei Verletzung und Wegnahme verschiedener Teile des großen
und kleinen Gehirns verschiedene Formen von Richtungsschwindel erregt werden,
die jene scheinbar konvulsivischen Bewegungen des Körpers als Versuche, das ver-
lorene Gleichgewicht wieder zu erlangen, zur Folge haben.
Purkinje war daher der Zusammenhang des Drehschwindels und des hierbei
auftretenden Nystagmus mit den bei raschen Drehbewegungen im Vestibular-
apparate ausgelösten Reizen unbekannt. Erst Mach**) sprach sich klar dahin
aus, daß der Drehschwindel sich nach den bei den Flourensschen Experimenten
auftretenden Phänomenen deuten lasse. Im übrigen sei auf die Ansicht Johannes
Müllers hingewiesen***), daß die Ampullennerven die eigentümliche spezifische
P'.nergie besitzen, auf jeden Reiz mit einer Drehempfindung zu antworten.
Marcus Herz vertritt in seiner Schrift , Versuch über den Schwindel* (Berlin
1786, 1791) die Ansicht, daß der Schwindel durch eine rasche Aufeinanderfolge der
Vorstellungen entstehe, da zwei aufeinanderfolgende Sinneserscheinnngen einen ge-
wissen Zwischenraum erfordern (vergl. v. Stein, 1. c). Mach, der sich das Buch
*) Med. Jahrb. d. öst. St. Bd. 6, H. 2, Jahrg. 1820. — Bulletins d. schles.
Gesellsch. Breslau 1825 u. 1826. — Ein Referat findet sich auch in Rusts Magazin
1827, und eine besonders ausführliche Darstellung der Versuche in v. Steins »Ohr-
labyrinth*.
**) Physikal. Versuche über den Gleichgewichtssinn d. Menschen. 68. Bd. der
Sitzb. d. k. Akad. d. Wiss. 1873.
***) 1. c. 4. Aufl. 1841—1844.
412 Wollaston.
in der Meinung verschaffte, er werde den Purkinj eschen Versuchen ähnliche wert-
volle Daten finden, fand sich enttäuscht; er sagt: „Es enthält nicht einen einziges
Versuch und ist überhaupt ganz naturphilosophisch gehalten. Die Erklänmgen des
Verfassers sind rein psychologisch und die Theorie der unbewußten Schlüsse, welche
bei ihm schon in der Blüte steht, kann geradezu als abschreckendes Beispiel dienen.'
Johann Wilh. Ritter war der erste, der auf den galvanischen Ohrsehwindel
hinwies, wobei er eine Tonempfindung beobachtete, deren Höhe er auf g^ bestimmte*).
Volta hatte nur eine akustische Wirkung bei der Einschaltung der Ohren in seinem
Vierzigplattenelemente enthaltenden Apparat wahrgenommen. Purkinje, der an-
läßlich seiner Drehschwindelversuche auch den galvanischen Schwindel studierte, hatte
bei der Durchleitung des elektrischen Stromes von Ohr zu Ohr das Gefühl , als ob
er sich in der Richtung vom Kupfer- zum Zinkpole bewegen würde. Wurde der
Strom unterbrochen, so trat der Schwindel in entgegengesetzter Richtung auf.
Franz v. PaulaGruithuisen**) meinte, daß der .Muskelsinn" die Empfin-
dungen der Lage vermittle und daß auch das Schwindelgefühl auf diesen Sinn
zurückzuführen sei.
Untersuchungen über Perzeption hoher und tiefer Töne und Ober
Schalleitung durch die Kopfknochen.
Der Physiker Wollaston (1766—1828) machte die Beobachtung, daß manche
Schwerhörige hohe Töne besser perzipieren als tiefe. Er konnte auch an sich selbst
wahrnehmen, daß sein Ohr bei Vorhandensein eines Schalleitungshindcmisses für
tiefe Töne unempfindlicher war als für hohe. Ein normales Ohr jedoch scheint nach
seinen Untersuchungen keine scharfe Grenze für das Unterscheiden tiefer Töne m
haben. Anders steht es hingegen mit den hohen Tönen. Wollaston bemerkte
nämlich bei einem Bekannten, der sonst sehr gut hörte und musikalisch "war, daß
dieser für den Ton einer kleinen Pfeife, der sich weit innerhalb der Wahrnehmungs-
fähigkeit seines eigenen Ohres befand , unempfänglich war. Er fand bei einer
normalhörenden Verwandten, daß sie das Zirpen der Feldgrillen nie hören konnte,
und ferner bei einem Manne mit normalem Gehör, daß er sogar das Zwitschern des
Sperlings nie gehört hatte. Nach eingehenden Untersuchungen über die Perzeption
hoher Töne gelangte Wollaston zu dem Resultate, daß man plötzlich eine höhere
Note nicht zu hören vermöge, während man die vorhergehende noch deutlich ^hört
hat und daß es sicherlich Töne von großen Schwingungszahlen gebe, für die alle
Oliron uut^mpfänglich sind, eine Tatsache, die auch durch neuere Untersuchungen
izuckt'ndo Flammen) ihre Bestätigung erhielt'**).
Kr fand ferner, daß bei Luftverdünnung in der Trommelhöhle nach einem
Schlint^akte bei gefc«chlossenen Nasenöffnungen (Toynbee'scher Versuch) infolge der
stärkeren JSpannung des Trommelfells die Knipfindlichkeit für tiefe Töne, nicht aber
für hübe Töne abnahm 7).
) Ueber die Anwendung der Voltaischen Säule. Hufelands Joum. f.
prakt. lleilk. Bd. XVII. 1803.
•) Anthrupologie oder von d. Natur d. nienschl. Leb. und Denk. f. an<}:ehende
l*hilosoj>h. u. Aerzte. München 1810.
•'•) < )n Soiindö inaiidil)le by oertains ears. Pliilosoph. Transact. p. 306. 1820.
(Uebor Töne, welche dureh einige Ohren nicht vernoninien werden. Meckels Archiv
Bd. VIII. 1S23.J
V) Verjjl. F r 0 r i e p 8 Notiz. 1 .'^2o.
Wheatstone. 413
Was die Grenze anlangt, bei der die Perzeption hober Töne erlischt, so stellte
Wo 11 as ton fest, daß die Fähigkeit, hohe Töne zu hören, plötzlich aufhört: man
vernimmt von zwei bestimmten, in der Tonleiter nebeneinander liegenden Tönen
den einen noch und den anderen nicht mehr. Nach Wollaston erstreckt sich der
Gehörsinn des Menschen auf ca. 9 Oktaven (30 — 18000 Schwingungen in der Sekunde).
Eine feste Grenze für die tiefen Töne ist schwer zu ermitteln, da ein völlig nor-
males Ohr die schwingenden Bewegungen (z. B. einer Stimmgabel) selbst dann
noch empfindet, wenn die Vibrationen zu einem bloßen Zittern geworden sind, die
sich beinahe zählen lassen.
Die Ansichten anderer Autoren über die Grenzen der wahrnehmbaren Töne
divergieren vielfach. Nach Chladni beträgt die unterste Perzeptionsgrenze 30,
nach Biot 82, nach Savart 16 einfache Schwingungen. Als höchste Perzeptions-
grenze ermittelten Sauveur 12400, Chladni 48000 einfache Schwingungen. Nach
Despretz liege die Grenze der wahrnehmbaren und vergleichbaren Töne zwischen
32 und 73000.
Von Interesse ist der Vorschlag Despretz', die hohen Stimmgabeln von c*
bis c^ zur Feststellung der Zu- oder Abnahme der Empfindlichkeit des Gehörs bei
Schwerhörigen zu verwenden*).
Bonnafont fand, wahrscheinlich der Anregung Despretz* folgend, daß
bei Abnahme der Sensibilität des Hörnerven das Ohr die Fähigkeit verliert, hohe
Töne der Stimmgabel zu perzipieren, während die tiefen Töne deutlich gehört
werden, gleichviel ob die Stimmgabel in die Nähe des Ohres oder bei stärkerer
Taubheit an verschiedenen Stellen des Schädels appliziert wird**). Dieser Stimm-
gabelversuch bildet jetzt noch ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel bei Störungen
des Hömervenapparates.
Besondere Beachtung verdienen die physiologischen Versuche und
Beobachtungen derjenigen Autoren, die sich eingehend mit der Schall-
leitung durch die Kopfknochen befaßten.
Von dem Engländer Wheatstone erschien in dem „Quarterly
Journal of science** (1827, p. 67)***) eine kurze Abhandlung über einige
von ihm ausgeführte, die Physiologie des Hörens betreflFende, sehr inter-
essante Versuche, der wir folgendes entnehmen.
Verschließt man die Oeffnung des Gehörgangs mit dem Finger, so
wird die Perzeption der von außen kommenden Töne bedeutend ver-
mindert, während die eigene Stimme um vieles lauter gehört wird ^).
Besonderes Interesse jedoch verdient folgendes Phänomen, weil in
ihm die Idee des Web ersehen Versuches bereits klar ausgesprochen
erscheint, wenn auch Weber unstreitig das Verdienst gebührt, als erster
auf die Verwendung dieses Versuches zur Diagnose der Gehörerkran-
kungen hingewiesen zu haben: Wird der Stiel einer klingenden Stimm-
gabel an irgend einen Teil des Kopfes angesetzt, während die Ohr-
öflFnungen verschlossen sind, so wird die Perzeption des Stimmgabeltones
*) Acad. des sciences 1846.
**) Im Courrier frangais 7. mai 1845. Vergl. Frorieps Notiver
♦♦*) Fror iep 8 Notizen Nr. 6 des XIX. Bds,, 1827.
414 E.H.Weber.
bedeutend verstärkt. Wird nur eine OhröflFhung mit dem Finger ver-
schlossen, so glaubt man den Ton vorzugsweise mit dem ver-
schlossenen Ohre zu hören*). Wheatstone erklärt diese Ver-
stärkung der Tonempfindung dadurch, daß die im äußeren Gehörgange
eingeschlossene Luft ihre Schwingungen lange fortsetze. Endlich er-
wähnt Wheatstone, daß man beim Vorwärtsbewegen der Ohrmuschel
die hohen Töne intensiver höre, während die Perzeption der tiefen Töne
hierbei unverändert bleibt.
*) If tho band be placed so as to cover tbe aar, or if tbe entrance of the meatm
auditorius be closed by the finger without pressure, the perception of eztemal soundi
will be considerably diminished, but the sounds of the voice produeed intemaUj
will be greatly augmented. — ') Placing the eonducting stein of a sounding tuning-
fork on any part of the head, when the ears are closed as above deacribed, a
simular augmentation of sound will always be observed. When one ear remains
open, the sound will always be referred to the closed ear.
Im selben Jahre, wie die Abhandlung Wheatstones, erschien ein Aafsatx
Tourtuals""), der zu demselben Resultate gelangt. Tourtual benutzte za seinen
Versuchen anstatt der Stimmgabel die Taschenuhr. Er äußert sich hierüber folgen-
dermaßen: ,Man lege eine Taschenuhr in die Mundhöhle, so daß sie mit beiden
Zahnreihen in Berührung tritt, bemerke sich nun die Stärke des hörbaren Scfalagei
und bringe alsdann beide Zeigefinger in die äußeren Gehörg&nge, so wird der Schlag
der Uhr viel lauter gehört. Zieht man jetzt beide Zeigefinger zurück und führt bloß
den einen in das rechte Ohr, so scheint der Schlag der Uhr sich allmählich zu diesem
Ohre hinzuziehen, und dies umsomehr, je tiefer der Finger in den äuBeren Gehör-
gang eindringt, so daß nun der Schall mehr in der Richtung rechtsber vernommen
wird. Der umgekehrte Fall tritt bei Verstopfung des linken (jehörgangs ein.*
(Zitiert nach v. Steins Literatur der Anatomie und Physiologie d. Obres. Moskau
1^90. p. 23.)
Ernst Heinrich Weber, am 24. Juni 1705 zu Wittenberg geboren,
1815 daselbst zum Doktor promoviert, habilitierte sich 1817 zu Leipzig,
wo er 1818 die außerordentliche Professur für vergleichende Anatomie,
18-1 die ordentliche Professur der Anatomie und Physiologie erhielt.
Im Jahre 186G verzichtete er auf die Professur der Physiologie, im
Jahre 1871 auch auf die der Anatomie und starb am 26. Juni 1878.
Aus seinen zahlreiehen anatomischen und physiologischen Abhand-
lungen kommen für unser Fach in Betracht: die grundlegende Arbeit
..Wellenlehre auf Experimente gegründet oder über die Wellen tropf-
barer Flüssigkeiten mit Anwendung auf die Schall- und Luftwellen"
(Leipzig 182r>) im Verein mit Ed. Weber. Ferner -Annotationes ana-
toniicae et physiologicae: programmata collecta" **), und die Abhandlung
■) Die Sinne des Mensch'-n ii. «1. Wechsels. Beziehungen ihres phys. u. orizan.
Lel'ens etc. Münst».T 1S*J7.
> Frol. IV. 1S20 nntl De pulsu, resorptione. aiiditu et tactu. Lipsiae 1834. p. '2o.
Tafel
xxvt ^^J
ERNST HEINRICH WEBER
l
K.H. Weber. 415
• De utilitate Cochleae in organo auditus**. Seine Anatomie des Gehör-
organs in dem Hildebrandschen Handbuch der Anatomie des Menschen,
1832, kann noch jetzt mit Nutzen gelesen werden.
In dem Schriftchen ,De utilitate Cochleae in organo auditus" gerät E. H. Weber
bezüglich der Funktion der Schnecke sowohl mit den älteren als auch mit den modernen
Anschauungen in Widerspruch. Er bestritt die Ansicht Autenrieths und Kerners.
die die Schnecke als Organ zur Perzeption der Klangfarbe bezeichneten (S. 401).
und ebenso die Anschauung Valsalvas (S. 288), der die Perzeptionsfähigkeit der
einzelnen Windungen der Schnecke für verschiedene Töne abgrenzt, und kommt
zu dem irrigen Schlüsse, daß die durch den äußeren Gehörgang durch die Luft
zugeleiteten Schallwellen von den membranösen Gebilden des Vorhofs und der
Bogengänge perzipiert werden, während die Schnecke vorzugsweise der Perzeption
der dem Ohre durch die Kopfknochen zugeleiteten Schallwellen diene.
Studebo igitur probare, sonos per ossa capitis ad auditum propagatos potis-
simiim Cochleae ope audiri, sonos autem per meatum auditorium extemum ad auditum
perductos a vestibulo membranaceo et a canalibus semicircularibus membranaceis
vestibulo adiunctis facilius quam a Cochlea percipi. 1. c. p. 9.
Was den in der Otiatrie eingebürgerten .Weber sehen Versuch* anlangt, so
stimmen die von Weber angestellten Untersuchungen mit denen Wheatstones
überein, doch muß als bestimmt angenommen werden, daß die Arbeit des letzteren
Weber unbekannt war. Webers Angaben über diesen Versuch lassen sich im
folgenden zusammenfassen.
Verschließt man beide Ohren fest mit den Händen, so wird die eigene Stimme
stärker gehöi-t als bei offenen Ohren. Wird bloß ein Ohr verschlossen, so hört man
die eigene Stimme auf diesem Ohre viel stärker als auf dem offenen. Dasselbe
Resultat erhält man, wenn man eine schwingende Stimmgabel auf den Scheitel auf-
setzt, wobei der Ton ausschließlich in dem Ohr perzipiert wird, dessen äußere Ohr-
öffnung mit dem Finger verschlossen wird.
Si vero alterutram aurem manu firmiter occludimus, vocemque emittimus,
certissime, sentimus vocem ab aure occlusa multo melius et fortius audiri quam ab
aure aperta.
Si stylum furcae musicae oscillantis, sonum non nimis acutum edentis, ad
dentes apprimimus et os quantum id fieri potest, labiis et lingua occludimus, aures-
que simul vel manibus ad aures appressis, vel digito in meatum auditorium immisso
claudimus, furcae sono vehementius percellimur quam auribus apertis. Si altera
auris clausa, altera aperta est, sonum in aure clausa fortiorem quam in aure aperta
audimus. Idem tum adeo observamus, si deztram aurem claudimus et stylum furcae
musicae oscillantis ad cutim tempora sinistra tegentem apprimimus; sie enim, etsi
furca musica oscillans auriculae sinistrae et meatui auditorio proxima, ab aure
dextra vero valde remota est, tamen effectum multo vehementiorem hac aure, quam
in aure sinistra habet, et vice versa. Apparet vero sonum in hoc experimento neque
per meatum auditorium, neque per tubam Eustachii, sed tantum per ossa capitis ad
labyrinthum perferri, et tum vehementius audiri, si meatus auditorius aurium clausus
est Hie effectus vehementior in clausas aures admirationem quidem movet, quia
facile crederes, fore ut vis soni per ossa capitis recepti augeatur, si idem sonus
simul per meatum auditorium aditum habet» at tarnen non plane repugnat, suspicari
enim licet meatu auditorio clause aut mutfttioiMnn &iimiuii auris fieri, qua labyrinthus
aptior reddetur ad sonos per osn on mendos» aut duos sonos
diversa via, per ossa Granu wnlicei %d labyrinthum per-
416 Polansky
venientes se invicem tollere. Quod illam explicationem attinet soni via v. c. per
rcsonantiam, forsitan ab aäre in tympano et in meatu auditorio contento profectam,
augeri fortasse potest, si auris clausa est.
Weber meint also, durch Verschluß des äußeren Gehörgangs gebe eine Ver-
änderung des Ohres in der Weise vor sich, daß das Labyrinth zur Wahrnehmung
der durch Knochenleitung fortgepflanzten Töne geeigneter wird, oder daß vielleicht
zwei Töne, die auf verschiedenen Wegen (Knochen- und Luftleitung) zum Labyrinth
gelangen, sich gegenseitig schwächen. Er gibt aber auch zu, daß der Stünmgabelton
durch die Resonanz im Gehörgange und der Trommelhöhle verstärkt wird.
Weber war ein Gegner der Hypothese von den ächneckensaiten, da er diese
in der Lamina spiralis nicht auffinden konnte. £r hielt die Spinüplatte vielmehr
für (un kompaktes Gebilde und verglich sie mit dem Resonanzboden eines Klavi-
chords, der ohne jede Formveränderung bei allen Tönen in Schwingungen gei^t
und dadurch die Tone verstärkt.
Die Beobachtung, daß manche Schwerhörige eine auf den Schädel
aufgesetzte Stimmgabel auf dem schwerhörigen Ohr stärker perzipieren
als auf dem normalen, erweckte in Weber die Ueberzeugung, die Stimm-
gabel werde in Zukunft zur Diagnose gewisser HöraflFektionen angewendet
werden. Zu diagnostischen Zwecken finden wir diesen Versuch bereits
bei Bonnafont*) und Schmalz**).
Der Wiener Arzt Polansky***) bediente sich in allen Fällen von hoch-
gradiger Schwerhörigkeit der Taschenuhr als .Akuonieter*, die er auf den Waneo?
fortsatz, die Stime oder Zähne des Patienten auflegte, um den Grad der Empfind-
lichkeit des Hörnerven für ^Kopfknochenschallwellen* zu bestimmen. Bei leidit-
gradiger Hörstörung verwendete er einen Stab, an dem eine verschiebbai*e Taschen-
uhr angebracht war und an dem eine Marke die Entfernung bezeichnete , von der
ein Normalhörender die Uhr perzipieren konnte, wenn er bei verstoi>ften GehÖr-
gängen das eine Knde des Stabes mit den Zähnen gefaßt hatte.
Die gefundene Entfernung diente ihm als Maßstab der verminderten Hör-
lahigkeit für ^Kopfknochenschallwellen". Er verglich auch den Grad der Empfind-
lichkeit gegen „Kopfknochenschallwellen*' mit dem gegen .Luftschallwellen*, ob beide
relativ vermindert wären oder ob nicht der eine weiter vom normalen Zustande ab-
stelle als der andere. In diesen Aui^führungen Polnnskys ist somit die Idee des
sogenannten Rinn eschen Versuches enthalten.
Hier wären noch einige auf die Kopfknochenleitung bezügliche, interessante
Iicobaclitungen zu erwähnen. Perier-j-) ]>eol)achtete an Patienten, deren Schädel
trepaniert worden war. da(^ sie bei hermetisch verschlossenen Ohren vermittels der
Trepanationsnarbe das Gi^sprochene verstehen konnten. Waren die Obren ve^
schlössen und wurde die Trepanationsnarlie mit der Hand bedeckt, so hörten die
Kranken niclit.
■ ) Kiiiplui du »liai)ason dan^ le traitemont des Afiections de Torgane de Toule.
Coiiipt. rcnd. d. l'Acad. d. Sfienees 1845, T. XX.
•) Krf. üb. d. Kraiikh. d. (lebörs u. ihre Heilung, 1^40, u. Ueber Benützung
d. hftinnngabel z. Interscheid. »1. nervösen Srhwerhörigktiit von einer durch Verstopfung
herrührenden. lUntv. ?.. Gehör- u. S]jra(bhcilk. Leipzig 1848, III, p. 32.
) <irundril) zu einer Lehre von den Ohrenkrankheiten. Wien 184*2.
VI Kef. in Frori»'j.< Notizen, Jahrg. 1S84.
Iiitentur:
417
&n*) bcBcbreibt eines Fkll tod beiderseitigei' angeborener MJBbil düng der
Ohi'musche! und Atresle beider GehQrgänge bei einer 36jährigun Pationtin. Das KUdcben
fing eist mit 8 Jaliren zu sprechen an und sprach mit 12 Jahren gut. Hörweite für
Konversati onsspraclie 6—7 Fuß. Uhr durch Knochenleitung gebort. Die Annahme
ans, daß in diesem Folie das HDren durch den N. facialis vermittelt wurde, ist
i irrige, da hier offenbar bei intaktem Mittelobr und Labyrinth der Scball durch
die Kopfknochen, zum Teil auch durch die Ohrtrompete Kum Perzeptionsorgaa gelangte.
Bellingeri. Phyhiologische Betiexionen fiber die Struktur und Lage der
Gehör- und Gesichtsorgane. In den Denkschr, d. Akad. d, WisHenseh, in Turin I83!l.
— Biet. Pr^cig eltroentaire de ph3-6ique esperi mentale. Paris 1824. T. I. — Le
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ä mesurer les vihrations de l'air qui eonatituent le eou. Aon. de Chim, et de Pb;s.
1819, T. Xn. — Chladni. Die Akustik. Leipzig 1802. — Derselbe, Ueber Töne
bloß durch schnell aufeinander folgende StÖQe. ohne einen klingenden E9rper.
Poggpndorfs Ann. d. Phjs. u. Chem. 1826. Bd. Vlll. — Deraelhe. Neue Beiträge
zur Akustik. Leipzig 1817. — Derselbe, Bemerkungen über die Töne einer Pfeife
in verschiedenen Gaaarten. Voigts Magazin I79S, Bd. 1. — Derselbe, üeber
LoRgitudinal Schwingungen der Saiten und Stäbe. Nebst beigefügten Bemerkungen
Aber die Fortleitung des Schalles durch feste Körper Voigt» Magazin f. den neuen.
Zuit. der Naturk. Jena 1797. Bd. I — Derselbe. Remarques concernant le Memoire
de M. Savart sur la Communication des monvements vibratoires entre les corpa
solides, imprimi^ dans les Ann. d. Ch. et d. Ph. 1820, T. IV. Annal. de Chim. et da
Physique 1822, T. XX. — Derselbe. B^oltata des esperiences faites, par ordre du
Bureau des Longitudes. pour la detcrmination de la ritesse du son dans l'atmosph^re.
Ann. de Cbim. et de Pbysique 1822. T, XX. — Cordier. Sur la posaibilit.; d'imprimer
ä volonte des monvements aux oreiljee. Joum. grneral d. mM., de chir et de pharm.
1823, T. 63. — Edm. Dann, Commentatio de paracusi aive de auditus halluciDa-
tionibua. Berol. 1830. — Despretz, Observationa sur la limite des aons graves et
aiguB. Comptes rendus hebdomadairea 1845, T. XX. — Fahre d'Olivet, Notions
sur les sens de l'üuie en ginäral et en porticulier sur le d^veloppement de ce sens,
operä chez Rodolphe Grivel et ches plusieurs autres enfans sourda.mueta de naisaance.
ir. Ed. Montpellier 1819. — Flacher, Ueber die Petzeption der Töne mitteis des
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anat. pbjsioL de auditu hominis. Mosqu. 1625. ^ äough, On the metbod of jud-
ging by the ear of the position of aonorous bodies. Manchester Mem. New. Seriea,
1839, Vol. V. — J. H. Haaaenfratz, Bemerkungen über die wahre Ursache der
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*) Med. ehir. Tran«adions, VoL
liiKer, Oesolilchte inr ObrcKhei
ßd.7.
418 Literatar.
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8 and, Ueber die Sinnesempfindungen. Ein Versuch in d. vergl. Physiol. d. Sinneaorg.
Crefeld 1831. — Derselbe, Ueber eine subjektive Gehörsempfindung etc, Froriepi
Notizen, Jahrg. 1840. — J. G. Steinbach, Beitrag z. Physiologie der Sinne. Nürn-
berg 1811. — Steinheim, Epigenese der Sinnesorgane. In Heckers Litenr.
Aunalen d. ges. Heilk. 1832. — James Syms, An inquiry into the mechanical
functions of the ear. Edinburgh, med. and surg. Joum. 1841, T. LV; ref. Froriepi
Notizen, Jahrg. 1841. — Rob. B. Todd, Hearing (Physiology). Ibid. London 1889.
— T roxi er, Ueber die Sinne und die Elemente der Sensationen, besonders der zwei
höchsten. In seinen Vers, aus d. organ. Physik. Jena 1804. — Türk, Von der Ein-
wirkung des N. trigem. auf d. Akust. Oesterr. Wochenschr. 1843, Nr. 44. — Vi dal
De la Physiologie de Torgane de TouYe. Paris 1837. — Vidron, Ueber das Hören
durch die Zähne. Bullet, de la societe x^hilomatique 1800, Nr. 41; Gilberts Ann.
d. Physik 1801, Bd. IX. — G. U. A. Vieth, Eine kleine akustische Entdeckung.
Gilberts Annalen d. Physik 1804, Bd. XVII. — Derselbe, Ueber Kombinationstöne
in Beziehung auf einige Streitschrift, etc. Gilberts Ann. d. Phys. 1805, Bd. XXL —
Volquarts, Membranae tympani exploratio anatomico-physiologica. Kiel 1839. —
Wagner, Icones physiologicae. Lips. Physiologie. Leipzig 1839. — J. A. Walther,
Darlegung und Bedeutung der Augenlider und die Funktion des Gehörorgans etf
Leipzig 1813. — \V. Weber, Akustik. Stuttgart 1835. — Ed. Weber, Ueber den
Zweck der Fenestra rot. Amtl. Ber. üb. d. Verh. deutsch. Naturf. u. Aerzte in Braan-
.schweig 1841, p. 83. — A. H. L. Westrum b, Ueber die Bedeutung der Eustachi-
schen Trompete. Meckels Arch. f. Aniit. u. Phys. 1828. — Thomas Young.
Untersuchungen über Schall und Licht. Bearbeitet von Vieth f. Gilberts Annalen
d. Physik 1806. Bd. XXII.
üebersicht der pathologisch-anatomischen Befunde
im Gehörorgane in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die pathologische Anatomie, die sich erst gegen Ende dieser
Periode als selbständige Disziplin entwickelt, läßt eine zusammenfassende
Bearbeitung der ])athologischen Anatomie des Gehörorgans vollständig
vermissen.
Selbst die grundlegenden Werke (.'ruveilhiers und Rokitanskys
enthalten nichts Bemerkenswertes über das Gehörorgan. Wir können
daher nur über eine Anzahl pathologisch-anatomischer Einzelbefunde be-
I
Pathologische Aoatomie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 4ld
richten, die sich in der Literatur dieses Zeitraumes zerstreut finden. Am
zahlreichsten sind auch hier wieder Mitteilungen über Bildungsano-
malien des äußeren Ohres.
So beschreibt PuskaP) den vollständigen Mangel der Ohrmuschel und des
Processus mastoideus bei einem neugeborenen Kinde, Löffler (s. S. 316) eine Spalt-
bildung in der Ohrmuschel (Coloboma anriculae); Heusinger ^) einen Fall mit voll-
ständig fehlendem äußeren Ohr und mannigfach mißbildeten Schläfebeinen bei einem
nach der Geburt verstorbenen Mädchen. Steinmetz '^) sah einen Fall von gänz-
lichem Mangel des äußeren Ohres bei einem 18 Monate alten Knaben, Wiedcmeyer *)
ein Rudiment eines äußeren Ohres und Gehörgangs bei einem 18jährigen Jüngling.
Cooper^) berichtet von einem Kinde, bei dem beiderseits keine Spur eines äußeren
Ohres vorhanden war. Mussey') beobachtete einen 27jährigen Mann mit kongeni-
taler Mißbildung beider Ohrmuscheln und vollkommenem Mangel der äußeren Gehör-
gänge. Die Sondierung der Tuba Eustachii mißlang. Trotz dieser Mißbildung soll
das Gehör angeblich durch Vermittlung der Kopfknochen erhalten gewesen sein.
Ueber Defekte der Ohrmuschel oder des Gehörgangs mit erhaltenem Gehör berichten
femer: HohP), Vannoni«), Lincke«), Cooper»«), Walther»»), Jäger»»).
Distopie der Ohrmuschel beschreiben Dzondi »*) und Meckel"). Bram-
ley»*) erwähnt eine eigentümliche, nur in Nepal vorkommende Geschwulst des Ohr-
läppchens (Atherom).
Das ganze Gehörorgan betreffende Mißbildungen schildert ausführlich Carl
Langer»*). Seine Untersuchungen betreffen die Synotie bei Doppelmißbildungen
und die Verdoppelung der Schläfenbeine bei einköpfigen Doppel mißgeburten.
Andere Mitteilungen über Verschmelzung der Gehörorgane doppelköpfiger
Mißgeburten bringen Heyland »^, Zschokke"). Schilderungen über hochgradige
Verbildung der Gehörorgane bei Monstren finden sich bei Hesselbach»*'), Tiede-
mann**») und Hyrtl (8. 392).
Ueber pathologisch-anatomische Veränderungen des Trommelfells Liegen
nur spärliche Mitteilungen vor. Rosental ^') fand bei der Sektion eines Taubstummen
das Trommelfell getrübt und verdickt. Den von Elsässer*-) mitgeteilten Fall
von kongenitalem Defekt beider Trommelfelle deutet Schwartze'*') als einen durch
Krankheit verursachten Verlust des Trommelfells. Pseudomembranen im äußeren
Gehörgange beobachteten Köhler^'), Saunders'*), Stevenson-*), Maunoir*'),
Baillie*'). Bernard'') sah einen Fall von Pseudogehörgang , der hinter dem
natürlichen Gehörgang in der Gegend des Warzenfortsatzes lag.
Die Beobachtungen über pathologische Anatomie des Mittelohrs beschränken
sich im wesentlichen auf zuföllige bei den Sektionen erhobene Befunde. Zu den
häufigeren zählt die Ankylose der Gehörknöchelchen. Huschke^*') schildert die
Verwachsung des Hammerkopf es mit dem Trommelhöhlendach. Ankylose des
Steigbügels im Vorhofsfenster wird von Bonnafont'®) in der Einleitung
zu seinem Werke erwähnt. Zwei ähnliche I^lle bei Taubstummen beobachtete
Huschke"), einen weiteren HyrtP*). Erwähnenswert sind auch die Beobachtungen
Ottos") und Hyrtls'*) Über die Verschmelzung der Gehörknöchelchen bei der
Synotie der Doppelmißbildungen. Mangel aller oder einzelner Gehörknöchelchen
finden sich Öfter verzeichnet; Mangel füler Gehörknöchelchen bei Otto (a. a. 0.),
Fehlen des Stapes bei Deleau''), des Oa lenticalaro bei Boohdalek*<<) (a. a. 0.)
und Hyrtl. Ueber den Verlust aller Geh'"' ' T^aries berichten
*) Patbolog. Anatomie des Okt
420 Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten ELälfte des 19. Jahrhunderts.
Wolf") und Vlodorp"). über den des Amboßes allein Blosl'eld«»). Fehlen
aller Binnenmuskeln des Ohres fand Hesselbach. Fehlen des M. stapedius
in zwei Fällen und des Tensor tjmpani in einem Falle Hyrtl (a. a. O.)«
Nicht selten wurde Verengerung oder gänzlicher Verschluß des runden Fensten
beobachtet, so von Vieussens*®), Nuhn**), Schallgruber**), Ribes^*),
II u s c h k e ^ ^), C 0 c k ^^), M e n i e r e ^^). Hierher ist vielleicht auch der von Fleisch-
mann^^) beschriebene Fall von Osteosklerose des Schläfebeins bei einem Taub-
stummen zu rechnen.
Die Kenntnis der Karies und Nekrose des Felsenbeins wurde sdt
Petit (S. 322) nicht wesentlich gefördert Schmalz^*) fand bei zwei Präparateii
mit Karies „eine außerordentliche Dichtheit des Warzenfortsatzes'. Hamernjk*)
beobachtete intra vitam Fälle von Fazialisparalyse oder Parese im Verlaufe von Tuber-
kulose, bei denen sich post mortem der Fazialkanal in größerer oder geringerer
Ausdehnung durch Karies zerstört fand.
Die am Warzenfortsatze beschriebenen Veränderungen sind entweder
kariöser Natur (s. o.) oder es handelt sich um den sklerotischen Warzenfortsati.
der nach unserer jetzigen Kenntnis häufig als anatomische Varietät vorkommt
M e c k e 1 ^') beschreibt einen vom Schläfebein vollständig getrennten Warzenfortsais.
offenbar entstanden durch Ausbleiben der Verschmelzung mit den anderen Ossifika-
tionszentren des Schläfebeins.
Spärlich sind die Berichte über pathologisch-anatomische Vei^nderungen des
Tubenknorpels. Otto^®) beschreibt einen Fall von totaler Verwachsung der
Pharyngeal mündung der Tube ohne weitere Begründung. Die häufigste Ursache der
Tubenerkrankung will er in der Verstopfung derselben mit Schleim und in der An-
sammlung einer dicklichen, klaren, gallertartigen Masse in der Paukenhohle und im
Labyrinth gefunden haben ^'). Lincke^^) zitiert einen von Lusardi beschriebenen
Fall, betreifend eine große, die Tubenmündung verschließende Exostose der Nasen-
scheidewand. Ferner wurden bei alten Leuten Verkalkungen'^) und Verknöefae-
ruugen^*) des Tubenknorpels gefunden.
Die pathologische Anatomie des Labyrinthes, deren weitere Ausgestaltung
erst in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt, umfaßte hauptsächlich eine Reihe
makroskopischer Befunde, welche meist an den Leichen Taubstummer erhobea
wurden, lieferte doch das Gehörorgan Taubstummer das hauptsächlichste Material
für die pathologisch-anatomische Untersuchung bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts.
In dem von Meniere (s. o.) mitgeteilten Falle von Taubstummheit bestand
neben Verschluß dos runden Fensters eine hochgradige Mißbildung der Schnecke, in
der die Lamina sjaraiis nur IV« Windungen machte. Er fand ferner in zwei Fällen
da^ Vestibulum, in dem die Labyrinthflüssigkeit fehlte, auf die Hälfte seiner normalen
triöße reduziert: in einem anderen Falle den oberen Bogengang obliteriert, bei einem
weiteren den Acusticus atrophisch.
Mürer^^i beschreibt das Gehörorgan eines 11jährigen Knaben, der infolge
einer tieherhaften puiiilenten Otitis im zweiten Lebensjahre das Gehör verlor. Die
^^ektion er^ab : Die balbzirkelförmigen Kanäle fehlten, nur ihre Mündungen waren
vorhaiid»."ii. Die Stelle der Hogeiigänge wurde durch pneumatische Zellen einge-
nommen. Mürer *rlaiibt , dal) es sich hier um kongenitale Veränderungen und
durch sie verursachte TauU^tummheit handle. Pia tner*'"j, der diesen Fall ebenfalU
erwähnt, glaubt, daii die pathologi.schen Veränderun^'en durch eine vorhergegangene
Lal'vriiitheiterung i)odingt gewest^n seien. Thur n a la '^^'l fand bei der Sektion des
') Zvitschr. (1. Gesellftch. d. Aerzte zu Wien. I. Jahrg., C. Heft, 1S41.
Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 421
Gehörorgans eines Taubstummen den horizontalen Bogengang an einer Stelle unter-
brochen und im Vorhofe eine kleine kalkartige Inkrustation. Eine genauere Unter-
suchung des Gehörorgans eines taubstummen Mädchens lieferte Dr. Mansfeld^').
Das Trommelfell verlief nahezu horizontal und war mit einer dicken geröteten
Schleimhaut bedeckt. Der Steigbügel war mißbildet, seine Platte mit dem Rande
der Fenestra vestibuli verwachsen. Die Tube war verengt, der SteigbQgelmuskel
von sehniger Beschaffenheit, der Tensor tympani war nicht vorhanden. Die beiden
Säckchen mit den häutigen Bogengängen fehlten vollständig. Die Scala tympani
öfifhete sich in den Vorhof.
Defekte der Bogengänge werden häufig beschrieben, so von Cock (1. c.)
zwei Fälle von partiellem Defekt zweier Bogengänge. Aehnliche Befunde bei Taub-
stummen liefern Schallgruber'^) und Bochdalek (1. c). In Bochdaleks Falle
fehlten rechts alle drei Bogengänge ; ihre Mündungen waren durch seichte Grübchen
angedeutet. Links waren die Schenkel des oberen und hinteren Bogengangs nicht
zum Grus commune vereinigt, sondern endigten blind als zwei enge Röhrchen.
Cock*) faßt das Ergebnis seiner Untersuchungen an den Gehörorganen der
im Asylum for Deaf and Dumb verstorbenen taubstummen Kinder folgendermaßen
zusammen : 1. Granulationen, welche die Trommelhöhle mehr oder minder vollkommen
ausfüllten, die Gehörknöchelchen einhüllten und in die Eustachische Trompete, die
Cellulae mastoideae und die Fenestra Cochleae hineinwncherten. 2. Mangel der
Fenestra Cochleae. 8. Partieller oder vollkommener Mangel der Spiralkanäle der
Cochlea. 4. Ungewöhnlicly Erweiterung des Aquaeductus vestibuli. 5. Mangel der
halbzirkelförmigen Kanäle. 6. Abnorme Festigkeit und Härte des Schläfebeins.
In einem anderen von Bochdaleks*^*) Fällen zeigte das Labyrinth außer
vollständigem Mangel der beiden Wasserleitungen keine Anomalie. Bochdalek
erwähnt noch besonders die Atrophie des Acusticus bei Taubstummen und will in
den meisten Fällen eine besondere Stärke des N. intermedius beobachtet haben. Auch
Römer***) und besonders Hyrtlf) brachten sehr genaue Sektionsbefunde Taub-
stummer, die sich im wesentlichen mit den angeführten Resultaten decken. Beson-
deres Interesse beanspruchen die Befunde über Labyrintheiterung.
Biechy und Batissier*^^) beschreiben eine klinisch beobachtete primäre
akute Labyrinthentzündung, die auch durch einen nicht klar geschilderten Sektions-
befund festgestellt worden sein soll.
Ueber Labyrintheiterung finden sich in der Literatur zwei nicht zu be-
zweifelnde Fälle beschrieben, der eine von Platner^^), den ich bereits in meiner
Arbeit „Labyrinthbefunde bei chronischen Mittelohreiterungen " (A. f. 0. Bd. LXV) zitiert
habe, der andere von Willemier**), der im Sektionsbericht kurz und eindeutig
sagt: „Meatus auditorius internus pus continet. Item canalis semicircularis et superior
et horizontalis sicuti pars Cochleae inferior pure impleta. Membrana fenestrae ovalis
deleta et membrana tympani perforata cernitur*.
Hier wäre auch ein von Grisolle*') beobachteter Fall zu erwähnen. Nach
3 Jahre dauernder Mittelohreiterung trat zugleich mit dem Sistieren der Eiterung,
Kopfschmerz, Gesichtslähmung ohne Beteiligung des Gaumensegels und vollständige
Taubheit des erkrankten Ohres ein. Patient erkrankte später an Variola und starb.
Bei der Sektion fand man einen Tuberkel (Cholesteatom?) im Felsenbein, der bis
*) Frorieps Notizen 1889, Nr. 230. Nr. 10 des XL Bds.
**) Schmalz, Beiträge zur Gehör- und Sprachheilkunde. F
**♦) Ibid. Heft III, p. 69—72.
t) Ibid. Heft III, p. 73 ff. (s. anch S. 891).
422 Pathologische Anatomie des Ohres in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
an die Dura mater reichte, in den Vorhof eingebrochen war und den Facialis frei-
gelegt hatte.
Einen Fall traumatischer Labyrintheiterung zitiert Williams*):
Kill junger Mann stieß sich eine Nadel ins Ohr, worauf eine Ohreiterung^ eintrat.
Am vierten Tage erfolgte unter zerebralen Symptomen der Tod. Bei der Sektion fand
man die Platte und einen Schenkel des Stapes im Vestibulum, und als Todesursache
Meningitis.
Von intrakraniellen Komplikationen ist der Himahszess des öfteren
erwähnt . doch wird er meistens immer noch als die Ursache der Ohreiterung an-
gesehen, so von Otto in vier Füllen, während der otitische Ursprung als selten gilt,
so von Otto (1. c.) in einem Falle.
Bricheteau^') fand bei der Sektion einer Frau, die 20 Jahre an einer link-
seitigen Ohreiterung gelitten hatte und unter Versiegen des Flusses an zerebralen Er.
Bcheinungen letal endete, neben einer diffusen Konvexitätsmening^tis der linken Hemi-
sphäre einen walnußgroßen Schläfelappenabszeß. Das Tegmen tympani, die Gebilde
der Trommelhöhle und des inneren Ohres waren durch Karies vollständig serstOrt.
Kinen ausführlichen Sektionsbericht Über einen Fall von otitischem Kleinhimabsseß
liefert Willemi er (1. c).
In einem Falle von Holst, bei dem der Tod durch eine diffuse eitrig Menin-
gitis erfolgte, ist die große Zerstörung im Schläfenbein und die Mitbeteilij^ung des
Acusticus bemerkenswert^*). Am Schläfebeine eines an Himabszeß und Meninfptis
verstorbenen Knaben konnte Will emi er eine beginnen^ Sequestration der ganzen
Pyramide kon.statieren •"'). Bichot*') teilt einen Fall von eitriger Otitis mit, in
deren Verlaufe Hirnsymptome auftraten, die am 30. Tage der Erkrankung zum
Tode führten. Ks dürfte sich aber hier um eine chronische Mittelohreiterung ge-
handelt haben, da Bichot das Vorhandensein von Polypen im Ohre erwähnt. Bei
der Sektion fand sich ein Hirnabszeß, ohne daß der Induktionsweg vom prim&ren
Eiterherde nachgewiesen werden konnte.
üeber zentral bedingte Hörstörungen und über deren anatomische Grundlagen
war man in dieser IVriode noch ganz im Dunklen. Das Bestreben, eine einheitliche
anatomische Ursache der Taubstumnihtiit zu finden, mochte wohl den Streit ver-
ursacht haben, ob das Fehlen bezw. die mangelhafte Ausbildung der von Soemmer*
rintr entdeckten, im vierten Hirnveutrikel entspringenden Striae acusticae die Ursache
der Taubstummheit sein könnten. Rudolfi®') führt gegen Ackermann**'), der
diese Genese der Taubstummheit verficht, einen Fall an, in dem er die Striae auf
der einen Seite viel wenij^er entwickelt fand als auf der linderen, trotzdem die Person
auf beiden Ohren taub war. Auch will vr an den Leichen Normalhörender häufiir
<lie JStriae sehr vers^chiedi'n entwickelt gefunden haben.
Die h i > t o 1 o «: i s c li e U n t e r s u e h u n «^ des Gehörorgans , der später in der
Otolü^'ie eine >o grolie llulle zufiel, fand nur wenig Bearbeiter. Pappenheim
fanJ bei Olireiteruiii^en nach Tyj»hus und Pneumonie entzündliche VerÄndenmgen
in der TromnielhöhlenschliMniliaut: ^Kntzündun^'Hkugeln kleinerer Art, viele blasse
Kutteln, viele Nueb'i von Kiterkörperclien". Papj)enheim war auch der erste, der
l*ulyi>en un<l Balt:Lreschwülste liist(.>lo^i>eh unteisuehte *'■).
'i Oesterr. iihmI. Wocheiischr. 1^31. 'JU. April, Nr. 18. — ") Specitnen malae
C'>iiri>nnationi> or^anornin auditus humani rarissiiiiuin et inemoratu dignissimum.
' I Nuovu Mi'ieurio <lelle >(.it'n/e. June IS'JIK — Ospcdale di Parma. S. Lancet
ISL'^-IS'J'.». p. l'jn. -- /ii.l,ri \V ill i.ims: .Tn*atise nn the ear^ London 1840. p. 127.
.1 l'i»* -].«'/.iell«' «n'welielehr«' de^ (ieliövorLrans. Üreylau 1840. }>. 145 ff.
Literatur. 423
Jena 1824. (Der zitierte Fall findet sich bei Lincke, Bd. I, p. 599 ausführlich be-
schrieben.) — ^) Gräfe u. Walthers Joum. d. Chirurgie u. Augenheilkunde. Bd. XIX.
— *) Gräfe u. Walthers Joum. d. Chirurgie u. Augenheilkunde. Bd. IX. —
^) Neuestes Handbuch der Chirurgie etc., Übers, von Froriep. Weimar 1820. —
*) Angeborener Mangel des Gehörgangs auf beiden Seiten ohne sehr beträchtliche
Venninderung des Gehörs. American Journal 1838. — ')Meckels Archiv 1828,
p. 180. — ') Di una sordita congenita g^arita dal professore G. Battista Mazzoni,
e di uu nuovo strumento per traforare la membrana del timpano. Memoria di
Pietro Vannoni. Firenze 1830, p. 4. — *) Das Gehörorgan, p. 614. — '°) Neuest.
Handb. d. Chirurgie etc. Aus d. Engl. Übers, u. durchges. v. Froriep. Weimar
i820, Bd. II, p. 156. — ^*) lieber die angeborenen Fetthautgeschwülste und andere
Bildungsfehler. Landshut 1814. — *') Ammons Zeitschr. f. Ophthalmologie, 1837,
Bd. V. — '") ,Aeskulap*'. Leipzig 1821, Bd. I. — ^*) Anatomisch-physiologische
Beobachtungen und Untersuchungen. Halle 1822. — **) Transact. of the med. and
physical. Society of Calcutta, Vol. VII. — *•) Zur Anatomie des Gehörorgans doppel-
leibiger Mißgeburten. Oesterr. med. Wochenschr. 1846, Nr. 21. — *') Monstri has-
siaci disquisitio medica. Giessae 1664. — **) De ianis. Dissert anat. physiol. Berol.
1^27. — *') Beschreibung der pathologischen Präparate, welche in der königl. ana-
tomischen Anstalt zu Würzburg aufbewahrt werdeu. Gießen 1824. — *°) Zeitschr.
f. Physiologie, Bd. I. — '*) Horns, Nasses u. Henkes Arch. f. med. Erfahrungen.
Jahrg. 1819. Juli u. Aug., p. 17. — -^) Hufeland. Joum. d. prakt. Heilkunde 1828,
St. 1, p. 123, Not. — *'*) M eckeis Handb. d. pathol. Anatomie. Leipzig 1812, Bd. 1.
— *-*) The anatomy of the human ear etc. London 1829, p. 49. — ^^) Die Ursachen,
Verhütung und Heilung der Taubheit. A. d. Engl. Hamm 1832. — '•) Himlys
Bibliothek f. Ophthalmologie 1816, Bd. I. — *') Beiträge zur praktischen Arznei-
wissenschaft und pathologischen Anatomie. A. d. Engl, von Lengfeld. Halber-
stadt 1829. — *®) Magendie, Joumal de physiologie exp^rim. 1824, Bd. IV. —
^^) Soemmerring, Lehre von den Eingeweiden und Sinnesorganen des menschlichen
Köi-pers, 1844, p. 908. — *°) Traite theoretique et pratique des maladies de Toreille,
18G0. — ^») 1. c. p. 909. — ") Oesterr. Jahrb. XI, p. 428. ~ ") Seltene Beobach-
tungen, I. Bd., X. u. XI. — '^) Oesterr. Jahrb. XI. — •*) Introduction k des recherches
pratiques sur les maladies de Toreille, qui occasionnent la surdite etc. Paris 1834,
I. Teil , p. 39. — ^•) Mücke, Vortrag über die wahrscheinliche Anzahl der Taub-
stummen in Böhmen, nebst der Angabe der Zeit und der Ursache des Eintritts der
Gehörlosigkeit bei 165 Kindern, und der anatomischen Untersuchung der Gehörwerk-
zeuge von vier verstorbenen Taubstummen. Prag 1836. — *^ Graefe u. Walthers
Joum. f. Chirurg, u. Augenheilk. 1826, Bd. VII, H. 2, p. 297. — ") Van der Hoeven,
Diss. pathol. de morbis aurium auditusque. Lugd. Batav. 1824, p. 50. — ^*) Schmidts
Jahrbücher 1840, Bd. VII, p. 30. — *°) Cruveilhier, Essai sur Tanat. pathol. Paris
.1816. — ^^) Commentat. de vitiis quae surdomutitati subesse solent. Heidelb. 1841.
— *-) Abhandlungen im Fache der Gerichtsarzneikunde. Grätz 1828. — **) Eevue
med. 1823. — **) L c. p. 911. — **) Medio. Chirurgie, transactions. VoL XIX,
p. 156—157. — *^) Gaz. med. 16. Juli 1842. — *') LeichenöflFhungen. Erlangen
1815. Zitiert bei Schwartze 1. c. — ^^) Pathologische Präparate des Gehörorgans,
angefertigt von Dr. Ambrogio Gherini, und vorhanden in dem Kabinette des
Zivilspitales in Mailand. In den Beiträgen zur Gehör- . und Sprachheilkunde von
Schmalz, Heft III. — ^*) Anatomisch- physiologische Beobachtungen und Unter-
suchungen. Halle 1822. — **) Pathologische Anatomie 1824. — '*) Seltene Beob-
achtungen zur Anatomie, Physiologie und Pathologie gehörig. Breslau 1816, Heft I.
Zit. bei Schwartze 1. c. — »«) Bd. II, p. 470. — ") H. Meyer im Arch. f. Physiol.
424 DiagnostJEche Hilfsmittel i
r ereten Hälfte des 19. Jafarhundertf.
1844. — »'I Schytz im Arch. f Physiol. 1844. H. Mejer 1. c. — ") Fro
Notizen 1825. — "') Froriepa Notizen li^-i. — '■') Monatsaehr. f. Med., Ang
kiinde u. Cbirarfipe von Aoimon 1839. Tergl. Frorieps Notizen 1840. — '
— °*) Revue deBepecial. etc. mei). chirurg. Juillet. Revue med. p. 567. Heidenrc
Caiinata.ttBJahreBberichtpi'ol84(i. Zit.bd Schvr.irtze I.e. — '°)De auribiw <
vis. Dias, inang. anatomico-pathologica et phyaiologica etc. Marburg 1838. — '
cimen anatomico-pathol. de otorrhoea. Trujecti 1S35. p. 29. — ") Presa« m
Terg). auch Frorieps Notizen 1837. — ") Schmidts Jahrb. 18S9. Bd- VI, p.
") ,NerTUD acuaticus inllamniHtuB. et canalia nervorum communis pure je
ceniitur. Oeais temporum divereae partet cavie perforatae sunt.' Froriepa N
Bd. XI, p. 138. — ") .Os petroram necroai ita affeetiim. iit libere moveri
parte tantura postica interna, vereua partem basilarem adhue int^gra.' Will
I. c. p. 24—26. — ") Frorieps Notizen 1826. Sr. 295. p. 127 (Nr. 9 d. XIV
— ") Grundriß der Phjaiologie. Berlin 1824, Bd. II. Abt. 11. p. 140. — ••) Kl
Annalen. Jena 1805, § 96.
Vebersicht der diagnostischen Hilfsmittel in der ersten E
des 19. Jahrhunderts.
Der erste Schritt zur Anbahnung der Diiignoalik der Obrerkrankungi
durch die Erfindung des Ohren^piegels getan, durch den die direkte Beaicli
des Trommelfella ermöglicht wurde. Wie erwUhnt. gehen die Veraucbe. ein
Spekulum zu konstruieren, auf Guy de Chauliac (S. 1.53) und Fabi
HildanuB zuiflck. Db.s zangenfSrmige Spekuhnn von Hildnnus wurde
von Conrad v. Solingen'). Perret^l, Neiiljiirp''(. Schmalz'), Weiß
Kramer modifiziert. Daa zanpenftlrmin^e Spekulum des letzteren hatte sii
li'ingsten behauptet. Komplizierter waren die Spekula von Hoffmann*), Liü
Robbi") und Spangenberg').
Neuburg hat daa Verdieuvt, dap ev«te un^'es)ialtene Spekulum anfirege'
liaben, wübrend gewöhnlich Ignaz Gniber"! aU der Erfinder deaselb
zeichnet wird.
Hand in Hand mit der Anwerulun"; des Spekulums Kingt-'o ü« Versuche,
zweckmiißii^'en Beleuc ii tun gsap parat zu ..'reinnen. Man hatte bereits die VI
keit dea Trommelfell befunden: fi)r die Diiignoae der Ohrerkrankungen erkannt ui
diiber bestrebt, sieb durch eine ^ilnetige Beleuchtung von den Launen des '\
unabhängig zu miichi'n. Per erste, dpr sieb ''ines primitiven künetlicben Bi
liinganpparati'H bediente, wiiv Fabriciu^ üb Aiiuapendente (S. X1.5). !
Versuche, die tieferen Partien des i-iehürganpes zu beleuchten, folgten Clela
Hoizini''}. Deleau"). liuchanan und Kiamer. li rauvogl'*). Ward
Jordiin'"). S.'hraiil?.''). Pn In iif^lf v ''I mit uiebv oder minder kompli
Appar.-,!..«.
Hoffmann") in iliirfr-teiiiiurt ff<biiiur .ia> V.'rdienst . die Beleucl
iiiitfHK eines zentral .1 u r i b b ■■ h it e ii IK.hlspiegeU in ,1 i e P
cing.'filbrt zu hüben.
Trotz, des Fi irtscli ritten in .Icr Teilmik der Vnlerni.hung des äußeren
L'angfi und des Trommelf.dl« wnrii.' Vi. tregen KI!^le dieser Periode der Bed
der Trommelfcllbefun'ie für ilie Dia^nioi-ti k nicht dW frebührfnde Ueaehtui
gewendvt. Deimo.b zeigt «ich aui'li bier -.li..n t:u Forti^diritt . indem Line
//
Diagnostische Hilfsmittel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundei*ts. 425
zwei Fällen von Totaldefekt des Trommelfells in der Lage war, das Stapesköpfchen
in der granulierenden Schleimbaut zu erkennen.
Die früher bei ungenügender Beleuchtung zu diagnostischen Zwecken an-
gewendete Sondierung des Trommelfells und der Trommelhöhle wurde von den
späteren Ohrenärzten als eine unzuverlässige und gefUhrlicbe Untersuchungsmetbode
verworfen. Erst die Einführung des Reflektors und Spekulums machte die Sonde
zu einem Instrument, das unter Leitung des Auges vollkommen ungefUhrlich, die
Diagnose in vielen Fällen wesentlich erleichtert.
Die Anwendung des Valsalva sehen Versuchs zur Feststellung der Weg-
samkeit der Ohrtrompete ergab nur bei Perforation des Trommelfells ein positives
Resultat. Bei intaktem Trommelfelle war sie wegen des Mangels einer Kontrolle durch
den Arzt resultatlos. Laennec, der Erfinder des Stethoskops, warder erste, der die
Auskultation des Ohrs als diagnostisches Mittel empfahl^®). Curtis^*) brachte ein
Otoskop (Cephaloskop) in Vorschlag, welches die ganze Ohrmuschel umfaßte; mit
diesem will er ein Rauschen der Luft in der Trommelhöhle deutlich vernommen
haben, wenn der Patient durch das entsprechende Nasenloch bei Verschluß des ent-
gegengesetzten kräftig atmete. Die Erfindung des jetzt gebräuchlichen Otoskops
von Toynbee fällt knapp vor die Wende dieser Periode. Deleaus' Versuch, auf
Grund der bei der Auskultation wahrgenommenen Geräusche ein diagnostisches System
aufzubauen, ist als mißlungen anzusehen.
Der Katheterismus der Ohrtrompete wurde nach mancher Richtung hin
modifiziert und verbessert.. Die silbernen Katheter wurden in Bezug auf Form
und Krümmung des Schnabels von Itard, Kramer, Gairal, Lincke, Kuh
(Doppelkatheter) , Möller u. a. vielfach verändert. Der elastische Katheter
Deleaus^') wurde später vollkommen aufgegeben. Gairal schlug als Hilfsmittel
zur Erleichterung des Kathet^rismus das Palatometer vor. das gleichfalls keinen
Eingang in die Praxis fand. Die zum Fixieren des Katheters in der Nase von Itard,
Kramer, Deleau, Möller, Bonnafont u. a. ersonnenen Klammem und
Stirnbinden, kamen nach dieser Periode außer Gebrauch.
Für die Diagnose der Tubenerkrankungen war ferner die Erfindung der
Sondierung und Bougierung der Ohrtrompete von Bedeutung. Letztere
scheint zuerst von Saissy und Deleau (1. c.) in die Praxis eingeführt worden zu
sein. Sie benützten vorzugsweise Darmsaiten, Lincke Sonden aus Silber, Fabrizi
Fischbeinsonden.
Zur Diagnose der Trommelfellperforation bediente man sich der
Auskultation beim Valsal vaschen Versuch und des Durchpressens von Tabakrauch
aus dem Ohre. Itard schlug vor, bei seitlicher Kopfstellung den äußeren Gehörgang
mit Wasser zu füllen und das Aufsteigen von Luftblasen beim Katheterismus zu beob-
achten. Die von Fabrizi (1. c.) propagierte künstliche Perforation des Trommelfells
zu diagnostischen Zwecken wurde von den zeitgenössischen Spezialisten kaum beachtet.
Zur Feststellung des Grades der Schwerhörigkeit bediente man sich
verschiedener Hörmesser. Die Methode Pfingstens'^), der die Buchstaben des
Alphabets je nach ihrer Lautstärke in drei Klassen einteilte und nach dem Ver-
stehen dieser Klassen verschiedene Grade von Schwerhörigkeit unterschied, wurde
bald durch die wiederholt modifizierten A k u o m e t e r verdrängt, die von Wolke ^'').
Itard (I.e.), Schmalz'^), Blanchet^') u. a. empfohlen wurden. Am häufigsten
wurde der einfachste Gehörmesser, die Taschenuhr, verwendet; daneben überzeugte
man sich auch durch das Vorsprechen von Sätzen von der Gehörschärfe des Patienten
(Lincke). M. Frank") wußte bereits, daß die Hörfähigkeit für die menschliche
Stimme in keinem bestimmten Verhältnisse zur Hörfähigkeit der Taschenuhr steht.
426 Prothesen.
') Wird von Lincke abgebildet Bd. II, Tab. I, Fig. 2. — ^) L'art du cou-
telier expert en instrumenta de Chirurgie. Premiere section. Paris 1772. P. II,
p. 340. — ') Mem. et observ. sur la Perforation de la membrane du tympan.
Bruzelles 1827, p. 35. — **) v. Walthers und Ammons Joum. 1844, Bd. 8, p. 48.
— *) Abgebildet bei Lincke Bd. II, T. I, Fig. 7a u. b. — •) Caspers Wochen-
schrift 1841, Nr. 1. — ') 1. c. p. 174. — ^) Abgeb. b. Lincke Bd. IF, T. I, Fig. 6.
— ^) Graefes u. Walthers Joum. Bd. 29, H. 2. — *®) Haas, Examen auris
aegrotantis. Vienn. 1841. — '*) Philos. Trans. Vol. XXI. P. II, London 1744, p. 848.
— *') Der Lichtleiter etc. Weimar 1807. — *') Description d'un instrument pour retablir
Touie dans plusieurs eas de surdite. Paris 1823. — '^) Griesingers med. Seefas-
wochenschrift 1848, H. 2 u. 3. — '*) Lond. and Edinb. monthly Joum. 1844. —
") Illuminative instrument. Med, Times and Gaz. 1845. — ") Beschreibg. eines sehr
einfach. Lichtleiters zur üntersuchg. d. Ohrs. In Oppenheims Zeitscbr. 1849. —
*') Grund r. z. einer Lehre v. d. Ohrenkrankh. Wien 1842. — ") C asp er s Wochen-
schrift 1841, Nr. 1. — '*) De Tauscultation mediate ou Traitä du diagnostic des
maladies des poumons et du coeur, fondt^ principalement sur ce nouvean mojen
d'exploration. Paris 1819. 2 Bde. — '*) The cephaloscope, and its use in the dis-
crimination of the normal and abnorm sounds in the organ of hearing. London
1842. — '^) Lond. med. Gaz. Febr. 1849. — ^*) Essai sur les maladies de Toreille
interne. 1827 — ^*) Gehörmesser zur Untersuchung der Gehörfähigkeit galvanisierter
Taubstummer, in besonderer Rücksicht auf die Erlernung der artikulierten Ton-
Sprache und auf deren Elemente gegründet. Kiel 1804. — **) Nachricht von den
zu Jever durch die Galvani-Voltaische Gehörgebekunst beglückten Taub-
stummen. Oldenburg 1802. — -•) Walthers und Ammons Journal 1844, Bd. 3.
H. 1. und Erfahrungen etc. — *^) La surdi-mutite. Traite phil. et m^d. Paris
1850. *') Ueber den gegenwärtigen Standpunkt der objektiven otiatrischen Dia-
gnostik. München 1849.
Das Bestreben, bei hochgradigeren Hörstörungen zur Verbesserung des GehÖn
Prothesen zu konstruieren, reicht bis in die älteste Zeit zurück. Ausführliches
hierüber findet sich bei Vidus Vi d ins'), Beck*) und Itard').
In Spanien waren schon lange unter der Bezeichnung „Sarbatana*^ me-
tallene Schallfänger in Gebrauch. Wie Nicius Eiythraeus mitteilt, benützte der
schwerhörige Dichter Laliius Nursinus ein silbernes Hörrohr, das ihm von Eustachio,
den er besungen hatte, geschenkt worden sein dürfte*).
Die mannigfaltige oft abenteuerliche (^estalt, die den Hörrohren gegeben
wurde, war nicht eben dazu angetan, ihre Wirkung zu erhöhen. Im Gegenteil haben
sich die einfachsten Hörrohre als die brauchbarsten erwiesen. Die Hörrohre von
Nuck (S. 225j. Rio hm (S. 279), Le Cat (S. 279) wurden bereits früher erwähnt.
Als das praktischste Hörrohr dieser Zeit kann das von Curtis*) angegebene be-
zeichnet werden, welches nach dem Prinzip des auf hoher See benützten Sprach-
rohrs konstruiert ist. Ebenso einfach ist das von Bernstein®) angegebene bieg-
same Hörrohr und der elastisch»» Sclilauch Dunkers '), den Kram er als
zweckmäßig empfiehlt.
Die komplizierten Ilörmaschinen von Du Qu et®), N oll et'). Amuel**).
Schill alz **j, Itard^'-) u. a. sind bald als unbrauchbar erkannt worden. Das von
Jorissen') empfohlene, von Itard modifizierte pyramidenförmige Sprachrohr sollte
durch Vermittlung d<'r Kopfknochon das (lehör verbessern. Als Einsatz bei Total-
Verlust der Ohrmuschel wurden künstliche Ohren aus Pappe, gepreßtem Leder
(?. Paii* S. 150). Silber oder aus Muscheln empfohlen.
stand des TaubstummenuDterrichts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 427
'> Opera, tom. 2. Francof. ad M. 1626. — ') Die Krankheiten des Gehörorgans.
Leipzig 1827. Abschn. IV. — ^) Itard a. a. 0. — *) Wenceslai Trnka de
Krzowitz, Historia cophoseos et Baryecoiae. Vindob. 1778, p. 207 f. — *) Abhand-
lungen über den gesunden und kranken Zustand des Ohrs. Leipzig 1819, p. 48,
84, mit Tafel — *) Bernsteins Kupfertafeln mit Erklärungen und Zusätzen zur
systematischen Darstellung des chirurgischen Verbandes. Jena 1802. — ^) Kramer
p. 868. — ^) Machines et Inventions approuväes par TAcademie d. sc. publ. par
Gallon. Paris 1735, Nr. 110—116, 2. Teil, S. 119—129. — •) Kunst physikalische
Versuche anzustellen. Leipzig 1771. 3 Bde., S. 46. Zitiert nach Beck, Die Krank-
heiten des Gehörorgans Heidelberg und Leipzig 1827, p. 70. — *°) Frank, Prak-
tische Anleitung zur Erkenntnis und Behandlung der Ohrkrankheiten. Erlangen 1845,
p. 198. - ") Frank 1. c. p. 194. — *-) Itard a. a. 0. — »») Dissertat. Halae 1757.
Stand des Taubstummenunterrichts bis zum Ende des
18. Jahrhunderts.
Bis zur Mitte des 1(3. Jahrhunderts liegen nur vereinzelte Versuche
vor, Taubstummen den Verkehr mit Normalhörenden zu ermöglichen.
Die Taubstummen wurden als lästige Parias betrachtet, für die man
eigene Rechte und Gesetze zu schaffen sich berechtigt glaubte. Diese
inhumane Auffassung wird einigermaßen erklärlich, wenn man bedenkt,
daß den Unglücklichen beim Mangel einer entsprechenden Lehrmethode
jede Möglichkeit benommen wurde, auch nur den geringsten Grad von
Bildung zu erlangen.
Erst der genialen Idee des spanischen Benediktinermönches Pedro
Ponce de Leon war es vorbehalten, die Taubstummen der menschlichen
Gesellschaft als nützliche Mitglieder zuzuführen.
PedroPonce deLeon, geboren 1520 zu Valladolid, lebte als Benediktiner-
mönch im Konvent San Salvador de Ona in der Provinz Burgos. In einer Aufzeich-
nung dieses Klosters findet sich das Jahr 1584 als sein Todesjahr angegeben.
Beseelt von edler Menschenliebe erland er eine Methode, die Taubstummen
durch Unterricht aus ihrem tiefen £lend zu erheben. Kr genoß bald einen solchen
Ruf, daß er unter seine Schüler auch Taubstumme von hoher Geburt zählte, so
Gaspar de Gurrea, den Sohn des Gouverneurs von Aragonien, und Pedro Tovar
Knriquez, den Bruder des Connetable von Kastilien.
Von den zahlreichen Zeugnissen, die uns über Ponce von seinen Zeitgenossen
vorliegen, wollen wir nur das seines Mitbruders im Stifte zu Ona, des Juan de
Castaniza anführen, der in seiner Vida de San Benito, Salamanca 1588» Über Ponce
sagt: Pedro Ponce, monje profeso de Sahagiin, por industria y sagacidad espe-
ciales, ensena ä hablar a los mudos; por verdadera filosofia demuestra la posibilidad
y razones que hay para ello, y asi lo dejanl bien probado en un libro que tiene
escrito; pero lo que mas admira es que, no pudiendo oir humanamente, los hace oir,
hablar y aprender la lengua latina, con otras, escribir, pintar y otras muchas cosas,
como es buen testigo D. Gaspar de Gurrea y otros varios discipulos *).
*) cit. Dr. D. Eloy Bejarano: La Espaiia y los sordo-mudos. Revista de Espe*
cialidades. del. Dr. Foms. VIII. Nr. 150.
42S stand <le8 Taubstummenunterrichts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
l>ir Mi'thode Fonces scheint, wie aus der Ueberlieferung seines Freunde^
Vallo^ius ersichtlich i<t. «1er spHter von Heini cke inaugurierten sehr nahe
gekommen 7.u >cin. Die bot reffende Stelle findet sich in dem Werke des Vallesiai,
.Do eis. i]uao scripta sunt physice in libris sücris, sive de sacra philosophia.* 3. editio
l.u^duni ll{«VJ und lautet: . . .
Petrus Pontius. Monachus Sancti Benedicti. amicus meus , qui (res mira-
biHs) natos surdos docebat loqui. non alia arte, quam docens primum scribere. res
ip«os dikTito indic.uido. quae characteribus illis significarentur « deinde ad motu
1iii>;uao qui oharacteribue responderent. provocando. Cap. III. p. 78.
Soino l'ntcrrichtsmethode bestand somit darin, daß er die Zöglinge zuerrt
^('hiribcu und losen lehrte . die einzelnen Wörter an die Tafel schrieb und ihnen
dii» ^Jo>:«*^^**^*^^^^' /eiirte. die durch die Wörter bezeichnet werden. Dann machte er
\\\\w\\ «Uo MundstolUing vor. die das Aussprechen der einzelnen Buchstaben bedingt,
und iohiio >io ^o lie<prochenes vom Munde ablesen und selbst artikulierend sprechen.
Uioi i^t also sohon der Kern der deutschen Methode enthalten, aber auch die
(VrtttsiVucho vordankt ihm die Erfindung ihres wichtigsten Hilfsmittels, des Hand-
.llph;»WtS,
Ton CO hatte das <.Tlück. in Spanien zahlreiche Schüler zu finden, welche das
idlo \V(*i-k ihres Meisters fortsetzten. Der hervon-agendste unter ihnen ist Juan
TA Mo lionnet. der unter dem Titel: .Reduccion de las letras, y arte para ensenat
.1 liaM.ir A los mudos.' Madrid 1ü20, das erste Werk über Taubstummenunterricht
x;o«^-huo)>on Imt. Bonnet, ein gebürtiger Aragonier. war Sekretär des Connetable
\ olaM-«^ In dessen Hause kam er mit Ponce zusammen, der die taubstummen
«;oM'h\vistor des Connetable unterrichtete. Die zwischen Bonnet und Ponce als-
l>i4Kl sii'h entwickelnde Freundschaft läßt Lincke vermuten, daß das Werk Bonnet«
iiu-hts anderes sei, als das von ihm herausgegebene Manuskript Ponces.
iih'ivhzoitig mit Bonnet versuchte sich Kmanuel Ramirez de Carrion
\\\\ 'r.uibstumiuenunterrichte. Er war Lehrer des taubstummen Marquis de Priegu
\\\\k\ srhoint allerdings, wie soin Biograph D'Abln inconrt berichtet, einigen
l'ifolg 4:tliabt zu hallen. Wir -ind jedodi geneigt, diesen Erfolg mehr dem un*
nullt üborlief'Ttfn Kern s».'in»'r Meth<.«ile zuzu^Llin-il^en. als dem Wust von Medika-
»ni'utoii und Prozeduren, durch dit- er ^t-int.* M^tliodf au^S(.-h muckte, vielleicht au?
Tuivlii vor Nachahmung: -ijcr vii.*lleicht . wie Scliu:alz meint, aus Furcht vor drr
lnq-ii."<iti«'n. um nicht liir einen Hi-xenmeister ^'ehalten zu werden.
Wühifud nun Jt-r Taubstummenunterricht in Spanien bis zu Bejrinn de«
li». Jahrhunderts im we-entliehen auf der Stufe der Kntwicklung stehen blieb, zu der
»hu IN« nee und Dum. et erhoben hatten, sehen wir ihn in Holland wesentliche
Tv'ri^i iiii'te niLi'hen. >;:•■ er vornei.miich dem in Walirmund bei Leyden lebenden
-ili\vei.eri>el:en Ai/.r«- Auii.ian zu \i.iiikcn h.itte.
.1 o h a i; n C «.- n r .; a A u. :.. .-. n. 1»»V9 in ^<.i:.^tl'ila^^en L'eboren. studieite in Base.
Mr.ii.-.ii: wvA urin.: .-j ,;:e:- n.i..:. iIol'..«nd. wo e:- >id: mit dem Taubst umnienunterri<.htr
l»eMl.attii.'*e. Seine Me!:..'d<. ':-ezei-.i.ne: «'eiTe:. äie Punee> insoferne einen Fort-
<.l;i:'.t. "'s '•:" '.t:.. IL.:. l.i'.il..i' et ein- •. ie. _-er innrere Kolle einräumte, ilagegei
i:ir'i"reii W. :■: au: i';!- Ki!- .i: .je C'.r I....;t-i.rin.:.e ie^'te. Um aber die Zög-linee ic
■vii ein?.'. !ner. L..ite:. ent sprechenden Mund Stellungen
• >i-.'. \\\\\.\ry.-\ ev J:nen «iie Mundstellung zeigte und
._'.-. a :: ^'-.i:' :. K- i.!k.-i.t lehren. Auf diese Weise gt-
:• ir.er. ".'i/ei-ci.iede in «len Vibrationen ^les Kehl-
*.. : :.*■ '7. J. :.ri- ;:idti't una'i-i^ängig von den übrisez
\1.1. -e:i v.r. '. 'S...'....':::: '.:-.
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Pereira. 429
Ländern der Gedanke des Taubstummenunterrichts auf. John Wallis (1616 — 1703),
Kaplan Königs Karl IL, ein hervorragender Gelehrter, Mathematiker. Sprachforscher
und Verfasser einer englischen Grammatik in lateinischer Sprache, widmete sich ein-
gehend dem Taubstummenunterrichte und teilt im Anhang zu dieser Grammatik, be-
titelt ,Tractatu3 Grammatico-physicus de Loquela* seine Methode mit*).
Nach dem Tode Wallis geriet in England der Taubstummenunterricht in
Vergessenheit. Erst ein Jahrhundert später finden wir wieder einige englische Ver-
treter der Disziplin. Von diesen sind zu nennen: William Holder, George
Sibscota, George Dalgarno, Henry Baker**), dann Thomas Braidwood,
ein Taubstummenlehrer, der anfänglich in Edinburgh später in Hackney in der Nähe
von London eine Taubstummenschule leitete, feiner sein Neffe Dr. Watson, der
Leiter des Deaf and Dumb Asylum in Bermondsey, der auch ein Werk unter dem
Titel „Instruction of the Deaf and Dumb", London 1809. schrieb.
Am spätesten entwickelte sich der Taubstummenunterricht in den beiden Län-
dern, in denen er seine höchste Entwicklung erreichen sollte, in Frankreich und
Deutschland.
In Frankreich tauchen erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts die ersten Ver-
suche des Taubstummenunteri'ichtes auf. Abbe de TEpee nennt M. E r n a u d , P e r-
reire und Madame de la Croix du Fauxbourg Saint Antoine als die ersten,
die sich mit dem Taubstummenunterrichte befaßten, allerdings ^sans avoir concert^
ensemble le plan de leurs Operations* ***). lieber Madame de la Croix wissen wir
nichts Näheres.
Ernaud beschäftigte sich um das Jahr 1756 in Bordeaux mit dem Taub-
stummenunterricht und scheint sich vorwiegend der Amm ansehen Methode bedient
zu haben. Um dieselbe Zeit lehrte auch P. Duchamp in Orleans Taubstumme
schreiben und sprechen.
Eine eingehendere Würdigung verdient Johanne^ Rodriguez Pereira, ein
portugiesischer Jude, der sich 1745 in la Rochelle mit dem Taubstummenunterrichte
befaßte. 1749 und 1751 stellte er wiederholt Zöglinge, die ausgezeichnete Fortschritte
auch im Sprechen gemacht hatten, der Akademie zu Paris vor, die ihm auch ihre
Anerkennung zollte. Diese Erfolge müssen jedoch mehr seinem Talente und seiner
unüberwindlichen Ausdauer, als seiner Methode zugeschrieben werden. Das beste
Zeugnis stellt ihm sein Gegner Abb^ de TEpee in zwei 1749 und 1751 der könig-
lichen Akademie der Wissenschaften zu Paris erstatteten Gutachten f) aus, welche
in der schmeichelhaftesten und anerkennendsten Weise von Pereira» Erfolgen
sprechen. Er sagt in dem Schlußworte des zweiten Gutachtens: ,Cela suffit con-
firmer le jugement que nous fimes de M. Perreire. dans notre rapport du mois
de Juillet 1749, et pour faire sentir que sa maniere d*instruire les Muets ne peut
^tre que trds-ing^niense; que son usage int^resse le bien public; et qu'on ne s^auroit
trop encourager celui qui s*en fert avec tant de succ^sff).
*) Lawrence Turnbull: On deaf-mutism and the method of educating
the deaf and dumb. (Transact. of the med. Soc. of the State of Pennsylvania.) Sep.-
Abdr. ohne Jahreszahl.
**) Vgl. Schmalz: üeber die Taubstummen und ihre Bildung etc. Dresden
und Leipzig 1888.
***) Abb6 de TEp^e: Institution des sourds et muets, par la voie des signes
mäthodiques. Paris 1776 bei Nyon.
t) 1. c. pag. 15 ff.
tt) 1. c. pag. 21.
430 Abbe de TEpee.
Das größte Verdienst um den Taubstummenunterricht erwarb sich jeiloch der
Abbe Charles Michel de TEpee. 1712 zu Versailles als der Sohn eines Archi-
tekten geboren, wandte er sich dem geistlichen Stande zu. Mitleid und religiöse
Gründe bewogen ihn, 1752 den Unterricht zweier taubstummer Schwestern zu über-
nehmen, die ihren Lehrer, den Pater Vanin, durch den Tod verloren hatten*).
Sein sehnlichster Wunsch , eine öffentliche Taubstummenanstalt zu gründen , wurde
allerdings von der Regierung nicht erfüllt, aber mit Aufopferung seines ganzen Ver-
mögens brachte er es doch so weit, eine große Anzahl taubstummer Kinder zu unter-
richten und viele tüchtige Schüler heranzubilden, die sein edles Werk fortsetzen
konnten.
In seinen Hauptwerken: ,La veritable mani^re d^instruire les sourds et
muets, conprimee par une longue ezperience", Paris 1784 und «Institution des
sourds et muets par la voie des signes methodiques*, Paris, 1776 legt er seine
Methode dar und verficht sie gegen Pereira. Von seiner Bescheidenheit zeugt
jene Stelle, in der er ausdrücklich das Verdienst ablehnt, eine neue Methode gleich
Wallis, Bonnet oder Amman gefunden zu haben: ne m*ayant point niis a
port^e de connaitre aucun de ce illustres Auteurs, je ne pensai pa,8 ni§uie k de-
sirer, et encore moins ä. entreprendre de faire parier mes deuz Eleves. X^a veritable
maniere etc. . . . pag. 8. Sein Verdienst besteht darin, den ausgedehnten Gebrauch
der Daktylologie eingeschränkt und das Hauptgewicht des Unterricht« auf die Aus-
bildung der natürlichen Zeichensprache gelegt zu haben. Die Daktylologie verwendet
er hauptsächlich im Beginne des Unterrichts zur Erlernung der Schrift^ Sobald die
Taubstummen Über den elementarsten Unterricht hinaus sind, wird die Daktylologie
nicht mehr verwendet, dagegen in ausgedehntestem Maße die Zeichensprache, um die
Taubstummen auf diese Weise nicht nur mit den Worten, sondern auch mit deren
Inhalt bekannt zu machen, ein Ziel, das jeder Unterricht anstrebt und das Heinicke
später in so vollkommener Weise erreichen sollte.
Der würdige Nachfolger des Abbe de TEpee war der Abbe Roche Am-
broise Sicard, geb. 1742 zu Fousseret bei Toulouse. Seine Lebenszeit fallt in
die große französische Revolution und die Jahre 1792 — 1799 waren deshalb für ihn
wie für so viele andere nur Schreckensjahre. Mehrere Male aus seinem Institut
vertrieben, nahm er mit einer Zähigkeit und einem Mute, wie sie nur der edle
Eifer für eine gute Sache verleihen kann, mit eigener Lebensgefahr seine Lehr-
tätigkeit immer wieder auf. Erst an seinem Lebensabend wurde ihm die verdiente
Anerkennung zu teil. Hoch betagt und mit Ehren überhäuft starb er im Jahre 1S22.
Der Taubstummenunterricht in Deutschland beschränkt sich bis zum Auf-
treten Heinickes auf die Versuche einzelner Männer, die meist dem geistlichen
Stande angehörten, taubstumme Verwandte oder Bekiumte zu unterrichten. Von
diesen Männern wäre zu nennen: Joachim Pascha, der Hofprediger des Kur-
fürsten Joachim II. von Brandenburg, von dem ei-zählt wird, daß er seine taub-
stumme Tochter durch Kupferstiche unterrichtete; ferner Jakob Wild, der sich
einer Sprachmaschine bediente und Georg Raphel, der seine eigenen drei taub-
stummen Kinder ^^prechen lehrte.
Erst mit Heinicke )>e^ännt in Deutschland die Periode des zielbewußten
systeniatiicheu Tiiubstummenunterrichts.
Samuel Heinicke wurde am 10. April 1729 als der Sohn eines Bauers irü
Dorfe Nautschitz an der Saale ireboren. Als ihn sein Vater zu einer Ehe zwingen
I Croyant donc que ces deux eni'ans vivroient et nourroient dans rignorance
de leiir reliLrion . . . 1. c. paL'. '^".
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Heinicke. 431
wollte , die seiner Neigung nicht entsprach , verließ er seine Eltern und wandte sich
nach Dresden, wo er, um sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, Unterricht erteilen
mußte. Der Zufall wollte es, daß unter seinen Schülern auch ein taubstummer
Knabe war, den er nach der Methode Ammans mit sehr g^tem Erfolg unterrichtete.
Später ging er nach Hamburg, wo er 1768—1778 in dem Elosterdorf Eppendorf
eine Lehrstelle bekleidete. Da unter seinen Zöglingen abermals taubstumme Kinder
waren, trat er wieder der Frage des Taubstummenunterrichts näher, die ihn von jetzt
ab bis zu seinem Lebensende beschäftigen sollte. Er gründete 1778 in Leipzig die
erste Taubstummenanstalt und leitete diese bis zu seinem Tode im Jahre 1790.
Ohne die Verdienste Heinickes schmälern zu wollen, ist doch nicht zu ver-
kennen, daß der Kern seiner Methode nicht nur bei Amman, sondern sogar schon
in der Methode Ponces zu finden ist.
Auch Schmalz*) und Meissner**) berichten, daß Heinicke den Unter-
richt anfangs nur nach der Methode Ammans leitete und daß der Erfolg ein
ausgezeichneter war. Umso weniger können wir die heftigen persönlichen Ver-
dächtigungen und Angriffe Heinickes gegen seine Vorgänger begreifen. So sagt
er in seiner Schrift ,Ueber die Denkart der Taubstummen", Leipzig 1780, p. 43
u. f. unter anderem***): ,Aelteren und Vorgesetzte solcher unglücklichen Kinder,
denen es nun nicht gleichgültig ist, sie, wie Instrumente, worauf man Lehr-
jungen lernen läßt, unwissenden Männern preiszugegeben, die, entweder aus Un-
wissenheit oder Habsucht, sich mit einem solchen Unterrichte befassen, müssen sich
daher wohl vorsehen, wenn sie der Prellerey entgehen und ihre Kinder nicht ins
Verderben stürzen wollen** . . .
Heinickes Verdienst besteht darin, besonderen Wert darauf gelegt zu
haben, daß der Unterricht mit der Tonsprache begonnen werde. Die Tonsprache
selbst hat nicht er in die Unterrichtstechnik eingeführt; vielmehr finden wir sie in
ihren Anfängen bereits bei Po nee und schon ziemlich ausgebildet bei Amman.
Heinicke ist es allerdings gelungen, den Taubstummen in ausgedehntem Maße ab-
strakte Begriffe beizubringen, allein schon alle seine Vorgänger hatten sich dieses
Ziel gesteckt und waren ihm, wenn sie es auch noch nicht erreichten, doch zum Teil
schon nahe gekommen.
Die von Heinicke angewandten, schon vor ihm von dem livländischen Pro-
fessor Jakob Wild versuchten Sprachmaschinen, haben sich beim Taubstummen-
unterricht nicht bewährt. Heinicke gibt übrigens in seinen Werken keine genaue
Angabe über seine Methode, er ergeht sich vielmehr in allgemeine Betrachtungen,
die keine genügenden Anhaltspunkte für den Unterricht bieten. Ohne ihm selbst-
süchtige Motive unterschieben zu wollen, muß doch zugestanden werden, daß der
Leser in seinen Werken nicht das findet, was er sucht, und man wird wohl auch
die Selbstkritik berechtigt finden, die er im Schlußwort der , Denkart der Taub-
stummen*' übt, wenn er sagt: , Meine Schreibart ist daher kaum erträglich*.
Unter den Schülern Heinickes wäre vor allem Eschke, der Leiter des
Taubstummeninstituts in Berlin und Petschke, der Direktor der Taubstummen-
anstalt in Leipzig zu erwähnen.
*) Schmalz: Kurze Geschichte und Statistik der Taubstummenanstalten
und des Taubstummenunterrichts. Dresden 1830, pag. 127.
**) Meissner: Taubstummheit und Taubstummenbildung. Leipzig und
Heidelberg 1856, pag. 226.
***) „Ich rechne unter diese mir bekannten schädli' ''« von
Wallis, Amman, Raphel, Perreire, de TEp^e die
anderen von diesem Zuschnitt.*
432 Pathologie u. Therapie der Ohrerkrankungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrfa.
Pathologie und Therapie der Ohrerkrankungen in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die im Beginne des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Werke über
Ohrenheilkunde stehen großenteils noch auf der früheren Stufe, da
weder die pathologische Anatomie noch die üntersuchungsmethodik eine
genügende Grundlage für die Diagnostik der Ohrerkrankungen bot.
Immerhin wurden durch die Spezialisierung des Faches nicht zu unter-
schätzende Resultate erzielt und durch Teilnahme einer größeren Zahl
von Mitarbeitern ein rascherer Fortschritt angebahnt.
Den sinnfälligsten Ausdruck erhielt der regere Eifer f&r die Er-
weiterung des Faches in der Gründung von Ambulatorien oder Heil-
anstalten für Ohrenkranke. Hierzu ging von England die erste .An-
regung aus, wo John Gunningham Saunders (1773—1810) 1804 den
ersten Plan für eine derartige, wissenschaftlichen und praktischen Zwecken
dienende Anstalt entwarf.
Dank dem Wohltätigkeitssinne des englischen Volkes konnte bereits
im März 1805 das durch private Beiträge gestiftete Institut unter dem
Namen London Dispensary for curing diseases of the Eye and Ear er-
öffnet werden. . Leider waren die Erfolge aus äußerlichen (Gründen nicht
entsprechend, so daß späterhin die Anstalt bloß auf die Au&ahme von
Augenkranken beschränkt wurde. Im Jahre 1816 jedoch erhielt ein
Schüler Saunders, John Harrison Curtis, das Privilegiimi , eine
Anstalt für Ohrenkranke zu gründen, die in ihrem Bestände besser ge-
sichert war. Ebenso gewährten andernorts Dispensarien für Augenkrank-
heiten der Otiatrie Gastfreundschaft, wie in HuU und seit 1820 in New
York. In Frankreich waren es die Taubstumraeninstitute , vo» wo die
wissenschaftliche Otiatrie ihren Ausgang nahm. Dagegen blieb namentlich
Deutschland mit der Gründung öffentlicher Institute für Ohrenkranke bis
zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, ein Umstand, welcher der wissen-
schaftlichen Entwicklung sehr hinderlich war. Das Verdienst, den wissen-
schaftlichen Aufschwung der Otiatrie in dieser Periode gefördert zu haben,
gebührt in erster Linie den Franzosen, während Deutsche erst später an dem
Wettkampf mit Erfolg teilnahmen. Die otologische Literatur Englands,
die zunächst besprochen werden soll, hat bis zum Auftreten Wildes und
Toynbees nur wenig zum Fortschritte unseres Spezialfaches beigetragen.
England.
Im .hihre 1800 erschien ein Werkchen M John Gunningham
Saunders', welches trotz seiner großen Mängel manche Anregungen für
die weitere Ausbildung der praktischen Otiatrie enthält. AVenn auch der
Sanndera. * 433
Umkreis seiner Beobachtungen noch ein beschränkter ist und die* Lücken-
haftigkeit in jedem Abschnitte hervortritt, so zeigt das Buch doch schon
eine modernere Richtung.
Die Diagnostik beruht noch ganz auf der mangelhaften Okularinspektion
des Trommelfells im Sonnenlichte, auf dem Valsal vaschen Versuch und auf der
subjektiven Symptomatologie. Die Therapie, soweit sie nicht intern war, beschränkte
sich auf Ausspritzungen des Gehörgangs, Anwendung von ätzenden Mitteln wie Ar-
gentum nitricum, Zinkvitriol etc. und die mit Vorliebe verwendete Paracentese. Die
Pathologie umfaßt die Krankheiten des äußeren und mittleren Ohres; alle anderen
Ohraffektionen werden kurzweg als- »nervöse" bezeichnet. Von Einzelheiten, die durch
eine beigegebene kleine Kasuistik illustriert sind, heben wir folgendes hervor. Ent-
zündungen des äußeren Gehörgangs erfordern antiphlogistisches Regime, eventuell bei
starken Eiterungen Inzision zwischen Warzenfortsatz und Ohrmuschel (der spätere
Wildesche Schnitt), ulzeröse Prozesse im äußeren Gehörgang werden als ,Herpetic
ulcerous eruption* bezeichnet. Den Gehörgang verschließende Membranen bedingen
Schwerhörigkeit verschiedenen Grades. Der Beseitigung der Polypen soll stets eine
Aetzung an der Basis nachfolgen.
Unter den Affektionen der Trommelhöhle wird der eitrige Ausfluß (,the
puriform discharge from the tympanum") besonders nach Scarlatina eingehender
besprochen. Er unterscheidet sich von dem durch eine Entzündung, des^ äußeren Ge-
hörgangs verursachten dadurch, daß nach Sistierung der Eiterung die Hörstörung
nicht schwindet, weil das Trommelfell zum großen Teile zerstört und manchmal
auch die Gehörknöchelchen exfoliiert werden. Zur Differential diagnose wird der
Valsalvasche Versuch herangezogen, bei welchem das hörbare Ausströmen der Luft
durch den äußeren Gehörgang eine Perforation des Trommelfells erkennen läßt*).
Die Behandlung müsse antiphlogistisch sein. Hingegen bekämpft er die
Anwendung der damals gebräuchlichen Einträufelungen scharfer und spirituöser Mittel
ins Ohr (,an error that unquestionably tends to produce the worst catastrophe*).
Vermute man bei akuten Entzündungen Eiter in der Trommelhöhle, so empfehle
eich Paracentese des Trommelfells^). Saunders unterscheidet drei Stadien der
eitrigen Entzündung der Trommelhöhle: 1. einfach eitriger Ausfluß; 2. eitriger Aus-
fluß und , Fungus" oder „Polyp** ; 3. eitriger Ausfluß und Karies der Trommelhöhle.
Die ersten beiden sind heilbar, das letztere nicht. Als nicht seltene Ursache der
Taubheit erklärt er die Obstruktion der Tuba Eustachii, in welchem Falle die Luft
der Trommelhöhle absorbiert und durch Schleim ersetzt werde. Am häufigsten wird
dieser Verschluß durch syphilitische Geschwüre oder durch maligne Neubildungen
in der Nase bedingt. Beim Valsal vaschen Versuch habe der Patient nicht das
charakteristische Gefühl (^which arises from the inflation of the Tympanum*). Die
beste Behandlungsweise bestehe in der Durchbohrung des Trommelfells im Verein
mit antiluetischer Kur. Die Labyrintherkrankungen faßt Saunders als
»nervous deafness" zusammen*).
Ungeachtet ihrer Lückenhaftigkeit verdient die Schrift als eine nicht zu unter-
schätzende Leistung bezeichnet zu werden, da sie gerade die weniger bekannten
Formen der Entzündung, den Verlauf und die Stadien des Prozesses genauer ver-
folgt und ausführlicher als bisher behandelt.
*) The anatomy of the human ear, illustrated by a series of eng^ ' '^f
the natural size, with a treatise on the diseases of that organ, the caus^
their proper treatment. London IHOO, 1817, 1829. — ') In general, wl«
blows strongly with the nose and mouth closed, aire will be ezpelle
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I.
434 Cartis.
Externus. Wherever this circumstance is observed, it is clear that the discharge
proceeds from, or is connected with an injury or destruction of the Membrana Tym-
pani. — ^) If I could be assured by any symptom that suppuration has taken place.
I should not heaitate to make a small Perforation of the Membrana Tynipani. —
^) In this sense it is a generic temi , and signifies every disease the seat. of whicL
is in the nerve or parts containing the nerve.
Geringeren Wert besitzt die Abhandlung von John Harrison Gurtis^
der trotz langjähriger Erfahrung auch nicht das Geringste von eigener,
originärer Auffassungsgabe durchblicken läßt. Stellenweise sind Absätze
aus dem Saun d ersehen Buche wörtlich abgeschrieben. Die Kritik der
Zeitgenossen über seine Arbeiten war nichts weniger als schmeichelhaft*).
Immerhin war seine Schrift dadurch von Nutzen, daß sie weitere ärzt-
liche Kreise mit der Notwendigkeit otiatrischer Therapie bekannt machte^
zu einer Zeit, in welcher man sich auf Grund humoralpathologischer,^
auf das Heilwirken der Natur gestützter Ansichten scheute, jene Ohr-
erkrankungen zu bekämpfen, die mit eitrigem Ausfluß verbunden waren.
Es bedurfte auch des Appells an das in Vorurteilen befangene Laien-
publikum , um den Aerzten ein Wirkungsgebiet zu schaffen , und in
diesem Sinne erfüllte die populär geschriebene Abhandlung Curtis'^h
ihren Zweck.
Die Einteilung und Behandlung der einzelnen Ohrkrankheiten ist dieselbe wie
bei Saunders. Auch er empfiehlt bei Ohrenfluß jeder Art adstringierende Mittel
bei Verstopfung der Tuba die Paracentese.
Gleich geringen Wert für die Otologie bekunden alle anderen zahlreichen
Publikationen Curtis'. Ks genügt hier zu erwähnen, daß er sich in seinem zweiten
Werke-) zu der kühnen Behauptung versteigt, man müsse bei zweifelhaften
Füllen von Schwerhörigkeit sein Hauptaugenmerk darauf richten, zu erkennen, ob
die Cotunnische Feuchtigkeit ganz oder zum Teile vertrocknet sei, oder ob sich ver-
hiirtetes Ohrenschmalz im Gehörgange vorfinde.
Die Krankheiten des inne ren Ohres zerfallen nach Curtis in konstitutionelle
(angeborene, zerebrale, sympathische etc.) und lokale, welch letztere er, trotzdem
er ihre nicht seltene Abhängigkeit von Strukturveränderungen erkennt, als nervöse
bezeichnet. Ihr charakteristisches Symptom ist die besondere Art der subjektiven
Geräusche, welche mit dem Tosen der Meereswogen oder mit dem Aufbrausen des
siedenden Walsers, dem Rauschen der durch den Wind bewegten Blätter u. s. v.
Aehnlic'hkeit haben. Zur Illustration des damaligen Standes der Ohrtherapie wollen
wir Curtis über seine Behandlung der ^Nerventaubheit** sprechen lassen. Ks handeUe
sich um einen 22jährigen Mann, der einige Jahre an hailnäckiger Nerventaubheil
litt, und der durch Aderlaß, Ilaars-eil , \'esieans hinter dem Ohre und innerliche
Quecksillierkiir nach (5 Wocht^n von seiner Taubheit geheilt wurde. „As he was a
robust man, of a i>lethorio habit , and was very desirous of obtaining his hearing.
1 tüok twelve ounees ol hlood from the arm, put a >eton (Haarseil) in the nape of
his neck, and applied n blister hehind each ear, which were kept open for a fort-
niLrht. lie tcjok five gr^ins of the subnniriate of mercary every night, and an ounce
■ 1 A'ergl Froriejjs Notizen. .Ttihrg. l>^'2'2.
Bachanan. 435
and a half of the sulphate of magnesia twice a week ; at the same time adopting a
strict antiphlogistic regimen."
Die Untersuchungsmethode bestand in der oberflächlichen Okularinspektion.
Die Diagnose, ob das Trommelfell intakt oder perforiert sei, wurde meist durch die
stumpfe Sonde gemacht, wozu freilich ein sehr ausgebildeter «tactus eruditus*
gehörte.
•
') Treatise on the physiology and diseases of the ear; containing a compara-
tive view of its structure and function and of its various diseases arrangcd according
to the anatomy of the organ, or as they aflPect the external, the intermediate and
the internal ear. London 1817, 1818, 1836. — -) Cases illustrative of the treatment
of the diseases of the ear, both local and constitutional. London 1818. Ins Deutsche
übersetzt von Robbi. Leipzig 1819, 1823.
Außer den bereits zitierten Schriften Curtis' erwähnen wir noch: An essay on
the deaf and dumb , showing the necessity of treatment in early infancy , with
observations on congenital deafness. London, 2. Edit., 1834. Uebersetzt von Wiese.
Leipzig 1830. — Observations on the Preservation of Hearing. Der gegenwärtige
Stand der Ohrenheilkunde. (The pre^ent state of aural surgery.) Aus dem Eng-
lischen. Leipzig 1840.
Thomas Buchanan. Der bedeutende Aufschwung, den die Ohren-
heilkunde in Frankreich durch Itard und Saissy nahm, konnte auch
die Otiatrie in England und Deutschland nicht unbeeinflußt lassen. Wir
sahen, daß die englischen Aerzte die Durchbohrung des Trommelfells mit
großem Eifer betrieben, dagegen den Katheterismus der Ohrtrompete
gänzlich außer acht ließen. Der erste, der in Anlehnung an die fran-
zösische Schule hierin einen Wandel schuf, war der Arzt am Dispensary
für Augen- und Ohrenkrankheiten in HuU,. Thomas Buchanan
(1782 — 1853). Seine Leistungen reichten aber an die der Franzosen
nicht heran.
Der sein Werk*) einleitende anatomisch-physiologische Teil ist als ganz wertlos
zu bezeichnen. So legt er der Formation des Ohrknorpels und der qualitativen und
quantitativen Beschaffenheit des Cerumenr. eine ihr nicht zukomiuende Bedeutung
fQr das Hören bei. Im Gegensatz zur Ansicht Itards u.a., die den Verlust des
Ohrknorpels für die Gehörfunktion völlig gleichgültig hielten, glaubt er aus der
Gestalt, Anheftungsstelle und Tiefe der Ohrmuschel wertvolle Anhaltspunkte für die
Hörperzeption zu finden. Die beste Bedingung für ein scharfes Gehör werde gegeben,
wenn die Ohrmuschel weit und tief geformt sei, das Ohrläppchen in der Diagonale
vorwärts gerichtet stehe und der Anheftungswinkel des Ohrknorpels 25— 45° betrage.
Zum Beweise seiner Ansicht bringt Buchanan zwei Krankengeschichten, die
erweisen sollten, daß man eine V^erbesserung des Gehörs erwirken könne, wenn
der Ohrknorpel in eine Richtung von 45® zum Schlilfebein gebracht wird. In dem
einen der Fälle durchschnitt sich der Patient zufilUig die Ohrmuschel. Nach erfolgter
Heilang bildete der Ohrknorpel mit dem Schädel einen Winkel vo»» '* *"* ^"n zeigte
sich die überraschende Erscheinung, daß der Patient auf diese?^ Qrte
als auf dem unverletzten, das nur in einem Winkel von ca. 1 >o-
♦) An engraved representation of the anatomy of*'
436 Wright.
wenig beweisend wie diese Erankengeschicbte sind seine mit außerordentlicher
Sorgfalt angestellten Messungen (an 100 lebenden Individuen) des Dnrcfamessers des
Obrknorpels, der Ohrmuschel, des Gehörgangs und des Insertionswinkels, da er
nur kurz angibt, ob die Personen scharf- oder schwerhörig waren, ohne ein Maß f^
die Hörweite anzuführen oder über seine Untersuchungsergebnisse des inneren Ohres
zu berichten. Noch übertriebener sind seine Bemerkungen über den Einfluß des
Ohrenschmalzes auf die Gehörfunktion. Er schätzt die Zahl der Drüsen auf tausend
bis zweitausend und nennt die Auskleidung des Gehörgangs mit Ohrienschmalz
„ceruminous tubulär circle**. Sie soll den Zweck haben, die Schallschwingungen
durch die Raumverengerung zusammenzudrängen, die Rauhheit des Gehörgangs zu
mildern etc. Bei Ermangelung dieses Ohrenschmalzes käme es zu unregelmäßiger
Schallbrechung und Schallzerstreuung. Es entspricht daher auch ganz dieser Denk-
weise, daß Buch an an besonders darauf bedacht war, durch eine Ohrensalbe die
Trockenheit des Gehörgangs zu beseitigen und hiedurch zur Hörverbesserong
wesentlich beizutragen. Für eines der besten Mittel zur Behandlung der Ohrenflüsse
erklärt er das Acid. pyrolignosum.
Abgesehen von den irrigen physiologischen Ansichten enthalten die Arbeiten*)
Buchanans doch einige praktische Anleitungen zur Behandlung der Ohrenkrank-
heiten. Bei der objektiven Untersuchung des Trommelfells schlug er zuerst vor, den
äußeren Gehörgang durch Abziehung der Ohrmuschel nach oben und hinten gerade
zu strecken, um den größeren Teil der Membran übersehen zu können. Er bediente
sich bei künstlicher Beleuchtung eines von ihm konstruierten .Inspeetor auria**. Zor
Entfernung von verhärtetem Ohrenschmalz und von Fremdkörpern . verwendete er mit
Vorliebe eine Spritze mit dünner langer Spitze, die genügend Rauni für das ab-
fließende Wasser ließ. Daß er bei Tuben- und Trommelhöhlenkatarrhen den Kathete-
rismus tubae anwendete, wurde schon früher besprochen.
Neben den bekanntesten Otologen dieser Periode war noch eine
Reihe von Spezialärzten von geringerem Rufe schriftstellerisch tatig.
Von ihnen seien J. Swan**) und J. Kennedy***) erwähnt.
William Wright. Das mit kritischer Auswahl geschriebene, von
großer Literaturkenntnis zeugende Buch des Verfassers «On the variefo
of deafness, and diseases of the ear with proposed methods of reheving
them", London 1829, sollte seiner Form und seinem Inhalte nach dem
Praktiker als Leitfaden dienen.
Wright tritt energisch gegen die Behandlung der Ohrerkrankungen durch
Apotheker und Wundärzte auf, warnt vor dem Mißbrauch der Paracentese, bei der
er allerdings die Gefahr der Carotisverletzung übertreibt, und erklärt sich als Gegner
reizender Instillationen. Die Anwendung von Salben im äußeren Gehörgang soll«?
nur iiuf geringe Mengen beschränkt werden. Er nimmt entschieden Stellung gegen
die um diese Zeit angewendete energische Quecksilberbehandlung, von der er in den
meisten Fällen üble Folgen gesehen haben will. Der Autor zieht so ziemlich alles
*) lllustrations of acoustic surgery. London 1825. Uebersetzt ins Deutsche in
Linckes Samnilun«,', Bd. Tl. — Physiological illustrations of the organ of hearing etc.
London 1828. Vergl. in Linckes Sammlung, Bd. 1.
'^') Observations on some points relatings to llie pbysiology and pathology ol"
the ear. Medicochir. transact. for the vcar 181"^, T. IX.
'*•) A treatise on the Eye and on some of the diseases of the ear. London 1813.
Pilcher. 437
zu seiner Zeit bekannte, den Praktiker interessierende in Betracht und widmet
mehrere Kapitel hygienischen Ratschlägen. Erwähnenswert ist auch die reiche
Kasuistik, die er allerdings zum Teil seinen anderen Werken entlehnt: ,An essay
on the ear, its anatomical structure and incidental complaints.* London 1818.
,An Address to Persons afflicted with nervous deafness.* ^Observations on the
improper Use of Mercury in Nervous deafness.* , Piain Advice to the deaf." ,The
Aurist, or Medical Guide for the deaf/ London 1826.
,A new and familiär Treatise on the Structure of the ear and on deafness*
von Webster, London 1836, ist ein durchaus populär geschriebenes, jedoch wissen-
schaftlich ganz unbedeutendes Buch, das manchmal sogar der Popularität zuliebe
der Wissenschaft Gewalt antut, so wenn Webster den Mechanismus des Ohres mit
dem einer Dampfmaschine vergleicht (p. 70). Das letzte Kapitel ist dem von ihm
erfundenen Otaphone gewidmet.
Der Praktiker A. Turn bull hat in seinem Werke ,A treatise on painfui and
nervous diseases*, London 1837, auch den Ohrerkrankungen ein allerdings nur sechs
Seiten umfassendes Kapitel eingeräumt. Seine Kenntnisse in der Ohrenheilkunde
and ihrer Literatur sind so gering, daß man sich nicht wundem darf, wenn er mit
seiner in dem genannten Werke förmlich als Panacee gepriesenen Veratria neur-
algische Ohrenschmerzen, subjektive Geräusche, Ohrenschmerzen der Kinder, kurz alle
Ohrerkrankungen, deren er allerdings nur wenige kennt, heilen will.
Seine abenteuerliche Phantasie geht so weit, daß er behauptet, die durch Ver-
größerung der Tonsillen entstandene Schwerhörigkeit durch äußere Applikation einer
Yeratriasalbe geheilt zu haben. Von allen zeitgenössischen Publikationen scheint
kanm mehr als die Coop ersehe Perforation des Trommelfells zu ihm gedrungen zu
sein, die ihn offenbar veranlaßte, einen plumpen, zwecklosen, von ihm „ Aurexsektor**
genannten Trepan zu ersinnen und in dem genannten Werke abzubilden.
Was den in der Literatur des öfteren zitierten plötzlichen Todesfall beim
Eatheterismus tubae durch Turn bull anlangt, so entnehmen wir Fror ieps Notizen
1889, Nr. 228 folgende Daten. Turnbull ließ einem Kranken von seinem Assistenten
eise Lufleinireibung in die Trommelhöhle durch den Katheter mittels einer Luft-
pumpe machen. Der Assistent führte den Katheter abwechselnd in die rechte und
linke Nasenhälfte ein, während der Kranke selbst die Pumpe handhabte. Dabei
trat unter dem Bilde eines apoplektischen Insultes der Tod plötzlich ein. Bei der
gerichtlichen Untersuchung neigten die sehr zurückhaltenden Gutachten der Sach-
verständigen allerdings der Annahme eines apoplektischen Insultes als Todesursache
zu, allein der Sektionsbericht läßt uns wohl kaum einen Zweifel über die wahre
Todesursache. Es fanden sich Blutungen und Luftbläschen unter der Dura, Luft-
embolie in den Duravenen und eine Hämorrhagie in der Trommelhöhle.
Das von der Medical Society of London preisgekrönte Werk: „A treatise on
the Structure, economy and diseases of the ear", London 1838, George Pilchers
wird man höhet schätzen, wenn man sich erinnert, daß es nur 1 Jahr später er-
schienen ist, als das eben besprochene Buch Turnbulls. Pilchers Buch enthält
wohl nichts Neues. Aber der mit guten Abbildungen übersichtlicher Ohrpräparate
versehene kurze Abiiß der vergleichenden und deskriptiven Anatomie des Gehörorgans,
der die ersten zwei Kapitel des Buches füllt, macht durchaus den Eindruck eigener
Stadien. So leugnet er auf Grund selbständiger Präparation die von EverardHome
(S. 362) beschriebenen Muskelfasern im Trommelfell. Dem Abschnitte über Trommel-
fellperforatiönen ist eine Tafel mit mehreren roh ausgeführten, augenscheinlich er-
dachten Trommelfellbildem beigegeben, die Pilcher der Abhandlung Astley Coopers
entlehnt hat.
438 Yearsley.
Das Kapitel über Mißbildungen enthält nur eine ZusammenstelluDg schon be-
kannten Materials, mit einer für einen Ausländer jedenfalls anerkennenswerten Be-
rücksichtigung deutscher Autoren.
John Stevenson, Augen- und Ohrenarzt in London, schrieb außer zahl-
reichen Artikeln in englischen Fachzeitschriften ein anspruchloses, populär gehaltenes
Büchlein betitelt „Deafness, its causes prevention and eure', London 1839, das außer
einigen kasuistischen Mitteilungen des Autors nichts Neues enthält.
Joseph Williams von der Universität zu Edinburgh preisgekröntes Buch:
,Treatise on the ear", London 1840, ist keine Original arbeit, enthält aber einige
interessante kasuistische Mitteilungen.
Ein Büchlein, das höchstens den Wert eines Leitfadens für den Studierenden
beanspruchen kann, ist William Duftons ,The Nature and treatment of deafness
and diseases of the ear*. London 1844.
Mehr Beachtung verdient das Werk James Yearsleys «Deafness practically
illustrated , being an exposition of the nature , causes and treatment of the diseases
of the ear". London 1839. In dieser sowie in mehreren kleineren Schriften*) zeigt
sich Y^earsley im Gegensatze zu seinen englischen Kollegen in der zeitgenössischen
deutschen und französischen Literatur bewandert.
Die von Yearsley verfaßten, unter verschiedenem Titel herausgegebenen
Halbjahrsberichte der , Institution for curing diseases of the ear* enthalten außer
statistischen Daten manche instruktive kasuistische Mitteilungen und in jedem Hefte
eine größere Abhandlung aus der Pathologie und Therapie der Ohrenkrankheiten.
Erwähnenswert ist die von ihm zuerst aufgestellte Indikation der künstlichen Perfo-
ration des Trommelfells in Fällen, bei denen nach narbigem Verschluß einer durch
Eiterung entstandenen Perforationsöffnung eine Hörverschlimmerung eintritt. Durch
die Wiederherstellung der Oeffnung im Trommelfell wird den Schallwellen ein Weg
zum runden Fenster gebahnt, dessen Bedeutung für die Schallperzeption in der
Schnecke schon durch die Arbeiten Scarpas und Johannes Müllers besonders
hervorgehoben wurde.
Sein ^Auriskop" genannter Beleuchtungsapparat, sowie sein kompendiöser
Apparat zur Einleitung medikamentöser Dämpfe per tubam in die Trommelhöhle
sind bereits vergessen. Hingegen knüpft sich der Name Yearsleys an seine Erfindung
des künstlichen Trommelfells, das er in Form eines Wattekügelchens angab**). Anlaß
hierzu bot ein Patient mit Perforation des Trommelfells, der durch Einschieben eines
erweichten Papierstückchens in die Tiefe des Gehörgangs sein Gehör zeitweilig ver-
bessern konnte. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß gleichzeitig und un-
abhängig von ihm Erhard in Berlin in seiner Dissertation die Einführung des
Wiittekügelchens bis zum perforierten Trommelfell als hörverbessemdes Mittel
emi)fiehlt ^"■"'%
Die Förderiiiit»- . die die Ohrenheilkunde den englischen Forschern
in (lieser Periode zu (hinken liat, ist nur unbedeutend gegenüber
dem anerkannten Fortschritte der deutschen und französischen Otiatrie
dieser Peiiode.
) J'racticiil 01)>:<'rvation> on tbe catlietorisDi ol' the Kustiiebian passages etc.
London KV.K
• ) TliL' L;in(;et 1^4^.
' ■ ) I)(' antlitu (juodani dit'tirili nonduni ul>servato. IJerlin 1849.
Itard. 439
Der tiefe Stand der Otiatrie in England wird am besten gekenn-
zeichnet durch die Worte Yearsleys:
flit must further be observed, that in no department of medical
science are we so much behind our Continental neighbours, as in the
treatment of aural disease. The explanation of this fact may be found
in the statement just made, that, in this country, the subject has hitherto
been treated only by non-professional persons ; whereas, on the continent,
we find such men as Kramer, Itard, Deleau, Saissy, and others,
devoting their best energies to its improvement. And with what success,
is evidenced in their works. Most of the British practitioners, indeed,
in this branch, are still blundering on, amidst the same unsuccessful
results, as have for ages past attended the practice of aural surgery.
The remedial measures are still limited to syringing, blisters, irritating
ointments, purgatives, acoustic oils, stimulating ear-drops, acrid injections,
emetics, gargles etc. over and over again employed, and that, in all
cases, without any discrimination or judgment. Wherever the disease
of the ear may be, whether external or internal to the membrane of
the drum, the same senseless and generally inefficient means are pres-
cribed***).
Frankreich.
Einen ungleich größeren Umfang erreichte die praktische Ohren-
heilkunde in Frankreich, wo die Diagnostik und Therapie der Ohren-
krankheiten auf rationellerer Grundlage entwickelt wurde, als bei den
englischen Vertretern des Faches. In erster Reihe sind Itard und
Saissy zu nennen, die im Beginne des Jahrhunderts den ersten Anstoß
zu einer exakteren Forschungsmethode gaben.
Jean Marie Gaspard Itard, 1775 zu Oraison in der Provence
geboren, ergriff nach Absolvierung seiner Studien die kaufmännische
Laufbahn und wurde nur durch einen eigentümlichen Zufall gezwungen,
sich der Medizin zuzuwenden. Als er nämlich in der Absicht, sich der
Anwerbung zum Militärdienst zu entziehen, vorgab, Mediziner zu sein,
wurde er trotz seiner gänzlichen Unkenntnis auf medizinischem Gebiete
als Unterarzt an das Militärspital in Saliers gewiesen. Rasch fand er
sich in dem neuen Beruf zurecht und wurde in kurzer Aufeinander-
folge „Chirurgien interne" am Hospital d'instruction zu Paris, dann
„Chirurgien aide-major" des Val-de-Grace und endlich Arzt des Pariser
Taubstummeninstitutes. Er starb am 5. Juli 1838 in Paris.
Seine Schrift „Traite des maladies de l'oreille et de l'audition"
(Paris 1821) enthält in origineller Darstellung die Resultate seiner
*) Deafness successfully treated, through the passi \e throat
to the ear. Report of the medical proceedings o' " "«"^ase
of the ear'. London 1841.
440 ^^f^-
zwanzigjährigen Tätigkeit (am königlichen Pariser Taubstummeninstitut)
und bildet durch die beigegebene, sorgfaltig gewählte instruktive Kasuistik
eine Fundgrube ausgezeichneter, mit kritischem Blicke klargestellter Be-
obachtungen. Was diesem Buche einen besonderen Wert verleiht, ist
die seltene Aufrichtigkeit, mit der es sogar die Mängel und Schatten-
seiten der angewandten therapeutischen Methoden hervorkehrt. Itards
Einfluß ist es in erster Linie zu danken, daß auch in Deutschland und
England endlich mit dem alten Schlendrian gebrochen wurde. Wenn
man den tiefen Stand der Ohrenheilkunde vor ihm bedenkt, so ist es
erklärlich, daß auch Itard sich von vielen Irrtümern seiner Vorgänger
nicht ganz frei machen konnte.
Das Werk zerfallt in zwei Teile, von denen der erste die Abschnitte über
Anatomie und Physiologie und über Pathologie umfaßt, während der zweite Teil
ausschließlich den Ohrenkrankheiten gewidmet ist. Der anatomisch- physiologische
Teil enthält in gedrängter Kürze nur bereits Bekanntes. Der pathologische Teil
bringt 172 Krankengeschichten, zum großen Teile selbst beobachteter Falle.
Befremdend wirkt in Itards Monographie die doppelte Betrachtungsweise der
Ohrenkrankheiten, die er einmal nach der anatomischen Lokalisation beschreibt,
dann wieder unter dem funktionellen BegriflP , Krankheiten des Gehörs* noch-
mals subsumiert, eine Darstellung, die auf den ersten Blick etwas verwirrend wirkt.
Das System, in das Itard die Krankheiten des Gehörorgans zu bringen
versucht, steht nach keiner Richtung mit unseren heutigen Anschauungen in Ein-
klang. Bei ihm wie bei seinen Zeitgenossen macht sich bei der Darstellung der
Ohrerkrankungen der Mangel pathologisch-anatomischer Kenntnisse in auffallif^er
Weise geltend.
Itard behandelt im ersten Buche, das von anatomischer Lokalisation geleitet
ist: a) Krankheiten, die dem inneren und äußeren Ohr gemeinsam sind, Ohrenent-
zündung (Otitis), Obrenfluß (Otorrhoea), Ohrenschmerz (Otalgia), Fremdkörper (Würmer,
Insekten) ; b) Krankheiten des äußeren Ohres (Imperforation. Verengerung des Gebör-
gangs, Polypen, Verstopfung durch Ohrenschmalz, Fremdkörper, krankhafte Erweiterung
des Gehörgangs); c) Krankheiten des inneren Ohres (Ruptur des Trommelfells, Ver-
dickung, Erschlaffung und Anspannung des Trommelfells, Obstruktion der Trommel-
höhle, Entzündung, Verschließung der Tuba, Atrophie des Acusticus, Mangelan
Cotunnischer Feuchtigkeit). Im zweiten Buche finden sich unter dem Gesanit-
begriff Krankheiten des Gehörs folgende Abschnitte: 1. Erhöhung des Gehörs; 2. Ver-
dorbenheit des Gehörs (Ohrtönen und andere akustische Anomalien) ; 3. Verminderung
oder Vernichtung des Gehörs (Dysecoia, Cophosis), die letzte Gruppe zerfallt lo
achtzehn Unterabteilungen. Die Taubheit könne nämlich bedingt sein durch schlei-
migen, eiterförmigen Ausfluß, Clzeration und Karies, Gehörgangsexkreszenzen, Kon-
kretionen im Gehörgange, Verschließung, Erweiterung des Gehörgangs, Verdickung»
Perforation des Trommelfells, Kontinuitätstrennung der Gehörknöchelchen, ^^^"
Schließung der Tuba, Verstopfung, Blutkongestion des inneren Ohres, Kompression.
Paralyse des Gehörnerven*); endlich kennt der Verfasser Taubheit durch Plethora,
Metastase, Diathese oder Bildunj^sanomalien.
*) Die bereits von Sylvius und Hoffmann beobachtete Atrophie des Hör-
nerven bei Taubstummen konstatierte auch Itard; doch sah er sie nicht als die
Ursache, sondern als die Folge der Taubheit an.
Itard. 441
Itard subsumiert unter den Begriff «Otitis" die Entzündungen des äußeren
nnd inneren (mittleren) Ohres. Er teilt die Entzündungen ein in die katarrhalische
äußere, eiterhafte äußere, katarrhalische innere und eiterhafte innere Otitis. Die
chronischen Entzündungen erscheinen unter dem Sammelbegriff Otorrhoea, die wieder
in schleimige und eitrige, lokal bedingte oder sympathische (durch Karies der um-
gebenden Knochen, Parotitiden, Zerebralotorrhoen) zerfiel. Zu tadeln ist, daß Itard
für die Diagnostik der Otitiden lediglich auf die Intensität der subjektiven Symptome
und auf die Art und den Ausflußort des Eiters (Gehörgang oder Rachen) verwies,
dagegen die Okularinspektion sehr vernachlässigte. Zu tadeln ist ferner die Trennung
der Otitis von ihren Folgezuständen, indem er die Verengerung des Gehörgangs, die
Polypen etc. als selbständige Erkrankungen abhandelt. Dagegen ließ er andere will-
kürlich konstruierte, pathologische Folgezustände wie die Erschlaffung und An-
spannung des Trommelfells, die Trennung und Verwachsung der Gehörknöchelchen,
die hypothetische Lähmung und Konvulsion der inneren Muskeln des Ohres, gänzlich
fallen. Befremdend wirkt seine Angabe über den Mangel oder die Verminderung
der Cotunnischen Flüssigkeit.
Das Kapitel über Erkrankungen des Labyrinths bietet, mangels einer
pathologischanatomischen Grundlage, wenig Interesse. Immerhin widmet er der
durch Paralyse des Hörnerven hervorgerufenen Taubheit ein umfangreiches
Kapitel. In einem besonderen Abschnitt behandelt er die Taubheit infolge Kom-
pression des Hörnervenstammes durch Hirntumoren. Als diagnostisch wichtige
Symptome dieser zerebralen Hörstörung führt Itard an: Kopfschmerz, Schwindel,
Gedächtnisschwäche und peripher wahrnehmbare Störungen anderer Hirnnerven.
Itard beschreibt auch einen Fall von zweifelloser Labyrintheiterung (Beobachtung 22),
den er aber irrtümlich als Otorrhoea cerebral is deutet.
Bezüglich der Therapie stand Itard zum Teil noch unter dem Einflüsse
seiner Vorgänger, indem noch Aderlässe, Blutegel, Haarseile, Brech- und Abführ-
mittel, Tonika, Quecksilberpräparate bei ihm eine große Rolle spielen. Ein beson-
deres Verdienst erwarb er sich aber durch die Vereinfachung des Katheterismus
tubae, durch die rationellere Anwendung von Injektionen per Katheter und durch
sein energisches Auftreten gegen die planlose Durchbohrung des Warze nfortsatzes.
Hier geht Itard zu weit, wenn er diese Operation auch bei Abszeß und Karies des
Warzenfortsatzes verwirft und den spontanen Durchbriich abzuwarten empfiehlt.
Ungleich größeren Wert mißt Itard der Trommelfellperforation bei,
die er zur Entleerung von eitrigem Sekrete aus der Trommelhöhle anwendet. Um
das Sekret gründlich zu entfernen empfiehlt er Injektionen von auflösenden und
reinigenden Flüssigkeiten durch die Perforation in die Trommelhöhle. Diese sind be-
sonders dann indiziert, wenn nach der Paracentese keine Ilörverbesserung eintritt.
Irrationell erscheint uns der Vorschlag Itards, die Injektionen in den Gehörgang
10 — 12mal täglich zu wiederholen und bei andauerndem Schmerz, Schwindel. Sausen
durch luftdichtes Einfügen des Spritzenansatzes in den Gehörgang die Flüssigkeit,
bis zum Abfließen durch den Schlund, durch das Mittelohr zu pressen. Er bemerkt
aber ausdrücklich, daß durch diese Methode (die wir jetzt nur bei chronischen
Mittelohreiterungen anwenden) zuweilen starker Schwindel. Kopfschmerz und Ohren-
sausen hervorgerufen wird und daß er in den meisten Fällen der Injektion per tubam
vermittels des Katheters den Vorzug gebe. Das Instrumentarium Itards besteht aus
einer Injektionsspritze, einem Katheter aus Silber, einer Bougie von elastischem
Harz und einem mit einer Pinzette verbundenen metallenen Stirnband -"- Fixation
des Katheters.
Zur Injektion in die Tube wendete Itard nur selten lane« '
Meerwaaser. LSaangen von talzranrer Soüa, Eisenoxid etc. oder Äbkochnngi^it ad-
atrin gierender Pflanien. Dekokt von Tabaksbiattern, ritheriscbe Tinkturen von Arnika etr .
Statt der FIilssif?keiten bracht« er nach gaälBriaigu Viiporieatiunen und Fumi-
gationen wie Riiucb von Tabak, von gerostetem Kaffee, von getrochnet«r Raute oder
endlich Aetherdämpfe in Anwendung, letztere sollten bei .Dervöeer'' Taubheit von
besonderem Nutzen sein.
Itard bedientü sich bierxu einer Phiole, deren HaU in eine kupferne, mit
einem Hahn vej-sebene, genau in die Kathetermündung passende Köbre endigte. In
diese Phiolo goß er Esnigätber, eteilte sie, durch den Hahn wohl ve rech loesen , eine
Minute laug in heiBed Wasser, nahm sie dann heraus und SSnel«, nach dem KinfSgen
in den Katheter, raach den Uuhn. Diese Prozedur wurde mehrmals hintereinander
wiederholt.
ücrvo muh eben ist, daQ Itard den I.ufte in treibungen in die Trommelhöhle
durch den Katheter, denen P|äter eine so große Rolle in der Behandlung der Mittel-
oll ra Sektionen *ufiel nnd die er durch 8 Jahre in 238 Fallen anwendete, jeden
therapeutischen Wert abspricht*).
In seiner Kigenacfaaft als langjähriger Arzt der , Institution des sourds et
miiets* in Paris widmete sich Itard auch eingehend dem Studium der Tanli-
stummfaeit. In dem betreffenden Abschnitte seines Werkes spricht er sich dahin
aus. daß die die Taubstummheit bedingenden anatomischen Veränderungen im
Gehörorgane, sofern die Taubstummheit nicht angeboren ist, dieselben sein können
wie die bei der erworbenen Taubheit., und daß die Stummheit nur dann eintritt.
wenn Taubheit im friihen Kindeaalter entsteht. Als pathologische Veränderungen
führt er an: AnfQlInng der TrommeIhSble mit kreidigen Massen, Neubildun^n. de-
struktive Proieew im Gehörorgan, schleimige Degeneration des Hümerven etc.
Er teilt die Taubstummen in Gruppen ein. Die erste hSrt noch die Spr&che,
die zweite die Stimme, die dritte noch die TQne, die vierte nur mehr L&rm, die
fünfte endlich i«t gegen Töne und Gerüusche vollkommen taub. Interessant sind
seine Beobachtungen über den Geistes- und Gemütszustand der Taubstummen, In
zahlreichen Krankengeschichten teilt «r die mannigTattigen Heilungsversache mit.
die von ihm und anderen Aerzten bei Taubstummen versucht wurden. Unter diesen
Versuchen ist besonders die Durchbohrung des Trommelfells zu nennen, die er in
13 Fällen ausführte, ohne sich auch nur eines einzigen Erfolges rühmen zu k&nnen.
Gelegentlich eines Besuches bei Abbe Sicard im Jahre 1802. der sieh mit dem
Unterrichte der Taubstummen befaßte, will Itard bemerkt haben, daß die taub-
stumnien Kinder umso leisere Töne zu vernehmen im stände waren, je länger sie
mit Instrumenten geprüft wurden. Dies war ihm .ein Lichtstrahl, der ihm auf dem
Wege, einen schon bei der Gehurt geläbmten Sinn wieder tix beleben, leuchten sollte'.
Dies brachte Itard auf den Gedanken, das GehOr bei Taubstummen durch
Hörübungen zu verbessern. Ga spricht für seine rationelle Denkungsnrt , daS er,
die fichweren pathologischen Veränderungen im Gehörorgane berücksichtigend, dit
total tauben Zöglinge von den HOrübungen ausschloß. Seine Methode mochte
im Laufe seiner Lehrtätigkeit viele Modifikationen durch. Anfangs suchte er i
Gehör durch den Ton einer großen Turmglooke zu üben , die er von Tag zu Tag
schwächer anschlug. Er kam jedoch bald auf die Idee, statt der SchallstHrke die
Entfernung der Schallquelle zu variieren.
Kr stellte seine Zöglinge (ausgenommen die der fünften Kategorie) in eänem
langen fensterlosen Gange in einer Reihe auf. entfernte sich mit einer Stutz-Uhr-
*) Mem. de l'Acad. Roy, de med. Paris Ia36. T. V.
Tafel XXIX ^^^
J. M. GASPARD ITARD
Itard. 443
glocke von ibnen und merkte die Entfernung an , in der jeder von ihnen zu hören
aufhörte. Bei diesen Hebungen machte Itard die Beobachtung, daß die Verbesserung
der Hörweite für einzelne Töne nur bis zu einer bestimmten Grenze geht Ist diese
Grenze erreicht, dann ist auch jede weitere Mühe umsonst. Erzielt man dann doch
noch eine Hörverbesserung für Töne, so geht sie meist schon innerhalb 24 Stunden
wieder verloren. Alle diese mühevollen üebungen »hatten nur den Zweck, die
Empfindlichkeit der Gehörorgane zu vermehren** *).
Weit schwieriger war die Aufgabe, sie „zu den verschiedenen Arten der Per-
zeption geschickt zu machen". Die Kinder mußten den Unterschied zwischen starken
und schwachen Tönen, ihre Richtung und ihre Verschiedenheit bei den einzelnen
Jnstrumenten kennen lernen. Mit den erzielten Resultaten gab sich Itard nicht
zufrieden. Es galt noch den Taubstummen die Sprache durch das Gehör verständlich
zu machen. Der Schwierigkeit dieser Aufj^abe war er sich wohl bewußt, da er
<iie Beobachtung machte, «daß ein stumpfes Ohr die Töne und halben Töne der
inusikalischen Tonleiter weit leichter deutlich unterscheidet, als die verschiedenen
lokale*. Die Methode, die er min anzuwenden veri^uchte. bestand darin, daß er
«ich hinter die Kinder stellte und die Vokale laut aussprach. Auf diese Weise
!lconnte er jedoch keinen Erfolg erzielen. Kein einziger seiner Zöglinge versuchte es,
:aiuch nur einen Laut nachzusprechen. Itard mußte den Versuch aufgeben und
ihnen erst durch Zeichen verständlich machen, daß sie sich bemühen müßten, das
Vorgesprochene zu wiederholen. Darauf nahm er d^n Versuch von neuem vor.
allein er entlockte ihnen so unartikulierte Laute, daß er bald zu der Ueberzeugung
!kam, die Hörübungen würden niemals zum Verständnis der Sprache führen. Er
•ersann eine Methode, die derjenigen Hei nicke s wohl sehr nahe kommt, doch dürfte
«r Heinickes Unterrichtsmethode (S. 430) nicht gekannt haben. Er ließ seine Zög-
linge, während er die Laute, die er ihnen verständlich machen wollte, deutlich aus-
sprach, auf die Bewegungen seiner Sprachorgane achten. Dies hatte den Vorteil,
daß neben der Verwendung ihrer Hörreste und der Heranziehung des Gesichtssinnes
^um Verständnis des Gesprochenen, auch ihr Nachahmungstrieb geweckt wurde, der
sie veranlaßte, sich im Sprechen zu üben.
Bei den Vokalen ging dies noch verhältnismäßig leicht. Eine unerschütterliche
Geduld und mannigfache Kunstgriffe erforderte es jedoch , die Taubstummen zum
Nachsprechen der Konsonanten zu bewegen. So mußte er beispielsweise bei einem
seiner Zöglinge jedem Kont-onanten die Silbe ra voraussetzen, um ihm den Konso-
nanten einzuprägen.
Itard wählte von den Zöglingen seines Institutes sechs aus, um sie persönlich
nach dieser Methode zu unterrichten, während die übrigen Schüler seines Institutes
von Lehrern in der Zeichensprache unterrichtet wurden. Von den sechs Knaben
schickte er drei bald wieder in das Institut zurück, angeblich aus äußeren Gründen,
wahrscheinlich jedoch, weil die P^folge nicht ermutigend waren. Den anderen drei
Knaben ließ er seinen persönlichen Unterricht weiter angedeihen, bis ev sie für ge-
nügend ausgebildet hielt. Aber das erzielte Resultat war auch hier sehr ungleich-
artig, denn nur einer scheint den gehegten Erwartungen entsprochen zu haben.
Und dieser eine war gerade derjenige, der das geringste Hörvermögen besaß und
dessen Taubheit nach Itards eigenen Worten ,.von der Art war, daß sein Gehör
nie sehr weit entwickelt werden konnte"*. Diese Tatsache ist wohl ein Beweis dafür,
.^aß die oi>timi8tischen Hoffnungen, die Itard an die Hörübungen knüpfte, nicht
in Erfüllung gegangen waren und auch der geringe Erfolg nur auf die Fortschritte
*) p. 523.
444 SaiRsy.
im Ablesen des Gesprochenen vom Munde und auf die Entwicklung der Intelligenz
zurückgeführt werden konnte.
Die von Itard versuchte Unterrichtsmethode sollte vor der Zeichensprache
den Vorteil haben, die Taubstummen in den Stand zu setzen, nicht nur untereinander,
sondern auch in der Gesellschaft Yollsinniger zu verkehren. Mit dem' im Vergleich
zu der aufgewendeten Mühe und Zeit kaum nennenswerten Resultate, stimmt es
überein, daß Itard am Schlüsse dieses Kapitels doch die Zeichensprache mit den
Worten : , Diese hat die Natur den Taubstummen angewiesen und gewährt den Vorteil,
daß sie durch dieselbe miteinander verkehren können,* als souveräne Unterrichts-
methode empfiehlt.
Trotz der wenig ermunternden Anregungen Itards wurden die Hörübungen
in verschiedenen Taubstummenanstalten versucht , um nach längeren . resnltatlosen
Bemühungen wieder aufgegeben zu werden. Umso erstaunlicher ist es, daß diese
aussichtslosen Bemühungen iti den Dreißigerjahren von Dr. Baries in Berlin, zu
Ende der Achtzigeijahre von Abbe Verrier in Bourg la Reine und im letzten
Dezennium des vorigen Jahrhunderts von Ur'bantschitsch in Wien wieder auf-
genommen wurden. Die zahlreichen Nachprüfungen durch hervorragende Autoritäten
wie Bezold, Passov^r, Treitel, Kessel, Heimann, Gutzmann u.a. haben er-
wiesen, daß durch Hörübungen bei Taubstummen von einer Erweiterung des Gehörs
keine Rede sein kann.
Antoine Saissy^ 1756 in Mongin (Provence) geboren, von den
Eltern zum Landmann bestimmt, genoß bis zum 22. Jahre nur elemen-
tarsten Unterricht. Der Zufall führte medizinische Bücher in seine
Hände. Mit erstaunlicher Raschheit übersprang er die Stufen der nötigen
Vorbildung, um sich in voller Begeisterung der Heilwissenschaft zu
widmen. Vom Jahre 1777—1782 finden wir ihn zu Paris, wo. er mit
großem Eifer dem medizinischen Unterrichte folgte. 1783 trat er als
Chirurg in die Praxis, verließ 1786 Frankreich,, um als Chirurgien-raajor
der königlichen Handelsgesellschaft drei Jahre unter den Barbaresken
zu verweilen. Zurückgekehrt, lenkte er durch seine preisgekrönte Schrift
über den Winterschlaf der Tiöre die Aufmerksamkeit der Gelehrten
auf sich. Erst im vorgerückten Alter wandte er sich der Ohren-
heilkunde zu und überreichte 1814 der medizinischen Gesellschaft zu
Bordeaux als Frucht seiner eingehenden Studien seine mit großem Bei-
fall aufgenommene Abhandlung über die inneren Krankheiten des Ohres.
Bis zu seinem 1822 erfolgten Tode bemühte er sich, diese Schrift zu
erweitern und zu verbessern.
Saissys Werk*) über die Krankheiten des inneren Ohres gehört
unstreiti<( zu den besten dieser Periode, da es trotz seiner großen
Mängel eine o;enauere Kenntnis einiger Krankheitsformen des Mittel-
ohrs und der Eustachischen Rühre vorbereitete. Es zerfallt in sechs
Abschnitte, welche die Krankheiten des Trommelfells, der Trommelhöhle
'■'} Essai sur les maladies de l'ureille interne. Paris, Lyon 1827. Deutsche
Ausgabe: Ilmenau 182t*, übers, von (.'. Fitz 1er.
Saissy. 445
und des Proc. mastoideus, der Eustachischen Röhre, der Teile die
letztere umgeben, des Labyrinths und des Gehörnerven behandeln.
In dem Abschnitt von den Krankheiten des Trommelfells wird als
selbständige Form die schwammige Haut, welche das Trommelfell des Neu-
geborenen bedeckt (,De la membrane fongueuse qui recouvre celle du tympan")
beschrieben. Auf Grund mehrerer in der Literatur angeführter Fälle mißt er dieser
im Normalen vorkommenden, dicken Epidermislage bei Neugeborenen eine ihr keines-
wegs zukommende Bedeutung für die Pathologie (z. B. der Taubstummheit) bei.
Saissy behauptet, zuerst vom Trommelfell entspringende Polypen be-
obachtet zu haben, da er in der Literatur keinen hierauf bezüglichen Fall gefunden
hätte. Er beschreibt nur einen Fall . bei dem er nach Entfernung des Polypen
einen rötlichen Fleck am Trommelfelle sah, den er als die Stelle deutete, wo der
Stiel des Polypen aufgesessen sei.
Was Saissy über die Erschlaffung des Trommelfells, die er otoskopisch
nicht beobachtet hat, mitteilt, beruht auf theoretischer Spekulation. Die weitläufig
aas der Literatur herbeigezogene Aetiologie dieser Erkrankung ist so verworren und
phantastisch, daß wir auf eine nähere Wiedergabe seiner Ansichten verzichten können.
Interesse verdient ein von Saissy geschilderter Fall, bei dem otoskopisch
das Trommelfell «hinabgedrückt* war und eine zitzenäbnliche Vertiefung in die
Trommelhöhle (cul de lampe) bildete. Er warnt in solchen Fällen vor Einspritzungen
in den äußeren Gehörgang, empfiehlt dagegen anstatt der einfachen Luftdusche mit
dem Katheter die jetzt als schädlich angesehenen Injektionen per tubam.
Was Saissy als Entzündung des Trommelfells, ohne den Trommelfell-
befund zu erwähnen,- beschreibt, kann nach den Symptomen zu schließen eher als
akute eitrige Otitis gedeutet werden.
Bei Besprechung der Verdickung des Trommelfells, die er irr-
tümlich als primäre Erkrankung und ohne Trommelfellbefund schildert, unterzieht
er die Coopersche Perforation des Trommelfells einer scharfen Kritik,
erklärt die Ausführung der Operation für unsicher, nicht gefahrlos und ohne
die von Itard vorgeschlagene Injektion medikamentöser Flüssigkeiten für voll-
ständig wirkungslos. Indiziert sei die Perforation nur 1. bei Verknorpelung(?)
oder Verknöcherung des Trommelfells bei sonst intaktem Zustande der übrigen
Teile des Ohres; 2. bei Undurcbgängigkeit der Eustachischen Ohrtrompete infolge
von Bildungsfehlem, chronischer Anschwellung und bei Strikturen des Kanals. In
jedem anderen Fall von Schwerhörigkeit sei sie absolut zu verwerfen. Das Instrumen-
tarium und die Technik der Co oji er sehen Operation wurden von ihm wesentlich
modifiziert. Er verwendet eine elastische statt der silbernen Troikartkanüle , einen
dickeren und an der Spitze gekrümmten Troikartstachel und empfiehlt zur Offeh-
haltung der künstlichen Oefi'nung das Einlegen einer befetteten Darmsaite.
Die Ruptur des Trommelfells, unter welcher Bezeichnung er die trau-
matischen und pathologischen Perforationen zusammenfaßt, erklärt er für spontan
heilbar. Als diagnostische Zeichen führt Saissy an: das hörbare Durchzischen der
Luft beim Valsal vaschen Versuch, das Abfließen der in den Gehörgang einge-
spritzten Flüssigkeit durch den Schlund und das Ausfließen der per tubam injizierten
Flüssigkeit durch den äußeren Gehörgang.
Im zweiten Abschnitt des Werkes behandelt Saissy den Katarrh den
inneren Ohres. In der Aetiologie vertritt er noch den alten Standpunkt, ohne
die -häufigste Ursache, die Fortpflanzung des Katarrhs vom Nasenrachenraum zum
Mittdohr, zu erwähnen. Sein akuter Katarrh entspricht unserer Otitis media acuta.
446 Saissy.
In einem Falle, bei dem, nach den Symptomen zu schließen, ein einfacher Mittel-
ohrkatarrh bestand, machte Saissy Einspritzungen mit lauem Aetherwasser (eau
ötheree), worauf eine akute Mittelohrentzündung mit serös-schleimigem Ausfluß aus
dem Ohre folgte. Saissy zieht hieraus keineswegs den Schluß, daß bei einfachen
sekretorischen Mittelohrkatarrhen Injektionen in die Trommelhöhle per tubam
schädlich sind.
Durchaus zutreffend ist seine Schilderung des Symptomenkomplexes bei der
mit Mastoiditis komplizierten akuten Mittelohrentzündung.
Saissys innerer chronischer Katarrh ist, nach den mitgeteilten
Fällen zu urteilen, identisch mit der chronischen Mittelohreiterung, doch führt er
in dieser Gruppe wieder einen Fall ohne Perforation des Trommelfells an, den er
durch Injektionen per tubam gebessert haben will. Interessant ist die Bemerkung
Saissys, duß durch die ausschließliche Behandlung des rechten Ohres das Fort-
schreiten der Taubheit auf dem linken Ohre hintangehalten wurde, was unwider-
leglich die Sympathie zwischen beiden Ohren beweise.
Die Therapie des akuten Katarrhs besteht in passender Diät, Klistieren. Fuß-
bädern, Blasenpfladtem im Nacken oder zwischen den Schultern und Vermeidung
von kalter und feuchter Luft. Die von Alard zur Entleerung des Exsudates vor-
geschlagene Punktion des Trommelfells sei nur dann ausführbar, wenn der Kathete-
rismus tubae und die Injektion lauen Wassers in die Trommelhöhle ohne Erfolg
versucht wurden.
Bei chronischer Mittelohreiterung wendet er Ausspritzungen des Gehörgangs
mit lauem Brunnenwasser mit oder ohne medikamentöse Zusätze, oder endlich die
Durchspülung des Mittelohrs mittels des Katheters durch die Tube an. Befangen in
den Anschauungen seiner Zeit rät er die Heilung des Ausflusses nur bei jugendlichen
Personen und nur unter gleichzeitiger Etablierung eines Fontanells zu versuchen, da
die Unterdrückung des Ohrenflusses leicht den Tod nach sich ziehen könne. Ohren-
flüsse, die durch Suppression von Hämorrhoidalblutungen oder der Menstruation ent-
standen, sistieren, wenn die Blutungen wieder eintreten.
Saissy beschreibt ziemlich gut das klinische Bild der Otitis media supp. acuta^
die bei Scarlatina, Morbillen, Variola auftritt und empfiehlt zur Bekämpfung der
Eiterung vor dem Durchbruche des Trommelfells neben Abführmitteln und Blutegeln
die Punktion des Trommelfells, nach Eintritt der Eiterung Durchspülung des Mittel-
ohres per tubam.
Die Eröfi'nung des Warzen fortsatzes hält er nur bei Karies und Abszeß im
Warzenfortsatze für berechtigt, verwirft aber alle anderen von Arnemann aufge-
stellten Indikationen für diese Operation.
Den sekretorischen Mittelohrkatarrh mit Ausscheidung serösen oder schleimigen
Exsudates bezeichnet Saissy als Wassersucht der Trommelhöhle und der
Zellen des Warzenfortsatzes. Er empfiehlt auch hier die jetzt als schädlich erkannten
Injektionen in die Troninielhöhle per tubam, und erst wenn diese resultatlos ange-
wendet wurden, die Paracente.se des Trommelfells. Dieselbe Behandlung rät er
hui Bhiterf^uh in die Tiümiiielhöhle , den er besonders bei Traumen am Schädel
V)e()l)achtet haben will. Sclileiniansammlunj^ in der Trommelhöhle diagnostiziert
Saissy dann, wenn l»eini Valsal vasclien \'ersuch die Luft nicht in das Mittelohr
eindrin^'t oder die Injektionen durch die Tube auf starken Widerstand stoßen. Die
Dt'handlunLT l»esteht in liijrkt ioncn jn-r Katheter in die Trommelhöhle.
Nach Saissy sind die Sokretf in der Trommelhöhle der Verdichtung Tähig.
Indem der dünnere Teil der Keu(liti).;keit resorbiert wird, bleibt der dichtere als
j'eronnen zurück und v«'ianlal)t Sehwerliöriirkeit. Hier dürften wohl die durch
Deleau. 447
Katarrhe bedingten Bindegewebsneubildungen gemeint sein, über deren Natur und
Entstehung Saissy eine falsche Vorstellung hatte.
Das Kapitel „Von dem Ohrbrausen'' behandelt weitläufig die Ansichten der
älteren und zeitgenössischen Autoren über die Aetiologic der subjektiven Geräusche,
ohne neue Gesichtspunkte zu enthalten. In der Therapie steht er noch auf dem
Standpunkte der alten Aerzte.
Ausführlich behandelt Saissy im dritten Abschnitte seines Werkes die Krank*
heiten der Eustachischen Ohrtrompete. Der Verschluß oder die Verengerung
derselben kann entweder angeboren oder durch Geschwüre (infolge Syphilis. Variola etc.)
im Nasenrachenräume und im Tubenkanal erworben sein. Zur Beseitigung der Strik-
turen schlägt Saissy folgende Operation vor. Er durchsticht mit einem durch einen
Katheter vorgeschobenen Stilett die den Verschluß verui>achende Membran und legt
dann eine Darmsaite ein, um die gemachte Oeffnung bleibend zu erhalten. Saissy
empfiehlt, den Katheter behutsam zu entfernen, die Darmsaite aber im Tubenkanale
hegen zu lassen, indem man ihr äußeres Ende nahe der Nase abschneidet und mit
Watte in der Nasenöffnung fixiert. Es entspricht dies der modernen »Bougie a
demeure". Der geringe Wert dieser Operation ergibt sich aus der Tatsache, daß
sie von Saissy nur einmal und ohne Erfolg ausgeführt wurde, und daß in der
Folgezeit, offenbar wegen der großen Gefahr einer Verletzung der benachbarten
Karotis, dieser operative Eingriff nicht mehr versucht wurde.
Zur Beseitigung der Verstopfung der Ohrtrompete, durch Schwellung der
Schleimhaut, durch Ansammlung von Schleim. Blut oder eine kreideähnliche Masse (?)
empfiehlt Saissy Injektionen durch den Katheter mittels der von ihm verbesserten
Instrumente.
Erwähnenswert ist seine Bemerkung, daß langdauernde chronische Eiterungen
das runde oder ovale Fenster durchbrechen können, worauf bereits Hofmeister
(S. 342) hingewiesen hat. Ueber eigene, die Labyrintheiterung beweisende Befunde
verfügt Saissy nicht, er teilt nur zwei Beobachtungen seines Kollegen Viricel
mit, der bei der Sektion eines Falles braunrötlichen Eiter, bei der eines anderen
«ine »seröse Materie* im Labyrinthe fand.
Zu den verdien-stvolleii Nachfolgern Itards und Saissys zählt
der jüngere Deleau, dem die praktische Ohrenheilkunde wesentliche
Verbesserungen in der Technik dus Catheterismus tubae und die Ein-
führung der Luftdusche durch den Katheter verdankt.
Nie. Deleau jeune, am 21. April 1797 geboren, war zuerst als
praktischer Arzt in Commercy tätig und erhielt später eine Stelle am
Hospice des orphelins zu Paris, wo er die Abteilung für Ohrenkranke
leitete. Er starb im Jahre 1862.
Deleau trug 8ich, offenbar in Unkenntnis der der Taubstummheit zu Grunde
liegenden anatomischen Veränderungen, anfangs mit dem hochfliegenden Probleme.
durch die Trommelfellperforation Taubstummheit zu heilen. Er berichtet in seinem
, Memoire sur la Perforation de la membrane du tympan" über 18 Fälle, in denen
er durch die Trommelfelloperation wohl keine Heilung der Taubheit, doch eine
merkliche Hörverbeeserung erzielt haben will. Später wandte sich Deleau fast aus-
schließlich den Krankheiten des Mittelohrs und vornehmlich der Vervollkommnung
des Catheterismus tubae zu. Er bediente pich ela.stischer Katheter, die jedoch keinen
Eingang in die Praxis fanden. Er veiwirft als schädlich die von Itard und Saissy
-448
bei Milteiohrkatarrhcn bevorzugten Injektionen von FlÖBsigkeit per tubam und
empfiehlt ale viel wirksamer die Luftduache (douche dair) mittels des Katheters, .
die er entweder mit dem Munde oder mit einer EautechukblEiBe oder mit Hilfe einer
Luftpiitope nuflführte. Die Injektionen per tubam will er nur xut Entfernung von
Fremdkörpern bei defektem Trommelfell angewendet wissen.
Angeregt durch Laennecs Untersuchungen Über die Auskultation des Proc.
maatoid. Buchte Deleau die Auskultation des Ohrea während der Luftduache dia-
gnostisch 20 verwerten. Er auskultiert noch durch Anlegen seines Ohrea an das des
Patienten. Ist diu Trommelhöhle normal lufthaltig und die Tube wegsam. so ver-
nimmt man ein Geriluscli. dos dem Rauschen eines Wasserfalls oder eines im Walde
niederprasselnden Ket^ens nu verj^leichen ist (.bruit sec de la caiBse'); oft hCrt man
gleichzeitig mit diesem Geräusche ein Schwirren, das von den Schwingungen der
Trumpetenmündung herrührt (bruit du pacillon). Ist jedoch die Tube verengt, so
bewegt sich der Luftstrom rückwärts und es entsteht ein trockener Ton, der. mit
dem Geräusche des normalen Ohrea verglichen, gleichsam in der Feme vernehmlich
ist. Ixt Sekret in der Trommclh&ble vorhanden, so hört man ein Rasseln dem übnlich,
welches entsteht, wenn man durch eine RShre in 8C hl ei miges Wasser bläst. Deleau
nennt ei das Bchleimgeräuach der Trommelhöhle («bruit muqueuse').
Deleau ging von der schon l'cQher anerkannten Idee aus. daS da« normale
Gehör von der normalen Wegsamkeit der Ohrtrompete abbüngig sei und deutete die
durch katarrhalischen TerschluB der Tube hervorgerufene Schwerhörigkeit bereits in
der noch heute unbestrittenen Weise durch die veränderte Spannung, welche da«
Trommelfell infolge der Resorption der Luft in der Trommelhöhle erleidet. '
Die ncrvijae Taubheit galt ihm als unheilbar. Diis fQr die Diagnose cbarakle-
ristische Merkmal derselben ist nach Deleau das freie KinstrSnien der Luft in die I
Trommelhöhle. Jetzt wissen wir. daB dieses Merkmal diagnostisch nicht verwertbar
ist, da auch hei der Steigbügelajikylose (Ötoskierose) der Tubenkanal normal wegsam
sein kann,
Die künstliche Perforation des Tromraelfell» führte Deleau in der ersten
Periode seiner ttratüchen Tätigkeit nicht nur bei Verdickung des Trommelfells und
Unwegeamkeit des Tubenkunals aus. sondern auch bei Verstopfungen des Tuben-
kanals ira Kindesalter, wo aus äuQercn Gründen die Luftdusche durch den Eathetei i
unausführbar ist
Zur Erweiterung von Tubenstrikturen wendet Deleau anstatt der von Itard
und Saissy empfohlenen Bougies, lüngliobe. dünne PreBsehwammstOckchen durch i
den Katheter an, wobei er aber hervorhebt, daß schon die Einblaaung von kom-
primierter Luft in das Mittelohr eine Erweiterung des Tubenkanals bewirke. Eine
solche Wirkung der Luftdusche können wir jetzt nur für Schwellungatrikturen. nicht J
aber für bindegewebige Verengerungen gelten lassen. '|
Deleau will durch die Luftdusche mittels des Katheters bei Taubstummen.^
günstige Erfolge erzielt haben. Seine Berichte hierüber waren so giiiniend, daß ihn«
das Institut de France jährlich die Summe von 6000 Franken für die Behandlan^|
von vier Taubstummen bewilligte. Es ist klar, daß es sich — vorausgesetzt Delet
habe wirklich eine Besserung erzielt — nicht um Taubstumme mit schweren Läsioneii ,
im Labyrinthe oder im Gehirne handelte, sondern um Kinder, die infolge katarrhali-
scher Schleimansaromlung im Mittelohre das Sprechen nicht erlernen konnten.
Trotz der zahlreichen Irrtümer, denen wir in den Schriften Deleaus begegnen,
muB ihm doch das Verdienst zugesprochen werden, daB er zuerst den Catheteiismai
tubae für die Diagnose der M ittel oh rerh rankungen betanzog und daS er die Tberapi«
der Obrerkrankungen durch die Aufnahme der Luftdusche wesentlich erweiterte.
Tafel XXX \
4
Deleau. 449
Von den zahlreichen Schriften Deleau's seien hier folgende erwähnt.
Tableaa de gu^risonü de surdit^s oper^es par le cath^terisme de la trompe
d*£ustache suivi d*une lettre adress^e ä. TAcademie de medecine. Paris 1827. —
Recherches physiologiques et pathologiques sur la presence de Tair atmosph^rique
dans Toreille moyenne. (Journal des connaissances medicales 1835.) — Traitö du
cathet^risme de la trompe d'Eustache et de Temploi de Tair atmosph^rique dans les
inaladies de Toreille moyenne. Paris 1838. — Eztrait d'un Memoire sur Femploi
Je Tair atmosph^rique dans le diagnostic, le prognostic et le traitment de la surdit^,
in Magendie^s Journal de pbysiologie ezperiment. et pathologique. Paris 1829, T. IX,
p. 311 — 340. — L'ouie et la parole rendues ä Honor^ Trezel, sourd-muet de naissance.
Paris 1825.
Im Anschlüsse wären noch einige interessante, das Gebiet der Otologie streifende
Arbeiten über den serösen Ausfluß aus dem Ohre infolge von Schädelbasis-
frakturen zu erwähnen. Die Ansichten über die Quelle des serösen Ausflusses gehen
vielfach auseinander. Nach Guthrie rührt er von einer vermehrten Exhalation der
Arachnoidealhöhle, nach Robert*) von der Cotuguoschen Lymphe im Labyrinthe
her. Lau gier glaubt, daß die frakturierte Stelle selbst die Flüssigkeit sezerniere,
^eährend Chassaignac*"') den Ausfluß als das aus dem zerrissenen Sinus austretende
231utserum erklärt. Die allein richtige, allgemein akzeptierte Ansicht, daß es sich
bei Schädelbasisfrakturen fast immer um den Abfluß von Ce rebrosp in al flüssig-
Ic e i t handle, wurde von B o d i n e r und B e r a r d vertreten, denen sich später Robert,
gestützt auf zwei Fälle von Bruch der Schädelbasis mit Abfluß von Liquor durch die
^ase, anschloß.
Die Abhandlung des französischen Arztes Dr. Philippe -lieber
<ieistes- und Gehörgymnastik, als unerläßliche Ergänzung der
!Kur der Taubheit"***), bietet einen Beweis dafür, daß manche theo-
retisch ersonnenen Heilmethoden immer wieder von neuem auftauchen,
^m aufs neue als nutzlos der Vergessenheit anheimzufallen.
Philippe wiil den Schwerhörigen und Tauben dadurch zum Hören zwingen,
"^aß er seine Aufmerksamkeit zu wecken sucht. Dazu müsse man zunächst den
^Kranken vorbereitende Töne hören lassen, die seinen Gehörsinn auffordern, in Tätig-
Ijeit zu treten. Am besten sei es, ihn häufig bei seinem Namen anzurufen. Auch
lautes Lesen sei als eines der ersten Mittel anzuwenden. Diese kontinuierliche Ein-
führung von Tonwellen versetze das Nervensystem in einen Zustand andauernder
Erregung, der es aus seiner Atonie erwecke. Beim Aussprechen der Worte
möge man die Stimme nicht allzusehr erheben, damit die Perzeption auch mit
schwachen Hilfsmitteln stattfinde und das Nervensystem hierdurch an Aktivität
zunehme. Als weiteres mächtiges Hilfsmittel empfiehlt Philippe häufige und
anhaltende Eonversation. „Verwandte, Freunde, alle Angehörigen des Kranken
müssen viel mit ihm sprechen und ibn von Gegenständen unterhalten, welche ihm
angenehm sind.* Es sei auffallend, wie ein Kranker, der zu Beginn des Gespräches
sehr wenig hörte, später weit leichter hörte, weil seine Aufmerksamkeit gespannt
und sein Interesse für die Sache gefesselt war. Auch die Beschäftigung mit der
Musik hält Philippe für eine gymnastische Uebung des Gehörs, mit einem Worte
♦) Froriep, Neue Notizen 1846, Nr. 806, p. 2L5.
♦♦) Froriep, Neue Notizen 1846, Nr. 842, p. 91.
***) Journal de Medecine de Bordeaux 1846 und Frorieps Notizen Bd. 38, 1846.
Politzer, Geschichte der Ohreuheilkunde. I. 29
450 Gairal.
alle Arten von Geräuschen, mit Ausnahme derjenigen, die durch allzu große Intensitilt
den Gehörsinn belästigen und daher die Grenzen für das normale Hören noch weiter
hinausrücken würden. Bekanntlich wurde ganz dieselbe Methode der Hörübungen
bei erwachsenen Schwerhörigen in der Neuzeit als ,neue Methode* empfohlen, um
nach mehrjährigen Versuchen von den Praktikern als nutzlos aufgegeben zu werden.
Die zahlreichen zeitgenössischen Schriften und Kompendien über Ohrenheil-
kunde in Frankreich enthalten mehr oder minder gelungene Auszüge aus den Werken
der vorerwähnten Autoren. Was in ihnen als neu vorgebracht wird, beschränkt sich
auf Modifikationen von Instrumenten und Apparaten und auf Behandlungsmethoden^
die alle bereits verschollen sind. Erwähnt seien nur Gairal*), dessen Katheter
am Schnabelende mit einem Wulste versehen ist; Bonnet**) aus Lyon, der den
Katheterismus durch Aetzungen der Pharynxschleimhaut mit Quecksilber- oder Silber-
nitrat ersetzen will; Petrequin***), der mit seiner , Methode speciale alumin^e*^
die Mittelohrkatarrhe durch Alaungurgelungen und Bestäuben des Pharynx mit Alaun-
pulver zu heilen angab; endlich Ducrosf), der mit Recht bei Mittelohrkatarrhen
auf die Behandlung der Nasenrachenschleimhaut besonderes Gewicht legt.
Die Hauptarbeiten Bonnafonts und Meni^re's gehören bereits der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts an.
Zu erwähnen wären noch aus dieser Periode: Alard, Essai sur le catarrhe
de Foreille. Paris 1807. Eine kleine von Itard und Saissy unabhängige Schrift
von geringem Wert. — Trucy, Considerations sur la Perforation de la membrane
du tympan. Paris 1802. — Monfalcon, Art. Maladies de Toreille externe in T. 88
des Diction. des scienc. medic. — Lacrey, Notice sur une cause particuli^re de surdite,
inconnue jusqu'ä ce jour, suivie d'observations. Im Joum. compl. du Diction. des
scienc. medic. Paris 1822, T. XIII. — Pinel, Recherches sur les causes de la surdite
chez les vieillards. In Joum. complem. du Diction. des scienc. m^dic Paris 1824»
T. XX. — Goze, Dissertation sur la surdite causde par Tengouement et Tobturation
de la trompe d'Eustache. Paris 1827. — Maurice-Mene,. Entdeckungen Über die
Natur und den Sitz der Migräne und der Taubheit, nebst einer neuen Behandlung
derselben. Uebersetzung nach der 2. Auflage. Leipzig 1837. — Hubert- Valleroux.
Essai thcorique et pratique sur les maladies de l'oreille. Paris 1846.
Deutschland.
Während in Frankreich durch die Arbeiten Itards und Saissys
ein namhafter Fortschritt in der praktischen Ohrenheilkunde angebahnt
wurde, erfuhr die Otiatrie in Deutschland im selben Zeiträume fast gar
keine Förderung. Man beschränkte sich hier darauf, das von den Eng-
ländern und Franzosen überlieferte Material zu sichten und kritisch zu
ordnen. Einen namhaften Umfang erreichte in dieser Periode die Ueber-
setzungsliteratur französischer und englischer Autoren. Später folgten
*) Recherches sur la surdite, considere sous le rapport de ses causes et de son
traitement et de nouvelle methode pour le catheterisnie de la trompe d'Eustache.
Paris 1836.
*■') Bulletin ^renonil de therai). iih'mI. et cliinirt,'. Paris 1837, T. XIII.
^'^*) Gaz. med. de Pari-; 18:^J.
7) Seance de rAcademie d»>s Sciences^. 8 Nov. 1841.
Karl Joseph Beck. 451
Publikationen, die mit Berücksichtigung der Werke fremder Autoren
auch eigene Erfahrungen enthielten und eine Uebersicht über den Stand
der Otiatrie gewährten. Neben diesen gibt es zahlreiche wertlose populäre
Schriften, in denen man die leichte Darstellung und Verständlichkeit der
französischen und englischen Pamphlete vermißt.
K. J. Beck. Za den deutschen Autoren, die sich in den ersten Dezennien
des 19. Jahrhunderts eines besonderen Rufes erfreuten, zählt in erster Reihe Karl
Joseph Beck, der in seinem Werke «Die Krankheiten des Gehörorgans', Heidelberg
und Leipzig 1827, nicht ohne Kritik die Leistungen der bekannteren französischen,
englischen und deutschen Aerzte verwertet und auch die ältere Literatur berttck-
nchtigt Das Buch enthält neben großen Mängeln manches Gute. Tadelnswert ist
die geringe Verwendung des Ohrenspiegels und den Katheters zu diagnostischen
Zwecken. Becks Einteilung der Ohraffektionen krankt noch an dem Einfluß der
damals zur Neige gehenden naturphilosophiscben Richtung in der Medizin. Die uns
heute undenkbar scheinende Einteilung der Ohraffektionen nach einzelnen Symptomen
all Krankheitsgruppen, muß um so mehr befremden, als die Monographie Becks
in eine Periode fällt, in der sich bereits realere Anschauungen in der Medizin geltend
machten. Des historischen Interesses halber lassen wir eine Skizze der Klassifikation
Becks folgen.
Die Monographie zerfällt in drei Bücher. Das erste umfaßt die Untersuchungs-
lehre, Heilmittellehre und Operationslehre, Prothesis und Kosmetik. Der zweite
pathologische Teil besteht aus der Patbogenie und pathologischen Anatomie, das
dritte Buch ist der speziellen Darstellung der Obrenkrankheiten gewidmet. Diese
teilt Beck wieder in zwei Hauptabteilungen, nämlich in die „dynamisch-organischen
und in die mechanischen Störungen". In die erste Klasse reiht er die Krankheiten
des plastischen Apparates, die des irritablen Apparates und die des sensiblen
Apparates.
Zur ersten Grup])e zählen: a) Die Entzündungen (Otitis externa, Otitis
interna, Myringitis, Syringitis Eustacbiana). b) Fehlerhafte Sekretionen (abnorme
Ceruminalabsonderung, Otorrhoea externa, Otorrhoea interna, abnorme Sekretion der
Labyrinthflüssigkeit), c) Mangelhafte und perverse Nutrition (Geschwüre, Fisteln,
Garies, Phthisis und Atrophie des Trommelfells, Atrophie des Gehörnerven), e) Neue
Bildungen (Polypen, Pseudomembranen, Konkretionen und Säfteanhäufungen im Ohre).
Die Krankheiten des irritablen Apparates zerfallen in Krampf (Spannung
des Trommelfells) und Lähmung (Erschlaffung der Ohrmuschel und des Trommelfell.
Zu den Krankheiten des sensiblen Apparates gehören: a) Schmerz (Otalgia).
b) Verändertes Empfindungsvermögen (Hyperacusis, Cophosis, Dysecoia, Baryecoia,
Paracusis).
Die mechanischen Störungen teilt Beck ein in: abnorme Kohäsion
(Verengerung und Imperforation des Gehörganges, Verschließung der Eustachischen
Ohrtrompete); abnorme Trennung (Wunden); fremde Körper (mit und ohne
Verwundung).
Joseph Frank bespricht im zweiten Teile seiner ^Praxeos med. universae
praecepta 1821* (Vol. 11, Sect. I, p. 877) ausführlich die Krankheiten des Ohres. Ohne
Rücksicht auf die wertvollen Leistungen der französischen Aerzte, artet seine Dar-
stellung in subtile Systemsucht aus. So teilt er die Entzündungen ein in traumatische,
katarrhalische, metastatische, konsensuale, arthritische, skrofulöse, venerische, ¥on
denen jede eine spezielle Behandlungtimethude erfordere. Als Krankheiten der
Membr. tymp. finden neben Exkreszenzen , Verdickung, Entzündung, Ruptur,
452 Joseph Frank.
£ro8ion, auch zu große Spannung und Erschlaffung, und Prolaps Erwähnung. Des-
gleichen werden als eigene Krankheitstypen „vitia ossiculorum auditus nee non
foraminis tum ovalis tum rotundi*, , Hydrops acutus*", ^Suppuratio et caries cavi
tympani" beschrieben. Otalgie und Ohrentönen gelten als selbständige Krankheits-
formen. Fast nirgends finden wir in Franks Darstellung diagnostische Anhalts-
punkte zur Erkenntnis der von ihm aufgestellten Krankheitsformen.
Auf einer recht niedrigen Stufe stehen auch die , Aphorismen über Ohren-
krankheiten* von Joseph Ritter v. Vering*). Allerdings macht das Schriftchen
keinen Anspruch auf Originalität, doch sind auch die für die Praxis mit Nutzen
verwertbaren Erfahrungen anderer nicht berücksichtigt. Von einer objektiven Dia-
gnostik ist keine Spur. Der Ohrenspiegel wird kaum erwähnt, dagegen empfiehlt
V. Vering den unpraktischen dreifach gekrümmten Katheter Saissys, trotzdem
der praktisch anerkannte Katheter Itards länger als ein Dezennium bekannt war.
Von dem Werte der Aphorismen v. Verings m'öge folgende Stichprobe zeugen. So
heißt es p. 40: ,Die Leber steht zur Gehörfähigkeit in einem wichtigen Wechsel-
verhältnisse, demnach auch bei Leberleiden und Krankheiten der Gallenblase Schwer-
hörigkeit häufig beobachtet wird." und p. 48: , Kranke, welche mit Leber- oder
Milzanschoppung behaftet sind, werden auf dem rechten oder linken Ohre schwer-
hörig.**
Von den um diese Zeit erschienenen zahlreichen Dissertationen und Abhandlungen
sind zu erwähnen: Kranz^)^May'), Wilpert'), Ball*), Eschke'^), Heilmaier®),
Meißner^), Mürer«), Ehrharter»), Reye^^), Sanocki*^), Ohlhauth^*),
Mischke"), LobethaP*), Wever"), Würl") und Schleip»').
') Jo. Gust. Kranz, Diss. inaug. med. de surditate in genere et de methodis
medendi operationibusqne, quibus medicina et chirurgia auditum deficientem restituere
valet. Halae 1810. — *) Jos. May, Diss. inaug. med. de cophosi et baryecoia.
Vindob. 1812. — *) Diss. de morbis quibusdam organi auditus. Dorpati. — *) Dis^.
de aure humana et ejus morbis. Edinb. 1815. — ^) Carl Adolph Eschke, Diss.
inaug. med. de auditus vitiis. Berolini 1819. — ^) Diss. de morbis quibusdam organi
auditus. Landishuti 1824. — ^) Diss. de auditus diminutione et abolutione. Bero-
lini 1825. — ^) J. C. Mürer, De causis cophoseos surdo-mutorum indagatu difficilibus.
Hafn. 1825. — ^) Diss. inaug. med. de morbis organorum auditus. Vindob. 1825.
— ^^) Ed. Theod. Reye, De auditus diminutione. Gott. 1826. — ") Diss. de
morbis auditus. Cracoviae 1829. — *^) Chr. Ohlhauth, De organi acustici vitiis.
Wirceburgi 1829. — ^^) Diss. sistens historiam baryecoiae cura Louvriana sanatae,
adnexa contemplatione baryecoiae epicritica. Prag 1830. — ^*) Conspectus morborum
auris humanae. Berol. 1883. — ^^) Diss. inaug. med. chir. sistens observationes de
cophosi et baryecoia congenita, annexis. notaminibus physiologicis de functione tubae
Eustachianae. Friburgi Brisgoviae 1885. — ^®) Alfred W^ürl, Diss. inaug. med.
sistens synopsin nosologicam dysecoiarum juxta Swediauri taxptx-riv dispositam. Prag
1835. — *') Inauguralabbandlung über einige krankhafte Zustände des Gebörs. Er-
langen 1832. Selbständige Abhandlungen lieferten: J. Heller, Verhandeling over de
Doofheid. Amsterdam 1805 und Ernst Adolf Eschke, Kleine Bemerkungen über
die Taubheit. Berlin 180t).
Von den populären Schriften, die in den meisten Fällen dem Zwecke nichts
weniger als entsprachen, wären zu erwähnen: C. J. B. Ettmüller, Von den Krank-
heiten des Ohres und damit verbundener Harthörigkeit. Eine Haustafel für alle
*) Jos. Ritter v. Vering, Aphorismen über die Ohrenkrankheiten, Wien 1884.
Litcrmnxr m d-a- er«*« Hi'frr >■» l\*. .'A*:.rr.ur.i<rL- «r ;
Stande. Lflbben leOä. — J:-- MilfA-.::. lV:<r die P£rc? It?* «.tti^r^rciiö^ I=i
Genindheitt-TucfaenbBeh für cAsJ-ir Is^ri W.en 1^»>2 — vi. W Pfiac*:^». l>^
merknngeii nnd Beobacfarziurrs --.^r v»Thrr 'rfüil. T*cVcr;:. de res Arw<^::huiii:tr
Toneinander nnd aber efni^ rr»:::rz -zzd Hrilsiinrl der '.r:iirr*t:. A*:ct^ l>ll.
— Lndw. Heiner. Die Knnk£?nrs d-rs «.»hres -ürd Gehörs cvier Hi'.rV ur,.i Ka: ft;r
alle diejenigen, welche öch ein czi'r* zri feiür* Oeh-'r und Frh'.er vicwclt-tr. :n .>::en
vorbeugen wollen. Leipzig l*iv — '»:'r. Wilh. Becker. Gcter Ka: tur TAuVe
und Schwerhörige. Leip. IriT. — Jvh. Chr. Lui. Rirde:. Tel-er die Kr.)t:khe:i<n
des Ohre» und Gehöret etc. Ein N^:- ini H:'.f*büch!ei= :1är .i'/.r •Srh^rkr^iike.
Leip. 1832. Guter Bat für .^« r^rr'LTri-re u=i Täi:»r. .-der lir Trsäcr-e und B«*-
handlang der Taubheit nebst einmi neuen V-r:.irrr2. l-^tehrcJ in a-.-r Anwenduni?
dea Katheter« bei der EustacbiKcm Tr:rr.r-:r. — K iuär i Sc*. n.i 1 .-. l'eVer die
Erhaltung dea Gehörs, c-der da« Wi: >::::-> -":-r ie:. Bj : und -iie Vervii^r.Tunj: de*
Gehörorgans, über die Krankhri'Tn ie? V'hr-ri ::n'i «.»e:;vr?. \:\ rr die Verhütunc der-
selben, ober da« dab«i zu t-e^-r a;c:'r- ie V-rr.a!:ec imd ül-rr div vjv.-ücÜciicn HC^i^
maschinen. Für Gebildete •■earJ-ri:'.-:. Drc*.:'-:: uni Lri; ris; IS^T. — Kur:»* Gesohiohxo
nnd Statistik der Taul'stuninirnj-r-sTältrr- ::zi3l d- s T.:v.l>tu::.n:tn;:nt» vrv.litos noM
ärztlichen Bemerkungen. Drrr-sirn l^Z-\ — KjiViche Ar.'.t-ituni:. iiio l'äuMuir.iVibeit
in den ersten Leben-jahren zu •rken!.'-:: u:: i :i:Ty.:ch«t 7u veihütm. Dresden und
Leipzig 1540. — Erfahruntren üi-cr '.ii».- Kr.iiikhr:tvii ^ir> «irr.-Ts und il.ro lltMlun^c
Leipzig 184*5. — Ueber d»rn \Wr •■Lre.iiirzt'.:- h-r Kriah runter.. Dresdou 1<4T. —
Beiträge zur Gehör- und Sj-ra !.J.»::'.kuL«l-. L^riiziiT 1*^4?.
Ziemlich umfangrrii.-h :?t -iie LitriMt ir . w.-lche ^ t* < t i iiiiu 1 1* A 1» s c ]i n i 1 1 e
des Gehörorgans in ^ptTzialrciirifttii 1>ehandtrlt. Ein proiier T-il lier^elbt-n findet
sich zerstreut in den zeit Ken« "STi schurr. Z^rit- hrir'ten und Kiizyklop"uiirn. So schrieben:
ü e b e r < » h r e n l z ü n d 11 n :: r !i : F; a ^r li r r- n - . L ;i d. C a r c» I . Hon r.. Diss. iiuui^c.
med. de otorrhoea. Halae IS 17. — S c ii i e :r t e n il a I . J . • li. V v v ö.. Di», inau»;. me»i.
de otitide. Halae 1^31. — Malatides Daiii»!. Traitatiis de otaljria. sin^ula
doloris aurium genera. etc. Vi»rnnae l-^iO. — K rucken lierc. Die i'hrcm'nt/Ün-
dnngen. (Linckes Sammluniji \^'2A. — Schwarz. Ueber ^iie Ohreiunt/inulun); der
Kinder. (Linckes SammlunL" l^'lb. Hoff mann. Heinr. . Otorrlioe.» cerebralis
primaria. (L i n c k e s Samiuhinir' 1 "^JT. — W i 1 1 e m i e r . » i u i 1. A u i:. Felix K^ u a r i n..
Specimen anat. pathol. inau^r d^ utörrhoea atijuc de varii- moiiis. q;iihus |»us ofthiere
et quorsum delabi soleat. Tiaj. a-l Rh»/M. 1**3"». — Allurs. .1. W 11.. Die lUorrhoea
cerebralis. Journal der Chir. unil Auirenhvilkuiidc. IM. •_*">. IVrl. \^:\1.
Ueber Krankheit e n •!••.< ä u li cm «>li res: L .'• f fl er. Kr.. \ «^n den Krank-
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Kaum mehr als bloß didaktische Bedeutung läßt sich den ohren-
ärztlichen Kompendien von H. Breßler, Gust. v. Gaal und Martell
Frank zuerkennen.
H. Breßler. Die Schrift Breßlers, «Die Krankheiten des Seh-
Gaal. Martell Frank. 455
und Gehörorgans'', Berlin 1840, erweist sich als eine nach englischen,
französischen und deutschen Vorlagen zusammengestöppelte Kompi-
lation, in der der Verfasser auch nicht den geringsten Versuch macht,
eine eigene Ansicht zu vertreten. Die OhrafFektionen werden in vier
Oruppen eingeteilt, nämlich Entzündungen, Ohrflüsse, nervöse Leiden
und mechanische Störungen. Von Entzündungen werden beschrieben:
die katarrhalische und „phlegmonöse*" innere Ohrentzündung, dieMjringitis,
die Syringitis, die erysipelatöse und phlegmonöse Otitis externa, die Ent-
zündung der drüsigen Haut und der Knochenhaut des Gehörganges, die
erysipelatöse, skirrhöse und Zellgewebsentzündung der Ohrmuschel. Der
,iOhrenfluß** zerfallt in die äußere und innere Otorrhöe. Als Nerven-
affektionen werden Otalgie, «nervöse Schwerhörigkeif* und Paracusis
Aufgezählt. Zu den „organischen" Krankheiten rechnet Breßler die
Verengerung und Verschließung, die krankhafte Erweiterung und Polypen
des Gehörganges, die Verdickung, Zerreißung und Polypen des Trommel-
fells, die Verstopfung, Verengerung und Verwachsung der Tuba Eust.
Ganz flüchtig wird der pathologischen Zustände des Labyrinths gedacht,
mit der Motivierung, daß dieselben zwar anatomische aber keine prak-
tische klinische Bedeutung besäßen. Zur Gruppe der „mechanischen
Störungen* gehören endlich Anhäufung von Cerumen und Fremdkörper.
Die Vermengung rein symptomatischer BegriflFe mit oberflächlichen,
großenteils willkürlichen anatomischen, wie sie in der erwähnten Einteilung
hervortreten, benimmt der Schrift jeden Wert.
Gustav V. Gaal. Etwas hoher ist jedenfalls der Wiener Arzt
Gustav V. Gaal zu stellen, der in seinem Lehrbuch „Die Krank-
heiten des Ohres und deren Behandlung*", Wien 1844, die Anatomie
weit mehr berücksichtigt und den Untersuchungsniethoden größeren
Raum zuweist. Es erklärt sich dies daraus, daß v. Gaal seine Kompi-
lation mit einer gewissen Auswahl nach den besten französischen, eng-
lischen und deutschen Quellen verfaßte und insbesondere Wharton Jones
zum Wegweiser nahm. Eine gewisse Selbständigkeit verrät er darin,
daß er auch eigene Krankengeschichten mitteilt und auf Grund dieser
hie und da zu Urteilen gelangt, welche von denjenigen der Vorgänger
abweichen. Die Zahl der Krankheitsbilder, welche v. Gaal nach ana-
tomischen Gesichtspunkten vorführt, ist viel größer als bei Breßler,
doch teilt er mit diesem die äußerst lückenhafte Darstellung der Lal)}Tinth-
affektionen, von denen er nur die Paracusis (Ohrtönen, Doppelthören),
die Hyperacusis und nervöse Taubheit kennt. Hinsichtlich der Taub-
stummheit zählt er eine Reihe von pathologisch-anatomischen Befunden
auf, welche mit derselben in Zusammenhang gebracht worden sind.
Martell Frank. Das ein Jahr später erschienene Werk des Würz-
burger Arztes Martell Frank «Praktische Anleitung zur Erkenntnis
456 Kramer.
und Behandlung der Ohrenkrankheiten" (Erlangen 1845) zeigt manche
Vorteile, sowohl was die Gruppierung des Stoffes, als auch was die Dar-
stellung anlangt. Für die damalige Zeit war es, soweit die Bedürfnisse
des praktischen Arztes in Betracht kamen, jedenfalls ein guter Leit-
faden. Der Verfasser stützte sich zwar größtenteils auf Kramer und
die französischen Autoren, verwertete aber auch die neueren anatomi-
schen Erkenntnisse, z. B, Toynbees erste Arbeiten und läßt an vielen
Stellen durchblicken, daß ihm eigene Erfahrung keineswegs fehle ; wegen
der zahlreichen Zitate besitzt das Buch noch heute einigen literarhistori-
schen Wert. Es zerfällt in einen allgemeinen und in einen speziellen
Teil. In dem ersteren wird zusammenhängend, in sehr übersichtlicher
und leichtfaßlicher Weise die Symptomatologie, Aetiologie, Diagnostik,
Prognostik und otiatrische Therapie besprochen. Im speziellen Teile
finden die einzelnen Ohraffektionen eine dem damaligen Standpunkt ent-
sprechende Darstellung nach anatomischen Gesichtspunkten. Unter den
therapeutischen Methoden ist der Indikation der Perforation noch ein
weiter Spielraum eingeräumt. Die zahlreichen Abbildungen, welche
dem Buche beigegeben sind, beleben die Darstellung in hohem Maße.
Daß die Labyrinthaffektionen verhältnismäßig sehr stiefmütterlich be-
dacht sind, kann nicht überraschen, wenn man erwägt, daß noch recht
spärliche pathologisch-anatomische Grundlagen bekannt waren, und der
Verfasser daran festhielt, seine Ausführungen mit Hintansetzung jeder
Spekulation nur auf sicher erwiesene empirische Fakten zu stützen.
Wilhelm Kramer*). Eine Sonderstellung in der deutschen otiatri-
schon Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen die
Schriften W. Krämers ein. Ohne Anlehnung an seine Vorgänger, ja
im Schürfern Gegensatze zu diesen ist er, gestützt auf langjährige Er-
fahrung, bestrebt, die Ohrenheilkunde nach eigenen Gesichtspunkten auf-
ssuhauen. Die Schärfe und Konsequenz, mit der er seine Ansichten ver-
focht, trug(Mi dazu bei, seinen Lehren nicht nur in Deutschland, sondern
auch in England und Frankreich, durch nahezu vier Dezennien autori-
tative Geltung zu verschaffen. Ein heftiger Gegner der pathologischen
Anatoniie, mußte aber sein auf symptomatischer Grundlage aufgebautes
SyKb^it) "*'*^ ^*'**" Aufblühen der modernen Otiatrie zusammenbrechen,
und mit hedauern sehen wir, wie Kramer noch zu Beginn der Sech-
litforjalin» g<^g«n die auf anatomischer Basis sich neu reformierende
Otiiiirio in lu^ftigen Wutausbrüchen zu Felde zieht. Trotz der großen
Mliug«'!« «'»'* *'*^'* W'erk Kram er s aufweist, muß doch zugestanden werden,
(laß «''* •*'* Wertvollem vieles enthält, was wir bei den Vorgängern
Kriintov* vermissen. Insbesondere ist es seine Symptomatologie, die
*) iJoliüron in Halberstadt 1801. (testorben in Berlin 1875.
Krämer. 457
seinem Werke einen bleibenden Wert verleiht, trotzdem er oft die Krank-
heitserscheinungen für die Diagnose unrichtig verwertet. Wir dürfen
nur auf die klassische Schilderung des klinischen Bildes unserer jetzigen
Otosklerose hinweisen, die Kram er in die Gruppe der nervösen Schwer-
hörigkeit einreiht. Als besonderes Verdienst muß es Kr am er ange-
rechnet werden, daß er in Bezug auf die Therapie rücksichtslos und
offen mit allen Traditionen der Vergangenheit brach und dadurch eine
nüchterne Beurteilung der Behandlung der Ohrenkrankheiten anbahnte.
In der Einleitung seines Hauptwerkes *) unterwirft K r a m e r die Leistungen
seiner Vorgänger und Zeitgenossen in scliarfer Polemik einer herben oft ungerechten
Kritik. Er versucht den Nachweis zu erbringen, daß die Kenntnis der Anatomie
und Physiologie und noch mehr der pathologischen Anatomie des Ohres zu lücken-
haft sei und daß sie dem Praktiker zu geringe Anhaltspunkte für sein therapeutisches
Wirken liefere.
Die beiden Kapitel über Prophylaxe und Symptomatologie enthalten
manche auf Erfahrung basierende, nützliche Winke.
Hingegen ist der Abschnitt über die Prüfung der Hörfähigkeit sehr
mangelhaft, indem er als einzig zuverlässigen Hörmesser eine nicht zu schwach
tickende Taschenuhr empfiehlt, ohne sich der jetzt so wichtigen Stimmgabel-
prüfung zu diagnostischen Zwecken zu bedienen.
Nach einem kurzen, nicht wesentlich Neues enthaltenden Exkurs Über das
»Ohrentönen* wendet sich Kram er der BesiDrechung der Häufigkeit der Ohrer-
krankungen und ihrer Aetiologie zu. Die Häufigkeit der Ohraffektionen sei in
dem schutzlosen Bau des Ohres und in der geringen Blutversorgung des Organs zu
suchen. Bezüglich der Aetiologie sagt Kram er, daß er sich nach langjähriger
Praxis „von der Unmöglichkeit überzeugt habe, in den bei weitem meisten Fällen
von Obrenkrankheiten deren wahre Ursachen aufzufinden, und selbst die wirklich
aufgefundenen Ursachen mit Erfolg zur Begründung von vernünftigen Heilanzeigen
zu benutzen**. Mit Unrecht tadelt er die Aerzte, die gewisse Ohrenkrankheiten
als Resultat allgemeiner Erkrankungen (Lues, etc.) ansehen. Er hält sich vielmehr
berechtigt, in der bei weitem größten Mehrzahl der Fälle von Ohrenkrankheiten die
sog. Krankheitsursachen, als unserer Erkenntnis ganz unzugänglich, nicht zum
Gegenstande ängstlicher Nachforschung zu machen, und selbst da, wo die Veran-
lassung, z. B. Erkältung, ganz unzweifelhaft feststeht, nicht sie selbst, sondern ihr
organisches Produkt, Entzündung des Trommelfells u. dgl., zur Basis der Heilanzeigen
zu machen. Kram er ist geneigt, als unzweifelhaftes ätiologisches Moment eine
Heredität bei Ohrenkrankheiten anzunehmen, da die Anlage sich vererben könne,
was insofern von prognostischer Bedeutung sei, als sie auf ungewöhnliche Hartnäckigkeit
der jedesmaligen Ohrenkninkheit schließen lasse.
Nach Besprechung des Verlaufs und der Prognose der Ohrenkrankheiten,
die er im allgemeinen als eine ungünstige bezeichnet, wendet sich Kram er der
Behandlung der Ohraffektionen zu. Er empfiehlt diejenige Therapie als einzig
richtige, welche sich nach dem jeweiligen, durch Ohrenspiegel, Uhr, Katheter etc.
eruierten Ohrenbefund richtet und erst in zweiter Linie event. Allgemeinerkrankungen
berücksichtigt. Er tadelt streng die zu seiner Zeit übliche Allgemeinbehandlung,
welche die lokale Untersuchung des Ohres vernachlässigt und gibt eine ziemlich
Die fh-kenntnis und Heilung der Ohrenkrankheiten. Berlin 1849.
458 Krämer.
ausführliche kritische Uebersicht der zu seiner Zeit gebräuchlichen Örtlich allgemein
wirkenden Heilmittel (Elektrizität, Galvanismus, Mozen, Vesikantien, GlQheisen, Fon-
tanellen), die er bis auf wenige Ausnahmen verwirft. Blutegel empfiehlt er nur bei
den entzündlichen Affektionen.
Dem scharf betonten Standpunkt entsprechend, daß die Ohrenaffektionen
durchaus lokaler Natur seien, verschmähte Kr am er den Gesamtorganismus mit
, allgemein" wirkenden Heilmitteln zu belasten und bediente sich ihrer höchstens
als Adjuvantien. Zu der zeitgenössischen Therapie zählten die russischen Bäder,
See-, Fluß- und Wellenbäder, warme Bäder, Schwefel-, Stahl-, Kräuter-, Laugen-,
Salzbäder .etc. , femer Brech- und Abführmittel, Hunger-, Speichel-, Schmierkuren
und andere Mittel, welche vom Zentrum aus wirken sollten, wie Valeriana, Arnika,
Ambra, Cupr. sulf. u. s. w. Mit all diesen Heilschätzen räumte er in radikalster
Weise auf. um sich ganz und gar einer nüchternen lokalen Therapie zu widmen.
Im klinischen Teile des Kram ersehen Werkes wird zuerst eine Anzahl
Krankengeschichten mitgeteilt und dann die betreffende Krankheitsform zusammen-
faesend besprochen.
Der spezielle Teil des Buches behandelt im ersten Kapitel die Krank-
heiten des äußeren Ohres, die Kramer wieder in die Krankheiten des Ohr-
knorpels, des äußeren Gehörgangs und des Trommelfells einteilt. Während er
seine Pathologie auf klinische Symptome gründen will, sehen wir hier im Gegen-
teile die Krankheiten der Ohrmuschel und des äußeren Gehörgangs ganz ungerecht-
fertigterweise auf anatomischer Basis eingeteilt. Nach Kram er unterscheidet man
eine Entzündung 1. der Oberhaut; 2. der Lederhaut; 3. der Zellhaut und 4. der
Knorpelbaut. Jede einzelne dieser Abteilungen wird wieder in eine akute und in
eine chronische Form geteilt.
Was die Erkrankungen des Ohrknorpels anlangt, so ergibt der geschilderte
Befund, daß die Entzündung der Lederhaut Kramers identisch ist mit
unserem Erysipel und die chronische Entzündung mit unserem chronischen nässenden
und schuppenden Ekzem der Ohrmuschel.
Als Entzündung der Knorpelhaut wird die Perichondritis auriculae
und das Othämatom beschrieben. Das letztere hat Kram er merkwürdigerweise
während einer mehr als 46jährigen Praxis kein einziges Mal beobachtet Seine
Darstellung entnimmt er den Arbeiten des Psychiaters Franz Fischer*). Da dieser
in der Ohrblutgeschwulst neugebildeten Knorpel und Knochen platt eben gefunden hatte,
nahm Kramer an, daß es sich um einen entzündlichen Prozeß handle, weshalb er
die Erkrankung auch als Entzündung der Knorpelhaut des Ohres beschrieb.
Zur Besprechung der Krankheiten des äußeren Gehörgangs über-
gehend, gibt er eine Beschreibung seines Ohrenspiegels, der nur eine Modifikation
des Spekulums des Fabricius Hildanus darstellt Alle anderen zur Unter-
suchung des Gebörgangs und des Trommelfells empfohlenen Spekula werden als
unbrauchbar verworfen. Das Spekulum Kramers ist ein seiner Länge nach in
zwei Arme gespaltener metallener Trichter. Beide Hälften sind an ihrem oberen
Rande mit zwei durch ein Schloß vereinigten Zangenarmen verbunden. Sonnenlicht
wird der künstlichen Beleuchtung vorgezogen. Für letztere bedient er sich einer
Argand sehen Lampe mit einer abgeblendeten Oeffnung im Glaszylinder, von der
aus das Licht durch eiiiiv TfAlilflnieirel in den Gehörgang reflektiert wird. Zur Kon-
zentration de» W' • Bohr angebrachte Sammellinse. Die An-
wendimg ^^ ken wird verworfen.
^rten. Allgm. Zeitschr. f. Psychiatrie
Tafel XXXI
WILHELM KRAMER
Kramer. 459
Von den Krankheiton des äußeren Gehörgangs wird die Ent-
zündung der Oberhaut erwähnt. Als ihr Produkt betrachtet er die patho-
logische Anhäufung von Gerumen. Die Therapie stimmt im wesentlichen mit
unserer jetzigen überein. .Das Wesen unserer Krankheitsform/ sagt Kr am er,
«ist unzweifelhaft eine entzündliche Reizung, von welcher die Oberhaut des Gtohör-
ganges ergriffen wird, wodurch die darunter liegenden Ohrenschmalzdrüsen sympa-
thisch zu vermehrter Absonderung eines entarteten Ohrenschmalzes angeregt werden/
Als Ursache der Entzündung bezeichnet er Erkältung hauptsächlich nach kalten Bädern.
Die , Entzündung der Lederhaut* des Gehörganges ist unsere Otitis ex-
terna diffusa acuta, während das Bild der chronischen Entzündung unserem
chronischen juckenden Ekzem des äußeren Gehörgangs entspricht. Hieran schließt
sich eine Besprechung der Fremdkörper im Ohre, von denen er behauptet, daß
ihre Entfernung stets durch bloßes Ausspritzen gelingt. „Niemals aber sind mecha-
nische, noch so sinnreich ausgedachte Hilfsmittel zur Entfernung fremder Körper
aus dem Gehörgange zu rechtfertigen." Unsere Otitis externa furunculosa
nennt er Entzündung der Zellhaut des Gehörganges und behandelt sie mit heißen
Breiumschlägen von Hafergrütze, Oel, Speck, Blutegel etc., ohne die wirksame In-
zision des Furunkels zu empfehlen. Endlich beschreibt er unter dem Titel Entzün-
dung der Knochenhaut des Gehörganges einige Fälle vonCaries, Polypen und
Fisteln, sowie Stenosen und Atresien des äußeren Gehörgangs, ohne ihr
häufigstes Grundleiden, die chronische Mittelohreiteruug. zu erkennen.
Im dritten Abschnitte des ersten Kapitels beschreibt Kram er die Krank-
heiten des Trommelfells. Unter diese subsumiert er irrtümlich alle Erkran-
kungen, welche nach moderner Auffassung sowohl die primären als auch die häufigeren
sekundären, durch Entzündungsprozesse des Mittelohrs bedingten Veränderungen der
Membran betreffen. Er rangiert somit eine große Gruj)pe akuter und chronischer
Mittelohrentzündungen unter den Begriff ^.Entzündung des Trommelfells*.
In der Rubrik „Akute Entzündung des Trommelfells* beschreibt Kramer
Krankheitsbilder, die wir heute als milde Formen der Otitis med. acuta simpl. und
suppurativa deuten müssen. Auch die in vielen Fällen im Anschlüsse an traumatische
Perforationen entstehende Entzündung faßt er als isolierte Erkrankung des Trommel-
fells auf Mit der ihm eigenen Heftigkeit wendet er sich gegen die Behauptung
Wildes, <laß an der eitrigen Entzündung stets auch die Trommelhöhle und die
Warzenfortsatzzellen beteiligt seien. Geschwüre des Trommelfells, die vor ihm von
zahlreichen Autoren beschrieben wurden, hat Krämer nie gesehen und er betont
mit Recht, dali in den Fällen mit Substiinzverlust stets alle drei Schichten des
Trommelfells durchbrochen seien.
Zur Heliaiidlung empfiehlt er antiphlogistische und zerteilende Mittel (Um-
schläge, Oel. Blutegel etc.).
Der zweite Abschnitt ^C'hronische Entzündung des Trommelfells*
enthält die verschiedenen Formen der Otitis med. suppur. chron. Er unterscheidet
die einfache chronische Entzündung, die Entzündung mit Polypenbildung, die Ent-
zündung mit Perforation und die mit Erkrankung der Trommelhöhle, der Hirnhäute
und Hirnsubstanz komplizierte Entzündung. Kr am er ist in dem Irrtum befangen,
daß auch in diesen Fällen das Trommelfell der Ausgangspunkt der Erkrankung sei.
Er spricht seine Ansicht so dezidiert aus, daß wir uns nicht versagen können, seine
eigenen Worte zu zitieren: „Leidet die Schleimhaut der Trommelhöhle bei durch-
löchertem Trommelfelle mit, so ist die> die natürliche, wenn auch nicht immer not-
wendige Folge der durch das Loch im Trommelfell zur Trommelhöhle eindringenden
kalten, reizenden, atmosphärischen Luft.*
460 Kramer.
üeber die einfache chronische Entzündung des Trommelfells (d. h. die un-
komplizierten Formen der chronischen Mittelohreiterung) bringt Kr am er nichts
Neues. Er betont das häufige Zurückbleiben von Verdickungen des Trommelfells
und wendet sich gegen die in diesen Fällen häufig angewendete Durchbohrung des-
selben. Irrtümlich hält er die Perforation des verdickten Trommelfells für technisch
unausführbar.
In dem Abschnitte über die chronische Entzündung des Trommelfells
mit Polypenbildung bespricht er ausführlich die verschiedenen Formen der Polypen,
die er nur nach ihrer Konsistenz unterscheidet, während er in der Annahme, daß
sie sämtlich vom Trommelfelle ausgehen, ihren Sitz vollständig unberücksichtigt läßt.
Das so häufige Vorhandensein von Cholesteatom bei den mit Polypenbildung einher-
gehenden Ohreiterungen ist ihm vollständig unbekannt. Die Entfernung der Polypen
geschieht durch Wegätzen mittels des von ihm angegebenen und in seinem Buche
(Fig. 3) abgebildeten Aetzsteinträgers (befestigte Lapisstifte), oder durch Abschnüren,
oder endlich durch Abschneiden mit dem ebenfalls von ihm angegebenen und abge-
bildeten Messerchen (Fig. 5 a, b).
Die dritte Abteilung (chronische mit Perforation verlaufende Entzündung des
Trommelfells) enthält die schon in der ersten Gruppe beschriebenen unkomplizierten
Fälle von chronischer Mittelohreiterung, bei denen eine deutliche, scharf abgegrenzte
Perforation im Trommelfell besteht. Als viert« Gruppe der chronischen Entzündung
des Trommelfells endlich werden alle komplizierten Formen von Otitis med. supp.
chron. , die Caries des Schläfebeins, sowie die cerebralen Erkrankungen otitischen
Ursprunges: die Meningitis purulenta, der Kleinhirn- und Schläfelappenabszeß zu-
sammengefaßt. Angaben über Diagnose und Differentialdiagnose dieser Prozesse ver-
missen wir in dem Buche Kramers. Ganz unbekannt scheint ihm das klinische
Bild der typischen otogenen Sinusthrombose und Pyämie gewesen zu sein. Die
Ursachen der otitischen Komplikationen sind nach ihm in der Perforation des
Trommelfells zu suchen, durch die äußere Schädlichkeiten gegen die tieferen Teile
eindringen können.
Die von Kram er angegebene Behandlung der eitrigen Ohrprozesse ist selbst in
den schweren, mit Abszeß im Warzenfortsatz kombinierten Fällen eine konservative.
Sehr richtig ist die am Schluß dieses Kapitels angefügte Bemerkung Kramers.
daß der Ohrenfluß nur als ein Symptom, nicht aber als selbständige Krankheitsform
im Sinne „Itards s.amt allen seinen Vorgängern und Nachfolgern* aufgefaßt wer-
den dürfe.
Das zweite Kapitel des Kram er sehen Werkes enthält die Krankheiten
des mittleren Ohres, d. i. der Ohrtrompete und Trommelhöhle mit allen im
Mittelohre enthaltenen Organteilen. Die Schilderung der einzelnen Abschnitte dieses
Kapitels umfaßt: die Entzündung der Trommelhöhlenschleimhaut mit krankhafter
Schleimansammlung oder mit Verengerung oder Verwachsung der Tube; die Er-
krankung der sensiblen Nerven der Trommelhöhle und den nervösen Ohrenschmerz.
Wie .i,rerin«j:scliätzi<; Krämer pathologisch-anatomische Befunde für die Ent-
wicklung unseres Faches wertete, ])eweist foli^ender Aussprucli: „Verwachsung des
Stcigbü^'cK in der Fcnestra ovalis, Verknorpelunt^, P^ntartung der Haut des runden
Fensters und ähnliclie Karitiitcn geliören in die anatomische Pathologie, doch nicht
in die Ohren li e i I k u n d c, da solch«' Strukturveränderungen am Lebenden weder
erkannt noch beliaiulclt werden könn»'n."
Die I]e<pre(liung der ,Knt zun düng der Schleimhaut des mittleren
Ohres"" wird mit der Darstelhmg (lc> Katheterismus tubae eingeleitet. Kram er
gibt eine nodi jet/t virllath Licbräucliliche Methode an. Seine Silberkatheter sind
Kramer. 461
den jetzt benüzten ähnlich. Als anatomischen Anhaltspunkt benützt er den hinteren
Tubenwulst, über den er den nach außen leicht gedrehten Katheterschnabel zurück-
zieht, worauf dieser meist von selbst in die Tubenmündung einschnappt. Die richtige
Lage des Instrumentes erkennt er daraus, daß die mit dem Munde eingeblasene Luft
leicht bis ans Trommelfell durchströmt. Man hört dieses Einströmen deutlich, .rein,
frei und leicht ohne Schleimbrodeln ". Klingt der Luftstrom aber .matt* und gelingt
es nur mit Anstrengung, Luft durch den Katheter zu blasen, so hat man sich
noch mittels der Luft presse von der Durchlässigkeit oder Undurchlässigkeit der
Tube zu überzeugen. Ist diese frei, höi*t man bei direkter Anlegung des eigenen
Ohres an das Ohr des Patienten beim OefFnen der Luftpresse die Luft brausend und
rauschend einströmen. Hört man nichts, so liegt entweder der Katheter nicht in
der Tubenmündung oder der Tubenkanal ist un durchgängig. Zur genaueren Fest-
stellung des mechanischen Hindernisses bediente sich Kr am er der Einführung
von Darmsaiten durch den Katheter bis in die Trommelhöhle, ja sogar bis an die
innere Fläche des Trommelfelles. Er empfiehlt, möglichst enge Katheter anzuwenden,
um ein Umbiegen der Bougie bei ihrem Heraustreten aus dem Katheter unmöglich
zu machen. An der Darmsaite wird die Länge des Katheters markiert und l'/4"
hinter dieser Marke eine zweite angebracht, die die Länge des Kathetei-s und der
Eustachischen Röhre angibt.
Unter der Ueberschrift «Entzündung der Schleimhaut des mittleren
Ohres mit krankhafter Absonderung und Anhäufung des Schleimes"
beschreibt Kr am er nicht nur Fälle, die wir jetzt als sekretorische oder exsudative
Mittelohrkatarrhe bezeichnen, sondern auch Adhäsivprozesse nach abgelaufenen Mittel-
ohreiterungen. Die Diagnose wird ohne Rücksicht auf Trommelfellbefund und Funk-
tionsprüfung aus dem Auskultationsgeräusche beim Katheterismus gestellt, wie über-
haupt detaillierte Befunde über Narben, Kalkflecke am Trommelfelle in dem Buche
Kramers fehlen. Nur stellenweise finden sich Angaben über Abweichungen der
Farbe, des Glanzes und der Durchsichtigkeit der Membran. Bei der Auskultation
hört man die Luft entweder mit schwach feuchtem, schleimig brodelndem Tone,
oder mit entschiedenem Schleimrasseln nach dem Ohre strömen.
Die Therapie dieser Krankheitsgruppe besteht in Katheterismus der Ohr-
trompete, wobei die Luft mit dem Munde oder mittels einer Luftpumpe in das Mittel-
ohr gepreßt wird. Mit dieser Behandlungsmethode will Kramer selbst in ver-
alteten Fällen, nicht nur eine vollkommen normale Hörweite, sondern auch Beseitigung
des lästigen Ohrentönens erzielt haben. Der schon damals vielfach vertretenen
Annahme eines häufigen Zusammenhanges der Mittelohraffektionen mit Erkrankungen
des Nasenrachenraumes wird von Kram er entschieden widersprochen.
Unter dem Titel .Entzündung der Schleimhaut des mittleren Ohres mit An-
schwellung derselben **, die wir jetzt als katarrhalische Adhäsivprozesse im Mittelohre
bezeichnen, beschreibt er Fälle von chronischer hochgradiger Schwerhörigkeit, bei
denen eine starke, durch Bougierung schwer zu überwindende Tubenstenose besteht.
Die Diagnose wird aus den bei der Tubenstenose wahrnehmbaren abnormen Aus-
kultationsgeräuschen gestellt. Die Prognose bezüglich des Gehörs ist meist ungünstig.
Als Therapie empfiehlt Krämer Injektionen von 1 — 2 Tropfen einer Jodkalilösung
in die Ohrtrompete. Gerade in diesen Fällen, bei denen die Bougierung angezeigt
ist, wird sie von Kr am er entschieden widerraten.
Den Schluß der Krankheiten des Mittelohrs bildet das Kapitel «.Entzündung
der Schleimhaut des mittleren Ohres mit Verwachsung der Eustachischen Ohrtrompete*,
in welchem er gegen die bei Tubenatresie empfohlene Durchbohrung des Trommelfells
polemisiert.
462 Kramer.
Der zweite Abschnitt des zweiten Kapitels behandelt die , Reizung der
sensiblen Nerven des mittleren Ohres (Otalgie)*. Kramer schildert
hier nur den bei Zahncaries öfters auftretenden Ohrenschmerz, ohne andere Formen
der Otalgie zu erwähnen.
Das dritte Kapitel enthält »Die Krankheiten des inneren Ohres*.
Nach Schilderung eines Falles von akuter Entzündung des Labyrinths, der
infolge eines Traumas mit einer Stricknadel durch purulente Menigitis letal endete,
und Mitteilung des Sektionsbefundes, wendet sich Kram er der nervösen Schwer-
hörigkeit und Taubheit* zu.
Sehr anschaulich schildert Kr am er in diesem Kapitel Krankheitsbilder plötz-
licher Taubheit und progressiver Schwerhörigkeit, rechnet aber, wie aus den
Krankengeschichten ersichtlich, außer wirklichen Erkrankungen des Hömerven auch
i^lle von Otosklerose, hysterischer Taubheit und traumatischer Affektion des Hör-
nerven und des Labyrinthes zur Nerventaubheit. Namentlich weisen die Fälle, bei
denen er erbliche Anlage annimmt, auf Otosklerose hin. Kram er faßt diese von
ihm als „Nervöse Schwerhörigkeit und Taubheit* bezeichnete Krankheitsform als
primäre Erkrankung des Hömerven auf. Es ergibt sich hieraus, daß K r a m e r von
der schon zu seiner Zeit durch Toynbee bekannt gewordenen Tatsache, daß viele
als nervös bezeichnete Hörstörungen auf Ankylose des Stapes beruhen, keine Notiz
genommen hat. In vorgerückten Stadien dieser «nervösen Schwerhörigkeit* tritt als
häufige und für den Kranken sehr lästige Begleiterscheinung Ohrentönen hinzu. Das
Ohrentönen steigert sich gewöhnlich mit der zunehmenden Schwerhörigkeit und
hält meist kontinuierlich an. Die Diagnose wird jedoch nicht aus diesen subjektiven
Symptomen, sondern per ezclusionem gestellt, wenn bei plötzlicher oder progressiver
Schwerhörigkeit bei der Untersuchung das Trommelfell normal und die Ohrtrompete
wegsam gefunden wird. Charakteristisch für diese Fälle sei, daß nach einer Lufbein-
treibung in das Mittelohr Schwerhörigkeit und subjektive Geräusche zunehmen.
Für das Wesen dieser Erkankung hält Kram er die erhöhte Reizbarkeit und
Schwäche eines oder beider Hörnerven.
Das Prinzip, auf welchem die Behandlung der nervösen Schwerhörigkeit
beruht, besteht nach Kr am er darin, die erhöhte Reizbarkeit der Hömerven zu
beruhigen. Er versucht dies in Einleitung von Dämpfen (von Haferschleim, Gummi
arabic. etc.) durch den Katheter in das Mittelohr mittels eines von ihm konstruierten
Apparates imd behauptet, einige Fälle nach dieser Methode geheilt zu haben, doch
gibt er zu, daß die Therapie meist aussichtslos sei. Im Anhange zu diesem Kapitel
beschreibt Kramer noch mehrere Fälle von »nervösem Ohrentönen ohne
Schwerhöripfkeit".
In einem vierten Abschnitt des dritten Kapitels gibt Kram er eine umfassende
und klinisch gut beobachtete Darstellung der Taubstummheit, in der er mit
scharfer Kritik alle An<raben über angebliche Heilung der Taubstummheit als Täu-
schun<( hinstellt.
Im fünften Abschnitte werden zwei Fälle von „akuter Entzündung des N.
facialis innerhalb des Fallo]». Kanals" geschildert, deren Deutung jedoch wegen
mangelbafter lieobachtiinf:: schwer ist. Der letzte Abschnitt enthält die Kranken-
«reschichte eines Falles von ,Tiil)erkelbildiin<jf im Felsenbein", deren Darstellung es
kaum zweifelhaft erscheinen läßt, dal) hier ein typisches Cholesteatom vorgelegen hat.
Das viert«' Ka])it('l ^Afterj^rebilde in dei- Schädelliöhle, welche den Bau des
Gehöror<,Mns zer^t (h-en**. enthält einii,^» Fälle von malignen Tumoren in der Schädel-
höhle, welche auf da< i lehörorgan ühergrgrifren haben. Die klinische Analyse dieser
nach anderen Autoren zitiert»'n Krankengesehiehten i>t sehr mangelhaft.
Lincke. 463
Das fünfte und letzte Kapitel beschäftigt sich endlich mit den „HOrmaschinen".
Er zählt die große Anzahl der damals üblichen Hörapparate auf und teilt sie ein
in solche, die durch ihre Größe den Schall versi&rken, und in solche, die durch die
eigentümlich vibrierende Eigenschaft des verwendeten Materials den durchgehenden
Schallwellen eine größere Schärfe verleihen. Das künstliche Trommelfell wird von
Kram er nirgends erwähnt*).
■
Gustav Lincke**). In scharfem Gegensatz zu Kramer steht Karl
Gustav Lincke, der bei Anerkennung der neuen Errungenschaften die
Leistungen der Alten sorgfältig sammelte und in seinem umfassenden
Werke bestrebt war, die Erfahrungen der Vorgänger der Vergessenheit
zu entreißen. Gerade in der Zeit, in welcher die Beschäftigung mit
geschichtlich-medizinischen Studien als überflüssig erachtet wurde und
Kram er mit seiner ganzen Autorität die pathologische Anatomie des
Ohres für nutzlos erklärte, ist der rastlose Eifer, den Lincke dem Studium
der alten Literatur widmete, rühmend anzuerkennen.
Der zweite Band von Linckes ^Handbuch der theoretischen und
praktischen Ohrenheilkunde** enthält in kurzen Umrissen das Ergebnis
der gesamten älteren und zeitgenössischen otiatrischen Literatur. Trotz
der nicht geringen Zahl irrtümlicher Daten und Zitate und der weit-
schweifigen Darstellung, die er häufig ganz wertlosen Arbeiten einräumt,
wird das Werk Linckes dem Geschichtsforscher stets ein wertvoller
Führer bleiben.
Von dem zur Herausgabe gelangten dreibändigen Werke Linckes
sind nur die zwei ersten Bände Originalarbeit. Durch Krankheit außer
stände gesetzt, die Darstellung der Acusticus- und Labyrintherkrankungen,
der Taubstummheit und der wichtigsten Ohroperationen zu bearbeiten,
war er genötigt, die Abfassung des den dritten Band bildenden Ab-
schnittes der Ohrerkrankungen dem Berliner Arzt Phil. Heinrich Wolf
zu übertragen.
Nach einer sehr ausführlichen Darstellung der Geschichte und Literatur der
Ohrenheilkunde, sowie einer allgemeinen Anweisung zur Untersuchung des kranken
Gehörorgans wendet sich Lincke zur speziellen Besprechung der Ohrenkrank-
heiten. Der Haupteinteilung der entzündlichen Affektionen des Ohres liegen folgende
Gesichtspunkte zu Grunde: 1. die einfachen Ohrentzündungen, die ihre Entstehung
einer lokalen Ursache verdanken: 2. die gemischten Ohrentzündungen, die der Aus-
druck einer Allgemeinerkrankung sind. Jede Ohrentzündung, ob einfach oder ge-
mischt, ist akut oder chronisch.
Ueber die Erkrankungen des äußeren Ohres bringt Lincke nicht« Neues.
Hervorzuheben ist aber, daß er die Scheu seiner Vorgänger, das Ekzem zu beseitigen,
*) Vgl. Magnus, Nekrolog Kramers im Arch. f. Ohrenheilk. Bd. XI, S. 25,
und Lucae, Biographisches Lexikon der hervorragenden Aerzte von Gurlt und
Hirsch, Bd. HI, S. 54L
*^*) Geboren 1804 in Kosrain, Prov. Posen. Gestorben in Leipzig 1849.
4t)4 Lincke.
abgelegt hat und in einer rationellen Behandlung desselben keinen Nachteil für den
Organismus erblickt. An der Ohrmuschel und im äußeren Gehörgange unterscheidet
er folgende Krankheitszustände : Entzündungen, Störungen durch normwidrige
Trennung, Störungen durch abnorme Kohärenz, durch veränderte Lage der Teile,
durch veränderte Form der Teile, Hypertrophien, Aftergebilde, abnorme Sekretionen,
Fremdkörper.
Zu den Erkrankungen des äußeren Ohres und Gehörgangs rechnet er
auch die Inflammatio membranae tjmpani sive Ddyringitis.
Er ist der Ansicht, daß bei der Myringitis die Entzündung primär im
Trommelfelle entsteht und entweder glatt in Heilung übergeht oder zum Geschwür
und schließh'ch zur Perforation mit Eitererguß in die Trommelhöhle oder in den
äußeren Gehörgang führt. Dagegen liege der Otitis interna (damit meint Lincke
die jetzt als Otitis media bezeichnete Erankheitsform) eine Entzündung der Trommel-
höhlenschleimhaut zu Grunde.
Der Trommelfellbefund und der Symptomenkomplez der heute als Myringitis
bezeichneten Erkrankung waren Lincke nicht bekannt, und so imponierte ihm
eine große Zahl von akuten und chronischen Otitiden als primäre Trommelfellent
Zündung. Man gewinnt den Eindruck, daß er die leichteren Otitiden zur Myringitis,
die schwereren zur Otitis interna rechne.
Die Otitis interna teilt er in eine primäre und sekundäre ein. Unter der
ackimdären versteht er die Otorrhoea cerebralis.- Er gibt zwar zu, daß ^die Fälle
die häufigsten sind , wo dem Gehimleiden die Otitis vorausgeht*^ (II. ]). 292) , hält
aber die Möglichkeit einer cerebralen Otorrhoe aufrecht. Sowohl die primäre als
Hekundäre Otitis interna kann akut oder chronisch sein. Die chronische entwickelt
sich wohl meist aus der akuten, kann sich aber auch selbständig schleichend
entwickeln.
Eine sehr ausführliche Schilderung widmet der Verf. den pathologisch-anato-
nuHchcn iJi*fundt?n bei Otit. univers. int. Bei Eiterung im Warzenfortsatze befür-
wnrt(^i «T die Imldigo Inzision der Weichteile und die Trepanation, warnt aber bis
zum Spontandun-hbruch zu warten.
im iillj^cmeinen huldigt er dem Prinzipe, neben der Lokalbehandlung auch
ilii« ;ill;^'i'in(»inc'. ni(!ht zu vernachlässigen. Er perhorresziert den Gebrauch von reizen-
iU'u Sulmtanzen (Brechweinsteinsalbe etc.) in unmittelbarer Nähe des Ohres, sondern
w<*nd<?t, siii stets an entfernteren Stellen (Nacken , Oberarm , Wade) an. Der Rat
LirnUeH, zur Entleerung des Eiters aus der Trommelhöhle dem Patienten den
Valsa 1 vasrlim Versuch zu empfehlen, ist als schädlich zu verwerfen; widei-sinnig
iht e,M fri'n«M-, den Kranken bei verschlossenem Munde und zugehaltener Nase Inspi-
rati(insl)i!Wf^Mingeii machen zu lassen, indem ^hierdurch der Eiter in der Trommel-
\\i)\\\r dunli die Eustachische Röhre herausgeholt wird.** II. jj. 313.
I ; nt rr ( ) ii t i s e r y s i p e 1 a 1 0 s a versteht Lincke das typ. Erysipel der Ohrmuschel
und ilirrr Dnigebung. mit eventuell eintretender sekundärer Otit. m. suppur. ac; unter
Otitis cath arrha lis die akute und chronische Mittelohreiterung mit vorwiegend
.-clilriiiii^-uitri^MT Sekretion. Diese tritt meist im Gefolge von Erkrankungen des
NaHfnrachcnraunies auf. Die gonorrhoische <->titis kann entweder als Metastase
cin<'M Trippers oder durch direkte Infektion des Ohres mit Trippersekret ent-
Htcli«'ii. \U'{ der Diagnose ist neben dem ätiologischen Moment hauptsächlich die
BeHcliaHenlM'if des Kiters zu berücksichtigten. Für die übrigen genannten Formen
von Otitis kann Lincke keine markanten Symptome anführen. Die Diagnose stützt
sich (lalier liinipt-ächlich auf das ätioloirische Moment. Therapeutisch kommt in
erster Linie di«; Hehandlun:; der Grundkrankheit in Betracht.
Lincke. 405
Zu den gemischten Entzündungen zählt Lincke die erysipelatöse , katarrha-
lische, gonorrhoische, rheumatische, gichtische, skrophnlöse, syphilitische, morbillOse,
skarlatinöse, yariolOse, ekzematöse und die herpetische Ohrentzündung.
Die Entzündung der Eustachischen Röhre, Inflammatio tubae Eust.
sive Syringitis entspricht unserem Tubentrommelhöhlenkatarrh. Als höchsten Grad
nimmt Lincke eine eitrige Entzündung der Tube mit Einbruch des Eiters in die
Trommelhöhle und Perforation des Trommelfelles an.
Einen eigenen Abschnitt bilden die , Störungen durch normwidrige
Trennung". Die Behandlung geschieht im wesentlichen nach den bekannten da-
mals geübten chirurgischen Grundsätzen. Bei Besprechung der Trommelfellmpturen
legt Lincke zu großes Gewicht auf die direkte Gewalteinwirkung als ätiologischen
Faktor, während er den durch Kompresdon der Luft im äußeren Gehörgange (durch
Ohrfeige, Schlag, Stoß etc.) entstandenen Rupturen geringe Bedeutung beimißt
Was die Therapie anlangt, steht Lincke auf dem noch heute uneingeschränkt
geltenden Standpunkt, jede medikamentöse Behandlung zu unterlassen.
Was die Fraktur der Ohrmuschel betrifft, so hielt er den Vorgang, wie
er von alten Aerzten (Hip])okrate8, Celsus, Aetius, Paulv. Aegina, Yesal,
Vidus) geschildert wird, für unmöglich und erwähnt ihn nur aus „historischer*
Rücksicht. Als Coloboma auriculae bezeichnet Lincke jene Bildungsanomalie, bei
der die Ohrmuschel oder das Ohrläppchen eine Spalte zeigt, in die sich die äußeren
Bedeckungen fortsetzen. Bei dem angeborenen Kolobom des Ohres sind die Spalt-
ränder glatt und von der äußeren Haut überzogen, bei dem erworbenen mehr oder
minder unregelmäßig und schwielig.
Unter Störungen durch abnorme Kohärenz versteht Lincke die Erwei-
terung und Verengerung, die Kompression und den Kollaps des Gehörganges und die
Atresie desselben, ferner die Erweiterung und Verengerung, die Obturation, den
Kollaps und die Atresie der Eustachischen Ohrtrompete. Die Erweiterung des
Gehörgangs führt Lincke auf den Schwund des subkutanen Fettgewebes zurück,
wie dies vornehmlich bei karhektischen und marantischen Individuen vorkommt.
Die Verengerung des Gehörgangs kann eine temporäre oder bleibende sein. Sie
ist entweder durch Veränderungen der Weichteile oder des Knochens bedingt Zur
Entscheidung dieser Frage empfiehlt L i n c k e stets die Untersuchung mit der Sonde.
Die Kompression des Gehörgangs, gewöhnlich eine Folge in der Umgebung des
Ohres wuchernder Geschwülste, kann durch Einlegen der von ihm angegebenen
Röhrchen behoben werden; ebenso der Kollaps des Gehörganges.
Die Atresie kann die ganze Länge des Gehörgangs betreffen, oder nur durch
eine Membran an irgend einer Stelle bedingt sein. Solche Membranen können näher
oder weiter entfernt vom Trommelfelle liegen. Die nahe am Trommelfelle befind-
lichen Membranen hält Lincke für die abgehobene Cutisschichte des Trommelfells.
Anschaulich geschildert sind die subjektiven und objektiven Symptome der
Verengerung der Eustachischen Ohrtrompete. So beschreibt er das Geräusch
bei der Luftdusche, wenn die Verengerung durch eine chronische Blennorrhoe der
Eustachischen Ohrtrompete und der Trommelhöhle — womit er offenbar den sekre-
torischen Katarrh meint — bedingt ist, ,von der Art, als wenn man ein Stäbchen
oder einen Löffel in steif gekochte Stärke einsenkt und dann etwas schnell wieder
herauszieht*. Bei der Behandlung dieser Zustände legt Lincke großen Wert auf
die allgemeine interne Medikation, empfiehlt aber, wenn diese nicht zum Ziele führt,
adstringierende Injektionen und Bougierung der Ohrtrompete.
In den Kapiteln über Störungen durch veränderte Lage und Form
der Teile behandelt Lincke mit ermüdender Weitschweifigkeit ganz unbedeutende
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. I. 30
Änom&lien des äuBeron Obres, z. B. das abstehende Ohr aIb eigene Krajikbeiteform.
Die in dem Abaclinitt .Hypertrophien' aufgeat«llten Grankbeilebilder wie Hirtatiea
meatus auditorii , Pannus des Trommel feiles etc. entopreuhen noch weniger einem
praktischen Bedürfnis. Zu den Hjpertcophiea rechnet er auch die ExoBtosen, aber
die er jedoch nichts Nene» bringt.
Die Polypen teilt Lincke hinsichtlich ihrer Kontislcnz in weiche und harte,
hinsichtlich ibree Sitzes in Polypen de« Gehörganges, des Trommelfells, der Trommel-
höhle und der Eu8tachi«chen Röhre. Er betont, daß die Polypen des Gehörgange«
im hinteren Teil desselben entspringen und führt dies auf die zartere Besch äffen heit
oder, wie er sich ausdrückt, ,fiohIeimhilutige Natur* dieses Teiles zurück. AuBer
den Polypen zählt er noch die Warzen, Condylome, Balggeechwülate , Krebs und
Markschwnmm als Aftergebilde des Ohres auf.
Zur Entfernung von Fremdkörpern empfiehlt er mehrer« in seinem
Werke abgebildet« Instrumente, so eigene Pinzetten, eine der Gebnri^iange ähnliche
Zange mit getrennt einlegbaren Zangenblättem und achlieSlich ein hebelartigei
Instrument.
Der dritte von P. a Wolff bearbeitete Band behandelt die nervö«ea
Erkrankungen des Ohres, die Taubstummheit und die Ohroperationen.
Nttch einleitenden physiologischen Bemerkungen über die Funktion der Nerven
des Gebörorgani , geht er auf die Schilderung der eigentlichen nervösen Erkran-
kungen des Ohres Über. Er teilt diese in Gefühlsneurosen (Neuralgie und An-
ILsthesie), Bewegungsneuroaeu (Krampf und Lähmung), Ernlhrungsneurosen und Sinnes-
neuroaen.
Der ganze Abschnitt enthält nichts Neues, Ein groBer Teil gehört überhaupt
nicht in das Gebiet der Ohrenheilkunde, sondern bätt« besser seinen Platz in den
LehrbOchem der Nervenkrankheiten behalten , denen er zum Teil entnommen ist
Alles übrige ist Kram er, Itard u.a. entlehnt und unter den oben angeführten
Gesichtspunkten zusammen gestellt.
In dem Abschnitte , Taubstummheit' erörtert er in ermüdender Weise die
Funktion der Spiiichorgane und ihrer Teile und das Zustandekommen der einzelnen
Sp rauh laute. Ueber den Taubstummenunterricht fügt er dem bereits Bekannt«!!
nichts Neues hinzu.
In dem Abschnitt über Ofaroperationen erw&hnt Wolff die von ihm an-
gegebene subkutane Dnrchschneidung der äußeren Ohrmuskeln zur VerbeMening
des Gehörs bei eng am Schädel anliegenden Ohren,
Zu den Operationen rechnet er auch das Stechen der Ohrläppchen, die
Otoplastik, die Durchbohrung dee Warzenfortsatzes, die Entfernung
von Ohrenschmalz, von Fremdkörpern und Polypen. Behufs Zerstörung von Pseudo-
membranen im GehSrgange empfiehlt er einen Kreuasehnitt und die Eizision der
vier Lappen. Ausführlich beschreibt er die Erweiterung des verengten, bezw. die
Eröffnung des verschlossenen Gebörgangs, die Perforation des Troramelfellä , den
KatheterismuB und die Bougierung der Ohrtrompete, ohne Neues vorzubringen. Zur
Verbesserung des Katbeterisniua gab Wulff einen Doppelkatheter an, der indes
keinen Vorteil gegenüber den einfachen Kathetern besitzt und den Katheterismiu
nur unnützerweiae kompliziert. Für den Katheterismus durch die entgegengesetate
Nasenöffnung, den schon Delesu und später Cerutti für gewisse FiUle angegeben
hatten, konstruierte Wolff sogar einen dreifachen Katheter. Er besteht aus drei
ineinander paaseoden Kathetern, deren mittlerer um I Zoll, deren innerer um
2 Zoll länger ist als der äuBere. So ineinander geschoben, daB am Schnabelende
keiner den anderen Überragt, werden sie in die Nase eingeführt ond erst im
Lincke. 467
Nasenrachenraum der mittlere and innere vorgeschoben und dadurch eine größere
Schnabel länge erreicht. Auch dieser geistvoll ersonnene Katheter hat sich praktisch
nicht bewährt.
Damit schließt eine Epoche, die zwar den wissenschaftlichen Aufbau
der Otiatrie durch mannigfache Ansätze vorbereitete, aber selbst noch
weit entfernt von diesem Ziele blieb. Zu einer Zeit, da andere Zweige
der Medizin von der anatomischen Denkweise bereits durchdrungen waren,
verharrte die Ohrenheilkunde noch im wesentlichen bei der symptomati-
schen Krankheitsauffassung und bei einer zum Teile obsolet gewordenen
Therapie. Rokitansky und Skoda hatten den Weg gewiesen, der
aUein zu einer Neubegründung der Medizin führen konnte: steter Ver-
gleich der klinischen Phänomene mit den Befunden an der Leiche und
nüchterne Krankenbeobachtung. Diesen Weg mußte auch die Otiatrie
betreten. Nur dadurch konnte sie jene ergebnisreiche wissenschaftliche
Tätigkeit entfalten, auf die sie gegenwärtig mit voller Befriedigung zurück-
blicken darf. Es war das Verdienst Toynbees, Wildes, v, Tröltschs,
Moos' und anderer Männer zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, die Aera der wissenschaftlichen Otiatrie eröffnet zu haben.
Yerlag Ton FERDINAND ENKE in Stuttgart.
Die anatomische und histologische
Zergliederung des menschlichen Oehörorgans
im normalen und kranken Zustande
für Anatomoi, Ohrenärzte and Studierende.
Von Prof. Dr. A. Politzer.
Mit 164 Holzschnitten und 1 in den Text gedruckten Tafel.
gr. 8". 1889. geh. M. 10.—
Lehrbuch der Ohrenheilkunde.
a«
Für praktische Arzte und Studierende.
Von Prof. Dr. A. Politzer.
Vierte gänzlich umgearbeitete Auflage. '
Mit 346 Textabbildungen, gr. 8". 1901. geh. M. 17.—; in Leinw. geb. M. 18.40.
Baas, Prof. Dr. J. H., Leitfaden der Geschichte der Medizin. Mit Bild-
nissen in Holzschnitt und Faksimiles von Autographen, gr. 8". 1880.
geh. M. 3.60.
Baas, Prof. Dr. J. H., William Harveyj der Entdecker des Blut-
kreislaufes und dessen anatomisch-experimentelle Studie über die
Herz- und Blutbewegung bei den Tieren. Kulturhist.-med. Abhand-
lung zur Feier des dreihundertjährigen Gedenktages der Oeburt
Harveys (1. April 1578). Mit Harveys Bildnis, Faksimile und den
Abbildungen des Originals in Lithographie, gr. S''. 1878. geh. M. 5.20.
Ebstein, Geheimrat Prof. Dr. W., Cliarlatanerie und Kurpfuscher im
Deutschen Reiche, gr. 8°. 1905. geh. M. 2. —
Die Gicht des Chemikers Jacob Bcrzelius und anderer hervor-
ragender Männer. Mit 1 Abbildung, gr. 8**. 1904. geh. M. 2.40.
— — Die Krankheiten im Feldzuge gegen Rußland (1S1J2), Eine geschichtl.-
medizinische Studie mit 1 Kärtchen, gr. 8^. 1902. geh. M. 2.40.
~ — Leben und Streben in der inneren Medizin. Klinische Vorlesung,
gehalten am 9. November 1899. gr. 8^ 1899. geh. M. 1.—
I>ie Medizin im alten Testament. S^. 1900. geh. M. 5. —
Die Medizin im neuen Testament und im Talmud, S^. 1903. geh. M. 8. —
Die Pest des Th ukydides. (DieAttischeSeuche.) Eine geschichtl.-
medizinische Studie. Mit 1 Kärtchen, gr. 8°. 1899. geh. M. 2. —
Rudolf Virchow als Arzt. gr. 8^ 1903. geh. M. 2.40.
Fasbender, Prof. Dr. H., Knfwivkelungslehre, Gchurtshülfe und Gynä-
kologie in den Hippokratischen Schriften. Eine kritische Studie,
gr. 8^ 1895. geh. M. 10.—
Hirsch, Prof. Dr. A., Handbuch der historisch-geograjiMschen Pathologie.
Zweite, vollständig neue Bearbeitung. Drei Abteilungen.
I. Abt. : Die allgemeinen akuten Infektionskrankheiten, gr. 8^.
1881. geh. M. 12.—
II. Abt. : Die chronischen Infektions- und Intoxikationskrank-
heiten. Parasitäre Krankheiten, infektiöse Wundkrankheiten
und chronische Emährungs- Anomalien. gr.8M883. geh. M.12. —
in. Abt. : Die Organkrankheiten. Nebst einem Register über die
drei Abteilungen, gr. 8^ 1886. geh. M. 14.—
Terias TOn FEBBINAND ENKE in Stottgart.
HolllEnder, Dr. E,, Die Karikatur und Satire in der Medizin. Mediko-
konsthistorisclie Städte. Mit 10 farbigen Tafeln und 223 Abbildungen
im Text, hoch 4". 1905. kart. M. 24.— ; in Leinw, geb. M. 27.—
UollUader, Dr. E., Die Medizin in der klassischen Mnlerei. Mit Ißö Text
abbildongen. hoch 4°, 1903. geh. M. 16. — ; in Leinw. geb. M. 18.^
Harcuse, Dr. med. Jul. , Bader tiitd Badewesen in Vergangenheit und
Gegenivart. Eine kultnrhiBtoria che Studie, gr, 8". 1908. geh. M. 6. —
Harouse, Dr. med, Jul., Hydrotherapie im Altertum. Eine historiach-
mediriniBohe Studie. Mit einem Vorwort von Prof. Dr.W. WIntemitZ.
8". 1000. geh. M, 2.—
Hüllerheim, Dr. B,, Die Wockenstuhe in der Kunst. Eine kulturhistorische
Studie. Mit 138 Abbildungen, hoch 4". 1904. kart. M. 16. — ;
in Leinw. geb. M. 18.—
Neuburger, Trof. Dr. M., Geschichte der Medizin. Zwei Bände.
I.Band, gr. 8°. 1906, geh. M. 9.— ; in Leinw. geb. M. 10,40.
Neoburger, Prof.Dr.M., Die historische Eniivickdunp der cj^triwenlelten
Gehirn-u. Bnckenmarksphgsiotoi/ievor Flourens.S". 1897, geh. M. 10.—
Neubnrger, Prof. Dr. M., Die Vorgeschichte der antitoxischen Therapie
der akuten Infeklionskrankheitcn. Vortrag, gehalten auf der 73. Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und Arzte iu Hamburg. In er-
weiterter Form herausgegeben. 8°. l'Ml. geh. M. 1,60.
Opitz, Dr. K., Dit Medizin im Koran. 8". 1906. geh. M. 3,—
Handwörterbuch der gesamten Medizin.
Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herauBgeKeben
von Dr. A. Villaret, k, preuß. Generalarzt,
' Zweite, gänzlich neu bearbeitete Auflage.
Zwei Bände.
I. Band (A— H). gr. S". 1S99. 68 Bogen, Geh. M, 27.- ; in Halbfrz. geb. M, 30.—
n. Band (I — Z). gr.8". 1900. 74Bogen. Geh.M,li9.fiO; inHalbfri.geb.M.32.60.
Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie
zum Gebrauch fiir Ärzte und Studierende.
Von Prof. Dr. E. Lexer.
Zweite umgearbeitete Auflage.
Mit einem Vorwort von Professor E. von Berguiiinn.
Zwei Bände mit 390 teils farbigen Abbildungen und 2 farbigen Tafeln,,^
gr. 8". 1906, geh, M, 22.60; in Leinw. geb. M. 25.—
Lehrbuch der
Chirurgischen Krankheiten des Ohres.
Von Prof. Dr. H. Schwartze.
Mit 129 Holzachnitten. gr. «». 1885. geh. M. II.—
{Sonderausgabe der .Deutichea Chirurgie' Lief. SS.)
Terli« Ton FEBDIKAND ENKE In StnttKirt.
Hnndliuch der proKtischen Chirurgie.
In Verbindung mit
Prüf. Dr. V. AnKcrer in Mllnchen. Prof. Dr Borchardt in lie.rVia, Prof. Lr v. Bramann in
Halle. I'rüf Ur. v, ElicIaberC iu Wiun, Prof. Dr. Friedrich in üreifswald, Prof, Dr, Ormtt
in Bonn, Prof. Dr. Oraaer in Erlaugon, Prof. Dr. v. Hacker in Uraz, Piof. Dr. Henle iu
l>«rtn)und, Prüf. Dr. Horta in Berlin, Prof. Dr. Hormctiter in StnttKnrt, Prof. Dr Jordan
in Bcldelberg, Prof. Dr. Kaunch in SchAncberg-Bvrlin , Prof. Dr. Kehr in Halberatsdt.
Prot. Dr. KSrte In Berlin. Prof. Dr. F. Krauw in Berlin, Prof. Dr. Krfiniein in ZUrich,
Prot. Dr. Kllnimcl in Heidelberg, Oberarzt Dr. KBniinell in Humburg. Prof. Dr. KOttner
in Harburg. Prüf. Dr. Lexer in Ktinlssbt>rg, Primurarzt Dr. LothetSen in Wien, Dr. Nawe,
weil. Prof. In Berlin, Dr. NItie, weil. Prof. in Berlin, Btabaoi'Et Dr. Rammatedt in Hbnater
i. W., Oberarzt Dr. Rdchel in Clienmitz, Prof. Dr. Riedingcr inWarzborg, Prof Dr. RSmer
in Slraabnrg, Prof, Dr. Rotter in Berlin, Dr. Schede, weil. Prof. in Bonn, Prof, Dr. Schlange
in Hannover, Prof. Dv. Schlatter in Zürich. Oberarzt Dr. Schreiber in Augsburg, Prof.
Dr SonnenburK in Berlin, Prof. Dr. Stdnthal in Stuttgart. Oberoril
HorlHUU, Prof. Dr. Wlimi iu Leipzig
Bearbeitet
Prof. Dr. E. von Bergmann
id herausgegeben von
und Prof. Dr. P. von Bruns
in Tübingen.
Dritte umgearbeitete Auflfif/e.
Fünf Bände.
I. Band: Chirurgie des Kopfes.
Mit 167 in d^u Teit gedruchten Abbildungen, (i'2 Bogen GroB-Oktav.
Prei« geheftet M. 22.—, in Leinwand gebunden M. St-
il. Band: Chirui^ie des Halses, der Brust u. d. Wirbelsäule.
Mit 265 in den Test gedruckten Abbildungen, 61 Bogen Groß Okttiv.
Preis geheftet M. 21.60, in Leinwand gehnnden M. 23.60.
V. Band : Chirurgie der Extremitäten.
Mit 564 in den Te»t gedruckten Abbildungen. 71 Bogen GroS-Oktav.
Preis geheftet M. 25.—, in Leinwand gebunden M. 27.—
Kaum drei Jahre sind seit dem Erscheinen der zweiten Auflage des Hand-
bucbea der praktischen Chirurgie verSossen und schon ist die Ausgabe der dritten
Aufluge nötig geworden. Die neue Auflage erscheint — ohne erhebliche Ver-
mehrung des Umfanges — statt in vier in I'finf Bänden, um den Stoff gleich-
mäßiger auf dieselben zu verteilen. Die Trennung der Chirurgie des Bauches
und des Beckens in zwei Bände war unerläßlich, weil der eine umfangreiche
Band zu wenig handlich geworden wäre, da genide auf diesen Gebieten die
Chirurgie zur Zeit schnellere Fortschritte als auf den anderen aufzuweisen haL
Die Herausgeber haben es sich angelegen sein lassen, das ganze Werk
immer gleichmäßiger und einheitlicher zu gestelten , und die Verfasser der
einzelnen Abschnitte haben sich bemüht, die E nun genschaften des letzten
Trieaniuma zu verwerten. So stellt die neue Bearbeitung wiederum in
allen ihren Teilen den Stand der gegenwärtigen Forschung dar.
Besondere Aufmerksamkeit ist bei der neuen Auflage der Ausstattung
mit guten und klaren Abbildungen geschenkt worden , deren Zahl erheblich
vermehrt wurde (der fünfte Band ist mit 564 Abbildungen ausgestattet].
DU drittt Auflagt de* Handbuchi der praktUehiH Chirurgie ist im Druck eo weit
vorgtschrilttn, daß He i'b einigen Monaten voUilSndig ereeheinen mrd.
7«rlii« rrni FERHINA^fD F.NKE in Stntteart.
* — "^
In zweiter, vollständig umgearbeiteter Auflage
ist. erschienen
Honillncii der pmktisdien Hediziii.
B*»arbeit4>t. von
(l«h. IfMliiiiniilrat Prof. r>r Rrl^f «r in Rm-Iin . Prot*. Dt Daasf h in Oötnni^n. Pmt. Dr. D«kia
In f»Arpftt, ^»*h. MA/Ii^slfialrat Prof. Dr. Rlmtflla m f^ortini^n. Prof. Dr EdlBf«r :n Fmikinn
a tf . Prof. Or Kfiit«1ii in Pmir. r>r. Plalaf in Havanna, üüfa Xedizinalrac Prof. Dr. PQr«
krlüirf r in FWlin . Prnf r>r R. Arawiti in Charlott^nburi*. Oeh. MMÜzlnaJi-at Prof. Dr. Uaraacft
tfi Htt]]m n. H., Prof. nr JMm««!!« in R«m. I Oh^nirxt T/r. KIh««!! in Hamhnnr. Pmfl Dr. Lamekw
in f^hrintinnm. Prof Dr. I.rakart« in Hamburg- F.pp<%ndorf. Prof. Dr Loreas in >Tnz. .SrauMRt
Prof frr llara in Prankrhrt a. M., Prof Dr. JUmM in ß^rlm. Prof. Dr üleolaier :n anlin. ?ru{.
trr Öli#rat#la^r in Winn, Hofrat Prof. Dr Frlbraa in Prafl», Prof. Dr. B«411ek m Wien, Jherarzt
[f. IU»f«t1i«t in HambnrK-RppAndorf, Prof Tn. R^nWrf in TäbiOj^en. Prot. Dr. Bownataln n
(«•jdf>n, Prof. r>r. Ranipf in Honn, Prof Dr. flchwalb« in Berlin, Prof. Dr. Stieker :n Münster
I W., Prof. Dr fltrlblav in f^rHfnwaltl, M^dixinalrat Prof. Dr. CaTerrlekt in Ma^ebunr. Prot.
Dr WaM^raiaA« in Berlin, O^h. Medizinalrat Prof. Dr. Ziekn in Beriin.
Unter Redaktion von
Dr. W. £bHtein und Prof. Dr. J. Schwalbe
M^h MHixInalrat, o ProfM<or in üöttinRAn n«raiisKftbPT d«*r Deutschen mM. W-j-htnacirift
horaii«^<»^«?bi»n von W. Ebsteill.
Vier Hftncle.
'•R2 Hciwnn. Mil. '.MM 'IVxtal.hildnnKfii. «r. 8". 19ÖÖ06.
f^r/i, ^1. 77. • 4n Iteinw* geh. M, 85.—
I Hiiinlr KrHnkhPltftn ditr AtmunQ«-. der Kreislaufsorgane, des Blutes und der
BlutdrllsPn. r.i Hi»l"'" Mit V.MVTit«ltliil(liiiiK<'n. ^t. ^". 1905. «t».-!:. .M. J:!. -
II Umi««)- KrnnkhpMpn dnr Vordauunga-, dor Harnorgane und des nänniiunen
Wp«phli»rhl»fln|iBrati»». Vpnerlichc Krankheiten, fll Ho^'L-n. M : u '; -;'
III Mni.1 Krnnkhrlton des Nervensystems (mit EInschlufi der Psychosen . Krank
hpifpn dpr Rrwpgungsorgane. .V.) llo^'m. Mit Kl Tcxtabl'iId:iD^-^r.. ^- -'
1.),», «;.i. M '.!(). -. in lifinwiind j,'(;l». M. 'J'J.
'^ n« • ' inf,iKtionskrankheiten,Zoonosen,KonstltutlonskrankheiteR. Vergiftungen
Hm oh «««liiilp. durch Tier- und Fäulnisgifte. AU Ho^^^'n. Mit öl A'Kiiiu^:;' :
•■'.'.i JJi'li. M 1"». . in I.oinw. *rvh. M. 17.
4 tunir^ic des praktischen Arztes.
» N. Ithiii (Ii'i Anteil-. Ohren- und /ahnkrankheitcn.
. ■ -.'1 IT A. Kiaviiki'l :v W ; ■ . ü.\ M- ii/in.tlr.it I'iof. Dr. K. Garre in Hr -! i :
f M4..ki»l iiiSfitfiii l'!" I". I Hl"»'. !>• \S ■;;■"*:'.-. ir.-h. M«ili7.iiialr;it Prof. Dr IMiilnlx
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II Miillcriii K.>-'.' !x ■ M . l'!.-: i'r J. SohrfTii \V.. r: l'rof. Dr 0. Tllmana in K ".c
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